Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Deutschland steht ohne jeden Zweifel insgesamt gut da. Aber wir müssen auch sehen, dass die Lebensverhältnisse in einzelnen Regionen höchst unterschiedlich sind: auf der einen Seite überhitzte Ballungsräume, auf der anderen Seite Regionen mit objektiv strukturellen Problemen, Regionen, in denen die Menschen das Gefühl haben, abgehängt zu sein. Deshalb hat die Koalition in ihrem Koalitionsvertrag entschieden, dass wir das Thema „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“, also Fragen nach persönlicher Lebensqualität, nach individuellen Entfaltungsmöglichkeiten in den Problemregionen und nach dem Zusammenleben vor Ort, zu einem zentralen Punkt für diese Legislatur machen.
Ich habe in meinem Ministerium, im Bundesinnenministerium, eine Heimatabteilung gegründet, in der genau zu diesen Fragen und insbesondere zu dem Oberthema „gleichwertige Lebensverhältnisse“ Antworten und Lösungen erarbeitet werden. Ich möchte für unsere weitere Diskussion und Arbeit, die uns in den nächsten Monaten, ja, ich sage, in den nächsten Jahren intensiv beschäftigen werden, zwei Dinge vorwegstellen:
Gleichwertige Lebensverhältnisse werden wir nicht erreichen durch einen zentralstaatlichen Dirigismus, sondern nur durch ein partnerschaftliches Zusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen.
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Dabei sind die Kommunen von zentraler Bedeutung, weil dort die Menschen leben. Dort ist ihr Lebensmittelpunkt. Dort besuchen sie die Kita, die Schule. Dort haben sie den Arbeitsplatz und den Sportverein, und dort verbringen sie ihre Freizeit. Deshalb möchte ich hier für die Bundesregierung sagen: Für uns wird ein ganz zentrales Ziel sein, vor allem die Kommunen hier einzubeziehen.
Wenn wir uns eine Karte von Deutschland ansehen, dann identifizieren wir gleichzeitig auch ein Thema, nämlich dass die Finanzkraft der Kommunen in Deutschland höchst unterschiedlich ist. Wir müssen uns in unserer Arbeit auch mit diesem Thema intensiv beschäftigen, insbesondere auch mit jenen Kommunen, die wegen ihrer Altschulden in einer schwierigen Lage sind. Zum großen Teil können sie nichts dafür, weil sie strukturelle Veränderungen erlebt haben; ich denke jetzt an manche Kommunen im Saarland – Kohle, Stahl –, an Bremen mit den Werften. Das sind unverschuldete Strukturveränderungen, die diese Kommunen noch eine lange Zeit belasten werden. Deshalb müssen wir bei dieser partnerschaftlichen Zusammenarbeit auch auf die Finanzkraft, auf die Finanzausstattung sehen.
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Das Zweite, was ich deutlich sagen möchte, ist: Gleichwertigkeit der Lebenschancen heißt nicht Gleichmacherei. Gleiche Chancen wollen wir den Menschen in allen Regionen Deutschlands eröffnen. Allerdings heißt das nicht: identische Verhältnisse überall. Ich will ausdrücklich sagen, dass die regionale und kulturelle Vielfalt in Deutschland dieses Land auszeichnet,
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dass die regionale und kulturelle Vielfalt die Grundlage unseres Wohlstands und auch die Grundlage unserer politischen Stabilität und kulturellen Identität ist.
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Also: Wir wollen den Menschen die gleichen Chancen eröffnen, aber es sollte nicht unser Bestreben sein, die Vielfalt in unserem Lande in eine Gleichmacherei zu überführen.
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Der dritte Punkt, meine Damen und Herren, ist: Wir gleichen die Unterschiede bisher durch den Bund-Länder-Finanzausgleich aus; das ist auch gut so. Der soll auch bleiben – ich habe ja selbst an der Neuordnung des Bund-Länder-Finanzausgleichs mitgewirkt –, aber wir müssen klar sehen, dass der Bund-Länder-Finanzausgleich zwar hilft, aber strukturelle Probleme nicht löst.
Ich habe schon als bayerischer Ministerpräsident während der Verhandlungen immer darauf hingewiesen, dass zum Beispiel das Verhältnis der ostdeutschen Länder zu den übrigen Ländern im Hinblick auf die Steuerkraft ein missliches Verhältnis ist. Die ostdeutschen Länder erreichen nur gut 50 Prozent der Steuerkraft der westlichen Länder.
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Wenn man versucht, eine solche Tatsache durch den Bund-Länder-Finanzausgleich zu mildern, dann hilft dies natürlich – das soll auch so bleiben –, aber, meine Damen und Herren, wir müssen uns im Klaren sein, dass wir die bestehenden strukturellen Probleme damit nicht lösen.
Ich will Ihnen einige Gedanken zu gleichwertigen Lebensverhältnissen nennen, die die Grundlage unserer Arbeit im Innenministerium und auch in der dafür geschaffenen Kommission sein werden.
Ich glaube, zuallererst sollten wir uns einig sein, dass, wenn ein Staat von sich aus Strukturveränderungen veranlasst – also die Quelle und die Ursache einer Strukturveränderung ist –, dieser Staat zukünftig dann auch in der Pflicht ist, die durch diese Strukturveränderungen entstehenden Nachteile auszugleichen.
Ich verdeutliche das am Beispiel der Kohleregionen. Wenn man sich politisch aus guten Gründen für den Ausstieg aus der Kohle entscheidet, dann, glaube ich, sind wir es der Bevölkerung in diesen Regionen schuldig, gleichzeitig auch eine Antwort darauf mitzuliefern, wie wir diese strukturellen Veränderungen für die Bevölkerung wieder ausgleichen, sodass die Menschen in ihrer Heimat bleiben können. Das halte ich für ganz wichtig.
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Wir sind gerade dabei, einen sogenannten Deutschland-Atlas zu erstellen, der objektive Kriterien – von der Finanzkraft über die Infrastruktur bis hin zur Arbeitslosigkeit – berücksichtigt, einen Deutschland-Atlas, der uns vor Augen führen soll, in welchen Regionen ein besonderer Handlungsbedarf besteht. Er bildet dafür eine objektive Grundlage. Wir können unsere Politik ja nicht danach ausrichten, wer am lautesten ruft, sondern danach, wo die Probleme objektiv am größten sind. Wir wollen auch dem Parlament diesen Deutschland-Atlas zur Verfügung stellen, sodass jede Abgeordnete und jeder Abgeordnete klar nachvollziehen kann: Wie steht es in Deutschland in den einzelnen Regionen um die einzelnen Indikatoren, die wichtig sind für die Lebensqualität der Menschen? So sehen wir dann, in welchen Räumen besonderer Handlungsbedarf besteht. Mein Vorschlag ist, dass wir unsere politischen Lösungen und Aktivitäten auf diese Räume konzentrieren. Dies betrifft beispielsweise politische Entscheidungen in den Bereichen Daseinsvorsorge, Bildung, wissenschaftliche Einrichtungen sowie Infrastruktur.
Ich kann aus meiner Erfahrung als bayerischer Ministerpräsident auch noch sagen: Wenn aus einer Region Einrichtungen der Daseinsvorsorge verschwinden, zum Beispiel die Bildungseinrichtungen, wissenschaftliche Einrichtungen, Krankenhäuser, Arztpraxen, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Menschen aus dieser Region abziehen, um den Einrichtungen der Daseinsvorsorge zu folgen. Und deshalb wird in unserer Überlegung die Frage sehr wichtig sein: Was müssen wir in diesen Regionen mit besonderem Handlungsbedarf tun, damit die notwendigen Einrichtungen der Daseinsvorsorge, vor allem im Bereich der Bildung und Infrastruktur, auch in solchen Regionen vorhanden sind?
Dafür wollen wir keine planwirtschaftlichen Instrumente, das sage ich noch mal. Man erreicht solche Ziele nur mit einem Förder- und Anreizsystem: dass die Länder, Kommunen und auch der Bund Maßnahmen, die sie für notwendig halten, fördern, und die Verantwortlichen in den Regionen unterstützen. Das wird einen langen Atem erfordern. Aus meiner bisherigen Erfahrung kann ich Ihnen sagen, dass es hier nicht reicht, einfach auf den Knopf zu drücken und zu glauben, damit ändert sich von heute auf morgen alles. Vielmehr ist es ein jahrelanger Prozess, den wir schärfer einleiten müssen, als wir es in der Vergangenheit getan haben. Es hat zu diesem Thema im Deutschen Bundestag lange keine Debatte mehr stattgefunden. Ich glaube, es ist gut, dass wir uns mit der heutigen Debatte intensiv um diese Thematik kümmern.
Aus meiner bisherigen Erfahrung möchte ich Ihnen auch sagen: Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist ohne die Wirtschaft nicht zu erreichen. Wir müssen dafür sorgen, dass die überhitzten Räume – mit all den negativen Auswirkungen wie Verkehrsstau, Absenkung der Lebensqualität oder hohe Mieten – nicht weiter überhitzt werden. Das geht nur, wenn wir uns zum politischen Ziel setzen, die Arbeitsplätze wieder näher zu den Menschen zu bringen. Es gibt eine unheimlich große Anzahl an Pendlerströmen, teilweise werden lange Wege zurückgelegt. Tausende von Menschen sind Wochenendpendler, das heißt, sie sind die ganze Woche an dem Ort, wo sie arbeiten, und kehren nur am Wochenende zurück zu ihrem Lebensmittelpunkt. Auch hier wird es notwendig sein, dass wir als Bundesregierung mit der deutschen Wirtschaft darüber reden, dass Investitionen nicht immer nur in den Ballungsräumen erfolgen, sondern auch in diesen Regionen, von denen ich gerade spreche, wo besonderer Handlungsbedarf besteht.
Wenn man das intensiv betreibt – das kann ich Ihnen sagen –, dann ist dies durchaus von Erfolg gekrönt. Ich könnte einige Beispiele von großen DAX-Konzernen in Bayern erwähnen, die sich bereit erklärt haben, nennenswerte Investitionen nicht im Großraum München, sondern in den ländlichen Regionen zu tätigen; mit vielen positiven Folgen. Wir als Politiker müssen bereit sein, wissenschaftliche Einrichtungen und Einrichtungen im Dienstleistungsbereich, also Behörden, in diesen Regionen entweder neu zu gründen oder dorthin zu verlegen. Sie glauben gar nicht, welche Impulse ausgelöst werden, wenn man zum Beispiel ein Technologiezentrum, ein Institut einer Universität im ländlichen Raum einrichtet: Andere Bereiche, insbesondere aus der mittelständischen Wirtschaft, bilden sich um solche Einrichtungen.
Mir schwebt deshalb vor – das müssen wir in der Koalition noch besprechen; wir führen eine Orientierungsdebatte, in der man etwas freier ist in der Äußerung von Gedanken –,
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dass wir uns künftig, wenn wir Entscheidungen zu treffen haben – im Kabinett, in der Koalition oder hier im Parlament –, auch immer die Frage vorlegen: Welche Auswirkungen hat eine ganz konkrete Entscheidung auf die Erreichung dieses Zieles „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland“? Das sollte eigentlich zum Pflichtenheft der Politik in der Zukunft gehören. Ich glaube, das wäre auch eine Antwort, die die Bevölkerung erwartet.
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Das Herzstück für die Arbeit an der Herstellung der gleichwertigen Lebensverhältnisse in den nächsten Monaten bildet eine Kommission, die wir eingerichtet haben. Neben der Bundeskanzlerin waren in der ersten Sitzung dieser Kommission die wichtigsten Partner vertreten: Alle Bundesländer waren hochkarätig vertreten – bis hin zu den Ministerpräsidenten – und die kommunalen Spitzenverbände. Diese Kommission, die ihre Arbeit aufgenommen hat und in sechs Arbeitsgruppen – für alle wichtigen Themen eine Säule – aufgeteilt ist, wird im Juli des nächsten Jahres bereits ihren Bericht vorlegen. Das zeigt: Wir schieben das nicht auf die lange Bank, sondern es wird jetzt ganz dynamisch daran gearbeitet. Wir werden dann ab Mitte des nächsten Jahres in der Koalition und auch hier im Parlament die Umsetzungsbeschlüsse zu fassen haben.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Menschen erwarten Halt, Sicherheit und klare Orientierung. Das haben wir auch in unserer Koalitionsvereinbarung zum Ausdruck gebracht. Ich glaube, die Suche nach Lösungen zur Erreichung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist eine titanische Aufgabe, die uns ressortübergreifend und lange beschäftigen wird. Dafür brauchen wir einen langen Atem. Ich glaube, wir sollten dieses Generalziel verfolgen: Damit die Menschen dort gut leben können, wo sie gerne leben wollen, nämlich in ihrer Heimat.
Ich danke Ihnen.
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Nächster Redner ist der Kollege Enrico Komning, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Auf dem Gründungsfoto der endlich, nach langer Ankündigung, gegründeten Regierungskommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ lächeln Horst Seehofer, Franziska Giffey, Julia Klöckner und Hubertus Heil in die Kamera.
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Bei allem Respekt vor diesen Ministern – es geht hier doch eigentlich um die Wirtschaft und die ländlichen Räume. Wir von der AfD wollen die ländlichen Räume wiederbeleben. Wir wollen, dass die dörflich geprägte Kultur in Deutschland mit ihren autonomen Sozialgemeinschaften und ihrer durchaus auch bäuerlichen Tradition erhalten bleibt,
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diese aber durch einen starken Mittelstand und eine lebendige Start-up-Szene ergänzt wird.
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Sie, liebe Bundesregierung, lassen die ländlichen Räume seit Jahrzehnten links liegen. Die ländlichen Räume sind ausgeblutet. Der Patient ist eigentlich tot.
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Medikamente bringen nichts; es braucht einen Defibrillator.
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Ich glaube, dass der Staat für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse vor allem mehr Verantwortung im Bereich der grundlegenden Infrastrukturen übernehmen muss. Das bedeutet, er hat zu gewährleisten: Straßen, Schienen, Stromnetze, Wasserleitungen, Telefonleitungen, Gesundheitsversorgung, Bildung und vor allem Mobilfunk- und Breitbandnetze. Das, meine Damen und Herren, ist Daseinsvorsorge. Das ist Kernaufgabe des Staates.
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Infrastruktur ist kein marktfähiges Gut, sondern Voraussetzung für das Vorhandensein und das Entstehen von Markt. Das ist es, was wir schaffen müssen: florierende Marktplätze auf dem Land.
Gerade auf die digitale Infrastruktur kommt es in den ländlichen Räumen an. Ohne flächendeckendes 5G-Netz riskieren wir die Zukunft unseres Landes. Ohne 5G-Netz wird sich kein Start-up-Unternehmen auf das Land verirren. Ohne 5G-Netz auch auf dem abgelegensten Bauernhof kann es keine digitalisierte und damit umweltfreundliche Landwirtschaft geben. Kommunikation, schnelle Datenübertragung, autonome Verkehrssysteme – darin liegt eine große Chance für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wohlstand auf dem Land.
Zur flächendeckenden Infrastruktur muss ein effizientes Förderbaukastensystem hinzukommen. Hier müssen besonders bedürftige Gebiete identifiziert, kategorisiert und entsprechend gefördert werden. Das meine ich mit dem Begriff „Sonderwirtschaftsgebiet“. Dazu gehört die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen entsprechend ihres Standorts und Umfelds bei Forschung, Entwicklung und Investitionen – individuell und wirksam, technologieoffen und nicht ideologiegesteuert und mit dem Ziel einer sich selbst tragenden Wirtschaft. Die gesamte Förderstruktur – ERP, ZIM, GRW usw. – muss völlig neu gedacht werden.
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Mit den Unternehmen müssen die Menschen, vor allem Familien mit Kindern, auch auf das Land ziehen wollen . Der Kauf des Eigenheimgrundstückes kann doch steuerfrei sein. Die Grundsteuer sollte ohnehin abgeschafft werden. Vereinfachtes, unbürokratisches Baurecht, Abbau von Auflagen, schnellere Genehmigungsverfahren und keinesfalls Verhinderungsverfahren sind weitere Punkte. Wir brauchen die kleinen Betriebe auch wieder in den Ortskernen, die heute in denkmalgeschützter Schönheit sterben. Wir müssen Handwerker und Dienstleister aus den Gewerbegebieten wieder ins Zentrum holen. Neues in Altem, Softwarebuden in Fachwerkhäusern: Die Wiederherstellung der tatsächlichen, auch wirtschaftlichen Nutzbarkeit von Ortskernen muss die Fördermaßnahmen flankieren.
Meine Damen und Herren, der Herzstillstand auf dem Land ist jetzt. 2020 – zum Abschluss der Tätigkeit Ihrer Kommission – ist der Patient längst beerdigt. Wir haben die Chance. Nutzen wir sie jetzt, Herr Minister. Geben wir den Menschen den ländlichen Raum zurück.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Bundesministerin Dr. Franziska Giffey, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, heute hier bei Ihnen zu sein. Ich kann nur sagen: Ich finde, es wird höchste Zeit, höchste Zeit, dass wir uns damit auseinandersetzen, wie wir gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland erreichen, höchste Zeit für eine Kommission, die intensiv und ministeriumsübergreifend – Bund, Länder und Gemeinden – zusammenarbeitet. Denn es ist ja ein Fakt, dass wir sehr unterschiedliche Lebensverhältnisse in Deutschland haben. Wir haben Orte, an denen die Jugend abwandert, an denen die Alten zurückbleiben und keinen Anschluss mehr finden, so wie es eigentlich sein müsste, wo eben kein Nahverkehr da ist, wo der Bus nicht regelmäßig fährt, wo das Internet nicht überall gleichermaßen verfügbar ist, wo hohe Langzeitarbeitslosigkeit vorhanden ist. Und wir haben – das will ich auch ganz klar sagen – in Ost wie in West Regionen, die vom Strukturwandel betroffen sind, wie das Ruhrgebiet mit über 5 Millionen Menschen oder die Lausitz in Ostdeutschland. Wir haben zum Beispiel Kommunen in Mecklenburg-Vorpommern, die geringe finanzielle Möglichkeiten haben, und wir haben die kreisfreien Städte, in denen die Situation extrem unterschiedlich ist, was beispielsweise die Verschuldung pro Kopf angeht. Darmstadt hat pro Kopf eine Verschuldung von fast 15 000 Euro, Kempten demgegenüber die geringste Verschuldung pro Kopf mit 375 Euro. Das macht natürlich einen Unterschied, wenn es darum geht, wie Kommunen, wie Verwaltungen kreisfreier Städte agieren können. Es ist wichtig, dass wir es schaffen, hier ein Stück weit auszugleichen, damit Menschen auch wirklich sagen können: Ich fühle mich hier mitgenommen, ich kann teilhaben am Wohlstand dieses Landes, an der insgesamt positiven Entwicklung. – Ich bin davon überzeugt: Deutschland wird nur so stark sein, wie wir die Schwächsten auch gut unterstützen.
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Deshalb ist es nötig, dass wir dort hinschauen, wo es schwierig ist, wo die strukturschwachen Regionen sind: in der Stadt, auf dem Land, in Ost und in West. Dann müssen wir gerade an diesen Punkten ganz klar sagen: Dort gibt es auch ein Mehr. Denn es ist ja Fakt: Menschen sind stolz auf ihre Stadt, auf ihren Ort, an dem sie leben. Sie wollen sich gerne zu Hause und zugehörig fühlen. Unsere Aufgabe ist, dass wir die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass das auch gelingt.
Ich bin in den ersten Monaten als Ministerin in allen 16 Bundesländern gewesen. Ich habe über 300 Vor-Ort-Termine wahrgenommen, und ich habe viel mit den Menschen gesprochen. Überall ist mir begegnet, dass Menschen stolz sind auf ihr Zuhause, aber auch, dass sie wollen, dass es gerecht zugeht, dass es überall gute Lebensbedingungen gibt, und zwar für Jung und für Alt, für Menschen egal welcher Herkunft. Da geht es darum, dass wir die Voraussetzungen schaffen müssen, damit in den Kitas, in den Schulen, aber auch an den Orten für Seniorinnen und Senioren, in den Mehrgenerationenhäusern, schnelles Internet, gute Infrastruktur mit Straße, Schiene, öffentlichem Nahverkehr vorhanden ist, dass es eine Jugendarbeit gibt, die alle erreicht, und auch Förderung von Demokratiearbeit an jedem dieser Orte.
Und deswegen ist es gut, dass wir in der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ genau daran arbeiten. Es wird nur im Vierklang gehen: Bund, Land, Kommunen, aber auch die Zivilgesellschaft. Menschen müssen daran beteiligt werden, wie sich ihre Region, ihre Stadt, ihre ländliche Gemeinde entwickelt. Dazu wollen wir beitragen. Wir wollen, dass Menschen das Gefühl haben: In meiner Region passiert etwas. – Sie sind dann auch eher bereit, zu sagen: Ich mache mit, ich schaue mit Zuversicht in die Zukunft. Wir haben gemeinsam das zu stärken, was man das Wir-Gefühl nennt, das Wir-Gefühl für Zusammenhalt.
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Ich sage an dieser Stelle auch ganz klar: Wenn wir etwas tun wollen, um Gleichheit und Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zu erreichen – das heißt nicht, dass wir alle gleichmachen; es ist natürlich schon gut, dass es regionale Unterschiede gibt –, dann wird es Situationen geben, in denen wir manchmal ungleich behandeln müssen. Das heißt, dass bestimmte Regionen, denen es nicht gut geht, auch mehr Unterstützung bekommen, damit sie aufholen können und die Menschen das Gefühl haben: Wir sind nicht abgehängt, sondern wir bekommen auch Unterstützung. – Deshalb freue ich mich auf die gemeinsame Arbeit in der Kommission. Ich habe zusammen mit Horst Seehofer und Julia Klöckner den Vorsitz. Es wird um alle großen Themen gehen. Es wird um Wirtschaft gehen, um die Altschuldenthematik, um die Mobilität, um die Verkehrsinfrastruktur, aber auch um die Familien. Wir müssen gute Voraussetzungen schaffen, damit Familien überall in Deutschland gut leben können. Das heißt: Vereinbarkeit von Familie und Beruf, gute Betreuungsmöglichkeiten und dauerhaftes Engagement des Bundes dafür, dass Kinder und Jugendliche überall in Deutschland, in einem demokratischen und freien Land, gut aufwachsen können. Wir wollen gute Lebensbedingungen für alle erreichen, und zwar in ganz Deutschland. Wir sind davon überzeugt, dass dies ein ganz wesentlicher Faktor dafür ist, Deutschland insgesamt als Ganzes spürbar stärker zu machen.
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Linda Teuteberg, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut und es ist richtig, dass wir in diesem Haus endlich an prominenter Stelle darüber sprechen, wie wir die Lebensverhältnisse der Menschen in Deutschland verbessern können und müssen. Denn trotz aller Bemühungen in den letzten Jahrzehnten sind wir von der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in den Regionen Deutschlands noch um einiges entfernt. Ich rede nicht nur von strukturschwachen Regionen, etwa in der Prignitz, in meiner Heimat Brandenburg, oder der Pfalz, sondern auch von Wachstumsregionen wie München oder Berlin; und Potsdam allemal. Auch hier gibt es heute Menschen, die das Gefühl haben, ihre Heimat zu verlieren oder sich keine Zukunft aufbauen zu können. Ich bin allerdings überzeugt, dass wir in Deutschland die Kraft und die Möglichkeiten haben, das zu ändern, um überall Regionen der vielfältigen Chancen zu schaffen. Denn wir sind ein reiches Land. Mit klugen, engagierten Menschen. Und einer lebendigen Bürgergesellschaft. Aber ich habe wenig Hoffnung, dass diese Regierung in der Lage ist, das Richtige dafür zu tun.
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Diese Koalition tut nur immer mehr vom Gleichen: mehr Geld, mehr Staat, mehr Paternalismus – ein Rezept, das schon in der Vergangenheit nicht zum Erfolg geführt hat. Aber bei Union und SPD heißt es einfach: Weiter so! Das zeigt schon ein Blick in den Koalitionsvertrag und auf die ersten Monate dieser gar nicht mehr so großen Koalition. 16 Milliarden Euro wollen Sie in dieser Legislaturperiode zusätzlich ausgeben und zur Verfügung stellen für Infrastruktur, für Wohnungsbau, für Strukturpolitik – Milliarden, die Sie dann wieder nach dem Gießkannenprinzip auf Programme, Maßnahmen und Initiativen verteilen. Das ist oft sicherlich gut gemeint. Und klingt immer gut. Aber ist im Ergebnis allzu oft wirkungslos.
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Das zeigt sich ganz besonders dramatisch in Ihrer Wohnungsbaupolitik. Sie haben die Ratschläge des Sachverständigenrates beim Bundeswirtschaftsministerium einfach vom Tisch gewischt,
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der Ihnen deutlich gesagt hat: Mit Ihrem Baukindergeld, mit der Mietpreisbremse oder gar einem Mietenmoratorium werden Sie die Probleme nicht lösen, sondern weiter verschärfen.
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Dabei wäre es höchste Zeit, dass sich unser Staat endlich der wichtigen Probleme der Menschen in diesem Land annimmt und damit Menschen überall in Deutschland neue und mehr Chancen eröffnet: mit besseren Schulen, einer modernen Infrastruktur, vom Breitbandnetz über die Straßen bis zum Schienenverkehr, einer zuverlässigen gesundheitlichen Versorgung, einem Einwanderungsgesetz zur Fachkräftegewinnung, einer echten Entlastung der Bürger bei Steuern und Abgaben und vielem mehr.
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Wir kennen die Probleme. Oft seit langem. Aber diese Regierung tut nichts dagegen. Es ist richtig: Wir werden uns mit Nachdruck und konstruktiv einbringen, wenn es darum geht, die Debatte darüber zu führen, wie wir die Chancen strukturschwacher Regionen verbessern können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Verfassungsauftrag „gleichwertige Lebensverhältnisse“ – seit 1994 bewusst nicht mehr „einheitliche Lebensverhältnisse“ –, bedeutet nicht identische Verhältnisse, ist aber anspruchsvoll. Er lässt uns nicht etwa aus der Verantwortung. Er will gleichwertige Lebensverhältnisse. Und dem, finde ich, tragen wir nur mit Konzepten Rechnung, die Vielfalt ermöglichen, die die Vielfalt der Regionen berücksichtigen und die vor Ort kreative, individuelle und flexible Lösungen ermöglichen.
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Um diese gleichwertigen, aber vor allem auch besseren Chancen und Lebensverhältnisse zu schaffen, brauchen wir eine grundsätzlich andere Politik. Wir brauchen keine Politik, die bremst, zögert und hadert, sondern eine Politik, die neue Freiheiten eröffnet und die Kräfte dieser Gesellschaft in Freiheit freisetzt.
Vielen Dank.
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Jetzt hat das Wort der Fraktionsvorsitzende der Fraktion Die Linke, Dr. Dietmar Bartsch.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will zunächst den Anlass der Debatte ausdrücklich loben. Wenn der Verfassungsauftrag „gleichwertige Lebensverhältnisse“ im Bundestag debattiert wird, dann ist das gut. Endlich spricht der Bundestag darüber, dass es gesellschaftliche Spaltung gibt. Wir sprechen über die ungleichen Lebensverhältnisse, die in unserem Land herrschen. Wenn Herr Seehofer erkennt und ausspricht, dass es Regionen gibt, die abgehängt sind, dann ist das gut. Wenn er sagt, dass es höchste Zeit ist, dann ist auch das gut. Ich kann nur sagen: Einsicht kann der erste Schritt zur Besserung sein.
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Wenn Sie allerdings, meine Damen und Herren, das Ganze als Regierungsprojekt angehen, dann machen Sie einen ganz grundsätzlichen Fehler. Wenn die Opposition in der Debatte hier noch etwas beitragen darf, aber ansonsten in der Kommission nicht, dann ist das meines Erachtens grundsätzlich falsch.
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In der Kommission sind nur Regierungsmitglieder. Ich würde Ihnen raten, dass Sie zumindest diejenigen, die in den Ländern regieren oder die in den Kommunen Verantwortung tragen, einbeziehen, damit sie sich da auch kompetent einbringen können. Ansonsten ist das meines Erachtens wirklich ein falscher Grundansatz.
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Ich will eine zweite Bemerkung machen, die mir wichtig ist: Eine Kommission, der Horst Seehofer vorsteht, ist eine Kommission, die man leider nicht mehr ernst nehmen kann.
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Ihre Rede war ja Dynamik pur. Aber vor allen Dingen sind Sie nach der Causa Maaßen, nach dieser Kette von Peinlichkeiten, ein Minister auf Abruf, und es braucht auch für diese Kommission einen neuen Innenminister, meine Damen und Herren.
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Aber ich will zur Kommission zurückkommen. Es ist gut, dass Frau Klöckner und Frau Giffey als Fachministerinnen auch Verantwortung haben. Ich will dann aber schon noch darauf hinweisen, dass die Kommission, die ja nach 13 Jahren Regierungspolitik Angela Merkels eingesetzt wird, ein Eingeständnis des Versagens Ihrer Politik ist. Denn sonst würden wir die ja nicht brauchen. Es ist Ergebnis Ihres Handelns, dass wir sie jetzt so haben müssen.
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Es ist das Eingeständnis, dass es vielen Menschen in unserem reichen Land schlecht geht und dass der Verfassungsauftrag eben nicht realisiert ist, meine Damen und Herren.
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Sie haben in den Monaten, seit Sie hier regieren, dazu einen relevanten Beitrag geleistet. Ob das beim Dieselskandal oder bei der Diskussion um die Rente war: Immer haben Sie die Menschen verunsichert. Ihre Aufgabe ist aber, etwas gegen die Verunsicherung zu tun und die Abstiegsängste zu reduzieren – wegen meiner können wir das auch gemeinsam angehen –; Sie haben bisher in Ihrem Regierungshandeln allerdings das Gegenteilige realisiert.
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Was zeigt ein Blick auf die letzten Jahre dieses reichen Landes? Es gibt auf der einen Seite steigende Vermögen und auf der anderen Seite millionenfache Armut. Es tut einer Gesellschaft nicht gut, wenn wir auf der einen Seite 200 Milliardäre und auf der anderen Seite 13 Millionen Menschen, die mit 1 000 Euro oder weniger auskommen müssen, haben. Die Zahl derer, die in Armut leben müssen, steigt, wie es gerade in dieser Woche eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung noch mal aufgezeigt hat. Wenn sich in den 13 Jahren Angela Merkel die Zahl der Kinder in Armut verdoppelt hat und sich gleichzeitig die Zahl der Vermögensmillionäre verdoppelt hat, dann ist das nicht Vielfalt, Herr Seehofer, sondern ein Offenbarungseid einer verfehlten Politik, meine Damen und Herren.
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Abstiegsängste und Abstiegspanik sind die logische Konsequenz dieser Politik, und sie bereiten den Boden für Hass und Hetze. Das können wir alle gemeinsam nicht wollen. Aber bei der Koalition der Wahlverlierer, die sich hier zusammengefunden hat, wundere ich mich auch nicht.
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– Es ist aber die Wahrheit. Ich finde es ja traurig, wenn ihr verliert; aber die Wahrheit ist es doch. Tut doch was, damit sich das ändert!
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Es würde mich doch freuen, wenn ihr wieder stärker wäret.
Ich will das Thema an ein paar Punkten festmachen:
Erster Punkt: Digitalisierung. Die Digitalisierung bietet natürlich eine Chance, gerade mit Blick auf die Aufgabe der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Aber es besteht auch die Gefahr, dass sie so gestaltet wird, dass sich gleichwertige Lebensverhältnisse nicht entfalten können. So, wie die Bundesregierung bisher die Digitalisierung angeht, besteht hier vor allen Dingen eine Riesengefahr. Wir sehen es aktuell bei den 5G-Lizenzen. Sie folgen hier offensichtlich der Prämisse, möglichst viel Geld für die Lizenzen einzunehmen. Das ist aber die völlig falsche Prämisse; Sie dürfen es nicht dem Markt überlassen. Das Problem ist, dass der Markt, objektiv betrachtet, gar kein Interesse daran haben kann, etwa die gesamte Bundesrepublik zu versorgen – das hat er nicht. Das Ergebnis wird sein, dass bestimmte Gegenden, in denen der Zustand der Infrastruktur und der Wirtschaft sowieso schon problematisch ist, nicht mit schnellem Internet ausgestattet werden. Es ist doch jetzt schon ein Skandal, wenn 24 Prozent der Bevölkerung keinen Zugang zu schnellem Internet haben. Ganze Regionen sind von schnellen Glasfaserleitungen abgeschnitten. Das ist der Istzustand. Deutschland ist Entwicklungsland bei der Digitalisierung. Wir sind schlechter als Peru, wir sind schlechter als die Länder des Baltikums,
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wir sind sogar schlechter als Albanien. Das ist doch für unsere Wirtschaftsnation einfach peinlich. Da müssen Sie doch was tun! Das verändert die Lebensverhältnisse.
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Die Politik der sozialen Spaltung wird hier bei einem wichtigen Zukunftsthema ganz konkret. Wir kämen doch alle nicht auf die Idee, dass jemand kein fließend Wasser oder keinen Strom braucht. Und bei der Digitalisierung ist es auch so; ein Internetzugang ist genauso notwendig. Internet ist ein Teil der Daseinsvorsorge. Deswegen müssen Sie sich hier engagieren.
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Ich will eine andere Dimension aufmachen: Die Frage der gleichwertigen Lebensverhältnisse – sie wurde hier schon angesprochen – ist natürlich auch eine Frage von Stadt und Land. Das ist ein wichtiger Punkt. 90 Prozent der Fläche in Deutschland sind ländlich geprägt, die Hälfte der Bevölkerung lebt auf dem Land. Aber die Infrastruktur auf dem Land wird gefühlt immer schlechter. Gucken Sie sich die Gesundheitsversorgung an! Aber auch der öffentliche Nahverkehr ist in Teilen der Republik einfach nur noch ein Witz, meine Damen und Herren. Die Vernachlässigung des ländlichen Raums und der öffentlichen Infrastruktur hat dann ganz konkrete Folgen. Es gibt Regionen, in denen der nächste Arzt zwei Stunden entfernt ist und ein Termin erst nach der nächsten Bundestagswahl zu bekommen ist. Gut, das kann jetzt schneller gehen;
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aber das ist, objektiv betrachtet, ein bisschen lang. Es gibt Regionen, in denen drei, vier, fünf Stunden kein Bus fährt oder überhaupt keiner mehr. Und wen trifft das? Das trifft natürlich zuerst die Rentnerinnen und Rentner mit geringen Renten. Es trifft die Hartz-IV-Empfänger, die kein Geld haben, um die Verwandtschaft in der Gegend zu besuchen. Es trifft Alleinerziehende, die jeden Cent fünfmal umdrehen müssen. Das ist das Problem. Die 2 Millionen chronisch Kranken in unserem Land, die auf eine gute Infrastruktur und Daseinsvorsorge angewiesen sind, fühlen sich aussortiert und ausgestoßen. Meine Damen und Herren, da müssen wir etwas tun.
