Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/18/2018

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Not found (Minister:in)

Guten Morgen! Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Heute ist ein guter Tag für die Kitas und die Kindertagespflege in Deutschland. Mit dem, was wir auf den Weg bringen, haben wir einen Meilenstein erreicht. Nach vierjähriger Vorbereitung, Planung, vielen Gesprächen mit Praktikern, mit den Ländern, den Kommunen, Verbänden und Trägern können wir mit dem Gute-Kita-Gesetz in das parlamentarische Verfahren eintreten. Morgen geht es im Bundesrat weiter. Es ist eines der größten Vorhaben der Bundesregierung in dieser Legislatur. Mit diesem Gesetz engagiert sich der Bund erstmals für die Qualität in der Kindertagesbetreuung und in der Kindertagespflege, und das in einem bisher nie dagewesenen Umfang. Wir werden bis 2022, in den nächsten vier Jahren, 5,5 Milliarden Euro für gute und faire Bildungschancen für alle Kinder in Deutschland ausgeben. ({0}) Das Gute-Kita-Gesetz hat zwei große Bereiche. Es geht um mehr Qualität, und es geht um weniger Gebühren. Wir arbeiten dafür, dass es jedes Kind in Deutschland packt, egal ob im wohlbehütenden Wohlstandsnest geboren oder mit viel Unterstützungsbedarf. Zugleich ist das Gute-Kita-Gesetz mein erstes Gesetz, das ich auf den Weg bringe. Das Thema liegt mir am Herzen. Wir wollen, dass wir Kindertageseinrichtungen, Kitas in Deutschland als Bildungseinrichtungen verstehen, als Orte, an denen gemeinsam mit den Eltern daran gearbeitet wird, dass Kinder sich gut entwickeln können, dass Bildungserfolg gelingt; denn in Deutschland hängt der Bildungserfolg immer noch stärker vom Elternhaus ab als in vielen anderen Ländern. Das heißt, dass wir noch nicht eine Situation haben, in der alle Kinder die gleichen Chancen haben. Wir wollen, dass in den ersten Lebensjahren eines jeden Kindes die Weichen gut gestellt werden – gemeinsam mit den Familien, gemeinsam mit den Eltern, mit guter Qualität in der Kindertagesbetreuung und auch mit Zugang für alle zu früher Bildung. ({1}) Das Gute-Kita-Gesetz ist das Ergebnis eines vierjährigen Arbeitsprozesses. Es ist das Ergebnis von Menschen, die sich damit auseinandergesetzt haben, was Qualität eigentlich bedeutet, was Qualitätsziele bedeuten und wie wir dazu beitragen können, das, was die Länder und Kommunen schon tun, vonseiten des Bundes zu unterstützen. Deshalb wollen wir die Länder auch nicht aus ihrer Verantwortung entlassen, sondern wir wollen zusätzlich Geld geben. Das, was wir von Bundesseite tun, ist zusätzlich und soll die Länder bei ihren Bemühungen um mehr Qualität in der frühen Bildung unterstützen. Es geht nicht darum, dass wir die Einheitslösung für alle schaffen, sondern es geht darum, dass wir Flexibilität bieten, dass Länder entsprechend ihrer Bedarfe die Dinge tun können, die sie für richtig halten, natürlich gemeinsam mit uns abgestimmt und mit dem, was in den letzten Jahren erarbeitet wurde. ({2}) Das Gesetz ist so gestrickt, dass es funktioniert wie ein Instrumentenkasten. Es wird zehn Bausteine für Qualität geben: von der bedarfsgerechten Betreuung über gute Sprachqualität, über gutes Essen, über die Frage, wie eigentlich der Personalschlüssel aufgestellt ist, bis hin zur Frage, welches Personal dort arbeitet, wie qualifiziert es ist und wie die Vielfalt der pädagogischen Angebote aussieht. Es geht darum, dass die Länder mit diesem Gesetz aus einem Instrumentenkasten auswählen können, was für sie die wichtigen Punkte sind, um tatsächlich dem Bedarf im jeweiligen Land zu entsprechen. Das mag für das eine Land der Fachkraft-Kind-Schlüssel sein, es mag für ein anderes Land die längeren Öffnungszeiten sein. Wir haben immer noch Orte, an denen Sie gesagt bekommen: Bitte holen Sie Ihr Kind um 12 Uhr von der Kita ab, bitte vor dem Mittagessen. – Das ist schwierig für Eltern, die Familie und Beruf miteinander vereinbaren wollen. Deshalb ist es wichtig, dass wir diejenigen stärken, die in den Kitas arbeiten, dass wir Kitaleitungen entlasten, dass wir Personal ausbauen, gut qualifizieren, und all das wird möglich sein. Wir wollen, dass das Geld dort ankommt, wo es hingehört. ({3}) Das heißt, wir wollen in allen 16 Bundesländern tatsächlich eine Situation haben, in der sich die Länder auf den Weg machen und zusätzliche Maßnahmen ergreifen, um Qualität zu sichern. Deshalb werden wir mit allen 16 Bundesländern Verträge darüber schließen, welche Maßnahmen konkret ergriffen werden. Wir verstehen hier die Qualität als ein wichtiges Feld, aber genauso die Entlastung der Eltern bei den Gebühren als großen Teil von Qualität. ({4}) Denn es ist ganz klar: Die beste Kita nützt nichts, wenn zu Hause das Geld dafür fehlt, wenn die Mutter, die im Teilzeitjob arbeitet, die Gebühren für ihre beiden Kitakinder nicht aufbringen kann, und deshalb sagt: Ich kann es mir nicht leisten, mein Kind in die Kita zu schicken. – Das kann nicht sein. Deshalb sagen wir: Gute Kitas dürfen kein Privileg sein. Sie müssen allen Kindern in Deutschland offenstehen. ({5}) Wir verstehen Qualität als die eine Seite der Medaille und die Entlastung von Eltern bei den Gebühren als die andere. Wir sehen vor, dass Familien, die Unterstützung vom Staat bekommen – mit dem Wohngeld, mit Sozialleistungen, mit dem Kinderzuschlag –, nicht in die rechte Tasche die Unterstützung erhalten und aus der linken Tasche die Gebühren in Höhe von mehreren Hundert Euro wieder herausgezogen bekommen. ({6}) Das macht keinen Sinn. Deshalb wollen wir, dass geringverdienende Familien überall in Deutschland von den Gebühren befreit werden und dass für alle anderen eine soziale Staffelung der Gebühren vorgesehen wird. Damit die Menschen nicht in die Situation kommen, zu überlegen, ob sie es sich leisten können, ihr Kind in die Kita zu geben. Meine Damen und Herren, wir sagen ganz klar: Es gibt einen Dreiklang, wenn wir über gute Kindertagesbetreuung in Deutschland reden. Dieser Dreiklang besteht aus Qualität, Kapazität und Personal. ({7}) Die Qualität gehen wir mit dem Gute-Kita-Gesetz an. Die nächste Frage ist natürlich, ob wir genügend Plätze haben. Diese Fragen stellen sich viele Eltern überall in Deutschland. Deshalb ist es richtig, dass wir parallel zum Gute-Kita-Gesetz mit dem Sonderinvestitionsprogramm des Bundes für den Kitaplatzausbau weiter investieren, allein im nächsten Jahr über 300 Millionen Euro. Der Bund fördert in den nächsten Jahren dieser Legislatur mit dem Sonderinvestitionsprogramm Kinderbetreuungsfinanzierung die Schaffung 100 000 zusätzlicher Plätze. Kitaplätze mit Bundesmitteln zusätzlich zu dem zu schaffen, was die Länder machen, das ist eine wichtige Antwort auf die Frage nach mehr Kapazität. ({8}) Ich will ergänzend sagen: Wir schaffen in den nächsten Jahren nicht nur 100 000 zusätzliche Plätze, vielmehr haben wir in den letzten zehn Jahren – da können Sie sich auf die Schulter klopfen – über 400 000 zusätzliche Plätze mit der Unterstützung des Bundes in ganz Deutschland geschaffen. ({9}) Ich will etwas zum Thema Fachkräfte sagen. Wir haben natürlich immer die Diskussionen darüber: Wenn ihr denn mehr Qualität wollt, dann muss es auch jemand machen. – Ja! All das wird nicht gehen, wenn wir nicht auch in die Fachkräfte investieren, wenn wir nicht auch etwas tun, um Erzieherinnen und Erzieher zu gewinnen, zu halten und mit Praxisanleitung zu unterstützen. Deshalb wird es möglich sein, auch im Rahmen des Gute-­Kita-Gesetzes hier etwas zu tun, aber wir werden von Bundesseite, vonseiten des Bundesfamilienministeriums, im nächsten Jahr eine Fachkräfteoffensive für Erzieherinnen und Erzieher starten, um diesen wichtigen Zukunftsberuf zu stärken und mehr Menschen dafür zu gewinnen. ({10}) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Wir wollen mit dem Gute-Kita-Gesetz den Weg frei machen für eine stärkere Beteiligung des Bundes an der Erhöhung der Kitaqualität. Noch nie hat der Bund so viel dafür gegeben. Das ist eine Chance, und das ist der richtige Weg. Es ist eine nationale Zukunftsaufgabe, unsere Kinder so gut zu unterstützen, dass sie ihren Weg machen können, ohne von sozialen Transferleistungen abhängig zu sein, dass sie es schaffen, das zu werden, was sie wirklich wollen. Das ist unsere Aufgabe. Deshalb freue ich mich sehr auf die parlamentarischen Beratungen mit Ihnen, auf die Zusammenarbeit mit Ihnen, um überall im Land, in jedem Wahlkreis, in allen Kitas wirkliche Verbesserungen zu erreichen, faire und gerechte Bildungschancen zu eröffnen, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erreichen und die Möglichkeit zu eröffnen, dass es wirklich jedes Kind in Deutschland packt. Vielen herzlichen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Abgeordnete Martin Reichardt, AfD. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden“, das ist ein Satz von Rosa Luxemburg, der immer gerne zitiert wird, wenn es Linken darum geht, ihre eigenen Freiheiten durchzusetzen. Wahlfreiheit in der Kinderbetreuung gibt es in Deutschland nicht, und darum geht es auch im Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung, das kurz und etwas infantil „Gute-Kita-Gesetz“ genannt wird. Freiheit für Andersdenkende wird den Frauen in Deutschland im Jahr 2018 gerade im Bereich der Kindererziehung verwehrt. Linke, SPD, Grüne und leider mittlerweile auch die CDU bestimmen darüber, wie Frauen ihr Leben zu gestalten haben. ({0}) Nicht umsonst hat Alice Schwarzer einmal sinngemäß gesagt: Frauenquoten wurden von Politikerinnen gemacht, nicht von Frauenrechtlerinnen. – Frauen, die sich heute dafür entscheiden, ihre Kinder zu Hause zu betreuen, gelten als konservativ und nicht emanzipiert. Sie entsprechen nicht dem Weltbild von Pseudofeministinnen, Quotenfrauen und leider auch von großen Teilen dieses Parlaments. ({1}) Wir als AfD begrüßen die Bemühungen von Frau Giffey, die Qualität in den Kitas zu verbessern. Die AfD begrüßt auch die Beitragsbefreiung für Familien mit geringem Einkommen, die im Gesetz festgeschrieben wird. Die AfD begrüßt, dass Bezieher von Wohngeld und Kinderzuschlag Anrecht auf einen beitragsfreien Kitaplatz bekommen. Wir setzten uns aber auch dafür ein, dass Eltern, die ihre Kinder zu Hause erziehen wollen, ein Wahlrecht haben, ihre Kinder zu Hause zu erziehen oder, wenn sie es möchten, in eine Kita zu geben. ({2}) Wer darüber entscheidet, wo Kinder am besten betreut werden, das regelt unser Grundgesetz in Artikel 6: Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen – ihnen! – obliegende Pflicht. ({3}) Dieses im Grundgesetz festgeschriebene Recht wird den Eltern in Deutschland genommen. ({4}) Erziehungsarbeit wird weder geachtet noch honoriert; das muss hier festgestellt werden. Da besteht dringender Handlungsbedarf. ({5}) Realitätsferne Politiker sprechen in diesem Zusammenhang immer gerne von Karriere, von Selbstverwirklichung, von Gleichberechtigung, wenn Mütter sich aus wirtschaftlicher Not für Lohnarbeit entscheiden müssen und damit gegen die eigene Betreuung ihrer Kinder. ({6}) In der Realität bedeutet dieser Karrierebegriff, dass man den dritten Job annehmen muss. In der Realität bedeutet diese Gleichberechtigung, dass man das gleiche Recht hat, in prekären Verhältnissen zu leben und zu arbeiten wie Männer. ({7}) In der Realität erkennt man diesen Selbstverwirklichungsbegriff als das, was er ist: als eine linke Propa­gandaphrase und Wunschvorstellung. ({8}) Wenn Sie einmal mit armen Menschen, mit Menschen, die von Armut bedroht sind, und mit Alleinerziehenden reden würden, dann würden diese Ihnen genau das bestätigen. Die AfD setzt sich für das Recht von Frauen, Männern und Eltern ein, wählen zu dürfen, wer ihre Kinder betreut. Die AfD setzt sich damit für die Freiheit von Frauen, Männern und Eltern ein und damit ganz klar gegen eine Diskriminierung. ({9}) Die AfD setzt sich für gute Betreuung von Kindern im Allgemeinen ein und nicht nur für gute Kitas. ({10}) Bis 2025 fehlen 300 000 Erzieher. Alleine um den Betreuungsschlüssel in den Ländern anzugleichen, fehlen über 100 000 Erzieher in Vollzeit, die pro Jahr 4,9 Milliarden Euro kosten würden. Die derzeit bereitgestellten 5,5 Milliarden Euro für die nächsten vier Jahre dürften also nach aller Wahrscheinlichkeit nicht ausreichen. Sie machen aus unseren Kitas eben keine „Guten Kitas“, genauso wenig, wie das Familienentlastungsgesetz die Familien wirklich entlastet hat, und genauso wenig – leider ist das so –, wie ein Sandkuchen aus Sand besteht. ({11}) Das Grundgesetz räumt Eltern das Recht ein, über die Erziehung ihrer Kinder zu bestimmen. Dieser Staat hat Eltern dieses Rechtes beraubt. Die AfD kämpft für die Wahlfreiheit von Eltern. ({12}) Die AfD kämpft für die gute Betreuung von Kindern. Es ist ein lohnender Kampf, den wir hier führen; denn er ist ein Ringen um unser aller Zukunft. Daran, hoffe ich, werden wir uns alle beteiligen. Vielen Dank. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Kollegin Nadine Schön, CDU/CSU. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Legislaturperiode steht im Zeichen der Familien. Wir haben gerade letzte Woche die Erhöhung von Kindergeld und Kinderfreibetrag auf den Weg gebracht. Seit vier Wochen ist das Portal freigeschaltet, mit dem man das Baukindergeld beantragen kann, ({0}) und heute bringen wir das Gute-Kita-Gesetz auf den Weg. ({1}) Worum geht es? Eltern wollen, dass ihre Kinder, wenn sie in die Krippe oder auch in den Kindergarten gehen, gut betreut sind. Ein Satz in Richtung AfD – ich glaube, die Rede von Herrn Reichardt spricht für sich; dazu brauche ich gar nicht viel zu sagen –: Es gibt keine Vorschreiberei. Alle Eltern in Deutschland können selbst entscheiden, ob sie ihre Kinder in eine Betreuung geben, in eine Krippe geben, ob sie sie mit einem Jahr in eine Krippe geben, mit zwei, mit drei, mit vier oder mit fünf Jahren; das steht allen Eltern frei. Deshalb ist Ihre Behauptung, dass wir da irgendwas gängeln oder vorschreiben, falsch. Ich glaube, die Eltern in Deutschland wissen ganz gut, was sie von der Politik erwarten und wie sie ihr Leben selbst gestalten. Sie brauchen da gar keine Hinweise von politischen Parteien. ({2}) Unser politisches Ziel muss doch sein, dass die Kinder, die im Kindergarten sind – gerade in den letzten Jahren vor der Einschulung sind fast alle Kinder im Kindergarten –, dort auch gut betreut werden. Wenn ich als Mutter morgens meinem Kind den Abschiedskuss gebe, dann will ich auch, dass mein Kind dort gut, liebevoll betreut ist, dass es Erzieherinnen und Erzieher gibt, die Zeit haben für das einzelne Kind und seine Förderung, für gesunde Ernährung, für Bewegung, Zeit zum Lachen, zum Trösten, für all das, was Kinder brauchen. Wir wissen, dass Erzieherinnen und Erzieher einen tollen Job machen, um Eltern und Kindern genau das zu ermöglichen. ({3}) Wir wissen aber auch, wie oft es am Nötigen fehlt, etwa wenn zwei Erzieherinnen oder Erzieher oft für 25 Kinder zuständig sind. Wir wissen, dass oft zu wenig Zeit da ist für Extras, um hinauszugehen, um den Kindern ein spezielles Förderangebot zu machen, die es nicht so leicht haben. Das wollen wir ändern, und dabei unterstützen wir von Bundesseite in den nächsten Jahren Länder und Kommunen mit 5,5 Milliarden Euro; das sind 5 500 Millionen Euro. ({4}) Uns als Union sind dabei drei Punkte wichtig. Erster Punkt: Wahlfreiheit, Vielfalt und Subsidiarität. Zweiter Punkt: Es muss ein Plus sein. Dritter Punkt: Wo „Gute Kita“ draufsteht, muss auch gute Kita drin sein. Der erste Punkt – Wahlfreiheit, Vielfalt und Subsidiarität –: Jedes Land ist anders. Wir wissen: Wir haben in den 16 Ländern und erst recht in den Kommunen ganz unterschiedliche Situationen. Die einen haben ziemlich geringe Personalschlüssel; andere haben Probleme, Erziehernachwuchs zu finden. Wieder andere würden gerne in den Einrichtungen mehr für Kinderschutz tun. Andere haben immens hohe Elternbeiträge. Es muss möglich sein, dass die Länder das Geld, das wir als Bund geben, dort investieren, wo es am nötigsten ist. Das heißt, es wird mit jedem einzelnen Land eine individuelle Vereinbarung geben, und jedes Land kann seine eigenen Schwerpunkte setzen, und das ist richtig. Ich sage aber auch: Die Vielfalt, die wir bei der Qualität wollen, muss es auch beim Thema Beiträge geben. Deshalb kann ich es nachvollziehen, dass Länder Kritik daran äußern, dass der Bund ihnen nun vorschreiben will, wie sie die Gebühren zu staffeln haben. Als Union sind wir der Meinung, dass es auch in Ländern und Kommunen sehr verantwortungsvolle Politiker gibt, und wir trauen jedem Land und jeder Kommune zu, dass sie hier gute und sozialverträgliche Modelle finden. Deshalb gilt auch hier: Subsidiarität ist ein wichtiger Grundsatz unserer Politik. ({5}) Was die kleine Ebene regeln kann, braucht die große nicht zu regeln. Deshalb trauen wir Ländern und Kommunen zu, dass sie die Gebühren staffeln, so wie es für ihre Situation am besten ist. Vielfalt statt Vorschreiberei, die Länder entscheiden selbst, wie sie das Geld einsetzen. ({6}) Der zweite Punkt. Die Gelder müssen einen Mehrwert haben, ein echtes Plus sein. Leider haben wir in der Vergangenheit viel zu oft erlebt, dass wir als Bund Geld geben und dass das irgendwo in den Länderhaushalten versickert und nicht dem Zweck, den wir intendiert haben, zugutekommt. Genau das darf hier nicht passieren. Jeder Euro Bundesgeld, der in die Länder fließt, muss bei den Kindern ankommen. Jeder Euro muss dazu beitragen, dass die Qualität in den Kindertageseinrichtungen besser wird oder die Eltern entlastet werden. Deshalb braucht es Transparenz. Die Länder müssen genau sagen, was sie mit den Bundesgeldern machen werden. Wir wollen einen echten Entwicklungsprozess erkennen, und darauf werden wir achten. Deshalb ist es richtig, dass es Transparenz gibt, dass es ein Monitoring gibt und dass es regelmäßige Fortschrittsberichte der Länder gibt. Es ist richtig, dass vergleichbare Kriterien erarbeitet werden und dass die Länder anhand dieser Kriterien berichten, wie ihre Fortschritte sind. Für die Union sage ich aber auch: Wir dürfen da keinen Bürokratismus betreiben. Die Länder haben in ihrer Stellungnahme Kritik geäußert und bezweifelt, dass wir wirklich einen jährlichen Mehraufwand von 7 Millionen Euro für eine Servicestelle plus Personalaufwuchs in der Bundesverwaltung brauchen. Das werden wir uns genau ansehen. Wir wollen keinen Bürokratismus; aber wir wollen vergleichbare Kriterien. Wir wollen die Länder begleiten und unterstützen, aber wir wollen ihnen nichts überstülpen. Deshalb soll tatsächlich so viel Geld wie möglich bei den Kindern ankommen; so wenig Geld wie möglich soll in irgendwelchen Strukturen versickern. Das versprechen wir, und darauf werden wir in den Gesetzesberatungen einen Schwerpunkt legen. ({7}) Der dritte Punkt. Da, wo „Gute Kita“ draufsteht, muss auch gute Kita drin sein. Wir sehen es ja: In den unterschiedlichen Ländern fangen die Diskussionen schon an: Wo investieren wir denn dieses Geld? Es soll Länder geben, die das ganze Geld für eine Gebührenbefreiung einsetzen wollen. Ich sage: Das kann jedes Land selbst entscheiden. Aber unter sozialpolitischen Gesichtspunkten sage ich auch: Es kann ja nicht sein, dass ein Unternehmerehepaar den Kindergarten für umme hat, keinen Cent für die Betreuung seines Kindes zahlt, sich davon den nächsten Urlaub finanziert, und auf der anderen Seite kein Geld da ist, um Kinder, die es nicht so gut haben, individuell zu fördern. Das kann in unseren Augen nicht sein. ({8}) Wir sind der Meinung: In jedem der 16 Bundesländer tut es not, dass Geld tatsächlich in die Qualitätsverbesserung fließt: in bessere Betreuungsschlüssel, in mehr Sprachförderung, in die individuelle Förderung der Kinder. Deshalb werden wir sehr darauf achten, dass dort, wo „Gute Kita“ draufsteht, auch gute Kita drin ist, dass tatsächlich jedes Kind etwas davon hat, das in einer Betreuungseinrichtung oder auch bei Tageseltern – auch diese Betreuungsform umfasst das Gesetz – betreut wird. ({9}) 5 500 Millionen Euro für unsere Kinder: Als Union werden wir darauf achten, dass dieses Geld wirklich bei den Kindern ankommt. Ich freue mich, dass wir dieses wichtige Vorhaben jetzt gemeinsam angehen. Ich freue mich auf die Gesetzesberatungen. Ich verspreche: Wir werden uns Mühe geben, ein gutes, auch ein verfassungsgemäßes Gesetz auf den Weg zu bringen ({10}) und dass das Ganze bei den Kindern ankommt. Ich freue mich auf die Beratungen. Vielen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Matthias Seestern-­Pauly, FDP. ({0})

Matthias Seestern-Pauly (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004890, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin Giffey, das Beste an Ihrem Gesetzentwurf ist der Name. ({0}) Das Problem ist nur: Er hält nicht das, was er verspricht. Hinter der hübschen Verpackung wartet in Wirklichkeit ein „Wahlversprechenrefinanzierungsgesetz“ für die Länder. Von dem ursprünglichen Ziel, die Qualität im Sinne aller Kinder zu erhöhen, bleibt leider kaum etwas übrig. Davon kann ich als Niedersachse im Übrigen ein Lied singen. Die niedersächsische Landes-GroKo macht gar keinen Hehl daraus, dass sie nur einen Bruchteil der Bundesmillionen für die Qualitätssteigerung ausgeben will. Den Großteil benutzt der niedersächsische Kultusminister – im Übrigen Ihr Parteigenosse – vielmehr dafür, das teure Wahlversprechen der Beitragsfreiheit zu finanzieren – wohlgemerkt, nicht eine sozial gestaffelte, sinnvolle Beitragsfreiheit für diejenigen, die sie brauchen, sondern die Beitragsfreiheit für alle. Es ist doch geradezu absurd, dass diejenigen, die es nicht brauchen, von den Beiträgen befreit werden, und dann nicht genug Geld da ist, um beispielsweise einen vernünftigen Betreuer-Kind-Schlüssel, um Sprachförderung oder um eine angemessene Bezahlung der Erzieherinnen und Erzieher sicherzustellen. ({1}) Dieses Gesetz ist kein Gute-Kita-Gesetz, sondern ein Fördergesetz für klamme Landeshaushalte. ({2}) Sie gießen das Geld über die Bundesländer aus, ohne auch nur einen Hauch der Kontrolle darüber zu haben, wie das Geld ausgegeben wird. Ich möchte an dieser Stelle drei Beispiele benennen. Sie schreiben in dem Gesetzentwurf, dass Sie „einen guten Fachkraft-Kind-Schlüssel“ wollen. Aber was ist denn eigentlich „gut“? 1 : 3, 1 : 5, 1 : 7? Sie bleiben eine Antwort schuldig? Sie wollen die Kitaleitung „stärken“. Aber wie genau? Durch den Abbau von Bürokratie? Durch eine bessere Bezahlung? Sie bleiben eine Antwort schuldig. Sie wollen die „Räumlichkeiten verbessern“. Aber wodurch? Auch hier bleiben Sie eine Antwort schuldig. Mit dieser Schwammigkeit fordern Sie die Bundesländer geradezu dazu auf, die Mittel kreativ für alles Mögliche zu verwenden. Doch damit nicht genug! Denn selbst wenn Sie einen sinnvollen Einsatz der Mittel im Sinne der Qualitätssteigerung zustande brächten: Was passiert eigentlich über das Jahr 2022 hinaus, wenn die Mittel ausgeschöpft sind? Sind dann alle Kitas für immer gut? Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist keine nachhaltige Politik, und so gibt es auch keine Planungssicherheit, ({3}) nicht für die Eltern, nicht für die Fachkräfte und auch nicht für die Träger. Es ist völlig unklar, wie es nach dieser Anschubfinanzierung für die Kitas weitergehen soll. Diese Baustelle sehen nicht nur wir Freien Demokraten so; das sehen nahezu sämtliche Verbände so. Selbst Ihr Koalitionspartner distanzierte sich schon vorsorglich von Ihrem Entwurf, bevor wir hier überhaupt in die Debatte eingestiegen sind. Ich bin gespannt, ob den vollmundigen Ankündigungen des Kollegen Weinberg, tatsächlich was für die Qualitätssteigerung tun zu wollen, etwas folgt. Da bin ich gespannt. Ich glaube aber, dass es Ihnen, Herr Kollege, vielmehr darum ging, sich rechtzeitig von diesem schwachen Gesetzentwurf zu distanzieren. ({4}) Ich finde es bezeichnend, dass ich an dieser Stelle nicht mal einen protestierenden Zwischenruf aus der Union erhalte. ({5}) Sehr geehrte Frau Ministerin, ich habe Verständnis dafür, dass die Koalition nach den endlosen Querelen der letzten Monate mit etwas anderem in Verbindung gebracht werden will als Zank und Irrlichterei. Wenn es Ihnen aber um Qualitätssteigerung geht, dann sollten Sie einen verbindlichen Gesetzentwurf vorlegen, anstatt mit einer hübschen Verpackung Sachpolitik vorzugaukeln. Dieser Gesetzentwurf taugt dafür aber leider ganz und gar nicht. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Norbert Müller, Fraktion Die Linke. ({0})

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste auf den Tribünen! Frau Giffey, ich habe vor ungefähr fünf Jahren morgens meinen Sohn in die Kita gebracht – inzwischen geht er in die Schule; der Kleinere ist noch in der Kita – und habe den Kollegen dort gesagt, heute sei ein guter Tag für sie. Da haben wir in Brandenburg ein weiteres Mal den Betreuungsschlüssel verbessert. Ich guckte in graue Gesichter, und die Antwort der Kolleginnen und Kollegen war: Das war längst überfällig. – Ich muss ehrlich sagen: Da hatten sie recht. Hätte ich heute früh kurz nach sieben den Kolleginnen der Kita gesagt: „Das ist ein guter Tag für Sie“, dann hätten die mich vermutlich mit der Mistgabel vom Hof gejagt. ({0}) Im Wahlkreis traf ich unlängst beim Infostand ein junges Paar mit Kinderwagen. Sie erzählten mir, dass sie trotz intensiver Suche nach einem Kitaplatz keinen finden würden; das Elterngeld sei viel zu knapp gewesen, aber jetzt müssten sie beide wieder arbeiten gehen, damit sie die hohe Miete bezahlen könnten. Die beiden waren ziemlich verzweifelt. – Das war bei mir in Potsdam, aber das hätte auch in jeder beliebigen anderen deutschen Großstadt so stattfinden können. Und ja, der Rechtsanspruch, den wir vor fünf Jahren eingeführt haben, war ein Erfolg. Aber seine Umsetzung ist die Geschichte von Eltern von über 300 000 Kindern, für die es trotz Bedarf und trotz Rechtsanspruch heute keinen Kitaplatz gibt, und das ist großer Mist. ({1}) Jetzt wird die Koalition wieder sagen, das sei Aufgabe der Kommunen, der Länder, der Träger, und der Bund leiste wahnsinnig viel. ({2}) – Nein, so ist es eben nicht. – Die Wahrheit ist: Den Kitaausbau haben im Kern Länder, Kommunen und Eltern bezahlt. Die Investitionskosten- und Betriebskostenzuschüsse des Bundes allein reichen nicht; die sind nett, aber die allein reichen nicht. ({3}) – Ich sage dazu was. – Der Kitaausbau stellt Länder, Kommunen und Eltern vor teure Daueraufgaben, und daran muss der Bund sich endlich angemessen beteiligen. ({4}) Aber es stimmt auch: Es waren noch nie so viele Kinder in Kitas und bei Tagesmüttern und Tagesvätern. Der Ausbau wurde teilweise zulasten der Kitaqualität gestemmt. Aber es gibt auch eine Bewegung zur Verbesserung der Kitaqualität in nahezu allen Bundesländern. Allein mein Heimatland Brandenburg – da können Sie zuhören, Frau Ziegler – hat seit dem Regierungseintritt der Linken im Jahr 2009 die Mittel für Kitas von einst 150 Millionen Euro – da haben Sie noch Verantwortung in Brandenburg getragen – auf heute 418 Millionen Euro nahezu verdreifacht. ({5}) Wofür wurde dieses Geld eingesetzt? Dieses Geld wurde eingesetzt für eine kontinuierliche Verkleinerung der Kitagruppen, und zwar jährlich, für das Programm „Kiez-Kita“ – das war übrigens eine SPD-Erfindung – und für die Verbesserung der Leitungsfreistellung. Das haben übrigens die linken Finanzminister Helmuth ­Markov und Christian Görke erst möglich gemacht. ({6}) Weil Eltern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Kitas zu Recht bessere Qualitätsstandards fordern, wurde vor Jahren die Idee eines Kitaqualitätsgesetzes geboren. Die Idee ist ganz einfach und bestechend: Der Bund setzt verbindliche Qualitätsstandards und finanziert diese auch entsprechend; denn wer bestellt, muss auch bezahlen. ({7}) Heute gibt es völlig unterschiedliche Qualitätsstandards in den Ländern. Das ist schlecht, und das versteht kein Mensch. Deswegen brauchen wir endlich ein bundesweites Kitaqualitätsgesetz. ({8}) Neben Grünen und uns Linken hat das auch die SPD mal so gesehen; Sönke Rix nickt. Aber unter Frau Bundesministerin Schwesig wurde sich von bundesweiten Standards verabschiedet. Dafür gab die Bundesfamilienministerin vor gut einem Jahr das Versprechen, 5 Milliarden Euro jährlich an Bundesmitteln für Qualitätsverbesserungen aufzubringen. Außerdem wurden 5 Milliarden Euro für Beitragsfreiheit in Aussicht gestellt. Und jetzt legen Sie uns ein Gesetz vor, Frau Bundesministerin Giffey, in dem ohne verbindliche Konditionen insgesamt 5,5 Milliarden Euro für vier Jahre an die Länder überwiesen werden sollen: für Beitragsbefreiung und für Qualitätsverbesserung. Noch mal: Wir wollten ein Gesetz mit bundesweiten Standards und Geld vom Bund dafür. Sie haben 5 Milliarden Euro jährlich versprochen und einen Bausatz, wo sich jedes Land raussuchen kann, was es macht. Vorgelegt haben Sie aber heute ein Gesetz, bei dem es nur noch ein Viertel des Geldes gibt und das nach diesen vier Jahren auch noch automatisch endet. Kein Mensch versteht, wie man das als Erfolg feiern kann. ({9}) Das Einzige, was an diesem Gesetz immer besser wurde, ist der Titel – der Kollege Seestern-Pauly hat darauf hingewiesen –: Aus „Bundes-Kita-Qualitätsgesetz“ wurde „Bundes-Kita-Qualitätsentwicklungsgesetz“ wurde „Gute-Kita-Gesetz“. Und selbst die Kollegen der Koalition spotten ja, dass es wahrscheinlich bald „Bestes-­Kita-Gesetz“ heißen wird. Aber vielleicht ist dann am Ende auch weniger Geld drin. ({10}) Wir finden, das geht so alles nicht. Das Mindeste, was drin sein muss, sind die versprochenen 5 Milliarden Euro jährlich im System – das hat auch was mit Vertrauen zu tun –, und zwar ohne Verfallsdatum. ({11}) Wir sagen als Linke: Wir brauchen bundesweite Standards beim Betreuungsschlüssel. Wir brauchen verbindliche Regeln für Leitungsfreistellung, für Weiterbildung und Supervision in den Kitas. Ja, wir brauchen auch – das haben Sie angesprochen – einen Anspruch auf Ganztagsbetreuung, der einheitlich geregelt ist und sich nicht am Ende von Land zu Land anders definiert. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein, von der AfD bitte nicht. Ehrlich gesagt: Ich finde, dass die Rede von Herrn Reichardt so schwach war, dass ich nicht wüsste, was Sie jetzt noch beizutragen hätten. ({0}) Wenn man das Berufsfeld der Erzieherinnen und Erzieher aufwerten will, dann geht das nur über bessere Löhne. Wer mit Menschen arbeitet, darf nicht weiter so mies bezahlt werden, wie das heute häufig Realität ist. Und nicht zuletzt – das ist mir immer besonders wichtig; darauf reite ich auch rum –: Wir wollen ein qualitativ gutes Frühstück, Mittagessen und eine Vesper in jeder Einrichtung, wofür die Eltern nicht noch extra zahlen müssen. Ich finde, all das muss drin sein. ({1}) Ihr Gesetz erfüllt nichts davon. Es ist kein gutes Gesetz; es ist ein schlecht gemachtes Gesetz. Die Frage der Elternbeitragsfreiheit müssen wir separat davon angehen – da sind wir uns einig –, weil Kita frühkindliche Bildung ist und Bildung Eltern nichts extra kosten darf. Aber das gehört nicht in ein Qualitätsgesetz, sondern muss anders geregelt werden, in einem Extragesetz. ({2}) So wie es jetzt ist, verschlimmern Sie den Flickenteppich. Mit dem sogenannten Gute-Kita-Gesetz gibt es keine verbindlichen Standards, sondern eine weitere Ausdifferenzierung der Kitalandschaft zwischen den Bundesländern. Dass Sie über das Gesetz auch noch regeln, dass für die Berechnung der Elternbeiträge das unsägliche Baukindergeld künftig als Haushaltseinkommen nicht angerechnet werden darf, das setzt dem Ganzen noch die Krone auf. Frau Ministerin Giffey, ich fordere Sie auf, dieses schlechte Kitagesetz zurückzuziehen. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich zu einer Zwischenbemerkung dem Kollegen Frohnmaier, AfD, das Wort.