Es ist ja gut, Frau Klöckner, wenn Sie jetzt im Haushalt bei den ländlichen Regionen wirklich was drauflegen. Das kann ich nur loben. Da muss aber Nachhaltigkeit rein, das muss noch deutlich erhöht werden. Nur so werden wir Vertrauen in Politik zurückgewinnen.
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Lassen Sie mich ganz kurz eine Bemerkung zum Osten machen. Natürlich gibt es im Osten bei aller Heterogenität, die wir dort inzwischen auch haben, ein besonderes Problem – es bleibt Fakt –: Wir haben dort geringere Löhne, wir haben Deindustrialisierung, wir haben weiterhin Abwanderung und kaum Perspektive.
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– Das ist ja ein ganz kreativer Hinweis. Junger Mann, ich erkläre Ihnen das gelegentlich.
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Wer regiert denn in diesem Land seit 30 Jahren? Sie haben die Verantwortung dafür.
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Sie hätten schon lange etwas tun müssen. Mensch, diese alten Kamellen! Voriges Jahrhundert!
Vor allen Dingen gehört aber dazu, dass es Anerkennung für Ostbiografien geben muss. Ansonsten kommt es zu einem Vertrauensverlust von Politik und Parteien. Das erleben wir doch. Es gibt zwar einen Ostbeauftragten, aber ich weiß gar nicht, wie er heißt. Früher war das Iris Gleicke, die wenigstens noch mit Dynamik ausgestattet war. Wir müssen im Osten endlich vorankommen. Wir brauchen endlich Mut.
Frau Giffey, Sie haben sich für gleichwertige Lebensverhältnisse und für gleichwertige Chancen für alle Kinder ausgesprochen. Das unterstreiche ich, das ist wunderbar. Kein Kind darf in Armut aufwachsen. Aber die Realität ist eine andere. Wir brauchen hier ein dauerhaftes Engagement des Bundes wie bei der Infrastruktur, wir brauchen endlich eine soziale Offensive in diesem Land, und wir brauchen mehr soziale Gerechtigkeit. Dann lassen sich gleichwertige Lebensverhältnisse herstellen.
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Sorgen Sie dafür, dass die eingesetzte Kommission mehr ist als ein Arbeitskreis mit edlem Buffet. Wir sind gerne bereit, uns unterstützend zu engagieren.
Herzlichen Dank.
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Jetzt hat das Wort die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist nicht nur ein Wunsch, die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse steht im Grundgesetz. So wie die Länder die föderale Ordnung, den Bund, bilden und Unterschiede markieren können und wollen, so haben die Bürgerinnen und Bürger grundgesetzlich das Recht auf gleiche Chancen und gleiche Bedingungen. Die Gründe, die für die ungleiche Entwicklung genannt werden – Demografie, Wirtschaftswandel in der Region oder die Folgen der deutschen Teilung –, sind völlig egal. Die Antwort auf die Frage, was es braucht, um gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen, muss heißen: Solidarität, Zusammenhalt und Handeln.
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Herr Seehofer, Sie haben von Regionen mit besonderem Handlungsbedarf gesprochen. Es war nicht leicht, herauszukristallisieren, was genau Sie damit meinen. Ihr Vortrag über den besonderen Handlungsbedarf war ambitions- und ideenlos. Man muss sich Sorgen machen, dass Ihre Regierung eine Region mit besonderem Handlungsbedarf ist,
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wenn man bedenkt, dass Sie Minister auf Abruf sind und keine Idee und keine Ambitionen haben, etwas zu ändern.
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Es kann nicht mehr bloß darum gehen, Kompromisse zu finden, von denen jeder in der Bundesrepublik Deutschland etwas hat. Vielmehr kommt es darauf an, diejenigen zu unterstützen, die wirklich Unterstützung brauchen. Ich will das an einem Beispiel deutlich machen, das mich besonders umtreibt.
Wer auf dem Land lebt und kein Auto hat – der Bus fährt nur zweimal am Tag vom Dorf in die Stadt –, kommt nicht ins Theater, kommt nicht zur Fachärztin, kommt nicht zum Verein oder zur Bürgersprechstunde und auch nicht zur Parteiversammlung. Diese Menschen sind abgehängt und zugleich ausgeschlossen. Ich mache mir Sorgen um unsere Demokratie, wenn sich immer weniger Menschen einbringen können; unabhängig davon, dass es eine Mattscheibe zwischen ihnen und der Beteiligung gibt.
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Wir müssen über ungleiche Chancen und über gleichwertige Lebensverhältnisse reden. Ja, wir werden nicht gleiche Lebensverhältnisse haben – das ist Quatsch, das will auch keiner –, aber wir müssen über Gleichwertigkeit reden. In diesem Zusammenhang müssen wir über den Osten reden. Die wirtschaftliche Annäherung stagniert. Die Lohnunterschiede betragen noch immer ungefähr 15 Prozent. Es gibt im Osten kein DAX-Unternehmen. Es gibt viel zu wenige Bundesbehörden und Forschungseinrichtungen. Herr Seehofer, ich würde mir von Ihnen wünschen, dass Sie klar darlegen, wie Sie das Problem mit den strukturschwachen Regionen in Bayern gelöst haben, und nicht so larifari vorgehen. Außerdem sind Menschen aus dem Osten unterrepräsentiert: in der Politik, in der Verwaltung und in der Wirtschaft.
Frau Giffey, ich habe Ihnen genau zugehört und sage: Nein, die Situation in der Lausitz und im Ruhrgebiet ist nicht dieselbe. Man sollte auch nicht so tun, als wäre die Situation dieselbe.
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In der Tat: Beide sind strukturschwache Regionen. Aber in der Lausitz ist in den letzten 30 Jahren ein großer Beitrag dafür geleistet worden, dass weniger CO 2 produziert wird. Es ist ein großer Beitrag dafür geleistet worden, dass der Kohleausstieg Stück für Stück vorangeht. Gleichzeitig aber ist die Lausitz abgehängt wie nahezu keine andere Region im Osten und auch in der gesamten Bundesrepublik. Wenn man also einen besonderen Schwerpunkt auf wirtschaftliche Entwicklung und Infrastruktur setzen will, dann wäre die Lausitz eine Beispielregion, mit der man zeigen könnte, dass beides geht: Zukunftsorientierung und Kohleausstieg auf der einen Seite und die Stärkung der sozialen Verantwortung, die Schaffung von Arbeitsplätzen und von Anschluss auf der anderen Seite. Ich würde mir wünschen, dass Sie sagen: Ja, so machen wir es.
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Meine Damen und Herren, ich will mit ein paar Zahlen verdeutlichen, dass die Ost-West-Unterschiede immer noch sehr relevant sind.
Während bei uns in Thüringen 2014 pro Einwohnerin und Einwohner etwa 5,50 Euro Erbschaftsteuer gezahlt worden sind – das sind die letzten vorhandenen Zahlen –, waren es bei den Nachbarn in Hessen 82 Euro und in Bayern 107 Euro. Es ist schlicht und ergreifend so: Wo nichts ist, kann auch nichts vererbt werden.
Eine andere Zahl bereitet mir noch viel mehr Sorge: 17 Prozent der Menschen in Thüringen sind in einem Sportverein. Damit ist Thüringen unter den Ostländern zwar Spitzenreiter, aber abgeschlagen im Vergleich zum Westen; denn im Bundesdurchschnitt ist jeder Dritte Mitglied eines Sportvereins. Jetzt sind die Ossis nicht weniger sportlich – nicht, dass hier ein falscher Eindruck entsteht –; das kann man so bestimmt nicht sagen. Aber anders als im Westen reicht es im Osten nicht, den Verein stärker zu unterstützen oder einen Kleinsponsor zu finden; denn es gibt diesen dort einfach nicht. Es ist zwar viel Geld in die Sportstätten geflossen, aber heute hat manche Kommune nicht einmal genügend Geld, um sie zu erhalten. Auch das ist eine Frage von Demokratie, von Beteiligungsmöglichkeiten, von Dabeisein. Ich finde, auch hieran zeigt sich, ob wir es mit der Daseinsvorsorge ernst meinen oder nicht, ob wir es mit dem Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse ernst meinen oder nicht.
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Deswegen sage ich: Natürlich ist der gesellschaftliche Zusammenhalt mehr als die Summe aus Freiwilligen, Sportplätzen, Landstraßen und schnellem Internet. Dass manche Großmutter zwar schnelles Internet hat, aber nicht online ist, wie es in einem Zwischenruf gesagt wurde, das mag ja sein. Wer aber nicht mitbekommt, dass wir in vielen ländlichen Regionen in diesem Land, in Ost wie West, keinen Zugang zu schnellem Internet haben, der muss sich fragen lassen, wo er Politik macht und wo er unterwegs ist.
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Ich sage es ganz klar: Die 30 Jahre, die seit 1989/90, die seit der friedlichen Revolution vergangen sind, waren geprägt von atemberaubenden Modernisierungsprozessen. Das waren 30 Jahre mit gravierenden Auswirkungen auf die Menschen, die diesen Prozess getragen haben und davon betroffen sind. Wir reden oft über die Indikatoren, aber wir reden viel zu selten über die Menschen, über ihre Erfahrungen, über ihre Erlebnisse, über ihre Geschichten. Das sind Geschichten vom Erfolg und natürlich auch Geschichten vom Scheitern. Das sind Geschichten von Menschen, die es geschafft haben, mitten im Sturm Veränderungen zu gestalten – gegen viele Widerstände, und die Treuhand ist nur einer davon. Die Menschen sind stolz auf diese Geschichten. Darüber wird viel zu selten geredet, und sie werden viel zu selten gewürdigt. Da muss man sich nicht wundern, wenn manche sagen: Unsere Würde ist verletzt.
Was verschenken wir damit nicht alles? Wir leben in einer Zeit gravierender Transformationen – national, europäisch und global –, und es gibt Leute in unserem gemeinsamen Land, die Transformationen erlebt und gestaltet haben wie sonst niemand. Man sollte genau hinschauen und fragen: Was hat funktioniert? Was hat nicht funktioniert? Wo sind Leute gescheitert? – Wir sollten auf diese Erfahrungen, auf diesen Erfahrungsschatz setzen. Das wäre ein riesiger Beitrag; denn damit würden wir sagen: Wir sind wirklich ein gemeinsames Land, wir setzen wirklich auf alle Erfahrungen, und wir sorgen wirklich dafür, dass es gleichwertige Lebensverhältnisse gibt.
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Meine Damen und Herren, es geht darum, ob wir tatsächlich sagen: Ihr gehört dazu; in der Demokratie gehören alle dazu. – Herr Seehofer, vielen Dank dafür, dass Sie gesagt haben, dass es um Vielfalt geht. Ja, das ist richtig, es geht um die Vielfalt in den Regionen und um die Vielfalt der Regionen; aber dazu gehören bitte auch die Leute, die nach Deutschland gekommen sind, und auch die, die aus anderen Bundesländern nach Bayern eingewandert sind. Manch einer hat ja gesagt, das sei ein Problem.
Herzlichen Dank.
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Dr. Stephan Harbarth, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! A divided house cannot stand. Ein Haus, das in sich geteilt ist, kann keinen Bestand haben. Was der amerikanische Präsident Abraham Lincoln im Jahr 1858 mit Blick auf die Grundfreiheiten der Bürger eines Landes ausführte, gilt sicherlich auch mit Blick auf ihre Lebensverhältnisse. Ein Land, in dem der Zugang zu einer Schule, zu einem Arzt oder zum schnellen Internet eine Frage des Wohnorts ist, ist ein gespaltenes Land. Ein solches Land wird den Zusammenhalt seiner Menschen einbüßen. Es ist deshalb eine ganz zentrale Aufgabe der Heimatpolitik, für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu arbeiten. Welche Herausforderungen sich in welchen Bereichen stellen, hat Bundesminister Horst Seehofer in seiner Rede im Einzelnen aufgefächert.
Herr Bartsch, ich werde nicht im Einzelnen auf Ihre Rede eingehen, aber im Hinblick auf die Zerrbilder, die Sie präsentiert haben, auch mit Blick auf Bayern: Schauen Sie sich an, was Horst Seehofer und die CSU in Bayern für die ländlichen Räume getan haben – in puncto Universitäten und Hochschulen, in puncto Städtebauförderung, in puncto Infrastrukturförderung, in puncto Finanzausgleich für die ländlichen Räume. Dazu muss ich Ihnen sagen: Wenn Herr Ramelow in Thüringen die Hälfte hinbekommen hätte, hätten Sie in jedem einzelnem Landkreis einen Jubelparteitag veranstaltet.
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Ich will mich in meiner Rede auf einen Punkt konzentrieren, der im Rahmen einer solchen Gesamtschau nur am Rande angesprochen werden kann. Es gibt in unserem Land eine Gruppe, oder besser: ein Heer von Menschen, das Tag für Tag der Unwucht der Lebensverhältnisse entgegenarbeitet und das gerade im ländlichen Raum und gerade in Regionen, die von einem starken Bevölkerungsrückgang und den damit einhergehenden Folgen betroffen sind, unverzichtbar ist: Ich denke etwa, exemplarisch, an die Kameradinnen und Kameraden der Freiwilligen Feuerwehren in meinem Wahlkreis Rhein-Neckar, ohne deren Einsatz Berufsfeuerwehren benötigt würden. Ich denke etwa an den Dorfladen in Tairnbach in meinem Wahlkreis, wo viele Ehrenamtliche die örtliche Lebensmittelversorgung sicherstellen. Ich spreche von all den Bürgerinnen und Bürgern, die sich ehrenamtlich engagieren; es sind in Deutschland rund 30 Millionen, sie sind überall zu finden, sie sind in allen Bereichen zu finden und in ganz besonderer Dichte in den ländlichen Räumen. Das ist auch ein besonderes Gesellschaftsmodell, für das die ländlichen Räume hier stehen.
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Die Förderung des Ehrenamtes, die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements ist uns – und da spreche ich, glaube ich, für alle Teile dieses Hauses – ein Herzensanliegen. CDU und CSU haben 2007 gemeinsam mit den Sozialdemokraten und 2013 gemeinsam mit den Freien Demokraten an diesem Ort zwei wichtige Gesetze verabschiedet, mit denen wir die Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches Engagement deutlich verbessert haben. An diese Arbeit wollen wir in dieser Wahlperiode anknüpfen. Wir wollen bürokratische Hemmnisse abbauen, wir wollen einen einfacheren Rechtsrahmen schaffen. Menschen, die ehrenamtlich tätig sind, wollen ihre Zeit in den Dienst an ihren Mitmenschen und nicht in den Dienst an Verwaltungsvorschriften stellen; das müssen wir zur Richtschnur machen.
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Wir wollen die Wertschätzung für das Ehrenamt stärken. Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, dürfen durch dieses Engagement keine Nachteile – sei es sozialrechtlich, sei es berufsrechtlich – erfahren.
Wir sollten auch das Ehrenamt in seiner Vielfalt unterstützen. Ich bin mir sicher: Der Staat ist nicht klüger als die Bürgerinnen und Bürger. Der Staat weiß nicht besser, wo ehrenamtliches Engagement gut und angebracht und wo es schlecht und überflüssig ist. Aufgabe des Staates ist es nicht, den Bürgern ihre Tätigkeiten vorzuschreiben, sie zu belehren, sie zu erziehen, sondern Aufgabe des Staates ist, Ansprechpartner für ehrenamtliches Engagement zur Verfügung zu stellen. Mir ist es ein Anliegen, zu sagen: Die Stärkung des Ehrenamtes muss ein fester Bestandteil der Arbeit für gleichwertige Lebensverhältnisse sein – nicht in dem Sinne, dass die Stärkung des Ehrenamtes einen staatlichen Rückzug kompensieren soll, sondern mit dem Ziel, das ganz große Potenzial an Hilfsbereitschaft in unserem Land zur vollen Entfaltung zu bringen, um für den Zusammenhalt dieser Gesellschaft zu arbeiten.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist Dr. Christian Wirth, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Wenn von gleichwertigen Lebensverhältnissen gesprochen wird, dann hören wir viel und zu Recht von den ländlichsten der ländlichen Regionen und vom Osten Deutschlands. Aber nicht nur sie haben Probleme; teilweise sind sie den Regionen weit voraus, die einst die industriellen Kraftzentren Deutschlands waren. Ich möchte Ihnen mein eigenes Bundesland, das Saarland, als Beispiel ans Herz legen. Auch die durchaus urbaneren, durch die Schwerindustrie geprägten Kommunen im Saarland ächzen unter vermeidbaren Problemen. Das Saarland lieferte über Jahrhunderte, bis 2012, Steinkohle für Deutschland und die Welt. Hochklassiger Stahl, Eisen und alles, was sich daraus machen lässt, machten die Saar zu einem der großen Hotspots der deutschen Industrie. Noch heute erfüllen zum Beispiel Autozulieferer und -produktion im Saarland wichtige Aufgaben für Deutschlands Schüsselindustrien.
Dennoch: Die doppelte Krise von Kohle und Stahl hat das Saarland ähnlich, aber noch mehr getroffen als Nordrhein-Westfalen. Wenn ich früher mit meinen Eltern über die Grenze gefahren bin, konnte ich, wenn ich die Augen zugemacht habe, am Zustand der Straße erkennen, wann ich von Deutschland nach Frankreich gefahren bin. Heute ist es umgekehrt. Heute lächeln die Franzosen über die Strukturen im Saarland.
Dabei sind die Probleme nicht nur hausgemacht. Trotz Schuldenbremse und Krise hätten die Kommunen gute Chancen gehabt, sich aus eigener Kraft zu retten. Doch die verschiedenen und immer wieder schrumpfenden Großen Koalitionen der letzten Jahre haben den Kommunen zu viel zugemutet. Kitaplätze, Inklusion um jeden Preis und nicht zuletzt die enormen direkten und indirekten Kosten der Flüchtlingskrise haben auch die ehrlichsten Absichten vor Ort zunichtegemacht. Die Unterstützung der Bundesregierung – wenn es sie überhaupt gab – war zu gering und kam zu spät.
Die durchschnittliche saarländische Kommune kann gerade einmal die Hälfte von dem ausgeben, was die durchschnittliche ostdeutsche Kommune ausgeben kann – und nur ein Drittel von dem einer durchschnittlichen bayerischen Kommune. Neben dem Geld für die auferlegten, unumgänglichen Kosten durch die vom Bund befohlenen Aufgaben und die Auflagen der Schuldenbremse bleibt kein Geld mehr für zukunftsweisende Investitionen und Schuldenabbau, was die bereits existierenden Standortnachteile verschärft. Die Kommunen sind in einer teuflischen Spirale gefangen, die hier in Berlin und nicht vor Ort ihren Anfang nahm.
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Die Kommunen müssen endlich die Kraft erhalten, ihre spezifischen Probleme so zu lösen, wie es an jedem Ort individuell notwendig, möglich und gewünscht ist. Dazu brauchen die Kommunen mehr Spielraum, das heißt eine fairere Einnahmenverteilung, zum Beispiel durch eine höhere Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuer. Dazu brauchen wir die Anerkennung des Bundes für die außergewöhnliche Belastung, aber auch Leistung der Kommunen in den vergangenen Jahren, das heißt eine Überprüfung der aufgebürdeten Kosten und eine mindestens gleichwertige, ausgleichende Finanzierung oder eine Übernahme von Altschulden in Zusammenarbeit mit den Ländern. Dazu brauchen wir eine verantwortungsbewusste Bundespolitik, das heißt eine Politik, die erkennt, was sie zum Beispiel bei Kommunen, die von einzelnen oder wenigen Betrieben abhängig sind, anrichtet, wenn sie mit unwissenschaftlichem Unsinn, wie dem Krieg gegen den deutschen Diesel, das Geschäftsmodell ganzer Industriezweige zerstört.
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Ein ganz akutes Beispiel: Gestern hat Saint-Gobain Gussrohr, ehemals Halbergerhütte, gegründet 1756 im Saarland, einer der wichtigen Arbeitgeber in Saarbrücken, angekündigt, zwei Drittel seiner Mitarbeiter zu entlassen. Ein Grund sind unter anderem die zurückgegangenen öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur. Die zunehmende Spezialisierung auf Trink- und Abwasserrohre macht die Firma im Angesicht öffentlicher Sparmaßnahmen nur noch verwundbarer. Die Innovation ist nach Lothringen, wenige Kilometer weiter, gegangen, die Arbeitslosen bleiben im Saarland.
Wenn Sie gleichwertige Lebensverhältnisse wollen, dann lassen Sie die Kommunen atmen. Lassen Sie die Kommunen entscheiden, und hören Sie auf, mit Ihrer ideologieverblendeten Politik zu zerstören, was Generationen aufgebaut haben.
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Nehmen Sie Artikel 72 des Grundgesetzes ernst, und gehen Sie nicht mit Steuergeldern gießkannenmäßig durch die Welt, sondern sorgen Sie dafür, dass in Deutschland gleiche Lebensverhältnisse für die Bürger und die Regionen herrschen.
Vielen Dank. Glück auf!
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Bernhard Daldrup, SPD, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst mal feststellen und auch würdigen, dass wir heute hier eine erste Orientierungsdebatte führen. Das heißt, wir haben als Parlament die Chance, ungeachtet einer konkreten Gesetzesvorlage und auch jenseits von Fraktionsgrenzen auf gesellschaftliche Herausforderungen Antworten zu geben. Das ist eine gute Gelegenheit, aber, Dietmar Bartsch, das, was ich gehört habe, ist, ehrlich gesagt, sozusagen nur die Verliebtheit in die Litanei des Elends.
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Das ist aber zu wenig, wenn man dieser Herausforderung Rechnung tragen will.
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– „Den Tatsachen in die Augen sehen“: Das machen wir.
Worum geht es eigentlich? Es gibt ein gutes Leben auf dem Land, und das ist durchaus gleichwertig mit dem guten Leben in der Stadt. Die Vielfalt, die Eigenart, die Unterschiede sind eher unsere Stärken. Sie sollen nicht nivelliert werden. Das ist nicht der Punkt, wenn es um gleichwertige Lebensverhältnisse geht. Es geht auch nicht einfach nur um den alten Stadt-Land-Gegensatz oder um die alte Ost-West-Debatte, sondern es geht um die Antwort auf die Frage: Wie können gleichwertige Lebensbedingungen dort erreicht werden, wo die Bedingungen dafür nicht erfüllt sind? Es geht um Bedürftigkeit statt um Himmelsrichtungen. Es geht im Kern darum, dass in ländlichen Regionen Daseinsvorsorge bedroht ist, dass in strukturschwachen Regionen die Arbeitsplätze fehlen. Oder es kann tatsächlich auch darum gehen, dass Familien in einer Situation sind, in der sie sich die Kindergartenbeiträge schlicht und ergreifend nicht leisten können oder keinen Platz in einem Kindergarten finden. Das ist die Debatte, für die wir Vorschläge und keine Wiederholung dessen brauchen, was wir schon wissen.
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Die Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen, meine Damen und Herren, ist das aus der Raumordnung stammende Ziel, das im Zuge der deutschen Einheit den Weg ins Grundgesetz gefunden hat. Warum? Weil die Lebensbedingungen eben so unterschiedlich waren. Fortan ist es eine staatliche Aufgabe geworden, in räumlicher Hinsicht für mehr Gleichheit, für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Das ist die Aufgabe. Sie gilt heute nach wie vor, aber nicht nur auf Ost und West bezogen.
Der Raumordnungsbericht, Herr Minister, liefert seit ungefähr 40 Jahren eindrucksvolle Belege dafür, wie es mit der Wohnungsversorgung, mit den Arbeitsplätzen ist, wie unterschiedlich die Lebensbedingungen sind; stellt dar, wie groß die Steuerkraftunterschiede sind, dass die Steuerkraft in Bayern beispielsweise mit am größten ist usw. usf. Also, einen zusätzlichen Deutschland-Atlas braucht man vielleicht nicht. Aber ich glaube schon, dass wir konstatieren müssen und auf dieser Basis auch können, dass die Lebensbedingungen nicht nur individuell, sondern auch in den Kommunen und in den Regionen deutlich auseinanderklaffen. Mit diesen Ungerechtigkeiten finden wir uns als Sozialdemokraten nicht ab.
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Wir wollen die Menschen einladen, mitzumachen. Für uns gilt das Sozialstaatsgebot im Grundgesetz auch in räumlicher Hinsicht. Was heißt „in räumlicher Hinsicht“? Das kann man mit vier Buchstaben übersetzen. Die vier Buchstaben heißen: Alle. Alle in Deutschland haben den Anspruch auf Bildung und Erziehung. Alle haben den Anspruch auf eine gute gesundheitliche Versorgung. Alle haben den Anspruch auf Arbeit und Ausbildung. Alle haben den Anspruch auf eine gute Infrastruktur. Das sind im Grunde genommen die Anforderungen, die wir haben: alle, und zwar unabhängig vom Wohnort und unabhängig von den Bedingungen am Wohnort. Wenn diese Bedingungen nicht gut genug sind, müssen wir sie verbessern. Das ist die räumliche Seite des Ziels gleichwertiger Lebensbedingungen.
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Sosehr es dabei um den Ausgleich von Benachteiligungen geht, so sehr hat das auch mit Freiheit zu tun, mit Chancen zu tun, sein Leben zu verwirklichen. Deswegen ist es wichtig, dass wir die Regionen in die Lage versetzen, dass die individuelle Freiheit dort, wo man lebt, auch genutzt und umgesetzt werden kann.
Was ist also eigentlich jetzt zu tun? Den sozialen Zusammenhalt zu stärken und Spaltungen zu überwinden, ist das erklärte Ziel der Koalition; das ist einer der ersten Sätze im Koalitionsvertrag. Die Einsetzung einer Regierungskommission, die diesen komplexen Fragen nachgeht, begrüßen wir. Wir halten das für richtig. Deswegen ist nicht nur die Bundesregierung dabei, sondern auch die Länder und Kommunen sind dabei. Es ist also durchaus eine angemessene Zusammensetzung.
Wenn wir von gleichwertigen Lebensverhältnissen reden – jetzt komme ich zu ein paar Vorschlägen –, dann sind wir sehr schnell bei den Kommunen; denn es handelt sich schon um eine Gemeinschaftsaufgabe; diese Aufgabe ist in allen Bereichen wahrzunehmen. Ich will drei Dinge ansprechen.
Erstens. Die anhaltend hohen sozialen Ausgaben sind regional sehr unterschiedlich: In prosperierenden Regionen sinken die Sozialausgaben und steigen die Sachinvestitionen, während in strukturschwachen Regionen die Sozialkosten zulasten von Zukunftsinvestitionen steigen. Die Schere geht auseinander. Das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt so. Mit anderen Worten: Die Folge auf der einen Seite ist Entschuldung, die Folge auf der anderen Seite ist höhere Verschuldung. Man kommt aus diesem Dilemma nicht mehr heraus. Das heißt, wir müssen die Kommunen von den Sozialkosten entlasten.
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Wir müssen Finanzierungsverantwortung und Umsetzungsverantwortung näher zusammenbringen. Dazu kann ich eine Reihe von Vorschlägen machen.
Zweitens. Die Teilung zwischen finanzstarken und finanzschwachen Kommunen müssen wir überwinden. Von den rund 50 Milliarden Euro an Kassenkrediten betrifft der überwiegende Teil Kommunen, die einem dramatischen Strukturwandel unterliegen. Ihnen muss konkret geholfen werden. Deshalb erwarten wir von der Kommission beispielsweise Vorschläge zur Lösung des Altschuldenproblems.
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Und drittens geht es um die Frage der Investitionsfähigkeit. Dabei ist das nicht nur eine Fragestellung von Investitionsprogrammen. Wir haben im Koalitionsvertrag stehen: Wer die Musik bestellt, der muss sie auch bezahlen. – Dieses Ziel müssen nicht nur wir verfolgen, sondern auch die Länder. Der Kommunalisierungsgrad von Aufgaben und die Finanzverantwortung klaffen in den Ländern dramatisch auseinander. Herr Brinkhaus – wo ist er? – hat in der Vergangenheit immer sehr darauf hingewiesen, dass das in Nordrhein-Westfalen so sei. Das hat sich nicht geändert. Darauf kann er in Nordrhein-Westfalen gerne aufmerksam machen und daran erinnern.
Das sind zwar technische Fragestellungen, aber ich bin fest davon überzeugt: Wenn wir unsere Städte stark machen, dann machen wir unsere Gesellschaft stark. Das ist der Punkt, meine Damen und Herren von der AfD: Es geht nicht um ländliche Regionen; es geht nicht einfach nur um wirtschaftspolitische Fragestellungen, es geht um die Stärke, um die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft und ihren demokratischen Zusammenhalt.
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Das ist die Aufgabenstellung, der wir uns jedenfalls verpflichtet fühlen und an der wir weiterarbeiten werden.
Herzlichen Dank.
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Dr. Jens Brandenburg, FDP, ist der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehr als zwei Schuljahre sind sächsische Neuntklässler ihren Bremer Altersgenossen im Lesen voraus. In strukturschwachen Landkreisen wurde in den letzten Jahren jede zehnte Grundschule geschlossen. In Regensburg kommen auf 100 Bewerber 118 Ausbildungsplätze, in Oberhausen nur 76. Das Abitur ist zwischen den deutschen Bundesländern nicht mehr vergleichbar; das sagt das Bundesverfassungsgericht. Dabei ist Bildung der Schlüssel für gleichwertige Lebensverhältnisse im gesamten Land.
({0})
Ohne gute Schulen wird kaum eine Region künftig neue Familien, geschweige denn neue Betriebe ansiedeln können.
Nun hat die Bundesregierung eine Kommission zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse eingesetzt, an der die Bildungsministerin gar nicht beteiligt ist. Frau Karliczek, warum eigentlich nicht? Sechs Projektgruppen wird es geben, von denen sich aber keine im Kern den Bildungschancen widmet.
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Die Bildungschancen in Deutschland dürfen künftig nicht mehr davon abhängen, wo ein junger Mensch zur Schule geht.
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Auch der Wechsel, der Umzug von einem Bundesland in ein anderes darf keine Zumutung mehr sein für junge Familien.
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Wir wollen weltbeste Bildung für jeden, in den großen Städten, aber auch auf dem flachen Land, von Aachen bis Görlitz. Das ist unser Anspruch.
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Viele Lösungen liegen ja auf der Hand. Ein aktuelles Beispiel ist die Diskussion rund um das Kooperationsverbot. Es ist gut, dass die Bundesregierung jetzt grundsätzlich bereit ist, das Grundgesetz zu ändern. Gleichzeitig stehen Sie gleich dreifach auf der Bremse bei den Verhandlungen.
Erstens. Die Bildungsinvestitionen des Bundes dürfen natürlich keine Eintagsfliege sein. Sie sind eine Daueraufgabe. Die Schulen brauchen Verlässlichkeit. Das muss diese Grundgesetzänderung ermöglichen.
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Zweitens. Die Schulen brauchen – erst recht in Zeiten der Digitalisierung – eine ordentliche Ausstattung. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die vielen Milliarden des Bundes wirklich vor Ort bei den Schulen, auch bei den Berufsschulen, ankommen.
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Sie dürfen nicht hängen bleiben an den klebrigen Fingern der Landesfinanzminister. Das ist ein Fehler, der beim BAföG und beim Hochschulpakt passiert ist. Derselbe Fehler droht nun auch beim „Schlechte-Kita-Gesetz“.
({7})
Auch bei dieser Grundgesetzänderung weigern Sie sich bisher, die verbindliche Zusätzlichkeit der Bundesmittel festzuschreiben.
Dritter Punkt. Wo Bildung draufsteht, muss natürlich auch Qualität drin sein. Wir brauchen einheitliche Standards, verbindliche Ziele und zwischen den Bundesländern vergleichbare Abschlüsse und Noten.
({8})
All das sind keine überzogenen Fantasien der Opposition, sondern ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit für gute Bildung. Sie brauchen, liebe Bundesregierung, für Ihre Grundgesetzänderung eine Zweidrittelmehrheit hier im Deutschen Bundestag. Wir sind weiterhin sehr gesprächsbereit. Aber das setzt voraus, dass auch Sie sich bewegen. Wenn wir hier über gleichwertige Lebensverhältnisse im ganzen Land diskutieren, dann gehört Bildung ins Zentrum der Debatte.
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Heidrun Bluhm, Fraktion Die Linke, ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie die Debatte hier heute zeigt, haben wir kein Wissensdefizit. Wir haben aber ein großes Handlungsdefizit, und zwar im gesamten System.
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Wir sind uns einig – auch das zeigt die Debatte –: Es braucht eine Offensive für die ländliche Entwicklung und eine wirkliche Zukunftsperspektive für ländliche Regionen, um hier auch zukünftig Wertschöpfung zu ermöglichen und um nicht alles in den Metropolen zu konzentrieren, auch mit all den negativen Erscheinungen wie Verkehrskollaps, schlechte Luft oder unbezahlbare Mieten. Während die Koalition aber in Kommissionen noch debattiert, hat Die Linke längst aufgeschrieben, wie sich gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland umsetzen lassen. Unser Antrag wird morgen auf der Tagesordnung sein. Sie können sich bereits daran beteiligen, mit uns um den besten Weg zu streiten.
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Herr Daldrup, mit diesem Antrag zeigen wir Ihnen auch, dass Herr Bartsch eben nicht aus Verliebtheit in die Litanei des Elends gesprochen hat, sondern dass wir klare Lösungsansätze haben, denen Sie sich zuwenden sollten.
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– Sie können eine Frage stellen, Frau Connemann. Dann kann ich gern darauf antworten.
Das, was wir brauchen, ist zuallererst das, was auch Herr Bartsch hier gesagt hat: gute Voraussetzungen für den ländlichen Raum, damit sich auch die Wirtschaft in diesem Bereich entwickeln kann. Glasfaserausbau und flächendeckendes 5G, das wird hier überall genannt. Herr Scheuer, Sie stehen hier vor der Aufgabe, das demnächst auszuschreiben und das in Deutschland zu realisieren. Ich sage Ihnen: Wir dürfen das nicht versemmeln.