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Müller, ich hatte mich gewundert und daran erinnert, dass ich mal über Sie gelesen habe: Sie haben sich 60‑mal in zwei Jahren – nach Berichterstattung der „Welt“ – mit dem Fahrdienst des Deutschen Bundestages nach Potsdam fahren lassen, ({0}) unter anderem, um angeblich Ihr Kind aus der Kita abzuholen. Ich will Sie fragen: Wäre das dann Bestandteil Ihres Gesetzentwurfs? ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Müller? – Sie wollen nicht antworten. ({0}) Dann erteile ich das Wort der Kollegin Annalena Baerbock, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Sie haben das Wort. ({1})

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Jedes Kind in diesem Land, egal ob es Simon, Sonja oder Sevim heißt, hat eine gute Kita verdient. ({0}) Deswegen gehört Spitzenqualität auch an die Orte für die Kleinsten. Deswegen setzen wir Grüne uns so intensiv mit diesem Gesetz auseinander. Und ja, auch wir kommen leider zu dem Schluss, dass es nichts bringt, einfach nur den Namen zu ändern und zu sagen: Es heißt „Gute-Kita-Gesetz“, und damit ist alles gut. – Gut gemeint ist eben nicht immer gut gemacht. Es tut mir wirklich leid, dass wir das feststellen müssen, weil wir alle seit Jahren hier in diesem Haus darum gerungen haben, endlich Spitzenqualität in die Kitas zu bringen. Ich glaube, es wäre fast besser gewesen, man hätte den alten, technischen Titel oben auf dem Gesetz behalten: „Weiterentwicklung der Qualität in der Kindertagesbetreuung“, weil dann Qualität auch an oberster Stelle gestanden hätte. ({1}) Jetzt haben Sie zehn Handlungsfelder – Sie haben erweitert –, nehmen, wie Norbert Müller zu Recht gesagt hat, das gleiche Geld, obwohl Sie jetzt mehr damit finanzieren wollen, und die Qualität hat eben nicht mehr Priorität, wie das noch in den vergangenen Jahren der Fall war. Das ist unsere Kritik an diesem Gesetz. ({2}) Warum ist das unsere Kritik an diesem Gesetz? Schauen wir uns Kitas an. Es macht einen riesengroßen Unterschied, ob eine Erzieherin für sechs Zweijährige zuständig ist oder ob das zwei Erzieherinnen sind. Deswegen ist der Fachkraft-Kind-Schlüssel so essenziell für dieses Gesetz. ({3}) Es ist nicht gut, sondern richtig schlecht, Frau Ministerin, dass Sie den Fachkraft-Kind-Schlüssel nur in die Begründung des Gesetzes geschrieben haben. Dort verweisen Sie auf das, was wir eigentlich machen müssten. Aber im Gesetz fehlt der Schlüssel, weil er nicht verbindlich ist. Das ist ein schlechtes Gesetz, Frau Ministerin. ({4}) Seit Jahren wissen wir durch Anhörungen, dass Fachkraft-Kind-Relation beinhaltet: Die Erzieherinnen müssen Zeit für eine Vor- und Nachbereitung der pädagogischen Angebote haben. Erzieherinnen sind auch mal krank, so wie alle Mütter und Väter mit kleinen Kindern im Herbst und im Winter. Erzieherinnen fallen deswegen aus, sodass das berücksichtigt werden muss. Die haben auch mal Urlaub. – Das führt am Ende zu einem verbindlichen Schlüssel, der lautet: bei Einjährigen eine Fachkraft-Kind-Relation von 1 : 2, bei unter Dreijährigen von 1 : 3 oder 1 : 4 und bei über Dreijährigen von 1 : 9. Die Realität in diesem Land sieht in ganz vielen Kitas komplett anders aus. Deswegen müssen Sie den Fachkraft-Kind-Schlüssel angehen, und zwar nicht in der Begründung, sondern im Hauptteil Ihres Gesetzes, ({5}) und zwar im Sinne aller – im Sinne der Kinder, der Eltern und der Erzieherinnen und Erzieher. Wenn man morgens sein Kind selber in die Kita bringt, dann merkt man den Unterschied. Bei 20 Kindern, die rumwirbeln, kann die Erzieherin das eine Kind nicht in Empfang nehmen. Das Kind weint dann. Es wäre ein ganz anderer Abschied, wenn die Erzieherin es in Empfang nehmen und sagen kann: Guten Morgen, schön, dass du da bist! Das wollen die Erzieherinnen und Erzieher, aber sie können es eben nicht, weil die Fachkräfte in diesem Bereich fehlen. ({6}) Das führt dann auch dazu, dass viele Eltern ihre Kinder nicht in die Kita bringen. Das DIW als Wirtschaftsinstitut hat berechnet, dass viele Mütter oder Väter nicht Vollzeit arbeiten, weil die Qualität in den Kitas nicht gut genug ist. Die sagen: Wenn ich mein Kind neun Stunden in die Kita bringe – man muss es neun Stunden hinbringen, wenn man Vollzeit arbeitet; man fährt ja morgens hin und abends wieder zurück vom Job –, aber weiß, dass die Erzieherinnen und Erzieher eigentlich nur für fünf Stunden Vollzeit da sind und in den Randzeiten überhaupt nicht mehr, dann gehe ich in Teilzeit. – Das betrifft vor allen Dingen Frauen. Deswegen wäre dieses Gute-Kita-Gesetz auch so entscheidend für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, Frau Ministerin. ({7}) Kommen wir zu dem Punkt, dass Ihr Haus argumentiert hat: Wir können den Fachkraft-Kind-Schlüssel nicht rechtsverbindlich festschreiben, weil uns das Personal fehlt. Das stimmt; uns fehlen 300 000 zusätzliche Erzieherinnen und Erzieher bis 2025. Aber gerade weil diese Erzieherinnen und Erzieher fehlen, müssen Sie den Schlüssel festschreiben. Es ist doch in den Kitas genauso wie in der Pflege. Viele Menschen, die dort arbeiten wollen, sagen: Ich kann so nicht mehr arbeiten. Unter diesen Bedingungen kann ich meinen Job nicht richtig gut machen. – Gerade um Fachkräfte zu gewinnen, müssen Sie dafür sorgen, dass Qualität in den Kitas besteht. Das beinhaltet einen verbindlichen Fachkraft-Kind-Schlüssel in Ihrem Gesetz. ({8}) Ein anderes Argument gegen die Festlegung ist: Man kann ihn gesetzlich nicht festschreiben. Ich sage Ihnen: Das ist falsch. Bitte hören wir auf, immer wieder Gesetze zu machen, mit denen wir den Menschen etwas vormachen. Sie sagen, Sie wollen neue Fachkräfte gewinnen, indem Sie das Gehalt der Erzieherinnen und Erzieher verbessern; Sie haben vorgeschlagen, dass das im nächsten Jahr geschehen soll. An das Gehalt kommen Sie als Bundesgesetzgeber aber überhaupt nicht ran. Wo Sie eingreifen können, ist die Fachkraft-Kind-Relation, die Qualität, nämlich über das SGB VIII in § 22a. Das SGB schreibt Ihnen dort nämlich vor, dass der Bund auch für die Qualität in den Kitas zuständig ist. Drücken Sie sich hier nicht weg! Sie haben die Gesetzgebungskompetenz, für Qualität in den Kitas zu sorgen. Dann tun Sie das auch, und zwar rechtsverbindlich! ({9}) Einen letzten Punkt zu „Gut gemeint ist nicht gut gemacht“ möchte ich noch mit Blick auf die Beitragsfreiheit sagen. Wir halten es für essenziell, dass die soziale Staffelung endlich in alle Kitas kommt und sie nicht davon abhängig ist, ob die Kommune, ob der Bürgermeister das auf der Prioritätenliste hat oder nicht. Wir halten es für essenziell, dass endlich auch dafür gesorgt wird, dass Familien, die den Kinderzuschlag bekommen, entsprechend der sozialen Staffelung aus der Beitragszahlung herausgenommen werden. Aber indem Sie sagen: „Man kann sich komplette Beitragsfreiheit aussuchen“, tragen sie zu der Verschärfung der sozialen Spaltung in unserem Land bei. Wozu führt das denn, wenn zwei Drittel der Eltern sagen: „Für uns ist es essenziell, eine gute Kita zu haben“? Das heißt: Diejenigen, die vorher 100 oder 200 Euro gezahlt haben und das jetzt nicht mehr tun müssen, weil Sie sie davon befreien, sagen: Super, für die 200 Euro gehe ich jetzt in die private Kita nebenan, wo der Schlüssel stimmt. – Die Eltern, die sich das nicht leisten können, bleiben dann in den Kitas, wo eine Fachkraft auf 20 Kinder aufpasst. Das ist sozial absolut ungerecht. Sie können die Beitragsfreiheit erst zusagen, wenn der Schlüssel in allen Kitas stimmt. Deswegen gehört dieser Aspekt auch in die Verträge mit den Ländern: Bedingung für Beitragsfreiheit ist, dass der Fachkraft-Kind-Schlüssel stimmt. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin.

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Zu allerletzt noch: Wir hatten eine Vereinbarung mit den Ländern, und Sie wollen Verträge mit den Ländern schließen. Dann können Sie die Finanzierung aber nicht nur für vier Jahre gestalten. Wie soll man denn neues Fachpersonal einstellen können, wenn man den Leuten sagt: Fangt bei uns an. In vier Jahren gibt der Bund aber kein Geld mehr dafür. Dann sitzt ihr wieder auf der Straße. – So funktioniert das nicht. Wenn das Gesetz gut werden soll, dann müssen Sie nachbessern bei der Fachkraft-Kind-Relation, bei der Ausfinanzierung – nicht nur vier Jahre, sondern auf die Dauer dieses Gesetzes – und aufhören, die armen Kinder gegen reiche Kinder auszuspielen, weil wir so den sozialen Zusammenhalt in diesem Land nicht gestalten. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Sönke Rix, SPD-Fraktion. ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich versuche einmal, auf ein paar Dinge einzugehen, die Bestandteil der Beiträge meiner Vorredner waren. Als Erstes zur grundsätzlichen Frage, ob wir als Bund uns über Gesetze „einmischen“ sollten, wie die Familien ihr Leben organisieren. Nein, wir wollen uns nicht einmischen, wie die Familien ihr Leben organisieren, aber wir wollen die Rahmenbedingungen schaffen, ({0}) damit sie sich entscheiden können¸ für welchen Weg auch immer. Dazu gehört natürlich auch gute Qualität in Kindertagesstätten, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Das ist keine Bevormundung, sondern, ganz im Gegenteil, erleichtert den Entscheidungsweg der Eltern. Dazu wollen wir mit diesem Gesetz ein Stück beitragen. Das Zweite ist – es wird in der Diskussion aufgeworfen –: Qualität und Teilhabe, also Beitragssenkung oder Beitragsabschaffung, werden hier gegeneinander ausgespielt. Ich glaube, dass wir das nicht tun sollten. Wir sollten selbstbewusst sein und sagen: Wir wollen beides. Wir wollen die Qualität steigern, und wir wollen den Zugang zu Kitas für alle Familien möglich machen, egal mit welchem Einkommen und egal in welcher Stellung. ({2}) Ich will Ihnen eines sagen: Die gleichen Argumente, die die Gegner von Beitragsfreiheit hier bringen, könnte man umgekehrt als Argumente dafür bringen, wieder Schulgebühren oder Hochschulgebühren einzuführen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen diejenigen, die gut verdienen, natürlich stärker an den Kosten für Kita­infrastruktur und -qualität beteiligen, aber das wollen wir über Steuerpolitik machen. ({3}) Unsere Zielsetzung in diesem Gesetz und im Laufe des Verfahrens sind drei Punkte. Erstens. Wir wollen das Gute-Kita-Gesetz –, da haben wir Teilhabe und Qualität drin –, als zusätzliches Mittel sehen – zusätzlich zu dem, was die Länder vor Ort in vorbildlicher Art und Weise bis jetzt schon machen. Und, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, der Linkspartei und der Grünen, ich wundere mich manchmal, wie Sie über die von Ihren Parteien mitgetragenen Landesregierungen an dieser Stelle denken. Ich frage mich, wie das geht. ({4}) – Interessant, wenn Schleswig-Holstein tatsächlich ablehnen sollte. Der Sozialminister von Schleswig-Holstein, Heiner Garg, hat aber schon mit unserer Familienministerin über die ersten Punkte gesprochen, was man an welchen Stellen beitragen kann. ({5}) Das Geld werden auch die FDP-regierten Länder mit Kuss­hand annehmen. Davon gehe ich ganz fest aus. ({6}) Ich wundere mich auch, dass wir hier Schuldzuweisungen erteilen. Ich glaube, dass die Länder viel besser darüber Bescheid wissen, was tatsächlich die Bedürfnisse vor Ort sind. Ich gehe auch davon aus, dass sie genau wissen – es fällt in ihre originäre verfassungsmäßige Zuständigkeit –, was politisch in den Ländern gewollt ist. Dieses Vertrauen, dass sie sowohl in Qualität als auch in mehr Teilhabe investieren werden, habe ich sowohl zu den gewählten Landtagen als auch zu den gewählten Landesregierungen. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Rix, der Kollege Müller, Fraktion Die Linke, würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der Kollege Birkwald weist darauf hin, dass es Fraktion Die Linke heißt und nicht Linkspartei, aber geschenkt. – Vielen Dank, Kollege Rix, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Ist es nicht so, dass die Länder mit ungefähr 2 Milliarden Euro mehr im Jahr – der Bund gibt einige Hundert Millionen Euro – den Kitaausbau bezahlt haben, obendrein die Qualität verbessern – das tun viele Länder, auch SPD-regierte – oder Beitragsfreiheit einführen – das tun auch viele Länder, auch SPD-regierte – und bei den Landesfinanzministern ein bisschen der Impuls besteht, zu sagen: Also, ihr habt den Rechtsanspruch eingeführt, bezahlen tun bisher eigentlich nur wir; die Verbesserungen machen bisher auch nur wir. – Da freut man sich natürlich, wenn Mittel vom Bund kommen, mit denen man andere Dinge gegenfinanzieren kann. Wenn hier ein Landesfinanzminister stehen würde, würde er sagen – das ist doch völlig klar –: Natürlich stimmen wir diesen Konditionen – einfach für vier Jahre 5,5 Milliarden Euro zu kriegen, sozusagen Geld ohne Nachweis – zu. Natürlich werden die das Geld nehmen. Aber unsere Aufgabe wäre es, dafür zu sorgen, dass diese Mittel zusätzlich eingesetzt werden und nicht schon für bereits begonnene Maßnahmen, wie es das Gesetz möglich macht. Unsere Aufgabe wäre es doch, sicherzustellen, dass deutlich mehr Geld pro Jahr zur Verfügung gestellt wird, also die einmal versprochenen 5 Milliarden Euro, die auch nicht gereicht hätten. Wenn man gleichwertige Lebensverhältnisse schaffen möchte – das will auch diese Koalition; jedenfalls sagt sie das –, wäre es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es gleichwertige Kitabedingungen in allen Ländern gibt. Dann ist völlig klar: 5,5 Milliarden Euro in vier Jahren werden dafür nicht reichen; auch wenn jeder Landesfinanzminister sagt: Klar nehme ich das Geld. ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es ist ein interessantes Bild, das Sie an dieser Stelle von Landesfinanzministern haben. Ich will deutlich machen: Erstens. Wir finanzieren den Ausbau. Wir haben die Länder und Kommunen damit nicht alleine gelassen, sondern wir leisten unseren Beitrag und übernehmen ein Drittel der Kosten. ({0}) Ich will den Eindruck, der Bund würde seiner Verantwortung nicht gerecht werden, hier nicht so stehen lassen. Zweitens. Natürlich wollen wir, dass das Geld direkt ankommt, und wir wollen das auch kontrollieren. Interessant war, dass eine Rednerin gesagt hat: Da ist viel zu viel Bürokratie im Monitoring, in der Kontrolle; das kann ja alles so nicht sein. – Doch! Wir wollen genau diese Kontrolle, weil das Geld direkt vor Ort ankommen soll. Deshalb gibt es auch die Vertragsgestaltung und das Monitoring. Wenn Sie jetzt wiederum behaupten, das Geld würde nicht ankommen, dann, glaube ich, sollten wir uns in der Mitte des Weges treffen, damit das Geld auch tatsächlich direkt ankommt. ({1}) Die 5,5 Milliarden Euro sind zusätzliches Geld: zusätzlich zu dem, was die Länder bereitstellen, und zusätzlich zu dem, was wir sowieso weiterhin in Infrastruktur und andere Programme investieren werden. Ich glaube, es kann immer mehr sein; das ist gar keine Frage. Wir alle würden uns viel mehr Geld für solche Zwecke wünschen. Aber dass wir überhaupt dieses Geld in die Hand nehmen, ist, finde ich, eine großartige Leistung und erstmalig in dieser Bundesrepublik; das ist auch zu würdigen. ({2}) Wir wollen das Geld natürlich auch langfristig zur Verfügung stellen. Wir sind froh, dass wir es noch im Laufe der Endabstimmung in der Regierung hinbekommen haben, in der Zielsetzung des Gesetzes festzuschreiben, dass nach den 5,5 Milliarden Euro bis 2022 nicht Schluss sein soll, sondern dass wir es uns als Ziel setzen, auch weiterhin eine Finanzierung für Qualität durch den Bund vorzunehmen. Das ist ein guter Schritt. Vielleicht kriegen wir es noch ein bisschen schärfer und deutlicher formuliert. Wir sind auf jeden Fall dafür, dass dieses Geld langfristig zur Verfügung gestellt wird und natürlich auch Schritt für Schritt mehr werden kann. ({3}) Zur Erzieheroffensive: Ich bin gelernter Erzieher und weiß ganz genau, wie es ist, sein Kind zur Kindertagesstätte zu bringen, als auch, wie es ist, auf der anderen Seite zu stehen und ein Kind entgegenzunehmen. Ich weiß, dass es im Moment in den Einrichtungen viel schlimmer ist als vor 13 Jahren, als ich in diesem Bereich noch gearbeitet habe, weil es immer mehr Kinder sind – das wollen wir, und das ist auch richtig, weil wir den Bedürfnissen nachkommen wollen – und weil die Belastung größer wird, und das nicht nur, weil die Anzahl der Kinder steigt, sondern auch, weil die Herausforderungen steigen. Deshalb ist es gut, dass wir zusätzlich Geld in die Hand nehmen und eine Fachkräfteoffensive starten, um zusätzliches Personal zu bekommen, um die Qualitätsbausteine, die wir hier entwickelt haben, auch tatsächlich umsetzen zu können. Ich hoffe, dass wir im Gesetzgebungsverfahren zum Haushalt auch ausreichend Mittel dafür bereitstellen. Letzter Satz. Ich freue mich auf die Auseinandersetzung und die Beratungen zu diesem guten Gesetz und sage nach Struck’schem Vorbild: Aus einem guten Gesetz kann man ein besseres Gesetz machen. Dazu nutzen wir die parlamentarischen Beratungen herzlich gerne. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Nicole Höchst, AfD. ({0})

Nicole Höchst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004753, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Ministerin! Werte Kollegen! Hochverehrte Bürger! Der Ausbau und die Weiterentwicklung von Kindertagesstätten ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit geworden. Kitas sind vor allem auch für Alleinerziehende am Arbeitsmarkt eine entscheidende Hilfe und aus der Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Aber: Sie darf eben auch nicht alternativlos sein. Liebe Frau Schön, Wahlfreiheit ist derzeit illusorisch. Abgesehen von Schichtarbeit und Auswärtstätigkeit sind viele Eltern aus finanziellen Gründen gezwungen, immer früher und immer länger ihre Kinder in Krippen und Kindergärten unterzubringen. Besonders betrifft dies Menschen aus dem Niedriglohnsektor. Selbst erwerbslose Mütter und Väter werden gezwungen, ihre Kinder abzugeben, damit sie dem Arbeitsmarkt ungehindert zur Verfügung stehen können. Geht es womöglich gar nicht um die Kinder? Geht es womöglich um die Befriedigung der Interessen der einflussreichen neoliberalen Profiteure in Konzernen und in der Finanzindustrie? ({0}) Wie dem auch sei. Unter der Prämisse der Zwangslage vieler Menschen begrüßen wir von der AfD den Gesetzesvorstoß der Bundesregierung. Allerdings kann dies unserer Meinung nach nur ein erster Schritt in Richtung eines Gesetzes sein, welches gute Betreuung ermöglicht. Für viele Kinder bieten Kitas große Chancen für die gezielte Förderung von Sprache, Miteinander, Kreativität, Bildung und Bewegung. Kinder aus bildungsfernen Schichten profitieren hier besonders. Gut ist auch, dass ein Qualitätsstandard für hochwertige, gesunde und ausgewogene Ernährung installiert werden soll. Aber wir wären nicht die AfD, wenn wir nicht auch designierte Schwachstellen ansprechen würden. Schauen wir also genauer hin: Ziel des Gesetzes ist es unter anderem, die Qualität der Kitas und die Teilhabe weiterzuentwickeln. Bei Punkt eins können wir insofern mitgehen, als dass auch wir an guter Qualität und an Teilhabe interessiert sind. Aber: Für unsere Kinder sollte die liebevolle Betreuung sowie die Ausstattung von Kitas in personeller und sachlicher Hinsicht im Vordergrund stehen. ({1}) Für unseren Staat steht aber anscheinend frühkindliche Bildung und Erziehung im Vordergrund. In § 2 Nummer 10 möchte man zum Beispiel „die Nutzung der Potenziale des Sozialraums und den Abbau geschlechterspezifischer Stereotype“ fördern. Hier, meine Damen und Herren, werden staatlichem Zugriff auf Kinderseelen, ideologischer Indoktrination und Frühsexualisierung Tür und Tor geöffnet. ({2}) Was genau man darunter versteht, kann man in der Broschüre „Ene, mene, muh – und raus bist du!“ der Amadeu Antonio Stiftung nachlesen. Da ist von Schminkecken die Rede, in denen Betreuer Jungen die Nägel lackieren. ({3}) Da ist die Rede von gegenseitiger Bespitzelung, übrigens auch der Eltern, und derlei Ungeheuerlichkeiten mehr. ({4}) Es bereitet zudem den Weg zur schädlichen Kita digital, beides übrigens entweder im Auftrag oder mit Unterstützung des Bundesministeriums für Familie. Frau Giffey schrieb sogar eine Seite Geleitwort zur genannten Stasikinderbroschüre. Wir als AfD fordern eine Entideologisierung von Kindertagesbetreuung und dieses Gesetzes. ({5}) Unsere Kinder dürfen niemals von Gesetz wegen in Kitas zu klimahysterischen, vielfaltsfixierten links-grünen Knock-out-Mäusen à la Kahane oder zu Digitalzombies dressiert werden. ({6}) Wir fordern die sozial gerechte Ausweitung des vorliegenden Gesetzentwurfs auf gute Betreuung. Gute Betreuung könnte dann vor allem auch durch Eltern, aber auch Großeltern, Tagesmütter etc. erfolgen. Eltern sollen entscheiden dürfen, was gute Betreuung für ihre Kinder ist. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Maik Beermann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Ministerin hat ihre Rede mit dem Satz begonnen: Heute ist ein guter Tag. – Ja, das ist es wirklich. Ich möchte das aber etwas anders begründen. Ich finde, heute ist ein guter Tag, weil es endlich mal gelungen ist, dass ein wirklich wichtiges familienpolitisches Thema so hochgezogen wurde, dass es jetzt in der Kernzeit, sozusagen in der Primetime dieses Parlaments, diskutiert wird. ({0}) Das ist wirklich ein toller und großer Erfolg auch für unsere Familien. ({1}) Dann möchte ich auch noch ganz kurz auf die Einlassung der Kollegin Baerbock eingehen. Frau Kollegin, Sie haben gesagt, dass der Fachkraft-Kind-Schlüssel deutlicher im Gesetzentwurf hätte festgeschrieben werden müssen. ({2}) Wir haben unter § 2 – wenn Sie sich den Gesetzentwurf anschauen, werden Sie das feststellen – geregelt, dass ein guter Fachkraft-Kind-Schlüssel sichergestellt wird. Diese Formulierung im Gesetzentwurf ist eben genau so gefasst worden, weil man sich mit den Ländern nicht auf eine klare Relation einigen konnte. Sie wissen bestimmt besser als ich, dass in vielen Länderparlamenten eben auch die Grünen mitregieren. Das heißt, auch aufgrund der Grünen in den Ländern konnte man sich anscheinend nicht darauf verständigen, eine andere oder deutlichere Relation festzuschreiben. ({3}) Es ist nicht redlich, sich hierhinzustellen und das sozusagen in Gänze schlechtzureden, wenn man genau weiß, dass das auch in den Verantwortungsbereich der Länder fällt. ({4}) Sehr geehrte Frau Ministerin Giffey, Sie haben in Ihrer Rede von einem Gute-Kita-Gesetz gesprochen. Ja, unser aller Ziel ist es auch, dass es ein Gute-Kita-Gesetz wird. Allerdings muss ich sagen, dass der Weg bis dahin wahrscheinlich etwas länger und möglicherweise auch etwas steiniger werden könnte; denn wir haben den Familien ja eines im Koalitionsvertrag versprochen – das ist aus meiner Sicht auch ganz wichtig –, nämlich eine bestmögliche Betreuung für ihre Kinder. Bereits Helmut Kohl hat einmal gesagt: „Ein Land mit Kindern ist ein Land mit Zukunft.“ Damit hat er auch recht; denn Familien sorgen letztendlich dafür, dass in diesem Land Zukunftsfähigkeit gestaltet werden kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der von Frau Ministerin Giffey vorgelegte Gesetzentwurf will mit 5,5 Milliarden Euro bis 2022 sowohl Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität als auch eine Entlastung der Eltern bei den Gebühren fördern. Die Länder sollen dabei selbst entscheiden, wofür sie die Bundesmittel ausgeben. Das heißt auch, dass die Länder theoretisch die Möglichkeit haben, diese gut 5 Milliarden Euro an Bundesmitteln vollständig in die Beitragsfreiheit zu stecken. Ja, ich weiß, dass den Handlungsfeldern 1 bis 4 im Gesetzentwurf zwar Priorität eingeräumt wird. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass die Länder das Geld letztendlich auch zwingend dafür einsetzen müssen. ({5}) Solange die Gebührenfreiheit als Maßnahme in der Vorschrift zur Qualitätsverbesserung geregelt ist, ist das eben in der Form möglich, wie ich es gerade dargestellt habe. Da stellen sich mir die Fragen: Wollen wir das Gesetz ernsthaft so auf den Weg bringen? Oder wollen wir ein Gesetz auf den Weg bringen, das klar für eine bessere Qualität in der Kindertagesbetreuung steht? Ich verrate an dieser Stelle auch kein Geheimnis, wenn ich deutlich sage, dass die Union die Beitragsfreiheit angesichts der prioritären Aufgaben, nämlich mehr Plätze und eine gute Qualität zu schaffen, derzeit ablehnt. Ich sage ganz deutlich: derzeit ablehnt! Wir haben – das haben wir in unterschiedlichen Reden schon gehört – eine Pflichtaufgabe: Qualität steht aus meiner Sicht an oberster Stelle. Wenn wir diese Pflichtaufgabe erfüllt haben, können wir uns auch um die Kür kümmern, nämlich um die Beitragsfreiheit. ({6}) Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, ich weiß, Sie haben Beitragsfreiheit im Wahlkampf versprochen. Wollen wir aber ernsthaft die Stimmen der Expertinnen und Experten und vor allem auch die Stimmen der Eltern ignorieren, die, wenn sie nach langer Suche einen Platz gefunden haben, sogar bereit sind, für eine gute Qualität sogar einen Beitrag zu leisten? Ich kann nur empfehlen, an dieser Stelle noch einmal innezuhalten, ({7}) Ihre Forderung zu überdenken und anschließend gemeinsam mit uns ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das klar für eine bessere Qualität steht. Eine Beitragsfreiheit – wie hier in Berlin bis zur Grundschule – kann daher nur Zukunftsmusik sein und ist Aufgabe der Länder. Wir, lieber Sönke Rix, müssen uns eben auch die Frage stellen, ob wir immer und immer wieder in unserem föderalen Staatssystem den Eingriff des Bundes in die Hoheit der Länder wollen. Wenn wir das tatsächlich wollen – das sage ich ganz ehrlich –, müssen wir eben darüber nachdenken, ob wir das föderale System, so wie es jetzt besteht, verändern. Wir können nicht immer diesen Weg gehen und sagen: Der Bund übernimmt zusätzliche Aufgaben, und die Länder freuen sich darüber, dass wir Geld geben. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, so wie ein Baum in der Erde fest verwurzelt ist, fundiert auch jedes Gesetz, das wir hier im Deutschen Bundestag verabschieden, auf unserem deutschen Grundgesetz. Soweit es irgendwelche verfassungsrechtlichen Bedenken gibt bzw. geben sollte, werden wir diese klären und die entsprechenden Bedenken ausräumen. Das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Betreuungsgeld hat uns klare Vorgaben an die Hand gegeben, und diese sind von uns Parlamentariern auch einzuhalten und umzusetzen. ({9}) Es wurde in mehreren Reden immer wieder die Notwendigkeit einer langfristigen Finanzierung durch den Bund über das Jahr 2022 hinaus angesprochen. Als Grund wurde insbesondere Planungssicherheit für die Länder in den Raum gestellt. Auch ich wurde in den letzten Wochen in meinem Wahlkreis im Schaumburger Land und im Landkreis Nienburg immer wieder von Kommunalpolitikern angesprochen, die darum gebeten haben, bei unseren Überlegungen auch zu bedenken, dass ein kurzfristiges Unterstützungsprogramm sich langfristig nicht zulasten der kommunalen Haushalte auswirken darf. Ja, ich kann diese Bedenken auch als Kreistagsabgeordneter gut nachvollziehen und werde mich – das möchte ich an dieser Stelle betonen – dafür starkmachen; denn wir müssen hier auch immer die Auswirkungen unserer Gesetze auf die kommunale Ebene im Blick haben. Ansonsten gibt es Schwierigkeiten und wir laufen Gefahr, uns Diskussionen auszusetzen, die dann nicht unbedingt immer förderlich sind. ({10}) Es gibt aber auch eine Erwartungshaltung gegenüber den Ländern. Erstens erwarte ich, dass auch die Länder, deren ureigene Aufgabe die Sicherstellung der Qualität in der Kindertagesbetreuung ist, ihren Anteil erbringen werden, und zweitens werden wir genau hinsehen und beobachten, ob die Gelder, die vom Bund bereitgestellt werden, auch wirklich dafür eingesetzt werden, wofür sie gedacht sind, nämlich für die Verbesserung der Qualität in der Kindertagesbetreuung, also für unsere Kinder. Wir werden parallel dazu dafür sorgen – das hat auch die Ministerin angesprochen –, dass die Bundesprogramme „Sprach-Kitas“ und „KitaPlus“, die maßgeblich und zielgerichtet für die Verbesserung der Qualität in der Kindertagesbetreuung eingerichtet wurden, fortgeführt und weiterentwickelt werden; denn nur so gelingt es, das Beste für unsere Kinder herauszuholen. In diesem Sinne, liebe Kolleginnen und Kollegen, erwarte ich in den kommenden Wochen spannende und gute parlamentarische Beratungen. Und wenn es uns dann sogar noch gelingt, aus einem Gute-Kita-Gesetz ein sehr gutes Kita-Gesetz zu machen, dann sind wir auf einem guten Weg. Vielen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Bauer, FDP-Fraktion. ({0})

Nicole Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Bundesministerin! Ich bin ein Freund von Zielen, aber sie müssen glaubwürdig und messbar sein. Das, was Sie uns als Ziel des Gute-Kita-Gesetzes vorgaukeln, liebe Frau Giffey, ist weder das eine noch das andere. ({0}) Im Gesetzentwurf steht explizit, dass die Qualität in Kitas weiterentwickelt werden soll, dass die bestehenden Unterschiede zwischen den Ländern angeglichen werden sollen und dass all das nachhaltig und dauerhaft geschehen soll. Wenn das die Zielsetzung ist, dann passt das nicht zu Ihrem Gesetzentwurf, Frau Giffey. ({1}) Ihre Ziele sind nicht glaubwürdig. Und ich sage Ihnen auch, warum: Mit Beitragsfreiheit erreichen Sie keine Qualitätssteigerung. Wenn Ihre Ziele glaubwürdig wären, würden Sie das ausdrücklich klarstellen. Sie wissen doch, dass viele Eltern bereitwillig, ja sogar gerne eine gewisse Gebühr bezahlen, wenn sie im Gegenzug darauf vertrauen können, dass ihre Kinder bestens betreut und vor allem gefördert werden. ({2}) Wenn die Ziele glaubwürdig wären, Frau Giffey, dann würden Sie, ja dann müssten Sie die qualitativen Standards, von denen Sie sprechen, definieren. Was heißt den „bundesweit gleichwertig“ zum Beispiel in Bezug auf den Fachkraft-Kind-Schlüssel, auf Sprachkompetenzen, auf gesunde Ernährung? Nur dann, wenn das definiert ist, können wir eine Vergleichbarkeit zwischen den Ländern herstellen. Und schließlich: Wenn die Ziele glaubwürdig wären, würden Sie auch die Anschlussfinanzierung klären. Länder, Kommunen, Kitaträger, Eltern – sie alle brauchen Verlässlichkeit. Das gilt auch für die Erzieher, die wir wiederum so dringend benötigen, um den Betreuungsschlüssel zu verbessern. So sind Ihre Ziele nicht glaubwürdig und vor allem nicht messbar. Statt eine Vogel-Strauß-Politik zu betreiben, müssten Sie sich folgende Fragen stellen: Was bedeutet eine gute Kita für Sie? Woran messen Sie den Erfolg, anhand welcher Kriterien und anhand welcher Kennzahlen? Wir haben die Bundesregierung gefragt. Sie kann es uns aktuell nicht sagen. Gleichzeitig planen Sie, dass das Gesetz zum 1. Januar 2019 in Kraft treten soll – ein ambitioniertes Ziel, wie ich finde, angesichts all der Schwachstellen und der großen Unbekannten darin und vor allem der 16 Bundesländer, die unterschrieben haben müssen, ehe das Gesetz tatsächlich in Kraft treten kann. Meine Damen und Herren, ich bin gespannt, was die Beratungen im Bundesrat ergeben werden, und ich bin froh, dass wir zeitnah eine Anhörung zum Gute-Kita-Gesetz haben werden. Auf dass es ein solches noch werde, denn bisher ist es keines! Danke schön. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Dr. Silke Launert, CDU/CSU. ({0})

Dr. Silke Launert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004336, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Nicht nur reden, sondern auch handeln, nicht nur Probleme benennen, sondern auch Lösungen finden, nicht nur kritisieren – es tut mir leid, genau das geht an die FDP –, sondern auch Verantwortung übernehmen, ({0}) damit man gemeinsam gestalten kann – das erwarten die Menschen zu Recht von uns. Ja, ich gebe zu: In der Öffentlichkeit ist in den letzten Monaten so ein bisschen der Eindruck entstanden, wir würden uns nur mit uns selbst beschäftigen und nicht mit den Themen. ({1}) Dieser Eindruck täuscht. ({2}) – Das Gegenteil ist der Fall. Haben Sie hier alle geschlafen? Nur ein Beispiel: die Familienpolitik. Wir haben im Februar im Koalitionsvertrag ganz viele Maßnahmen vereinbart, ein großes Paket für Familien. Sieben Monate später sind wir mitten in der Umsetzung mit Milliardenbeträgen, die ihresgleichen suchen. Ja, auch wenn es den Linken nicht gefällt, bei Ihnen fängt der Mensch erst als Mieter an. Mir wäre es wichtiger, dass sogar auch Alleinerziehende eine Chance haben, sich eine eigene Wohnung leisten zu können. Das Baukindergeld hilft vielen dann später auch noch im Alter. ({3}) Dieses Baukindergeld, das wir in Bayern aufgestockt haben, bedeutet für eine Familie, für eine Alleinerziehende mit zwei Kindern 40 000 Euro. Im ländlichen Raum bietet das einer Alleinerziehenden – ich selbst ermutige gerade Frauen dazu, das zu tun – die Chance, sich etwas Eigenes aufzubauen und sich vielleicht die Miete im Rentenalter zu sparen. ({4}) – Ich bin Alleinerziehende, alle meine Freundinnen sind alleinerziehend. Ich weiß, wovon ich rede. ({5}) Sie erhalten 40 000 und kriegen bei uns teilweise für 80 000, 90 000 Euro eine kleine Wohnung. Schade, dass die für Sie nicht zählen. Es zählt offensichtlich nur München. Gehen wir weiter: Wir haben in der letzten Woche das Familienentlastungsgesetz beraten, eine weitere Riesen­entlastung. Mitte nächsten Jahres gibt es für jedes Kind 10 Euro mehr Kindergeld. Das wollen wir noch einmal toppen. Auch das ist ein Schritt. 10 Milliarden Euro Entlastung insgesamt sind nicht zu vernachlässigen. Jetzt, eine Woche später, kommt das nächste Paket: Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung heißt es oder kurz schlicht das Gute-Kita-Gesetz. Auch das ist ein weiteres Milliardenpaket. Es wurde schon oft gesagt: 5,5 Milliarden Euro werden erstmals in dieser Größenordnung für die Steigerung der Qualität in den Einrichtungen bereitgestellt. Ich denke, auch das ist ein weiteres Signal, dass uns die Familien wichtig sind. Nur kritisieren kann jeder; aber ein Milliardenpaket nach dem anderen innerhalb von drei Monaten auf den Weg zu bringen, das sollte man uns erst einmal nachmachen. ({6}) Eine gute Kitabetreuung basiert auf mehreren Säulen. Die erste tragende Säule ist natürlich, dass überhaupt ein Angebot da ist. Deshalb haben wir den Rechtsanspruch geschaffen. Wir haben als Bund in den letzten zehn Jahren 400 000 Kinderbetreuungsplätze mitfinanziert, obwohl ja eigentlich die Kommunen und Länder zuständig sind, und im letzten Jahr noch einmal 1 Milliarde Euro für weitere 100 000 Plätze bereitgestellt. Mit diesem Paket gehen wir jetzt die Qualität an. Ja, es wird noch gestritten, wie genau es gestaltet werden soll. Aber wir haben natürlich eine Herausforderung, und das ist unser System, wo eigentlich die Länder für die Gestaltung zuständig sind. Wenn ich hier ausgerechnet Herrn Müller aus Brandenburg höre, dann muss ich sagen: Der Fachkraft-Kind-Schlüssel für unter Dreijährige liegt in Baden-Württemberg bei 3,1, bei uns in Bayern bei 3,7, in Brandenburg bei 5,8 und in Berlin bei 6,0. Dort muss also eine Fachkraft für die doppelte Anzahl von Kindern da sein. ({7}) Dass die sich bei Ihnen beschweren, ist völlig logisch. ({8}) Man sieht an diesem Beispiel, wie unterschiedlich die Rahmenbedingungen sind. Sie sagen es ja selbst, dass es unterschiedliche Rahmenbedingungen gibt. Genau deshalb muss man auch ein bisschen Rücksicht nehmen auf die Unterschiedlichkeit in den Ländern. ({9}) Wir wollen nicht alles überall gleich machen, sondern wir wollen einen Schritt gehen in Richtung ähnlicher Verhältnisse. Ich sage nicht, dass das Gesetz perfekt ist. Aber es ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. Wenn wir es dauerhaft verstetigen können, wäre es noch besser. Alles immer schlechtzumachen, weil einem irgendeine Kleinigkeit nicht passt, ist nicht angemessen. Sie brauchen sich dann nicht zu wundern, warum die Politikverdrossenheit so groß ist. Das ist auch nicht redlich. Diese 5,5 Milliarden Euro müsste der Bund überhaupt nicht geben. Er will aber etwas tun und helfen. Ich finde, das sollte man respektieren. ({10}) Hinzu kommen noch zahlreiche weitere Pakete. Wir haben in der letzten Periode „KitaPlus“ für Randzeiten angepackt. Dieses Programm wollen wir verlängern. Wir haben das Programm „Sprach-Kitas“ aufgelegt mit 7 000 zusätzlichen Fachkraftstellen und einem Volumen in Höhe von 1 Milliarde Euro. Auch dieses Programm wollen wir verlängern. Das ist ein Bündel von Maßnahmen. Übrigens: Betriebskostenzuschüsse zahlt der Bund in Höhe von 6,26 Milliarden Euro seit 2009. Zu sagen, dass da nichts getan wurde, ist also nicht ehrlich, nicht redlich. All das muss man zusammen sehen. Insofern sage ich: Lassen Sie uns auch dieses Gesetzespaket auf den Weg bringen. Wir können es ja noch verbessern. Oder anders ausgedrückt: Lassen Sie uns nicht nur reden, nicht nur kritisieren, sondern auch handeln. Wissen Sie, was ich mir wünschen würde? Dass wir auch über ein so wichtiges Paket so viel in den Medien hören wie über irgendwelche Personaldiskussionen. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/4947 und 19/5078 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Detlef Seif (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bekennt sich zum Recht auf Asyl, zu dem Schutz verfolgter Menschen. Aber andererseits setzen wir uns auch mit Nachdruck dafür ein, dass das Asylrecht nicht missbraucht wird. Viele Maßnahmen sind bereits auf den Weg gebracht, um Migration zu begrenzen, zu steuern, zu ordnen, und viele weitere Maßnahmen werden folgen. Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD ist vorgesehen, dass weitere Staaten mit einer Anerkennungsquote von unter 5 Prozent zu sicheren Herkunftsländern bestimmt werden sollen. Im Jahr 2017 lag die Anerkennungsquote bei Asylbewerbern aus Georgien, Algerien, Marokko und Tunesien zwischen 0,6 Prozent und 4,1 Prozent. Von den rund 15 000 Menschen, die zu uns gekommen sind, haben nur rund 500 ein Bleiberecht erhalten; 14 500 haben den Asylantrag im Ergebnis zu Unrecht gestellt. Meine Damen und Herren, das können wir uns nicht leisten, das wollen wir uns nicht leisten. Asylrecht ist kein Instrument einer allgemeinen Zuwanderung. ({0}) Als sicherer Herkunftsstaat kann ein Land nur eingestuft werden, wenn Rechtslage, Rechtsanwendung und allgemeine politische Verhältnisse den Schluss zulassen, wenn es gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung stattfinden. Nach sorgfältiger Prüfung hat das Bundeskabinett am 18. Juli 2018 einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einstufung als sichere Herkunftsländer beschlossen. Die Vertreter der Grünen und Linken argumentieren, dass diese Länder nicht sicher seien. So wird bezüglich der Maghreb-Staaten zutreffend vorgetragen, dass in Algerien, Marokko und Tunesien homosexuelle Handlungen unter Strafe stehen. In allen drei Ländern kann auch für besonders schwere Straftaten die Todesstrafe verhängt werden. Wer hieraus aber den Schluss zieht, dass die Einstufung als sicherer Herkunftsstaat nicht möglich sei, verkennt ({1}) – ich komme gleich zum Bundesverfassungsgericht –, dass die Verfolgung systematisch und systembedingt sein muss. Gerade das entspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Wenn Sie sich einmal mit dem Urteil zu Ghana beschäftigen, dann werden Sie feststellen, dass sogar die Vollstreckung der Todesstrafe dort alleine nicht dagegenspricht, dass ein Land zum sicheren Herkunftsland eingestuft werden kann. In den Maghreb-Ländern wird die Todesstrafe bei schwersten Taten zwar verhängt, aber seit vielen Jahren nicht vollstreckt. Homosexualität wird selten strafrechtlich verfolgt, erstrangig dann, wenn sie offen ausgelebt wird oder wenn es darum geht, die Gründung von Organisationen Homosexueller zu verhindern. Dies erfolgt nicht systematisch, zum Beispiel durch verdeckte oder flächendeckende Ermittlungen, sondern in Einzelfällen. Die Einstufung als sicherer Herkunftsstaat – das wird gleich wieder falsch behauptet werden – führt einerseits zur Beschleunigung der Verfahren. Sie sendet ein klares Signal an die betroffenen Personen. Die Einstufung führt gerade nicht dazu – Sie werden da gleich wieder falsch argumentieren –, dass einem verfolgten Menschen kein Schutz mehr gewährt würde. Sie führt nicht dazu, dass Verfahrensrechte abgeschnitten werden; denn jeder Antrag wird individuell geprüft, jeder Antragsteller persönlich angehört. Hier kann er Tatsachen vorbringen, die belegen, dass ihm im Heimatland Verfolgung droht. Im gerichtlichen Eilverfahren genügt es, dass man die Verfolgungssituation schlüssig darlegt. Grundsätzlich sind wir als Union mit dem Antrag der FDP sehr zufrieden. ({2}) Aber im Gegensatz zum Antrag der Bundesregierung sehen Sie keine Rechtsberatung für besonders empfindliche, empfindsame, sogenannte vulnerable Personen vor. Sie haben den Stichtag 10. Oktober genommen, der der Bundesregierung liegt drei Monate früher. In diesem Zeitraum könnte Missbrauch noch erfolgen. Aber ganz entscheidend ist – wir sind im Bundesrat doch schon einmal gegen die Wand gelaufen –: Wir müssen für dieses Vorhaben eine Mehrheit haben. Wir können hier keine Scheinanträge stellen. Die Mehrheit im Bundesrat ist zurzeit noch nicht sichergestellt. ({3}) Das muss eruiert werden. Wir hatten Sie gebeten, den Antrag zu schieben, um eventuell auch weitere Länder berücksichtigen zu können, die im Moment in der Prüfung sind. Die FDP hat das abgelehnt. Da bleibt uns heute nichts anderes übrig, als dem Beschlussvorschlag des zuständigen Innenausschusses zu entsprechen. Wir laden Sie aber gerne ein, bei dem Gesetzentwurf der Bundesregierung positiv mitzuwirken. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Abgeordnete Lars Herrmann, AfD-Fraktion. ({0})