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Wir wollen, dass tatsächliche Wertschöpfung in den ländlichen Regionen stattfindet und dass sich dort Kreative sowie Start-ups niederlassen können und auch entsprechende Bedingungen dazu vorfinden. Und wir wollen, dass jene kleinen und mittleren Unternehmen, die bereits heute im ländlichen Raum arbeiten, zukünftig nicht abgehängt sind. Politik muss dafür sorgen, dass auch hier gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Unternehmerinnen und Unternehmer gewährleistet werden. Nur so können wir regionale Wertschöpfung überall sichern. Nur so können wir dafür sorgen, dass Gewinne, die im ländlichen Raum generiert werden, auch tatsächlich dort verbleiben. Wir brauchen eine Agrar- und Ernährungswirtschaft, die vor allem regional produziert und vermarkten kann, die miteinander vernetzt ist, voneinander weiß und aneinander partizipiert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen, wie Frau Giffey, lebendige Räume, damit die Menschen überall gut leben können, Räume in Stadt und Land, in denen sie auch gut versorgt sind.
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Das geht zum Beispiel durch kommunale Energieversorgung oder, besser noch, mit Bürgerenergie, beispielsweise durch Genossenschaftsmodelle in Form von Dorfläden. Wer schon mal eine Genossenschaft gegründet hat, weiß, wie schwer das heute ist.
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Damit können wir den Interessen der Konzerne, die den ländlichen Raum nur noch als Rohstoff- und Energielieferanten betrachten, wirksam entgegenwirken. Die Linke will, dass Kindertagesstätten, Schulen, Sportstätten, Jugend- und Gemeinschaftshäuser, aber auch die pflegerische und gesundheitliche Versorgung bedarfsgerecht zur Verfügung gestellt werden. Ein erster Schritt dazu wäre schon mal, die Einrichtungen, die wir noch haben, zu erhalten, und ein zweiter Schritt wäre, die Einrichtungen, die wir verkauft und privatisiert haben, zu rekommunalisieren.
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Auch Nahversorgung und Kultureinrichtungen müssen überall für alle Menschen erreichbar sein; der ÖPNV muss leistungsfähig und barrierefrei sein; Schulkinder sollten maximal eine Stunde am Tag für den Schulweg benötigen; sie brauchen obendrein ein vielfältiges Bildungsangebot in der Fläche, flexible Schulformen und auch digitalen Unterricht. Ich könnte alle Vorstellungen, die wir haben, hier vortragen; aber wir wollen das ja noch in den Ausschüssen diskutieren; deswegen will ich das hier auch nicht weiter ausführen.
Was ich aber noch ausführen muss, ist, dass wir insbesondere in den ehrenamtlich geleiteten Kommunen die Möglichkeiten der Fördermittel gar nicht ausschöpfen können, dass der Dschungel der Förderungen durch die verschiedenen Ebenen – Bund, Land, Kreise – so groß ist, dass gerade im Ehrenamt diese Arbeit nicht alleine geleistet werden kann. Hier sind wir uns einig – auch mit Frau Klöckner –, dass auch für das Ehrenamt hauptamtliche Unterstützung da sein muss. Ich bin gespannt auf die Vorschläge, die von ihr in dieser Richtung kommen.
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Ein letzter Punkt, den ich ansprechen will, sind die Altschulden der Kommunen.
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.
Letzter Satz, Herr Präsident. – Es geht nicht nur um die Altschulden, die die Kommunen strukturell mit sich herumtragen, sondern auch um die Altschulden der ostdeutschen Wohnungswirtschaft; denn auch sie müssen endlich vom Tisch – nach 30 Jahren Geschichte.
Danke schön.
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Jetzt hat das Wort Britta Haßelmann, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei all der Vielfalt und Unterschiedlichkeit in den Städten, den Gemeinden, den Regionen unseres Landes soll die im Grundgesetz geforderte Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse garantieren, dass Unterschiede in der Lebensqualität nicht zu groß werden. Menschen sollen überall gleiche Chancen auf Teilhabe und die Entwicklung ihrer Lebensperspektiven haben. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist heute nicht der Fall, und das wissen wir alle. Deshalb haben wir in der Tat kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Handlungsdefizit,
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und dies trägt die Bundesregierung seit Jahren mit sich herum.
Die Disparitäten werden immer größer. Trotz guter Konjunkturlage und steigender Steuereinnahmen, auch auf der kommunalen Ebene, hat diese Ebene 50 Milliarden Euro Kassenkredite deutschlandweit zu verzeichnen. Der Investitionsstau im Jahre 2017 betrug 159 Milliarden Euro. Diese zwei Zahlen nenne ich nur, um zu zeigen, wie groß der Handlungsdruck und die Handlungsnotwendigkeiten sind.
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Gleichwertigkeit bedeutet nicht, dass überall alles gleich ist. Aber, meine Damen und Herren, der Zugang zur Infrastruktur muss doch für alle Menschen möglich sein. Und da nutzen bloße Absichtserklärungen und Sonntagsreden nichts. Wenn der Bus nur zweimal am Tag fährt, die Schule, das letzte Jugendzentrum oder die Stadtbibliothek geschlossen sind, keine Tagespflegeeinrichtung in der Nähe ist oder der nächste Hausarzt gefühlt kaum zu erreichen ist, ohne dass man sich der Unterstützung der Nachbarn bedient, dann spüren Menschen doch die Einschränkung ihrer Teilhabe jeden Tag ganz hautnah. Und dagegen müssen wir was tun, meine Damen und Herren, und da reichen keine schönen Worte und Absichtserklärungen, auch nicht die, die vonseiten der Minister und Ministerinnen hier vorgetragen werden.
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Solidarität, Beteiligung und das Nicht-ausgegrenzt-Sein – das muss unser Credo sein. Es muss sich aber auch im politischen Handeln widerspiegeln. Frau Giffey, da frage ich Sie mal: Warum haben Sie letzte Woche einen Entwurf für das Gute-Kita-Gesetz vorgelegt, in dem eine befristete Finanzierung vorgesehen ist? Können Sie mal erklären, wie das mit Ihren Absichtserklärungen, die Sie hier abgegeben haben, übereinstimmt?
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Jeder von uns weiß: Befristete Finanzierung im Gesetzentwurf bedeutet am Ende – wunderbar: wir alle freuen uns über gute Kitaqualität; wir fordern das und diskutieren das seit Jahren –, dass nach der Zeit der Befristung die Kommunen auf den Kosten sitzen bleiben. Das wissen Sie doch ganz genau.
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Deshalb: Lassen Sie uns dafür sorgen, dass das Handeln, wie es angekündigt wurde, und das Handeln, wie es in der Realität ist, nicht so weit auseinanderklaffen. Das kann ich Ihnen nur raten; denn die Menschen spüren und wissen das. An dieser Stelle sind viele Menschen empfindlich und dann auch enttäuscht.
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Das kann ich auch Ihnen sagen, Herr Seehofer. Es ist wunderbar, dass auch Sie jetzt das Thema Altschuldenfonds entdeckt haben. Ich frage mich aber: Warum haben Sie eigentlich als bayerischer Ministerpräsident noch vor kurzem in der Bund-Länder-Finanzkommission, bevor wir die 9,7 Milliarden Euro hier beschließen durften, verhindert, dass das Thema Altschuldenfonds für die Kommunen endlich diskutiert wird? Sie waren einer der Vertreter, die das verhindert haben. Ich kann Ihnen noch ein paar Ministerpräsidenten nennen, die dagegen waren, das zu tun. Am Ende waren die Bremer, die Schleswig-Holsteiner, die Saarländer und die Nordrhein-Westfalen ganz alleine mit dieser Forderung. Heute sagen Sie: Das Thema ist ganz wichtig. – Ich würde mich freuen, wenn da endlich was passiert. Vielleicht ist da Einsicht eingetreten. Das wäre für die Sache sehr gut; denn wir brauchen die Entschuldung der Kommunen und auch einen Anknüpfungspunkt von Bundesebene aus.
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Lassen Sie mich zuletzt noch sagen: Die Erklärung, dass wir eigentlich vier Ebenen sind, passt nicht. Ich will sagen, warum: Wir haben die große Aufgabe, die Förderpolitik der nächsten Jahre neu auszurichten, meine Damen und Herren. Und auch hier, Frau Giffey, lagen Sie falsch. Sie haben gesagt: Es gibt vier Ebenen: Bund, Länder, Kommunen und Zivilgesellschaft. – Wo bleibt eigentlich Europa?
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Denn 2020 bedarf es einer Neuausrichtung der europäischen Förderpolitik, und nichts hat so intensiv mit der Frage der Strukturpolitik in den Regionen zu tun – auch mit Blick auf unseren Haushalt – wie die europäische Förderpolitik.
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Frau Kollegin Haßelmann, denken Sie bitte daran, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Alles klar. – Deshalb darf man doch an solch einer Stelle die Diskussion über Regionen und die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse niemals ohne Berücksichtigung der europäischen Ebene führen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Nächste Rednerin ist Gitta Connemann, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Landlust oder Landfrust, Bullerbü oder Einöde: Der Blick aufs Land ist häufig sehr eindimensional, geprägt von Bilderbuchgeschichten oder aber Zerrbildern. Eines steht fest: Beides geht an der Realität vorbei. Das nervt die Menschen auf dem Land wie mich. Sie fühlen sich missachtet – von Planern, von Medien, von Politik. Für sie ist die Kommission, die eingesetzt worden ist, das Signal, dass die ländlichen Regionen zukünftig einen Logenplatz in Berlin haben werden – in der Regierung, lieber Herr Kollege Bartsch, aber auch darüber hinaus; denn in dieser Kommission werden Länder und Kommunen vertreten sein. Wenn Sie sich ein wenig besser informiert hätten, hätten Sie es gewusst. Vielleicht machen Sie das nächste Mal lieber Ihre Hausaufgaben, statt Versatzstücke zu zitieren.
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Wir als Union haben für diese Kommission vor der Wahl gekämpft. Wir haben dafür gesorgt, dass diese Kommission im Koalitionsvertrag verankert worden ist. Denn für uns ist klar: Das Land gehört ins Rampenlicht. Wir wissen, dass unsere ländlichen Räume Zukunftsräume und Kraftzentren sind. Wir wissen übrigens aber auch, dass Land und Stadt zusammengehören. Deswegen warnen wir vor Konkurrenzdebatten. Jeder Bürger, egal wo er lebt, muss gleiche Chancen haben.
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Wir wissen aber auch, dass die Lebensverhältnisse unterschiedlich sind; sie zersplittern, gerade auf dem Land. Es gibt ein tatsächliches Ungleichgewicht – und ein gefühltes. Dabei geht es übrigens nicht um Ost oder West, sondern am Ende geht es um die Frage von schrumpfenden und wachsenden Regionen. Denn zur Wahrheit gehört: Es gibt nicht nur den ländlichen Raum – Gott sei Dank –, aber es ist eben auch eine Herausforderung. Es gibt strukturelle Probleme, die sich überall gleichen, wie fehlender ÖPNV, fehlendes Breitband, fehlende Gesundheitsversorgung bzw. die Angst davor. Manche dieser Probleme sind älter, manche sind erst in den letzten Jahren entstanden.
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Auf etliche haben wir inzwischen reagiert – vielen Dank für Ihren Hinweis –, zum Beispiel mit Geldern, die wir für den Breitbandausbau zur Verfügung gestellt haben – eigentlich eine Aufgabe der Länder –, aber auch mit Gesetzen, die es ermöglichen, Telemedizin zu leben, die Zulassung von jungen Ärzten in Ländern attraktiv zu machen, und vieles mehr. Denn wir sind der Auffassung: Medizin, Bildung, Forschung, Mobilität, Mobilfunk müssen gewährleistet sein, und das flächendeckend. Wir sehen uns da in der Pflicht. Wir investieren auch. Das stellen unsere Bundesministerinnen und Bundesminister inzwischen Tag für Tag unter Beweis, zum Beispiel Julia Klöckner mit ihren Programmen wie dem Bundesprogramm Ländliche Entwicklung. Unsere Bundesministerin Anja Karliczek wird Abermilliarden für die Ertüchtigung von Schulen in ländlichen Regionen in die Hand nehmen. Unser Bundesinnen- und Heimatminister begleitet das rechtlich; denn diesen Rechtsrahmen brauchen wir auch.
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Neben diesen strukturellen Problemen gibt es aber regionale Unterschiede. In manchen Regionen erleben wir Wirtschaftskraft und Fachkräftemangel, in anderen Landflucht und Arbeitslosigkeit. Eines steht fest: Hier brauchen wir maßgeschneiderte Lösungen, keinen Zentralismus oder Dirigismus. Das hilft an dieser Stelle nicht. Wir brauchen Kommunen mit Freiräumen, die die Chance haben, eigene Lösungen auch zu leben, im Baurecht, bei Gewerbeansiedlungen. Das geht übrigens nur mit Öffnungsklauseln.
Ich komme zur Grundfrage an uns auch als Gesetzgeber: Sind wir am Ende bereit, diese Freiheit auch zu wagen, diese Autonomie zu wagen und den Menschen vor Ort etwas zuzutrauen? Das ist die Kernfrage. Ich kann es uns nur empfehlen. Denn die Menschen, die ich bei uns vor Ort, in den Ländern erlebe, das sind Menschen, die sich selbst helfen, die großartige Arbeit leisten, innovative Projekte umsetzen und den regionalen Zusammenhalt stärken. Häufig sind sie außerordentlich stark ehrenamtlich engagiert. Daher: Lassen Sie uns vertrauen! Trauen wir es ihnen zu!
Vielen Dank.
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Dr. Dirk Spaniel, AfD, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen – im Verkehrssektor bedeutet das, dass ich von meinem Wohnort aus meinen Arbeitsplatz schnell und stressfrei erreichen kann. In der grünen Wohlfühlmärchenwelt reden Sie immer von der Verkehrswende. Im Wesentlichen sind das die Stärkung des ÖPNV und der Ausbau von Elektromobilität. Erreichen wollen Sie das über die zunehmende Abschaffung von Individualverkehr und privat genutztem Automobil. Ja, und Ihre Politik ist durchaus erfolgreich: In Städten werden zunehmend Parkplätze abgebaut, und Ausfallstraßen werden durch Fahrradspuren eingeengt. Somit entstehen heute endlose Staus,
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und diese sind politisch gewollt, um den Menschen das Autofahren zu vermiesen.
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Seit Jahren werden in Deutschland ganze Regionen abgehängt, und der ländliche Raum ist immer schwerer zu erreichen.
Nehmen wir das schöne Beispiel vom Vorsitzenden des Verkehrsausschusses, Herrn Özdemir, der leider nicht da ist, das er, übrigens im Rahmen einer Hetzrede gegen die AfD, im Frühjahr hier im Bundestag erwähnt hat.
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– Aber sicherlich war das eine. – Herr Özdemir behauptete damals großspurig, er würde, wenn er aus Berlin am Flughafen Stuttgart ankomme, mit der S-Bahn nach Hause fahren, nach Bad Urach. Bad Urach ist ein idyllisches Städtchen am Fuß der Schwäbischen Alb. Dumm nur: Es gibt gar keine S-Bahn nach Bad Urach,
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aber dafür gibt es einen Bahnhof, und die Verbindung von Bad Urach zum Flughafen sieht so aus: Sie steigen in die Regionalbahn nach Metzingen ein. Sie steigen in Metzingen in den Regionalexpress nach Wendlingen um, und dort steigen Sie in den Bus zum Flughafen um. Die Fahrzeit für diese Strecke beträgt fast zwei Stunden – Fußwege nicht eingerechnet.
Das heißt, ein Pendler, der am Flughafen Stuttgart arbeitet – dort arbeiten übrigens 10 000 Menschen –, dieser Pendler, der brav mit öffentlichen Verkehrsmitteln fährt, so wie Sie alle das hier wollen, wäre hin und zurück praktisch vier Stunden unterwegs. Mit dem Auto spart dieser Pendler drei Stunden – und das jeden Tag.
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Diesem Pendler machen Sie das Leben zur Hölle –
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mit Ihren Verkehrsbehinderungsmaßnahmen wie verschlepptem Ausbau von Umgehungsstraßen, Fahrradspuren sowie fehlenden Parkplätzen in unseren Städten.
Der vorläufige Gipfel Ihrer Politik der Zerstörung unserer Gesellschaft sind die Fahrverbote für ältere Fahrzeuge. Es erstaunt mich ja, dass das hier immer noch nicht groß zur Sprache gekommen ist. Mit dem Hype um Elektromobilität und mit Fahrverboten wird übrigens die individuelle Mobilität zu einem Luxusgut für unsere Upperclass, und sonst ist das alles nur noch eine Zerstörung.
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Verlangen Sie mal von einem Familienvater aus dem genannten Beispiel, dass er mit öffentlichen Verkehrsmitteln jeden Morgen in die Stadt pendeln soll! Seine Familie sieht er nur noch in einer WhatsApp-Gruppe.
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Ihre Verkehrswende ist de facto ein Angriff auf die ganze Familie. Für Pendler ist das Auto immer noch die schnellste und vernünftigste Variante. Wer was anderes behauptet, hat entweder keine Ahnung oder sagt einfach die Unwahrheit.
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Die AfD fordert daher massiv den Ausbau der Straßeninfrastruktur, um damit auch Familien die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben auf dem Land zu ermöglichen.
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„Gleichwertige Lebensverhältnisse“ bedeutet deshalb auch: Wir wollen die Interessen der Autofahrer in diesem Land wieder stärken.
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Ich würde mich freuen, wenn andere, scheinbar bürgerliche Parteien sich dieser Position der AfD anschließen würden.
Vielen Dank.
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Jetzt hat das Wort Bürgermeister Dr. Carsten Sieling.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Schaffung vergleichbarer Chancen für alle Menschen in unserem Land gehört zweifelsohne zu den großen Aufgaben unserer Zeit; denn das Versprechen, für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet zu sorgen, wie es im Grundgesetz heißt, ist seit langem brüchig geworden.
Bei der Bereitstellung von moderner Infrastruktur, medizinischer Versorgung, guten Schulen, Kindergärten oder auch kulturellen Angeboten stoßen wir in der gesamten Republik auf zum Teil erhebliche Unterschiede. Diese Unterschiede sind für die Menschen nirgendwo so spürbar wie in den Kommunen und Städten, und sie haben Folgen – für die Teilhabe, den Zusammenhalt und die Demokratie vor Ort. Ich begrüße daher ausdrücklich, dass die gerechte Verteilung von Ressourcen und Möglichkeiten für alle in Deutschland lebenden Menschen mit der Kommission für gleichwertige Lebensverhältnisse ein wichtiges Thema wird, was es seit langem ist.
Der entscheidende Punkt ist: Diese Ungleichheiten drücken sich regional aus; aber zu lösen sind sie nur gesamtgesellschaftlich.
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Ich will das an drei Beispielen konkret machen.
Deutschland ist ein reiches Land. Im Bereich der sogenannten Daseinsvorsorge passiert viel, gar keine Frage. Gleichzeitig kann aber niemand ernsthaft abstreiten, dass dieses reiche Land, Deutschland, ein Problem mit Kinderarmut hat. 21 Prozent aller Kinder in Deutschland leben dauerhaft oder wiederkehrend in sogenannten Armutslagen. Knapp 2 Millionen Kinder leben in sogenannten Hartz‑IV-Haushalten.
Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Entscheidend ist aber: Kinderarmut ist regional sehr ungleich verteilt und berührt damit ganz unmittelbar die Frage nach gleichwertigen Lebensverhältnissen. Wir brauchen hier weitergehende Antworten als in den vergangenen Jahren; denn die Situation der Kinder hat sich mit den bekannten Instrumenten nicht verbessert, sondern – im Gegenteil – leider verschlechtert. Ich begrüße deshalb ausdrücklich, dass sich die Arbeits- und Sozialministerkonferenz genauso wie die Jugendministerkonferenz die Aufgabe gestellt hat, beim Thema „Grundsicherung für Kinder“ zu neuen Antworten zu kommen. Das ist auch eine Aufgabe dieser Kommission.
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Entscheidend für die Gleichwertigkeit – damit bin ich beim zweiten Punkt – ist am Ende aber die Teilhabe an Erwerbsarbeit, natürlich bei auskömmlicher Bezahlung; denn wer arbeitet, soll ohne aufstockende Hilfen damit auskommen können. Aber auch die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind regional außerordentlich ungleich verteilt. Hohe Langzeitarbeitslosigkeit und verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit gerade in großstädtischen Regionen und im Osten unserer Republik sind ein riesiges Problem. Darum ist es richtig, die Stärkung des sozialen Arbeitsmarktes zu befördern. Ich bin froh, dass das Teilhabechancengesetz jetzt auf den Weg gebracht wird, und freue mich, dass es in der Koalition gelungen ist, den Lohnkostenzuschuss am Tariflohn zu orientieren. Das ist ein großer Schritt voran.
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Für die Kommission wird es nun darauf ankommen, die Arbeitsmarktpolitik und die Daseinsvorsorge miteinander zu verknüpfen. Wir müssen erreichen, dass es zu unterstützenden Interventionen in den Familien kommt, die von dieser Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind. Da müssen unterschiedliche Rechtssysteme zusammengebracht werden. So etwas kann, glaube ich, nur in einer solchen Kommission gelingen.
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Der letzte konkrete Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft das Thema Bildungspolitik. Gerade hat sich hier ein Abgeordneter der FDP zu unterschiedlichen Ergebnissen bei der Bildung geäußert. Ich will ihn gerne ein bisschen an die Wirklichkeit heranführen.
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Gerade in Großstädten erleben wir, dass sich die soziale Ausgangslage bei vielen Kindern deutlich verschärft hat. Es gibt Kindergartengruppen und Schulklassen, in denen der Anteil von Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache bei weit über 50 Prozent liegt. Das bedeutet, dass hier eine ungleich größere Kraftanstrengung nötig ist, mehr sozialpädagogischer Förderbedarf, mehr Sprachförderung und vieles andere auch. Das, meine Damen und Herren, ist eine nationale Daueraufgabe von Bund, Ländern und Kommunen.
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Es ist gut, dass wir das Gute-Kita-Gesetz haben. Aber dafür brauchen wir auch den Ausbau der Ganztagsschule mit der Förderung durch den Bund.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Handlungsspielräume vor Ort sind weiter zu stärken; das muss das Ziel dieser Kommission sein. Der Solidarpakt für den Osten läuft aus, die Schuldenbremse wird greifen, eine neue Phase der EU-Förderpolitik steht bevor. All das muss genutzt werden. Diese Kommission kann eine Chance sein. Lassen Sie uns das gemeinsam auf allen Ebenen angehen und nutzen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Bürgermeister. – Nächster Redner ist Gerald Ullrich für die FDP.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich komme aus Südthüringen, genauer genommen aus Floh-Seligenthal, ein Ort mit 6 000 Einwohnern, sehr ländlich; ich weiß also sehr genau, wovon ich rede.
Ich habe im Mai 1990 mit meiner Familie eine Firma im Bereich Kunststofftechnik gegründet. Wir haben damals sehr starke Förderung erfahren: durch die ERP-Förderung und die Eigenkapitalhilfeförderung. Wir haben von diesen Förderungen sehr profitiert. Vor allen Dingen haben wir davon profitiert, dass es zu dieser Zeit noch sehr wenig Bürokratie gab. In puncto Bürokratie hat sich sicherlich einiges getan; aber wir konnten uns damals einfach mehr auf die Arbeit und auf die Wertschöpfung konzentrieren, und das hat uns sehr geholfen. Um uns herum gab es damals sehr viele Neugründungen – man hätte fast schon von den prophezeiten „blühenden Landschaften“ reden können –, allerdings gab es nicht nur gute, sondern auch schlechte Zeiten.
Seitdem ist viel passiert. Wir haben demografische Probleme, nicht nur im Osten, sondern im gesamten ländlichen Raum. In meinem Ortsteil, in dem ungefähr 400 Einwohner leben, gab es in meinem Geburtsjahrgang neun Kinder. 1986 gab es vier Kinder, 1991 gab es ein Kind, und 1992 gab es null Kinder. Letztendlich gab es im Osten fast zwei Dekaden mit sehr niedrigen Geburtenraten. Die Folge davon: Es gibt heute zu wenige Mütter, die überhaupt Kinder in die Welt setzen können. Außerdem sind rund 400 000 Arbeitskräfte aus der Region abgewandert.
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Unser Problem ist: Wir werden in unserer wirtschaftlichen Entwicklung gebremst, weil es einfach keine Menschen mehr gibt, die die uns gestellten Aufgaben erfüllen können. In unserer kleinen Gemeinde mit 6 000 Einwohnern gibt es 700 Gewerbeanmeldungen – stellen Sie sich das mal vor – und kaum noch jemanden, der produktiv tätig sein kann. Das kann so nicht weitergehen.
Was ist bis heute passiert? Es gab einen extremen Bürokratie- und Regulierungsaufwuchs. Wir haben Defizite in den Bereichen Netzausbau – das weiß jeder –, ärztliche Versorgung und ÖPNV, aber vor allen Dingen auch im Individualverkehr. Darüber hinaus haben wir extreme Defizite im Bereich Bildung und Forschung. Sehr wichtig ist natürlich auch der Hinweis, dass wir gesellschaftliche und kulturelle Defizite haben. Die Ausübung eines Ehrenamtes findet so gut wie nicht mehr statt – zumindest in meiner Region –; es wird immer weniger.
Aber es gibt Lösungen; da kann man klare Aussagen treffen. Das kommunale Leben – ich glaube, da liegt einer der Hauptschlüssel – muss ausreichend finanziert werden. Das wird es zumindest im Osten nicht. Die Daseinsvorsorge auf dem Land muss deutlich verbessert werden; Ehrenämter in den Dörfern müssen gefördert werden. Es gibt auch andere Keyeffects: Dringend geboten ist Bürokratieabbau und Deregulierung; denn die Bürokratie hemmt Innovationen und vor allen Dingen auch Neugründungen, die wir nicht nur im Osten, sondern auch im Westen dringend brauchen.
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Sie hemmt unsere Entwicklung. Wir brauchen weniger Verwaltung und mehr Menschen in der direkten Wertschöpfungskette.
Wir brauchen dringend – auch wenn sich das vielleicht komisch anhört – das autonome Fahren; denn wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass die Entfernungen zwischen Wohn- und Arbeitsort verkürzt werden. Wenn derjenige, der autonom fährt, sich nicht auf den Verkehr konzentrieren muss, kann er andere Arbeiten erledigen oder Freizeit genießen.
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Was wir aber am allermeisten im Osten und im ländlichen Raum brauchen, ist, Forschung, Forschung, Forschung.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich bin gleich so weit. – In diesem Zusammenhang verstehe ich nicht, warum uns der Herr Minister erklärt hat, dass die Forschungsmittel aufwachsen sollen; denn, um genau zu sein, werden Sie sie im Bereich der IGF-Förderung um 7,7 Millionen Euro kürzen, obwohl wir eigentlich einen Aufwuchs von 30 Millionen Euro brauchen. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn wir dem ländlichen Raum helfen wollen, müssen wir aufhören, ihn als urbanen Hinterhof zu sehen.
Vielen Dank.
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Als Nächstes spricht für die Bundesregierung die Bundesministerin Julia Klöckner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Damen und Herren Abgeordneten! Unser Land ist sehr vielfältig, sehr unterschiedlich, und das ist ein großer Schatz. Die einen ziehen es vor, im Osten zu leben; die anderen leben lieber im Westen, Norden oder Süden. Die einen ziehen es vor, im ländlichen Raum zu leben; die anderen leben lieber in einer Großstadt. Dass es diese Unterschiedlichkeit gibt, das ist schön, und das ist das Gegenteil von Eintönigkeit. Was aber nicht gut ist, was wir eben nicht bewahren oder nicht mehr vorantreiben sollten, ist, dass es Regionen gibt, die immer stärker abgehängt werden. Dazu gehören auch Ballungszentren, aber vor allen Dingen auch einige ländliche Räume. Dorf ist nicht gleich Dorf; das ist klar. Kraftzentren sind in den ländlichen Regionen.
Aber was mir auffällt, auch bei der Debatte hier bei uns in Berlin, ist, dass wir viele Debatten fast nur noch mit der Brille der Großstadt führen. Wir reden über Wohnraummangel, und meist sind die ländlichen Räume nur zweiter Sieger; denn Wohnraummangel in der Stadt hat einen anderen Namen im ländlichen Raum: Das ist der Leerstand. Mit Leerstand zurechtzukommen, ist etwas anders, als keine Wohnung zu finden in der Großstadt. Deshalb ist die Debatte darüber, wie wir über gleichwertige Lebensverhältnisse reden, eine Perspektivendebatte und auch eine Anwaltsdebatte. Ich sehe mich als Ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und die ländlichen Räume als Anwältin für die ländlichen Regionen in Deutschland.
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Sehr geehrte Damen und Herren, es ist wichtig, dass es keine Neiddebatte, keine Stadt-Land-Debatte ist. Ich will deutlich sagen, dass die ländlichen Räume eben nicht nur Kompensationsraum für Städter sind, nicht nur Rückzugsräume an den Wochenenden oder für nostalgische Vorstellungen sind. Die ländlichen Räume als Kraftzentren brauchen eine entsprechende Versorgung und Infrastruktur. Dafür müssen wir gezielt sorgen.
Wir haben einen Landatlas in meinem Ministerium. Damit haben wir den Überblick darüber, wie es in den ländlichen Regionen aussieht. Wir brauchen keine Gießkannenpolitik. Auch deshalb begrüße ich die Zusammenarbeit mit Franziska Giffey, Horst Seehofer und auch mit allen Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten sowie den kommunalen Spitzenverbänden sehr; weil wir mit einer sehr dezidierten, spezifischen Blickweise die Einzelprobleme anschauen. Konkret: Wir reden in den ländlichen Räumen nicht über zu große Klassen. Wir reden darüber, dass Klassen zu klein sind und Schulen geschlossen werden. Wir reden auch nicht über schnellstes Internet. Wir sind mittlerweile schon dankbar, wenn wir überhaupt einen Anschluss haben. Deshalb sage ich Ihnen: Der ländliche Raum ist nicht der Zweite, der in den Blick genommen werden, sondern er muss gleichzeitig in den Blick genommen werden.
Ich will es für meinen Bereich – Ernährung und Landwirtschaft – konkret machen. Zum Beispiel beschäftigt uns die Frage: Wie können wir Start-ups, wie können wir im Bereich der Digitalisierung der Landwirtschaft das nutzen, was wir jetzt schon für die Attraktivität des Berufes, aber auch für politische Ziele erreichen können? Weniger Pflanzenschutzmittel und mehr Tierwohl, das geht mit Precision Farming, mit der Präzisionslandwirtschaft. Aber dazu brauche ich eine entsprechende Ausstattung. Deshalb darf es keine digitalen zwei Geschwindigkeiten in Deutschland geben. Deshalb müssen Frequenzversteigerungen nicht nur ergebnisorientiert, sondern auch versorgungsorientiert gestaltet werden.
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Und das sage ich ganz deutlich, auch bei allen Spezialrednern, die uns sagen: „Es kommt zu spät; es kommt zu langsam“: Glückwunsch! Dann erkennen Sie Deutschland nur als ein statisches Land. Vielleicht haben Sie wahrgenommen, dass sich Deutschland entwickelt hat, dass sich Regionen entwickelt haben? – Eine Bundesregierung, die glaubt, es sei ein für alle Mal geregelt, ob wir gleichwertige Lebensverhältnisse haben oder nicht haben werden, die ist nicht von dieser Welt. Wir sind aber von dieser Welt, und wir sind für Land und Stadt zuständig. Deshalb sage ich: Es wird eine Daueraufgabe bleiben. Ich werde deshalb Ehrenamt mit Hauptamt fördern; denn das ist der Kitt im ländlichen Raum, das macht die Seele der ländlichen Räume aus. Mit BULE, unserem Bundesprogramm für die ländlichen Räume, werden wir das fördern, was an neuen Ideen da ist, wie Leben gelingen kann.
Ich freue mich auf die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“. Wir sollten sie nicht mit zu hohen Erwartungen überfrachten. Es geht nicht nur darum, dass Altschulden getilgt werden. Es geht darum, wie wir aktivieren können, in den ländlichen Regionen so zu leben, wie man leben möchte. Mit dieser Bundesregierung und der ressortübergreifenden Zusammenarbeit kann der Grundstein gelegt werden, damit die kommende Generation sagt: Wir leben gerne hier.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht der Abgeordnete Marc Bernhard für die AfD.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Ihre sogenannte Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ ist nichts anderes als eine Notbremse, damit sich die durch Ihre Untätigkeit entstandenen ungleichwertigen Lebensverhältnisse in Deutschland nicht noch weiter verschlimmern. Denn wie sieht es wirklich im Land aus? Während in vielen Städten die Menschen unter dem Mangel an Wohnungen, Bauland und Höchstmieten leiden und dort dadurch auch die weitere wirtschaftliche Entwicklung massiv behindert wird, werden ganze Regionen wirtschaftlich abgehängt und ganz offensichtlich von den Verantwortlichen auch abgeschrieben.
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Herr Minister Seehofer, ich gebe Ihnen ausdrücklich recht: Entscheidend für die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse sind Städte und Gemeinden. Aber was passiert denn dort? Sie, die hier schon länger Regierenden, bürden den Städten und Gemeinden immer neue und weitere Belastungen auf, und die Kommunen haben keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. Das augenscheinlichste Beispiel ist die Migrationskrise. Die Bundesregierung entscheidet mit einem Federstrich, die Grenzen zu öffnen, Millionen von sogenannten Flüchtlingen ins Land zu lassen, und die Städte und Gemeinden müssen die Folgen ausbaden. Sie bekommen Flüchtlinge zugeteilt, haben keine Entscheidungskompetenzen, müssen aber zusehen, wie sie mit den Flüchtlingsströmen klarkommen. Sie sind für die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge zuständig, sie müssen Verwaltungen, Schulen, Kitas usw. vorhalten. So darf es nicht weitergehen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Städte und Gemeinden müssen endlich wieder in die Lage versetzt werden, eigenständig zu handeln. Zwischen Bund, Ländern und Gemeinden muss der klare Grundsatz gelten: Wer anschafft, muss auch zahlen.
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Um den Bevölkerungsdruck von den Städten zu nehmen, ist es unabdingbar, die Lebensbedingungen der Menschen im ländlichen Raum zu verbessern. Das bedeutet heute vor allem Zugang zu Informationen und wettbewerbsfähiger Datenkommunikation. Helmut Schmidts Plan, in ein zukunftsweisendes Glasfasernetz zu investieren, hat Helmut Kohl vor fast 40 Jahren für Kupferkabel verworfen. Deutschland leidet noch immer unter dieser kurzsichtigen Fehlentscheidung; denn alle nachfolgenden Regierungen haben hier nichts, aber auch gar nichts zustande gebracht. Deshalb sind heute gerade einmal 2,7 Millionen von 40 Millionen Haushalten ans Glasfasernetz angeschlossen.
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Deshalb fordern wir, dass nach fast 40 Jahren jetzt endlich der Plan von Helmut Schmidt für ein flächendeckendes Glasfasernetz umgesetzt wird; denn nur so werden Standorte für Unternehmen auch abseits der Ballungszentren, nämlich im ländlichen Raum, wettbewerbsfähig.
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Auch die hierzulande praktizierte Verkehrsverhinderungspolitik mit Dieselfahrverboten, Tempo 30 auf Hauptstraßen und allerlei sonstiger Gängelei von Autofahrern verschärft die Landflucht in die Städte noch einmal massiv. So schreibt mir zum Beispiel Daniel S. aus dem Ruhrgebiet: Wer seine Kinder in die Kita oder die Schule bringen und acht Stunden arbeiten muss, kann es sich nicht leisten, außerhalb der Stadtgrenzen zu wohnen, weil jeder Kilometer außerhalb gleich mit massiven Fahrzeiten zu Buche schlägt. Das führt dazu, dass in den Innenstädten die Mieten durch die Decke gehen, während im Umland Wohnungen leer stehen. – Vor allem Sie auf der linken Seite, die das Auto abschaffen wollen, wenden sich gegen den ländlichen Raum und damit auch gegen gleichwertige Lebensverhältnisse. Beenden Sie Ihren Hass auf das Auto, und öffnen Sie endlich Ihr Herz für die Menschen da draußen!
Herzlichen Dank.
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Als Nächste spricht für die Fraktion der SPD die Abgeordnete Elisabeth Kaiser.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über gleichwertige Lebensverhältnisse. Dabei geht es nicht um Gleichmacherei, sondern darum, gute Chancen auf ein gutes Leben zu haben, egal ob man in einem 200-Seelen-Dorf wohnt oder in einer Metropole.
Mit Blick auf die räumliche Entwicklung Deutschlands muss man aber feststellen, dass es große regionale Unterschiede in der Lebensqualität gibt und damit einhergehend Nachteile für die Menschen, die in sogenannten strukturschwachen Regionen leben. Ich kenne diese Nachteile, weil sie mir nicht nur, aber eben doch besonders in Ostdeutschland immer wieder begegnen. Und das sieht so aus: Den Laden um die Ecke gibt es nicht mehr, geschweige denn den Jugendklub. Die Bibliothek wird bald schließen, weil die Stadt sie nicht mehr unterhalten kann. Eine Gastwirtschaft nach der anderen muss dichtmachen, weil sie kein Personal mehr finden. Und die 70 Jahre alte Dame, die nebenan wohnt, überlegt, nun doch zu ihren Kindern in die Großstadt zu ziehen, weil sie sich in ihrem Wohnort nicht mehr versorgt weiß und der Bus, der in die nächste Kreisstadt fährt, wo die Poliklinik ist, im nächsten Jahr nicht mehr fahren wird.
Menschen in solchen Regionen fühlen sich abgehängt und von der Politik im Stich gelassen. Kein Wunder, dass sie uns nicht mehr vertrauen! Dieses Misstrauen drückt sich dann auch in Politikverdrossenheit aus und macht empfänglich für die vermeintlich einfachen Antworten der Populisten.
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Das spüren wir leider vor allem in Ostdeutschland. Und deswegen möchte ich heute hier eine Lanze dafür brechen, dass der Osten über den Solidarpakt II hinaus eine besondere Förderung braucht, um den Menschen hier eine Perspektive zu geben. Ja, da ist auch der Ostbeauftragte gefragt, nicht nur Analysen zu erstellen, sondern auch zur Tat zu schreiten und sich für die strukturschwachen Regionen einzusetzen, von denen wir hier reden.
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Klar ist aber auch, dass wir dafür sorgen müssen, das Leben in allen Regionen Deutschlands lebenswert zu gestalten; denn gute Lebensqualität ist die Voraussetzung für einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt vor Ort; das hat Franziska Giffey sehr eindringlich hier ausgeführt. Freiwillige kommunale Leistungen, wie beispielsweise die Unterhaltung eines Sportplatzes, einer Beratungsstelle oder eines Freibades, sollten nicht von der Kassenlage einer Kommune abhängen, sondern müssen den Bedürfnissen der dort lebenden Menschen entsprechen.
Was ist also zu tun? Zuallererst gilt es, Gemeinden und Städte wieder fit zu machen, zum Beispiel durch Entlastungen bei Altschulden und Sozialausgaben oder die Unterstützung von Genossenschaften.
Zweitens sollten wir klare Prioritäten bei der Versorgung mit schnellem Internet setzen. Zukunftsweisende und für ländliche Regionen wichtige Trends wie Telearbeit, der Rufbus per App und Telemedizin zeigen: Ohne Netz und schnelle Leitung geht bald nichts mehr. Wenn wir strukturschwachen Regionen mittels einer exzellenten Internetversorgung einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, könnten sie die nötige Innovationskraft entwickeln, um langfristig wettbewerbsfähig zu sein.
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Drittens ist es wichtig, dass wir für Menschen jeden Alters in den benachteiligten Regionen eine Bildungs- und Gesundheitsinfrastruktur gewährleisten und das auch mit langfristigen Finanzierungszusagen durch den Bund.
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Ich könnte noch viele Maßnahmen nennen; es fallen mir noch viele ein. Aber es wird auch darum gehen, Schwerpunkte zu setzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Juli wurde die Regierungskommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ eingesetzt. Ihre Aufgabe ist es, jetzt zügig Vorschläge zu unterbreiten, die benachteiligte Städte und Gemeinden wieder handlungsfähig machen. Menschen im Norden, Süden, Westen und Osten sollen in ihrer Heimat die gleichen Chancen auf ein gutes Leben auch in der Zukunft haben. Die Kommission muss nun Ideen entwickeln, wie wir dafür in Abstimmung mit den Ländern und den Kommunen die notwendigen Voraussetzungen schaffen. Ich wünsche allen Beteiligten bei dieser verantwortungsvollen Aufgabe gutes Gelingen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist Frank Sitta für die Fraktion der FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir 28 Jahre nach der Wiedervereinigung heute zunehmend von starken und schwachen Regionen reden und nicht so sehr über Ost und West. Gleichwohl – das gehört zur Ehrlichkeit dazu – sind die meisten Regionen mit wirtschaftsschwachen Strukturen immer noch in den neuen Ländern zu finden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Vielfalt der Regionen ist oftmals gerade das, was Deutschland ausmacht. In manchen Bereichen sind regionale Unterschiede allerdings nicht hinzunehmen. Dazu gehört ganz explizit der Zugang zu digitaler Infrastruktur.
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In den letzten Jahren hat es die Bundesregierung leider versäumt, dagegen anzugehen, dass die Regionen, Stadt und auch Land, auseinanderdriften. Diese digitale Teilung Deutschlands – die Ministerin Klöckner hat es gerade betont; das freut mich umso mehr – darf sich keinesfalls verfestigen.
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Es ist an der Zeit, endlich alle digitalen Netze in einem ganzheitlichen Konzept zusammenzudenken. Die Stückwerkpolitik der GroKo muss endlich aufhören. Glasfaserausbau darf nicht länger gesondert vom Mobilfunk betrachtet werden. 3G, 4G und 5G darf man nicht mehr isoliert behandeln. Wir müssen bereits heute anfangen, 4G in die Fläche zu bringen, und gleichzeitig müssen wir die richtigen Rahmenbedingungen für die Zukunftstechnologie 5G setzen.
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Was heißt das ganz konkret? Was ist jetzt zu tun beim Glasfaserausbau? Wir schlagen die Einführung von Gigabitgutscheinen für den Mittelstand vor, um nachfrageorientiert den Breitbandausbau gerade im ländlichen Raum zu forcieren. Auch die Leerrohrbestimmungen müssen dringend modernisiert werden. Deutschland braucht außerdem dringend ein Gigabitgrundbuch. Wir brauchen endlich Transparenz über alle bereits vorhandenen Glasfaserleitungen, auch von Telekom und Deutscher Bahn.
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Es ist außerdem dringend notwendig, dass Deutschland endlich den Mobilfunkturbo zündet. Was ist da jetzt zu tun im Bereich Mobilfunk? Wir müssen 5G schneller in die Fläche bringen. Wir schlagen die Verlängerung der LTE-Frequenzen vor, und zwar unter harten Auflagen. Die 5G-Frequenzversteigerung muss rechtssicher und so schnell wie möglich durchgeführt werden, und wir brauchen außerdem endlich einen intensiven Wettbewerb im Mobilfunkmarkt. Das wird durch eine Diensteanbieterverpflichtung geschehen. Wir brauchen darüber hinaus die Bereitstellung von regionalen Frequenzen für den Industriestandort von morgen.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Leben im ländlichen Raum hat ohne Frage viele Vorzüge. Ob er für viele junge Menschen und Familien auch morgen noch lebenswert ist, hängt zunehmend auch davon ab, ob dort die Breitband- und Mobilfunkversorgung gegeben ist. Dazu brauchen wir größere Anstrengungen als bisher und einen ganzheitlichen politischen Ansatz. Deshalb wäre – auch das muss ich hier heute noch einmal betonen – ein Digitalministerium das eigentliche Ministerium für die Zukunft der Heimat und somit gleichwertige Lebensverhältnisse.
Herzlichen Dank.
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Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Abgeordnete Christian Haase.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland ist ein großes und wirtschaftlich erfolgreiches Land. Wir gehören zu den Top 5 der Volkswirtschaften dieser Welt. Wir haben starke städtische Räume wie das Rhein-Main-Gebiet, und wir haben starke ländliche Räume wie das Sauerland oder Ostwestfalen-Lippe.
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Bund, Länder und Kommunen erzielen seit geraumer Zeit regelmäßig jährliche Überschüsse,
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und dennoch gibt es Regionen in Deutschland, die nicht mithalten können und in denen sich die Menschen abgehängt fühlen.
Strukturschwäche, Abwanderung und demografischer Wandel haben eine Spirale in Gang gesetzt, die die Kommunen alleine nicht durchbrechen können. Auch wenn sich viele Länder bemühen, klappt es auch mit deren Hilfe hier und da nicht. Es ist daher gut, dass wir seit geraumer Zeit mit GRW und GAK Gemeinschaftsaufgaben haben und mit den Ländern zusammen diese Strukturprobleme aufgreifen und zu lösen versuchen. Aber dennoch schaffen wir es nicht überall. Deshalb ist es gut und richtig – und ich begrüße das –, dass diese Kommission zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Stadt und Land eingesetzt worden ist.
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Aber machen wir uns ehrlich: Viele Fakten liegen schon vor. Deshalb ist es für mich wenig verständlich, dass wir bis Ende 2020 warten wollen, bis ein Endbericht vorliegt. Ich freue mich, dass der Innenmister bereits darauf eingegangen ist, dass Mitte 2019, also im nächsten Sommer, ein Zwischenbericht vorliegt. Ich fordere uns auf, das zu nutzen und die Umsetzungsschritte einzuleiten. Ich glaube, die Regionen haben lange genug gewartet.
Meine Damen und Herren, „gleichwertig“ bedeutet nicht „gleich“, und ich freue mich, dass das alle Fraktionen hier im Hause offensichtlich genauso sehen. Das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse ist gerade nicht, überall gleiche Angebote vorzuhalten. Es geht darum, Beziehungen zwischen Stadt und Land zu stärken und ganzheitliche Konzepte zu entwickeln. Es geht um Förderung nach Bedarf und nicht mehr nach Himmelsrichtung. Es geht um eine Neuausrichtung der Gemeinschaftsaufgaben. Es geht um die Revitalisierung leerstehender Objekte in den ländlichen Räumen und um eine echte Dezentralisierungsstrategie für Behörden. Und wir brauchen – auch darauf hat der Innenminister hingewiesen – eine „Gesetzesfolgenabschätzung“, um besser beurteilen zu können, wie sich bestimmte Gesetzesvorhaben, die wir hier beschließen, auf die jeweiligen Räume auswirken.
Meine Damen und Herren, ich freue mich aber auch, dass wir viele der Themen, die in diesem Zusammenhang diskutiert werden, bereits aufgegriffen haben. Ich denke da zum Beispiel an den Wohnungsbau: Wir haben eine Milliardenförderung für den sozialen Wohnungsbau beschlossen. Wir steigen jetzt in die steuerliche Förderung des Mietwohnungsbaus ein. Mit dem Baukindergeld helfen wir jungen Familien, ihren Traum vom eigenen Heim zu verwirklichen.
Wir wollen die Förderung ländlicher Räume im Rahmen der GAK stärken. Wir schaffen einen Sonderrahmenplan, der im nächsten Jahr mit 140 Millionen Euro ausgestattet sein wird; die Länder legen dann noch einmal das Gleiche dazu. Wir steigern die Mittel für das Bundesprogramm Ländliche Entwicklung auf 70 Millionen Euro.
Auch wenn es einige hier nicht wahrhaben wollen: In den letzten Jahren ist der Breitbandausbau in ganz Deutschland vorangetrieben worden. Wir haben da jetzt die Glasfaser in den Mittelpunkt gestellt. Das ist technisch gut und richtig. Erwecken Sie bitte nicht den Eindruck, dass hier nichts getan worden wäre.
Ein Feld – auch das ist von mehreren Rednern heute schon angesprochen worden – ist hier sicherlich der Ausbau von 4G- und 5G-Netzen. Ich glaube, für unsere Kommunen ist das ein Teil der modernen Daseinsvorsorge geworden. Im Fokus steht dabei der Aufbau von smarten Städten und Regionen. 5G ist nun einmal die Voraussetzung für die Entwicklung von digitalen Gesundheitsangeboten, die Digitalisierung der Landwirtschaft oder das autonome Fahren. In einer immer komplexer werdenden Energiewelt kommt der durch 5G ermöglichten Echtzeitübertragung im Zusammenspiel mit künstlicher Intelligenz eine wichtige Steuerungsfunktion im Hinblick auf die Anlagen vor Ort zu. Diese Anlagen – Solaranlagen, Windkraftanlagen – stehen nun nicht in den Innenstädten, sie stehen in den ländlichen Räumen.
Wenn wir über Industrie sprechen, dann sprechen wir über Industrie 4.0, über die Maschine-zu-Maschine-Kommunikation. Ja, es gibt viele Unternehmen in den städtischen Bereichen. Aber wir wissen: Die Hidden Champions sind in den ländlichen Räumen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir den Netzausbau, sowohl den 4G-Ausbau als auch den 5G-Ausbau, jetzt vorantreiben und da keinen Unterschied zwischen dem städtischen und dem ländlichen Bereich machen. Deshalb erwarte ich auch von der Bundesnetzagentur Auflagen, die sich nicht nur auf Bundesautobahnen und Bundessstraßen beziehen, vielmehr gehören die Landstraßen, die Kreisstraßen und die Gemeindestraßen genauso dazu.
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Nicht 98 Prozent der Haushalte in Deutschland müssen erschlossen werden – dies kann ich nicht hinnehmen –, sondern 100 Prozent der Fläche. Das muss hier unser Anspruch sein.
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Sie müssen zum Schluss kommen.
Meine Damen und Herren, auch wenn das auf der linken und rechten Seite heute nicht so gesehen wurde: Ich bin stolz darauf, im ländlichen Raum zu leben. Ich empfinde das als Privileg. Ich möchte, dass wir alle gleiche Chancen haben, egal wo wir geboren wurden, wo wir unser Lebensglück verwirklichen wollen. Lassen Sie uns Stadt und Land zusammen denken.
Danke schön.
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Für die Fraktion der SPD spricht als Nächster der Abgeordnete Dirk Wiese.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die entscheidende Herausforderung für die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ ist, das Spannungsverhältnis aufzulösen, das daraus resultiert, dass wir auf der einen Seite starke Städte und prosperierende Metropolregionen und auf der anderen Seite Städte mit hohen Soziallasten, erheblichen Schwierigkeiten und Langzeitarbeitslosigkeit haben, dass wir auf der einen Seite ländliche Räume haben, in denen die ärztliche Versorgung schwierig ist, in denen es keine Supermärkte mehr gibt, in denen es Leerstand gibt, und auf der anderen Seite starke ländliche Regionen, die heute wirtschaftlich erfolgreich sind und eigentlich der Motor der deutschen Volkswirtschaft sind. Dazu zählt auch – wir haben es gerade gehört – meine Heimatregion, das Sauerland in Südwestfalen. Wir sind mittlerweile das industrielle Herz von Nordrhein-Westfalen.
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Wir haben teilweise Arbeitslosenquoten von 2,2 Prozent. Hier stellen sich uns andere Herausforderungen, etwa der Fachkräftemangel. Darum bin ich dankbar, dass die Bundesregierung mit Hubertus Heil dieses Thema schon angegangen ist.
Man kann auch nicht per se sagen, Frau Bundesministerin Klöckner, dass es Leerstandsprobleme nur in ländlichen Räumen und Wohnungsbauprobleme nur in Großstädten gibt. Wir haben auch im ländlichen Raum, gerade in den Kleinstädten, mittlerweile Wohnungsprobleme; wir haben Probleme, Baugebiete auszuweisen. Gerade aus den Dörfern, in denen es keine Nahversorgung mehr gibt, ziehen mittlerweile viele in die Kleinstädte. Dieses Problem müssen wir in der Kommission sehr kleinteilig und kleinräumig angehen. Das ist die Herausforderung.
Wir brauchen darüber hinaus innovative Ideen in den Regionen, die gefördert werden, die unterstützt werden. Darum ist es so wichtig, zum Beispiel bei LEADER über Bürokratieabbau nachzudenken, Mehrgenerationenhäuser als Anlaufpunkte in den ländlichen Räumen zu stärken oder auch das Bundesprogramm Ländliche Entwicklung weiter zu stärken. Das Bundesprogramm Ländliche Entwicklung, das die Große Koalition in der letzten Legislaturperiode auf den Weg gebracht hat, zeigt Lösungen vor Ort auf. Man kann die Probleme bei der ärztlichen Versorgung und den Fachkräftemangel kreativ angehen. Wir unterstützen das Bundesprogramm Ländliche Entwicklung auch weiterhin. Darum ist es richtig, dass wir im Haushalt, der sich derzeit in der Aufstellung befindet, die entsprechenden Mittel bereitstellen. Das ist der richtige Ansatz.
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Ich bin irritiert, wenn ich von Herrn Komning höre, dass die AfD die ländlichen Räume stärken will. Ihre Fraktionskollegin Frau Dr. Malsack-Winkemann hat in der Haushaltsdebatte die Abschaffung des Bundesprogramms Ländliche Entwicklung gefordert. Sie sagte, das sei Verschwendung. Das ist Politik gegen die ländlichen Räume, die Ihre Fraktionskollegin hier fordert.
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Ich möchte noch einen Punkt gegenüber den Grünen ansprechen. Frau Haßelmann, Sie haben vorhin gesagt: Es kommt auf das Handeln in der Realität an.
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Ich erinnere mich an den grünen Umwelt- und Landwirtschaftsminister Johannes Remmel in Nordrhein-Westfalen, der dafür gesorgt hat, dass es in kleinen Gemeinden bis 2 000 Einwohnern unmöglich gewesen ist, Baugebiete auszuweisen, der gegen Gewerbeansiedlung im ländlichen Raum gekämpft und durch eine grüne Verbotspolitik dafür gesorgt hat, dass ländliche Räume abgeschrieben worden sind.
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Ich sage Ihnen: Das ist grüne Politik in der Realität. Wenn der Regierungswechsel in Nordrhein-Westfalen etwas Gutes gehabt hat, dann das, dass dieser Minister nicht mehr in Amt und Würden ist. Das ist gut für Nordrhein-Westfalen.
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Wichtig für die Zukunftsfähigkeit der ländlichen Räume ist auch die Digitalisierung. Herr Bundesminister Scheuer, wir reden viel über 5G und über Netzausbau, aber bitte kommen Sie endlich voran. Die 5G-Modellregionen, die verabredet sind, auf den Weg zu bringen, das wäre gerade für den ländlichen Raum ein wichtiges Signal.
Ein Satz noch zur FDP: Wenn es Ihnen so wichtig ist, dass über Digitalisierung, Netzinfrastruktur und 5G diskutiert wird, dann sehen Sie doch zu, dass Ihr Fraktionsvorsitzender an der nächsten Debatte teilnimmt; denn er fehlt heute.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion der CDU/CSU die Abgeordnete Silvia Breher.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben es schon ein paar Mal gehört: Es gibt nicht den einen ländlichen Raum, es gibt viele verschiedene ländliche Räume. Es gibt auch boomende ländliche Regionen wie bei mir zu Hause im Oldenburger Münsterland. Dort geht es um ganz andere Themen: Geburtenüberschuss, Zuzug, Wohnungsmangel, Wirtschaftsboom und Fachkräftemangel. Es gibt aber auch strukturschwache ländliche Regionen mit all den Problemen, die die Kollegen eben angesprochen haben. Aber eines ist tatsächlich überall ähnlich: Die jungen Menschen verlassen nach der Schule erst einmal die Region. Sie gehen in die Welt hinaus bzw. in die Stadt. Das ist gut und richtig, aber noch besser ist es, wenn sie anschließend zurückkommen und vor allen Dingen zurückkommen können. Dafür müssen wir die Voraussetzungen schaffen.
Ländliche Räume sind nicht nur Erholungsraum. Ländliche Räume sind nicht nur „Landlust“-Romantik. Ich möchte auch nicht nur darüber sprechen, wie ich mit dem Auto oder dem ÖPNV in die Stadt pendeln kann. Wenn ländliche Räume lebendig sein sollen, dann müssen junge Menschen die Chance haben, einen Arbeitsplatz in ihrer Heimatregion zu finden. Dafür brauchen wir digitale Infrastruktur für innovative Unternehmen vor Ort. Aber auch dezentrale Behördenstandorte sind eine gute Möglichkeit, Arbeitsplätze vor Ort zu schaffen.
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Für mich auch ganz wichtig sind Bildung und Forschung im ländlichen Raum, in der Fläche. Die Uni Vechta ist ein Paradebeispiel dafür, und sie braucht jede Unterstützung. Zu nennen ist auch die European Medical School in Oldenburg, wo junge Mediziner praktisch und auf dem Land ausgebildet werden.
Aber irgendwann steht bei den jungen Menschen die Familienphase an. Wo könnte man besser eine Familie gründen als auf dem Land? Aber dafür müssen die Voraussetzungen stimmen. Auch auf dem Land braucht man ausreichend Wohnraum, großen, aber auch kleinen, günstigen und nicht nur hochpreisigen. Für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf braucht man Kitas und gute Schulen. Die ärztliche Versorgung muss stimmen und die Infrastruktur für das ganz normale Leben. Wir dürfen dabei nicht nur die strukturschwachen Regionen in den Blick nehmen, sondern wir müssen die prosperierenden Regionen im Blick behalten; denn es geht auch darum, die Zukunft dieser Regionen zu sichern. Auch diese Kommunen müssen investieren. Auch in diesen Regionen besteht ein richtig großer Bedarf an Zukunftsinvestitionen. Deshalb dürfen wir diese Regionen nicht aus dem Blick verlieren, wenn es um die ländlichen Regionen geht.
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Ländliche Regionen im Blick behalten heißt, mehr als 90 Prozent der Fläche unseres Landes und mehr als 50 Prozent der Menschen in unserem Land im Blick behalten. Das lohnt sich, finden wir.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Petra Nicolaisen für die Fraktion der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wir heute über das Thema „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ sprechen und die Kommission eingesetzt ist. Das ist für mich als ehemalige Kommunalpolitikerin eine echte Herzensangelegenheit. Die Verantwortung für die Fläche der gesamten Bundesrepublik Deutschland ist ein Kernelement unseres Sozialstaates. Deshalb ist die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse natürlich eine Daueraufgabe für die Politik.
Die Schwierigkeit liegt darin – ich glaube, das ist in dieser Debatte klar geworden –: Wie definieren wir „gleichwertige Lebensverhältnisse“, und anhand welcher Kriterien messen wir, ob und inwieweit gleichwertige Lebensverhältnisse vorliegen? Es geht um gleiche Entwicklungschancen für Stadt und Land und nicht um ein Gegeneinander. Dabei ist jedoch zu beachten – auch das ist hier mehrfach angeklungen –, dass Gleichwertigkeit nicht zwingend Gleichheit bedeuten muss. Ich selbst lebe in einer ländlich geprägten Region und weiß deshalb, wie wichtig es ist, dass die ländlichen Regionen sowohl zum Arbeiten als auch zum Leben attraktiv gestaltet sind; denn Jung und Alt bleiben nur dort, wo eine gute Daseinsvorsorge vorhanden ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen ein konkretes Beispiel nennen, ein Modellprojekt, das unter anderem in meinem Wahlkreis auf die zukünftige Versorgungssicherheit im ländlichen Raum abzielt. Mit dem Vorhaben „Langfristige Sicherung von Versorgung und Mobilität im ländlichen Raum“ – LaSiVerMob – ist der Kreis Schleswig-Flensburg eine von 18 ausgewählten Modellregionen in Deutschland, die vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur gefördert worden sind.
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Basierend auf der Fragestellung, wie sich gute Versorgung und Mobilität in meinem Wahlkreis langfristig sichern lassen, werden im Rahmen dieses Projektes Kooperationsräume und Versorgungszentren ausfindig gemacht bzw. gebildet, an denen wichtige Einrichtungen wie Schulen, Ärzte und Freizeiteinrichtungen langfristig gebündelt werden. Innerhalb eines Kooperationsraums soll dann für alle Einwohnerinnen und Einwohner die Möglichkeit bestehen, ihr Versorgungszentrum zu erreichen, zum Beispiel durch Carsharing, einen Bürgerbus und die Mitfahrbank. Ich finde, das ist ein guter Ansatz, um Mobilität und Daseinsvorsorge zu verbessern und zu sichern. Ich finde auch, dass diese Modellregionen, die bereits viele Erfahrungen gesammelt haben, im Rahmen der ins Leben gerufenen Kommission berücksichtigt werden sollten.
Angesichts der unterschiedlichen räumlichen, sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten, die man in Deutschland nun einmal vorfindet, ist klar – das ist auch heute klar geworden –: Die eine Lösung zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse gibt es einfach nicht. Unsere Maßnahmen zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse sollten daher stets Lösungsansätze verfolgen, die dazu beitragen, die kommunale Selbstverwaltung zu stärken. Ergebnis muss sein, dass wir in Stadt und Land attraktive, gleichwertige Lebensverhältnisse vorfinden. Lassen Sie uns also gemeinsam daran arbeiten, Deutschland auch weiterhin lebens- und liebenswert zu gestalten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Abgeordnete Dr. Matthias Zimmer für die Fraktion der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist eigentlich eine total typisch deutsche Debatte, die wir heute führen, die auf bestimmte Strukturen zurückgeht. In Italien führen alle Wege nach Rom, in Frankreich führen alle Wege nach Paris. Die Tatsache, dass in Deutschland nicht alle Wege nach Berlin führen, hat nichts mit dem Flughafen zu tun, sondern eher damit, dass wir ein polyzentrisches Land sind, dass wir ganz viele Regionen haben in Deutschland, ganz viele gewachsene Regionen, denen wir im Übrigen auch ein gewachsenes kulturelles Angebot verdanken, das in der Welt seinesgleichen sucht. Insofern ist es eine gute Debatte, die wir heute führen, Herr Minister; vielen Dank dafür.
Ich glaube, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, die hätten wir dann erreicht, wenn der Spruch „Extra Bavariam …“, also „Außerhalb von Bayern gibt es kein Leben, und wenn es eines gibt, dann ist es kein gleiches“, wenn das die Menschen in allen anderen Bundesländern mit dem gleichen Stolz über ihre Region sagen können, wie das in Bayern der Fall ist.
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In Hessen, Herr Minister, habe ich damit kein Problem; da ist da so.
Ich habe zwei Wünsche an die Kommission, meine Damen und Herren. Der erste Wunsch wäre, dass wir, was den Begriff der Gleichwertigkeit angeht – da steckt ja auch „Wert“ drin –, nicht der Versuchung erliegen, zu denken, dass die Herstellung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse lediglich eine Funktion materieller Hilfen ist; das ist sicherlich nicht der Fall. Ich habe mir vor ein paar Tagen den „Glücksatlas“ Deutschlands vorgenommen; da wird relativ deutlich, dass die glücklichsten Menschen nicht unbedingt dort wohnen, wo es am meisten Geld gibt, sondern die glücklichsten wohnen offensichtlich in Schleswig-Holstein.
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– Das ist so, ja, laut „Glücksatlas“. – Das bedeutet, dass wir uns über die Frage hinaus, was wir an materiellen Infrastrukturen zur Verfügung stellen müssen, vielleicht auch darüber Gedanken machen müssen, was den Menschen eigentlich wichtig ist in ihrer Lebensqualität und in ihrem Wohlstand.
Eine zweite Bitte hätte ich auch noch, Herr Minister; das ist die Bitte, dass wir vielleicht Menschen ermutigen in diesem Prozess. Heute ist in der „FAZ“ der „Thüringen-Monitor“ zu lesen. Da kommt zutage: Es gibt eine deutliche Lohnlücke zwischen Thüringen und den westlichen Bundesländern, es gibt eine hohe Zufriedenheit, es gibt aber gleichzeitig – das ist eines der erstaunlichen Ergebnisse dieses Monitors – erheblich höhere Abstiegsängste in Thüringen, als das in den anderen Bundesländern der Fall ist. Wenn dem so ist und das vielleicht durch objektive Zahlen gar nicht so gestützt werden kann, dann muss, glaube ich, eine der Aufgaben der Kommission auch sein, die Menschen zu ermutigen, ihnen Mut zuzusprechen. Wir in der Koalition wollen die Menschen ermutigen, sehen es als unsere Aufgabe an, Mut zu machen – diejenigen, die für die Angstmache zuständig sind, sitzen auf einer bestimmten Seite dieses Hauses. Wenn wir Mut machen, dann sind wir, glaube ich, was die Arbeit der Regierungskommission angeht, auf einem guten Weg.
Herzlichen Dank, Herr Minister.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Thomas Jarzombek für die CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die gleichwertigen Lebensverhältnisse sind ein wichtiges Ziel; deshalb ist es gut, dass wir jetzt diese Kommission einrichten. Ich glaube, nachdem so viele über Breitband geredet haben, besteht mein Teil heute darin, einmal zu sagen, dass die Digitalisierung ein Treiber ist für gute Lebensverhältnisse auch in den ländlichen Regionen. Jens Spahn hat gestern Abend einen guten Satz gesagt; er hat gesagt: Digitalisierung ist nicht Breitband, aber Breitband ist die Basis für Digitalisierung. – Deshalb, glaube ich, ist das, was wir hier betrachten dürfen, nicht nur die Frage des Breitbandausbaus, sondern auch, was wir eigentlich mit diesem Internet machen im ländlichen Raum.
Wenn ich schon beim Gesundheitsbereich bin, dann ist zum Beispiel E‑Health ein Thema, das Fernbehandlungsgesetz: dass man eben nicht jedes Mal weite Strecken zum Arzt fahren muss, sondern Onlinediagnosen machen kann. Oder, ein anderes Beispiel, dass man, wenn die nächste Volkshochschule weit weg ist, auch beim Thema Weiterbildung online partizipieren kann. Meine Fraktion hat dazu gestern ein Konzept für eine Art Netflix als Weiterbildungsplattform vorgelegt, nämlich „Milla“ mit Kosten bis zu 3 Milliarden Euro. Das ist ein gutes Instrument, um das zu erreichen.
Stichwort „neue Mobilität“: Wenn das Wort „Taxi“ bedeutet, dass man Tage vorher bestellen muss, setzen wir auf selbstfahrende Fahrzeuge und Sharing-Services, die im ländlichen Raum funktionieren und den Menschen den Weg eben auch dorthin zugänglich machen, wohin der Bus nur ein- oder zweimal am Tag fährt.
Herr Seehofer, zum Thema E‑Government. Wir haben im letzten Jahr das Onlinezugangsgesetz und die entsprechende Grundgesetzänderung auf den Weg gebracht. Ich würde mir wünschen, dass wir hier viel mehr Möglichkeiten für die Menschen im ländlichen Raum schaffen, Verwaltungsdienstleistungen online in Anspruch zu nehmen und nicht weite Strecken fahren zu müssen.
Das alles funktioniert aber nur dann, wenn es auch eine flächendeckende Verbindung gibt. So schlecht, wie manche Redner es hier heute beschrieben haben, sind wir bei weitem nicht. Deutschland ist beim Thema Internet kein Entwicklungsland. Um nur mal eine Studie zu nehmen: Im Akamai-Monitor, dem Monitor des größten CDN weltweit, waren wir im letzten Jahr bei den festen Verbindungen auf Platz 25 und beim mobilen Internet sogar auf Platz 2 weltweit.
Wir müssen im ländlichen Raum aber viel mehr machen. Deshalb haben wir in der letzten Legislaturperiode 4 Milliarden Euro für ein Breitbandprogramm im ländlichen Raum in die Hand genommen, und wir investieren in dieser Legislaturperiode weitere 10 bis 12 Milliarden Euro. Es ist nun die Krux der Sache, dass es jahrelang dauert, bis das Geld verbaut ist. Hier müssen unsere Gesetze weniger kompliziert werden. Ein Mobilfunkanbieter sagte mir gestern noch: Nur für den Bau einer Sendestation braucht man eineinhalb Jahre an Genehmigungsverfahren.
Mein vielleicht wichtigster Punkt: Wir haben beim Thema 5G in den Auflagen eine Innovation, die bisher kaum einer kommuniziert hat. Ein Viertel der Frequenzen werden nämlich lokal und regional zur Verfügung gestellt. Deshalb können es die Industriebetriebe, die Unis, die Weiterbildungszentren, die Tourismusdörfer und die Siedlungen jetzt selbst in die Hand nehmen, 5G zu bauen, und sie müssen nicht mehr warten. Das wird einen Boom auslösen. Das „Handelsblatt“ hat geschrieben: Automobilwirtschaft im Rausch von 5G. – Diese Aktion ist eine tolle Maßnahme.