Lars Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004748, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Einstufung der Urlaubsländer Marokko, Algerien und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten ist längst überfällig. Allerdings wird in der Antragsbegründung eine wesentliche Sache komplett ausgeblendet, nämlich warum es ausgerechnet diese nordafrikanischen Staaten treffen muss. Man könnte zunächst vermuten, dass allein die hohe Zahl der Asylbewerber aus diesen Ländern ein Handeln dringend erforderlich macht; aber dem ist nicht so. Im Zeitraum 2015 bis 2018 betrug der Anteil von Asylsuchenden aus Algerien nur 1,2 Prozent, aus Marokko nur 1 Prozent, und tunesische Staatsangehörige machten gerade einmal 0,2 Prozent der Asylantragsteller aus. Ganz aktuell stellten bis zum 30. September dieses Jahres 531 Staatsangehörige aus Tunesien einen Asylantrag in Deutschland. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum kamen allein 743 Asylantragsteller aus Indien. Doch niemand kommt auf die Idee, die größte Demokratie der Welt als sicheres Herkunftsland einzustufen. Warum eigentlich nicht? ({0}) Wie Sie sehen, kann es also nicht daran liegen, dass der Handlungsbedarf ausgerechnet bei den Maghreb-Staaten gesehen wird. Und so empfehle ich, einen Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik zu werfen. Tunesien beispielsweise findet sich zwar nicht unter den Top 20 in der Asylstatistik, belegt dafür aber einen vorderen Rang in der Kriminalstatistik. Demnach begehen marokkanische, algerische und tunesische Staatsangehörige 14 Prozent der Straftaten von Zuwanderern, obwohl diese gerade einmal 2,4 Prozent der Asylbewerber ausmachen. Allein in Sachsen gibt es 1 472 sogenannte MITAs – für „Mehrfach Intensivtäter Asylbewerber“ steht das –; davon stammen 463 Intensivtäter aus den Maghreb-Staaten, über die Hälfte davon aus Tunesien. Allerdings ist nicht einmal ein Viertel dieser Straftäter in Haft. 347 Intensivtäter aus diesen Ländern treiben weiter ihr Unwesen. Nur ein Beispiel, mittlerweile traurige und fast tägliche Realität in Deutschland: Ein abgelehnter marokkanischer Asylbewerber prügelt in Meißen einen Spaziergänger grundlos zu Boden und schlägt mit einer Bierflasche so lange auf dessen Kopf ein, bis diese zerbricht. Anschließend widersetzte sich der Flüchtling seiner Festnahme. Er schlug, trat und spuckte gegen die Polizisten, um einer Festnahme zu entgehen. Der Marokkaner ist bereits im September 2013 eingereist und hätte längst abgeschoben werden müssen. Bis zu seiner ersten Straftat in Deutschland brauchte es nur vier Monate. Dass die Abschiebung des Täters noch nicht realisiert wurde, lag mit Sicherheit nicht an der fehlenden Einstufung von Marokko als sicherem Herkunftsstaat. ({1}) Und das ist auch der Kernpunkt unserer Kritik. Lösen Sie sich von dem Gedanken, dass mit der Einstufung der Maghreb-Staaten plötzlich keine neuen Asylbewerber aus diesen Ländern mehr zu uns kommen oder schneller abgeschoben werden können! Der erhoffte Effekt, wie das seinerzeit bei den Westbalkanstaaten der Fall war, wird hier nicht eintreten. Die inflationäre Erteilung von Duldungen, das Fehlen von effektiven und wirksamen Grenzkontrollen sowie fehlende Abschiebehaftplätze und defizitäre bzw. überhaupt nicht vorhandene Rückübernahmeabkommen, insbesondere mit den Maghreb-Staaten, und die Weigerung der Bundesregierung, geltendes Recht und Gesetz durchzusetzen, werden dafür sorgen, dass wir weiterhin solche Opfer von Straftaten zu beklagen haben. Und das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist eine Schande. ({2}) Im Übrigen ist der Änderungsantrag der FDP abzulehnen – leider, leider. Zwar soll hier Georgien ebenfalls als sicherer Herkunftsstaat mit aufgenommen werden, jedoch sind die im Änderungsantrag eingefügten Regelungen zur Aussetzung der Abschiebung bzw. zu Abschiebeverboten viel zu weit gefasst. Das wird nicht funktionieren. Außerdem zeigt der Antrag die ganze Scheinheiligkeit in dieser Debatte, weigert man sich doch, Georgien zunächst erst einmal visumspflichtig zu machen, was eine dringende und ganz naheliegende Maßnahme wäre und darüber hinaus auch nicht der Zustimmung des Bundesrats bedarf. Vielen herzlichen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr ­Herrmann, es ist gefährlich, wenn Sie den Ausdruck „Scheinheiligkeit“ hinsichtlich des Antrages der FDP verwenden. ({0}) Aber dazu werde ich später noch etwas sagen. Es ist ja manchmal gerade in diesem Hohen Hause sinnvoll, sich auch Anregungen von außen zu holen. Einen guten Anlass gab am letzten Wochenende, am Sonntag, die Friedenspreisrede der beiden Assmanns. Ein Hinweis, den wir uns alle, glaube ich, gerade in dieser Debatte zu Herzen nehmen sollten, war folgender: Die Demokratie lebt nicht vom Streit, sondern vom Argument. ({1}) Das war keineswegs eine Absage daran, zu streiten, aber ein klarer Hinweis, dass Streit ohne Argumente vielleicht nicht der richtige Weg ist und dass wir gerade in diesen Zeiten die berechtigten Diskussionen über Migration, über Abschiebungen und über sichere Herkunftsstaaten mit weniger Schaum vor dem Mund, mit gebremsten Emotionen und mit einem gebotenen Pathos der Nüchternheit im Sinne der Betroffenen führen sollten. So ist jedenfalls meine Einschätzung. ({2}) In diesem Sinne will ich auch die werten Kolleginnen und Kollegen von der FDP nicht zu lange auf die Folter spannen: ({3}) Wir werden Ihrem Gesetzentwurf heute nicht zustimmen ({4}) – das wird Sie überraschen –, obgleich wir durchaus viele Einschätzungen teilen. ({5}) Aber im Sinne der genannten Nüchternheit sehen wir es so, dass es keinen Sinn macht, bevor wir absehen können, dass es im Bundesrat entsprechende Mehrheiten gibt ({6}) – dort ist dieses Vorhaben ja schon einmal gescheitert, was offen benannt werden muss –, ({7}) diesen Gesetzentwurf jetzt einfach zu verabschieden. Zudem wissen auch Sie genau, dass es dazu ein Vorhaben der Bundesregierung gibt, dass die entsprechende Arbeit also bereits geleistet worden ist. Dies ist ein Vorhaben, das – ich muss es leider so sagen – besser ist als Ihres, weil es umfassender ist und weil es auch und gerade bei den Fragen der Ausbildung und der Arbeitsaufnahme intelligenter gestaltet ist. ({8}) Deshalb werden wir Ihnen heute nicht zustimmen können. Was ist das Ziel unseres Planes, die genannten Staaten als sichere Herkunftsstaaten auszuweisen? Ziel ist – das wurde bereits gesagt –, die Verfahren zu beschleunigen und auch die Aufenthaltsdauer derer, die keine Schutzbedürftigkeit haben – ich wiederhole das: die keine Schutzbedürftigkeit haben –, zu regeln. Das ist das Ziel. Das Ziel ist nicht, diejenigen zu bestrafen, die schutzbedürftig sind. Auch das muss an dieser Stelle deutlich gesagt werden. ({9}) Dies ist natürlich nicht der alleinige Weg; das wäre völliger Irrsinn. Es ist sinnvoll, auch in Fragen der Migration ganzheitlich zu denken. Denn wir erleben gegenwärtig, dass viele Menschen aus den Maghreb-Ländern – ich kenne zahlreiche von ihnen – faktisch keine Chance haben, hier Asyl zu finden, aber mangels Alternativen in das Nadelöhr Asylverfahren hineingeraten sind. Wir machen uns daher auf den Weg, die Einwanderungsgesetzgebung besser und klüger zu gestalten, was auch diesen Menschen viel sinnvollere Möglichkeiten gibt. ({10}) Wir werden – auch im Rahmen der Gesetzgebung, die jetzt ansteht – Wege finden, für diejenigen, die hier schon arbeiten und integriert sind, entsprechende Möglichkeiten zu eröffnen. Das gebietet nicht nur die Humanität, sondern das gebieten auch schierer Pragmatismus, Realitätssinn und echter gesunder Menschenverstand. Der Akzent liegt auf „ echter gesunder Menschenverstand“. Der gesunde Menschenverstand wird ja heutzutage in Debatten leider häufig missbraucht. Er gebietet – das wissen alle in diesem Raum –, dass wir für Menschen, die gut integriert sind, die hier arbeiten und deren Familien schon lange hier leben, Wege finden müssen, hierzubleiben. Wir alle werden gemeinsam daran arbeiten müssen. ({11}) Ziel ist es aber nicht, denjenigen, die schutzbedürftig sind, ihre Möglichkeiten zu nehmen. Ziel ist es nicht – das wäre Wahnsinn –, die Anerkennungsquote zu senken. Nein, es muss gewährleistet sein, dass in Form dieser Vermutungsregelung in jedem Einzelfall die Möglichkeit besteht, die Vermutung zu widerlegen, und dass in jedem Einzelfall die tatsächliche Schutzbedürftigkeit nachgewiesen werden kann. Es ist unsere Aufgabe, dies politisch zu gewährleisten. Das werden wir tun. ({12}) Deshalb legen wir verstärkt Wert darauf, dass die schon erwähnte besondere Rechtsberatung für besonders vulnerable und schutzbedürftige Gruppen – man kann sie auch benennen: zum Beispiel Homosexuelle, LGBT, politisch Verfolgte, Journalistinnen und Journalisten – auch im Gesetzestext ihren Niederschlag findet. ({13}) Was ist ein weiteres Ziel? Ziel ist, dass wir uns nicht im leeren Raum bewegen. Wir wollen, dass dieses Asylrecht weiter besteht und verteidigt wird. Ziel ist, dass wir dieses Land zusammenhalten. Deshalb, glaube ich, ist es für uns alle ein Auftrag, dafür zu sorgen, dass wir in diesem Land Mehrheiten dafür erhalten. Wir müssen das bestehende Asylrecht und den Schutz der Menschen, die schutzbedürftig sind, verteidigen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Menschen in diesem Land auf Kosten der Betroffenen und auf Kosten dieses Themas gegeneinander aufgehetzt werden. ({14}) Herr Lindner – ich sehe ihn heute nicht – hat ja in der Kritik der Ablehnung von reiner Gewissensethik gesprochen. ({15}) Ich finde, wir sollten nicht moralische oder ethische Überlegenheit dem anderen gegenüber für uns in Anspruch nehmen. Ich glaube, wir können, auch wenn wir befürworten, dass es sichere Herkunftsstaaten gibt, sowohl Verantwortungsethik als auch Gewissensethik für uns beanspruchen. ({16}) Aber abschließend muss ich leider auch zum AfD-Antrag sprechen. ({17}) Es gibt ja eine Geschichte, die diesem Antrag zugrunde liegt: Im März dieses Jahres hat eine Besuchergruppe der AfD den Großmufti und Assad besucht – Sie haben sich also selber einen Eindruck von diesem ja angeblich so sicheren Land verschafft –, und Sie haben in einer ersten Fassung Ihres Antrages aus dem November letzten Jahres vorgeschlagen, vorrangig arbeitsfähige Männer nach Syrien zurückzuschicken. Innerhalb von sieben Tagen haben Sie Ihre Meinung geändert. ({18}) Sie haben aber bisher nicht erklären können, warum man Männer in ein sicheres Land schicken soll, aber dann nicht alle. ({19}) Ist deren Wert, ist deren Recht weniger? Ist deren Menschenwürde geringer? ({20}) Sie konnten das nicht begründen. Das ist an Heuchelei und Zynismus kaum zu überbieten. ({21}) Aber letztlich ist das schlüssig. Denn wenn eine Partei und Fraktion offensichtlich mit so einem System wie dem Assads sympathisiert und fraternisiert, ihn freundlich besucht, ({22}) dann begreift man ein solches Land als sicher und schickt Menschen gerne dorthin zurück. ({23}) Sagen Sie das bitte auch meinem guten Freund. Zehn seiner Freunde wurden vor seinen Augen abgeschossen. Ich kann ihm ja jetzt mitteilen, dass er glücklich und zufrieden nach Syrien zurückkehren kann, wo derjenige, der seine Familie und seine Freunde umgebracht hat, nämlich Herr Assad, nach Ihrer Vorstellung seine Sicherheit gewährleistet. Unglaublich! Widerwärtig! Zynisch! ({24})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Lindh, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Kommen Sie bitte zum Ende.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. – Abschließend bitte ich Sie deshalb darum, um einmal etwas Konstruktives zu tun: Sorgen Sie dafür, dass in diesem Land tatsächlich sichere Verhältnisse einkehren! Überzeugen Sie Herrn Assad davon, dass er sich künftig nicht mehr antisemitisch äußert! Sie sind doch angeblich philosemitisch. Und als Drittes: Sorgen Sie dafür, dass er seine Schergen und sich selbst dem Internationalen Gerichtshof ausliefert und endlich aufklärt, was in den Kellern in Damaskus und anderswo an Folter und Mord tagtäglich passierte und passiert! Vielen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Stefan Ruppert, FDP. ({0})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Systematik unseres Gesetzentwurfes ist vorgestellt. Es bleibt bei einer Einzelfallprüfung, aber wir wollen die Verfahren beschleunigen. Denn in Deutschland versteht niemand, dass auf der einen Seite ein gut integrierter Arbeitnehmer, der in einem Krankenhaus Medikamente oder Pflegematerialien transportiert, oder ein Handwerker, der im Rhein-Main-Gebiet Häuser baut, abgeschoben wird, obwohl er sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist und seine Kinder in die Schule gehen, und dass wir auf der anderen Seite darüber diskutieren müssen, dass wir Sami A. – jemanden, der nach der Feststellung von Gerichten Menschen in seinem Umfeld gefährdet und eine Bedrohung für sie darstellt – gegebenenfalls zurückholen müssen. ({0}) Wer uns verweigert, heute ein Stück Ordnung in die Zuwanderung zu bringen, der verweigert dies auch den Menschen, die nicht verstehen, dass es zu einem solchen Gegensatz kommt. Der verweigert diesen Menschen, sich wieder in der Mitte der Gesellschaft politisch wohlzufühlen, stärkt die Extreme und macht sich somit aus meiner Sicht an deren Stärkung mitschuldig. ({1}) Herr Seif, ich kann Ihnen die Unruhe nehmen: Wir haben unseren Gesetzentwurf durch einen Änderungsantrag Ihrem Gesetzentwurf, dem Kabinettsentwurf, angepasst. Sie können ihm also, wenn Sie hinter der Vorlage des Kabinetts stehen, heute durchaus zustimmen. Insofern gibt es, glaube ich, eigentlich keine Ausrede dafür, warum wir keine Ordnung in die Zuwanderung bringen. Das hat nur einen Grund, den Thorsten Schäfer-Gümbel genannt hat. ({2}) Er hat nämlich offenbart, woran es liegt, dass Sie heute nicht zustimmen können: Die Große Koalition wurde von Volker Bouffier darum gebeten, den Gesetzentwurf aus Rücksichtnahme auf die Grünen nach der hessischen Landtagswahl zu besprechen. ({3}) Warum? Volker Bouffier hat 2017 im Bundesrat einer Einstufung von Tunesien als sicheres Herkunftsland nicht zugestimmt. Er hat sich enthalten. Sonst hätten wir, wenn Schwarz-Grün in Hessen zugestimmt hätte, schon Ordnung in der Einwanderungsfrage und müssten diese Themen gar nicht mehr besprechen. ({4}) Ich bewundere, dass Sie in der Situation jetzt Rücksicht auf die Grünen nehmen. Ich will Ihnen nur sagen, wozu das führt: Laut einer heute veröffentlichten Umfrage liegt Tarek Al-Wazir bei 22 Prozent, ({5}) die SPD bei 20 Prozent und Die Linke bei 8 Prozent. Wer rechnen kann – Juristen können ja schlecht rechnen, aber ich habe es mehrfach überprüft –: Das sind zusammen 50 Prozent. ({6}) Wir wissen aus der Ypsilanti-Zeit, dass die SPD teilweise gezögert hat, eine linke Regierung in Hessen zu installieren. Wir wissen aber auch, dass die Grünen keinen Moment gezögert haben, und sie werden auch jetzt keinen Moment zögern, Tarek Al-Wazir mit Linkspartei und Sozialdemokraten in Hessen zum Ministerpräsidenten zu wählen. Auf diesen Mann nehmen Sie Rücksicht. ({7}) Auf diesen Mann nimmt die Union Rücksicht. Sie glauben, Sie können den Menschen zumuten, keine Ordnung in die ungeordnete Einwanderung zu bringen. Sie werden sich umsehen und mit einem Ergebnis aufwachen, das Ihnen in keiner Weise sympathisch sein kann. ({8}) – Ich weiß, Sie erregen sich darüber. – Jetzt kann man sagen, Sie alle freuen sich natürlich auf Tarek Al-Wazir. Aber es gibt auch viele Hessen, die sagen: Liebe CDU, was habt ihr da gemacht? Ihr habt eine linke Mehrheit salonfähig gemacht, ({9}) und das wollen wir nicht. Am Ende könnte man sagen: Was ist die Wahl in einem Bundesland? Es kann auch anders ausgehen. Was erregt der Mann sich? – Am Ende ist aber das Kernargument: Wir bringen in das wichtigste Thema unserer Zeit, das alle politischen Debatten verstopft und die Menschen in Deutschland beunruhigt, aus einem parteitaktischen Kalkül keine Ordnung. Wer das macht, der stärkt die Extreme in diesem Land. Deswegen werbe ich heute um Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf. Vielen Dank. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat die Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke, das Wort. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der FDP sieht vor, die Maghreb-Staaten, also Tunesien, Algerien und Marokko, und Georgien als sichere Herkunftsstaaten einzustufen. In jedem dieser Länder gibt es derart gravierende Menschenrechtsverletzungen, dass die Einstufung als sichere Herkunftsstaaten ein einziger Hohn ist. ({0}) Das Vorhaben – das richtet sich auch an die Regierungsfraktionen – ist ein Angriff auf den humanitären Schutzgedanken des Asylrechts, den wir ganz klar zurückweisen. ({1}) Das zeigt im Übrigen schon ein Blick in die Lageberichte des Auswärtigen Amtes. Da sind wir schon bei den Peinlichkeiten des FDP-Gesetzentwurfs. Sie haben zwar einen Änderungsantrag zu Ihrem eigenen Gesetzentwurf vorgelegt, aber trotzdem zitieren Sie weiterhin aus den Lageberichten von 2016. Es ist Ihnen offensichtlich ganz egal, dass es längst neue Berichte gibt. Und – das haben wir eben auch von dem Kollegen Stefan Ruppert gehört – es geht offensichtlich gar nicht mehr um das Schicksal der Flüchtlinge, sondern nur um ganz billige Profilierung. So etwas kann man nur als schäbig bezeichnen. ({2}) Zum Kollegen Seif: In der Tat heißt es in den aktuellen Lageberichten zum Beispiel zu Marokko und Algerien – Zitat –: „Homosexuelle Handlungen sind strafbar.“ Ich finde, es ist Zynismus, von den homosexuellen Menschen in diesen Ländern zu verlangen, dass sie ihre Homosexualität verdeckt leben könnten. ({3}) Was ist das für eine Einstellung zu Menschenrechten? Da wird einem ja fast schlecht. In Marokko geraten im Übrigen auch heterosexuelle Menschen schnell in den Fokus der Polizei: „Jeder außereheliche Geschlechtsverkehr und auch Ehebruch sind strafbar.“ So viel zur Freiheit der Person. Journalisten landen im Knast, wenn sie gegen „Fragen der öffentlichen Moral verstoßen“, wenn sie den König kritisieren oder die Besatzungspolitik in der Westsahara in Frage stellen. So viel zur Pressefreiheit. Zu Algerien heißt es – Zitat –: „Missionierungen sind verboten. Die (versuchte) Konvertierung eines Muslims ist unter Strafe gestellt.“ So viel zur Religionsfreiheit. In politisch relevanten Verfahren „nimmt die Exekutive unmittelbaren Einfluss auf die Entscheidungen des Gerichts“. So viel zur Rechtsstaatlichkeit. Aus diesen Ländern berichten Menschenrechtsorganisationen regelmäßig, dass friedliche Demonstranten zusammengenknüppelt werden. Menschenrechtsverteidiger, Aktivisten und Journalisten, Homosexuelle, ethnische und religiöse Minderheiten und Kritiker des Regimes, ganz zu schweigen von außerehelichen Liebespaaren: Alle müssen mit Verfolgung und auch mit Folter rechnen, und es gibt nicht die Spur eines unabhängigen Gerichts. Wenn Sie diese Länder als sicher einstufen, dann beschneiden Sie den Schutzanspruch von Menschen, die aus offensichtlich autoritären Staaten bzw. Diktaturen kommen. Das ist meines Erachtens einfach nur widerwärtig. ({4}) Denn, meine Damen und Herren, für die Schutzsuchenden hat die Einstufung als sicheres Herkunftsland gravierende Folgen. Ihre Asylanträge gelten von Anfang an als unbegründet. Ihnen wird pauschal unterstellt – auch das hat der Kollege Seif hier sehr deutlich gemacht –, dass sie das Asylrecht missbrauchen. Sie haben damit keine Chancen mehr auf ein unvoreingenommenes Asylverfahren. ({5}) Flüchtlinge aus diesen Ländern werden dauerhaft in speziellen knastähnlichen Einrichtungen isoliert – ich sage nur AnKER-Zentren –; dort unterliegen sie der Residenzpflicht. Sie haben nur eingeschränkten Zugang zu Rechtsanwälten. Der Rechtsweg und Fristen werden verkürzt. Ihre Abschiebung ist trotz laufender Verwaltungsgerichtsverfahren möglich. Sie dürfen nicht arbeiten und keine Ausbildung beginnen. Außerdem droht ihnen eine Wiedereinreisesperre, selbst bei freiwilliger Ausreise. ({6}) Was für eine Schikane, kann ich da nur sagen. ({7}) Auf diese Weise werden Flüchtlinge nach Strich und Faden schikaniert, und das nur, weil sie von ihrem grundgesetzlich verbrieften Recht Gebrauch machen, Schutz zu beantragen. Das ist wirklich unverantwortlich. Noch unverantwortlicher ist das, was die AfD heute zur Abstimmung stellt, nämlich Flüchtlinge nach Syrien zurückzuschicken, ({8}) wo immer noch täglich Bomben fallen und in den letzten Monaten erneut Hunderttausende vor türkischen Angriffen aus Afrin geflohen sind. Ich würde ja vorschlagen, die gesamte AfD nach Syrien abzuschieben. Aber solche Gräuel kann man den Syrern nicht zumuten. ({9}) Noch ein Argument – das hier auch schon genannt wurde – zu den Anerkennungsquoten, die angeblich so niedrig seien. Die Linke erkundigt sich regelmäßig danach: Wir hatten beispielsweise im ersten Quartal 2018 für Flüchtlinge aus Marokko immerhin eine Anerkennungsquote von 10,2 Prozent. Zum Schluss möchte ich sagen: Es darf nicht sein, dass auch nur ein einziger Verfolgter zurückgeschickt wird, weil ihm unsere Asylbürokratie von vornherein mit Misstrauen und Feindseligkeit begegnet. Deswegen sagt Die Linke ganz klar: Jeder einzelne Asylantrag muss unvoreingenommen und fair geprüft werden, ohne jegliche Einschränkung, ohne böswillige Unterstellung. Deswegen lehnen wir heute den FDP-Gesetzentwurf ab; denn wir halten dies für eine erneute Einschränkung des Asylrechts. Ich danke Ihnen. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Luise Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Luise Amtsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004243, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Gäste! Mit keinem Thema innerhalb der Asylgesetzgebung wird mehr Politik betrieben als mit dem Thema sichere Herkunftsstaaten, vorzugsweise im Kontext irgendeiner Wahl, die entweder bevorsteht oder noch abgewartet werden muss. Ich empfinde das als ziemlich belastend. ({0}) Wenn man auf die Zahlen derer blickt, die aus diesen Ländern bei uns Asyl beantragt haben, dann ist der Hype um dieses Thema, Herr Seif, überhaupt nicht gerechtfertigt. Wir reden hier von 6 200 Menschen, die aus diesen vier Ländern in diesem Jahr bei uns Asyl beantragt haben. Also tun Sie doch bitte nicht so, als wenn Sie mit diesem Thema in irgendeiner Weise auch nur einen Bruchteil der Herausforderungen in unserer Asylpolitik lösen würden. ({1}) Wenn es Ihnen um schnellere Verfahren geht, warum wenden Sie sich dann eigentlich nicht dem wirklichen Schwachpunkt unserer Asylpolitik zu, nämlich dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge? Statt hier die notwendigen Verbesserungen – die Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter, das gesamte Thema Dolmetscher, Asylverfahrensberatung, Fachaufsicht durch das Innenministerium, das Vermeiden eines Antragsstaus – zu diskutieren und zügig dazu beizutragen, dass Gerichte entlastet werden und das BAMF sauber arbeiten kann, vertagt die FDP dieses Thema mit einer Forderung nach einem Untersuchungsausschuss auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Weder Union noch die Koalition hat bisher einen einzigen Reformvorschlag vorgelegt, obwohl hier das ganze Haus förmlich „Skandal!“ gerufen hat. Ich halte das für wirklich unwürdig, und ich verstehe es auch nicht. ({2}) Außerdem kann man, wenn man die von Ihnen gewünschte zügige Bearbeitung von Anträgen anstreben und erreichen möchte – das ist im Grundsatz erst einmal gut –, die Verfahren in Bezug auf Asylsuchende aus diesen Ländern durch entsprechende Vorgaben einfach priorisieren. Wissen Sie was? Ich halte es auch für vollkommen okay und legitim, die Menschen in ihrem Heimatland über das zu beraten, was sie hier erwartet, und darüber, unter welchen Umständen sie Asyl beantragen können, oder denjenigen, die vielleicht existenzieller Armut zu entfliehen versuchen, Perspektiven im Heimatland zu eröffnen. Ja, unbedingt! All das sind sinnvolle Maßnahmen. Aber dafür muss man nicht gleich das individuelle Grundrecht auf Asyl fundamental einschränken und – ich sage das, Herr Seif, um Ihnen auch einmal eine andere Argumentationsperspektive zu bieten – einen außenpolitischen Scherbenhaufen verursachen. ({3}) – Ich gehe darauf gleich noch einmal ein. Was in dieser Debatte völlig verloren geht, ist der Aspekt, dass die Einstufung eines Staates als sicher Ergebnis eines sehr aufwendigen rechtstaatlichen Verfahrens sein muss und von menschenrechtsrelevanten Faktoren abhängt. Das sage nicht ich, das sagt das Bundesverfassungsgericht, das uns zu einer gewissen Sorgfalt und zur Berücksichtigung bestimmter relevanter Menschenrechtsquellen verpflichtet. Liebe FDP, all diesem kommen Sie überhaupt nicht nach, allein schon deswegen, weil sich Ihr Gesetzentwurf auf völlig veraltete Quellen stützt. Das haben wir Ihnen bereits im Februar gesagt; geändert haben Sie daran nichts. Ich finde das peinlich. ({4}) Was antworten Sie eigentlich dem Bundesverfassungsgericht, wenn es kritisch anmerkt, dass im ganzen Land Verfolgungsfreiheit herrschen muss, bevor man ein Land einstuft? Ist es für Sie Verfolgungsfreiheit, wenn Homosexuelle in Tunesien bis zu drei Jahre in Haft genommen werden können? Oder argumentieren Sie da eben auch wie die Bundesregierung, die sagt, man könne ja homosexuell sein, aber man solle es bitte nicht ausleben, denn dann passiere einem auch nichts? Frei nach dem Motto: Na klar, wenn man sich versteckt oder seine Orientierung negiert, dann passiert auch nichts und das Problem ist gelöst. ({5}) Mit einer solchen Argumentation machen Sie sich gemein, wenn Sie den Gesetzentwurf, so wie Sie ihn hier vorgelegt haben, aufrechterhalten. ({6}) Weil ich gerade bei der FDP bin – es ist ja Ihr Gesetzentwurf, über den wir heute hier diskutieren; irgendwann kommt ja dann auch noch einer von der Bundesregierung –, sei gesagt: Sie bringen sich auch inhaltlich mit diesem Anliegen in einen gefährlichen Widerspruch zu Ihrer eigenen Außenpolitik. Wir alle wissen doch, dass die Einstufung nicht nur Einfluss auf die Schutzquoten oder den Umgang mit hier Ankommenden hat, sondern dass es immer auch ein außenpolitisches Signal ist, das wir damit geben. Das können und werden Sie, so hoffe ich zumindest, nicht negieren. ({7}) Wie gehen Sie zum Beispiel mit dem Konflikt um die Westsahara um? Wenn Sie Marokko jetzt als sicher einstufen, muss ich doch davon ausgehen, dass Sie die Annexion der Westsahara durch Marokko hinnehmen, entgegen der Auffassung der Vereinten Nationen. Oder wie verhält sich das? Ich frage dies, weil Sie das alles in Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht preisgeben. Wo sind Ihre Außenpolitiker, die Antworten dazu geben könnten? ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Einstufung eines Landes kann weitere Maßnahmen beim Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und bei der Stärkung der Zivilgesellschaft vor Ort behindern, zum einen, weil man Regierungen natürlich den Eindruck vermittelt, es bestünden keine gewichtigen Defizite mehr, die behoben werden müssten. Zum anderen – das erleben wir ja auch täglich – ist die Einstufung für die Bundesregierung immer wieder ein probates Mittel, weitere Bemühungen und Bedingungen für diese Länder hintanzustellen. Das werfe ich Ihnen auch vor, liebe FDP. Dass Sie hier einen Vorschlag zur Einstufung machen und diese noch nicht einmal an Bedingungen koppeln – man kann ja zu dem Thema stehen, wie man möchte; es hat ja alles seine Berechtigung –, das kommt schon einer außenpolitischen Kapitulation gleich. ({9}) Wenn Sie auch nur einen Funken außenpolitischen Gestaltungsanspruchs hätten, dann würden Sie beispielsweise die tunesische Zivilgesellschaft dabei unterstützen, dass endlich ein Verfassungsgericht eingerichtet wird, bei dem die Menschen ihre Rechte auch einklagen können, wenigstens das. Diese innenpolitische Debatte – das ist noch ein weiteres Argument, jetzt einmal abgesehen von der Gesamtgemengelage – ist auch komplett ungeeignet dafür – zumindest in der Form, wie wir sie hier führen –, die positiven Entwicklungen in einem Land wie Tunesien oder Georgien auch einmal herauszuarbeiten. Das können wir angesichts dieses diffusen Sammelsuriums an sicheren Herkunftsstaaten gar nicht, die keinen Spielregeln mehr folgen. Sie machen es unmöglich, genau hinzuschauen, was die in Rede stehenden Länder tatsächlich an Unterstützung und Maßnahmen brauchen, und das ist falsch. ({10}) In meinen Augen ist die Innenpolitik der schlechteste Berater für die Außenpolitik; das erleben wir in der Asylpolitik jeden Tag. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP und vor allen Dingen auch Herr Ruppert, ich kann diese alte Platte von Christian Lindner, die Sie heute fortgeführt haben, wirklich nicht mehr hören. Ja, wir haben das Anliegen im Bundesrat blockiert. Aber wir haben auch Begründungen geliefert. ({11}) Die formulierten Fragen, die ich heute zum Beispiel zur Westsahara aufgeworfen habe, beantworten Sie nicht. Also haben Sie auch nicht das Recht, uns Ideologie oder Fundamentalopposition vorzuwerfen. ({12}) Wir haben das begründet. – Ich weiß, dass Sie sich darüber aufregen; das ist vollkommen klar; denn offensichtlich habe ich hier einen wunden Punkt angesprochen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Amtsberg, achten Sie bitte darauf, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist?