Mein letzter Punkt. Es ist eben auch eine staatliche Aufgabe, für die letzten 1, 2, 3 Prozent, dort, wo der Wettbewerb am Ende nicht mehr hinkommt, Lösungen zu finden. Dafür haben wir das Breitbandförderprogramm, dafür machen wir 5x5G.
Insofern bin ich zuversichtlich, dass wir mit den Dingen, die wir jetzt auf die Schiene setzen, auch im ländlichen Raum die Breitbandversorgung dahin bekommen, wo wir sie brauchen, nämlich an die Spitze.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb schließe ich die Aussprache zu dieser Vereinbarten Debatte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf, den das Kabinett in dieser Woche beschlossen hat, wurde lange erwartet und viel diskutiert. Er geht darauf zurück, dass sich die Koalitionsparteien im Koalitionsvertrag verständigt haben, den Ausbau der erneuerbaren Energien netzsynchron, kosteneffizient und marktorientiert voranzutreiben.
Wir erreichen dieses Ziel, indem wir uns zunächst einmal darauf verständigen, dass wir in den nächsten drei Jahren zusätzlich zu den ohnehin stattfindenden Ausschreibungen Sonderausschreibungen für Photovoltaik und für Wind an Land in einer Größenordnung von insgesamt jeweils vier Gigawatt durchführen. Sie werden auf Jahresscheiben aufgeteilt. Das hat seinen Grund darin, dass wir sicherstellen müssen, dass genügend genehmigte Standorte vorhanden sind, damit ein wirklicher Wettbewerb in den Ausschreibungen stattfindet.
Wir können diese Ausschreibungen auch finanziell bewältigen, weil der Ausbau der erneuerbaren Energien in den letzten Jahren wesentlich preisgünstiger geworden ist. Im Schnitt werden Windenergieanlagen an Land heute für 5,5 Cent die Kilowattstunde zugeschlagen und Photovoltaikanlagen in der Freifläche für 4,5 Cent die Kilowattstunde. Das ist mehr als eine Halbierung im Vergleich zu der Zeit, als wir noch feste Einspeisevergütungen hatten. Wir haben, meine sehr verehrten Damen und Herren, damit einen wichtigen Schritt auf dem Weg gemacht, im Jahre 2030 einen Anteil an Erneuerbaren am Stromverbrauch von rund 65 Prozent zu erreichen.
Wir wissen aber auch, dass wir für die Aufnahmefähigkeit der Netze noch wichtige Voraussetzungen schaffen müssen. Ich habe als Bundeswirtschaftsminister angekündigt, dass das Thema Netzausbau zu den Schwerpunkten meiner Arbeit gehören wird. Ich habe im August dieses Jahres die erste Netzausbaureise nach Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Ich werde in den nächsten Wochen den zweiten Teil dieser Reise unternehmen. Wir haben in einem Netzgipfel mit den Bundesländern die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass es schneller vorangeht. Wir werden im Bundestag sehr zügig ein Netzausbaubeschleunigungsgesetz einbringen, das uns dabei helfen soll, unsere Ausbauziele schneller zu erreichen.
Aber es geht nicht nur darum, dass wir Leitungen schneller bauen. Es geht auch darum, dass wir marktwirtschaftliche Instrumente nutzen, den Ausbau der Erneuerbaren effizienter und besser zu machen. Deshalb haben wir uns auf technologieübergreifende sogenannte Innovationsausschreibungen verständigt. Dabei werden Projekte entwickelt, die besonders netz- und systemdienlich sind.
Wir haben im Übrigen in diesem Jahr einen weiteren Zuwachs des Anteils an Erneuerbaren am Stromverbrauch erwirkt, die ausweislich der Feststellung der Übertragungsnetzbetreiber in etwa 2 Prozent über dem des letzten Jahres liegen.
Wir müssen allerdings auch anerkennen und sehen, dass es gegen den Ausbau von Windenergieanlagen zunehmend Widerstände gibt. Wir haben in den letzten Monaten und Jahren gesehen, dass sich insbesondere vor Ort zum Teil sehr kontroverse Debatten entwickeln, auch im Hinblick auf die Emissionen an Geräuschen und an Licht, die von diesen Anlagen ausgehen. Uns liegt sehr daran, die Akzeptanz zu erhöhen, und zwar nicht nur für neue Anlagen, sondern für alle Anlagen, die bereits gebaut sind.
Deshalb haben wir uns in der Koalition darauf verständigt, dass wir bei den Windenergieanlagen, die nachts rot blinken, damit sie von Flugzeugen gesehen werden, eine moderne, innovative Transponderlösung umsetzen werden, die dazu führt, dass diese Anlagen nur dann blinken, wenn ein Flugzeug auch tatsächlich in der Nähe ist. Damit entlasten wir die Anlieger in ganz erheblicher Art und Weise. Die Koalitionsfraktionen werden die Beratungen des Gesetzentwurfes mit einer Arbeitsgruppe begleiten, die von meinem Ministerium unterstützt wird und in der es darum geht, weitere akzeptanzsteigernde Maßnahmen zu erörtern.
Schließlich: Ich hatte zu Beginn meiner Tätigkeit als Bundeswirtschaftsminister mit der Europäischen Kommission bzw. mit Kommissarin Vestager und ihrer Generaldirektion eine wichtige Einigung zum Thema „Entlastung von KWK-Anlagen“ verhandeln können, die in der Vergangenheit gewährt wurde, aber auf einer unsicheren rechtlichen Grundlage stand. Wir haben uns verständigt, und diese Einigung setzen wir mit diesem Gesetzentwurf um. Das bedeutet, dass die Entlastung aus Sicht der Kommission nur in wenigen Fällen zu hoch war und in 98 Prozent der Fälle keine Rückzahlung erfolgen muss. Auch das ist für die Wettbewerbsfähigkeit der entsprechenden Einrichtungen wichtig.
Vielen Dank, Herr Minister. – Ich bitte darum, im ersten Teil der Regierungsbefragung zunächst Fragen zu dem Themenbereich zu stellen, über den eben berichtet worden ist. Die erste Frage stellt der Kollege Steffen Kotré für die AfD.
Herr Präsident! Herr Minister, der Bundesrechnungshof stellt fest, dass die Energiewende im Wirtschaftsministerium schlecht gemanagt ist und dass die Kosten aus dem Ruder laufen. 34 Milliarden Euro hat uns die Energiewende 2017 gekostet, in den letzten fünf Jahren 160 Milliarden Euro. Dann gibt es Schätzungen, die die Energiewende in Gänze betreffen und bei bis zu 2 Billionen Euro liegen. Experten rechnen damit, dass wir, wenn wir die Energiewende fortsetzen, am Ende einen Kilowattpreis von 50 Cent haben. Deswegen lautet meine Frage: Wie sind die Kosten der Energiewende im Bundeswirtschaftsministerium berechnet worden? Was kostet uns die Energiewende aus Sicht des Bundeswirtschaftsministeriums? Wenn diese Zahl noch nicht vorliegt: Wann wird sie vorliegen? – Danke.
Herr Minister.
Herr Abgeordneter Kotré, wenn der Bundesrechnungshof Bericht erstattet, nehmen wir das sehr ernst und prüfen, inwieweit sich daraus Änderungsbedarf für unser Haus und für die anderen Häuser der Bundesregierung ergibt. Das ist der erste Punkt.
Zweitens. Ich habe als Umweltminister bereits im Jahre 2013 darauf hingewiesen, dass sich die Kosten der Energiewende bis zum Jahre 2040 auf einen sehr hohen Betrag von bis zu 1 Billion Euro belaufen können, wenn wir nicht rechtzeitig umsteuern und dafür sorgen, dass der Ausbau marktwirtschaftlicher und kostenorientierter stattfindet. Genau das ist in den letzten vier Jahren gelungen. Wir sind von festen Einspeisevergütungen für Strom aus Wind an Land und für Photovoltaikanlagen übergegangen zu Ausschreibungsmodellen. Dadurch haben wir die Kosten neuer Anlagen praktisch halbiert. Dieser Trend geht weiter. Wir haben inzwischen bei Windanlagen auf hoher See die ersten Optionen für null Cent Einspeisevergütung gesehen; EnBW aus Baden-Württemberg hat einen solchen Windpark ersteigert.
Ich persönlich gehe davon aus, dass wir die 1 Billion Euro bis zum Jahre 2040 nicht in vollem Umfang erreichen werden, sondern deutlich darunter bleiben werden. Aber es gibt viele Institute, die sich mit dieser Frage befassen und zu unterschiedlichen Zahlen kommen. Unser gemeinsames Anliegen muss sein, dass wir die Energiewende so preis- und kosteneffizient wie möglich gestalten.
Vielen Dank. – Die nächste Frage stellt Andreas Lämmel für die Fraktion der CDU/CSU.
Herr Minister, meine Frage ist folgende: Schon bevor der Gesetzentwurf eingebracht wurde, haben Sie immer die Bedingung gestellt, dass Netzausbau vor Ausbau erneuerbarer Energien geht. Ich möchte Sie fragen, wie das bei den Sonderausschreibungen – zwei mal vier Gigawatt für Solar und Wind – abgesichert ist. Bedeutet das, dass dort, wo keine Netzanschlüsse vorhanden sind, kein weiterer Ausbau stattfindet, oder wie muss man sich den Vollzug der Sonderausschreibung vorstellen?
Herr Minister.
Zunächst einmal haben wir nicht in allen Gebieten Deutschlands Netzengpässe. Vielmehr gibt es Gebiete in Deutschland, in denen viel Strom benötigt wird und Netze vorhanden sind. Das ist insbesondere südlich der Mainlinie der Fall. Die Netzengpässe liegen oberhalb. Deshalb haben wir uns darauf verständigt, dass es für Windenergieanlagen, die südlich der Mainlinie gebaut werden, einen Zuschlag von 0,3 Cent je Kilowattstunde Strom geben wird. Das heißt, es wird dadurch attraktiver, dort Anlagen zu bauen, wo Netze bereits vorhanden sind. Das ist der erste Punkt.
Zweitens haben wir noch zu Zeiten der vorangegangenen Großen Koalition zwischen dem damaligen Minister Sigmar Gabriel und dem damaligen Kanzleramtsminister Peter Altmaier eine wegweisende Einigung erzielt, indem wir festgelegt haben, dass Ausschreibungen in sogenannten Netzengpassgebieten – wir nennen sie etwas positiver „Ausbaugebiete“ – weniger häufig zum Zuschlag kommen und dass damit andere Gebiete, wo keine Netzengpässe bestehen, privilegiert sind.
Drittens haben wir es in den letzten beiden Jahren geschafft, die Thüringer Strombrücke fertigzustellen und ans Netz zu bringen. Das bedeutet, dass erneuerbarer Strom aus den neuen Bundesländern wesentlich seltener abgeregelt werden muss als erneuerbarer Strom etwa aus dem Bereich der Nordsee sowie aus den nördlichen und westlichen Bundesländern. Unser Ziel muss doch sein, dass die sogenannten EnLAG-Projekte – das sind nicht die großen Stromautobahnen, sondern die Leitungen auf der Ebene darunter –, die eigentlich alle schon 2015 hätten fertig sein müssen, möglichst zügig fertiggestellt werden. Dann erhöht sich auch die Transportkapazität der Netze. Dem fühle ich mich gemeinsam mit den zuständigen Ministern der Bundesländer verpflichtet.
Vielen Dank. – Die nächste Frage stellt Dr. Julia Verlinden für Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Minister, interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Ihr Haus mir bestätigt hat, dass sich die Netzengpässe und die Restriktionen für den Ausbau von Energieanlagen nur auf die Erneuerbaren beziehen und nicht auf die Fossilen. Jeder darf also in Netzengpassgebieten beispielsweise ein Gaskraftwerk bauen. Das bedauere ich sehr.
Meine Frage bezieht sich auf die Photovoltaik. Sie werden bei der Finanzierung der Einspeisevergütung für Photovoltaik ja explizit kürzen. Es ist so, dass wir seit fünf Jahren den Ausbaupfad, den die Regierung für den jährlichen Ausbau der Photovoltaik vorgesehen hat, mit den Rahmenbedingungen, die existierten, nicht erreichen konnten. Jetzt ist es zum ersten Mal so, dass wir dem wieder näherkommen, dass die Prognose also eher positiv ist. Und genau da schlagen Sie jetzt zu und reduzieren massiv die Vergütung. Jetzt wollte ich fragen, wie Sie das begründen, wie Sie auf diese Zahl – 8,33 Cent pro Kilowattstunde – konkret kommen, ob Sie ein Gutachten erstellt haben, wie Sie dabei argumentieren und ob Sie dadurch dann auch in Zukunft davon ausgehen, dass Sie mit dieser neuen Vergütung Ihr Ziel des jährlichen Ausbaus von Photovoltaik erreichen können.
Herr Minister.
Ja, davon gehe ich eindeutig aus.
Zunächst einmal muss man wissen, dass sich für die kleineren Dachanlagen bis 40 kW gar nichts ändert. Da bleibt die Vergütung, wie sie heute ist.
Zweitens sind wir vonseiten der Europäischen Kommission gehalten, für die großen Dachanlagen bis 750 kW jedes Jahr zu prüfen, ob eine Überförderung vorliegt oder nicht. Dadurch, dass wir im Bereich dieser Anlagen weitere Effizienzsteigerungen und Kostenreduktionen gesehen haben, ist die Rendite sehr stark angestiegen. Wir haben nämlich feste Einspeisevergütungen von 11 Cent die Kilowattstunde für die großen Dachanlagen und 4,5 Cent die Kilowattstunde für die großen Freiflächenanlagen. Daran sehen Sie, dass da eine riesige Differenz ist, und das bedeutet, dass die Vergütung bei den sehr großen Anlagen derzeit rund 20 Prozent über den Kosten liegt.
Das ist ähnlich beim Mieterstrom, den wir ja in der letzten Wahlperiode gemeinsam eingeführt haben. Die Kürzungen, die wir vornehmen, nehmen wir vor, damit die Europarechtskonformität des Gesetzes gewährleistet wird. Es wird dabei bleiben, dass auch alle Anlagen für Mieterstrom weiterhin etwa zwischen 6 und 8 Prozent Rendite erzielen können. Das ist, wenn man es mit Renditeerwartungen in anderen Bereichen vergleicht, kein schlechter Wert.
Vielen Dank. – Nächste Frage: Timon Gremmels, Fraktion SPD.
Herr Minister, ich kann gleich an die Frage zum Mieterstrom anknüpfen. Die Befürchtung, die wir von vielen Verbänden jetzt hören, ist, dass das zarte Pflänzchen des Mieterstroms, das wir in der letzten Koalition gerade so mit vielen Geburtswehen auf den Weg gebracht haben, sich langsam entwickelt und lange Vorlaufzeiten mit Übergangsfristen von zwei Monaten hat, dass aber schon allein durch den Gesetzentwurf viele die Reißleine gezogen haben und dass viele Projekte gestoppt werden.
Erstens. Wie stehen Sie zu dieser Übergangsregelung? Ist sie nicht in der Tat investitionsschädigend? Die, die dort etwas planen, genießen doch auch Vertrauensschutz. Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen?
Zweitens. Es besteht die große Gefahr, dass in der Tat viele Mieterstromprojekte künftig sich überhaupt nicht mehr rechnen, weil es so große Vorlaufzeiten auf Administrationsebene gibt. Wie gehen Sie damit um, zumal wir ja im Koalitionsvertrag festgelegt haben, den Mieterstrom auszubauen? Es wird eher so verstanden, dass damit der Mieterstrom abgewürgt wird. Was können wir da entgegnen, um auch dem Planungssicherheit zu geben? – Danke.
Herr Minister.
Vielen Dank. – Erstens. Vorhandene Anlagen und Anlagen, die bis zum Inkrafttreten des Gesetzes in Betrieb gehen, werden natürlich wie bisher gefördert. Aber – das ist der entscheidende Punkt – für künftige Anlagen muss das Prinzip, dass es keine Überförderung geben darf, berücksichtigt werden.
Wir haben erlebt, dass vorausgesagt wurde, dass mit dem Absenken der Vergütungen die großen Freiflächenanlagen überhaupt nicht mehr gebaut werden. Sie haben heute eine Renaissance erlebt. Bei den Ausschreibungen werden uns diese Freiflächenanlagen insbesondere in Süddeutschland für Zuschlagspreise von 4,5 Cent die Kilowattstunde regelrecht aus der Hand gerissen. Das hätte niemand für möglich gehalten. Deshalb werden wir sehr genau darauf achten, dass es Rahmenbedingungen gibt, die diesen Ausbau auch für die Dachanlagen in Zukunft weiter ermöglichen. Wir gehen davon aus, dass es sich herumgesprochen hat, dass damit für Mieter und Vermieter gleichermaßen Vorteile verbunden sind.
Im Übrigen werden wir die Entwicklung sehr genau beobachten. Unser Ziel ist es, dass auch dieses Modell in Zukunft attraktiv bleibt und auch umgesetzt wird. Davon gehen wir aus. Aber noch einmal: Wir werden die Entwicklung sehr genau, wie man heutzutage sagt, „monitoren“.
Vielen Dank. – Die nächste Frage stellt die Abgeordnete Sandra Weeser für die FDP.
Herr Minister, ich komme auf den Netzausbau zurück. Sie haben eben selber gesagt, das, was im EnLAG verankert ist, muss zügig umgesetzt werden. Jetzt wurden von den 1 800 Kilometern aktuell 800 gebaut, davon im zweiten Quartal ganze 21 Kilometer. Von den 5 900 Kilometern, die im Bundesbedarfsplangesetz veranschlagt sind, sind 150 Kilometer gebaut, davon im zweiten Quartal 4 Kilometer.
Der Koalitionsvertrag stellt die Sonderausschreibungen im EEG unter den Vorbehalt der Aufnahmefähigkeit der Netze. Da interessiert mich, wie das zusammenpasst. – Danke schön.
Ich habe die Frage schon beantwortet.
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Erstens gibt es große Teile in Deutschland, wo die Netze voll und ganz aufnahmefähig sind. Wir reden über Netzengpassgebiete in ganz bestimmten Regionen. Diese beziehen sich vor allen Dingen auf Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und auf Teile von Mitteldeutschland. Dort haben wir rein gesetzlich bei den Ausschreibungen bereits die Zuschlagsmengen reduziert.
Zweitens haben wir in den neuen Bundesländern etwa mit der Thüringer Strombrücke dafür gesorgt – darauf habe ich auch schon hingewiesen –, dass die Redispatch-Kosten gesunken und nicht etwa angestiegen sind, weil der Strom jetzt besser transportiert werden kann. Es gibt große Anlagen, die zum Teil seit Jahren nicht vorangehen, wie zum Beispiel das sogenannte Fehntjer Tief in Niedersachsen. Dort gibt es ein Vogelschutzgebiet, und der Streit geht darum, ob die Leitung um das Gebiet herumgeht, ob sie durch das Gebiet geht, ob die Kabel überirdisch mit Masten oder unterirdisch verlegt werden. Für jede Lösung gibt es Befürworter und Gegner. Es muss nur irgendwann entschieden werden. Da bin ich in einem guten Dialog mit dem Kollegen Olaf Lies aus Niedersachsen.
In Nordrhein-Westfalen gibt es bei Hürth eine Trasse sehr dicht an einer Wohnbebauung, weil die immer näher an diese Trasse herangerückt ist. Auch dort müssen Lösungen gefunden werden. So gibt es ganz viele Orte in Deutschland, wo man konkrete Lösungen finden kann. Dann verbessert sich die Situation sehr schnell.
Die Kollegin Breher, die vorhin gesprochen hat, hat die Idee, die Akzeptanz dadurch zu erhöhen, dass man – ich will nicht von Vollpfosten sprechen –
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Vollwandmasten statt der üblichen Gittermasten ausbringt. Auch das wird geprüft.
Wir haben uns vonseiten des Bundeswirtschaftsministeriums in enger Abstimmung mit der Bundesnetzagentur und den Netzbetreibern vorgenommen, in all den Hotspots, wo es nicht weitergeht, für eine Beschleunigung zu sorgen. Die Anlagen, die heute nicht ausgeschrieben werden, werden Anfang des nächsten Jahres ausgeschrieben. Bis sie fertiggebaut sind, gehen einige Monate ins Land. Ich bin ganz optimistisch, dass wir in dieser Zeit mit dem Ausbau der Netze vorankommen werden.
Vielen Dank. – Die nächste Frage stellt der Kollege Lorenz Gösta Beutin für die Fraktion Die Linke.
Vielen Dank. – Ich habe eine Frage zur Akzeptanz. Wir haben ja eine Situation, dass im Zuge des Rekordsommers die Bevölkerung weit mehr für die Energiewende einsteht, als es die Bundesregierung tut. Trotzdem ist es erfreulich, dass Sie es nach einem halben Jahr geschafft haben, dieses Gesetz jetzt auf den Weg zu bringen. Allerdings ist ein Problem, dass es so schnell durch das Parlament gepeitscht werden soll.
Der Missbrauch im Zusammenhang mit den Regelungen für die Bürgerenergie wurde zwar abgestellt, aber in diesem Gesetzentwurf findet sich, obwohl es genügend Zeit gab, keine neue Regelung für echte Bürgerenergie. Wenn wir tatsächlich auf Akzeptanz setzen wollen, wäre es dann nicht ein richtiger Weg, echte Bürgerenergie zu fördern, beispielsweise durch die Ausnahmeregelung von Ausschreibungen für Projekte mit 18 Megawatt, die die EU vorsieht?
Zunächst einmal ist es so, dass wir selbstverständlich ein Interesse daran haben, dass Bürgerenergieprojekte zum Zuge kommen, das heißt, dass sie auch gebaut werden. Das ist der entscheidende Punkt. Bisher war es so, dass man keine Genehmigung nach Bundes-Immissionsschutzgesetz brauchte und dass es keine Deadline gab, bis wann die Anlage errichtet werden muss. Deshalb sind bis zu 90 Prozent der Projekte von Bürgerenergiegenossenschaften in den Jahren bis 2017 zwar bezuschlagt worden, aber bis heute nicht realisiert worden. Ich gehe davon aus, dass wir uns auch um das Schicksal dieser Zuschläge kümmern müssen; denn die Anlagen könnten ja jederzeit gebaut werden, wenn eine entsprechende Genehmigung vorliegt.
Die zweite Frage ist, inwieweit es in anderen Bereichen Erleichterungen geben soll. Da bitte ich um Verständnis, dass wir uns zunächst einmal anschauen, was denn mit den bezuschlagten, aber noch nicht gebauten Projekten ist. Danach können Sie diese Vorschläge gerne in die Debatte einbringen.
Im Übrigen ist es so: Wir haben das Gesetz deshalb so spät eingebracht, weil wir es mit dem Parlament, das heißt, mit den Koalitionsfraktionen, im Vorfeld gründlich erörtert haben.
Ich gehe davon aus, dass in der parlamentarischen Beratung genügend Zeit bleiben wird, damit die Opposition, auch Ihre Fraktion, mit weiteren zielführenden Vorschlägen die Debatte bereichern kann.
Vielen Dank. – Die nächste Frage kommt von Dr. Ingrid Nestle, Bündnis 90/Die Grünen.
Danke. – Herr Minister, Sie wurden auf den Netzausbau angesprochen. Sie haben selbst ein bisschen dieses, ich würde sagen, Märchen befeuert, es wäre jetzt sinnvoll, auf den Netzausbau zu warten. Wissen Sie, dass nach neuesten Zahlen nur 1 Prozent der Stromkosten durch die Abregelung erneuerbarer Energien verursacht wird und die Klimakrise um ein Vielfaches teurer würde? Und wenn Ihnen das schon so wichtig ist: Warum haben Sie in diesem Gesetz nicht endlich dafür gesorgt, dass man den Strom vor dem Netzengpass nutzen kann, anstatt die Anlagen abzuschalten? Schleswig-Holstein hat schon vor Jahren ein Konzept für das Nutzen statt Abschalten vorgelegt. In § 13 Absatz 6a ENWG hat die Regierung versucht, eine Art Nutzen statt Abschalten im Miniaturformat einzubauen; das hat aber bis dato überhaupt nicht funktioniert. Warum haben Sie nicht wenigstens diesen § 13 EnWG nutzbar gemacht? Das wäre für Sie ein Einfaches gewesen.
Frau Nestle, erst einmal glaube ich, dass ich mit diesem Thema sehr sachlich umgegangen bin. Ich war bei Bürgerinitiativen vor Ort. Wenn Sie sich mit diesen unterhalten, werden Sie feststellen, dass die Bundesregierung diese Fragen lösungs- und konsensorientiert angeht. Aber die statische Betrachtungsweise hilft doch nicht weiter. Wir haben heute Redispatch-Kosten in einer niedrigen einstelligen Milliardengrößenordnung. Diese Redispatch-Kosten werden ansteigen, weil in den nächsten Jahren eine ganze Reihe von großen Windparks in der Nordsee, die derzeit noch im Bau sind, in Betrieb gehen werden. Sie werden ihren Strom überall an der norddeutschen Küste an Land liefern. Dieser Strom wird nicht dorthin transportiert werden können, wo er gebraucht wird: in den großen Verbrauchszentren südlich der Mainlinie, in Baden-Württemberg, in Bayern und in anderen Regionen.
Deshalb muss man sich vorausschauend die Frage stellen, wie der Leitungsausbau und der Ausbau der erneuerbaren Energien vorangehen. Dabei schieben wir eine große Bugwelle von bereits genehmigten, im Bau befindlichen Projekten vor uns her, ohne dass dem bisher ein Leitungsausbau in gleicher Größenordnung gegenübersteht.
Der zweite Punkt ist: Ja, die Koalition diskutiert in der Arbeitsgruppe, die ich bereits genannt habe, darüber, wie man erneuerbaren Strom, den man nicht transportieren kann, in Übergangszeiträumen verwenden kann. Dafür gibt es verschiedene Modelle wie Power-to-Gas, Power-to-Liquid, Power-to-Steel, Power-to-X, aber auch die Idee, dass man elektrische Tauchsieder zur Wärmeerzeugung betreibt. Man muss nur sehr genau aufpassen, dass man damit nicht neue große Subventionstatbestände schafft; denn Sie haben einen weiteren Entropieverlust, wenn Sie diesen Strom noch einmal umwandeln müssen. Wir überlegen beispielsweise, zum Thema Power-to-X Reallabore einzurichten, um dort genau zu prüfen und zu klären, unter welchen Voraussetzungen das großtechnisch machbar und nutzbar ist. Aber es ist eben nicht so, dass diese ganzen Lösungen bereits verfügbar wären und zu vertretbaren Kosten in großem Maßstab umgesetzt werden können. Wir wollen das aber erreichen.
Vielen Dank. – Nächste Frage: Johann Saathoff, SPD.
Herr Minister, Sie haben das Nord-Süd-Problem – ich will es einmal so nennen – adressiert. Ihre Äußerungen dazu sind so zu verstehen, dass Sie für eine einheitliche Preiszone in Deutschland sind. Das will ich gar nicht kritisieren. Aber etwas dazu fragen will ich schon. Sie haben für die Photovoltaik den 52-Gigawatt-Deckel eingeführt. Halten Sie angesichts der Nord-Süd-Problematik diesen Deckel immer noch für sinnvoll? Im Süden Deutschlands wird vor allem Photovoltaikenergie gewonnen.
Außerdem haben Sie gesagt, dass wir 0,3 Cent mehr für Windenergie in Süddeutschland bezahlen wollen, dass wir Netzausbaugebiete geschaffen haben, also in Süddeutschland einen höheren Ausbaudruck erzeugen wollen, und dass wir die Thüringer Brücke geschaffen haben. Aber manche Kollegen in der Koalition sagen: Wir brauchen auch noch eine Länderöffnungsklausel in Deutschland. – Sie kaschieren das mit der Begründung, dass sie sozusagen ihre Anwohnerinnen und Anwohner schützen wollen, obwohl eigentlich eine ganz andere Ansicht dahintersteckt. Dazu hätte ich gerne Ihre Meinung erfahren.
Was den Photovoltaikdeckel angeht: Den habe nicht ich eingeführt; den haben wir alle gemeinsam eingeführt.
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Ich hatte ihn seinerzeit vorgeschlagen, weil ich zutiefst davon überzeugt war und bin, dass Subventionierungen auch im Bereich der Energiewende zur Markteinführung notwendig und auch sinnvoll sind, dass sie aber keinen Dauerzustand darstellen dürfen.
Zu diesem Zweck haben wir den Ausbau der Energiewende marktwirtschaftlich organisiert. Wir haben gesagt, was zu tun ist, wenn ein Ausbaustand von 52 Gigawatt erreicht ist. Bei Photovoltaik laufen die Vergütungen für neue Anlagen nicht mehr weiter. Das alles hat der Bundesrat mit 16 : 0 gebilligt. Daran waren auch jede Menge A-, B- und C-Länder beteiligt.
Ich habe zur Kenntnis genommen, dass es vonseiten des Koalitionspartners Wünsche gibt, das zu ändern. Wir haben uns in dem vorliegenden Gesetzentwurf darauf verständigt, dass wir die Sonderausschreibungen auf diesen Deckel nicht anrechnen, weil dies ansonsten dazu führen würde, dass wir bereits im Jahre 2020 den Deckel erreichen und dann ein wesentlicher Teil der Sonderausschreibungen nicht realisiert werden könnte. Ansonsten bin ich persönlich immer noch der Auffassung, dass der Systemwechsel notwendig ist. Das muss nicht bedeuten, dass es dann keine Unterstützung zur Markteinführung mehr gibt, aber es könnte durchaus sein, dass sie dann in einigen Jahren anders aussieht.
Ich will aber nicht verhehlen, dass in dem Koalitionsvertrag zur neuen Bayerischen Staatsregierung beispielsweise zu der Thematik Festlegungen enthalten sind, die Ihrer Position vielleicht mehr entgegenkommen als meiner. Aber das wird dann noch eine politische Diskussion bedeuten, und da wird auch der Bundeswirtschaftsminister seine Position in all seiner freundlichen Klarheit einbringen.
Vielen Dank. – Die nächste Frage stellt Tino Chrupalla, AfD.
Herr Minister, derzeit liegt der Anteil der erneuerbaren Energien am Strommarkt bei 34 Prozent. Ihr Wunsch – den haben Sie auch heute geäußert – ist eine Erhöhung auf 65 Prozent erneuerbare Energien. Nun hat der ehemalige ifo-Präsident Hans-Werner Sinn in Bezug auf das EEG und die Umsetzung von einem Irrweg gesprochen. Er und auch der Bundesrechnungshof kritisieren immer wieder die enormen Kosten der Energiewende. Dazu hätte ich zwei Fragen.
Kann die Stabilität des deutschen Stromnetzes bei einem Anteil erneuerbarer Energien von mehr als 50 Prozent überhaupt aufrechterhalten werden?
Zweite Frage: Können Sie hier und heute weitere Strompreiserhöhungen für die Verbraucher und auch für die Wirtschaft ausschließen? Die „Kugel Eis“ von Herrn Trittin – er ist ja anwesend; er wird zuhören – ist das berühmte Beispiel.
Der Anteil der Erneuerbaren lag im letzten Jahr bei 36 Prozent. Er wird sich in diesem Jahr vermutlich in Richtung 38 Prozent entwickeln. Die genauen Zahlen werden ermittelt und bekannt gegeben, wenn das Jahr vorbei ist.
Wenn man das über Nacht auf 50, 60, 70 oder 80 Prozent erhöhen würde, würde es selbstverständlich Probleme mit der Systemintegration geben, weil die Erneuerbaren zum jetzigen Zeitpunkt nicht imstande sind, jederzeit grundlastfähig den Strom sicher verfügbar zu produzieren. Aber das Ganze ist ja ein Transformationsprozess, der sich noch über einen Zeitraum von rund 30 Jahren vollziehen wird, bis zum Jahre 2050. Dann sollen 80 bis 90 Prozent der Stromquellen erneuerbar sein.
In diesem Transformationsprozess werden für den Übergang natürlich auch fossile Energieträger eine Rolle spielen. Wir diskutieren derzeit über das Phasing-out bei der Stromerzeugung aus Kohle und Braunkohle über einen längeren Zeitraum. Selbstverständlich wird es dann auch dazu kommen, dass für eine Zwischenzeit beispielsweise Gaskraftwerke eine größere Rolle spielen werden, weil Gaskraftwerke imstande sind, innerhalb kürzester Zeit flexibel den benötigten Strom zu produzieren. Wir haben in aller Regel einen geringen Anteil der Erneuerbaren in der Nacht. Dann ist aber der Strombedarf gar nicht so hoch; dann wird nicht so viel Strom verbraucht. Trotzdem muss die Versorgung sichergestellt werden. Dann ist es eben so, dass wir bei der Stromerzeugung aus Gas weitaus weniger CO 2 produzieren. Alle diese Fragen werden diskutiert, und sie werden entschieden.
Ich kann Ihnen eines garantieren – jedenfalls solange ich Minister bin –: dass wir an der Sicherheit der Stromversorgung ein allerhöchstes Interesse haben und dass wir nicht zulassen werden, dass die Versorgungssicherheit reduziert oder gefährdet wird.
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Herr Minister.
Die Kosten kann ich Ihnen deshalb nicht sagen, weil wir vor 20 Jahren den Strommarkt liberalisiert haben. Deshalb bildet sich dies frei am Markt, nach den Gesetzen der Marktwirtschaft. Der Börsenstrompreis war in Deutschland schon einmal höher als jetzt, obwohl er in den letzten Monaten gestiegen ist. Die EEG-Umlage ist eine Zeit lang exorbitant schnell gestiegen. Das war die Zeit, als wir über die „Kugel Eis“ des Kollegen Trittin diskutiert haben. Ich habe mich sehr dafür eingesetzt, dass dies geändert wird.
Wir haben jetzt seit ungefähr vier Jahren eine im Wesentlichen gleichbleibende Umlage. Sie ist in diesem Jahr in erster Linie wegen des angestiegenen Börsenstrompreises etwas gesunken, aber wir haben jedenfalls die Dynamik gebrochen, und das ist eine gute Nachricht für alle Verbraucherinnen und Verbraucher.