Luise Amtsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004243, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Ende, Herr Präsident. Vielen Dank für den Hinweis. Wir glauben, dass dieses Mittel außenpolitisch großen Schaden anrichten kann. Es wird auf jeden Fall nicht dazu beitragen, die Ursachen, aufgrund derer Menschen ihre Heimat verlassen, auch nur im Ansatz zu adressieren. Deswegen ist dieses Mittel völlig ungeeignet und absolut populistisch. Vielen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal in einer kontroversen Debatte über dieses Thema und über die Frage, ob die Maghreb-Staaten zu Recht als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden können. Schaut man sich die tatsächliche Situation in diesen Ländern an, so sieht man, dass die dagegen vorgetragenen Bedenken letztlich unbegründet sind. Die Einstufung als sichere Herkunftsstaaten ist verantwortbar; sie ist sogar geboten, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Aus diesem Grund hat ja auch das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zur Einstufung Georgiens, Algeriens, Marokkos und Tunesiens als sichere Herkunftsstaaten beschlossen, und wir werden diesen Gesetzentwurf in nächster Zeit auch hier in diesem Hohen Hause beraten. Meines Erachtens hat Kollege Seif überzeugend deutlich gemacht, warum wir hier heute aus inhaltlichen Gründen dem Gesetzentwurf der FDP nicht zustimmen werden. Es wird in Kürze ein Gesetzentwurf der Bundesregierung hier zu debattieren sein, und dem, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, können Sie ja dann auch aus vollem Herzen zustimmen, sich also anders verhalten als beim inhaltsgleichen Gesetzentwurf der CDU in Rheinland-Pfalz, den Sie abgelehnt haben. Also erwecken Sie hier nicht den Eindruck, als wären Sie in dieser Frage besonders konsequent. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Anerkennungsquoten Schutzsuchender aus den Maghreb-Staaten sprechen in der Tat eine klare Sprache. Sie liegen im unteren einstelligen Bereich, und mehrere unserer europäischen Nachbarn sind uns deswegen bei der Einstufung als sicheres Herkunftsland voraus; sie haben diese Einstufung bereits vorgenommen. Es liegt ja im Übrigen auch nicht zuletzt im Interesse dieser Länder selbst, als sicherer Herkunftsstaat anerkannt zu werden; denn wir setzen damit das Signal, dass wir ihnen eine weiterhin positive Entwicklung zutrauen und sie auch bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise nicht als Risikofaktoren, sondern eben als unsere Partner sehen. Natürlich ist die wichtigste Konsequenz der Einstufung als sichere Herkunftsstaaten die damit einhergehende Entlastung von Ländern und Kommunen sowie eine spürbare Beschleunigung der Asylverfahren für Antragsteller aus den betreffenden Ländern. In diesem Jahr müssen das BAMF und die Verwaltungsgerichte fast 20 000 Asylanträge von Menschen aus den Maghreb-Ländern bearbeiten, obwohl absehbar ist, dass sie mangels Schutzbedürftigkeit fast alle abgelehnt werden. Die Folge ist, dass sich die Asylverfahren von Menschen mit positiver Bleibeperspektive hierdurch – leider – unnötig in die Länge ziehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wirft man aus außenpolitischer Sicht einen Blick auf die Lage in den Maghreb-Staaten, so lassen sich eindeutig bei allen bestehenden Problemen positive Tendenzen verzeichnen. Im Übrigen führt der Status als sicheres Herkunftsland – darauf ist auch von unserem Koalitionspartner in der Debatte zu Recht hingewiesen worden – nicht dazu, dass Asylanträge von Angehörigen Algeriens, Marokkos oder Tunesiens nicht mehr individuell geprüft werden. Nein, auch weiterhin wird in jedem Asylverfahren eine persönliche Anhörung durchgeführt, in der der Antragsteller seine Situation im Herkunftsstaat vortragen und gegebenenfalls seinen Anspruch auf einen Schutzstatus in Deutschland belegen kann. Es wird lediglich kraft Gesetzes vermutet, dass ein Antragsteller aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird. Dies ist eine widerlegbare Vermutung, die in einem ordentlichen, rechtsstaatlichen Verfahren widerlegt werden kann. Deswegen ist es richtig und notwendig, diese Einstufung der Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsstaaten vorzunehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das ist richtig, notwendig, und das werden wir weiter politisch vorantreiben. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich mit einer persönlichen Bemerkung schließen. Für jeden, der von diesem Pult spricht, ist das irgendwann die letzte Rede. Man weiß das vorher nicht immer ganz genau. Glauben heißt ja nicht wissen. Ich glaube, dass für mich heute dieser Tag meiner letzten Rede gekommen ist. Deswegen ist es für mich Zeit, vor allem Danke zu sagen für politische Begleitung in Freundschaft und Gegnerschaft in 20 Jahren hier im Deutschen Bundestag. Ich bedanke mich bei denen, die mich heute begleiten, die es in der Vergangenheit getan haben. Ich bedanke mich vor allem bei meinem leider viel zu früh verstorbenen Freund Peter Hintze. Ich bedanke mich bei meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in dieser Zeit, stellvertretend bei meinen Büroleitern, Dr. Stefan Raueiser, Bernd Meyer, Dr. Arnd Busche und Martin Hannig für die Begleitung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Schalke-Arena, die in meiner Heimat liegt, wird noch nach dem Vereinslied, als Letztes vor dem Anpfiff, immer das Steigerlied gesungen, mehrere Strophen. Die letzte Strophe, die da gesungen wird, die wird, glaube ich, nur auf Schalke gesungen. Jedenfalls im offiziellen Liederbuch der IG BCE steht sie nicht drin. ({3}) – Ich singe jetzt nicht. Ich habe ein warnendes Beispiel vor Augen. ({4}) Diese Strophe, die, wie ich glaube, nur auf Schalke gesungen wird, heißt: Die letzte Schicht. ({5}) Darin heißt es: „... Sankt Barbara hält für uns die Wacht, passt schön auf uns auf.“ In diesem Sinne: Passt schön auf euch auf. Glück auf und Gottes Segen! ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Brauksiepe, das war zwar noch ein bisschen früh, aber nachdem Sie sich hier mit der letzten Strophe des Steigerliedes verabschiedet haben, möchte ich Ihnen im Namen des ganzen Hauses den Dank für die gute Zusammenarbeit mit Ihnen und die guten Wünsche für Ihren weiteren Lebensweg übermitteln. ({0}) Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Norbert Kleinwächter, AfD-Fraktion. ({1})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die FDP, die SPD, Die Linke haben viel über Abschiebung und Rückführung gesprochen. Ich möchte an dieser Stelle über Diplomatie sprechen, ({0}) über freiwillige Rückkehr sprechen, und, ja, ich möchte über das Thema Syrien sprechen. ({1}) Ungefähr 700 000 Syrer leben jetzt in Deutschland, und viele wollen einfach nur nach Hause. In diesem Zusammenhang würde ich gerne mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident, ein kurzes Zitat aus der „Welt“ bringen, aus einem Artikel, veröffentlicht am 7. Februar 2018, der mich sehr berührt hat: Ammar Maarawi riskierte sein Leben, um dem Schrecken in seiner Heimat zu entkommen … Das war 2016. Heute ist der 36-Jährige wieder in seiner Heimatstadt Aleppo. Deprimiert und heimwehkrank kehrte er im vergangenen Sommer zurück … Er genießt es, wieder daheim zu sein, in seinem Reifenreparaturbetrieb mitten in Aleppo. In der Stadt herrscht weitgehend wieder Frieden, nachdem die Regierungstruppen im Dezember 2016 die Rebellen dort besiegt hatten. In Deutschland erhielt er „Essen, Kleidung und Geld, aber er fühlte sich einsam“. Es sei „langweilig“ gewesen, „du leidest unter psychischem Druck, Depression – und es ist kalt“, schildert Maarawi. Im Juli 2017 kehrte er in die Heimat zurück. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Ammar ­Maarawi ist nicht der Einzige, der einfach nur zurückwill. Laut Angaben des UNHCR kehrten in der ersten Hälfte des Jahres 2018  750 000 syrische Binnenflüchtlinge in ihre Heimatstädte zurück, 13 000 Flüchtlinge kamen aus dem Ausland zurück nach Syrien. Der syrische Außenminister hat eine sichere Rückkehr garantiert. Russland und Syrien haben Wiederaufnahmekapazitäten geschaffen. Das Land befindet sich im Wiederaufbau. Alles steht bereit. Jetzt müssen wir handeln, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Andrej Mahecic, Sprecher des UNHCR, stellt fest, dass jeder Flüchtling das Recht auf Rückkehr hat, diese Rückkehr sollte aber sicher, würdevoll und nachhaltig sein. Genau hier wollen wir helfen mit unserem Sechs-Punkte-Plan zur sicheren Rückkehr freiwilliger Rückkehrer nach Syrien, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({3}) Wir wollen ein Abkommen mit der Regierung Syriens, das vor allem sicherstellt, dass Rückkehrer unbeschadet wieder nach Syrien einreisen können und in die Gebiete aufgenommen werden, die befriedet sind – und Sie wissen: das ist mittlerweile fast das ganze Land –, dass die Rückkehrer wegen Aktivitäten gegen die Regierung vor der Flucht und wegen Straftaten wie den Verstoß gegen die Pflicht zum Militärdienst nicht verfolgt werden – eine wesentliche Sorge, die ganz viele, die geflohen sind, haben – und dass Deutschland oder die UN dies wirksam überprüfen können. ({4}) Wir wollen Sicherheit für die Menschen, die freiwillig zurückwollen. Das ist im Interesse Deutschlands, das ist im Interesse der Menschen. Ein Wort zu Assad. Man kann ihn mögen oder nicht. ({5}) Die Herrschaft Assads ist Fakt. – Ja, schreien Sie. Die Herrschaft Assads ist Fakt, damit müssen Sie umgehen, ({6}) und irgendwann müssen Sie in diesem Hause die Rückkehr von Flüchtlingen thematisieren. Es ist besser, Flüchtlinge kehren sicher zurück als unsicher, und es ist gut, wenn das in einem Abkommen geschieht, damit wir kontrollieren können, wie es geschieht. ({7}) Noch ein Hinweis an die Große Koalition, bevor Sie sich zu sehr echauffieren: Sparen Sie sich bitte Ihre Moralkeule. Sie machen Deals mit Despoten wie Erdogan und mit Ländern wie Saudi-Arabien. Selbst Assad war Ihnen gut genug für ein Rückführungsabkommen, also eine einfache Abschiebemöglichkeit, ({8}) geschlossen unter der ersten Regierung Merkel, Große Koalition: … in dem Wunsch nach Wahrung und Stärkung des Geistes der Solidarität und Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten … Geschehen zu Berlin am 14. Juli 2008 … Für die Regierung der Bundesrepublik Deutschland Georg Witschel Schäuble Meine sehr geehrten Damen und Herren, heucheln Sie nicht, tun Sie was für die Menschen. Tun Sie was für die freiwillige Rückkehr von syrischen Flüchtlingen hier in Deutschland. ({9}) Diesen Ansatz von Ehrlichkeit, diesen Ansatz von Menschlichkeit sind Sie den Bürgern in diesem Land und den Flüchtlingen schuldig. Herzlichen Dank. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächste Rednerin ist die Abgeordnete Gabriela Heinrich für die Fraktion der SPD. ({0})

Gabriela Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004296, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Fraktion lehnt den Gesetzentwurf der FDP ab. Über das Thema lässt sich trefflich streiten, und wir haben hier oft und lange gestritten. Letztlich blieben aber alle Debatten im Bundestag ohne Ergebnis, da der Bundesrat eben nicht zugestimmt hat. An der Situation hat sich aktuell nichts geändert, außer dass jetzt neben den Maghreb-Staaten auch Georgien zu einem sicheren Herkunftsstaat erklärt werden soll. Im Jahr 2017 hat das BAMF über 15 000 Asylanträge von Staatsangehörigen aus Georgien, Algerien, Marokko und Tunesien entschieden. Der Kollege Seif hat bereits darauf hingewiesen – ich möchte das bestätigen –: Die Anerkennungsquote für Georgien lag bei 0,6 Prozent, für Algerien bei 2 Prozent, für Marokko bei 4,1 Prozent und für Tunesien bei 2,7 Prozent. Das heißt, dass 96 bis 99 Prozent aller Asylanträge aus diesen Ländern erfolglos bleiben. Auch die Gerichte kommen – auch wenn hier anderes behauptet wird – zu keinem anderen Ergebnis. Im ersten Quartal 2018 gab es 1 261 Überprüfungen. Nur in 28 Fällen, also in 2 Prozent der Fälle, wurde ein Schutzstatus gewährt. In 16 Fällen handelte es sich immerhin um ein Abschiebeverbot, das aber auch gesundheitliche Gründe haben kann. Eine Anerkennung als Asylberechtigter gab es in keinem Fall. Die Zahlen können schon nahelegen, dass diese Länder als sichere Herkunftsstaaten einzustufen sind. Von Menschenrechtsorganisationen wird das Konzept dennoch abgelehnt – mit der Begründung, dass die Prüfung, ob ein Asyl- oder Schutzgrund vorliege, in der Form nicht ausreiche, zum Beispiel nicht bei Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung. Wir haben heute mehrfach darüber gesprochen. Fakt ist: Die Schutzanfrage muss tatsächlich schnell und deutlich glaubhaft belegt werden. Für uns als SPD ist dabei entscheidend, dass Schutzbedürftige Schutz bekommen, egal aus welchem Land sie stammen, und zwar auch dann, wenn es nur sehr wenige sind. ({0}) Die Einstufung als sicheres Herkunftsland bedeutet eben nicht, wie behauptet, dass Schutzsuchende keine Chance haben, anerkannt zu werden. Die Entwicklung der Schutzquoten für die Balkanstaaten zeigt das. Nach der Einstufung als sichere Herkunftsstaaten ist die Zahl der Asylanträge aus diesen Ländern zwar sehr deutlich zurückgegangen; die Schutzquote bei denjenigen, die einen Asylantrag gestellt haben, ist aber nicht gesunken, sondern gestiegen. ({1}) Das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten soll die Verfahren vereinfachen. Es soll aber natürlich auch das Signal aussenden, dass es sinnlos ist, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen, wenn man in der Heimat nicht verfolgt wird. Denn wir dürfen uns doch nichts vormachen: Die Mehrheit der Antragsteller aus den Maghreb-Staaten oder Georgien kommt zu uns, weil es in ihren Ländern zu wenige Jobs gibt. Auch für gut ausgebildete junge Menschen gibt es dort zu wenige Jobs. Die SPD will das Recht auf Asyl und die Erwerbsmigration klar trennen und setzt deshalb auf das Fachkräfte-Zuwanderungsgesetz. ({2}) Wir wollen, dass sich Menschen in Zukunft legal um Arbeit in Deutschland bewerben können und nicht weiter auf die falschen Versprechungen der Schlepper hereinfallen. Wir wollen aber nicht nur ein Einwanderungsgesetz. Wir wollen auch schnellere, aber gründliche Asylverfahren. Sie müssen außerdem fair sein. Es liegt ein Vorschlag auf dem Tisch, der darauf zielt, dass bei der Diskussion mit dem Bundesrat weiterhelfen könnte, den identifizierten Gruppen aus sicheren Herkunftsländern einen Rechtsbeistand beizugeben. Das gilt zum Beispiel für Homosexuelle, aber nicht nur für sie. Ich meine, dass weitere Überlegungen in diese Richtung vorgenommen werden sollten, um zu einem vernünftigen Kompromiss zu kommen, bevor wir uns hier weiter die immer gleichen Argumente an den Kopf werfen. Die Evaluation des Pilotprojekts Asylverfahrensberatung und auch die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen: Begleitende Beratung kann dabei helfen, dass schon bei der Anhörung alle Fakten auf den Tisch kommen und die Verfahren deutlich effizienter werden. Wir haben die unabhängige Verfahrensberatung im Koalitionsvertrag beschlossen. Sie ist nach meiner Überzeugung ein Weg, um Schutzsuchenden gerecht zu werden – auch denen aus sicheren Herkunftsländern. ({3}) Zum Schluss: Wie eingangs erwähnt, lässt sich über sichere Herkunftsstaaten oder über den Gesetzentwurf der FDP wenigstens streiten, nicht aber über den AfD-Antrag, um den es heute ja auch geht. Herr Kleinwächter, Sie haben zwar sehr rührend beschrieben, wie sehr ein Rückkehrer sich wünscht, nach Hause zu kommen. Das stimmt wohl. Aber nein, wir werden mit einem Diktator, der Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung einsetzt, nicht über die Rückführung von Flüchtlingen sprechen. ({4}) Meine Damen und Herren, wer die Jahre zwischen 2008 und 2011 bis 2018 an dieser Stelle komplett ausblendet, darf uns und der Koalition ganz sicher nicht vorwerfen, dass wir hier nicht redlich handeln. ({5}) Bei den Syrerinnen und Syrern in Deutschland handelt es sich weit mehrheitlich um Menschen, die in Deutschland ein Recht auf Schutz haben. Es wird diejenigen geben, die tatsächlich nach Syrien zurückkehren, wenn dort Frieden herrscht. Andere, die hier neu Fuß gefasst haben, werden bleiben. Das ist auch richtig so. Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Für die Fraktion der FDP spricht jetzt die Abgeordnete Linda Teuteberg. ({0})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben heute wieder eine verzerrte Debatte. Den Beitrag der AfD kann man auch mit den Worten zusammenfassen: Ordentliche sachliche Arbeit an gesetzgeberischen Verbesserungen bringt überhaupt nichts. Was von Grünen und Linken kommt, läuft auf den Vorwurf hinaus, es gehe hier um eine inhumane Infragestellung des individuellen Asylgrundrechts. – Beides ist falsch. ({0}) Es hilft nichts, erst einmal etwas zu unterstellen, um sich dann daran abzuarbeiten. Das ist ein Unernst, der in krassem Widerspruch zu dem in dieser Situation notwendigen Ernst steht. Einer der großen Schätze dieser Bundesrepublik ist das vergleichsweise hohe Vertrauen in das Funktionieren ihrer Institutionen. Dieses Vertrauen wird hier leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Es geht in der Demokratie – da hat Herr Kollege Lindh recht – um Argumente, aber auch um die Redlichkeit der Argumente. Diese Redlichkeit vermisse ich bei den Kollegen von den Grünen. ({1}) Sie stellen in dieser Debatte nämlich immer wieder in den Raum, es werde allein an die Anerkennungsquote angeknüpft, und sagen auf dieser Basis, das sei alles nicht in Ordnung. Die Anerkennungsquote ist selbstverständlich ein wichtiges Indiz. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht festgehalten. Hinzu müssen entsprechende Lageberichte und deren angemessene Beurteilung kommen. Wenn Sie von den Grünen dem Konzept der sicheren Herkunftsstaaten aber – Herr Habeck hat es ja sogar einmal wörtlich gesagt – das „Stigma der Willkür“ verpassen, arbeiten Sie aus Ihrer Richtung ähnlich wie manche von rechts und suggerieren, es gehe an unseren Behörden und Gerichten willkürlich zu. ({2}) Selbstverständlich ist eine niedrige Anerkennungsquote ein wertvolles Indiz. ({3}) Zudem ist das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten, das Sie immer wieder infrage stellen, auch im europäischen Unionsrecht ein anerkanntes Instrument. Deshalb kommt das, was Sie suggerieren, einem ebenso subtilen wie dreisten Misstrauensvotum gegen unseren Rechtsstaat und gegen das Unionsrecht gleich. ({4}) Es ist schlicht und einfach nicht zu begreifen, weshalb Sie sich hier querstellen und dem sinnvollen Anliegen verweigern, in offensichtlich unbegründeten Fällen die Verfahren zu beschleunigen. Darum geht es bei diesem Ringen um die sicheren Herkunftsstaaten. Eine humanitäre Heldentat ist das nicht. Wer sich hartnäckig verweigert – was er mit hehren Absichten begründen mag –, haftet dann auch für die politischen Folgen jener Zustände, über die großer Unmut herrscht. ({5}) Ich erinnere Sie einmal an das, was Frau Göring-­Eckardt gestern mit Blick auf die Regierungserklärung sagte: „Tun Sie endlich, was zu tun ist …“ Liebe Kollegin Amtsberg, da sollte man das eine tun und das andere nicht lassen. An vielen Stellen müssen wir arbeiten – auch beim BAMF. Das werden wir morgen debattieren. ({6}) Aber ich appelliere an Sie: Tun Sie auch endlich, was zu tun ist. An die Kollegen von Union und SPD appelliere ich: Nehmen Sie die Kollegen von den Grünen in die vielbeschworene Verantwortung, anstatt ihnen Beihilfe zu taktischen Spielchen vor Landtagswahlen zu leisten. ({7}) Machen Sie endlich Ernst damit, Zuwanderung rechtsstaatlich zu steuern. Vielen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Michael Kuffer für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich ja darüber, dass Sie von der FDP mit Ihrem Antrag immerhin zum Ausdruck bringen, dass Sie uns in unserem Vorhaben – das wir, wie Sie wissen, seit Monaten und Jahren konsequent verfolgen – zumindest inhaltlich unterstützen. ({0}) Ansonsten muss ich Ihnen sagen – bevor die Heiterkeit zu groß wird –, dass das Vorgehen, das Sie heute an den Tag legen, mit Politik nicht das Geringste zu tun hat. Das ist nicht einmal Schaufensterpolitik. Vielmehr ist das, was Sie hier tun, ein Grund für Politikverdrossenheit. Sie fördern die Verdrossenheit der Menschen gegenüber der Politik, ({1}) indem Sie einfach nur ein krudes Schauspiel aufführen. ({2}) Sie wissen genau, was seit jeher unsere Politik ist. Sie wissen genau, dass wir die Einstufung von Algerien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten seit Jahren mit Ambition verfolgen. ({3}) Sie wissen, dass unser Vorstoß dazu 2016 am Widerstand der Grünen im Bundesrat gescheitert ist. Sie wissen, dass wir in dieser Wahlperiode von Beginn an einen neuen Anlauf genommen haben, dass wir im Koalitionsvertrag eine Vereinbarung getroffen haben und auch einen deutlichen Schritt weitergegangen sind als Sie im Übrigen, ({4}) indem wir gesagt haben: Alle Staaten, deren Anerkennungsquote regelmäßig unter 5 Prozent liegt, beziehen wir in die Liste der sicheren Herkunftsstaaten ein. ({5}) Sie wissen auch, dass wir Georgien aufgenommen haben. Das ist übrigens etwas, was in der ursprünglichen Fassung Ihres Gesetzentwurfes – da haben Sie falsch abgeschrieben – auch nicht enthalten ist. Sie wissen, dass wir jetzt dieses Vorhaben verfolgen. Ich schließe an das an, was der Kollege Seif gesagt hat: Wir müssen es nun so machen. – Das ist der Unterschied zu Ihnen. Sie müssen im Grunde gar nichts machen, was am Ende zu irgendeinem Erfolg führt, weil Sie dafür nun mal keine Verantwortung tragen. Wir haben sie, und wir müssen dafür sorgen, dass die Dinge am Ende auch in der Praxis umgesetzt werden können. Dazu brauchen wir die Zustimmung des Bundesrates. ({6}) Wir können uns nun mal nicht von der Frage frei machen, wie wir diese Zustimmung im Bundesrat erreichen. Darum geht es und um nichts anderes. ({7}) Jetzt haben Kolleginnen und Kollegen von Ihnen aus dem Innenausschuss letzte Woche ein Gerücht in die Welt gesetzt. Ich bin mehrfach von eigenen Kollegen darauf angesprochen worden, die mich aufgeregt angerufen und gesagt haben: Es wird behauptet, die CDU/CSU sei gegen die Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten. ({8}) Genau dieses Märchen setzen Sie in die Welt. Und ich weiß auch jetzt schon, was Sie heute nach dieser Sitzung wieder verkünden. Sie werden dann in die Welt hinausblasen: CDU und CSU sind gegen die Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten, ({9}) obwohl Sie wissen, dass das Gegenteil der Fall ist. Und das meine ich mit dem Schauspiel, was Sie hier aufführen. ({10}) Die AfD wird das Gleiche machen. Die wird es noch weiter überhöhen, wie immer. Überlegen Sie sich mal, mit wem Sie sich da gemeinmachen, liebe Freunde von der FDP. ({11}) Übrigens ist das dauernd so: Sie blinken in Richtung Law and Order, und wenn es ernst wird, dann biegen Sie links ab. ({12}) Wenn in München die Linken Proteststürme gegen den Masterplan Asyl von CDU/CSU und gegen das neue Polizeiaufgabengesetz auf die Straße bringen, dann seid ihr immer die, die am Wegesrand dabeistehen und bei diesem Protest mit applaudieren. Ihr habt euch mit eingereiht, indem ihr das gemacht habt. Ich habe Wortmeldungen einzelner Kollegen – zahlreicher Kollegen –, die alle in dieselbe Kerbe hauen. Und hier stellt ihr euch hin und macht einen auf Law and Order. Das ist genau euer Problem. ({13}) Wenn wir solche Vorstöße machen, erklären Kollegen von Ihnen wie der Daniel Föst, die CSU gefährde die Zukunft unseres Landes. ({14}) Ihre ehemalige Justizministerin sagt zu unseren Vorstößen: „Komplett daneben und unerträglich“. Solche Wortmeldungen kommen dann von euch. Unter anderem wegen solcher Tricks – das sage ich Ihnen auch – hat die CSU am Wochenende bei der Landtagswahl in Bayern 180 000 Stimmen an die Grünen und 180 000 Stimmen an die AfD verloren. ({15}) Sie hätten sich bemühen können, mit einer klaren Haltung, auf die ich warte, seit Sie letztes Jahr hier wieder in den Deutschen Bundestag eingezogen sind, diese Stimmen für die FDP zu gewinnen. Dann würden Sie in Bayern zumindest mitregieren können und könnten das, was Sie hier verkünden, in die Tat umsetzen. ({16}) Stattdessen sind Sie mit Ihrem Zickzackkurs gerade mal bei 5,1 oder 5,0 und irgendwas Prozent gelandet. Wenn jetzt die Streiterei Ihrer Kollegen in Niederbayern dazu führt, dass Sie die Niederbayern-Stimmen verlieren, fliegen Sie vielleicht noch aus dem Landtag. Überlegen Sie sich mal, ob es nicht langsam mal an der Zeit wäre, eine Haltung zu haben und diese auch durchzuhalten. Sie können nicht dauernd auf einer Seite blinken und in die andere Richtung abbiegen, wenn es nachher darauf ankommt. Vielen Dank. ({17})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Bevor wir in der Debatte fortfahren, möchte ich darum bitten, dass wir den Geräuschpegel etwas absenken. Es kommen jetzt viele Kollege ins Plenum mit Blick auf die nahende namentliche Abstimmung. Vielleicht hilft es auch, wenn alle, die hinten nur einen Stehplatz haben, sich einen Sitzplatz suchen. Wir haben noch einen Redner in dieser Debatte. Das ist der Kollege Hans-Jürgen Irmer für die Fraktion der CDU/CSU, der heute seine erste Rede im Deutschen Bundestag hält. ({0})

Hans Jürgen Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hochverehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Jahre 1993 hat das Hohe Haus einen Asylkompromiss beschlossen mit den Stimmen der Christdemokraten, der FDP und großen Teilen der SPD mit dem Ziel, die Möglichkeit zu schaffen, Asylbewerber aus sicheren Herkunftsländern ausweisen zu können. Dies war ein guter Beschluss. ({0}) Damals war Helmut Kohl Bundeskanzler, und wir hatten damals 400 000 Asylbewerber im Jahre 1993. Helmut Kohl hat zu Recht gesagt: Wir können auf Dauer nicht akzeptieren, dass jedes Jahr 400 000 Menschen kommen. Deshalb müssen wir etwas ändern, sonst haben wir einen Staatsnotstand. ({1}) Deshalb hat der Deutsche Bundestag dieses Gesetz zu Recht beschlossen, und es hat funktioniert. Ich bin sehr froh darüber, dass wir heute deutlich andere Zahlen haben als noch vor zwei, drei Jahren, und die Tendenz ist positiv. Der Beschluss wirkt. Wir können das am Beispiel der Balkanstaaten sehen. Es ist keine nennenswerte Zuwanderung aus den Balkanstaaten mehr zu erkennen, und zwar deshalb, weil wir diesen Beschluss gefasst haben. ({2}) Deshalb müssen wir aus meiner Sicht auch weitere Staaten entsprechend als sichere Herkunftsstaaten ausweisen. Meine Damen und Herren, wenn Sie alle, gerade auf der linken Seite, wollen, dass es dauerhaft eine Akzeptanz des Grundrechts auf Asyl gibt, dann müssen wir alles, aber auch alles daransetzen, dass der Missbrauch ausgeschlossen wird. Deshalb bedauere ich sehr, dass die Grünen aus ideologischen Gründen – bisher zumindest – nicht bereit waren, einer entsprechenden Änderung zuzustimmen. Ich zitiere nur wenige Sätze aus der „Welt am Sonntag“: „Grüner Mehltau lehnt die Hilfe für wirklich Verfolgte ab.“ – Und wörtlich – Zitat –: Es geht … bei den „sicheren Herkunftsstaaten“ – so der Kommentator – auch nicht darum, Demokratie-Plaketten zu verteilen. Es geht um realistische Asylpolitik, durch die denen geholfen werden kann, die Hilfe brauchen. Die meisten, die von Marokko nach Europa flüchten, sind nicht verfolgt, sondern Abenteurer. Daher liegt die Asyl-Anerkennungsquote deutlich unter fünf Prozent. Vor allem aber: Wer im Maghreb bedroht, gefoltert oder verfolgt wird, könnte natürlich weiterhin Asyl beantragen. Diese Tatsache wird aber in der Diskussion nie erwähnt. Dabei ist genau das der zentrale Punkt. Daher ist es richtig, wenn wir darüber diskutieren, wie wir die Probleme lösen können. Die Situation in den Maghreb-Staaten sieht heute dramatisch anders aus, als Sie sie geschildert haben. Wir haben dort parlamentarische Wahlen gehabt. In Tunesien ist das Parlament zusammengetreten und hat ein Gesetz gegen Rassismus beschlossen. Das ist ein Meilenstein in der Geschichte Tunesiens. Wir haben dort eine Wirtschaft, die sich hervorragend entwickelt hat, also positive Rahmenbedingungen. Aber eines ist auch klar: Wir können das, was wir als Standards in Deutschland für selbstverständlich halten, nicht auf alle Teile dieser Welt übertragen. Das wird nicht funktionieren. Wenn wir das machen würden, müssten wir 80 Prozent der Weltbevölkerung in Deutschland aufnehmen. Dass das nicht funktionieren kann, liegt, glaube ich, auf der Hand. ({3}) Meine Damen und Herren, ich möchte gerne einmal eine Frage gerade von der linken Seite beantwortet haben: Sie treten hier ein für eine Politik der offenen Grenzen. ({4}) Wo ist für Sie die Grenze der Aufnahmefähigkeit Deutschlands? Teilen Sie die Auffassung des Co-Vorsitzenden der kommunistischen Linksfraktion im Hessischen Landtag, Willi van Ooyen, der öffentlich erklärt hat, er kann sich vorstellen, 40 Millionen Menschen seien denkbar? ({5}) – Ja, er ist nicht mehr im Amt; der ehemalige Co-Vorsitzende. – 40 Millionen! Ich frage Sie: Wo ist für Sie eine Grenze? ({6}) Diese Frage hätte ich gerne von Ihnen beantwortet. Wessen Interessen vertreten Sie eigentlich? Die Deutschlands, fleißiger Arbeitnehmer und guter Unternehmer oder die Interessen derer, die – teilweise zumindest – hierherkommen und dieses Asylrecht bewusst ausnutzen – zulasten Deutschlands? Das möchte ich gerne von Ihnen wissen. Ich teile – abschließend – die Position des Ministerpräsidenten von Hessen, der, losgelöst vom aktuellen FDP-Antrag, gesagt hat, wir müssten grundsätzlich alle Staaten, bei denen die Anerkennungsquote unter 5 Prozent liegt, in einen solchen Gesetzentwurf aufnehmen. Das ist die einzige Chance, die wir haben, wenn diese Gesellschaft nicht auseinanderfliegen soll. ({7}) Ich schließe mit einem legendären Satz des ehemaligen Bundespräsidenten Gauck – Sie kennen ihn alle –, der gesagt hat: Unsere Herzen sind weit, aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt. – Dem ist nichts hinzuzufügen. Herzlichen Dank. ({8})

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! An diesem Rednerpult ist schon des Öfteren über die Lage am Arbeitsmarkt gesprochen worden. Sie ist im Moment ausgezeichnet. Wir haben den höchsten Stand sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und die zweitniedrigste Erwerbslosenquote in der Europäischen Union. – Herr Präsident, ich glaube, ich brauche ein bisschen mehr Saft fürs Mikro. ({0}) – Ich brauche manchmal eine Zweitstimme, Herr Kollege; ({1}) aber ich habe es auch schon mit der Erststimme geschafft. ({2}) Herr Präsident, darf ich noch mal anfangen?

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Bitte sehr.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Ich habe eben darüber gesprochen, dass wir eine ausgezeichnete Lage am deutschen Arbeitsmarkt haben. Monat für Monat bekommen wir tolle Zahlen aus Nürnberg: den höchsten Stand sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, die zweitniedrigste Erwerbslosenquote in der Europäischen Union. Das ist allerdings kein Grund, sich zurückzulehnen. Deshalb legen wir Ihnen heute einen Gesetzentwurf vor, der eine vernünftige Balance schafft, der beispielsweise dafür sorgt, dass wir für konjunkturell schwierigere Zeiten die notwendigen Rücklagen bei der Bundesagentur für Arbeit haben. Wir alle erinnern uns, wie es vor zehn Jahren war, als wir in der Finanzkrise einen Einbruch der Wirtschaftsleistung von minus 5 Prozent hatten und mein Amtsvorgänger Olaf Scholz mit veränderten Regeln der Kurzarbeit mitgeholfen hat, Hunderttausende von Arbeitsplätzen in Deutschland zu sichern. Wir hatten keinen Tsunami am Arbeitsmarkt. Die gute Nachricht ist, dass die Rücklagen bei der Bundesagentur für Arbeit 0,65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprechen – spare in der Zeit, dann hast du in der Not –, um im Zweifelsfall, falls weltwirtschaftliche Risiken eintreten, das Richtige tun zu können. Das ist vorsorgende Arbeitsmarktpolitik, meine Damen und Herren. ({0}) Wir nutzen auch die Entlastungsspielräume, die wir durchaus haben. Wir senken den Arbeitslosenversicherungsbeitrag, wie in der Koalition jetzt miteinander vereinbart, gesetzgeberisch um 0,4 Prozentpunkte und dann noch mal um 0,1 Prozentpunkte per Verordnung, um die Lohnnebenkosten, die Sozialversicherungsbeiträge in Deutschland stabil zu halten. Das ist vernünftig. Es hilft Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern; es hilft auch Unternehmern. Damit entlasten wir ab dem 1. Januar in diesem Bereich tatsächlich um 5,8 Milliarden Euro jährlich. Aber, meine Damen und Herren, mir ist am wichtigsten, dass wir mit diesem Gesetz vor allen Dingen die Zukunft der Arbeit in den Blick nehmen. Die gute Nachricht ist: Nach allem, was wir wissen, wird uns auch in Zukunft in Deutschland die Arbeit nicht ausgehen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit weist darauf hin, dass der Strukturwandel in der Arbeit – vor allen Dingen durch technologischen Fortschritt, durch Digitalisierung – dazu führen wird, dass in vielen Branchen in den nächsten Jahren Automatisierung auf uns zukommt und dass gleichzeitig in anderen Branchen neue berufliche Fähigkeiten gebraucht werden. Mein Motto ist, dass wir in diesen Zeiten Chancen und Schutz im Wandel organisieren müssen. Schutz nicht vor dem Wandel, aber im Wandel. Im Kern geht es darum, dabei mitzuhelfen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von heute auch die Arbeit von morgen machen können. Das, meine Damen und Herren, ist an dieser Stelle wichtig. Wir werden zur Fachkräftesicherung und zur Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer jetzt das Richtige tun und in Weiterbildung und Qualifizierung investieren. Auch das ist in diesem Gesetzentwurf enthalten. ({1}) Damit Sie mich richtig verstehen: Ordnungspolitisch ist es erst mal Aufgabe der Unternehmen selbst, in Qualifizierung und Weiterbildung zu investieren. Aber wir schaffen mit diesem Gesetz die Möglichkeit, Unternehmen, die dem Strukturwandel unterliegen, die im technologischen Wandel sind, durch die Bundesagentur für Arbeit bei der Qualifizierung zu unterstützen. Investitionen in die Weiterbildung sind der Hebel dazu, meine Damen und Herren. Das ist der richtige Weg. Ich will auch noch sagen: „Vorsorgende Arbeitsmarktpolitik“ heißt, dass wir Arbeitslosigkeit im digitalen Wandel verhindern, also tätig werden, bevor sie entsteht, und zwar durch Qualifizierung. Das heißt: Chancen und Schutz im Wandel. ({2}) Wir führen mit dem Gesetz den Rechtsanspruch auf Weiterbildungsberatung durch die Bundesagentur für Arbeit ein, damit die Beschäftigten auch Orientierung dazu bekommen, in welche Richtung Qualifizierung geht. Wir sorgen auch dafür – Stichwort „Schutz im Wandel“ –, dass kurzzeitig Beschäftigte, die immer in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, zum Beispiel weil sie in IT-Projekten befristet gearbeitet haben, aber nie Leistungen der Bundesagentur für Arbeit bekommen haben, in Zukunft gesichert sind, weil wir die Rahmenfrist tatsächlich verlängern. ({3}) Zusammenfassend, meine Damen und Herren: Ich bin sehr dankbar, dass uns dieses Gesetz, das im Koalitionsvertrag noch gar nicht vereinbart war, in der Diskussion der Koalition gemeinsam gelungen ist. Wir müssen die Zukunft der Arbeit gestalten. Durch Digitalisierung haben wir Riesenchancen zur Humanisierung der Arbeitswelt in Deutschland. Ja, aber wir haben auch einen rasanten Wandel, der vielen Menschen Sorgen macht. Es gilt, dafür zu sorgen, dass die Beschäftigten mitkommen können, dass sie die Chancen zur Humanisierung nutzen können, dass es die Möglichkeit der Weiterbildung gibt. Mit diesem Qualifizierungschancengesetz liefern wir jetzt einen ersten Baustein für das, was die Bundesregierung insgesamt im Rahmen der nationalen Strategie für Weiterbildung zu tun hat. Meine Kollegin Anja Karliczek und ich haben den Auftrag aus dem Koalitionsvertrag aufgenommen. Es geht um die Finanzierung von Weiterbildung, es geht um die Institutionen von Qualifizierung und Weiterbildung, und es geht auch, meine Damen und Herren, um die Kultur von Weiterbildung in Deutschland. Die meisten Beschäftigten, die uns 2030 am Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, haben bereits jetzt ihre berufliche Erstausbildung, ob im dualen System oder an der Universität oder Hochschule, hinter sich. Deshalb ist es wichtig, dass wir in Zukunft dafür sorgen, dass die Menschen die Chancen des digitalen Wandels für sich nutzen können. ({4}) Meine Damen und Herren, die Vision, die hinter diesem Gesetz, dem Qualifizierungschancengesetz, steht, ist, dass wir langfristig die Bundesagentur für Arbeit zu einer Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung weiterentwickeln. Es geht um den Weg von der Arbeitslosenversicherung zur Arbeitsversicherung, und das ist der richtige Weg, weil wir in den nächsten Jahren erleben werden, dass uns der digitale Wandel, der technologische Wandel in vielen Regionen und Branchen in Deutschland herausfordert. Den Menschen die Chance zu schaffen, durch ihrer eigenen Hände Arbeit, durch das, was sie im Kopf haben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, dafür zu sorgen, dass Beschäftigungsfähigkeit da ist, das ist der wesentliche Schritt, um unsere Gesellschaft in diesem Wandel zusammenzuhalten. Deshalb bitte ich Sie um Unterstützung für das Qualifizierungschancengesetz, das wir Ihnen heute vorgelegt haben. Herzlichen Dank. ({5})