Sehr geehrter Minister Altmaier, ich weiß Ihre Art, die Fragen kompakt zu beantworten, durchaus zu schätzen, möchte Sie aber an die Vereinbarung erinnern, dass die Antwort 60 Sekunden nicht überschreiten soll. Ich weise Sie deshalb darauf hin, weil wir noch viele Fragen haben.
Das tut mir alles sehr leid, aber es ist der Respekt vor dem Hohen Haus, dass ich versuche, die Fragen umfassend und korrekt zu beantworten.
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Der Respekt vor dem Hohen Haus gebietet auch, dass Sie möglichst viele Fragen beantworten. Deshalb müssen Sie jede Antwort so knapp wie möglich halten.
Die nächste Frage stellt noch einmal Sandra Weeser für die Fraktion der FDP.
Herr Minister, Sie haben eben erwähnt, dass die Blinksignale an Windkraftanlagen aus Respekt vor der Bevölkerung in den Abendstunden demnächst abgeschaltet werden. Jetzt gibt es nicht nur das Problem mit den Blinklichtern, sondern die Bevölkerung leidet auch unter Infraschall. Würden Sie sich zum Beispiel dafür einsetzen, dass die Problematik Infraschall auch in der TA Lärm verankert wird?
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Herr Minister.
Ich kann Ihnen dazu – ich bitte um Verständnis – jetzt keine endgültige Aussage machen, weil die Thematik Infraschall eine sehr umstrittene ist. Sie können gerne Ihre Wünsche, was wir in der TA Lärm ändern sollen, schriftlich an das Ministerium oder an mich weiterleiten. Wir werden das entsprechend beantworten.
Vielen Dank. – Nächste Frage kommt von Ralph Lenkert, Fraktion Die Linke.
Herr Präsident. – Herr Minister, welche außerparlamentarischen Akteure sind in die Arbeitsgruppe zur Akzeptanz der Steigerung der Windenergie eingebunden? Sie sprachen vorhin von der Lösung, um die Blinklichter abzuschalten. Ich stelle mir die Frage – da es zugelassene Lösungen für diese Abschalttechnik gibt, die mit der Flugsicherung abgestimmt sind und die nicht die Transponderlösung beinhalten –: Wieso schreiben Sie in das Gesetz nicht einfach „eine Lösung“, sondern explizit eine Transponderlösung hinein, die dann ein einzelnes Unternehmen, das diese Lösung patentiert hat, bevorzugt? Das hat weder etwas mit Marktwirtschaft zu tun noch etwas mit Technologieoffenheit.
Zum einen Ihre Frage nach der Arbeitsgruppe. Das ist eine Arbeitsgruppe von zwei großen Bundestagsfraktionen. Wie es üblich ist, ist das Bundeswirtschaftsministerium immer bereit, mit seiner Expertise zur Verfügung zu stehen. Wenn die Fraktion Die Linke um diese Expertise bitten würde, würden wir selbstverständlich mit unserem guten Rat zur Seite stehen.
Die zweite Frage ist, warum wir uns für die Transponderlösung entschieden haben. Es kam den Beteiligten darauf an, dass wir möglichst schnell und möglichst preisgünstig eine Lösung finden, die möglichst viele Bürgerinnen und Bürger entlastet. Das haben alle Beteiligten in der Transponderlösung gesehen. Deshalb wird sie im Gesetz verankert.
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Vielen Dank. – Nächste Frage kommt von Dr. Gero Hocker, FDP.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, ich möchte kurz auf das Thema Biogasanlagen zurückkommen und möchte Sie fragen, ob Ihnen der Sachverhalt bekannt ist, dass nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 17. Mai 2018 Betreiber von Biogasanlagen den Formaldehydbonus, der in der Vergangenheit gezahlt wurde, zurückzahlen müssen und das auch für künftige, eigentlich in die Kalkulation eingegangene Zahlungen gilt.
Ich möchte Sie weiterhin fragen, wenn Ihnen dieser Sachverhalt bekannt ist, warum bei der Überarbeitung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes hier im Interesse der Investitionssicherheit der Betreiber keine eindeutige Regelung gefunden wurde.
Mir ist dieses Urteil bekannt. Ich habe – bislang jedenfalls – davon abgesehen, eine konkrete Regelung in diesem Gesetz vorzuschlagen. Ich möchte Sie aber einladen, wenn Sie eine Vorstellung haben, wie das geregelt werden sollte, es an mich heranzutragen. Wir sind gerne bereit, dann darüber zu sprechen.
Nächste Frage: Lorenz Gösta Beutin, Fraktion Die Linke.
Sie hatten eben von Redispatch-Kosten in Höhe von etwa 1 Milliarde Euro, zumindest in Höhe eines einstelligen Milliardenbetrages, gesprochen. Ist Ihnen bekannt, dass die Bundesnetzagentur im Oktober veröffentlicht hat, dass zumindest im ersten Quartal 2018 diese Kosten drastisch gesunken sind und dass wir im ersten Quartal Kosten in Höhe von 76,5 Millionen Euro dafür hatten. Wenn man das hochrechnet – selbst wenn man annimmt, dass es in den anderen Quartalen noch einmal deutlich steigt –, kommen wir auf keinen Fall auf einen einstelligen Milliardenbetrag. Ich will noch ergänzen, dass, wenn wir die dreckigsten Braunkohlekraftwerke abschalten würden, wir tatsächlich noch weniger für Redispatch ausgeben müssten.
Also, die Zahlen, die Sie genannt haben, sind mir nicht bekannt.
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Ich weiß, dass die Zahlen in den letzten Jahren deutlich über 1 Milliarde Euro lagen. Und die Experten haben mich auch immer darauf hingewiesen, dass ein gewisser Grund-Redispatch nicht zu vermeiden ist, unabhängig vom Zustand der Stromleitungen. Wir haben dadurch, dass die Thüringer Strombrücke fertig geworden ist, für eine Entlastung beim Redispatch gesorgt. Ich habe aber auch darauf hingewiesen: Wenn all die Windparks in der Nordsee fertig werden und Strom liefern, dann werden wir ein sehr viel größeres Problem haben als derzeit. Deshalb müssen wir vorausschauend damit umgehen.
Im Übrigen haben wir in diese Redispatch-Kosten gar nicht eingerechnet, dass es auch den Fall gab, dass Windanlagen, die bereits fertiggestellt waren, abgeregelt werden mussten bzw. gar keinen Strom produzieren konnten, weil es an Leitungen fehlte, über die der Strom ins Landesinnere hätte gebracht werden können. Es gibt also tatsächlich eine ganze Reihe von Fragen, die jeden Befürworter der Energiewende beschäftigen müssen; denn Strom, der umweltfreundlich produziert wird, aber nicht verbraucht werden kann, hat am Ende keine Reduzierung von CO 2 zur Folge; deshalb haben wir, glaube ich, hier ein gemeinsames Interesse.
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Vielen Dank. – Nächste Frage: Lisa Badum, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Minister, meine Frage dreht sich um das Thema Photovoltaik. Sie haben die Kürzung der Mittel hier jetzt mehrfach mit EU-Vorgaben begründet; aber es gibt sicher keine Vorgabe, Anlagen zwischen 40 kW und 749 kW über einen Kamm zu scheren und komplett gleich zu behandeln. Insbesondere für Mieterstromprojekte – wir haben es gehört – wird das zur großen Gefahr werden. Die von Ihnen genannte Zahl von 6 bis 8 Prozent Rendite bei Mieterstromprojekten halte ich für absolut falsch, für eine Fantasiezahl. Ich lade Sie gerne ein, sich das in der Praxis mal anzuschauen. Diese Unterförderung wird zur großen Gefahr werden.
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Ist es nicht widersinnig – Sie haben sich hier heute sehr besorgt über die Akzeptanz der Energiewende gezeigt –, dass Sie ausgerechnet eine akzeptanzfördernde Form der Energiewende, nämlich Energieerzeugung auf den Dächern, ausbremsen? Ist das nicht unlogisch?
Das EEG und insbesondere auch die besondere Ausgleichsregelung sind bereits vor einiger Zeit von der Europäischen Kommission und vom Gerichtshof der Europäischen Union als Beihilfe qualifiziert worden. Weil wir sehr viele Ausnahmeregelungen im Interesse der Energiewende erwirkt haben, sind wir gehalten, über die Förderhöhe und die Höhe der Renditen zu berichten. Das gilt für KWK-Anlagen genauso wie für Energie, die über Erneuerbare erzeugt wird.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meines Hauses, unterstützt durch Expertise von außen, sind jedenfalls zu dem Ergebnis gekommen, dass der Gesetzgeber hier handeln muss. Es ist ja eben nicht so, dass wir bei Dachanlagen die automatische Anpassung durch Auktionen und Versteigerungen haben.
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Vielmehr erhält man beim Betrieb dieser Anlagen nach wie vor eine feststehende gesetzliche Einspeisevergütung. Diese muss dann alle paar Jahre angepasst werden. Es gab ja diesen berühmten atmenden Deckel, über den viel gespottet worden ist, der aber zur Folge hatte, dass die tatsächlichen Vergütungen gesunken sind. In letzter Zeit sind die Anlagen aber so viel kostengünstiger geworden, dass ein Handeln des Gesetzgebers notwendig ist.
Vielen Dank. – Eine weitere Frage von Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, die Bundesregierung hat die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ eingesetzt. Diese beschäftigt sich im Wesentlichen mit der Frage des Kohleausstiegs. Mich würde interessieren, wie Sie die Auswirkungen Ihrer Gesetzesnovelle auf die Branche der erneuerbaren Energien im Hinblick auf Beschäftigung einschätzen. Gibt es da vonseiten der Bundesregierung eine Evaluierung? Wie geht die Bundesregierung mit Aussagen nicht nur aus der Branche, sondern auch aus dem wissenschaftlichen Bereich um, dass hier – in einer Zukunftsbranche – ein dramatischer Arbeitsplatzabbau stattfindet?
Wir haben eine Evaluierung vorgenommen; wir verfolgen die Entwicklung sehr genau. Tatsache ist aber auch, dass der Arbeitsplatzabbau im Bereich der Photovoltaikbranche zu einem Zeitpunkt eingesetzt hat, als der Ausbau auf Rekordhöhe lag, nämlich bei über 6 500 Megawatt im Jahr – heute liegt er zum Vergleich bei 2 800 Megawatt –, weil viele Bauherren auf ihren Dächern und Feldern Anlagen aus China und anderen asiatischen Ländern installiert haben.
Ich hatte die große Ehre und Freude, zusammen mit Herrn Saathoff ein Gespräch mit Beschäftigten der Windenergiebranche zu führen. Ich sage ganz offen und ehrlich, dass mir daran gelegen ist, dass wir auch in Zukunft eine wettbewerbsfähige Windenergiebranche in Deutschland haben. Aber auch dort gibt es einen zunehmenden Importdruck, und dieser Importdruck hat sich bereits im letzten Jahr bemerkbar gemacht, als wir einen Rekordausbau bei der Windenergie an Land in Höhe von rund 4 500 Megawatt hatten.
Es gibt also keine Korrelation zwischen Ausbauzahlen bei erneuerbaren Energien und Beschäftigungseffekten, weil wir inzwischen einen weltweiten Wettbewerb im Bereich der Anlagenproduktion haben. Deshalb muss unsere Politik auch darauf ausgerichtet sein, dass die deutschen Unternehmen international wettbewerbsfähig bleiben und auch auf anderen Märkten aktiv sind.
Ich war in dieser Woche in Indonesien auf der Asien-Pazifik-Konferenz. Ich habe beim Präsidenten des Landes und beim Energieminister sehr eindringlich dafür geworben, dass auch in einem Land wie Indonesien mit 255 Millionen Einwohnern der Ausbau der erneuerbaren Energien energischer vorangetrieben wird. Ich habe übrigens ebenso bei der Deutsch-Russischen Rohstoff-Konferenz unterstützt, dass auch in Russland stärker als bisher das Augenmerk auf Erneuerbare gesetzt wird. Das gilt in gleicher Weise für die Ukraine Damit eröffnen wir auch Exportchancen für deutsche Unternehmen.
Vielen Dank. – Die letzte Frage zu dem Komplex „erneuerbare Energien“ kommt von Jürgen Trittin.
Ich will da anschließen, wozu der Kollege Krischer gefragt hat. In den letzten Jahren sind in der Branche der erneuerbaren Energien Arbeitsplätze fast im sechsstelligen Bereich verloren gegangen. Das ist nicht nur das Ergebnis einer Verlagerung nach China. Würden Sie mir zustimmen, dass das auch damit zusammenhängen könnte, dass die Investitionen in Deutschland für erneuerbare Energien in den letzten zwei Jahren gesunken sind, und zwar im letzten Jahr um 25 Prozent auf nur noch 14,8 Milliarden Euro? Wenn ich mich in der Welt umschaue, stelle ich fest, dass die Investitionen gleichzeitig in China um 25 Prozent auf 150 Milliarden Euro gestiegen sind – anders gesagt: China gibt zehnmal so viel Geld aus wie Deutschland –
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und die Investitionen in erneuerbare Energien in den USA bei 60 Milliarden Dollar gelegen haben, also beim Vierfachen von dem, was in Deutschland noch investiert wird. Würden Sie mir zustimmen, dass es eine Korrelation zwischen Investitionen und dem Erhalt und Ausbau von Arbeitsplätzen gibt?
Sehr geehrter Herr Kollege Trittin, das Problem liegt darin, dass Ihre Zahlen zwar richtig, Ihre Schlussfolgerungen aber falsch sind. Ich will das am Beispiel der deutschen Zahlen erläutern. Der Umfang des Ausbaus bei erneuerbaren Energien, insbesondere im Hinblick auf Windenergie an Land und auf hoher See sowie im Hinblick auf Photovoltaik, war größer als in den Jahren zuvor, und gleichzeitig sind die Investitionen gesunken. Warum sind sie gesunken? Sie sind gesunken, weil die Anlagen preisgünstiger geworden sind, weil Sie heute ein Windrad zu wesentlich geringeren Kosten bauen können als noch vor fünf oder sechs Jahren, weil Sie Photovoltaik zu wesentlich günstigeren Preisen aufs Dach bringen können.
In einem Land, in dem diese Anlagen zunächst mit enormen Kosten in den Markt eingeführt wurden, können Sie, wenn diese Kosten dann sinken, einen steigenden Ausbau und trotzdem zurückgehende Investitionen haben. Umgekehrt: In Ländern wie China, die jetzt erst anfangen, massiv in den Ausbau der erneuerbaren Energien zu investieren, werden von Anfang an die kostengünstigeren Anlagen gebaut. Sie haben dort ein Plus vor der Zahl, weil es diese teuren Investitionen dort vorher nicht gegeben hat. Das ist mathematisch eine sehr leicht nachvollziehbare Situation.
Vielen Dank. – Wir kommen jetzt zum zweiten Teil der Befragung der Bundesregierung. Hier geht es um Fragen zu weiteren Themen der Kabinettssitzung sowie zu sonstigen Fragen.
Die erste Frage zu diesem Komplex stellt der Abgeordnete Dr. Christian Wirth, AfD.
Herr Präsident, vielen Dank. – Seit 2009 bildet die Bundespolizei in Saudi-Arabien Grenzschützer aus. Außerdem werden in Hamburg jährlich sieben Offiziersanwärter ausgebildet. Auf eine Kleine Anfrage der AfD hat die Bundesregierung am 4. Oktober geantwortet, dass das auch weiterhin so bleiben soll. Es sind im Verbindungsbüro in Riad im Schnitt fünf Beamte ständig beschäftigt. In der Spitze waren es 2018 bis zu 70 Beamte.
Nun zum Fragenkomplex: Uns hat in den letzten Wochen der Fall Khashoggi, der Mord in der saudischen Botschaft, beschäftigt. Während im vergleichbaren Fall Skripal beim geringsten Anfangsverdacht Diplomaten ausgewiesen wurden, ist hier bis heute sichtbar noch nichts passiert. Wie gedenkt die Regierung in diesem Falle vorzugehen, insbesondere hinsichtlich der weiteren Ausbildung von Grenzschützern und Soldaten?
Zum einen hat sich die Bundesregierung im Hinblick auf den Fall Khashoggi unmissverständlich und klar und deutlich positioniert. Zum anderen haben wir uns auch dazu geäußert, wie wir mit Waffenexporten umzugehen gedenken. Wir haben ohnehin im Koalitionsvertrag einen Passus, der vorsieht, dass keine neuen Waffenlieferungen an Staaten, die am Jemen-Konflikt unmittelbar beteiligt sind, genehmigt werden sollen. Über die Anwendung und die Interpretation wird im Einzelfall gesprochen.
Das Projekt, das Sie ansprechen, hat damit nichts zu tun, sondern geht zurück auf einen Auftrag zur Errichtung eines integrierten Grenzschutzsystems in Saudi-Arabien, der vor mehr als zehn Jahren an deutsche Unternehmen gegangen ist. Der Aufbau dieses integrierten Grenzschutzsystems in Saudi-Arabien, der Investitionen zugunsten dieser deutschen Unternehmen in der Größenordnung eines zweistelligen Milliardenbetrages ausgelöst hat, erstreckt sich über viele Jahre. Dass ein integriertes Grenzschutzsystem mit gut ausgebildeten saudi-arabischen Grenzschutzpolizisten dort möglich wird, ist übrigens in keiner Weise ein aggressiver Akt und dient auch nicht zur Unterdrückung und zur Oppression. Ich glaube, dass die Bundesregierung sich einig ist – das zeigt auch die Antwort auf die Kleine Anfrage –, dass wir eingegangene Verpflichtungen, zumal wenn es sich um derart langfristig angelegte Projekte handelt, nicht ständig widerrufen und auf den Prüfstand stellen. Pacta sunt servanda – das hat schon Franz Josef Strauß gesagt. In diesem Falle finde ich, dass es auch die richtige Antwort ist.
Vielen Dank. – Die Kollegin Nina Scheer, die sich zu dem Komplex „erneuerbare Energien“ gemeldet hatte, ist versehentlich für diesen Bereich eingetragen worden. Ich bitte um Verständnis, dass wir jetzt nicht wieder zu diesem Komplex zurückspringen können, zumal wir den angesetzten Zeitraum von 30 Minuten schon überschritten haben. Ich möchte hier noch eine Runde machen und dann zur allgemeinen Fragestunde kommen.
Die nächste Frage stellt Katja Hessel für die FDP.
Vielen Dank. – Herr Minister, unter Tagesordnungspunkt 7 standen heute auch europapolitische Fragen auf der Tagesordnung der Kabinettssitzung. Ein europapolitisches Thema ist die Digitalsteuer. Mich würde interessieren, welche Position die Bundesregierung zu den verschiedenen Vorschlägen zur Digitalsteuer bezieht und wie der Zeitplan aussieht, weil ja auf europäischer Ebene eine Einigung bis Ende Dezember vorzunehmen ist.
Ich kann darauf verweisen, dass in dieser Woche der Bundesfinanzminister zu diesem Thema Gespräche bei einer Sitzung der europäischen Finanzminister in Brüssel geführt hat. Ich selbst war dort nicht zugegen. Ich weiß nicht, ob die Kollegin Staatssekretärin aus dem BMF das im Einzelnen noch ergänzen kann. Die Idee ist, dass man zu einer Verständigung kommt, die auch deutschen Bedenken Rechnung trägt.
Vielen Dank. – Nächste Frage: Ralph Lenkert, Fraktion Die Linke.
Frau Lambrecht wollte noch etwas sagen.
Frau Lambrecht wollte noch etwas ergänzen, bitte sehr. – Dann warten Sie bitte noch einen Moment, Herr Lenkert.
Ja, das mache ich gerne. – Es geht nicht um die Frage, ob wir eine Digitalsteuer unterstützen werden, sondern die Frage ist, wie sie ausgestaltet ist. Deswegen verhandelt der Bundesfinanzminister momentan auf europäischer Ebene dahin gehend, ob wir nicht gemeinsam eine Lösung auf internationaler Ebene, nämlich auf OECD-Ebene, erreichen können. Uns ist aber bewusst, dass das ein schwieriges Unterfangen ist. Insofern ist die Vorstellung, dass man sich parallel auf europäischer Ebene verständigt, in einem überschaubaren Zeitraum eine Digitalsteuer einzuführen – lassen Sie mich hier einen Zeitraum von circa einem Jahr bis anderthalb Jahren nennen –, wenn man auf internationaler Ebene zu keiner Lösung gekommen ist. Das hat die Kommission ja auch so vorgeschlagen. Die genaue Ausgestaltung müsste dann allerdings noch präzisiert werden.
Vielen Dank. – Dann kommt der Kollege Lenkert.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Der Pakt für Forschung und Innovation sieht unter anderem die Förderung der Erforschung von Speichersystemen vor. In diesem Zusammenhang würde mich interessieren, ob sich die Forschung weiterhin ausschließlich nur mit Festkörperbatterien als Speicher beschäftigen soll oder ob auch ein weiteres Forschungsprogramm für Flüssigkeitsspeicher – Redox-Flow-Batterien etc. – aufgelegt werden soll, um diese Fixierung auf Lithium bzw. Natrium aufzugeben und wirklich technologieoffen zu werden. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt betrifft Ihren kurzen Hinweis auf die Expertise des Bundeswirtschaftsministeriums. Die Bundesnetzagentur hat folgende Zahlen veröffentlicht: 77 Millionen Euro Redispatch-Kosten im ersten Quartal 2018, 95 Millionen Euro im vierten Quartal 2017. Das ergibt hochgerechnet bei weitem keine 1,5 Milliarden Euro. Angesichts dieser Rechnung verzichten wir gerne auf die Expertise des Wirtschaftsministeriums.
Vielen herzlichen Dank. – Ich kann das jetzt im Stehen nicht überprüfen, aber wir werden Ihnen auch dazu eine Antwort zukommen lassen.
Im Übrigen ist es bei der Batterieforschung so: Als ich noch Umweltminister war, haben wir ein Förderprogramm aufgelegt. Dieses Programm ist sehr erfolgreich. Wir führen es auch fort. Wir erörtern derzeit, inwieweit wir auch alternative Speichermöglichkeiten unterstützen und fördern. Das bezieht sich insbesondere auf Wasserstoff und auf die unterschiedlichen Möglichkeiten, die damit verbunden sind. Ich nenne hier das Stichwort „Power-to-X“. Ob man beispielsweise Redox-Flow-Batterien in diese Programme aufnimmt, wird von den Fachleuten geprüft. Das möchte ich als Minister nicht entscheiden, sondern in einem objektiven Verfahren klären lassen.
Vielen Dank. – Nächste Frage: Markus Frohnmaier, AfD.
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– Es geht hier in der Reihenfolge nach der Größe der Fraktion.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Vertreter der Regierung! Die Bundesregierung wird getragen von CDU, CSU und SPD. Im Koalitionsvertrag haben Sie geregelt, dass der Familiennachzug auf 1 000 Personen pro Monat zu beschränken ist. Das ist die derzeitige Gesetzeslage. Die Kanzlerin hat diese Woche angekündigt, den UN-Migrationspakt zu zeichnen und ihm beizutreten. In Ziffer 21 Buchstabe i wird davon gesprochen, eine Erleichterung bei der Familienzusammenführung vorzunehmen. Die Bereiche Qualifikation, Sprachfähigkeit und Einkommen sollen neu evaluiert werden. Wie erklären Sie den Widerspruch zwischen dem Koalitionsvertrag auf der einen Seite und dem Regelungsgehalt des UN-Migrationspaktes auf der anderen Seite?
Herr Kollege, Sie haben, wenn ich mir das erlauben darf zu sagen, gerade Äpfel mit Birnen verglichen. In den Beschlüssen des Koalitionsvertrages geht es um Aspekte der humanitären Migration, insbesondere um subsidiär Geschützte. In dem Pakt der Vereinten Nationen geht es um Arbeitsmigration. Selbstverständlich ist im Rahmen von Arbeitsmigration in aller Regel Familiennachzug vorgesehen. Das ist im Übrigen in Deutschland deutlich positiver und weitgehender geregelt als in den meisten anderen Ländern der Welt.
Vielen Dank. – Nächste Frage: Matthias Gastel, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – An Sie, Herr Minister, eine Frage, die sich auf das Thema Diesel und Fahrverbote bezieht. Dieses Thema hat ja ursprünglich auf der Tagesordnung der Kabinettssitzung gestanden, man hat sich dann aber mit diesem Thema nicht befasst, als ob es dazu nichts zu besprechen gäbe.
Meine Frage bezieht sich auf die 270 Milligramm NO x pro Kilometer, die von der Bundesregierung als Schwellenwert festgelegt wurden, sodass Fahrzeuge, wenn sie diesen Wert einhalten, nicht von Fahrverboten betroffen sein sollen. Die Aussage, dass der Wert im Realbetrieb eingehalten werden muss, gab es ja schon. Dazu aber, nach welchen Verfahren genau gemessen wird, gibt es bisher keine Antwort. Dazu möchte ich gerne eine Antwort hören, genauso wie auf die Frage, wie die Fahrzeuge gekennzeichnet werden sollen, damit erkennbar ist, dass sie nicht vom Fahrverbot betroffen sind.
Das ist jetzt eine sehr technische Frage. Ich bitte um Verständnis, wenn wir das BMVI bitten, diese zu beantworten.
Okay, das soll so geschehen. – Nächste Frage: Alexander Graf Lambsdorff für die FDP.
Schön, dass Sie hier sind, Herr Altmaier. Sie sind ja ein echter Europäer. Als Antwort auf „America first“ kommt von der Bundesregierung immer wieder, auch als Reaktion auf die Midterms, dass wir mit „Europe united“ antworten. Ich würde Sie gerne fragen: Was bedeutet das konkret für die Bundesregierung? Ganz konkret gefragt: Wie gedenkt die Bundesregierung, auf den sehr spezifischen Vorschlag von Präsident Macron einzugehen, etwas zu schaffen, was von ihm als eine wahre europäische Armee bezeichnet wird?
Zweite Frage in diesem Zusammenhang: Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um den Europäischen Auswärtigen Dienst weiter zu stärken?
Die Diskussion über eine wahre europäische Armee ist ja schon etwas älter. Sie war in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft zugrunde gelegt, die im Jahr 1954 – nicht in Deutschland, sondern in einem Nachbarland westlich von Deutschland – nicht ratifiziert worden ist. Seither gibt es Debatten darüber, wie man die Verteidigungszusammenarbeit stärkt. Die Bundesregierung hat sich in diesen Fragen immer einstimmig und gemeinsam für eine Stärkung der europäischen verteidigungspolitischen Zusammenarbeit eingesetzt. Inwieweit der französische Präsident mit seinen Bemerkungen gestern über diese gemeinsame Linie aller EU-Staaten hinausgeht, wird sicherlich in den nächsten Tagen zu klären sein. Dann wird sich die Bundesregierung dazu auch positionieren.
Zum Europäischen Auswärtigen Dienst. Die Bundesregierung unterstützt ihn sowohl personell, durch Zurverfügungstellung von hervorragend qualifiziertem Personal, wie auch durch Einbindung in die Arbeit der Europäischen Union. Wenn Sie da einen speziellen Aspekt beleuchten möchten, dann würde ich das Auswärtige Amt bitten, es zu beantworten. Wir unterstützen ihn jedenfalls. Wir haben uns seinerzeit für seine Einführung starkgemacht. Das entsprechende Konzept ist im Verfassungskonvent erarbeitet worden, und wir haben ein hohes Interesse daran, dass diese Institution erfolgreich arbeitet.
Vielen Dank. – Die letzte Frage in der Regierungsbefragung: Katharina Dröge, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Altmaier, wir alle mussten mit Bestürzung zur Kenntnis nehmen, dass Brasilien vor wenigen Tagen einen Präsidenten gewählt hat, der offen rechtsextrem, homophob und frauenfeindlich ist und die Militärdiktatur verherrlicht. Die Frage ist: Wie geht die Europäische Union jetzt mit diesem Präsidenten um?
Jetzt verhandeln wir ja aktuell mit einer Staatengemeinschaft, zu der auch Brasilien gehört, das Freihandelsabkommen Mercosur. Deswegen frage ich Sie, ob aus Ihrer Sicht die Verhandlungen zum Mercosur-Abkommen jetzt einfach so weitergehen können wie in der Vergangenheit oder ob die Europäische Union einen Moment darüber nachdenken sollte, wie man vielleicht auch Freihandelsabkommen nutzen kann, um die Zivilbevölkerung vor Ort, in Brasilien, menschenrechtlich besser zu schützen und sie mit Menschenrechtsklauseln oder ähnlichen Dingen zu stützen. Oder sagen Sie, dass es bei diesem Freihandelsabkommen einfach so weitergehen muss?
Ich habe mich noch vor wenigen Wochen mit der Kollegin Malmström, der zuständigen Kommissarin, über den Stand von Mercosur ausgetauscht. Es sind sehr schwierige Verhandlungen; die werden auch nicht in den nächsten Tagen oder Wochen zum Abschluss kommen, sondern es braucht noch eine gewisse Zeit.
Ich will allerdings darauf hinweisen, dass wir diese Verhandlungen nicht im Interesse des neugewählten brasilianischen Präsidenten führen, sondern im Interesse der Europäischen Union, weil wir uns durch diese Verhandlungen auch ein wirtschaftliches Wachstum für Europa versprechen.
Im Übrigen muss man sehen, dass diese Verhandlungen mit einer Staatengemeinschaft geführt werden. Ich glaube, dass man Länder nicht für politische Ereignisse in anderen Ländern, auf die sie keinen Einfluss haben, in Haftung nehmen kann.
Generell gilt für die Außenpolitik der Europäischen Union und die der Bundesrepublik Deutschland, dass wir Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte einen hohen Stellenwert zumessen und wir im konkreten Fall, wenn es relevant wird, immer entsprechend entscheiden. Aber ich sehe jetzt keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Mercosur und dem Wahlergebnis in Brasilien.
Vielen Dank. – Damit beende ich die Regierungsbefragung.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es geht heute erneut um Cum/Ex- und Cum/Cum-Abzocke. Der Finanzwissenschaftler Christoph Spengel nennt es den größten Steuerraub der Geschichte. Es ist ein Krimi über eine Finanzmafia und das Versagen deutscher Finanzminister.
Bei Cum/Ex haben sich Anleger durch Verschieben von Wertpapieren, die sie gar nicht besaßen, Kapitalertragsteuer mehrfach erstatten lassen, die sie nur einmal bezahlt hatten.
Cum/Cum bezeichnet Geschäfte, bei denen deutsche Banken sich bei Dividendenausschüttungen Wertpapiere im Ausland liehen, um Kapitalertragsteuer von anderen Steuern abzuziehen und dann mit dem Geschäftspartner die fette Beute zu teilen.
In Europa sind bis zu 55 Milliarden Euro so ergaunert worden, womöglich auch, weil die Bundesregierung zu spät warnte. Aber Sie fordern, Löhne, Renten und öffentliche Investitionen in Europa zu kürzen und öffentliches Eigentum zu privatisieren. So macht man Europa kaputt.
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Deutschland ist ein Schaden von bis zu 31,8 Milliarden Euro entstanden.
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Wir haben in Deutschland 30 000 Schulen. Für dieses Geld könnten wir in jede Schule 1 Million Euro investieren. Während Lehrer und Eltern tagtäglich versuchen, unseren Kindern beizubringen, was falsch und was richtig ist, stopfen sich Bankster die Taschen voll.
Seit 2002 waren die Bundesregierungen über Cum/Ex informiert. Erst zehn Jahre später wurde das Cum/Ex-Schlupfloch gestopft. Zuvor ließ man die Bankenlobby an Gesetzen rumschrauben. Man machte die Brandstifter zur Feuerwehr. Die Finanzminister hießen seit 2002 Hans Eichel und Peer Steinbrück, SPD, sowie Wolfgang Schäuble, CDU.
Aber Butter bei die Fische: Wieso musste Hamburg unter dem jetzigen Bundesfinanzminister und damaligen Bürgermeister der Stadt Hamburg Olaf Scholz erst durch Wolfgang Schäuble per Anweisung gezwungen werden, eine Cum/Ex-Steuerforderung über 55 Millionen Euro gegen die Warburg-Bank einzutreiben, weil sie sonst verjährt wäre? Mittlerweile geht es um 330 Millionen Euro. Ehrbarer Kaufmann geht anders!
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Warum wurde seitens der Bundesregierung erst 2015 über die OECD vor Cum/Ex-Gestaltungen gewarnt? Seit 2012 hatten die Staatsanwaltschaft Frankfurt und die Bundesregierung Erkenntnisse über die Nutzung von Cum/Ex in Dänemark. Eine Warnung hätte zumindest über die justizielle Amtshilfe erfolgen sollen. Gleichwohl waren auch Dinge faul im Staate Dänemark, wo offenbar eine einzige Person bei der Finanzbehörde zuständig war und für krumme Deals angeheuert wurde. Das alles gilt es aufzuklären.
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Es gibt intime Beziehungen zwischen Politik und Cum/Ex-Industrie. Wolfgang Kubicki von der FDP, der als Jamaika-Finanzminister gehandelt wurde,
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ist Rechtsanwalt des Cum/Ex-Erfinders Hanno Berger. In einem Rechtsstaat steht ihm das zu. Er steht immerhin dazu; das hat ja noch gewisses Format.
Meine deutsche Großmutter ist CDU-Wählerin. In jeder Familie gibt es ja ein schwarzes Schaf.
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Sie ist eine liebenswerte Frau, aber bei Gaunereien platzt ihr immer der Kragen.
Herr Merz, Bewerber um den CDU-Vorsitz, ist seit 2016 Aufsichtsratschef von BlackRock Deutschland. Bei BlackRock wurde jetzt wegen Cum/Ex-Deals – vor seiner Zeit – eine Razzia durchgeführt. Es wird auch nicht gegen Herrn Merz ermittelt.
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– Doch. – Bisher behauptete BlackRock jedoch, nichts mit Cum/Ex am Hut zu haben. Ein Aufsichtsrat ist aber verpflichtet, den Vorstand zu überwachen. Entweder hat Herr Merz von Cum/Ex bei BlackRock bis gestern nichts gewusst, oder er hätte bereits vor der Razzia tätig werden müssen.
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Ich finde, Herr Merz sollte das auch meiner CDU-Oma erklären und sich von der Verschwiegenheit entbinden lassen.
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Londoner Trader scherzen darüber, dass Cum/Ex und Cum/Cum in Deutschland weiter möglich seien. Das müssen wir ernst nehmen. Die BaFin sollte daher auffällige Handelsvolumen durchleuchten, und Steuerbehörden müssen Erstattungen von Kapitalertragsteuern systematisch analysieren. Das geht nur mit mehr Personal.