Jörg Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004880, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Herr Minister Heil, in Ihrem Gesetz nimmt die Weiterbildung von Hartz‑IV-Empfängern einen weiten Raum ein. Jetzt gibt es in diesem Bereich ja schon einige Möglichkeiten. ({0}) Ich denke, bevor wir über weitere Möglichkeiten sprechen, sollten wir uns vielleicht darüber unterhalten, was in dem bestehenden System schiefläuft und was da zu optimieren ist. Eigentlich sollten dort ja die Menschen im Mittelpunkt stehen. Ich zitiere – mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident – aus dem Bericht des Bundesrechnungshofes: Durch ihr nicht zielgerichtetes Vorgehen und die mangelnde Rücksichtnahme auf die Belange der Leistungsberechtigten haben die Jobcenter in einem erheblichen Teil der geprüften Fälle deren unverzügliche Eingliederung nicht gefördert, sondern sogar gefährdet. Nach passgenauer Förderung hört sich das für mich nicht an. Ich finde in diesem Gesetzentwurf verdammt wenig, was daran tatsächlich etwas ändern könnte, meine Damen und Herren. ({1}) Sprechen wir mal über die Qualität der Kurse. Eine zentrale Rolle spielen dabei die sogenannten fachkundigen Stellen. Sie zertifizieren die Bildungsträger; danach wird geprüft – stichprobenartig alle ein bis zwei Jahre, mit Vorankündigung. Ich habe eine Zahl aus dem Jahr 2016 gefunden. Eine dieser fachkundigen Stellen, die Firma Certqua, war für 20 000 Kurse zuständig. 80 Bildungsträgern wurde die Lizenz entzogen. Jetzt können Sie natürlich sagen: Das deutet darauf hin, dass alles wunderbar in Ordnung ist. – Dem kann ich leider nicht zustimmen. Gerade für das Jahr 2016 ist die Bundesagentur ebenfalls vom Bundesrechnungshof erheblich gerügt worden. Es ging damals um Sprachkurse für Flüchtlinge, denen eine ganz miese Qualität bescheinigt wurde. Jetzt können Sie sagen: „Das sind olle Kamellen“, aber die Kontrollmechanismen, die im Jahr 2016 versagt haben, sind die gleichen, mit denen Sie nun noch höhere Ausgaben kontrollieren wollen. Das passt meiner Meinung nach nicht zueinander. ({2}) Mein Fazit deswegen: Schlechte Kurse, die nicht zu den Personen passen, denen sie zugeordnet werden. Was wollen Sie in Zukunft ändern? Sie wollen dafür eigentlich noch mehr Geld ausgeben. Das ist meiner Meinung nach nicht der richtige Weg. Ihr Konzept gerade für die Weiterbildung von Berufstätigen dagegen zeigt in die richtige Richtung. Dort wird gemeinsam mit dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber beschlossen, wie eine Weiterbildung auszusehen hat. Ich meine, das ist die Richtung, in die wir gehen sollten mit Blick auf die Menschen, die schon langzeitarbeitslos sind: Eine Praktikantenstelle, ein Job, vielleicht ein paar Stunden in der Woche, der sie zu einer beruflichen Tätigkeit hinführt, und parallel dazu eine Weiterbildung, die abgestimmt ist zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Damit gelingt es uns dann tatsächlich, Menschen nachhaltig für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren. ({3}) Ich bitte Sie: Hören Sie auf, irgendwelche Weiterbildungsmaßnahmen zu finanzieren, die letztendlich nur dem Schönen der Statistiken dienen. Gehen Sie endlich dazu über, Menschen nachhaltig zu qualifizieren und nachhaltig in den Job zu bringen. Ich danke Ihnen ganz herzlich. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als Nächster redet Peter Weiß für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Eine Vorbemerkung: Eine Debatte zu einem Tagesordnungspunkt ist dann lebendig, wenn tatsächlich zu dem Tagesordnungspunkt, um den es geht, gesprochen wird, und nicht, wie vorhin, zu etwas ganz anderem. ({0}) Die Botschaft dieses Gesetzes, das wir heute beraten, ist vor allem die: Da, wo wir es angesichts der guten wirtschaftlichen Entwicklung in unserem Land können, wollen wir die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen auch entlasten. Das können wir zuallererst beim Arbeitslosenversicherungsbeitrag. Wir haben uns entschlossen, dass wir diesen Beitrag nicht nur, wie in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben, um 0,3 Prozentpunkte absenken, sondern um insgesamt 0,5 Prozentpunkte. Das ist eine großartige Leistung, die wir deswegen hinlegen können, weil wir genügend Geld, genügend Rücklage in Nürnberg haben. Das ist die Hauptbotschaft dieses Gesetzes: Entlastung für Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen in unserem Land! ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, obwohl wir den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung um 0,5 Prozentpunkte absenken, werden wir die Rücklage in Nürnberg, die zwischen 22,5 und 23 Milliarden Euro liegen wird, am Ende des Jahres weiter ausbauen. Also auch mit Absenkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags werden jährlich etwa 500 bis 700 Millionen Euro zur Rücklage hinzukommen. Das zeigt: Auch dann, wenn es einmal nicht so gut laufen sollte und wir zum Beispiel das Kurzarbeitergeld aktivieren müssten, sind wir mit diesem Vorhaben bestens aufgestellt und bestens gerüstet für die Zukunft. Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags, aber gleichzeitig eine starke Reserve in Nürnberg – das schaffen wir mit diesem Gesetz. ({2}) Eine zweite wichtige Botschaft. Wir alle wissen: Unsere heimische Landwirtschaft sowie das Hotel- und Gaststättengewerbe sind immer wieder auf Saisonarbeitskräfte angewiesen, für die wir auch dankbar sind. In diesem Zusammenhang ist eine wichtige Frage: Wie regeln wir die sogenannte kurzfristige Beschäftigung? Früher waren das mal 50 Tage. Dann haben wir es auf 70 Tage verlängert. Mit diesem Gesetz regeln wir für die Zukunft, dass kurzfristige Beschäftigung dauerhaft 70 Tage umfassen kann. ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, damit ist außerdem die gute Botschaft ausgesandt: Auch im nächsten Frühjahr werden wir hoffentlich pünktlich deutsche Erdbeeren und deutschen Spargel auf den Tisch bekommen. ({4}) Nachdem die Weinlese in diesem Jahr schon vorbei ist und wohl ein besonders guter Jahrgang in die Keller gekommen ist, wird hoffentlich auch im nächsten Jahr ein guter Weinjahrgang pünktlich in die Keller kommen. ({5}) Das Gesetz ist also eine gute Botschaft für all diejenigen, die Saisonarbeitskräfte benötigen, wofür wir eine rechtliche Grundlage schaffen. Ich glaube, für uns alle – für die Landwirtschaft und das Hotelgewerbe, aber auch für uns als Verbraucherinnen und Verbraucher – ist es wichtig, dass gute deutsche Qualität auf den Tisch kommt. ({6}) Dann wollen wir mit diesem Gesetz einen ersten wichtigen Schritt hin zu einer nationalen Fort- und Weiterbildungsstrategie tun, über die Bundesminister Heil schon gesprochen hat. Da wird es noch – wir freuen uns schon darauf – einen guten Aufschlag beider Bundesminister, von Frau Karliczek und Herrn Heil, geben. Meine sehr geehrten Damen und Herren, man kann über die Digitalisierung ja unterschiedlicher Meinung sein. Es gibt genügend Gutachter und Leute, die ganz genau wissen, wie die Zukunft aussieht, und die den Menschen eher Angst einjagen. Aufgabe von uns Politikern ist es nicht, Ängste zu befördern; das macht zwar eine Fraktion ganz besonders gern, aber das ist nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist es, Menschen Zukunftsperspektiven zu eröffnen. Und das machen wir mit diesem Gesetz. ({7}) Wir wollen dafür sorgen, dass wir gerade angesichts des Wandels, den die Arbeitswelt in den kommenden Jahren und Jahrzehnten erfahren wird, unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mitnehmen und fit machen können, dass es genügend qualifizierte Fort- und Weiterbildungsangebote gibt und dass wir sie mit den Mitteln der Bundesagentur für Arbeit kräftig unterstützen. Wir wollen die Arbeitnehmer für die Arbeitswelt 4.0 fit machen. Wir wollen ihnen neue Perspektiven eröffnen. Wir wollen Qualifikationen erneuern und fehlendes Wissen und neue Inhalte ergänzen. Untersuchungen zeigen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein großes Interesse daran haben, sich fachlich auf der Höhe zu halten, um so neue Chancen in der Arbeitswelt zu nutzen oder ihre Chancen zu verbessern. Auch die Arbeitgeber haben erkannt: Ihre Unternehmen werden in Zukunft nur dann weiter gut laufen, wenn sie der Weiterbildung im Berufsleben eine viel größere Bedeutung geben als heute. Die Unternehmen, die bereits heute im Bereich der digitalen Technologie und Entwicklung unterwegs sind, haben eine Weiterbildungsquote von 87 Prozent – das ist beachtlich –; bei den übrigen Unternehmen beträgt sie nur etwa 69 Prozent. Das zeigt: Da ist noch Luft nach oben. Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit diesem Qualifizierungschancengesetz machen wir ein Angebot an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ein Angebot an die Unternehmen, dass sie mit der Unterstützung, auch finanziellen Unterstützung, der Bundesagentur für Arbeit Qualifizierung, Fort- und Weiterbildung für alle ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter organisieren können. Dieses Qualifizierungschancengesetz schafft mit dem Anspruch auf Beratung zur Weiterbildung und Qualifizierung die Grundlage und die Voraussetzungen für ein lebenslanges Lernen. Gleichzeitig bietet es ausreichenden Schutz und Entlastung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Blick auf den Wandel durch die Digitalisierung. Ich finde, es ist ein starker Aufschlag für eine starke Fort- und Weiterbildungsstrategie in unserem Land. Vielen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist Michael Theurer für die Fraktion der FDP. ({0})

Michael Theurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004914, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Weiß hat gerade die Beschäftigung von Saisonarbeitskräften angesprochen. Wir stellen fest: Die Große Koalition ist in kleinen, aber wichtigen Dingen zum Teil lernfähig; das möchte ich hier mal lobend erwähnen. Als wir – Kollege Till Mansmann und andere Kollegen – eine Kleine Anfrage zur 70‑Tage-Regelung gestellt haben, hat die Bundesregierung noch erklärt, es bestehe kein Handlungsbedarf und sie sei auch nicht in Gesprächen. Wir sind froh, dass die 70‑Tage-Regelung für Saisonarbeiter in diesem Gesetzentwurf geregelt und gesichert werden soll, und stellen fest: Andrea Nahles hat nicht nur ein Herz für Pferde, sondern offensichtlich auch für deutschen Spargel. Das ist ein guter Beitrag; das muss man an dieser Stelle einmal vermerken. ({0}) Minister Heil hat darauf hingewiesen, dass im Gesetz vorgesehen ist, die Arbeitslosenversicherungsbeiträge zu senken. Das kommt spät. Das hätte früher kommen können. Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben dazu bereits im Januar einen Gesetzentwurf vorgelegt, der wurde aber von CDU/CSU, SPD, Grünen und Linken abgelehnt. Jetzt soll es doch kommen. Es ist ja gut, dass die Bürgerinnen und Bürger die gute Konjunktur auch ein Stück weit in ihrem Geldbeutel spüren. Wir sind der Meinung, dass das richtig ist, dass es notwendig ist, den Beitragssatz um 0,5 Prozentpunkte zu senken. Aber hier von einer Entlastung zu sprechen, ist doch eine Wählertäuschung. Denn das, was Sie auf der einen Seite den Bürgerinnen und Bürgern von dem, was sie erarbeitet haben, zurückgeben, nehmen Sie auf der anderen Seite durch steigende Pflegebeiträge, die Minister Spahn angekündigt hat – er hat bereits eine weitere Erhöhung angekündigt –, wieder weg. Das ist an dieser Stelle gar keine Entlastung. Machen Sie den Menschen hier kein X für ein U vor. ({1}) Überhaupt finden Sie – den Eindruck hat man – für jedes überschüssige Geld in Sozialkassen oder staatlichen Kassen sofort wieder einen öffentlichen Verwendungszweck. Wie wäre es mal mit einer echten Entlastung der Bürgerinnen und Bürger? ({2}) Wir haben den Eindruck, dass Sie eine Aversion gegen Entlastungen haben. Man könnte auch von einer Entlastungsphobie sprechen, meine Damen und Herren. ({3}) Wir sagen an dieser Stelle ganz klar: Es reicht nicht aus, dass Wirtschaftsminister Altmaier im Bundeswirtschaftsministerium einen Raum nach Ludwig Erhard benennt. Wenn diese Bundesregierung wirklich im Sinne der sozialen Marktwirtschaft handeln wollte, dann müsste sie anders handeln. Diese Große Koalition ist ja noch nicht mal Karl Schiller, meine Damen und Herren. ({4}) Jetzt zu Bundesfinanzminister Scholz. Er macht Vorschläge zur Rente; er macht Vorschläge zur Arbeitslosenversicherung auf europäischer Ebene. Heute ist er nicht da. Ich frage mich: Herr Minister Heil, sind Sie eigentlich nur noch der Erfüllungsgehilfe des Bundesfinanzministers? Gilt eigentlich das Ressortprinzip in dieser Bundesregierung nicht? ({5}) Und überhaupt: Dem Bundestag und damit dem gesamten deutschen Volk muss erklärt werden, wie diese europäische Arbeitslosenversicherung finanziert werden soll. ({6}) Zusätzliche Ausgaben in Höhe von 11 Milliarden Euro: Das wäre eine Erhöhung der Beiträge um 1 Prozentpunkt. Oder soll das Geld aus der Steuerkasse kommen? Dazu wird hier nichts gesagt; das ist aber dringend erforderlich. Und ich stelle die Frage, ob eine europäische Arbeitslosenversicherung nicht völlig falsche Anreize setzt. ({7}) In diesem Gesetzentwurf ist eine Konjunkturrücklage für schlechte Zeiten enthalten. Das halten wir dem Grunde nach auch für richtig. Wenn jetzt eine europäische Arbeitslosenversicherung eingeführt würde, dann hätten die Länder, dann hätte Deutschland, aber auch Italien und Frankreich, gar keinen Anreiz, auf nationaler Ebene solche Konjunkturrücklagen zu bilden. ({8}) Wir sehen hier große Fragezeichen; also eine stringente Linie dieser Bundesregierung können wir nicht erkennen. ({9}) Zu Qualifizierungsmaßnahmen sagen wir: Qualifizierung ja; aber es muss gefragt werden, ob die Mittel bei den Betroffenen auch wirklich ankommen oder ob damit eine Weiterqualifizierungsindustrie finanziert werden soll. Dabei ist es uns völlig egal, ob das gewerkschaftsnahe oder arbeitgebernahe Institute sind. ({10}) Wir sind der Meinung: Die Entlastung muss bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommen. Dazu wird mein Kollege Vogel später Ausführungen machen. Vielen Dank. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Abgeordnete Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor kurzem kam Frau B. in meine Bürgersprechstunde und erzählte mir, sie wollte eine Umschulung zur Ergotherapeutin machen. Sie ist 48 Jahre und schon vier Jahre erwerbslos. Früher hat sie in einer Bäckerei gearbeitet, die geschlossen wurde. Frau B. rechnete sich damit mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt aus, auch mit Blick darauf, sich vielleicht selbstständig zu machen. Aber: Sie hat diese Maßnahme nicht genehmigt bekommen. Eine Umschulung selber zu finanzieren, fällt bei der Höhe des Regelsatzes natürlich aus, und so ist sie weiter im Hartz‑IV-System gefangen. Genau das ist doch das Problem, Herr Heil: Ein Recht auf Weiterbildung ist in Ihrem Gesetzentwurf nicht zu finden. Die Linke fordert einen Rechtsanspruch auf regelmäßige Weiterbildung, ({0}) damit Erwerbslose eben nicht als Bittsteller dastehen. Die Zahl derer, die eine Weiterbildung mit dem Ziel eines Berufsabschlusses absolvieren, ist im Vergleich zur Zahl der Erwerbslosen ohne Berufsabschluss verschwindend gering. Im Jahr 2017 gab es im Bereich des SGB II 939 000 Menschen ohne Berufsabschluss; aber nur 12 631 haben eine Weiterbildung mit dem Ziel eines beruflichen Abschlusses begonnen. Vor dem Hintergrund des vermeintlichen und auch von Ihnen so oft zitierten Fachkräftemangels ist das doch absurd. Die Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung besteht darin, den Großteil der erwerbslosen Menschen einfach abzuschreiben. Und das, meine Damen und Herren, wird Die Linke nie akzeptieren. ({1}) Statt Menschen in irgendwelche sinnlosen Billigmaßnahmen zu stecken, müssten die Jobcenter doch endlich mal finanziell deutlich besser ausgestattet werden. ({2}) Das ist in Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht vorgesehen. Statt die derzeit gute Finanzlage der Bundesagentur für Arbeit zu nutzen, um die Arbeitslosenversicherung zu stärken, beschenkt die Regierung lieber die Unternehmen mit einer Beitragssatzsenkung. ({3}) Beschäftigte werden nur marginal entlastet. Für sie würde es sich mehr lohnen, wenn die Leistungen und der Zugang zur Arbeitslosenversicherung verbessert werden würden. Zwei Drittel der Erwerbslosen befinden sich im Hartz‑IV-System. Die Linke fordert: Die Arbeitslosenversicherung muss wieder zum Hauptinstrument der sozialen Sicherung werden. ({4}) Die Rahmenfrist muss wieder von 24 auf 36 Monate ausgedehnt werden und nicht wie in Ihrem Gesetzentwurf auf 30 Monate und auch nicht erst im Jahr 2020. Denn da gehen wir ja schon wieder auf die Wahlen zu, da wollen Sie sich wieder lieb Kind machen. Aber wir wissen ja auch gar nicht, wie lange diese Koalition noch hält. Die Wahlen können ja auch schon früher sein. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld muss bereits nach vier Monaten Beitragszeit entstehen. Für langjährige Beitragszahler muss die Anspruchsdauer auf Arbeitslosengeld I erweitert werden, vor allen Dingen für Ältere und Menschen mit Behinderungen. ({5}) Ich komme zum Schluss. Statt den Menschen Chancen zu eröffnen, steht der vorliegende Gesetzentwurf für den lähmenden Stillstand dieser Großen Koalition. Danke schön. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner in der Debatte ist der Abgeordnete Wolfgang Strengmann-Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister! Der Weltklimarat hat uns gerade noch mal eingeschärft, dass wir als Gesellschaft insgesamt mehr für den Klimaschutz tun müssen. Was in dem Bericht besonders erschreckend ist, ist, dass zum ersten Mal gesagt wurde, dass das 2‑Grad-Ziel wahrscheinlich nicht ausreicht, sondern dass wir deutlich ambitionierter sein müssen. Das heißt, wir müssen das 1,5‑Grad-Ziel in den Mittelpunkt stellen. Sie haben aber auch gesagt: Es ist möglich, das Ziel zu erreichen, aber wir brauchen gravierende, grundsätzliche Veränderungen in unserem Wirtschaften. – Das heißt, wir müssen die Beschäftigten für diesen notwendigen Wandel fit machen – durch bessere Weiterbildung. Mit Blick auf diesen Wandel brauchen wir auch eine bessere Absicherung bei Arbeitslosigkeit. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des AfD-Abgeordneten Hilse?

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich würde gern erst mal meine Argumente deutlich machen, später vielleicht. Gleichzeitig ist die Digitalisierung in vollem Gange; sie wird sich noch beschleunigen und die Arbeitswelt ebenfalls gravierend verändern. Wie die Veränderung genau aussehen wird, wissen wir noch nicht. Qualitativ kann man schon einiges sehen. Aber es werden definitiv viele Arbeitsplätze wegfallen. Es werden gleichzeitig neue, vielleicht sogar bessere Arbeitsplätze entstehen, wenn wir das entsprechend gestalten. Aber auch hier bedeutet das: Wir müssen viel mehr für Weiterbildung machen, und wir brauchen eine bessere Absicherung bei Arbeitslosigkeit. ({0}) Dazu kommt die demografische Entwicklung. Die Menschen leben länger und wollen – zum großen Teil – auch länger erwerbstätig sein. Auch dafür müssen wir die Menschen fit machen – durch bessere Arbeitsbedingungen, aber auch durch bessere Weiterbildung oder vielleicht sogar mit einer weiteren Ausbildung mit 40 oder 50 Jahren. Auch da brauchen wir also mehr Initiative für bessere Weiterbildung und Ausbildung. ({1}) Und wir haben die Migrationsbewegung. 70 Millionen Menschen sind weltweit unterwegs. Wir brauchen Zuwanderung von Fachkräften; wir müssen aber auch Menschen aus humanitären Gründen aufnehmen. Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen beider Gruppen fit gemacht werden für unseren Arbeitsmarkt. Auch da geht es um Weiterbildung. ({2}) Zusätzlich führt die Digitalisierung dazu, dass sich die Arbeitsmärkte verändern. Der Unterschied zwischen Selbstständigen und abhängig Beschäftigten verschwimmt so langsam und wird fließend. Wenn man das alles zusammennimmt, dann ist klar: Die großen Veränderungen, die vor uns stehen, schreien förmlich danach: Die Arbeitslosenversicherung muss zu einer Arbeitsversicherung werden. ({3}) Arbeitsversicherung heißt: Wir brauchen mehr und bessere Weiterbildungsangebote, und zwar nicht nur für Arbeitslose, sondern auch für die Erwerbstätigen – also: Arbeitsversicherung statt Arbeitslosenversicherung. Dabei reicht ein Recht auf Weiterbildungsberatung, wie es die Regierung vorschlägt, nicht aus. Wir brauchen ein Recht auf Weiterbildung, ({4}) und wir brauchen eine bessere finanzielle Absicherung bei Weiterbildung, damit sich die Menschen die Weiterbildung auch leisten können. Auch das gilt sowohl für die Beschäftigten als auch für Arbeitslose. Eine bessere finanzielle Absicherung bei der Weiterbildung fehlt in dem Gesetzentwurf. ({5}) Schließlich brauchen wir Angebote für abhängig Beschäftigte, aber eben auch für Selbstständige. Die Bundesagentur muss mehr und bessere Angebote für Selbstständige anbieten. ({6}) Wenn wir über die Reform der Arbeitslosenversicherung reden, dann ist klar, dass es noch eine weitere wichtige Baustelle gibt, die angegangen werden muss. Wir haben zurzeit ungefähr 1,5 Millionen Kurzzeitarbeitslose. Aber weniger als die Hälfte von ihnen bezieht Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung, das Arbeitslosengeld I; die anderen – mehr als die Hälfte – ist gleich auf Arbeitslosengeld II, also Hartz IV, angewiesen. Das müssen wir ändern. Die Arbeitslosenversicherung muss wieder der Standardfall der Absicherung werden, wenn Menschen arbeitslos werden – und eben nicht Hartz IV. ({7}) Die Bundesregierung macht dazu in ihrem Gesetzentwurf einen Vorschlag, nämlich die sogenannte Rahmenfrist, in der Beschäftigte mindestens zwölf Monate Arbeitslosenversicherungsbeiträge gezahlt haben müssen, um Arbeitslosengeld I zu erhalten, von 24 auf 30 Monate zu verlängern. Wenn man sich das empirisch anschaut, stellt man fest, dass das fast keinen Effekt haben wird und nicht mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein sein wird. Wir brauchen an der Stelle einen großen Schritt, um den Zugang zum Arbeitslosengeld I zu verbessern und die Menschen bei Arbeitslosigkeit besser abzusichern. Wir Grünen fordern, dass die Menschen ab vier Monaten Beitragszahlung Zugang zum Arbeitslosengeld I bekommen. Das wäre ein effektiver und großer Schritt. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen vor großen Veränderungen, Veränderungen, die viele Menschen verunsichern. Deswegen müssen wir als Politik zeigen, dass wir diesen Wandel zum Wohle der Menschen gestalten können und dabei mehr soziale Sicherheit schaffen. Vielen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner in der Debatte ist der Abgeordnete Dr. Martin Rosemann für die Fraktion der SPD. ({0}) Entschuldigung, Kollege Rosemann, ich habe eine Kurzintervention vergessen, die aber angemessen ist. Der Kollege Hilse erhält zunächst die Gelegenheit zu einer Kurzintervention, nachdem ihm seine Zwischenfrage verweigert worden ist.

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Entschuldigen Sie, Herr Rosemann, dass ich Sie noch ein wenig aufhalte. An den Vorredner: Sie haben gerade den IPCC-Bericht – Stichwort: Klimawandel bzw. Klimaübereinkommen von Paris – erwähnt. Meine konkrete Frage ist: Von welchem Temperaturwert aus soll die Temperatur nicht um 2 Grad steigen? Ich erkläre Ihnen das ganz kurz an einem Beispiel. ({0}) – Er hat den Klimawandel erwähnt. ({1}) – Richtig. Das ist mir vollkommen egal. Es wäre nett, wenn Sie mich ausreden lassen würden. Wenn mich mein ungarischer Freund aus Budapest zum Beispiel fragt, um wie viel Prozent die Wählergunst der SPD zurückgegangen ist, dann muss ich wissen, von welchem Ausgangswert ich ausgehe. Gehe ich vom Ausgangswert der Bundestagswahl 2017 aus, ({2}) dann sind das 5,5 Prozentpunkte. Gehe ich von der Bundestagswahl von 1998 aus, dann sind das 25 Prozentpunkte. Sie sehen also: Es ist sehr, sehr wichtig, zu wissen, von welchem Ausgangswert ich ausgehe, wenn ich etwas rechne. Da Sie den Klimawandel erwähnt haben – ich gehe davon, dass Sie sich damit auch auskennen –, würde ich Sie bitten, mir zu sagen, von welchem Temperaturwert aus die Temperatur nicht um mehr als 2 Grad steigen soll. Vielen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Wollen Sie darauf antworten? ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, das 2‑Grad-Ziel bzw. das 1,5‑Grad-Ziel bezieht sich auf das sogenannte vorindustrielle Zeitalter; damit ist in der Regel der Zeitraum von 1850 bis 1900 gemeint. Wenn man davon ausgeht, stellt man fest, dass wir jetzt schon bei einer Steigerung von 1 Grad sind. Wenn wir so weitermachen wie bisher – so sagt es der Weltklimarat –, kann es passieren, dass wir schon 2030 bei einem Anstieg von 1,5 Grad sind – vielleicht passiert das auch etwas später; es ist nicht so ganz klar, wann genau das sein wird –, aber es kann sein, dass wir in zehn oder zwölf Jahren massive Klimareaktionen haben werden. Es ist ja jetzt schon zu beobachten, dass weltweit wichtige und große Gebiete unbewohnbar bleiben. Wir werden auch bei uns massive Veränderungen merken. Deswegen müssen wir da energisch was tun, unsere Wirtschaft gravierend verändern. Deswegen ist die Arbeitsversicherung an dieser Stelle ein wichtiger Baustein, um die Menschen fit zu machen für diesen Wandel, der notwendig ist, um die Lebensgrundlagen auf dieser Erde zu erhalten. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Gut, dass am Ende deutlich geworden ist, dass wir im Augenblick eine Debatte über Qualifizierungschancen führen. – Jetzt erhält das Wort der Kollege Dr. Rosemann. ({0})

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland steht im Moment vor zwei großen Herausforderungen: die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit und die Aufgabe, Arbeitslosigkeit zu verhindern und Beschäftigte beim technologischen und digitalen Wandel zu unterstützen. Beide Herausforderungen packen wir in diesen Wochen an. Wir geben, Frau Zimmermann, den Jobcentern mehr Geld, ({0}) und wir schaffen mit dem sozialen Arbeitsmarkt Perspektiven für Menschen, die lange arbeitslos sind – nach dem Motto: Teilhabe durch Arbeit. Darüber haben wir in der letzten Woche hier diskutiert. Jetzt diskutieren wir über das Qualifizierungschancengesetz, bei dem wir Beschäftigte durch Qualifizierung unterstützen und dafür sorgen wollen, dass Beschäftigte länger in Arbeit bleiben können. Damit sorgen wir für Sicherheit und Schutz im Wandel. ({1}) Deswegen will ich mich bei Bundesarbeitsminister Hubertus Heil dafür bedanken, dass er dieses Gesetz genau so vorgelegt hat. Dieses Gesetz geht ja weit über den Koalitionsvertrag hinaus – und das ist auch gut so, meine Damen und Herren. ({2}) Die Arbeitswelt ist im Wandel – mein Vorredner hat es gesagt –; es werden viele Tätigkeiten wegfallen, es werden völlig neue Tätigkeiten entstehen, vor allem aber werden sich bestehende Tätigkeiten verändern. Davon werden Millionen von Beschäftigten betroffen sein. Wir wissen heute nicht genau, wie die Arbeitswelt in 20 oder 30 Jahren aussehen wird, aber wir wissen, dass von den Veränderungen viele betroffen sein werden und dass sich diese Veränderungen immer schneller vollziehen. Für uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist klar: Wir wollen und wir müssen diesen Wandel aktiv gestalten, die Herausforderungen der Digitalisierung annehmen und jetzt angehen und nicht, wenn es zu spät ist. ({3}) Für uns ist dabei zentral, dass wir die Beschäftigten bei den Veränderungen begleiten, beraten und unterstützen. Dafür müssen wir jetzt die Instrumente schaffen. Weiterbildung ist der Schlüssel dafür. Deswegen müssen wir in Weiterbildung investieren. Dieses Qualifizierungschancengesetz ist ein wichtiger Schritt dahin, weil wir damit den Zugang zur Weiterbildungsförderung für alle Beschäftigten öffnen und allen Beschäftigten, die vom digitalen Wandel betroffen sind, den Zugang zu Weiterbildung ermöglichen. Zukünftig gibt es Förderung für alle Beschäftigten, unabhängig von Ausbildung, Alter oder Betriebsgröße. ({4}) Nicht nur die Weiterbildungskosten werden finanziert, sondern es gibt für den Arbeitgeber auch einen Zuschuss zum Arbeitsentgelt. Natürlich müssen die Weiterbildungsbedarfe rechtzeitig erkannt werden. Deshalb schaffen wir mit diesem Gesetz einen Rechtsanspruch auf Weiterbildungsberatung. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Weiterbildungsberatung bundesweit zur Verfügung steht, in jeder Agentur für Arbeit. ({5}) Wir wollen die Agentur für Arbeit zu einem verlässlichen Partner der Beschäftigten im Wandel weiterentwickeln. Unser Ziel ist eine Agentur für Arbeit und Qualifizierung und eine Arbeitslosenversicherung, die in Zukunft Arbeitsversicherung heißt und die Beschäftigten während der Beschäftigung im Wandel unterstützt. Meine Damen und Herren, für diese neuen Herausforderungen und für mögliche Krisen muss die Bundesagentur für Arbeit auch finanziell ausreichend ausgestattet sein. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir jetzt eine Mindestrücklage für die Bundesagentur für Arbeit schaffen und gleichzeitig die Überschüsse dafür nutzen, die Beschäftigten bei der Arbeitslosenversicherung zu entlasten. Das ist wichtig. Wir stärken die Arbeitslosenversicherung, und gleichzeitig entlasten wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland. ({6}) Das ist die richtige Balance zwischen Beitragsentlastung, Krisenrücklage und Investitionen in Weiterbildung. Zum Schluss: Ich bin fest davon überzeugt, dass wir die Herausforderungen durch Digitalisierung, durch technologischen Wandel, durch Strukturwandel in unserem Land nur solidarisch meistern können, mit dem Sozialstaat als verlässlichem Partner der Beschäftigten. So schaffen wir Chancen, Schutz und Sicherheit im Wandel. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist der Abgeordnete Sebastian Münzenmaier für die Fraktion der AfD. ({0})

Sebastian Münzenmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004836, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leider ist es der Bundesregierung auch hier wieder einmal nicht möglich, einen großen Wurf zu wagen. Vielleicht liegt es daran, Herr Heil, dass Sie im Prinzip gar keine Lust mehr auf nationale Gesetzgebung haben. Ihr Kollege Scholz fordert ja schon die europäische Arbeitslosenversicherung. Ich kann verstehen, dass gerade für Sie von der SPD oder von den Grünen als Großeuropäer diese ganzen nationalen Gesetzentwürfe irgendwie überflüssig und lästig sind. ({0}) Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schrauben Sie wieder einmal nur minimal an kleinen Rädchen. ({1}) Das wird die Lebenssituation unserer Bürger leider nicht grundlegend verbessern. Bestes Beispiel hierfür – ich bitte Sie, zuzuhören, dann können Sie vielleicht noch etwas lernen – ({2}) ist die Sozialversicherungspauschale. Ich begrüße ausdrücklich, dass Sie die Pauschale von 21 auf 20 Prozent senken wollen. Endlich denkt, so scheint es, die Regierung an die Entlastung der Bürger. Aber die Pauschale ist doch an sich schon vollkommen ungerecht. Es kann doch nicht sein, dass ein Arbeitsloser 21 Prozent, in Zukunft dann 20 Prozent Sozialversicherungspauschale bezahlt, während ein Arbeitnehmer momentan bei 19,475 Prozent Arbeitnehmeranteil an den Sozialversicherungsbeiträgen liegt. Das heißt, der Arbeitslose zahlt prozentual mehr Geld in die Sozialversicherung ein als der Arbeitnehmer. Wo liegt denn da die Logik Ihres Gesetzes, Herr Heil? Wobei: Mit Logik haben Sie es ja sowieso nicht so. Die Sozialversicherungspauschale ist starr per Gesetz festgelegt, während sich die Werte, die ihr zugrunde liegen, beispielsweise die Krankenversicherungsbeiträge, ja ständig verändern. Wieso wagen Sie also hier nicht einmal den Versuch einer wirklich vernünftigen Lösung und regeln beispielsweise durch eine zweijährliche Erhebung der Werte durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales durch eine entsprechende Rechtsverordnung die Festlegung der Sätze? So würden Sie Vergleichbarkeit schaffen zwischen den Beiträgen von Arbeitnehmern und Arbeitslosen, und Sie würden Ihrem Schlagwort „soziale Gerechtigkeit“ zumindest einmal einen Funken Leben einhauchen. ({3}) Sie widmen sich in diesem Gesetzentwurf ja auch der Arbeitslosenversicherung. Beim ersten Lesen habe ich mich regelrecht gefreut und mir gedacht: Jetzt werden diese Kämpfer für soziale Gerechtigkeit endlich die Arbeitslosenversicherung reformieren und eine Lösung ansteuern, die dafür sorgt, dass Arbeitnehmer, die länger eingezahlt haben, belohnt werden. Weit gefehlt, meine Damen und Herren! Der große Wurf der nicht mehr ganz so großen Koalition sieht hier vor, dass die Rahmenfrist von 24 auf 30 Monate erhöht wird. Das heißt, dass Menschen, die länger als 12 Monate gearbeitet haben, dies in Zukunft nicht innerhalb der letzten 24, sondern der letzten 30 Monate getan haben müssen, um ALG I zu bekommen. Entschuldigung, das ist schon alles? Die Rahmenfrist hat doch überhaupt keine Aussagefähigkeit für das Arbeitsleben eines Menschen. Das kann doch nicht zu einer gerechten Beurteilung der Ansprüche führen. Wir als AfD-Fraktion wollen die Menschen belohnen, die 20, 25 oder 30 Jahre in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt haben. Da ist eine Rahmenfrist von 30 Monaten geradezu lächerlich. ({4}) Wir brauchen einen ganzheitlichen Blick auf die Arbeitslosenversicherung. Das Lebenswerk eines Arbeitnehmers muss im Vordergrund stehen, und die Bezugsdauer des ALG I muss ganz klar an die Einzahlungsdauer geknüpft sein. Vereinfacht gesagt: Wer viel und lange gearbeitet und eingezahlt hat, soll auch länger Arbeitslosengeld I bekommen. Aber ich weiß – Ihr Schreien zeigt es ja wieder –: Für realitätsnahe oder für wahrlich gerechte Lösungen sind Sie ja schon seit längerem gar nicht mehr zuständig. ({5}) Denn entweder müssen Sie sich täglich mit dem eigenen Koalitionspartner beschäftigen oder mit sich selbst, mit dem Arbeitskreis Pferd oder ab und zu mit dem Kampf gegen rechts. Wissen Sie was, der deutsche Arbeiter dreht sich kopfschüttelnd um und wählt die AfD, meine Damen und Herren. ({6}) Aber es bleibt festzuhalten: Das Einzige – das zeigt auch wieder dieser Gesetzentwurf –, was die Menschen an der SPD noch mit sozial gerecht verbinden und was tatsächlich sozial gerecht ist, sind Ihre Wahlergebnisse in Bayern und demnächst auch in Hessen. Vielen herzlichen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächste Rednerin ist die Abgeordnete Antje Lezius für die Fraktion CDU/CSU. ({0})

Antje Lezius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004341, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt wollen wir noch einmal zu dem Gesetzentwurf zurückkommen. ({0}) Der technologische Wandel verändert täglich unser Leben. Vieles wird einfacher, benutzerfreundlicher, ja lässt sich schneller und unkomplizierter bewerkstelligen. In der Pflege wird das Personal durch die helfende Hand eines Roboters unterstützt, in der Industrie werden Ersatzteile automatisch nachgeordert, in der Schule speichert der Lehrer sein Tafelbild auf dem Smartboard. Ingenieure für Elektromobilität, SEO-Experten oder Datenmanager – ganz neue Berufsbilder haben sich entwickelt. Die Vergangenheit zeigt, dass technologischer Fortschritt immer auch neue Aufgabenfelder und neue Arbeitsplätze geschaffen hat. Es wird nicht weniger gearbeitet, aber die Tätigkeiten ändern sich. Der technologische Wandel eröffnet uns ganz neue Möglichkeiten, aber er wird uns in Zukunft auch herausfordern. Doch die Unkenrufe vom Verlust von Arbeitsplätzen teile ich nicht. Wir können, wir wollen und wir werden die Digitalisierung der Arbeitswelt aktiv gestalten. Weiterbildung ist der Schlüssel hierfür; da stimme ich Bundesminister Heil voll und ganz zu. ({1}) Im Koalitionsvertrag haben wir uns darauf geeinigt, die Weiterbildung deutlich zu stärken. Unter anderem werden wir ein erweitertes Recht auf Weiterbildungsberatung durch die Bundesagentur für Arbeit einführen. Dies ist ein Bestandteil des vorliegenden Gesetzentwurfs. Durch das Gesetz werden die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen und Unternehmen gefördert, die vom technologischen Wandel besonders betroffen sind, auch finanziell, zum einen durch einen Zuschuss zur Weiterbildungsmaßnahme und zum anderen durch Zuschüsse zum Arbeitsentgelt während der Weiterbildung. Ein Schwerpunkt liegt auf der Unterstützung kleinerer und mittlerer Unternehmen. Das ist richtig und wichtig. Gerade für kleinere Unternehmen ist die Organisation und Durchführung von Weiterbildungen sehr schwierig, ganz besonders, wenn die Auftragsbücher voll und die Arbeitskräfte knapp sind. Im Grundsatz sehe ich den Gesetzentwurf positiv. Besonders wichtig sind mir jedoch zwei Dinge: Erstens. Es muss gewährleistet sein, dass Arbeitnehmer und Unternehmer die Förderung auch tatsächlich nutzen können. Dazu zählt, dass sie einfach und schnell zu beantragen und in den Arbeitsalltag integrierbar ist. Auch wenn es um Weiterbildungen für die Zukunft geht: Mit dem dualen Ansatz sind wir in der Vergangenheit sehr gut gefahren. Zweitens. Wir haben schon heute eine vielfältige Beratungslandschaft. Zusätzliche Kompetenzen für die Bundesagentur für Arbeit können diese ergänzen, sollen die bestehenden Angebote aber – das ist mir wichtig – nicht ersetzen. Hier ist ein Miteinander ganz wichtig. Setzen wir das um, wird das Qualifizierungschancengesetz einen ersten Beitrag zu unserer nationalen Weiterbildungsstrategie leisten. Dann schafft Qualifizierung neue Chancen. Das ist der richtige Weg, um Zukunft zu gestalten, meine Damen und Herren. Mit dem Qualifizierungschancengesetz werden wir eine weitere wichtige Maßnahme umsetzen: die Senkung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung um 0,5 Prozentpunkte. Damit entlasten wir die Bürgerinnen und Bürger, und wir entlasten die Unternehmen. Ebenfalls Bestandteil des Gesetzentwurfes ist die Entfristung der sogenannten 70‑Tage-Regelung. Wir haben von den Kollegen schon davon gehört. Damit bleibt die Möglichkeit bestehen, bis zu 70 Tage geringfügig und sozialversicherungsfrei beschäftigt zu sein. Gerade für die ländlichen Regionen, in denen Erntehelfer dringend gesucht werden, ist diese Gesetzesänderung von großer Bedeutung. Sie sichert in unserer Heimat die Erzeugung von Obst und Gemüse aus der Region verantwortungsvoll im Sinne der Bürgerinnen und Bürger. Vielen Dank. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Für die FDP spricht jetzt der Abgeordnete Johannes Vogel. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig: Wir müssen keine Angst haben, dass uns die Arbeit aufgrund der Digitalisierung ausgeht. Im Gegenteil: Wir haben faszinierende Chancen für mehr Selbstbestimmung. Aber, ja, wir brauchen für jede und jeden das Versprechen, an dieser Entwicklung teilhaben zu können. Dieses Ziel teilen wir ausdrücklich. ({0}) Wir teilen auch die Meinung, dass die Bundesagentur für Arbeit dabei eine Säule bilden kann, indem sie überall dort betriebliche Weiterbildung möglich macht, wo es sinnvoll ist und wo sie sonst aufgrund von zeitlichen oder finanziellen Limitationen nicht stattfinden kann. Es darf aber nicht zu Mitnahmeeffekten und zur Förderung von Weiterbildung, die nicht sinnvoll ist, kommen. Darauf werden wir genau achten müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Deshalb ist es richtig und überhaupt kein Widerspruch, das mit einer kräftigen Beitragssatzsenkung zu verbinden. Uns hat der Chef der Bundesagentur für Arbeit im Ausschuss selber bestätigt, dass auch künftig für alles, was wirklich sinnvoll ist, Geld da sein wird. Wollen wir uns doch mal ehrlich machen: Mit Blick auf die Digitalisierung und die Effizienzsteigerung in den sozialen Sicherungssystemen sind auch künftig weitere Entlastungen möglich. Deshalb ist es richtig, dass mein Kollege Theurer darauf hingewiesen hat, dass Sie hier völlig mutlos bleiben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition. ({2}) Aber ich will zum Thema Weiterbildung noch etwas anderes sagen. Ich glaube, dass es richtig ist, das Thema „lebenslanges Lernen“ endlich aus den Sonntagsreden zu nehmen und in die Umsetzung zu bringen. Deshalb ist nichts anderes als ein großer Wurf unser Anspruch. Als wir gelesen haben, die Große Koalition plant eine nationale Weiterbildungsstrategie, haben wir gedacht: Ja, das ist richtig. Nur, lieber Kollege Peter Weiß, wenn das alles ist, was ihr bisher vorgelegt habt, dann ist das keine Strategie, sondern eine vertane Chance. Das ist zu wenig für diese wichtige Aufgabe. ({3}) Alles andere bleibt bisher ja nur im Bereich der Ankündigungen. Ich mache für uns Freie Demokraten einmal drei Vorschläge: Erstens. Ja, Weiterbildung muss man sich leisten können. Auch Bildungsauszeit muss man sich leisten können. Das ist in erster Linie Aufgabe des Einzelnen und der Unternehmen, richtig. Dann müssen wir die Menschen aber auch finanziell in die Lage dazu versetzen. Warum schaffen wir nicht die Möglichkeit, Entgeltumwandlung steuerfrei zu machen und so für ein Bildungskonto zu sparen? Hier warten wir auf Vorschläge, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition. Zweitens. Was ist mit denjenigen, die sich das nicht leisten können und deren Anliegen von der BA nicht bearbeitet werden? Der deutsche Arbeitsmarkt besteht ja nicht nur aus Angestellten, sondern auch aus Selbstständigen und Freelancern. Brauchen wir hier nicht Ideen wie zum Beispiel ein Midlife-BAföG? Das BAföG hat einmal der Breite der Bevölkerung den Zugang zur Universität geöffnet. Könnten wir das nicht auch bei der Weiterbildung im digitalen Zeitalter machen? Mehr Mut, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({4}) Drittens und Letztens. Ich glaube, wir werden über das Bisherige hinausgehen müssen. Wenn wir ehrlich sind, reden wir bei der Weiterbildung heute sehr stark über betriebsnahe Angebote der Weiterbildungsträger, die es heute schon gibt, oder der VHS. Das ist gut, aber im internationalen Vergleich zu wenig. Wir werden einen Schritt weiter gehen müssen. Wir werden den Raum weiten und endlich auch die deutschen Universitäten richtig für das Thema Weiterbildung öffnen müssen. ({5}) Wir warten auf Vorschläge, einen solchen Rahmen zu setzen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition. Wenn diese drei Elemente zusammenkommen, dann kann man von einer nationalen Weiterbildungsstrategie reden, dann haben wir ein echtes zweites Bildungssystem für das ganze Leben geschaffen. Nicht weniger sollte unser Anspruch sein. Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als Nächste spricht Jessica Tatti für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jessica Tatti (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004911, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesminister Heil! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Digitalisierung bringt nicht das Ende der Arbeit. Doch die Arbeitswelt wandelt sich durch die Digitalisierung. ({0}) In einigen Branchen werden weiterhin Arbeitsplätze verloren gehen und in anderen neue entstehen, mit anderen Anforderungen und anderen Inhalten. So weit, Herr Bundesminister Heil, sind wir uns einig. Die Weiterbildung wird daher in Zukunft fester Bestandteil im Erwerbsleben sein müssen. ({1}) Eine präventive, eine vorsorgende Arbeitsmarktpolitik, die die Beschäftigten mit nach morgen nimmt, unterstützen wir selbstverständlich. ({2}) Aber der Gesetzentwurf der Bundesregierung greift viel zu kurz und wird diesem Ziel nicht gerecht. ({3}) Erster Kritikpunkt. Im Gesetzentwurf fehlen die am Arbeitsmarkt besonders benachteiligten Gruppen wie Geringqualifizierte, Menschen mit Migrationshintergrund und nicht zuletzt Menschen, die Arbeitslosengeld II beziehen. Diese Menschen haben bereits heute deutlich geringere Chancen, an Weiterbildungen teilzunehmen; sie liegen um zwei Drittel unterhalb des Durchschnitts. Ihr Gesetz, Herr Heil, wird an diesem Missstand nichts ändern, rein gar nichts. Meine Fraktion und ich fordern, dass die berufliche Weiterbildung im SGB II massiv ausgeweitet wird, anstatt die Menschen mehr und mehr in unsichere und schlecht entlohnte Arbeit zu drängen oder ganz von der Erwerbsgesellschaft auszuschließen. ({4}) Zweitens brauchen wir in der Weiterbildung für alle Beschäftigten innovative Methoden, die Lust auf Lernen machen. Es gibt hervorragende Konzepte, die verschiedene Medien, Lernorte und praxisorientiertes Lernen kombinieren. Genau diese Konzepte schließen Sie aber in Ihrem Gesetzentwurf aus. Die IG Metall fordert doch nicht umsonst, Arbeitsorte zu Lernorten zu machen. ({5}) Mit Weiterbildungen nach Schema F provozieren Sie Misserfolge, gerade auch für Menschen, deren Lernpraxis schon länger zurückliegt. Nicht zuletzt fehlt die notwendige Stärkung der betrieblichen Mitbestimmung. Die Betriebsräte müssen über das Ob und Wie der betrieblichen Weiterbildung mit entscheiden. ({6}) Im Koalitionsvertrag, Herr Heil, steht das übrigens. Daher frage ich mich: Warum fehlt das Initiativrecht für Betriebsräte im Gesetzentwurf? ({7}) Erlauben Sie mir noch eine Anmerkung zur neuen Mode, zu den Chancengesetzen: Teilhabechancengesetz, Qualifizierungschancengesetz. Chancen sind schön und gut, aber die Verwirklichung von Chancen setzt Rechte und Ressourcen voraus. Verbindliche Rechte sind im Gesetzentwurf jedoch kaum zu finden. Wir fordern Sie auf, im Gesetz einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung, insbesondere eine Berufsausbildung, zu verankern. ({8}) Vielen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist der Kollege Ralf Kapschack von der Fraktion der SPD. ({0}) – Sie haben getauscht. Entschuldigung, das habe ich nicht gesehen. Ich bitte um Geduld. – Zunächst redet Dr. h. c. Albert Weiler für die Fraktion der CDU/CSU. ({1}) – Ich gucke jetzt einfach einmal auf die Tafel. ({2}) Als Nächster spricht Peter Aumer für die CDU/CSU. ({3})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Alle guten Dinge sind drei. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Tatti, Chancen – ich glaube, genau das ist es, was unser Land und die Menschen in unserem Land heute brauchen. ({0}) Deshalb ist es gut und klug, dass wir über Chancen reden, und zwar in vielen Bereichen: bei der Teilhabe, aber auch bei der Qualifizierung und im Bereich der Arbeitslosenversicherung – das sind die beiden Bereiche, über die wir heute reden –, ({1}) nicht nur dort, aber auch dort. Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Gesetzentwurf, den wir heute einbringen, ist ein Musterbeispiel für soziale Marktwirtschaft. Lieber Herr Kollege Theurer, wir haben uns in der letzten Sitzungswoche schon einmal über das Thema „soziale Marktwirtschaft“ unterhalten. Die FDP versucht ja immer, sich so ein bisschen als Erfinder der sozialen Marktwirtschaft zu gerieren. Ich glaube, das haben euch andere vorgemacht. Dieser Gesetzentwurf ist, wie gesagt, ein Musterbeispiel für soziale Marktwirtschaft; ({2}) denn er bringt die drei Aspekte Gerechtigkeit, Freiheit und Wirtschaftswachstum in ein vernünftiges Gleichgewicht. Dieses vernünftige Gleichgewicht, Kollege Vogel, vergisst die FDP ab und an. Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit dem Qualifizierungschancengesetz schaffen wir einen höheren Schutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Arbeitslosenversicherung. Wir fördern Weiterbildung, und wir entlasten Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Bereich der Arbeitslosenversicherung. Wenn man die Begründung dieses Gesetzentwurfes genau liest, stellt man fest: Es wiederholen sich vor allem zwei Wörter, nämlich Strukturwandel, die Herausforderungen unserer Zeit, und die Reaktion auf diesen Strukturwandel, also die Herausforderungen, die angegangen werden müssen. Um den Herausforderungen des digitalen und demografischen Strukturwandels gerecht zu werden, braucht es Weiterbildung und Qualifizierung, Sicherheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und mehr Netto vom Brutto. Ich möchte auf diese drei Bereiche ganz kurz eingehen: Zu „Mehr Netto vom Brutto“. Gerade für die Union ist die Entlastung unserer Mittelschicht ein ganz wichtiges Thema. Deshalb haben die CSU und vor allem unser Landesgruppenvorsitzender Alexander Dobrindt sehr intensiv dafür gekämpft, dass es einen noch spürbareren Vorschlag zur Entlastung bei der Arbeitslosenversicherung gibt. Durch die 0,5 Prozentpunkte erreichen wir ein Entlastungsvolumen von fast 6 Milliarden Euro jedes Jahr. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen an die Bürger und Bürgerinnen in unserem Land. ({3}) Ich glaube, dass das, was die FDP immer wieder versucht, indem sie ständig Äpfel mit Birnen vergleicht, nicht wirklich ein fairer Weg ist. ({4}) – Johannes, du hast das auch schon gemacht, im Bereich der Pflege. Ich glaube, dass die Pflege- und die Arbeitslosenversicherung etwas ganz Unterschiedliches sind. ({5}) Die Herausforderungen im Pflegebereich sind gewachsen – darüber haben wir uns schon einmal unterhalten –, und die Menschen erwarten eine bessere Pflege. Deswegen, glaube ich, kann man sich auch diese Wortmeldung sparen. Dass das mehr oder weniger ist, ist ganz klar. Aber ein Mehr an Pflege kostet auch mehr Geld. ({6}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, weil wir gerade bei der Arbeitslosenversicherung sind, möchte ich ganz kurz auf Bundesfinanzminister Scholz eingehen, der in diesen Tagen vorgeschlagen hat, eine europäische Arbeitslosenversicherung oder einen europäischen Arbeitslosenfonds auf den Weg zu bringen. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, wollen keinen Einstieg in die Vergemeinschaftung der Sozialsysteme und keinen Umverteilungsmechanismus. Das Lohngefälle, aber auch die unterschiedlich hohen Arbeitslosenzahlen in Europa würden nämlich einen gigantischen Umverteilungsmechanismus zur Folge haben. ({7}) Der IWF hat ausgerechnet, dass das jedes Jahr 11,4 Milliarden Euro kosten würde. Ich denke, darüber muss man sich wirklich Gedanken machen. Von unserer Seite gibt es dazu ein klares Nein. Ich möchte auf das Qualifizierungschancengesetz zurückkommen. Lieber Johannes Vogel, wir haben eine nationale Weiterbildungsstrategie. ({8}) Du solltest dich vielleicht mehr mit den Dingen, die die Bundesregierung macht, auseinandersetzen. Das ist nur ein kleiner Teil. Wir haben noch viele andere Ansätze, die dazu beitragen, dass wir bei Weiter-, Aus- und Fortbildung in unserem Land weiterkommen. Es gibt, liebe Frau Kollegin Zimmermann, mehr Geld für die Jobcenter und die Bundesagentur. Auch da würde ein Blick in den Gesetzentwurf reichen. Wir haben vor allem versucht, auch für die Landwirtschaft einen Beitrag zu leisten; das war der CSU ganz wichtig. Dass wir die regionalen Produkte fördern und dass die 70‑Tage-Regelung ausgeweitet und entfristet wird, ist ein wichtiges Signal an die regionale Landwirtschaft in Deutschland. Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf ist gut. Deswegen haben wir ihn eingebracht. Ich glaube, er ist ein Gesetzentwurf, der Maß und Mitte in den Mittelpunkt stellt. Deswegen bitten wir Sie um eine gute Beratung und um Ihre Zustimmung. Herzlichen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist dann Dr. Albert Weiler für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Albert Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004439, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren auf der Tribüne! Liebe Fernsehzuschauer! Werte Kolleginnen und Kollegen! ({0}) Jetzt wurde Deutschland von der Opposition wieder schlechtgeredet. Ich weiß manchmal gar nicht, warum Sie noch in Deutschland wohnen, wenn hier doch alles so schlecht ist. ({1}) Linke wie Klaus Ernst oder Sahra Wagenknecht kommen mit dem Porsche vorgefahren oder wohnen in millionenteuren Villen ({2}) und wollen uns dann die Altersarmut erklären. Die Grünen und die FDP trinken exklusiven Rotwein aus bester französischer Lage – den mag ich übrigens auch – ({3}) oder ein Glas Champagner. ({4}) Aber dann kommt’s: Sie stoßen ins gleiche Horn. Das wiederum tue ich nicht. Die AfD sieht in jedem Dunkelhäutigen einen Verbrecher, ({5}) geht aber in den Dönerladen, weil uns der Verkäufer ja mit leckeren Dingen versorgt und weil wir dort vor allen Dingen kostengünstig essen können. ({6}) Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Was für eine verlogene und dekadente Welt! ({7}) Gott sei Dank gibt es Licht am Ende des Tunnels: Ein mir sehr gut bekannter Chef einer Tageszeitung hat mir versprochen, jeden Tag mindestens eine gute, positive Schlagzeile zu veröffentlichen. Dabei unterstütze ich ihn gerne. Meine Damen und Herren, zum fünften Mal machen wir keine neuen Schulden. Wir setzen unsere verantwortungsvolle und vor allem generationsgerechte Haushaltspolitik fort. Aber wir gehen sogar noch ein Stück weiter: Wir werden die Menschen in Deutschland am wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes noch stärker beteiligen. Es ist Zeit, etwas zurückzugeben. Denn es sind vor allem die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die mit ihrem täglichen Einsatz für unsere gute finanzielle Situation verantwortlich sind. ({8}) Deshalb werden wir mit dem Gesetz, das uns als Entwurf vorliegt, den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung um 0,4 Prozentpunkte absenken. Ausschlaggebend hierfür ist vor allem die anhaltend positive wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik, die eine Entlastung der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber um insgesamt 2,6 Milliarden Euro jährlich zulässt. Das, meine Damen und Herren, ist doch mal eine gute Nachricht. Die aktuell gute Lage am Arbeitsmarkt erlaubt sogar eine darüber hinausgehende Absenkung des Beitragssatzes um weitere 0,1 Prozentpunkte. Trotzdem sorgen wir für eine gute Rücklage im Haushalt der Bundesagentur für Arbeit in Höhe von rund 22,5 Milliarden Euro. Wir setzen uns dafür ein, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer trotz des Strukturwandels auf dem Arbeitsmarkt weiterhin geschützt bleiben. In vielen Berufen wird immer mehr Flexibilität verlangt, besonders von denjenigen, die häufig oder wiederkehrend nur für eine kurze Dauer beschäftigt sind. Gerade diese Menschen müssen sich deshalb auf den Schutz der Arbeitslosenversicherung verlassen können. Mit der Erweiterung der Rahmenfrist werden wir den modernen Arbeitsverhältnissen noch stärker gerecht. Diejenigen, die 12 Monate Anwartschaftszeit innerhalb einer Rahmenfrist von 30 Monaten nachweisen können, sollen zukünftig Zugang zu den Leistungen der Arbeitslosenversicherung erhalten. Bisher lag diese Rahmenfrist lediglich bei 24 Monaten. Das ist ein sehr gutes Angebot an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sehr verehrte Damen und Herren, der heute in den Bundestag eingebrachte Entwurf eines Qualifizierungschancengesetzes bietet ein umfangreiches Maßnahmenbündel, das die Menschen in Deutschland finanziell entlastet und sie trotzdem absichert. Ich freue mich auf die weitere parlamentarische Diskussion und hoffe, dass auch die Opposition – da schaue ich alle an – diesen guten Weg mitgeht. Das wäre doch eine sehr gute Nachricht, die ich auch gerne in den großen Tageszeitungen lesen würde. Vielen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Zweiter Anlauf: Letzter Redner in der Debatte ist nunmehr der Kollege Ralf Kapschack für die SPD. ({0})

Ralf Kapschack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004321, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauer! Zum Schluss der Debatte möchte ich Ihren Blick auf eine Gruppe richten, die besonders auf den Schutz der Arbeitslosenversicherung angewiesen ist: die kurzfristig Beschäftigten und die Kulturschaffenden. Was haben Schauspieler, Synchronsprecher und viele Kulturschaffenden mit Arbeit 4.0 zu tun? Eine ganze Menge. Denn sie arbeiten jetzt schon so, wie man es für zahlreiche Berufsgruppen in den nächsten Jahren vorhersagt. Sie sind in der Regel Projektbeschäftigte: kurzfristig beschäftigt, wechselnde Arbeitgeber, schwankendes Einkommen. Und sie profitieren kaum vom Schutz der Arbeitslosenversicherung; sie sind aber besonders von Arbeitslosigkeit bedroht. Es gibt zwar eine Sonderregelung für kurzfristig Beschäftigte, aber sie wirkt kaum. Diese Regelung besagt, dass diese Gruppe für einen kürzeren Zeitraum Beiträge zahlen muss als die Normalbeschäftigten, um Ansprüche zu erwerben. Es sind aber nicht zuletzt Kulturschaffende, Schauspielerinnen und Schauspieler, die so oft viel Geld in die Arbeitslosenversicherung einzahlen, aber nichts herausbekommen. Weniger als 300 Antragsteller beziehen Leistungen. Wir wollen den Zugang zur Arbeitslosenversicherung verbessern ({0}) – gemach, gemach! –, gerade für die, die häufig nur über kurze Zeit beschäftigt sind, auch für Kulturschaffende. Wir wollen Sicherheit durch Solidarität. ({1}) Wer innerhalb der genannten Rahmenfrist von 30 Monaten mindestens 12 Monate Versicherungszeit nachweist, soll nach dem Gesetzentwurf künftig einen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung; es reicht aber noch nicht. ({2}) Am sinnvollsten wäre es, den Zugang so zu verändern, dass keine Sonderregelung mehr notwendig ist. ({3}) Das heißt Rahmenfrist erweitern, Versicherungszeiten absenken und vielleicht auch etwas bei den Verdienstgrenzen tun. ({4}) Das wäre die beste Lösung. Wenn man das nicht will, dann muss man zumindest etwas bei der Sonderregelung für kurzfristig Beschäftigte tun. Das ist eigentlich unumstritten. Unter anderem aus Bayern kommt der Vorschlag, die notwendige Versicherungszeit zu senken und die Verdienstgrenzen zu erhöhen. Auch darüber kann man reden. Ich finde, wir sollten die Bedingungen für den Zugang zum Arbeitslosengeld so ändern, dass sie der Lebenswirklichkeit der Kulturschaffenden näherkommen. Eine Sonderregelung bringt immer das Problem mit sich, dass sie bestimmte Gruppen bevorteilt. Bei den Kulturschaffenden gibt es gute Argumente dafür. Schauspieler etwa können an den Produktionsbedingungen von Filmen oder Fernsehserien nichts ändern. Sie werden im kurzen Takt produziert, mit kurzen Beschäftigungszeiten, und danach ist oft im wahrsten Sinne des Wortes Sendepause. Insofern gibt es eine gute Begründung für eine Sonderregelung. Besser wäre es allerdings, wir würden uns dazu durchringen, insgesamt den Zugang zur Arbeitslosenversicherung zu erleichtern. ({5}) Künstlerinnen und Künstler sind zwar etwas Besonders, aber die meisten von ihnen wollen keine Sonderbehandlung, sondern gleiche Chancen für alle. Herzlichen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Kapschack. – Mit diesen Worten schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/4948 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 428 Hochschulen gibt es in Deutschland, darunter riesige wie die Unis in Köln, Bochum, München oder Frankfurt, aber auch kleine wie die Hochschule im sächsischen Mittweida oder in Furtwangen auf den Höhen des Schwarzwaldes. Ob groß, ob klein, für alle Hochschulen gilt: Sie legen die Basis für Wachstum und Wohlstand. Sie entfachen Kreativität und Innovation. Sie befeuern den Transfer von Wissen in Wirtschaft und Gesellschaft. Wer Zukunft gestalten will, braucht starke Hochschulen. ({0}) Daher müssen Bund und Länder die Hochschulen weiter gemeinsam finanzieren, verlässlich und dynamisch. Derweil laufen zwischen Bund und Ländern die Verhandlungen um den nächsten Hochschulpakt auf Hochtouren. Uns Grünen im Bundestag sind dabei drei Ziele besonders wichtig: Wir wollen erstens ausreichend Studienplätze, zweitens mehr Chancengerechtigkeit für Studierende und drittens eine höhere Qualität in Studium und Lehre. ({1}) Bisherige Hochschulpakte liefern hier Licht und Schatten. Licht sehe ich bei den Studienplätzen. Bis 2023 werden rund 1,7 Millionen zusätzliche Studienanfänger vom Pakt profitieren. Das wird Bund und Länder viele Milliarden Euro kosten – wahrlich bestens investiertes Geld. Damit eröffnen wir nicht nur 1,7 Millionen Mal Studienchancen, sondern investieren auch in Fortschritt und Gemeinwohl unseres Landes. ({2}) Allen Prognosen zufolge bleibt die Nachfrage nach Studienplätzen sehr hoch. Den Studienpakt abzuwürgen oder aus ihm einen Wettbewerb zu machen, wie es manche Fraktionen wollen, wäre daher grundverkehrt. Es braucht verlässliche Finanzierung. ({3}) Düster sieht es bei der Chancengerechtigkeit aus. Aktuell beginnen von 100 Kindern aus Akademikerfamilien 79 ein Studium. Von 100 Kindern aus nichtakademischen Elternhäusern schaffen gerade einmal 27 den Sprung an unsere Hochschulen. Deshalb sage ich als Arbeiterkind: Das muss sich dringend ändern. ({4}) Cool wäre es, wenn mehr Akademikerkinder eine Berufsausbildung anstreben. Cool wäre, mehr Arbeiterkinder zum Studium zu ermuntern. Zugangschancen zur Hochschule dürfen nur vom Grips, nicht vom Geburtsort oder Geldbeutel der Eltern abhängen. ({5}) Deswegen muss das BAföG erhöht werden – dafür wird es höchste Zeit –, und deswegen muss die Pauschale pro Studienanfänger erhöht werden. Und wir brauchen eine klare Ansage an unsere Universitäten: Unis, öffnet euch für vielfältigere Studierende! ({6}) Schatten gibt es auch bei der Frage, was der Hochschulpakt für gute Lehre und Studium gebracht hat. Lehre schultern vielerorts Lehrbeauftragte, das heißt freie Mitarbeiter, die Großes leisten für klitzekleines Honorar. Das grenzt oftmals an Ausbeutung. Das ist kein Zustand, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Einen leibhaftigen Professor bekommen die Studierenden immer seltener zu Gesicht. Auf einen Uniprofessor kommen durchschnittlich 63 Studierende. Bei den Ingenieuren ist das Verhältnis 1 : 90. Solche Betreuungsrelationen sind international nicht konkurrenzfähig, und sie müssen dringend verbessert werden. ({8}) Wir wollen mehr Dauerstellen für Daueraufgaben. Wir wollen verlässlichere Karrierewege für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Auch an Hochschulen muss endlich gelten: Es gibt faire Arbeitsbedingungen. ({9}) Diese Schwächen müssen im nächsten Hochschulpakt behoben werden. Darum fordern wir erstens: Bund und Länder sollen dauerhaft in Erhalt und Ausbau der Studienplätze investieren. Was bei einzelnen Exzellenzuniversitäten möglich ist, soll auch bei der Finanzierung von Studienplätzen in der Breite gelten. Eine gute Grundfinanzierung der Hochschulen ist überfällig. ({10}) Zweitens. Der Hochschulpakt soll dynamisiert werden. Das heißt, nicht nur die außeruniversitären Forschungseinrichtungen sollen künftig Jahr für Jahr einen garantierten Aufwuchs von 3 Prozent bekommen, sondern auch die Hochschulen. Die Schere zwischen beiden darf nicht weiter auseinanderdriften. Das ist wichtig für alle Studierenden im Land. ({11}) Verstetigung und Dynamisierung sind elementar, um Studien- und Arbeitsbedingungen sowie Betreuungsrelationen an Hochschulen zu verbessern. Unis und Fachhochschulen brauchen hier Planungssicherheit. ({12}) Wir dürfen auch nicht das soziale Drumherum eines Studiums vergessen. Studierende brauchen nicht nur einen Platz im Hörsaal, sondern auch Bibliotheken, Mensen, gute Studienberatung und bezahlbares studentisches Wohnen in den Hochschulstädten. ({13}) Hier braucht es dringend mehr Impulse von Bildungsministerin Karliczek – wo ist sie eigentlich? – und von Bauminister Seehofer. Dazu ist nichts zu hören. Da kann man sich richtig ins Zeug legen. Eine Stärke des Hochschulpaktes ist, dass die Länder das Geld flexibel vor Ort in Fachhochschulen und Universitäten einsetzen können. Das wollen wir bewahren, statt 16 bürokratische Zielvereinbarungen einzuführen. Bund und Länder können zu einer unkomplizierten und gemeinsamen Kooperationskultur finden, bei regional höchst unterschiedlichen Ausgangslagen. Dafür gibt der Hochschulpakt ein sehr gutes Beispiel. ({14}) Meine Damen und Herren, Studieren eröffnet Horizonte. Unter Akademikerinnen und Akademikern herrscht faktisch Vollbeschäftigung. Bei solchen Aussichten wundert es nicht, dass sich viele junge Menschen für ein Studium entscheiden. Ich hoffe, dass Schauermärchen wie „Magister, arbeitslos, und die sieben promovierten Taxifahrer“ nicht mehr geglaubt werden. So etwas tischen nur noch Leute auf, die von der Bedeutung von Wissenschaft in unserem Land keinen blassen Schimmer haben.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte?

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. – Hochschulen sind unschätzbar wichtig als Orte demokratischen Diskurses und der Wissenschaftsfreiheit, als Zugpferde und Jungbrunnen der Region, als Bildungsorte und Talentschmiede, als Treffpunkt für Tüftler, Dichter und Denker. All das zu unterstützen, das sollte uns mehr wert sein. Dafür wünschen wir Bund und Ländern mehr Mut und Wumms bei den Paktverhandlungen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Gehring. – Als Nächster spricht für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Stefan Kaufmann. ({0})

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach so viel Wasser im Wein, lieber Kollege Kai Gehring, bei Ihnen und auch in den Anträgen der anderen Fraktionen, möchte ich zunächst festhalten: Im Zeitraum 2007 bis 2023 wird allein der Bund insgesamt 20,2 Milliarden Euro für den Hochschulpakt bereitgestellt haben, meine Damen und Herren – 20,2 Milliarden Euro! ({0}) Wir haben damit den Ländern eine beachtliche Unterstützung geleistet, ohne die es den Hochschulen nicht möglich gewesen wäre, auf die seit Jahren stark ansteigende Zahl von Studienanfängern angemessen zu reagieren. An dieser Stelle gilt den Hochschulen mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die in dieser Zeit wirklich Beeindruckendes geleistet haben, ein ganz herzliches Dankeschön, meine Damen und Herren. ({1}) Wir haben mit dem Hochschulpakt aber nicht nur Hunderttausende Studienplätze finanziert und damit etlichen jungen Menschen – auch Arbeiterkindern, lieber Kai Gehring – ein Studium ermöglicht; Berechnungen gehen von über 900 000 zusätzlichen Studienanfängern im Zeitraum 2007 bis 2015 aus. Wir haben mit dem Beginn der dritten Phase des Paktes im Jahre 2016 verstärkt auf Nachhaltigkeit und Qualitätssicherung gesetzt, zum Beispiel auf die Senkung der Studienabbrecherquote. Im Koalitionsvertrag nun haben sich CDU, CSU und SPD zudem darauf verständigt, den Hochschulpakt in Zukunft auf der Grundlage des von uns in der letzten Wahlperiode neu geschaffenen Artikel 91b des Grundgesetzes zu verstetigen und die entsprechenden Kriterien hierfür jeweils für die Laufzeit von sieben Jahren mit den Ländern und den Hochschulen auszuhandeln. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, wird den Hochschulen die Möglichkeit eröffnen, die Hochschulpaktmittel für unbefristet beschäftigtes Lehrpersonal einzusetzen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dürfen sich also freuen, denn es bestehen Chancen auf neue Dauerstellen. Auch das sei an deine Adresse gerichtet gesagt, lieber Kai Gehring. ({2}) Meine Damen und Herren, ich darf es heute nicht versäumen, zu erwähnen, dass es die ureigene Sache der Länder ist, für eine verlässliche, für eine auskömmliche Finanzierung der Hochschulen zu sorgen. Gerne erinnere ich auch heute nochmals an die enorme Entlastung der Länder im Bereich der BAföG-Finanzierung, die allein jährlich 1,2 Milliarden Euro ausmacht und angesichts der wirklich sehr guten Steuereinnahmen auch der Länder viel Raum lässt, verstärkt in die Hochschulen, in eine verlässliche, in eine auskömmliche Grundausstattung zu investieren. ({3}) Meine Damen und Herren, natürlich, wir haben eine Schieflage. Der Anteil der Grundausstattung der Hochschulen an der Finanzierung schrumpft vielerorts zusehends, die Drittmittelfinanzierung nimmt zu, wobei viele Drittmittel letztlich Ausdruck einer guten Arbeit an den Hochschulen sind. Man sollte hier nicht das eine gegen das andere ausspielen, was in der Debatte immer wieder passiert. ({4}) Gleichwohl hat der Bund in den letzten Jahren ganz im Sinne einer gelebten Kooperationskultur enorm viel in den Hochschulbereich investiert. Es war ja nicht nur der Hochschulpakt nebst Qualitätspakt Lehre. Es war jetzt das Professorinnenprogramm, es war natürlich die Exzellenzinitiative bzw. die Exzellenzstrategie. Hier hat der Bund die Länder massiv unterstützt und damit deutliche Verbesserungen für die Hochschullandschaft, aber vor allem für die Studierenden, für die Forschenden und die Lehrenden erreichen können.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Christmann von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen? – Gut, ja. Er erlaubt es offensichtlich.

Dr. Anna Christmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004694, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kaufmann, vielen Dank für die Möglichkeit zu einer Frage. – Weil Sie sich auf den Hochschulpakt und darauf bezogen haben, dass Sie das als Regierung jetzt verstetigen wollen, was wir grundsätzlich begrüßen, Sie aber andererseits auch auf die Verantwortung der Länder hingewiesen haben, würde ich Sie gern direkt fragen, ob Sie damit der Meinung sind, dass alle steigenden Kosten in diesem Bereich, also insbesondere die Personalkosten, dann alleine von den Ländern zu tragen sind und der Bund sich also an diesen stetig steigenden Kosten nicht beteiligen wird.