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Wir brauchen auch ein europäisches Finanz-FBI. Gangster in Nadelstreifen gehören hinter schwedische Gardinen.
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Ich möchte zum Schluss ausnahmsweise Margaret Thatcher zitieren: „We want our money back“.
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Vielen Dank, Herr De Masi. – Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Fritz Güntzler.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr De Masi sprach erneut über Cum/Ex. Wenn Sie in der letzten Legislaturperiode diesem Hohen Haus schon angehört hätten, dann hätten Sie alle diese Debatten schon mal verfolgen können, und es gibt eigentlich nichts Neues.
Ich bin verwundert über die gesamte öffentliche Diskussion, und ich erlebe gar nicht, dass was Neues, Elementares vorgetragen wird. Das sind alles die alten Dinge, die wir im Untersuchungsausschuss, dem ich ja angehören durfte, schon sehr ausführlich diskutiert haben.
Wir haben einen Ausschussbericht gemacht. Darin kann man vieles nachlesen – 1 000 Seiten, 46 Sitzungen. Ich weiß gar nicht, wie viele Zeugen wir da vernommen haben. Da sind all diese Punkte aufgeworfen worden.
Ich finde es mutig, wie hier mit Zahlen rumgeworfen wird: „55 Milliarden Euro europaweit“, haben Sie gesagt – das liest man auch in den Veröffentlichungen –, 31 Milliarden Euro in Deutschland. Bis jetzt ist jeder den Nachweis schuldig geblieben, dass diese Zahlen richtig sind – ich kenne die richtige Zahl auch nicht; das war auch das Ergebnis des Untersuchungsausschusses. Auch Herr Spengel, der immer wieder zitiert wird, hat gesagt, er hat hier hypothetische Rechenmodelle angewandt und weiß auch nicht, ob diese Zahlen tatsächlich so sind. Es ist schlimm genug, dass das geschehen ist. Aber man sollte, glaube ich, keine Politik mit den großen Zahlen machen, wenn man sie nicht valide unterlegen kann, meine Damen und Herren.
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Wir wissen nur ganz genau – das hat das Bundesfinanzministerium mitgeteilt –, dass es 418 Verdachtsfälle mit einem Volumen von circa 5,7 Milliarden Euro gibt. Aber auch davon sind immerhin 2,4 Milliarden Euro mittlerweile zurückgezahlt oder gar nicht ausgezahlt worden; denn in vielen Verdachtsfällen findet diese Auszahlung nicht statt. Wir haben Zeugen vernehmen können, gerade aus dem BZSt, Bundeszentralamt für Steuern, die damals sehr mutig agierten und manche Dinge nicht durchgeführt haben.
Ich habe auch die Bitte – darum haben wir uns im Ausschuss sehr gekümmert –, dass man die Dinge fein auseinanderhält: Cum/Ex ist eben nicht Cum/Cum. Wir haben über alle Fraktionsgrenzen hinweg im Untersuchungsausschuss eindeutig festgestellt, dass Cum/Ex definitiv illegal ist, obwohl die höchstrichterliche Rechtsprechung – das muss man fairerweise sagen – immer noch aussteht. Es gibt ein Urteil des Finanzgerichtes Hessen dazu, und in vielen Fällen laufen die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen. Aber es kann nicht sein, dass eine Aktie zwei Eigentümer hat; frei nach dem Motto von „Highlander“: Es kann nur einen geben. – Genauso kann es nur einen Eigentümer einer Aktie geben. Deshalb kann auch die Kapitalertragsteuer nur einmal angerechnet werden und nicht mehrfach, wie das in diesen Fällen geschehen ist.
Davon zu unterscheiden ist das Cum/Cum-Geschäft. Das mag man vielleicht nicht mögen, aber das ist alles andere als illegal. Es könnte in gewissen Fällen ein Gestaltungsmissbrauch sein, wenn dieses Geschäft rein steuerlich motiviert ist. Diesen Dingen geht die Finanzverwaltung nach. Wir haben in 2016 den § 36a EStG eingeführt, wodurch wir genau hier eine Schranke eingeführt haben. Es wird in den Medien und auch von manchen, die hier im Hause Mitglied sind, immer gesagt, es würde noch weitere neue große Modelle geben. In dem Fall möchte ich Sie bitten, diese konkret zu benennen, damit die Finanzverwaltung eine Chance hat, dagegen anzugehen; denn uns sind sie jedenfalls nicht bekannt.
Wenn immer noch behauptet wird, die Finanzverwaltung, der Gesetzgeber wären untätig gewesen, dann ist das schlichtweg falsch. Sie haben recht, Herr De Masi: 2002 hat der Bankenverband in einem ersten Schreiben auf die Problematik hingewiesen, etwas verklausuliert. 2007 hat man mit dem Jahressteuergesetz die Inlandsfälle zugemacht, indem man die Kompensationszahlung ebenfalls mit einer Kapitalertragsteuer belegt hat. Als man gesehen hat, dass das auch nicht reicht, hat das BMF 2009 ein Schreiben herausgebracht, mit dem die Berufsträgerbescheinigung eingeführt wurde.
Man hat dann gesehen, dass zwar die Inlandsfälle zu waren, dass aber über ausländische Depotbanken das gleiche Spiel weitergetrieben wurde. Das hatte man am Anfang nicht erkennen können, sodass wir 2012 im OGAW-IV-Umsetzungsgesetz endgültig den Laden zugemacht haben, indem wir eine Systemumstellung durchgeführt haben, was die Kapitalertragsteuer angeht. Also, der Gesetzgeber war tätig.
Ich gebe zu – auch das haben wir diskutiert –, manches Mal hätte man sich ein etwas schnelleres Vorgehen gewünscht. Aber die Dinge waren auch sehr, sehr komplex. Allein die Umstellung des Systems war nicht von heute auf morgen zu machen. Daran waren viele beteiligt. Aber wir können feststellen, dass derzeit nach dem, was alle Fachleute sagen, Cum/Ex-Fälle in Deutschland ausgeschlossen sind und wir die Cum/Cum-Fälle im Wesentlichen über § 36a EStG im Griff haben, was zeigt, dass wir überall gehandelt haben.
Da das schöne Thema Dänemark angesprochen worden ist – auch Sie haben darauf hingewiesen –, will ich aufgrund der knappen Zeit nur darauf verweisen: Die Dänen haben ein eigenes Problem, wenn in diesem Zusammenhang nur eine Person gehandelt hat. Ich habe hierzu ausnahmsweise das „Neue Deutschland“ gelesen. Der Artikel war ganz interessant, ausnahmsweise ein guter Bericht.
Wichtig ist, festzustellen: Wir haben auch eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes aus dem Jahr 2016, in dem zu lesen ist, dass der Minister für Steuern in Dänemark damals erklärt hat, es gebe überhaupt kein Cum/Ex-Problem in Dänemark. Jetzt die Probleme, die Dänemark anscheinend doch hat, obwohl das etwas anderes ist als Cum/Ex, uns vor die Tür zu schieben, ist nicht die ganz faire Art. Ich glaube, das Bundesfinanzministerium oder auch das Finanzministerium Hessen haben, wie wir gehört haben, Informationen nach Dänemark gegeben. Diese müssen die Dänen jetzt aufarbeiten. Damit ist das nicht unser Problem, sondern ein Problem der Dänen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich will abschließend nur festhalten, dass nichts Neues vorliegt und immer wieder die alten Geschichten erzählt werden. Ich kann Ihnen sagen: Die Finanzverwaltung tut alles, wenn bekannt wird, dass es etwas zu tun gibt. So haben wir beim Jahressteuergesetz 2018, das wir morgen beraten, Regelungen gegen Cum/Cum, sodass wir auch da laufend dabei sind. Der Prozess, um die Dinge vernünftig zu regeln, wird nie enden.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächstes für die AfD-Fraktion der Kollege Stefan Keuter.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Damen und Herren! Um es mit Shakespeare zu sagen: Irgendwas ist faul im Staate Dänemark. – Oder: „Alles gar nicht so schlimm, wir haben uns nichts vorzuwerfen“, um es mit den Worten der Bundesregierung zu sagen. Dieses Fazit habe ich heute im Finanzausschuss dem Vortrag der Parlamentarischen Staatssekretärin Lambrecht zu den Cum/Ex-Geschäften entnommen, angereichert mit pauschalen Vorwürfen gegen die Medien. Die Schadensummen, die hier genannt worden sind, seien abstrus konstruiert. Nach ihrer Meinung alles fürchterlich substanzlos! Na ja, die Deutsche Bank hat erst im September letzten Jahres zwei Steuerbescheinigungen widerrufen, die sie allein zwei Kunden über 40 Millionen Euro ausgestellt hatte. Die Spitze des Eisberges? Wir denken uns jetzt einfach unseren Teil.
Seit mindestens 2002 plünderten Banken und Großinvestoren den deutschen Steuerzahler aus, Rentner, alleinerziehende Mütter, die sich finanziell gerade über Wasser halten konnten, Landwirte, den Bandarbeiter in der Automobilindustrie, die Kassiererin an der Supermarktkasse. Kurzum: Jeder von uns wurde mitbetrogen. Schuld ist in erster Linie immer der Betrüger. Aber eine Mitschuld trägt auch derjenige, der Betrug erst zulässt bzw. diesen nicht verhindert hat. Das ist in diesem Fall leider unsere Bundesregierung,
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insbesondere das Bundesfinanzministerium, damals noch geführt von Herrn Dr. Schäuble. Nur am Rande sei erwähnt – wir haben es eben schon gehört –, dass mutmaßlich eine Durchsuchung bei BlackRock stattgefunden hat. Der Aufsichtsratsvorsitzende Friedrich Merz ist ja schon genannt worden. Ich gehe nicht weiter darauf ein.
Es ist das gute Recht eines jeden Steuerzahlers, seine Abgabenlast zu steuern und in legalem Rahmen zu minimieren. Und, liebe Bundesregierung, seien Sie sich gewiss: Grauzonen und Schlupflöcher werden gnadenlos ausgenutzt. Mit einer Kriminalisierung des Steuerzahlers ist es da nicht getan. Die erkannten Schwächen der Gesetze sind jeweils zügig abzustellen. Das ist der eigentliche Skandal: Das hat in diesem Fall zehn Jahre gedauert. Ich wiederhole: zehn Jahre. Der deutsche Schaden wird in der Presse häufig auf 12 Milliarden Euro geschätzt. Das entspricht knapp dem jährlichen Aufkommen der Grundsteuer in Deutschland. Dieses Geld brauchen wir. Da wollen die Altparteien ja nicht ran. Wir reden hier also nicht über eine Rundungsdifferenz im Haushalt.
Hierzu hat es in der letzten Legislaturperiode einen Untersuchungsausschuss gegeben, genau gesagt: Der Abschlussbericht enthält 811 Seiten plus Anlagen. Als ich mir das angeschaut habe, war ich echt beeindruckt. Dieser Untersuchungsausschuss hat sehr gute Arbeit gemacht. Das hat gezeigt, dass hochgradig komplexe Zusammenhänge in diesem Hohen Haus gnadenlos aufgeklärt werden können, wenn nur der Wille da ist. Der Abschlussbericht zeigt aber auch eindrucksvoll ein Systemversagen im Bundesfinanzministerium. Eine effiziente Zusammenarbeit zwischen der Steuerabteilung und der Finanzmarktabteilung hat nicht stattgefunden. Auch ein früheres Einschalten der BaFin als Aufsichtsbehörde hätte hier möglicherweise Schlimmeres verhindern können. Es folgte dann blinder Aktionismus. Das 2007 in Kraft getretene Gesetz, welches den Zweck hatte, Cum/Ex zu unterbinden, führte im Ergebnis zu einem noch schwungvolleren Handel. Hier hat der Finanzminister zu unkritisch auf seine Lobbyberater gehört.
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Nun entnehmen wir der Presse, dass im europäischen Ausland erneut solche Geschäfte ausgewählten Investoren angeboten worden sind. Damit wären wir wieder am Anfang meiner Rede, beim Staate Dänemark. Dänemark hat sich hier mit der Frage nach Erkenntnissen an Deutschland gewandt. Nein, Frau Lambrecht, auch wenn Sie uns glauben machen wollen, dass dies ein dänisches Problem sei, es ist ein europäisches. Ich frage die Bundesregierung: Bedarf es immer erst Investigativjournalisten, um solche Missstände aufzudecken? Vielmehr muss im Ministerium eine Stelle eingerichtet werden, die systematisch den Markt absucht und Schlupflöcher schließt.
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Um das Ausnutzen von Doppelbesteuerungsabkommen in diesem Zusammenhang zu verhindern, ist eine internationale Zusammenarbeit an dieser Stelle dringend anzuraten. Von der EU, die auch in anderen großen Fragen unserer Zeit komplett versagt hat, ist da nicht viel zu erwarten. Übrigens wird der Schaden – wir haben eben von Schadenshöhen gehört – europaweit auf deutlich über 50 Milliarden Euro geschätzt, Geld, das unseren europäischen Bürgern und uns fehlt. In der Schule heißt das: Sechs, setzen, Klassenziel verfehlt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächstes für die SPD-Fraktion der Kollege Lothar Binding.
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Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Es gibt nichts Neues“, das möchte ich zitieren; denn es gibt wirklich nichts Neues. Fast alle von uns waren ja heute im Finanzausschuss, und da habe ich den Satz „Wir haben uns nichts vorzuwerfen“ nicht gehört. Im Gegenteil: Christine Lambrecht hat minutiös dargestellt, was bisher passierte, in welchen Zeitabständen es passierte, und sie sagte, dass nicht alles schnell genug ging. Sie äußerte eine gehörige Portion Selbstkritik. Es war eine ordentlich dargestellte Verfahrensbeschreibung. Insofern habe ich an der Stelle nichts zu kritisieren.
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Zu Fabio De Masi. Wir waren alle zusammen in dem Ausschuss, und da ging es um Dänemark. Ich will das jetzt nicht vorführen; aber da wurde schon dargestellt, wann sich Dänemark an Deutschland gewandt hat, in welchem Monat welche Informationen gegeben wurden, mit welchem Effekt und welcher Zielsetzung. Ich glaube, wenn man das unterdrückt, dann wird die Sache nicht seriös. Im Grunde würden wir auch die Schuld auf die lenken, die sie nicht haben, und von denen weg, die für die Kriminalität wirklich ursächlich zuständig sind. Das zu verhindern, ist doch unsere eigentliche Aufgabe.
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Wir hören ja ständig, dass wir zu viel Regulierung, eine Überbürokratisierung haben. Hier haben wir ein Beispiel, an dem wir erkennen, dass wir eigentlich an vielen Stellen für viele Leute viel zu wenig Regulierung haben. Denn wenn sich nicht mehr von selbst versteht, was sich von selbst verstehen sollte – das ist schon ein paarmal ausgeführt worden –, dass nämlich, wenn eine Aktie vermeintlich zwei Leuten gehört und zwei Leute daraus einen Rechtsanspruch auf Rückerstattung einer Steuer, die sie nicht bezahlt haben, ableiten, dann braucht man doch eigentlich überhaupt kein Gesetz. Es ist doch eine völlig normale Angelegenheit, dass es nicht geht, dass eine einmal bezahlte Steuer zweimal erstattet wird oder gar zurückerstattet wird. Insofern ist klar: Das ist eine kriminelle Handlung, und der müssen wir nachgehen.
Weil sich nichts von selbst versteht, müssen wir immer so viel regulieren. Das sage ich denen, die immer sagen: Ihr reguliert zu viel. – Nein, wir regulieren zu wenig, weil eben scheinbar alles erlaubt ist, was nicht verboten ist.
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Das ist aber nicht so nach unserem moralischen Verständnis.
Neulich hat mich ein Steuerberater angesprochen und gesagt, ich hätte die Steuerberater pauschal kritisiert. Ich habe gesagt: Nein, ich habe die Steuerberater nicht pauschal kritisiert, nur die Gauner, nur die Gestalter, nur die, die sich beteiligt haben. Die ehrlichen – euch beide – meine ich natürlich nicht. Das ist doch völlig klar.
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Die ehrlichen sind nicht gemeint.
Wir wissen aus dem Untersuchungsausschuss, dass Banken, Rechtsberater, Steuerberater, Investoren, sogar die Wissenschaft und gelegentlich sogar die Rechtsprechung mit daran beteiligt waren, Cum/Ex-Geschäfte indirekt oder direkt zu ermöglichen. Nun können solche kriminellen Vorgänge durch Skandalisierung an die Oberfläche kommen. Wir können uns auch bei den Whistleblowern bedanken; ohne sie wüssten wir viele Sachen überhaupt nicht. Wir können uns auch bei Journalistennetzwerken bedanken.
Was mich an der heutigen Veranstaltung stört, ist, dass wir sie schon so oft durchgeführt haben. Ich glaube, dass Dauerskandalisierung gar nicht hilft. Ich schimpfe nicht auf die Medien. Einige Medien haben die Dinge wunderbar dargestellt – in endlos langen Aufsätzen. Aber sie haben eigentlich nur Vermutungen, Verdachtsmomente, unklare Dinge geäußert. Ich glaube, dass uns das auf den falschen Weg führt. Auch die heute genannten Zahlen wurden nicht belegt. Ich glaube, man soll die Zahlen nennen, die man kennt. Andernfalls muss man sagen: Das sind grobe Schätzungen; eventuell mal sehen. – Aber daraus können wir keine Politik ableiten.
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Unserer Meinung nach – auch das ist heute von Christine Lambrecht dargestellt worden – ist der Cum/Ex-Fall seit 2012 in Deutschland ausgemerzt.
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Wenn jetzt jemand sagt, Cum/Ex-Fälle seien immer noch möglich, dann, finde ich, soll er Ross und Reiter nennen,
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dann gehen wir der Sache sofort nach. Wer Ross und Reiter nicht nennt, was wollen wir mit dem anfangen? Dann bleibt es eben ein Verdacht, dem wir aber noch nicht mal nachgehen können.
Das geht natürlich darauf zurück, dass das Verfahren der Steuerbescheiderstellung und der Erstattung der Steuern – eine riesengroße Umstellung – in eine Hand gelegt wurde. Seitdem das der Fall ist, ist Cum/Ex unserer Meinung nach nicht mehr möglich. Das haben wir mit den Mindesthaltezeiten von 45 Tagen vor und nach dem Stichtag ja noch flankiert. Nach unserer Meinung dürfte Cum/Ex nicht mehr möglich sein. Ist es anders, können Sie es zeigen! Das kann nachher Gerhard Schick tun. Er ist ja Spezialist auf diesem Gebiet – also, ich meine: nicht in Cum/Ex-Gestaltung, sondern in der Beschreibung dessen. Zumindest könnte er nachher sagen, wer in welchem Fall gemeint ist und wem wir nachgehen sollen. Das machen wir gern.
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2002 gab es einen Brief vom Bankenverband – das stimmt –; aber natürlich war er sehr vage, nebulös formuliert. Keiner, der den Brief mal gesehen hat, wird daraus sofort etwas wie Cum/Ex ableiten. Übrigens, wenn wir schon alle Finanzminister der SPD und der CDU nennen: Ich habe hier schon mal gestanden, und dann fiel mir etwas ein: Zu der Zeit, als dieser Brief einging, wer war da eigentlich Vorsitzender vom Finanzausschuss? Die Grünen wissen das: Es war Christine Scheel. Wir haben also aus allen Parteien Leute dabei, die etwas hätten wissen können und sich hätten kümmern müssen.
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Seit 2009 gibt es ein BMF-Schreiben, das für ziemlich viel Aufregung gesorgt hat.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Sofort. Ich will nur noch einen letzten Satz sagen. – Der Hintergrund war eben – das betrifft auch den Bundesfinanzhof –, dass es ein ganz merkwürdiges Urteil zum Dividenden-Stripping gegeben hat. Das besagte, dass der Käufer einer Aktie schon mit Abschluss des schuldrechtlichen Kaufvertrags wirtschaftlicher Eigentümer wird. Das heißt, wenn ich jemandem eine Aktie verkaufe, die ich gar nicht habe, dann gehört sie ihm schon. Obwohl er die Aktie erst sehr viel später in der Hand hat, hat er zuvor schon einen Rechtsanspruch auf Steuererstattung. Diesen Widerspruch müssen wir auflösen.
Schönen Dank, alles Gute! Ich glaube, es gibt nichts Neues.
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Vielen Dank. – Als Nächstes für die FDP-Fraktion der Kollege Markus Herbrand.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Binding, ich hoffe sehr, dass Sie nicht der Auffassung sind, dass alle Steuerberater im Saal, die Sie nicht ausdrücklich ausgenommen haben, Halunken sind.
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Sie haben nur zwei Kollegen ausgenommen, aber es gibt noch andere im Saal.
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– Okay.
Das Thema dieser Aktuellen Stunde ist etwas für Feinschmecker des Aktien- und Steuerrechts und möglicherweise auch bald wieder des Strafrechts. Cum/Ex und Cum/Cum sind zu Synonymen geworden für die Gier Einzelner, die unser Gemeinwesen ausplündern. Wenn Sie sagen, es gebe nichts Neues, muss ich Ihnen sagen: Wenn es nichts Neues gäbe, dann würden wir keine Aktuelle Stunde zu diesem Thema machen.
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Wenn die jüngsten Veröffentlichungen stimmen sollten – ich rede im Konjunktiv –, dann ist durch solche Geschäfte ein weitaus höherer Schaden entstanden als bislang bekannt. Das Bundesfinanzministerium geht bislang von einem Schaden in Höhe von 5,7 Milliarden Euro aus, wovon ein Teil auch wieder eingefordert werden konnte.
Die Berichterstattung gibt aber leider Anlass zu der Befürchtung, dass der Schaden weitaus größer ist. Die schwindelerregende Zahl von rund 55 Milliarden Euro steht im Raume, nicht nur für Deutschland – das ist international betrachtet. Dies alleine ist schon eine Katastrophe. Hinzu kommt der ernstzunehmende Vorwurf, dass die Bundesregierung versäumt hat, unsere europäischen Partner vor diesen uns ja bekannten Machenschaften angemessen zu warnen und damit gezielt vor Steuerausfällen in Milliardenhöhe zu bewahren. Diesen Vorwürfen muss nachgegangen werden, schließlich betont die Bundesregierung bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wie gut der Datenaustausch mit anderen Ländern funktioniert. Das scheint hier nicht der Fall gewesen zu sein.
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Schon in der letzten Legislaturperiode – der Kollege Güntzler hat darauf hingewiesen – gab es einen Untersuchungsausschuss zu diesem Thema. Ich habe mir die 1 000 Seiten heute im Laufe des Tages immer noch nicht durchlesen können.
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Die Kolleginnen und Kollegen wähnten sich mit den damals vorgenommenen gesetzgeberischen Eingriffen am Ziel, diesen schmutzigen Deals ein Ende zu bereiten. Trotzdem kann die Bundesregierung bis heute nicht ausschließen, ob diese Geschäfte noch laufen oder nicht. Im Bundeszentralamt für Steuern müssen Sachverhalte noch händisch bearbeitet werden. Vor diesem Hintergrund ist das, was hier im Raume steht, nicht weniger als ein Armutszeugnis auch für den Gesetzgeber.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Steuerzahler in Deutschland hat ein Recht darauf, zu erfahren, ob wir als Gesetzgeber überhaupt noch die Kontrolle über das haben, was wir hier beschließen, oder ob die Komplexität im Steuerrecht uns allen auf die Füße fällt, weil wir selber nicht mehr durchblicken.
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Wie will ich meinem Handwerker klarmachen, dass es natürlich nicht für ihn, aber für andere Gestaltungen gibt, mit denen man eine einmal gezahlte Steuer mehrfach erstattet bekommt? Die von Abgaben geplagte Mittelschicht wartet seit Jahren zu Recht auf eine längst überfällige Entlastung und muss nun erneut erkennen, dass der Staat seine Einnahmemöglichkeiten an anderer Stelle möglicherweise nicht hinreichend wahrnimmt.
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Die ehrlichen Steuerzahler wähnen sich aus gutem Grund im falschen Märchen. Mehr noch: Die Menschen wenden sich zusehends von uns ab. Der Verlust von Vertrauen in unser politisches System hat auch mit solchen Machenschaften zu tun.
Meine Damen und Herren, wenn die Berichte stimmen, wurde der Fiskus von kriminellen Marktteilnehmern hinters Licht geführt, und er war von den Auswirkungen der eigenen Gesetze tatsächlich überfordert und nicht mehr Herr der Lage. Das ist ein Staatsversagen, aber in keinem Fall eine Rechtfertigung oder eine Entschuldigung für gesellschaftlich und moralisch verantwortungsloses Handeln.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Veröffentlichungen der letzten Tage werfen eine Fülle von Fragen auf, die nun schnellstmöglich konsequent bearbeitet und beantwortet werden müssen. Das erwarten die Bürgerinnen und Bürger von uns, und das erwarten auch die Freien Demokraten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Herbrand. – Als Nächstes für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Dr. Gerhard Schick.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss noch mal darauf zurückkommen, dass wir unter der Leitung von Wolfgang Kubicki hier sprechen. Das ist für mich nicht eine Sache, die man weglächeln kann. Es ist nicht ehrenrührig für einen Anwalt, auch Menschen zu vertreten, von denen die meisten Menschen im Lande sagen würden: „Das sind Kriminelle!“ und die vielleicht auch verurteilt werden. Denn jeder hat Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren und deswegen auf eine anwaltliche Vertretung. Und deswegen kann es für einen Anwalt nicht ehrenrührig sein, auch Kriminelle zu vertreten oder vertreten zu haben.
Aber wir haben es hier mit einem Fall zu tun, in dem die Opfer dessen, worüber wir reden, Bürgerinnen und Bürger dieses Landes sind, denen Geld geklaut worden ist. Sie, Herr Kubicki, sind nach allen Informationen, die uns öffentlich zur Verfügung stehen, der anwaltliche Vertreter von einer der Personen, die zu den wichtigsten Angeklagten in dieser Frage gehören. Man kann nicht beide Seiten in einem Fall vertreten: die Interessen der Bürgerinnen und Bürger einerseits und möglicherweise eines Hauptangeklagten andererseits. Das ist nicht etwas, was man weglächeln kann, sondern hier gibt es einen massiven Interessenkonflikt.
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– Ja, das ist wirklich ein Problem.
Es ist die Frage gestellt worden, ob wir hier etwas Neues zu diskutieren haben. Ich weiß nicht, ob Sie an Ihren Mehrheitsbericht zum Untersuchungsausschuss erinnert werden wollen. Sie haben geschrieben: Dieser Untersuchungsausschuss war nicht erforderlich. Der Ausschuss – also die Mehrheit des Ausschusses – hat die Überzeugung gewonnen – ich zitiere erneut –, dass in den Behörden sachgerecht und pflichtgemäß gearbeitet wurde. – Sie haben gesagt: Alle haben alles richtig gemacht. – Trotzdem ist über viele Jahre ganz viel Geld geklaut worden. Das kann nicht sein, und das versteht auch niemand in diesem Land.
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Deswegen ist es notwendig, dass Sie sich da ehrlich machen. Sie haben damals ganz bewusst künstlich die Zahl kleingerechnet. In Ihrem Teil des Abschlussberichts des Untersuchungsausschusses steht, es sei unter 1 Milliarde gewesen. Die Zahl dessen, was jetzt aufgedeckt worden ist – wir wissen, dass es eine riesige Dunkelziffer gibt, weil viele Fälle schon verjährt sind –, liegt schon mal bei 5,7 Milliarden Euro. Kritisieren Sie nicht unsere vorsichtigen Schätzungen und Berechnungen, wenn Sie selber massiv danebengelegen haben, was heute schon bewiesen ist!
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Ich will in dieser Debatte aber auch ein Lob aussprechen, weil ich finde, dass einige Leute wirklich sehr gute Arbeit geleistet haben. Das gilt für einige Leute in den Behörden – einzelne. Ich greife aber auch eine Erfahrung auf, die ich in den letzten Jahren gemacht habe. Viele in den Chefredaktionen von Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern haben gesagt: Das ist viel zu kompliziert; Herr Schick, haben Sie nicht mal ein einfacheres Thema? Das interessiert keinen, das versteht doch niemand.
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Das Journalistenteam um Oliver Schröm von „Correctiv“ und Christian Salewski vom NDR hat gezeigt, dass man mit guter journalistischer Arbeit dieses Thema so erklären kann, dass es viele, viele Menschen verstehen, dass sie verstehen, was hier stattgefunden hat. Es hat auch gezeigt, dass eine politische Debatte darüber notwendig ist. Kompliment dafür, davon brauchen wir mehr!
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Lothar Binding hat vorher in seinem unübertrefflichen Wortwitz gesagt, die Geschäfte seien „ausgemerzt“.
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Das führt natürlich zu einer aktuellen Debatte. Ich finde, niemand darf pauschal einen Berufszweig auf die Anklagebank setzen. Meine persönliche Erfahrung ist, dass es in Wirtschaftskanzleien, unter Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern viele seriöse Leute gab, die von vornherein gesagt haben: So was machen wir nicht; in so einem Fall beraten wir nicht; und solche Leute unterstützen wir auch nicht. – Aber es gab auch die anderen, die gehofft haben, damit durchzukommen, die ihre Geschäfte damit gemacht haben, die sich von den Tätern haben bezahlen lassen und die mitgemacht haben.
Jetzt ist die Frage, ob ein führender Repräsentant des politischen Lebens, jemand, der für den CDU-Vorsitz kandidiert, in seinen Funktionen das gemacht hat, was von einem anständigen Menschen zu erwarten ist, dass er nämlich klarstellt: Wir als Institution machen so etwas nicht. Wir unterstützen die Täter nicht. Wenn es in der Institution, in der wir Verantwortung haben, stattgefunden haben sollte, warten wir nicht, ob die Staatsanwaltschaft das herausfindet, sondern betreiben selber Aufklärung, machen uns ehrlich gegenüber den Finanzbehörden, aus unserer eigenen Motivation heraus, weil wir sauber sein wollen.
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Und das ist die Frage, die jetzt von Friedrich Merz geklärt werden muss.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Schick. – Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Sebastian Brehm.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, man muss kein finanzpolitischer Experte sein, um zu verstehen, dass es nicht redlich ist, wenn man eine Steuer, die einmal gezahlt ist, zweimal erstattet bekommt, dass das Steuerbetrug ist und rechtswidrig.
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Das ist der Kern der Cum/Ex-Geschäfte.
Ich glaube, dass im Rahmen dieser gesamten Diskussion und im Rahmen der gesamten Aufarbeitung der Fälle seit 2007 seitens der Bundesregierung die richtigen Schritte eingeleitet worden sind. Mit dem Jahressteuergesetz 2007 und der Besteuerung der Dividendenkompensationszahlung war „einmal zahlen, zweimal zurückholen“ nicht mehr möglich, sondern es musste zweimal versteuert, zweimal abgeführt werden, und dann konnte man auch zweimal erstatten lassen. Also, seit 2007 sind nationale Cum/Ex-Geschäfte gar nicht mehr möglich.
Als man erkannt hatte, dass das international weitergeht – das war vorher überhaupt nicht erkennbar, es gab überhaupt keine Anzeichen dafür, dass das auf internationaler Ebene in der Art und Weise durchgeführt worden ist –, hat die Bundesregierung sofort wieder reagiert: mit einem BMF-Schreiben im Jahr 2009 und mit einer entsprechenden Initiative zur Neuregelung des Kapitalertragsteuerabzugsverfahrens mit dem Jahressteuergesetz 2011 bzw. dann 2012. Seit 2012 ist damit im Prinzip das gesamte Cum/Ex-Geschäft international und national ausgeschlossen.
Ich finde es wirklich erstaunlich, dass im Rahmen dieser Aktuellen Stunde mit Zahlen rumgeworfen wird, die in keinster Weise nachgewiesen sind, in keinster Weise.
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Jeder schmeißt einfach mal eine Zahl in den Raum. Der eine sagt „55 Milliarden“, der andere „31 Milliarden“. Das stimmt in keinster Weise. Das hat einfach mal jemand in den Raum gestellt, aber es ist auf keine Art und Weise bewiesen.
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Bewiesen ist, dass es 5,7 Milliarden Euro sind – von den Fällen, die bisher aufgeklärt worden sind –, und davon sind 2,4 Milliarden Euro zurückgeholt worden bzw. gar nicht ausgezahlt worden.
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Insofern ist hier der Betrag fixiert, und wir sollten uns auf die Zahlen konzentrieren, die verifiziert sind. Es geht Ihnen, glaube ich, auch gar nicht um den Sachverhalt, der übrigens im Bericht des Untersuchungsausschusses auf 1 000 Seiten dargestellt ist. Wenn Sie den durchgelesen hätten – ich habe ihn zum großen Teil durchgelesen –, dann wären auch alle Ihre Fragen beantwortet. Sie sollten das vielleicht mal machen, Kollege Herbrand; dann wäre auch das System erkannt worden, und dann hätte man sehen können, dass es da keine Neuigkeiten gibt. Es kam jetzt bloß aufgrund der Tatsache wieder auf, dass die Dänen öffentlich gemacht haben, was vorher nicht öffentlich war.
({4})
Ich glaube, dass die Aktuelle Stunde nur dazu dient, aus populistischen Gründen wieder mal darzustellen, dass die Bundesregierung hier fahrlässig gehandelt hat
({5})
oder dass es ein Versagen der Finanzminister gibt. Das ist unredlich, und wir lassen auch nicht zu, dass Sie die Bundesregierung in dieser Art und Weise diskreditieren, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({6})
Und diese pauschalen Vorwürfe, die Sie machen! Wir könnten Ihnen auch pauschale Vorwürfe machen und sagen: Wir wissen gar nicht, wo das SED-Vermögen ist. – Wir tun es aber nicht.
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Insofern sollte man sich immer auf die Fakten beziehen und immer auch auf Grundlage von Fakten diskutieren.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das will ich schon noch sagen: Die Cum/Ex-Geschäfte sind seit 2012 in Deutschland definitiv eingedämmt. Es gibt keine anderweitigen Erkenntnisse. Sie suggerieren, dass es neue Cum/Ex-Geschäfte gibt. Aber das entspricht einfach nicht der Wahrheit.
Seit 2012 gibt es das nicht mehr.
Am Schluss möchte ich noch eines sagen: Das Rechtsstaatsverständnis der Kollegen De Masi, Keuter und Dr. Schick ist schon wirklich etwas Besonderes. Sie sagen, wir sollten die Berater nicht insgesamt verurteilen, nehmen sich aber den Rechtsanwalt Kubicki vor und verurteilen ihn pauschal.