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich werde gleich noch etwas zu dem Thema „Dynamisierung und Anteil der Länder“ sagen. Vielleicht beantwortet sich die Frage dann damit im weiteren Verlauf der Rede. – Vielen Dank, Frau Christmann. ({0}) Die derzeit laufenden Verhandlungen bieten jedenfalls Gelegenheit, nicht nur über die Höhe der seitens des Bundes und der Länder einzusetzenden Mittel, sondern vor allem auch über die inhaltliche Ausgestaltung zu sprechen; da gehört dies natürlich dazu. Nun werden die Verhandlungen in der GWK aufseiten des Bundes zunächst durch das Haus, durch die Ministerin, durch die Staatssekretäre geführt. Wir als Parlament sitzen nicht direkt am Verhandlungstisch; aber als Haushaltsgesetzgeber sind wir unmittelbar von den Verhandlungsergebnissen betroffen. Deshalb ist es gut und richtig, dass wir heute hier im Parlament darüber reden, wie nach unserer Auffassung die beiden Pakte in Zukunft aussehen sollen. ({1}) Die vorliegenden Anträge der Opposition, lieber Kai Gehring, beinhalten eine Vielzahl guter und auch weniger guter Ideen, die sich teilweise mit unseren Vorschlägen, die wir unserer Ministerin mit an den Verhandlungstisch gegeben haben, decken. Da geht es zum Beispiel um die Stärkung der dualen Hochschulen, der privaten Hochschulen, aber auch um die Berücksichtigung der Fortschritte bei der Digitalisierung, ebenso um die stärkere Beteiligung der Länder und den Wunsch nach einer Verbesserung der Betreuungsrelation, um einige Stichworte zu nennen. Ohne jetzt wirklich Details nennen zu wollen, zähle ich zumindest einige Grundforderungen auf, die wir formulieren und die auch niemanden überraschen werden, die aber aus unserer Sicht, also aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion, für die weiteren Verhandlungen unumstößlich sind. Erstens spricht sich meine Fraktion gegen eine Dynamisierung aus, wie wir sie, lieber Kai Gehring, beim Pakt für Forschung und Innovation kennen; denn Hochschulen sind im Gegensatz zu den außeruniversitären Forschungseinrichtungen nach der grundgesetzlichen Aufgabenverteilung keine gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern. ({2}) Zweitens. Wir wollen auch kein Modernisierungsprogramm initiieren, lieber Kai Gehring, weil auch der Hochschulbau einschließlich der Sanierung ausschließlich Sache der Länder ist, und das muss auch so klar sein. ({3}) Drittens. Wir erwarten, dass die Länder beim Nachfolgepakt mitgehen, also ihrerseits mindestens in gleicher Höhe mitfinanzieren. Das war in der Vergangenheit oft nicht der Fall. So stellte beispielsweise der Bund im Jahre 2014 knapp 1,9 Milliarden Euro zur Verfügung, die Länder aber nur 1,5 Milliarden Euro. Das nannte man dann in der letzten Vereinbarung „vergleichbar“. Das wollen wir so nicht weiterführen. Wir wollen einen mindestens gleich hohen Anteil. ({4}) Weiter: Wir setzen verstärkt auf Qualität vor Quantität mit entsprechenden neuen Parametern, das heißt eine Kombination aus kapazitäts- und qualitätsbezogenen Parametern, zum Beispiel Betreuungsrelation und Digitalisierung; ich habe es angesprochen. Des Weiteren werden wir uns selbstverständlich für eine angemessene Einbeziehung der Hochschulen für angewandte Wissenschaften, der dualen Hochschulen und auch der privaten Hochschulen einsetzen, da diese einen wichtigen Teil der zusätzlichen Studierenden aufnehmen. Schließlich wollen wir einen jährlichen Fortschrittsbericht für den Deutschen Bundestag sowie am Ende der ersten Phase der Nachfolgevereinbarungen auch eine umfassende Evaluierung der Maßnahmen. Der Wissenschaftsrat hat mit seinem Positionspapier „Hochschulbildung im Anschluss an den Hochschulpakt 2020“ einen substanziellen Vorschlag erarbeitet, der eine, wie ich meine, gute Grundlage für die laufenden Verhandlungen bietet. Meine Kollegen Tankred Schipanski und Katrin Staffler werden hierzu im Detail in ihren Reden noch weiter ausführen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich jedenfalls auf die weitere Debatte. Ich bin mir sicher, dass wir am Ende zwei kluge Nachfolgevereinbarungen zu Hochschulpakt und Qualitätspakt Lehre abschließen werden, Vereinbarungen, die Ausdruck eines gelebten kooperativen Föderalismus sind und unsere Hochschulen voranbringen, Vereinbarungen, die den Studierenden und Lehrenden im Lande zugutekommen. Dafür machen wir alle ja schließlich Politik: für die Menschen. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Kaufmann. – Als Nächster der Kollege Dr. Götz Frömming, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir debattieren heute über die vorliegenden Anträge der Opposition zum Hochschulpakt. Dass dieser Pakt in der derzeitigen Situation verlängert werden soll, darüber besteht meines Erachtens Einigkeit. Strittig ist allerdings die Frage, wie das geschehen soll. Die Grünen wollen eine Dauerzusatzfinanzierung der Hochschulen durch den Bund, die sich automatisch jedes Jahr um 3 Prozent erhöhen soll. Die Linken wollen das auch, aber fordern noch 80 000 zusätzliche Studienplätze für Flüchtlinge und weitere Mittel für deren „psychosoziale Beratung“, so heißt es in ihrem Antrag. Auch die FDP will eine Verstetigung des Paktes, aber keine automatische Erhöhung. Und die Ministerin – sie ist heute nicht da – soll eine Dynamisierung, also automatische Erhöhung der Mittel, brüsk abgelehnt haben, wie der „Tagesspiegel“ berichtet. ({0}) Es wird Sie vielleicht überraschen, lieber Herr Kollege Gehring, dass wir die Ministerin an dieser Stelle ausdrücklich unterstützen. Wir gehen sogar noch weiter: Wir meinen, dass der Bund sich aus der Grundfinanzierung der Hochschulen allmählich wieder zurückziehen sollte. Vielmehr muss die Finanzordnung zwischen Bund und Ländern so geregelt werden, dass die Länder ihre Hochschulen wieder selbst finanzieren können, und ab 2020 erhalten sie ja fast 10 Milliarden Euro mehr vom Bund. ({1}) Bevor wir über die Art und Weise der Fortführung des Hochschulpaktes entscheiden, lohnt ein Blick zurück auf die bisherige Entwicklung. Der Hochschulpakt war bekanntlich eine Reaktion auf die doppelten Abiturjahrgänge infolge der Einführung von G 8 und des Wegfalls der Wehrpflicht. Beides waren übrigens historische Fehler. Trotz eines enormen Mitteleinsatzes – die Zahlen wurden genannt – haben sich seit 2007 die Grundmittel pro Student von Jahr zu Jahr reduziert: 2006 betrugen sie noch 7 700 Euro pro Student und Jahr, 2015 dann nur noch 6 600 Euro, trotz des Hochschulpaktes. Eine Erfolgsgeschichte, meine Damen und Herren, ist das bestimmt nicht. ({2}) Hinter diesen Zahlen verbirgt sich das ganze Elend an unseren Hochschulen: schlechte Betreuungsverhältnisse, schlechte Lehr- und Lernbedingungen und im internationalen Vergleich nur mittelmäßige Ergebnisse. Auf eine deutsche Universität mit Weltrang warten wir sehnsüchtig. Mit einer bloßen Fortschreibung des Hochschulpaktes wird sich an dieser Situation auch nichts ändern, weil Sie sich alle hier miteinander vor dem Kern des Problems drücken. ({3}) An den Universitäten halten sich viel zu viele junge Menschen auf, die dort gar nicht hingehören. ({4}) lm Jahr 2017 hatten wir 365 000 Lehrlinge im Handwerk, aber 2 845 000 Studenten. Von dieser enormen Zahl von Studenten bricht fast jeder im Verlauf des Studiums sein Studium ab, ohne zu einem Abschluss zu kommen. ({5}) Meine Damen und Herren, das ist aus unserer Sicht eine gigantische Steuerverschwendung, die wir dringend beenden müssen. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kai Gehring?

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr gerne.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Entschuldigung, Herr Kollege. Das war jetzt so wirr, dass ich einmal nachfragen möchte. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich helfe Ihnen gerne.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie haben gesagt: Da gehören viele nicht hin. – Jetzt wüssten wir von Ihnen einmal gerne: Wer der Studierenden gehört denn nicht an eine Hochschule, wenn das Hochschulzugangsberechtigte sind, die die Eingangstests bestanden haben, die Zugangsvoraussetzungen etc. haben? Welche Gruppe wollen Sie denn weg von der Uni haben? Wir sagen sehr klar: Es muss ein durchlässiges, es muss ein inklusives Hochschulsystem geben. Sie scheinen offensichtlich ein Bildungskastensystem haben zu wollen, dass Arbeiterkinder immer Arbeiterkinder bleiben und Elite immer Elite bleibt. Sagen Sie hier einmal sehr klar: Wer gehört denn da nicht hin? ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank für die Frage, Herr Kollege Gehring. Die lässt sich ganz einfach beantworten. – Ach so, Sie waren noch nicht fertig?

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie haben auch gesagt, alle würden ihr Studium abbrechen.

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Nein, jeder Dritte. Fast jeder dritte Student bricht sein Studium ab.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ach, jeder Dritte. Auch diese Zahl ist aber falsch, ein Fake. Ich finde es wichtig, das festzuhalten.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, wir machen hier keinen Dialog. Herr Kollege Gehring, Sie stellen eine Frage, die wird beantwortet. Ein Dialog ist nicht zulässig.

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank für den Belehrungsversuch, Herr Gehring. Sie können diese Zahl gerne im Faktencheck nachprüfen: Fast jeder Dritte bricht sein Studium ab. ({0}) Gerade weil diese Abbrecherquote so hoch ist, sagen wir: Wir brauchen bessere Steuerungsmechanismen, zusätzlich zum Abitur. Ich komme gleich noch dazu, welche das sind. ({1}) Wir haben noch weitere Vorschläge. Ich komme jetzt gleich dazu, welche das sein können. ({2}) Wir stehen nämlich ein für Eignungsprüfungen, zusätzlich zum Abitur, weil das Abitur aufgrund der linken Bildungspolitik in vielen Bundesländern leider nichts mehr wert ist und keine Steuerungsmechanismen mehr entfaltet. Die Kapazitätsverordnung an den Hochschulen zwingt die Hochschulen, immer mehr Studenten aufzunehmen. Davon müssen wir wegkommen; denn die Qualität kann so gar nicht erhöht werden. ({3}) Da müssen wir dringend heran. Auch die FDP hat das erkannt, Sie nicht. Wir brauchen eine bessere Beratung und stärkere Berufsorientierung. Schließlich darf auch die Einführung von Studiengebühren – noch ein Aufreger für Sie – kein Tabu sein, insbesondere für Studenten aus dem Ausland. ({4}) Fazit: Wer Qualität will, muss sich vom Sozialismus verabschieden. Die Uni für alle bringt keine bessere Qualität. Davon müssen wir weg. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Wiebke Esdar, SPD-Fraktion.

Dr. Wiebke Esdar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Hochschulpakt, Hochschulfinanzierung – uns liegen heute von allen vier Oppositionsfraktionen Anträge dazu vor. Ich möchte mich als Erstes dafür bedanken, dass wir dadurch die Möglichkeit haben, einen Monat vor der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz hier im Parlament darüber zu diskutieren. ({0}) Wir haben in der letzten Legislatur mit dem neu geschaffenen Artikel 91b im Grundgesetz die Voraussetzung dafür geschaffen, dass wir als Bund in die strukturelle, dauerhafte Förderung der Hochschulen einsteigen können. Das wollen wir in dieser Legislatur jetzt auch umsetzen. Wir wollen dafür den Qualitätspakt und den Hochschulpakt verstetigen. Das ist ein Paradigmenwechsel, weil wir endlich wegkommen von dieser Forderung: ein Pakt, noch ein Pakt und noch ein Pakt. – Das ist am Ende besser für die Studierenden, besser für die Hochschulen, besser für die dort Beschäftigten. ({1}) Uns sind dabei drei Dinge wichtig: Wir wollen erstens damit erreichen, dass endlich an den Hochschulen entfristet wird. Wir brauchen auch in der Wissenschaft sichere Beschäftigungsverhältnisse. Darum ist Kernpunkt für uns, dass die Hochschulpaktmittel vorrangig für unbefristetes Lehrpersonal ausgegeben werden und wir vonseiten des Bundes und der Länder den Pakt so ausgestalten, dass das möglich ist. Wir könnten uns sogar vorstellen, es zum Förderkriterium zu machen, dass Standards für gute Arbeit in der Wissenschaft erfüllt werden. Für unsere Fraktion gehört dazu, dass die Mittel regelmäßig und dynamisch steigen müssen, den Tarifabschlüssen entsprechend. Wir brauchen zweitens kluge Vergabekriterien, und wir müssen Fehlanreize vermeiden. Wir haben bisher vor allem durch den quantitativen Parameter Studienanfänger gefördert. Wir müssen jetzt dahin kommen, das qualitative Element, das wir reinbringen wollen, klug auszugestalten. Die Frage ist: „Was sind kluge Kriterien?“, weil wir, vergleichbar zum Peer Review in der Forschung, keine guten, etablierten, validen Kriterien haben, wie wir Qualität im Studium und in der Lehre messen wollen. Uns ist an dieser Stelle ganz wichtig, dass wir keine Anreize setzen, die zu sozialen Selektionsmechanismen führen, etwa indem wir die Hochschulen anreizen, nur noch die Studierenden aufzunehmen, bei denen die Wahrscheinlichkeit am höchsten ist, dass sie möglichst schnell zum Abschluss kommen, weil wir den Abschluss als wichtigstes Kriterium setzen. Wir können uns eher vorstellen, über Studierende in der Regelstudienzeit zu sprechen – Regelstudienzeit plus x erlangen, zum Beispiel plus vier Semester, weil uns auch wichtig ist, die Lebensrealität der Studierenden zu berücksichtigen. Die Lebensphase Studium ist viel mehr als möglichst schnell zum Abschluss zu kommen und nur zu lernen. Viele wollen nebenbei arbeiten oder müssen arbeiten, und auch Auslandssemester müssen möglich sein. ({2}) Wir wollen die Hochschulen aber nicht aus der Verantwortung lassen. Sie sollen sich darum kümmern, dass es in ihren Studiengängen möglich ist, dass möglichst viele Studierende innerhalb der Regelstudienzeit, schnell, in angemessener Zeit durch das Studium kommen. Mit den bisherigen Paktmitteln – darauf drängen Hochschulen und Länder zu Recht – sind neue Studienplatzkapazitäten aufgebaut worden. Wir sind der Meinung, das sollte honoriert werden. Mit anderen Worten: Das ist ganz schön komplex. Wir hoffen, dass wir da eine gute Mischkalkulation finden. Uns ist drittens wichtig, dass wir die Erfolge aus dem Qualitätspakt Lehre in die Breite und in die Fläche tragen. An ganz vielen Hochschulen sind durch den Qualitätspakt Lehre enorme Anstrengungen unternommen worden. Es sind ganz viele ganz tolle Projekte umgesetzt worden, richtig gute Projekte. Ich habe bis vor einem Jahr an einem Projekt zur Begleitevaluation arbeiten dürfen. Da gibt es ganz viele tolle Projekte. Aber wir haben noch das Problem, dass die Maßnahmen zu selten die Studierenden erreichen, die wirklich gut davon profitieren würden, die diese Unterstützung gut gebrauchen könnten, und wir haben zu viele Leuchttürme, die nicht in die Studiengangstruktur eingeflossen sind. Wir müssen, wenn wir als Bund den Qualitätspakt Lehre jetzt verstetigen, dahin kommen, dass wir genau diejenigen erreichen, und wir müssen die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass in der Studiengangstruktur, in der Breite die Qualität der Lehre dadurch verbessert werden kann. ({3}) Meine Damen und Herren, darum ist die Verstetigung des Hochschulpakts und des Qualitätspakts Lehre eine große Chance. Denn so können wir als Bund nicht nur dafür sorgen, dass der Bund finanziell in Bildung und Forschung investiert, sondern auch von Bundesseite wieder Wissenschaft in Deutschland gestalten, und zwar hin zu guter Arbeit, hin zu einem besseren Studium und damit auch hin zu mehr Bildungsgerechtigkeit. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Jens Brandenburg das Wort. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine junge Studentin, die in Teilzeit studiert, um ihre Mutter zu pflegen; ein 50‑jähriger Handwerksmeister, der neben seinem Vollzeitjob einzelne Module in Informatik belegt; eine Unternehmerin, die sich in Onlinevorlesungen zu Themen wie „Künstliche Intelligenz“ weiterbildet: Die Hochschule der Zukunft verändert sich. Sie wird individueller, und sie wird vielfältiger. All das spiegelt sich in der Finanzierung der Hochschullehre bisher überhaupt nicht wider. ({0}) Im eben angesprochenen Hochschulpakt überweist der Bund den Ländern für jeden zusätzlichen Studienanfänger 26 000 Euro – wohlgemerkt für solche Studienanfänger, die über mehrere Jahre hinweg in Vollzeit und mit voller Präsenz studieren. Das mag ein hilfreiches Instrument gewesen sein, um die Zusatzkosten der doppelten Abiturjahrgänge etwas abzufedern. Ein wirksamer Beitrag zu mehr Qualität und Innovation in der Hochschullehre war es jedenfalls nicht. ({1}) Nutzen wir also die große Chance der Neuauflage dieses Hochschulpakts, um genau das zu ändern. Wir müssen von einer Finanzierungslogik der anonymen Massenabfertigung zu einer echten Qualitätsoffensive für weltbeste Bildung an allen Hochschulen übergehen. ({2}) Ich bin mir sicher, dass die Bildungsministerin, Frau Karliczek, auch wenn sie gerade nicht hier ist, schon sehnsüchtig auf die drei konkreten Vorschläge der Serviceopposition wartet. Erstens. Schaffen Sie im Hochschulpakt endlich qualitätsorientierte Kriterien. Es ist zwar gut, dass Sie die Mittel des Hochschulpakts endlich verstetigen wollen, Herr Staatssekretär. Die bisherigen Anreize – wir haben es eben gehört – gehen aber fehl. Die Zahl der Studienanfänger ist doch nur ein finanzieller Anreiz für Länder und Hochschulen, am Anfang möglichst viele Menschen zu immatrikulieren und sie dann von Semester zu Semester zunehmend herauszuprüfen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Brandenburg, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Esdar, die damit Ihre Redezeit verlängern kann?

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, sehr gerne.

Dr. Wiebke Esdar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank, Herr Brandenburg. – Sie haben gerade die Ministerin aufgefordert, qualitative Kriterien zu finden. Meine Frage lautet, was denn Ihr Vorschlag dafür wäre. Schließlich habe ich in meiner Rede gerade sehr deutlich gemacht, dass es gar nicht so leicht ist, die Kriterien zu finden, mit denen wir die Qualität der Lehre dann auch messen können. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. Ich wollte ohnehin gleich exemplarische Vorschläge machen. Deshalb bedanke ich mich für die eine zusätzliche Minute. Ich habe übrigens sehr wohlwollend zur Kenntnis genommen, sowohl bei Ihnen als auch bei Herrn Kaufmann, dass durchaus die Bereitschaft besteht, solche qualitätsorientierten Kriterien zumindest vonseiten Ihrer Fraktionen aufzunehmen. Von der Ministerin haben wir bisher wenig Konkretes gehört. ({0}) Insofern freue ich mich sehr auf die Zustimmung von Union und SPD zu unserem Antrag im Ausschuss. Ich habe es gesagt: Es ist gut, dass Sie die Mittel verstetigen wollen. Anreize für Studienanfänger sind ein Problem. Das gilt aber auch für die Absolventenzahlen. Es ist nicht besser, wenn die Länder am Ende dafür belohnt werden, dass sie die Niveaus der Abschlussprüfungen absenken. Dafür darf es keine finanzielle Belohnung geben. Zu den messbaren Kriterien: Ich fordere Sie auf – auch konkret die Bildungsministerin –, mit den Ländern individuell Zielvereinbarungen zu schließen, die messbare Qualitätskriterien verankern und allen Beteiligten Planungssicherheit geben. Nun kommen die versprochenen Beispiele für solche Kriterien, Frau Esdar. Erstes Beispiel: eine effektive Betreuungsrelation, die deutlich nach oben geht. Zweites Beispiel: das Anbieten internationaler Studiengänge, beispielsweise eine stärkere Bereitschaft, an den europäischen Hochschulnetzwerken teilzunehmen. Drittes Beispiel: der Ausbau von digitalen Lehrangeboten, um mehr Zielgruppen erreichen zu können. Viertes Beispiel: der Anteil der Bildungsaufsteiger, um Bildungserfolg stärker von der sozialen Herkunft zu entkoppeln. Fünftes Beispiel: die Öffnung der Hochschulen für Module des lebenslangen Lernens. Sechstes Beispiel: die Förderung studentischer Ausgründungen. Vergießen wir die vielen Milliarden Euro des Hochschulpakts also nicht länger mit dem Gartenschlauch, sondern schaffen wir einen Paradigmenwechsel hin zu mehr Qualität und Innovation in der Hochschullehre. ({1}) Zweiter Vorschlag. Schaffen Sie bitte mehr Transparenz bezüglich der Verwendung der Mittel. Im Bildungsministerium mangelt es ja sicher nicht an Formularen. Darum geht es mir aber gar nicht. Wie wir von Herrn Kaufmann schon gehört haben, wird der Bund bis 2023 über 20 Milliarden Euro für den Hochschulpakt ausgegeben haben. Sie haben im Ministerium allerdings keinen blassen Schimmer, wo das Geld am Ende landet. Wir haben vor einigen Wochen nachgefragt, ob und inwiefern auch Fachhochschulen davon profitieren. ({2}) Das Ministerium konnte uns keine Antwort geben. Auf die Nachfrage, ob und inwiefern auch private Hochschulen davon profitieren, und, wenn ja, in welchen Bundesländern, gab es ebenfalls keine Antwort des Ministeriums. Dabei wissen wir doch, wie gerne viele Bundesländer die Studienanfängerzahlen der privaten Hochschulen nehmen, um sie dem Bund in Rechnung zu stellen, und dann keinen müden Cent davon weiterleiten. Auch das kann es nicht sein. ({3}) Bei der Verlängerung und Neuauflage des Hochschulpakts müssen wir also dafür sorgen, dass die Mittel des Bundes nicht die Investitionen der Länder in Hochschulbildung ersetzen, sondern dass sie effektiv ankommen – für eine bessere Lehre, und zwar an allen Hochschulen. ({4}) Dritter Vorschlag. Sorgen Sie bitte endlich für eine Reform des Hochschulzulassungsrechts. Das Wort „Kapazitätsverordnung“ kann ja kaum noch jemand hören. Sehr vereinfacht gesagt, geht es dabei darum, dass am Anfang eines Jahres für jeden Studiengang berechnet wird, wie viel Lehrkapazität ein Student in diesem Studiengang im Laufe seines Studiums verbraucht. Dieser sogenannte Curricularnormwert kann in betreuungsintensiven Studiengängen, beispielsweise der Medizin, eher höher sein und in anderen Studiengängen – BWL, Philosophie sind hier als Beispiele zu nennen – etwas niedriger liegen. Parallel dazu berechnen die Hochschulen die theoretisch verfügbare Lehrkapazität für diese Studiengänge. Rechtlich haben die Hochschulen dann keine andere Chance, als so lange neue Studierende aufzunehmen, bis diese Lehrkapazität vollends ausgereizt ist. Worin liegen da die Probleme? Erstens. Diese Curricularnormwerte stammen zum allergrößten Teil noch aus den 70er-Jahren – einer Zeit, in der wir in großen Massenuniversitäten gedacht haben, und einer Zeit, seit der sich alle Studiengänge in Inhalt und Form massiv verändert haben. Zweitens. Auch die Auswirkungen des Bologna-Prozesses, die Umstellung auf Bachelor und Master, sind noch nicht ordentlich in diesem System verankert. Drittens. Die Lehrkapazität wird auf Basis der theoretisch verfügbaren Stellen und nicht auf Basis der tatsächlich besetzten Stellen der Hochschulen berechnet. Dabei wissen wir doch alle, wie lange Berufungsverfahren an den Hochschulen dauern können. Viertens. Auch dieses System stellt ausschließlich auf Vollzeitpräsenz und mehrjährige Studiengänge ab. Es besteht keine Chance, darüber eine Anerkennung beispielsweise für Onlinemodule – neue Onlinekurse, MOOCs, wie sie in den USA längst selbstverständlich sind – zu schaffen. Fünftens. Das größte Problem von allen ist, dass Sie als Hochschule in diesem rechtlichen Rahmen gar keine Chance haben, zusätzliches Geld für eine bessere Betreuungsrelation in den Studiengängen auszugeben. Frau Ministerin bzw. anwesender Herr Staatssekretär, mir ist bewusst, dass eine solche Reform sicher keine einfache Aufgabe ist. Wenn Sie einfache Aufgaben hätten, bräuchten wir keine Ministerin. Warten Sie also bitte nicht länger mit einer solchen Reform ab, und kapitulieren Sie nicht vor dem Status quo, sondern gehen Sie diese große Aufgabe endlich gemeinsam mit den Ländern an. ({5}) Erlauben Sie mir eine letzte grundsätzliche Bemerkung zur Rolle von Parlament und Regierung. Sie verhandeln zurzeit mit den Ländern ein milliardenschweres Paket, das den Bund auf Jahre hinaus verpflichten wird. Anschließend erwarten Sie von uns im Deutschen Bundestag, dass wir diese Vereinbarung akzeptieren und in Haushaltsberatungen entsprechend finanziell unterlegen. Grüne und Freie Demokraten haben aus der Opposition heraus zahlreiche Fragen zu Ihrer Verhandlungsposition und zum Stand der Verhandlungen gestellt. 34 der 55 Fragen konnten Sie entweder nur unvollständig oder gar nicht beantworten. Um das einmal klarzustellen: Nicht die Bundesregierung, sondern das Parlament legt die Leitlinien in der Hochschulpolitik fest. Nicht wir sind an Ihre Vorgaben gebunden, sondern umgekehrt. Stellen Sie sich also – richten Sie das bitte der Ministerin aus – endlich der Debatte, und zwar nicht nur mit der eigenen Fraktion, sondern mit dem gesamten Haus. Dann klappt es auch mit der Qualität im Hochschulpakt. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächste spricht die Kollegin Nicole Gohlke, Fraktion Die Linke, zu uns. ({0})

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn Hochschulen und Universitäten gut arbeiten sollen, brauchen sie langfristige Finanzierungszusagen und Planungssicherheit. Das ist so logisch, so eindeutig und so selbstverständlich, dass es wirklich nur noch schräg ist, wie lange die Große Koalition da herumdoktert und wie schwer sie sich mit einer Aussage zur Fortsetzung des Hochschulpaktes getan hat. Das ist wirklich grotesk. ({0}) Sie haben die Hochschulen in den letzten 20 Jahren massiv umgebaut. Sie haben super viel Druck ins System gebracht. Finanziell untersetzt haben Sie das ganze Manöver aber nicht. Das war und ist ein Riesenfehler. ({1}) Allen Mitgliedern der Hochschulen, ob den Studierenden, Lehrenden, denjenigen in der Verwaltung oder den Profs, wird weit mehr abverlangt als noch vor einigen Jahren. Ständig müssen alle Exzellenz beweisen. Alle sollen ständig publizieren. Es müssen Drittmittel eingeworben werden, weil sonst das Geld hinten und vorne nicht reicht, um überhaupt den Betrieb aufrechterhalten zu können. Der Verwaltungsaufwand ist insgesamt enorm angestiegen. Nicht nur qualitativ wird von den Beteiligten immer mehr erwartet, auch die Zahl der Studierenden steigt immer weiter. Aber dass so viele junge Leute heute studieren wollen, liegt ja leider nicht daran, dass es so schön ist, heutzutage zu studieren, sondern es zeigt vor allem, wie groß die Befürchtung von vielen jungen Menschen ist, ohne Hochschulabschluss keinen guten Job zu finden. Junge Menschen aus Nichtakademikerhaushalten oder mit Migrationshintergrund haben es besonders schwer, an den Hochschulen Fuß zu fassen. Wenn man das endlich einmal ändern will, braucht es eine bedarfsgerecht ausgebaute soziale Infrastruktur, Beratungsangebote, Kinderbetreuung, Mensen und vor allem natürlich genug und bezahlbaren studentischen Wohnraum. ({2}) Die derzeitige Unterfinanzierung der Hochschulen führt zu einer massiven sozialen Auslese, und das bekommen mittlerweile auch schon Studierende aus durchschnittlich verdienenden Elternhäusern zu spüren. Bildung darf aber nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen. Das ist für uns die oberste Prämisse. ({3}) Die schlechte Finanzierung zeigt sich eben auch an den vielen befristeten und oft kläglich bezahlten Arbeitsverhältnissen bei den Lehrenden und im Mittelbau. Für die Lehrenden wie für die Studierenden ist das ein echter Motivationskiller. Es gehört nämlich schon sehr viel Idealismus dazu, im Job immer sein Bestes zu geben, wenn der Arbeitgeber durch geringe Entlohnung und durch Befristung deutlich macht, wie wenig ihm diese Arbeit wert ist. Und für die Studierenden bietet sich ein abschreckendes Bild, wenn sie sehen, dass sich die Menschen, die über den Abschluss verfügen, den sie gerade anstreben, von Befristung zu Befristung hangeln und in der vorlesungsfreien Zeit im schlimmsten Fall sogar noch aufs Jobcenter angewiesen sind. Es ist höchste Zeit, das zu ändern. Wir brauchen eine Entfristungsoffensive. Es braucht sichere Stellen in der Wissenschaft. Die Wissenschaft gehört endlich auf eine arbeitsfähige Basis gestellt. ({4}) Der Hochschulpakt wurde seinerzeit aufgelegt, als man mit einem plötzlichen Anstieg der Studierendenzahlen rechnete. Aus diesem abrupten Anstieg von damals sind aber schon längst konstant hohe Zahlen geworden, und alles spricht dafür, dass die Zahlen auch hoch bleiben werden. Im Übrigen ist das auch völlig in Ordnung. Daran ist überhaupt nichts falsch, wie das der Redner der AfD behauptet hat. Das war ja wirklich entlarvend, dass der AfD offenbar wirklich jede Idee fehlt, wie man gesellschaftlichen Herausforderungen, in dem Fall hohen Studierendenzahlen, begegnen kann, ohne immer auf Sachen wie Selektion oder autoritäre Maßnahmen zurückzugreifen. ({5}) Zucht und Ordnung, Hochschulen als Eliteanstalten und die Verschärfung der Klassengesellschaft in der Bildungslandschaft – das sind Ihre Ideen. Das ist einfältig, ({6}) und das ist, ehrlich gesagt, das Bildungsverständnis von vor 100 Jahren. Mit den Hochschulen heute hat das nichts zu tun. ({7}) Ich finde, dass viele junge Menschen studieren wollen, ist begrüßenswert. Nur sollte völlig klar sein, dass wachsende Hochschulen natürlich auch wachsende Mittel benötigen. Die Mittel müssen mindestens der Inflation und den laufenden Tarifsteigerungen angepasst sein. Die Linke fordert deswegen eine jährliche Anpassung der Bundeszuschüsse in Höhe von 3 Prozent. Denn die Festschreibung einer fixen Summe ohne Rücksicht auf mögliche Entwicklungen in der Zukunft läuft natürlich auf ein stetes Abschmelzen der Mittel hinaus. Wir bräuchten stattdessen aber einen deutlichen Aufwuchs. ({8}) Eine solide Finanzierung würde die Hochschulen auch aus der unwürdigen Abhängigkeit von den Drittmitteln erlösen. Der ständige Wettbewerb um diese Zuwendungen von dritter Seite bevorteilt Forschung, die auf unmittelbare Anwendung und Verwertung zielt, benachteiligt aber viele Fachbereiche, die wichtiges Wissen für unsere Gesellschaft produzieren. Damit schneidet sich diese Gesellschaft ins eigene Fleisch. Zu den Voraussetzungen für Wissenschaftsfreiheit gehört eben auch eine solide öffentliche Finanzierung. ({9}) Last, but not least: Es geht darum, die unsägliche Benachteiligung der Fachhochschulen zu beenden. Die Fachhochschulen schauen sowohl bei den Drittmitteln als auch bei der Exzellenzstrategie regelmäßig in die Röhre. Dabei sind das die Hochschulen, die in den vergangenen Jahren den meisten Zulauf hatten, darunter viele junge Menschen, die als erste in ihren Familien ein Studium aufnehmen. Die Fachhochschulen sind eine ganz wichtige Bildungsbrücke und sollten darin unbedingt unterstützt werden. ({10}) Kolleginnen und Kollegen, wer gute Bildung will, muss sie verlässlich und bedarfsgerecht finanzieren. Stellen Sie die Finanzierung der Wissenschaft endlich auf eine arbeitsfähige Basis! Vielen Dank. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Tankred Schipanski, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir das Thema heute aufrufen. Es ist aber auch keine Idee der Opposition; ({0}) denn wir hatten hier schon mehrere Haushaltsdebatten, wo unsere Fraktion zumindest schon dargestellt hat, wie wir uns die zukünftige Konstruktion des Hochschulpaktes vorstellen. Anlass ist, glaube ich, der 16. November 2018, wo sich die GWK trifft. Von daher ist es gut, dass jeder sagt, wo er steht und was er von diesen Verhandlungen letztlich erwartet. Ich bedaure es außerordentlich, dass ich die Länderbank hier zu meiner Linken wieder leer erleben muss. Bei einem solchen Thema, wo Bund und Länder zusammenstehen, finde ich es schon ein starkes Stück, wie anscheinend auf das, was der Bund hier leistet, reagiert wird. ({1}) Meine Damen und Herren, der Koalitionsvertrag hat klar festgelegt: Wir wollen eine Nachfolgevereinbarung für den Qualitätspakt Lehre. Wir wollen eine Nachfolgevereinbarung für den Hochschulpakt. Meine Kollegin der SPD hat es richtig angesprochen: Wir haben da absichtlich und bewusst Verstetigung reingeschrieben, und jetzt überlegen wir gemeinsam, wie das Ganze aussehen kann. Klar ist dabei für uns, dass es weiterhin darum geht, dass eine auskömmliche Grundfinanzierung der Hochschulen Ländersache bleibt. ({2}) Der Kollege Kaufmann hat es eindeutig dargestellt: Der Bund ist für die Grundfinanzierung der Hochschulen nicht zuständig. Ich will Ihnen sagen, was die Experten bei der Anhörung zur Grundgesetzänderung – wir haben hier den Artikel 104c Grundgesetz debattiert – eindeutig gesagt haben. Ich zitiere mal aus dem Protokoll vom 8. Oktober 2018, Seite 15. Professor Seiler sagt: Ich bezweifele …, … dass die Länder finanziell nicht in der Lage wären, die Aufgabe so zu übernehmen. Sie haben politisch halt andere Schwerpunkte gesetzt. Das ist in einer Demokratie aber nicht per se kritikwürdig. Sie sehen also, dass die Länder sehr wohl in der Lage sind, hier ihrer Aufgabe nachzukommen. Von daher denke ich, ein Finanzierungsumfang, von dem wir hier sprechen, für beide Pakte von 2 Milliarden Euro ist eine gute Hausnummer, mit der wir hier reingehen können. Und wenn hier immer wieder die dynamische Finanzierungskomponente angesprochen wird, dann kann ich sagen: Natürlich, die Länder können ihren Anteil gerne dynamisieren und die entsprechenden Aufwüchse finanzieren; kein Problem. Meine Damen und Herren, Qualität vor Quantität. Ich freue mich, dass wir uns bei diesem Thema eigentlich alle einig sind, bis auf Die Linke. Wir wollen klare, überprüfbare Qualitätskriterien haben. Die Kollegin der SPD hat schon aufgezeigt, wie schwierig das ist. Ausgangspunkt ist ja in unseren Überlegungen die Empfehlung des Wissenschaftsrates, und daher sprechen wir uns eindeutig dafür aus, dass wir einen Mix aus qualitätsbezogenen Parametern und aus quantitätsbezogenen Parametern machen. Bei kapazitätsbezogenen Parametern – das wurde schon angesprochen – stellen wir uns beispielsweise die Studierenden in der Regelstudienzeit vor, eventuell plus zwei Semester. Einfach an Absolventenzahlen oder Studienanfängerzahlen anzuknüpfen, halten wir für nicht mehr zeitgemäß. ({3}) Bei den qualitätsbezogenen Parametern ist auch das Betreuungsverhältnis angesprochen worden. Das muss hier ein ganzes Stück im Mittelpunkt stehen. Es geht um eine Verbesserung des Betreuungsverhältnisses. Wir müssen schauen, wie viel Professuren wir im Verhältnis zu der Zahl der Studierenden haben. Stefan Kaufmann hat es angesprochen: Das hat natürlich auch etwas mit Dauerstellen zu tun. Von daher, denke ich, ist die Koalition sich bei diesem Thema sehr einig darin, dass wir also eine Kombination aus kapazitätsbezogenen und qualitätsbezogenen Parametern brauchen. Ich möchte aber in die Debatte einen dritten Parameter einbringen. Es ist nämlich nachzudenken, ob es nicht sinnvoll ist, auch zu schauen, was die Länder pro Studierenden leisten oder wie die Bildungsausgaben der Länder sind, und die Länder zu motivieren: Je höher sie investieren, desto höher investiert auch der Bund in dieser Sache. Ich denke, es ist wichtig, dass wir die Wissenschaftskollegen, die Wissenschaftsminister der Länder gegenüber ihren Länderfinanzministern stärken und ihnen etwas an die Hand geben, damit sie sehen: Wenn wir hier stärker in die Bildung investieren, dann honoriert das auch der Bund, und dann würde auch der Bund mehr Mittel geben. Das sollten wir diskutieren und diese Idee durchaus aufnehmen. ({4}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch auf die Anträge der Opposition eingehen. Davon, was die AfD gesagt hat, der Hochschulpakt sei eine Steuermittelverschwendung, distanzieren wir uns vonseiten der CDU/CSU-Fraktion ausdrücklich und weisen das zurück. Weiterhin formulieren Sie in Ihren Anträgen Vorschläge zum Numerus clausus. Da muss ich sagen: Der Numerus clausus muss die Ausnahme bleiben. Er ist manchmal nötig, aber ihn auszuweiten, das halten wir nicht für richtig. ({5}) Ich freue mich ausgesprochen darüber, dass die SPD, auch in der Debatte, ein Stückchen von ihrem Zehn-Punkte-Plan zu einem umfassenden Hochschulfinanzierungsvertrag abgerückt ist, der 2016 und 2017 im Wahlkampf Thema war. Ich finde es sehr gut, dass auch Sie sagen: Qualität vor Quantität. Liebe Kollegin der Linken, es ist jedes Jahr die gleiche Platte, die hier von Ihnen aufgelegt wird. Seien Sie doch einmal konstruktiv! Seien Sie in diesem Falle vielleicht auch einmal ein Stückchen Serviceopposition! Davon, was Sie hier über die Fachhochschulen erzählt haben, dass diese nämlich benachteiligt werden, sind wir weit, weit weg. Dann komme ich zur FDP. Kollege Brandenburg hat hier gefragt, was die Bundesmittel eigentlich gebracht hätten. Ich wundere mich darüber ein Stückchen; denn das Dokument – Eckdaten aus einer Untersuchung des BMBF zu Auswirkungen des Hochschulpaktes 2020 – ist ganz normal im Internet verfügbar. Darin steht eindeutig: Anstieg des wissenschaftlichen Personals an unseren Hochschulen um 24 Prozent. Das Personal an Fachhochschulen ist dabei stärker angestiegen, nämlich um ganze 45 Prozent, bei den Universitäten nur um 20 Prozent. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich bin gleich am Ende meiner Rede. Dann schauen wir mal, ob wir eine Schlussintervention bekommen oder nicht. ({0}) Weiterhin haben wir die Anzahl der Professoren, leider Gottes nur um 20 Prozent, die Zahl der Lehrbeauftragten ist – auch das wurde angesprochen – um 72 Prozent in die Höhe gegangen. Das ist eine schlechte Entwicklung. Genau da wollen wir ja gegensteuern und sagen: Hier müssen wir Dauerstellen schaffen. – Auch der Frauenanteil ist bei allen Personalkategorien gestiegen. Ich denke, das sind gute Zahlen, die wir hier sehen. Diese Idee, die Grundidee des Hochschulpaktes, ist richtig. Daran wollen wir festhalten. Das wollen wir verstetigen. In diesem Sinne freuen wir uns auf die GWK-Verhandlungen am 16. November. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Dr. Marc Jongen von der AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Abgeordnete! Herr Kollege Kaufmann von der CDU, es seien 20 Milliarden Euro für den Hochschulpakt 2020 ausgegeben worden, haben Sie hier verkündet. Allein die „Flüchtlingskosten“ des Jahres 2016 betragen 20 Milliarden Euro. ({0}) So viel zu den Prioritäten Ihrer Politik. ({1}) Folgt man den Hochglanzbroschüren der Regierung, dann stellt der Hochschulpakt natürlich eine einzige Erfolgsgeschichte dar: Mehr Lehrende. Mehr Studierende. Die Zahl der Studiengänge ist gar auf 19 000 angestiegen – ich meine, eine Zahl, die nichts Gutes verheißt, sondern worunter sich natürlich sehr viel zeitgeistig Sinnloses verbirgt. Sieht man genauer hin, dann wird deutlich, dass in der Hochschulpolitik der Regierung nach dem Grundsatz „Masse statt Klasse“ verfahren wird, Ihren gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz. Das darf nicht so bleiben, meine Damen und Herren! ({2}) Das Problem ist doch, werte Grüne, dass eben zu viele Berufe in eine Zwangsakademisierung hineingetrieben werden ({3}) und dass dadurch zu viele junge Leute an die Universität geholt werden, die für ein Studium nicht geeignet sind. Dann muss man sich über die hohen Studienabbrecherquoten auch nicht wundern. ({4}) Wenn es so weitergeht, werden wir vielleicht bald eine Raumpflegewissenschaft oder einen Bachelor of ­Cooking erleben. Das entwertet die außerakademische Berufsausbildung, und es schädigt vor allem die jungen Leute, die wertvolle Lebenszeit verschwenden und ihren Bildungsweg mit frustrierenden Misserfolgen belasten. Nein, lassen Sie uns den Erfolg von Wissenschaft nicht an der Masse der Studenten oder der Studienfächer messen, sondern an der Qualität der Ergebnisse, am Niveau der Publikationen und Forschungsprojekte, am Renommee der Hochschullehrer und an der Attraktivität Deutschlands für die besten Köpfe unter den Studenten weltweit – und nicht nur solcher, die von den fehlenden Studiengebühren in Deutschland angezogen werden. ({5}) Frau Ministerin Karliczek – sie ist heute nicht da; das finde ich bezeichnend, deswegen sage ich es hier in Abwesenheit im Video –, ich fand es äußerst befremdlich, was Sie in der „Zeit“ gesagt haben, nämlich: Ich erwarte, dass die Wissenschaft sich besser erklärt. Sie muss raus aus ihrem Kämmerchen … Sie führten als Beispiel den Ausdruck „Algorithmus“ an, den viele Bürger nicht verstünden. Nun ist natürlich die Vermittlung von Wissenschaft an die interessierte Öffentlichkeit eine wichtige Aufgabe, aber was Sie, Frau Karliczek, „Kämmerchen“ nennen, das ist genau der von Wirtschaft, Politik, auch Religion abgetrennte Raum, den die Wissenschaft braucht, um sich nach ihrer Eigengesetzlichkeit entfalten zu können, um überhaupt zu existieren. Wer die Mittelvergabe an Wissenschaft von deren unmittelbaren Anwendbarkeit oder Vermittelbarkeit abhängig macht, der hat das Prinzip der Wissenschaft nicht verstanden. Große Entdeckungen und Fortschritte passieren fast immer in der Grundlagenforschung, meine Damen und Herren. ({6}) Etwas mehr Demut wäre hier am Platz gewesen, gerade für eine Quereinsteigerin, Frau Ministerin. ({7}) Aber das ist ja das Kernproblem unserer Wissenschaftspolitik: Immer mehr wissenschaftsfremde Akteure bemächtigen sich der Hochschulen, ganz einfach deshalb, weil es daran viel zu verdienen gibt. Mit der anstehenden Digitalisierung der Bildung ist ein neuer Schub an Technokratenherrschaft über die Universitäten zu erwarten. Ein Problembewusstsein dafür lässt Ihr Antrag, liebe Kollegen von der FDP, leider vermissen. Oder: Wie kann es etwa sein, dass das Centrum für Hochschulentwicklung, CHE, das in der Wissenschaftspolitik kräftig mitmischt, zum Großteil von der privaten Bertelsmann-Stiftung getragen wird? Da ist die Kritik der Linken am Eindringen der Wirtschaftsinteressen in die Wissenschaft gar nicht unberechtigt, auch wenn Sie dafür den etwas verqueren Begriff der Neoliberalisierung verwenden. Aber natürlich machen Sie gleich wieder alles zunichte, indem Sie dann vom angeblichen „Recht“ von sogenannten „Geflüchteten“ auf Hochschulbildung in Deutschland sprechen und vermehrten Mitteleinsatz dafür fordern. Damit finden Sie sich dann doch in einem Boot mit der Bertelsmann-Stiftung wieder, die auch das Hohelied der multikulturellen Einwanderungsgesellschaft singt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Da sind Sie neoliberaler, als Ihnen lieb ist, werte Genossen. Hören Sie vielleicht einmal auf Ihre Kollegin Frau Wagenknecht, die erklärt Ihnen die Zusammenhänge. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner spricht für die SPD-Fraktion der Kollege Dr. Karamba Diaby. ({0})