({9})
– Doch, es ist so. – Sie nehmen sich Friedrich Merz vor und sagen, Friedrich Merz hätte so etwas gemacht, zumindest suggerieren Sie das.
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– Hören Sie zu. – Friedrich Merz war zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht Aufsichtsratsvorsitzender und klärt jetzt alles auf.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei dieser Art und Weise, mit Dreck zu schmeißen, müssen Sie aufpassen, dass dieser Dreck nicht an Ihren Fingern kleben bleibt;
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denn wer mit Dreck schmeißt, hat auch am Schluss schmutzige Hände, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das muss man mal ganz deutlich sagen.
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Wir sollten in der Diskussion wieder ernst zu nehmen sein.
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– Unlauter sind Ihre Äußerungen und nicht meine. Man ist dann unlauter, wenn man falsche Behauptungen in den Raum stellt.
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Das haben Sie hier in der Aktuellen Stunde gemacht.
Ich glaube, wir sollten bei der Wahrheit bleiben.
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Die Wahrheit ist: Seit 2012 gibt es kein Cum/Ex in Deutschland mehr. Wir werden alle Fälle aufklären und diejenigen, die diese Geschäfte gemacht haben, zur Rechenschaft ziehen.
Herzlichen Dank.
({17})
Nächster Redner ist für die AfD der Abgeordnete Kay Gottschalk.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Liebe Bürger! Zunächst müssen wir eine Unterscheidung zwischen den sogenannten Cum/Ex- und Cum/Cum-Geschäften – beide sind übrigens gleichermaßen skandalös – vornehmen. Wir haben uns heute aufgrund der Aktuellen Stunde entschieden, uns um die Cum/Ex-Geschäfte, die es ja angeblich seit 2012 nicht mehr gibt – der Kollege sagte es –, zu kümmern.
Verehrter Kollege Binding, es ist schon ziemlich naiv, sich hier so hinzustellen, als habe man davon nichts gewusst, und zu sagen, eigentlich seien diejenigen, die diese Geschäfte machen, die Betrüger, die Schlimmen. Wenn Sie den Geldfälschern die Druckplatten ganz öffentlich hinlegen, dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn Geldfälscher Geld fälschen, meine Damen und Herren. Ich werde in meiner Rede aufzeigen, dass Sie als gesamtes Parteienspektrum daran eine große Mitverantwortung tragen.
Um zum Untersuchungsausschuss in 2016/2017 zurückzukehren: Der Kollege Hirte sagte – eine Plattitüde, die immer wieder kommt –, die Opposition habe mit dem Ausschuss „parteipolitisches Kalkül“ verfolgt, „haltlose Schuldzuweisungen“ gemacht und Berichte über horrende Steuerausfälle kolportiert. Fake News?
({0})
Verehrte Kollegen der damaligen Opposition, ich bewundere Sie tatsächlich dafür. Kollege Schick, hervorragende Arbeit! – Die FDP war damals ja nicht im Bundestag. – Willkommen im Klub! Wir kennen das. Wenn man mit Fakten kommt, die der Regierung nicht passen, und sie weggeleugnet werden, ist man sofort Populist. Sie haben es ja eben vorgemacht.
({1})
Dem möchte ich mal die Aussagen von Experten gegenüberstellen. Es gab ja auch mal Vorschläge von Herrn Kirchhof; aber wie Sie mit Experten umgehen, wissen wir. Der Kollege Dr. Spengel hat wie viele andere gesagt, dass der Abschlussbericht eigentlich desaströs war. Er stellte nämlich fest – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: Der damalige Untersuchungsausschuss hat ein Staatsversagen besonderen Ausmaßes dokumentiert, und zwar auf fast allen Ebenen. Das Ignorieren dieser Cum/Ex-Geschäfte führten die Experten auf ein Desinteresse der politischen Führungsebene zurück – da sitzen, meine lieben Bürger, die Damen und Herren der politischen Führungsebene – und einer nicht implementierten Governance – man nennt es auch „Führung“ – im Bundesfinanzministerium und einer unsäglichen Verquickung – das beklagen wir vielfach – des BMF mit dem Bundesverband deutscher Banken.
Ja, meine Damen und Herren, die Muster scheinen mir bekannt: BER, Elbphilharmonie, wahrscheinlich demnächst Stuttgart 21. Die Muster lassen immer wieder grüßen. Die altpolitischen Ebenen und Eliten haben komplett versagt und gehören, meine Damen und Herren, auf die Oppositionsbank.
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Wie gesagt, der Ausschuss – damals dominiert von CDU/CSU und SPD – kam dann zu dem Ergebnis, er wäre eigentlich nicht erforderlich gewesen. Nun kam der Fernsehbericht, ein Recherchebericht von 19 Medien aus 12 Ländern, unter dem Titel „Cum/Ex-Files“. Die fanden heraus – ganz einfach eigentlich –, indem sie vorgaben, Milliardäre zu sein, dass es diese Geschäfte anscheinend doch noch gibt, meine Damen und Herren.
({3})
Sie haben nämlich in London einen Anlageprospekt vorgelegt bekommen, in dem sieben Länder immer noch für diese Geschäfte infrage kommen, darunter Frankreich, Italien und Spanien,
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übrigens alles Länder, die wir im Euro mittelbar und unmittelbar irgendwann stützen müssen und werden, ein Projekt, meine Damen und Herren, das aus Steuermitteln oder – wie Sie so schön gesagt haben, Herr Binding – aus Steuersubstrat finanziert wird.
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Ein Einschub am Rande, meine verehrten Kollegen von der SPD oder Pöbel-Ralle oder Kasper-Kahrs: Wie können Sie eigentlich noch in den Spiegel gucken, wo Sie das alles mit zu verantworten haben?
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Von 2000 bis 2005 waren SPD-Minister namens Eichel und Steinbrück im Finanzministerium. Man musste schon angestrengt wegschauen, insbesondere wenn man unterstellt, dass Herr Steinbrück Vorstand einer großen Bank war.
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Da nichts zu wissen, erinnert an Herrn Winterkorn, meine Damen und Herren. Wie wollen Sie eigentlich einem Normalo, einem Otto Normalverbraucher noch klarmachen, dass Sie angeblich die Partei des kleinen Mannes sind? Das haben Sie schon lange abgelegt. Ich möchte gar nicht auf die Spenden von den deutschen Banken in der Zeit zwischen 2002 und 2003 eingehen. Die Möglichkeit der illegalen oder legalen Steuerverkürzung oder der aggressiven Steuervermeidung – die Kollegen haben es angesprochen – haben die Menschen, die jeden Tag zur Arbeit gehen, sicher nicht. Unter Herrn Steinbrück blühte dieses Geschäft auch schon; das wird hier immer verkürzt. Wir müssten diese Debatte seit Ende der 70er-Jahre unter dem Namen Dividendenstripping führen. Diese Geschäfte sind schon viel, viel länger bekannt. Anstatt den Verfassungsschutz auf eine demokratische Partei zu hetzen
({8})
und ihre gespielte Ahnungslosigkeit zu diesem Thema zutage zu bringen, sollten sich vielleicht der BND, der Verfassungsschutz oder die Steuerfahndung auf ebendiese Steuerdiebe konzentrieren und endlich wieder die Steuern nach Deutschland holen. Man sollte sich nicht immer auf die Medien verlassen, damit Paradise Papers oder Panama Papers aufgedeckt werden.
Meine Damen und Herren, wir sollten uns ehrlich machen. Es klang an dieser Stelle schon an: Wir sollten ehrlich und nachhaltig aufklären, was hier in den Jahren 1978 bis heute passiert ist. Eine lapidare Feststellung wie damals im Untersuchungsausschuss, er wäre nicht nötig gewesen, wird uns nicht weiterhelfen. Wir müssen dies tun; denn wir haben uns alle zusammen sehr liebevoll und intensiv um den großen Bruder, der nach wie vor lebt, nämlich die Cum/Cum-Geschäfte, zu kümmern. Auch hier gehen weiter Milliardenbeträge verloren.
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Ich möchte endlich, dass dem deutschen Arbeitnehmer und auch dem Mittelstand mehr als 45,7 Eurocent von jedem Euro, den er verdient, bleiben.
({10})
In diesem Sinne: Lassen Sie uns aufklären, blockieren Sie nicht, und spielen Sie hier nicht die gelebte Ahnungslosigkeit! Das nimmt Ihnen keiner ab, wie ich es auch Herrn Winterkorn beim Abgasskandal nicht abnehme.
Danke schön.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Cansel Kiziltepe für die Fraktion der SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Herbrand, ich muss Ihnen in der Tat empfehlen, den Untersuchungsausschussbericht vielleicht einmal im Kollektiv zu lesen. Wenn Sie noch Fragen haben, können Sie ja Herrn Kubicki fragen.
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Sie sollten vielleicht doppelt und dreifach lesen, was im Bericht steht.
Für uns ist klar: Cum/Ex-Geschäfte sind nicht nur illegal, sondern auch moralisch absolut unakzeptabel. Führende Steuerexperten nennen diese Geschäfte zu Recht „Steuerraub“. Und bei Cum/Ex müssen wir von dem größten Steuerraubzug in der europäischen Geschichte ausgehen. Unsere Staatssekretärin Christine Lambrecht hat zu Recht gesagt: Es ist unsere fortwährende Aufgabe, kriminelle Machenschaften zu verfolgen und zu handeln; denn wir werden mit einem Gesetz Steuerhinterziehung und Steuerumgehung nicht ausschalten können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden hier von einer massiven Umverteilung: von der Allgemeinheit in die Hände weniger sehr reicher Einzelpersonen. Und das Perverse daran ist: Den Beteiligten war das absolut klar, oder wie ein Cum/Ex-Insider aus internen Runden berichtet: „Wer sich nicht damit identifizieren kann, dass in Deutschland weniger Kindergärten gebaut werden, weil wir solche Geschäfte machen, der ist hier falsch.“
Die Cum/Ex-Beteiligten haben ein Glaubenssystem, in dem die Gemeinschaft, das Gemeinwesen der Feind ist. In dieser Welt geht es darum, den Staat auszubeuten und die Beute in Villen, Jachten und Sportautos umzuwandeln. Unterstützt werden sie dabei von Bankern – ich will hier heute die Steuerberater rauslassen –,
({1})
von Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern
({2})
– nicht alle –; dass Sie damit den Ruf ihrer ganzen Branche ruinieren, scheint ihnen völlig egal zu sein. Gier frisst Moral, der Feind ist der Staat – das werden wir nicht dulden.
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In der letzten Legislaturperiode – das wurde schon erwähnt – haben wir uns ausführlich mit den Cum/Ex-Gestaltungen im Untersuchungsausschuss beschäftigt. Deswegen müssen wir uns die berechtigte Frage stellen: Was ist neu an den jetzigen Enthüllungen? Warum beschäftigen wir uns heute wieder damit? Ich glaube, es ist insbesondere die europäische Dimension des Steuerraubs. Nicht nur in Deutschland haben sich die Cum/Ex-Banker und -Berater bedient, sondern auch bei unseren Nachbarn. Das Erschreckende ist: Dort bedienen sie sich noch immer.
In Deutschland sind Cum/Ex-Geschäfte seit 2012 glücklicherweise nicht mehr möglich. Zwar sitzt noch keiner im Gefängnis, aber – die Strafverfahren laufen – das wird sich hoffentlich bald ändern. Die Enthüllungen zeigen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir in Deutschland schauen genau hin. Das haben wir auch heute im Finanzausschuss minutiös dargestellt bekommen. Das schreckt die Täter von gestern noch ab, wenn sie über andere Steuergestaltungen wie Cum/Cum-Geschäfte nachdenken. In diesem Fall haben die umfangreichen Recherchen – mein Dank geht an Correctiv, NDR und viele Journalisten – nur Gerüchte ergeben, dass diese Geschäfte in Deutschland noch getätigt werden.
Was die Recherchen aber auch zeigen, ist: Die Cum/Ex-Industrie und ihre Helfer machen im Moment lieber einen großen Bogen um Deutschland; denn den Beteiligten ist nicht entgangen, dass die Behörden hierzulande genau hinschauen und durchgreifen. Aber Wachsamkeit ist die Devise. Entspannt zurücklehnen können wir uns nicht. Ganz im Gegenteil: Wir müssen extrem wachsam sein und die neuen Steuergestaltungsmodelle noch genauer beobachten.
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Ein wichtiges Instrument, dessen Einführung ansteht, ist die Anzeigepflicht für Steuergestaltungsmodelle.
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Diese werden wir noch in dieser Legislaturperiode einführen. Damit soll endlich die Grauzone zwischen Steuerhinterziehung und -gestaltung ausgeleuchtet werden. Wie vom Bundesrat gefordert, muss diese Anzeigepflicht sowohl für grenzüberschreitende Modelle als auch für rein nationale Modelle gelten. Daran arbeiten wir.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Abgeordnete Thomas Lutze für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In dieser Aussprache müssen wir uns nach wie vor mit einem Steuerbetrugsskandal beschäftigen, der in seiner Größe und vor allen Dingen in seiner Dreistigkeit seinesgleichen sucht. Durch die Cum/Ex-genannten Vorgänge sind dem Fiskus in den EU-Staaten offensichtlich 55 Milliarden Euro verloren gegangen. Die Größenordnung in Deutschland beträgt circa 31 Milliarden Euro. Auf die Details dieser organisierten Abzockmasche muss ich, glaube ich, nicht weiter eingehen; das haben zahlreiche Vorredner bereits gemacht.
Es bleiben drei Aufgaben: das sofortige Abstellen dieser Verfahren, die Bestrafung der Verantwortlichen und das Sicherstellen, dass so etwas in Zukunft nicht mehr vorkommen kann.
({0})
Unser Finanzminister Scholz hat im Übrigen ausdrücklich nicht ausgeschlossen, dass so etwas nicht mehr vorkommen kann. Das möchte ich für das Protokoll einfach einmal festhalten.
({1})
Mein Heimatbundesland, das Saarland, wird bei verunglückten Öltankern gerne als Maßstab genommen, um die Ausmaße der Katastrophe zu beschreiben. Formulierungen wie „ein Ölteppich so groß wie das Saarland“ kennt sicher jeder. Bei diesem Finanzskandal bietet sich dieser Vergleich auch an; denn mit den gestohlenen 31 Milliarden Euro, bezogen auf die Bundesrepublik, könnte man den Haushalt meines Bundeslandes siebenmal bestreiten.
Unserem Staat ist bei diesen Vorgängen nicht nur Geld verloren gegangen. Es ist auch eine himmelschreiende Ungerechtigkeit und Ungleichbehandlung gegenüber allen, denen das Finanzamt sehr genau auf die Finger schaut.
({2})
Bei mir in Saarbrücken – die Kollegin weiß vielleicht, wovon ich rede; sie ist auch aus dem Saarland – gibt es eine Brauerei, einen Familienbetrieb mit rund 20 Beschäftigten. Die hat offensichtlich ohne betrügerische Absicht ungenaue Angaben beim Finanzamt gemacht. Dann kam der Brief vom Finanzamt. Die Folgen waren eine geregelte Insolvenz, um das Unternehmen zu retten, aber auch Entlassungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Auf der anderen Seite haben wir bei Cum/Ex schamlose Räuber und deren Treiben sogar noch hofiert. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, versteht da draußen wirklich niemand mehr.
({3})
Das deutsche Finanzministerium wusste seit 2002 Bescheid und hat im Prinzip nichts unternommen. Wie wir jetzt wissen, haben die deutschen Finanzminister noch nicht einmal unsere europäischen Partner rechtzeitig gewarnt.
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Man versuchte, hier im Finanzministerium das Kind zu retten, das in den Brunnen gefallen war. Das Cum/Ex-Schlupfloch wurde zehn Jahre später vermeintlich gestopft. Wenn man die Insiderinformationen zur Kenntnis nimmt, wird das Spiel möglicherweise – zumindest ist es nicht ausgeschlossen – auch in den nächsten Jahren weitergehen.
({5})
Und durch wen hat man sich beraten lassen bei diesem ganzen Vorgang? Auch noch durch die Lobby der Banken. Sorry, das geht auch überhaupt nicht; da haben Sie vollkommen recht.
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Viele Banken waren und sind umfangreich in den Skandal involviert. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Es waren nicht nur die großen Privatbanken, die hier als Schuldige zu nennen sind. Auch Landesbanken steckten tief in den Geschäften. Vor allem haben die LBBW und die HSH Nordbank kräftig abgezockt. Die Landesbank Baden-Württemberg musste allein für die Jahre 2007 und 2008 rund 150 Millionen Euro an den deutschen Staat zurückzahlen. Daher fordern wir, dass sich die Landesbanken wieder auf ihre Hauptaufgabe konzentrieren, im Dienste der Allgemeinheit unsere Bundesländer mit Bankgeschäften zu unterstützen. Das ist ihr Geschäft und nichts anderes.
({7})
Wenn wir schon über die Banken und über die Bank- und Börsengeschäfte reden, dann muss auch Folgendes gestattet sein: Zehn Jahre nach der Lehman-Brothers-Pleite sagen viele Sachverständige, dass die Risiken eines Bankencrashs auch heute noch so hoch sind wie 2008. Auch hier wurde wie bei Cum/Ex aus der Geschichte nichts gelernt.
Wir brauchen endlich auch mehr Gerechtigkeit bei Bankgeschäften. Mir konnte noch keiner erklären, warum zum Beispiel Lebensmittel mit 7 Prozent Mehrwertsteuer und ganz normale Konsumgüter mit 19 Prozent Mehrwertsteuer belegt werden, aber der Aktienhandel völlig umsatzsteuerfrei ist. Wenn wir also mehr Akzeptanz für die öffentlichen und privaten Banken erreichen wollen, dann muss neben Steuergerechtigkeit – die Beispiele habe ich Ihnen gerade genannt – vor allem auch der Kampf gegen kriminelle Machenschaften konsequent angegangen werden. Dafür sind wir und vor allen Dingen auch die Bundesregierung als Gesetzgeber maßgeblich verantwortlich.
Danke schön.
({8})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Olav Gutting für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Geschichte ist tatsächlich schon etwas älter. Deswegen konnte ich in alten Reden nachlesen. Schon 2015, im Januar und im September, habe ich zum Thema Dividendenstripping, auch als Cum/Ex-Trade bezeichnet, gesagt, dass es sich hier gar nicht um ein Steuergestaltungsmodell handelt, sondern nach meinem Dafürhalten schlicht um Betrug am Fiskus. Diese Unterscheidung ist wichtig. Ich glaube, in dieser Debatte heute wird zu viel vermischt. Das ist unlauter.
({0})
Man muss unterscheiden, und man darf nicht Steuergestaltung, Betrug und Kriminalität zusammen in einen Topf werfen, wie es hier geschieht. Das funktioniert so nicht.
({1})
Cum/Ex-Geschäfte waren eine Schweinerei und nichts anderes, und es ist gut, dass jetzt die Staatsanwaltschaften und die Gerichte in dieser Sache tätig werden. Erste Verfahren im Zusammenhang mit dem Dividendenstripping stehen jetzt vor dem Landgericht in Wiesbaden an. Es gibt eine Anklage der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt wegen Steuerhinterziehung in besonders schwerem Fall. Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf ermittelt. Die Kölner Staatsanwaltschaft bereitet Klagen im wohl größten Steuerermittlungsverfahren der letzten Jahre vor. Die Ermittlungen laufen gegen über 100 Beteiligte. Sie laufen seit Jahren auf Hochtouren. Wir haben überall auf der Welt Staatsanwaltschaften, die Büros und Wohnungen durchsuchen, und das ist auch gut so. Die Profiteure der Cum/Ex-Deals werden zur Rechenschaft gezogen; davon bin ich überzeugt. Es wird fällige Steuernachzahlungen geben, und das Ganze wird auch strafrechtliche Konsequenzen haben.
Ich habe in diesem Zusammenhang eine Bitte an Teile der Opposition: Es ist völlig okay, dass Sie die Regierung kritisieren, dass Sie die Arbeit der Regierung hinterfragen, aber wir sollten aufhören, der Bundesregierung und den Finanzministern – denen der Vergangenheit, aber auch dem aktuellen – immer wieder zu unterstellen, man hätte hier bewusst weggesehen. Jeder Bundesfinanzminister hat doch ein Interesse daran, möglichst viel Steuereinnahmen zu haben, möglichst wenig Steuern zu verlieren, schon gar nicht über Betrug und über unerwünschte Steuergestaltungsmodelle. Und wenn illegales Handeln erkennbar war, dann haben wir doch reagiert. Wir haben auf neue Erkenntnisse immer unmittelbar reagiert. Ich weiß noch: Bei den Goldfingermodellen, bei den Cash-GmbHs und bei vielen anderen Gestaltungsmodellen hat der Gesetzgeber jeweils sofort reagiert und diese Modelle gestoppt bzw. schnellstmöglich abgestellt.
({2})
Wir sollten deshalb nicht den Vorwurf im Raum stehen lassen, dass der Fiskus nicht mit dem notwendigen Elan gegen Steuerbetrug vorgehen würde. Wenn man hört, was manche sagen, dann kann man heraushören, dass ein heimliches Interesse an der Nichtverfolgung dieser Taten vorgegeben wird. Das ist völlig absurd. Als ob jemand in der Bundesregierung, beim BMF oder in der Verwaltung Interesse daran hätte, solche Missetaten abzudecken! Das gibt es nicht. Das ist absurd. Das ist unseriös. Mit diesen Behauptungen und Unterstellungen diskreditieren Sie letztendlich die Politik insgesamt, und Sie schaden sich damit auch selbst; denn Sie sind Teil dieser Politik.
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Der Gesetzgeber hat in Deutschland bei Cum/Ex und auch bei Cum/Cum – beides ist zu unterscheiden – jeweils reagiert. Wir haben konkrete Maßnahmen ergriffen. Andere Staaten haben das nicht getan. Andere Staaten sind hier in eine Falle gelaufen, die sie sich letztendlich selbst gestellt haben, und das, obwohl sie wussten, dass wir in Deutschland in diesem Bereich Gegenmaßnahmen getroffen haben. Die anderen Staaten waren jeweils im Bilde oder hätten zumindest im Bilde sein können. Wir haben mit vielen Doppelbesteuerungsabkommen. Die schauen sich genau an, was wir in der Gesetzgebung machen, und die wussten, was wir tun und warum wir es tun. Man muss ehrlich sein: Die anderen haben nichts gemacht. Dieses Kenntnisdefizit beklagen sie jetzt. In Wirklichkeit versuchen sie, damit ein eigenes Handlungsdefizit zu übertünchen.
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Aber blicken wir in die Zukunft. Lassen wir die Gerichte und Staatsanwaltschaften die Vergangenheit aufarbeiten. Es ist eine dauerhafte Aufgabe, aggressive Steuergestaltung zu vermeiden. Es ist eine grenzüberschreitende Aufgabe; das ist überhaupt keine Frage. Das kann nur funktionieren, wenn wir in Europa noch stärker, noch enger zusammenarbeiten, wenn wir den Informationsaustausch forcieren und wenn nicht jeder Mitgliedstaat sein eigenes steuerpolitisches Süppchen kocht. Es geht nicht darum, dass wir nationale Steuerhoheit abschaffen, es geht nicht darum, dass wir Steuergesetzgebung vereinheitlichen, sondern darum, dass die Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern für mehr Steuergerechtigkeit sorgen wird. Ich glaube, das wird Europa stärken. Mit mehr Steuergerechtigkeit im internationalen Bereich können wir auch wieder das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und in Europa zurückgewinnen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion der SPD die Abgeordnete Sarah Ryglewski.
({0})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Ich finde es nicht schlimm, dass wir heute noch einmal über das Thema Cum/Ex diskutieren, auch wenn es natürlich ein Thema ist, das uns schon länger begleitet. Denn – darauf haben schon viele hingewiesen – beim Cum/Ex-Skandal haben Banker, Anwälte, Wissenschaftler und Wirtschaftsprüfer in ausgeklügelten Netzwerken die deutschen Steuerzahler bis zum Jahre 2012 um viele Milliarden Euro betrogen.
Ich finde, ehrlich gesagt, die Debatte um die Frage, wie viele Milliarden es am Ende waren, nicht unerheblich, aber sie ist nicht das Wesen der ganzen Debatte. Der Kollege von den Linken, Herr Lutze, hat vorhin für die 31 Milliarden Euro als Vergleich den Haushalt des Saarlandes herangezogen. Ich habe mir das einmal angesehen. Schon die 5,7 Milliarden Euro, die Frau Staatssekretär Lambrecht genannt hat, sind mehr als der gesamte Etat des Bundeslandes Bremen in diesem Jahr. Ich sage Ihnen: Auch dieses Geld hätte ich in Bremen für etwas anderes eingesetzt.
({0})
– Danke schön. – Was bleibt, ist, dass die Reichsten der Reichen Gelder an sich gerissen haben, die wir für gute Schulen, Straßen und Schienen, kurz: für unser Gemeinwesen, wesentlich besser hätten investieren können.
Ja, wir haben diesen Skandal in der letzten Legislaturperiode umfassend aufgearbeitet. Den Vorwurf der Mitverantwortung deutscher Behörden, Herr Keuter, konnte der parlamentarische Untersuchungsausschuss widerlegen. Sie haben den Untersuchungsausschuss vorhin hochgelobt. Am Ende kann man sich aber nicht nur das heraussuchen, was einem gefällt,
({1})
sondern muss auch die Gesamtwürdigung heranziehen.
({2})
Damals, im Jahr 2016, als der Untersuchungsausschuss seine Arbeit aufnahm, war den Cum/Ex-Betrügereien in Deutschland längst ein Riegel vorgeschoben worden. Der Ausschuss hatte die Aufgabe, einen Skandal der Vergangenheit aufzuklären, aber auch – das ist wichtig – Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Im gleichen Jahr wurden mit dem Investmentsteuerreformgesetz auch Cum/Cum-Geschäfte erheblich erschwert. Trotzdem beschäftigen Cum/Ex und Cum/Cum nicht nur uns, sondern auch die Strafverfolgungsbehörden weiter. Immer neue Verstrickungen teils großer Häuser in den Skandal werden durch die Ermittlungsbehörden aufgedeckt. Erst gestern veranlasste die Staatsanwaltschaft Köln eine Untersuchung beim Vermögensverwalter BlackRock, weil er in den Cum/Ex-Skandal verwickelt sein soll.
Wir haben in Deutschland vieles getan, um Cum/Ex einen Riegel vorzuschieben. Tatsächlich sind die Cum/Ex-Geschäfte so bei uns heute nicht mehr möglich. Eine zentrale Erkenntnis des Untersuchungsausschusses bleibt – sie ist für uns ein Auftrag –: Die Kriminellen sind international hervorragend vernetzt und suchen global nach Lücken, um auf Kosten der Steuerzahler Gewinne zu machen.
Das Schließen von Lücken in Deutschland hat deshalb zur Folge, dass sich die Akteure neue Ziele suchen. Herr Kollege Gottschalk, diese Tatsache ist eigentlich ein Indiz dafür – so traurig es auch ist –, dass die Maßnahmen, die wir in Deutschland ergriffen haben, funktionieren; denn sonst müsste man sich ja nicht im Ausland umtun.
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Schon im Bericht des Untersuchungsausschusses wurde die europäische Dimension der Steuergestaltung erfasst und problematisiert. Natürlich müssen wir alles daransetzen, auch die europäische Dimension sinnvoll zu adressieren und hier auch nach Lösungen zu suchen; denn auch diese Form der organisierten Kriminalität ist grenzüberschreitend, und wir müssen sie grenzüberschreitend verfolgen.
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Das Steuerrecht ist in hohem Maße durch nationale Besonderheiten geprägt. Gerade das macht es durch Kriminelle verwundbar. Machen wir uns nichts vor: Es ist ein Hase-und-Igel-Spiel, und das wird es leider auch bleiben. Eine Industrie von kriminellen Anwälten, Bankern, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern sucht nach Schlupflöchern, um an das Geld der Steuerzahler zu kommen.
Herr Kollege Herbrand, es wird leider nicht das eine Instrument geben, mit dem wir allen Steuergestaltungsmodellen einen Riegel vorschieben können. Das gibt es nicht, und das wird es leider auch nicht geben. Wenn Sie eine bessere Idee haben, nennen Sie sie uns gerne – ich bin mir sicher, das Ministerium wird sie aufgreifen. Gerade weil es solch ein Instrument nicht gibt, ist es unerlässlich, dass wir die europäische und internationale Kooperation – wie beim BEPS-Projekt der OECD – intensivieren. Wir brauchen nicht nur eine bessere Kooperation der nationalen Behörden, sondern wir müssen auch auf Ebene der EU Stellen schaffen, die den Markt insgesamt überwachen und Machenschaften wie bei Cum/Ex und Cum/Cum systematisch aufspüren, analysieren und bekämpfen.
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Ein wichtiges Instrument, das uns in diesem Zusammenhang enorm weiterhelfen wird, ist die Anzeigepflicht bei Steuergestaltungen, zu der die Kollegin Kiziltepe schon ausgeführt hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so bitter es ist: Wir werden aus dem Spiel um Steuerschlupflöcher nicht aussteigen können. Aber ich sage Ihnen eins: Wenn wir schon mitspielen müssen, dann möchte ich, dass der Staat in diesem Spiel der Igel und nicht der Hase ist.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Wir kommen jetzt zum letzten Redner unserer heutigen Aktuellen Stunde. Das Wort hat Sepp Müller von der Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Falsches wird durch Wiederholung nicht richtig, liebe Opposition. Zu den Fakten beim Cum/Cum-Geschäft: 5,7 Milliarden Euro – das ist die bewiesene Faktenlage – wurden dabei dem deutschen Steuerzahler entrissen. Das ist eine Schandtat – das muss man deutlich sagen –, und es ist richtig, dass unsere Staatsanwälte hier ermitteln und mittlerweile schon 2,4 Milliarden Euro dem deutschen Haushalt zugeführt haben. Es ist natürlich auch im Interesse der Großen Koalition, dass diese Steuerschlupflöcher weiter geschlossen werden. Deswegen werden wir mit dem Jahressteuergesetz 2019 die letzten Schlupflöcher dort schließen. Das ist der richtige Weg; das gehen wir an.
Da hoffe ich auch auf Vorschläge aus der Opposition, die aber seit langer Zeit fehlen. Seit 2002 gibt es diese Diskussion, und seit 2002, liebe Opposition, sind weder von Bündnis 90/Die Grünen noch von den Linken – die AfD war noch nicht dabei – Vorschläge gemacht worden.
({0})
Sie haben in dieser Zeit keine eigenen Anträge gestellt. Im Zusammenhang mit der Jahressteuergesetzgebung 2007 – ich kann nur aus dem Protokoll zitieren; selbst war ich nicht dabei – gab es keine Wortmeldung von Bündnis 90/Die Grünen zu dem Fakt des Cum/Cum-Geschäfts.
({1})
In diesem Sinne würde ich mich freuen, wenn bei Ihnen Serviceopposition nicht nur im Namen steht,
({2})
sondern Service endlich auch geleistet wird und von Ihnen Vorschläge kommen, wie wir das Thema angehen.
({3})
Ich habe sehr aufmerksam zugehört, als Kollege Keuter von der AfD die Medien gelobt hat. Das hört man sehr selten.
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Der Kollege von der AfD ist auf seiner Internetseite bezüglich seiner beruflichen Herkunft etwas wankelmütig. Er ist Berater in einigen Unternehmen gewesen. Aber, Gott sei Dank, das Internet vergisst nicht und die Medien auch nicht. Mit Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich aus „WAZ“ vom 24. September 2017:
Als er
– der Kollege von der AfD –
nach deren Börsengang zu einer Investment-Bank nach Frankfurt am Main wechselte, hatte Stefan Keuter es geschafft … Auf seinem Depot-Auszug fanden sich Aktien im Wert von zehn Millionen D-Mark … Wenn er für Geschäftsideen Investoren zusammentrommelte, … hatte er … am gleichen Abend die notwendigen Millionen-Zusagen beisammen. „Es war eine Spielwelt“, sagt er heute, „und es war eine Sucht.“
Lieber Kollege der AfD, ich würde mich freuen, wenn Sie uns an Ihrem Wissen teilhaben lassen würden – Sie waren als Kontrolleur der Investmentbanker tätig –, um die Cum/Cum-Geschäfte zu schließen;
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denn von Ihnen selbst habe ich in diesem Bereich keine Antworten erfahren. Wir müssen uns wirklich die Frage stellen, ob wir in diesem Zusammenhang von Ihnen die Wahrheit erfahren. Lassen Sie da endlich die Hose runter!
Es geht um Vorschläge, wie wir mit den angesprochenen Themen zukünftig noch besser umgehen können. Ich habe es schon gesagt: Im Jahressteuergesetz, welches jetzt angegangen wird, werden die letzten Schlupflöcher geschlossen. Seit 2012 sind solche Geschäfte nicht mehr möglich.
Wir müssen uns auch die Frage stellen: Wie gehen wir zukünftig mit Datenschutz um – ich schaue in die Richtung von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken –, wenn beispielsweise der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Erkenntnisse vorliegen? Wie bekommen wir die Erkenntnisse zu den Steuerermittlungsbehörden? Wie bekommen wir das hin? Wie gehen wir mit dem Thema Datenschutz in diesem Bereich um? Und: Wie gehen wir beim Thema Kapitalmarktunion – die Linken lehnen das ja ab – mit einer verstärkten europäischen Zusammenarbeit um? Sie haben das Beispiel Dänemark genannt. Wo wollen wir da zukünftig hin? Ich warte auf Ihre Vorschläge. Sagen Sie doch einmal, wo Sie zukünftig hinwollen.
Natürlich ist das ein Hase-und-Igel-Spiel; da gebe ich der Kollegin von den Sozialdemokraten völlig recht. Deswegen ist es meines Erachtens wichtig, dass wir im Steuersystem generell einen Systemwandel hinbekommen, angefangen bei einer Unternehmensteuerreform bis hin zur Steuererklärung auf dem Bierdeckel; denn das brauchen wir für Deutschland.
({6})
Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 8. November 2018, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Feierabend.
(Schluss: 18.38 Uhr)
Berichtigung
59. Sitzung, Seite 6679 A, erste Spalte: Bei den Jastimmen der Fraktion der SPD ist der Name „Uwe Schmidt“ durch den Namen „Ulla Schmidt (Aachen)“ zu ersetzen.