Dr. Karamba Diaby (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004259, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mitte der 90er-Jahre habe ich meine Promotion auf dem Gebiet der Geoökologie an der Martin-­Luther-Universität Halle-Wittenberg abgeschlossen. Meine Forschungsarbeit zur Schwermetallbelastung von halleschen Schrebergärten wurde teilweise aus Drittmitteln vom Bund finanziert. Beim Wettbewerb um Drittmittel sieht es heute für den Osten leider schlechter aus – auch wenn wir exzellente Forschungseinrichtungen haben. Das zeigt, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es hier einen Aufholbedarf gibt und eine Ungleichverteilung, die wir überwinden müssen. ({0}) So werden nun im Rahmen der Exzellenzstrategie 57 Exzellenzcluster gefördert, und – hier kann man es nicht anders sagen – das Ergebnis ist aus meiner Sicht unzureichend: Kein einziges Cluster geht nach Mecklenburg-Vorpommern. Kein einziges Cluster geht nach Sachsen-Anhalt. Kein einziges Cluster geht nach Brandenburg. ({1}) Nur ein einziges Cluster geht nach Thüringen. Drei Cluster gehen – immerhin – nach Sachsen. Wenn wir uns die Förderungskarte anschauen, sehen wir also im Osten viele weiße Flecken. Aufgrund der Forschungsschwäche der Unternehmen und aufgrund des demografischen Wandels sind die Universitäten hier zunehmend auch auf internationale Studierende angewiesen. Die Internationalisierung der Wissenschaft ist deshalb ein harter Standortfaktor – auch für den gesellschaftlichen Transformationsprozess in Ostdeutschland. ({2}) Wir brauchen deshalb im Osten gut ausgestattete Universitäten. Der Präsident der Universität Hamburg wählte einmal mit Blick auf die Hochschulfinanzierung im Allgemeinen folgenden Vergleich. Er fragte nämlich: Wie wäre es, wenn ein Malergeselle erst in einen Wettbewerb um Pinsel und Farbe treten muss, bevor er das Badezimmer streichen darf? Das, was in anderen Bereichen nicht denkbar scheint, ist Alltag in der Hochschulfinanzierung. 2020 läuft mit dem Hochschulpakt das Förderprogramm von Bund und Ländern aus. Der Bund muss und wird auch darüber hinaus ein verlässlicher Partner bleiben, und es ist deshalb gut, dass wir mit der Verstetigung des Hochschulpaktes dauerhaft in die Hochschulfinanzierung einsteigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es stimmt: Beim Pakt für Forschung und Innovation haben wir bei den außeruniversitären Einrichtungen eine automatische Dynamisierung der Mittel; die Mittel steigen also von Jahr zu Jahr. Und ich kann den Deutschen Hochschulverband verstehen, wenn er eine dynamische Entwicklung auch für die Hochschulen fordert. Das muss natürlich im Rahmen von gegenseitigen Verpflichtungen stattfinden. Ein wichtiger Punkt zum Schluss: Die Wissenschaft steht nicht außerhalb der Gesellschaft. Ihre Aufgabe ist es, in die Gesellschaft hineinzuwirken. Ihre Aufgabe ist es, mit wissenschaftlichen Fakten die wachsende Unvernunft zu stoppen. ({3}) Dafür brauchen wir starke Universitäten im Osten und im Westen unseres Landes. Danke schön. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächstes erteile ich der Kollegin Katrin Staffler, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Katrin Staffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004901, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Qualität in der Lehre – vier Wörter, die ich in der Diskussion heute schon zigfach gehört habe. Nur: Was verstehen wir eigentlich darunter? Sprechen wir dabei über Absolventenzahlen? Sprechen wir über das Abschneiden der Universitäten bei Hochschulrankings? Sprechen wir über gute Betreuungsrelationen? Oder sprechen wir am Ende doch nur über die Anzahl der Studenten, die in der Vorlesung nicht einschlafen? – Wir sehen, dass es gar nicht so einfach ist, den Begriff der Lehrqualität einfach so mal schnell zu definieren. Aber genau die Definition des Begriffes – also dass wir uns darauf einigen, worüber wir hier eigentlich sprechen – ist doch zentral für die Frage, die wir hier debattieren, nämlich auf welche Art und Weise wir die Nachfolgevereinbarung für den Hochschulpakt ausgestalten wollen, bei dem es ja ganz wesentlich genau um die Lehrqualität geht. ({0}) Die Oppositionsparteien haben ihre Antworten auf die Frage vorgelegt. Wer mich kennt, weiß: Ich bin ein grundsätzlich positiv denkender Mensch. Deswegen tut es mir leid, dass mir als Erstes bei Ihren Anträgen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und von den Linken, vor allem ein Punkt ins Auge gefallen ist, den wir ganz sicher nicht umsetzen sollten – Stichwort: „Dynamisierung und Grundfinanzierung“. ({1}) Meine Kollegen Stefan Kaufmann und Tankred Schipanski haben es schon ganz eindringlich betont, und auch ich sage es ganz gerne noch mal in aller Kürze: Wir haben in Deutschland eine föderale Aufgabenverteilung mit ganz klaren Zuständigkeiten, vor allem im Bildungsbereich. Das bedeutet eben: Der Bund ist nicht für die Grundfinanzierung der Hochschulen zuständig, und er wird es auch in Zukunft nicht sein. ({2}) So, nachdem wir jetzt schon mal den negativen Aspekt abgehakt haben, kommen wir zu dem deutlich angenehmeren Teil. Wir sind uns nämlich in zwei Dingen schon grundsätzlich einig: Erstens. Wir wollen den Hochschulpakt weiterführen, und zweitens: Ja, wir müssen uns natürlich auch weiterhin anstrengen, die Qualität der Lehre zu verbessern. Deswegen müssen wir im Hinblick auf die Neuverhandlung des Hochschulpakts den Koalitionsvertrag anschauen. Wir haben uns darin zum Hochschulpakt bekannt. Wir wollen diesen auf Grundlage von Artikel 91b des Grundgesetzes verstetigen. Damit wir aber durch die Fortführung des Paktes wirklich zu einer Steigerung der Qualität in der Lehre kommen, müssen wir intensiv darüber nachdenken, was zu einer tatsächlichen, echten und für die Studenten spürbaren Verbesserung in der Lehre führt. Mir ist eine Sache bei der Umsetzung besonders wichtig: Wir dürfen auf keinen Fall ein bürokratisches Monster schaffen, sondern wir müssen klare, einfache Kriterien festlegen, die leicht zu erheben sind und dadurch mit einem geringen Verfahrens- und Verwaltungsaufwand verbunden sind. ({3}) Die Kriterien, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, in Ihrem Antrag zur Verbesserung der Qualität in der Lehre nennen, mögen in der Sache vielleicht vernünftig sein. Nur, wie wollen Sie es tatsächlichen schaffen, dass Sie diese Kriterien in Parameter für die Mittelvergabe gießen, ohne dass wir dabei zu ellenlangen bürokratischen Rattenschwänzen kommen? ({4}) Mir ist das schleierhaft. Um ehrlich zu sein: Ich erachte das als völlig aussichtslos. ({5}) Wenn wir schon bei „aussichtslos“ sind: Ein aussichtsloses Unterfangen ist es auch, die Forderungen der AfD an dieser Stelle nachzuvollziehen. Da scheitert es ja schon an den einfachen Formulierungen. Ich habe mir den Antrag angeschaut; ich zitiere die Forderungen, die Sie hier stellen. „Konzentration auf ausgewählte Studienfächer“, lautet eine Forderung. „Stärkung der Ausbildung für den Beruf“, lautet eine andere. Also, ganz ehrlich, ein bisschen konkreter hätte es an der Stelle schon sein dürfen. ({6}) – Oder auch nicht. Zu den Parametern der Mittelvergabe im Hochschulpakt ist jetzt schon vieles gesagt worden. Im Übrigen dürfen die Mittel durchaus auch an private Hochschulen gehen. ({7}) Ich möchte den Blick jetzt ein bisschen stärker auf den Qualitätspakt Lehre lenken, den wir in der Diskussion aus meiner Sicht noch sehr viel stärker mit dem Hochschulpakt vernetzen müssen. Das Kernthema beim Qualitätspakt Lehre ist, so sagt es ja schon der Name, die Verbesserung der Qualität der Lehre. Ich komme damit auf meine Eingangsfrage zurück: Was ist denn die Qualität bezogen auf die Lehre, und welche Kriterien brauchen wir, um diese zu messen? Diese Frage können wir beantworten, wenn wir sie aus dem vorhandenen Wissen der bereits durchgeführten Projekte aus dem Qualitätspakt ableiten und versuchen, die Kriterien zu standardisieren. Dabei ist es wichtig, dass wir uns zunächst auf einzelne und – auch das ist wichtig – möglichst robuste Indikatoren beschränken, wie uns auch der Wissenschaftsrat in seinen Ausführungen empfiehlt. Gleichzeitig müssen wir – davon bin ich überzeugt – die gewonnenen Erfahrungen aus den Best-Practice-Beispielen, also aus den Projekten im Rahmen des Qualitätspakts, in der Breite der Hochschulen ausrollen. Dadurch werden wir dazu beitragen, dass die Lehre an unseren Hochschulen auch breitenwirksam verbessert wird. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Lehre an Hochschulen genießt im Vergleich zur Forschungsleistung an den Hochschulen leider immer noch eine sehr geringe Wertschätzung. Ich glaube schon, dass es uns ein Anliegen sein muss, dass wir diesen Umstand ändern. Ja, wir müssen den Hochschulpakt mehr qualitativ ausrichten. Aber wir müssen das vernünftig tun, wir müssen das auf Basis verlässlicher Bezugsgrößen tun, und wir müssen das auch im Rahmen der jeweiligen föderalen Zuständigkeiten tun. Die uns hier heute vorliegenden Anträge geben genau das aus meiner Sicht nicht her. Deswegen sage ich: Lassen Sie uns gemeinsam an diesem Thema weiter intensiv arbeiten. Ich freue mich darauf und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Staffler. – Als letztem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Ernst Dieter Rossmann, Pinneberg, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident Kubicki, Strande! ({0}) Meine Damen und Herren! Ich möchte zum Abschluss dieser Runde ausdrücklich an die Kollegen der Koalitionsfraktionen anknüpfen: Es ist ein ganz großer Erfolg, dass wir hier am heutigen Tag über die Fortsetzung und die dauerhafte Unterstützung des Hochschulpakts durch den Bund überhaupt diskutieren können. ({1}) Es hat auch mal Zeiten gegeben, wo es andere Stimmen gab, auch fehllaufende Stimmen. Deshalb ist es gut, dass wir diese große Übereinstimmung haben. In Bezug auf die vier Oppositionsfraktionen, insbesondere in Richtung AfD und Linke, möchte ich zwei Anmerkungen zu Fakten machen. Der AfD sei in ihrem Furor gegen die akademische Bildung ein Faktum zur Kenntnis gegeben: Im Jahr 2017 hat es 513 000 Studierende gegeben, die ein Studium angefangen haben, und es hat 520 000 Menschen gegeben, die in eine duale Ausbildung hineingegangen sind. So viel nur dazu, was die Faktenbasis in Bezug auf Überakademisierung und anderes angeht. ({2}) Der Linkspartei möchten wir gerne sagen: Ja, wir haben nicht mehr die Zeit – Sie auch nicht – für reine Lehre. In 3 von 16 Bundesländern, nämlich in Thüringen, in Berlin und in Brandenburg, sind Sie über Kabinettsmitglieder – in Brandenburg stellen Sie sogar den Finanzminister – an der Ausgestaltung des Hochschulwesens mit beteiligt. ({3}) Ihre Anträge hier erwecken immer so den Eindruck, als würden Sie sich in einer Zwei-Welten-Lehre bewegen. Aber das trägt nicht, vielmehr gilt: Hic Rhodus, hic salta! – Sie müssen das also in den Ländern, wo Sie in einer Koalition sind, auch entsprechend umsetzen. ({4}) Die FDP, die neue Servicepartei, bringt Ideen ein. Frau Staffler, Sie sprachen eben an, dass die von der FDP in die Diskussion gebrachte individuelle Zielvereinbarung des Bundes mit 16 Ländern sich wie eine Kaskade auswirken könnte, denn es gibt ja fast 100 Universitäten und etwa 300 Fachhochschulen. ({5}) Wir finden, dass das nicht nur nicht machbar ist, wie Sie, Frau Staffler, schon sagten, sondern dass das auch nicht wünschenswert ist; denn wir wollen doch gerade mit der Verstetigung der Hochschulpaktmittel die Grundfinanzierung stärken. ({6}) Grundfinanzierung heißt doch nicht, dass man Grundfinanzierungsmittel gibt, dass dann aber gleichzeitig mit der Erfüllung von acht plus x Kriterien verknüpft. Das verstehen jedenfalls wir, die SPD, nicht unter Stärkung der Grundfinanzierung; ich glaube die CDU/CSU auch nicht. ({7}) Es gilt vielmehr, sparsam und gezielt im Umgang mit den Kriterien zu sein, nach denen die Mittel verteilt werden; und diese Mittel können dann von den Hochschulen in der Gestaltung umgesetzt werden. Diese Kriterien sind von uns, Herr Schipanski – da nehmen wir nichts zurück –, festgelegt worden: Mengenverteilung nach Studienanfängerzahl, nach Studienzeit, nach Abschluss und – als sozialdemokratisches Anliegen – auch nach Herkunft der Studierenden. Es gibt also eine besondere Unterstützung dafür, dass beruflich Qualifizierte in die Hochschulen hineinkommen. Die Verteilung wird dann auch nach Studienrichtung unterschiedlich berechnet. Es kommt dann dazu – das ist die zweite Linie –, dass wir die Qualität über eine gesonderte Förderung im Qualitätspakt Lehre steigern wollen; da haben wir hier ja Übereinstimmung. Dass dieses beides jetzt möglich ist, ist eine wahrlich große Leistung. Ich erinnere mich noch an eine Parlamentssituation 2006 – Frau Grütters ist jetzt bei der Kultur; ich war damals auch schon bei der Wissenschaft –, wo wir in der damaligen Koalition bescheiden versucht hatten, einen Parlamentsantrag zu guter Lehre einzubringen. Das kam nicht mal durch die Führung der Unionsfraktion durch; denn es hieß: Mit Lehre hat der Bund null zu tun. Rund zehn Jahre später, 2015, haben wir die Förderung der Lehre gemeinsam durch Bund und Länder prominent im Grundgesetz verankert. Dort steht nicht mehr nur „Wissenschaft“, sondern auch „Lehre“. Wir sind weit gekommen in der Kooperation von Ländern und Bund, was die Stärkung der Hochschulen angeht. Man darf sich zum Schluss, Herr Bundestagspräsident, was wünschen. Das, was in den Hochschulen jetzt wirksam wird, können wir auch bei den Schulen erreichen. Hoffentlich wird es bei einer nächsten Parlamentsdiskussion dazu einen gemeinsamen fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf geben, der eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat findet und eine neue Perspektive für Bildungskooperation insgesamt eröffnet. Danke. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Rossmann. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/3143, 19/4545, 19/5056 und 19/5043 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Sehr geehrter Herr Präsident! Es ist ein guter Tag heute. Wir schaffen es heute – ich bin den Kolleginnen und Kollegen sehr dankbar, die das intensiv beraten haben – nach vielen Jahren der Debatten, die Brückenteilzeit in Deutschland zu beschließen. Es ist nicht nur ein Erfolg dieser Regierung, meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist vor allen Dingen ein Erfolg für Tausende von Menschen, die lange darauf gewartet haben, dass wir dafür sorgen, dass die Arbeit zum Leben passt. ({0}) Von diesem Gesetz profitieren die Beschäftigten und auch die Unternehmen, weil sie mehr Flexibilität und Sicherheit erhalten. Dieses Gesetz leistet gleichzeitig einen Beitrag zur Fachkräftesicherung in Deutschland. Und – ich sage das noch einmal – es ist wichtig, dass wir in einer modernen Arbeitsgesellschaft dafür sorgen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Chance haben, ihre Arbeitszeit im Lebensverlauf so zu gestalten, dass eben auch ihre Wünsche nach Flexibilität berücksichtigt werden und nicht nur die Wünsche nach Flexibilität von Unternehmen. Im Kern regeln wir drei Dinge. Erstens sorgen wir dafür – es ist vor allen Dingen ein Stück Gleichstellung, weil überproportional viele Frauen in Deutschland teilzeitbeschäftigt sind –, dass wir den Frauen und Männern, die den Wunsch haben, aus Teilzeit in Vollzeit zurückzukehren, rechtlich den Rücken stärken. Wir haben 2001 in diesem Deutschen Bundestag das Recht auf Teilzeit eingeführt; das war gut und richtig. Viele Menschen gehen freiwillig und bewusst in Teilzeit, weil das zu ihrem Leben passen soll. Aber wir haben auch erlebt, dass für viele Beschäftigte, vor allen Dingen für Frauen, eine Teilzeitfalle entstanden ist. Wir sorgen jetzt dafür – übrigens im Gegensatz zu dem, was von einigen in der ersten Debatte gesagt wurde, ohne Schwellenwerte von Unternehmen heranzuziehen –, dass Beschäftigte das Recht haben, als Teilzeitbeschäftigte bei einer Rückkehr in Vollzeit vorrangig berücksichtigt zu werden. Es kann natürlich Verwehrungsgründe geben – wenn keine Stelle frei ist oder wenn die Qualifizierung bzw. Qualifikation nicht passt –, aber die Beweis- und Darlegungspflicht liegt bei den Arbeitgebern. Das ist ein wichtiger Schritt dahin, vor allen Dingen Frauen in Deutschland die Chance zu geben, wieder in Vollzeit zu kommen. Das ist wichtig für ihr Einkommen, das ist vor allen Dingen aber auch wichtig für ihre Rente, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({1}) Zum Zweiten schaffen wir ein modernes Arbeitsrecht, das im Interesse der Beschäftigten und der Unternehmen dafür sorgt, dass Menschen mal einige Jahre in Teilzeit gehen können, um dann geplant in Vollzeit zurückzukehren – zwischen einem und fünf Jahren. Sie wissen wie das ist: Es gibt Gründe dafür, warum man Arbeitszeit reduziert. Es gibt auch ein Recht darauf, beispielsweise die Elternteilzeit, die vor Jahren geschaffen wurde, oder die Pflegezeit. Aber es gibt noch ganz vielfältige andere Gründe, warum Menschen den Wunsch haben, mal eine Zeit lang in Teilzeit zu gehen und dann geplant in Vollzeit zurückzukehren. Es kann mal ein tragischer Fall in der Familie sein. Ich habe es in der eigenen Familie erlebt. Ein naher Verwandter von mir, dessen Frau viel zu früh gestorben war, brauchte Zeit für sich, das zu verarbeiten. Er hat aber auch gesagt: Ich will später wieder Vollzeit arbeiten, damit das mit der Rente gut klappt. – Es gibt Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren wollen. Und dann gibt es andere, die wollen einfach mal ein Häuschen bauen und brauchen dafür Zeit. Das, meine Damen und Herren, ist das, was ich vorhin beschrieben habe: Wir müssen in Deutschland dafür sorgen, dass die Arbeit besser zum Leben passt und nicht umgekehrt. ({2}) Drittens regulieren wir auch das Thema der „Arbeit auf Abruf“. Es ist ein ganz wesentlicher Punkt, dass wir Beschäftigten in diesem Bereich, die im Modell „Arbeit auf Abruf“ tätig sind, rechtlich besserstellen und damit ebenfalls für ihr Einkommen und Auskommen sorgen. Das sind drei gute Gründe, diesem Gesetz heute zuzustimmen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, gestatten Sie mir einen Blick auf meine Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles. Sie hat in der letzten Legislaturperiode wie eine Löwin für dieses Gesetz gekämpft. ({3}) Liebe Andrea, ich will das an dieser Stelle sagen: Ich hatte gute Vorbereitung, weil du das im Koalitionsvertrag durchgesetzt hast. Ich hatte einen guten Gesetzentwurf vorliegen. Wir haben ein tolles Ministerium für Arbeit und Soziales. Wir haben trotzdem noch mal intensiv verhandeln müssen. Aber wir können heute sagen: Wir haben uns durchgesetzt – nicht um unserer selbst willen – deshalb sind wir nicht im Deutschen Bundestag –, sondern um die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Frauen und Männer in Deutschland zu verbessern. Deshalb sage ich: Es ist ein glücklicher Tag. Wir werden die Brückenteilzeit heute beschließen. Sie wird zum 1. Januar 2019 endlich in Kraft treten. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Minister Heil, herzlichen Dank. – Als Nächstes spricht für die AfD-Fraktion der Kollege Jürgen Pohl. ({0})

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister! Als ich zur ersten Lesung hier stand und den gutwilligen Zuhörern die vorgelegte Änderung des Teilzeitbefristungsgesetzes erläuterte und mitteilte, dass es ein Missgriff war, hörten einige zu. Aber wir haben nicht viel geschafft. Erstens. Der Inhalt des Gesetzes passt nicht zu seiner Begründung. Zweitens. Der Schutzzweck für die Arbeitnehmer wird nicht erreicht. Drittens. Die Ausführung hat schwere handwerkliche Fehler. ({0}) Jeder, der mit Arbeitsrecht zu tun hat, weiß um die Schwächen und die Fehler dieses Gesetzentwurfes. Dennoch wird er durch den Bundestag gedrückt. Ich sage Ihnen: Die Schwachen dieser Gesellschaft müssen das ausbaden. ({1}) – Lassen Sie mich doch mal ausreden. – Wir müssen uns um die Arbeitnehmer und Arbeitgeber sorgen, die mit diesem Gesetz nicht nur einen Reinfall erleben, sondern dann eventuell sogar ihre berufliche Zukunft riskieren. ({2}) Ich bin da sozialer als Sie, meine Damen und Herren. Ich sage den Arbeitnehmern heute schon, dass die Sachverständigen in der Anhörung unisono erklärt haben: Dieses Gesetz ist Murks. ({3}) – Doch, das ist so. – Es ist Murks, wenn Sie 24 Stunden vor der Abstimmung eine Kommentierung erlassen, um die schwersten handwerklichen Fehler einigermaßen auszubügeln, wenn Sie sich weigern, den Gesetzesvorschlag abzuändern. Das ist nicht in Ordnung. Das ist handwerklich richtig falsch. ({4}) Es ist unverständlich, wenn nicht klar ist, welche Arbeitsverhältnisse zur Ermittlung der Schwellenwerte herangezogen werden sollen. Dass ist jetzt durch die Kommentierung klargestellt worden, ist aber nicht Inhalt des Gesetzes. Es ist fatal, wenn das Gesetz mit unbestimmten Rechtsbegriffen arbeitet und die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber vor die Gerichte treibt, wo keiner weiß, wie das ausgeht. Es ist unmöglich, wenn das Gesetz eine Ankündigungsfrist von drei Monaten vorsieht, von der die Sachverständigen sagen: In dieser Frist kannst du nie im Leben eine Ersatzarbeitskraft organisieren. Und es ist unsozial, wenn das Gesetz keinerlei Begründung für die Inanspruchnahme der Brückenteilzeit vorsieht. Die Mehrheit der Mütter, nämlich 3 Millionen der 5 Millionen Mütter im Arbeitsprozess, wird durch die Falschfassung der Schwellenwerte nicht erfasst; das wissen Sie. Genau zu diesem Thema sagt der Sachverständige Thüsing: Es ist nicht nachvollziehbar, warum wir nicht die soziale Komponente in diesem Gesetz betonen und darlegen, wer Anspruch haben soll. Zurzeit steht die Mutter mit Kind demjenigen gleich, der sein Golf-Handicap während dieser Freistellungszeit verbessern will. Das ist so. ({5}) – Das ist kein dummes Geschwätz. Das hat der Sachverständige Thüsing gesagt. Sie haben nicht zugehört oder es nicht gelesen. ({6}) – Das sagen Sie so. Das ist ja das Schlimme an der Sache, mein Herr. Sie lachen jetzt so schön. Schauen Sie sich mal Ihre Wähler da oben an: Das sind die Arbeitnehmer und Arbeitgeber. ({7}) – Die sind nicht auf dem Golfplatz, ({8}) aber Sie, als Sie das Projekt ausgearbeitet haben. ({9}) Ich will Ihnen noch mal kurz erläutern: Arbeit auf Abruf wird als Annex in diesem Gesetz einfach so mitgeregelt. ({10}) Die Anhörung der Sachverständigen bot ein überraschendes Bild. Die SPD hat die vor Ort anwesenden Gewerkschaften gar nicht erst befragt zu diesem Thema. Ich sage Ihnen: Als Vertreter von ALARM!, einer neuen Gewerkschaft, bin ich wahrlich kein Fan dieser Gewerkschaften. ({11}) Aber Arbeit auf Abruf – das schreibe ich Ihnen heute ins Brevier – ist das Asozialste, das das deutsche Arbeitsrecht hervorgebracht hat. ({12}) Ein Arbeitnehmer auf Abruf hat keine Planungssicherheit für sein Leben und seine Familie. Ein Arbeitnehmer auf Abruf kann nicht in mehreren Jobs tätig werden, weil er nicht weiß, wann er abgerufen wird. 6 Prozent sämtlicher Arbeitnehmer arbeiten auf Abruf, 12 Prozent der Minijobber arbeiten auf Abruf. In 35 Prozent der Fälle erfolgt der Abruf am Tag des Einsatzes. Und wenn die SPD in ihren Gesetzentwurf schreibt, dass es eine Ankündigungsfrist von vier Tagen geben soll, dann ist das Makulatur; denn die Mutter, die sich auf diese viertägige Ankündigungsfrist beruft, ({13}) ist dann arbeitslos. Meine Damen und Herren von der SPD, denken wir mal an die alleinerziehende Mutter, die ihrem Kind verspricht: Am Sonntag gehen wir in den Zoo. – In 37 Prozent der Fälle wird diese Mutter ({14}) Sonntagfrüh angerufen und es heißt: Du kommst zur Arbeit. Ich brauche dich dort. – Hier opfern wir den Kindeswillen dem Unternehmerwillen. Ich sage Ihnen: Das kann es nicht sein. ({15}) Ich habe gedacht, dass die Sozialdemokratie in Deutschland noch soziales Verständnis hat, aber das ist anscheinend verloren gegangen; das muss ich Ihnen sagen. Sie wundern sich, warum nur noch 15 Prozent und in Bayern viel weniger SPD wählen – kein Wunder. Letzter Satz. Wir von der AfD werden als Volkspartei und – jetzt kommt der Einsatz für Die Linke – als Partei der kleinen Leute zum Thema Teilzeit einen eigenen Gesetzentwurf einbringen. Wir werden dabei an diejenigen denken – Arbeitnehmer, Kinder, Mütter und Alte –, die Sie bei diesem Gesetz vergessen haben. Wir werden vieles besser machen; Sie werden es sehen. Danke schön. ({16})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Pohl. – Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, erlaube ich mir einen Hinweis als passionierter Golfer: Golfsport ist genauso ein Volkssport wie das Reiten. Damit das klar ist. ({0}) Als Nächstes redet zu uns der Kollege Wilfried Oellers von der CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine ersten Worte richten sich an die Zuschauer: Sie haben gerade wieder mal ein Beispiel erlebt, wie die AfD hier im Deutschen Bundestag unterwegs ist und Sachverhalte einfach falsch und unvollständig darstellt. Das muss man jetzt mal so deutlich sagen. ({0}) Sie haben gerade Professor Thüsing zitiert mit dem Hinweis auf das Golf-Handicap. Ich möchte klarstellen – und das können Sie gerne in den Protokollen nachlesen; das wäre vielleicht hilfreich –, dass er da nicht zwei Klassen aufmachen wollte. Vielmehr hat er dieses Beispiel insbesondere im Hinblick auf die Frage gebracht, dass wir schauen müssen, inwieweit bestimmte Arbeitszeitreduzierungen möglich sein sollen, ob eine Reduzierung um eine Stunde reicht, um zum Beispiel sein Golf-Handicap zu verbessern oder um gewisse Arbeitszeiten so platzieren zu können, wie es einem passt. Herr Pohl, da haben Sie ein Beispiel gebracht, das absolut an der Sache vorbeigeht. In der ersten Lesung – das muss ich auch sagen; das haben Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren auf den Tribünen, nicht mitbekommen – haben nämlich zwei Redner der AfD gesprochen. Das war neben Herrn Pohl noch Herr Kleinwächter; ich weiß gar nicht, ob er heute hier ist. Jedenfalls war Herr Pohl ein Verfechter der Brückenteilzeit und hat gesagt: Ja, das ist gut. – Herr Kleinwächter hat gesagt: Das ist der größte Unsinn, den wir machen können. – Das können Sie bitte auch mal im Protokoll nachlesen. So wie Sie sich heute darstellen – das muss ich ganz ehrlich sagen –, ist also absolut fehl am Platz. Wir haben im parlamentarischen Verfahren, auch wenn wir keine Gesetzesänderungen als solche vorgenommen haben, einige wichtige Klarstellungen vorgenommen, auf die ich gleich noch eingehe. Jetzt bin ich komplett von meinem Manuskript abgewichen; aber das musste ich an dieser Stelle mal klarstellen. ({1}) Ich darf mich den Worten von Herrn Minister Heil anschließen: Auch uns als Union ist es eine große Freude, dass wir hier heute dieses Gesetz verabschieden können. Es stand in der letzten Wahlperiode auch schon auf der Tagesordnung; das war aber nicht ganz so einfach. Es stand aber – das möchte ich der Vollständigkeit halber betonen – auch im Regierungsprogramm der Unionsparteien zur Bundestagswahl. Wir haben es noch mal in den Koalitionsvertrag aufgenommen, um dieses Projekt umzusetzen, weil damit gerade dem Wunsch der Menschen Rechnung getragen wird, mehr Flexibilität in der heutigen Arbeitswelt zu haben, um Familie und Beruf miteinander vereinbaren zu können. Es gibt bisher schon Möglichkeiten – Herr Pohl, da ist ein Blick ins Gesetz vielleicht ganz hilfreich – wie die Elternzeit und die Pflegezeit. Aber die Brückenteilzeit ist ein allgemeiner Anspruch. Sie ist nicht an einen Grund gebunden, sondern ein allgemeiner Anspruch. Deshalb passt das, was Sie eben gesagt haben, auch nicht. ({2}) Die Brückenteilzeit ist als allgemeiner Anspruch ein Flexibilisierungsinstrument für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Bezüglich der Inhalte, was die Voraussetzungen betrifft, verweise ich auf meine Rede in der ersten Lesung. Ich möchte aber noch mal auf das parlamentarische Verfahren eingehen, in dem wir einige Änderungen, insbesondere in der Protokollerklärung des Ausschusses, vorgenommen haben. Ich darf Sie bitten, auch bei der Rechtsanwendung mal einen Blick hineinzuwerfen, weil wir da bestimmte Klarstellungen vorgenommen haben. Zu den Auswirkungen der Brückenteilzeit. Hier ist zu erwähnen, dass natürlich Ersatzbeschäftigte eingestellt werden müssen. Hier haben wir klargestellt, dass diese Ersatzarbeitsverhältnisse natürlich auch befristete Teilzeitarbeitsverhältnisse sein müssen. Das geht ja gar nicht anders. Wenn jemand sagt, er möchte in den nächsten drei Jahren nur 50 Prozent arbeiten, dann müssen in diesen drei Jahren die 50 Prozent natürlich auch ausgeglichen werden können. Dieses befristete Arbeitsverhältnis hat dann den Sachgrund der Vertretung nach § 14 Absatz 1 Satz 2 Nummer 3 Teilzeit- und Befristungsgesetz. Darüber hinaus ist es so, dass diese Ersatzarbeitskräfte bei der Berechnung der Schwellenwerte nach § 9a Teilzeit- und Befristungsgesetz – das stellen wir in der Ausschusserklärung auch noch mal klar – keine Berücksichtigung finden, dass da eben die Kernbelegschaft im Fokus steht und dass die Personalstärke maßgeblich ist, die für das Unternehmen im Allgemeinen kennzeichnend ist. Das ist ein wichtiger Hinweis für die Rechtspraxis. Wir haben ein großes Problem der sogenannten Filialbetriebe aufgegriffen, das an uns herangetragen wurde. Ich nenne folgendes Beispiel: Wir haben eine Großbäckerei mit 100 Mitarbeitern. Diese unterhält kleine Filialen mit fünf Mitarbeitern. Wenn da fünf Mitarbeiter Brückenteilzeit beantragen und das alle in einer Filiale wollen, ist es, glaube ich, verständlich, dass eine solche Filiale dann überlastet ist und im Rahmen des betrieblichen Grundes ein Brückenteilzeitgesuch durch den Arbeitgeber abgelehnt werden kann. Aber – das muss der Richtigkeit halber auch dazu gesagt werden –: Man muss als Arbeitgeber natürlich schon schauen, ob es nicht vielleicht eine Nachbarfiliale gibt, in die man Arbeitnehmer versetzen kann, um dem Brückenteilzeitgesuch gerecht zu werden. Darüber hinaus ist ganz wichtig, dass wir eine gesonderte statistische Erfassung der Auswirkungen der Brückenteilzeit haben. Ich nenne ein Beispiel: Wir haben ein unbefristetes Vollzeitarbeitsverhältnis. Wenn jemand Brückenteilzeit beantragt, werden daraus zwei befristete Teilzeitarbeitsverhältnisse. Das schlägt sich in der Statistik natürlich massiv nieder. Da die Debatte um die Befristung eine hitzige Debatte ist, habe ich daher die große Sorge vor einem Missbrauch der Zahlen. ({3}) – Nein, Sie wollen auch Befristungstatbestände mit Sachgrund abschaffen. Da dürfen Sie jetzt keine Augenwischerei betreiben. Es ist wichtig, dass diese Befristungen nicht an den Pranger gestellt werden können, wenn man feststellt: Die Anzahl der Befristungstatbestände nimmt zu und man weiß nicht, woher es kommt. Deswegen ist die gesonderte Erfassung hier notwendig. Darüber hinaus haben wir klargestellt, dass die Arbeitgeber nicht in die Schriftformfalle tappen können – den Insidern ist das bekannt: § 8 Absatz 5 Teilzeit- und Befristungsgesetz. Abschließend möchte ich erwähnen – Herr Präsident, gestatten Sie mir noch diese Bemerkung –, dass grundsätzlich natürlich jeder die Möglichkeit haben sollte, die Arbeitszeit an sein Leben anzupassen. Wir geben den Arbeitnehmern mit der Brückenteilzeit ein entsprechendes Flexibilisierungsinstrument. Das heißt auf der anderen Seite auch, dass die Arbeitgeber ebenfalls einen berechtigten Anspruch auf Flexibilisierungsinstrumente haben, um die betrieblichen Organisationsabläufe hinzubekommen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Diese müssen unbürokratisch und rechtssicher sein. Hierauf müssen wir in Zukunft auch ein Augenmerk haben. Trotzdem ist das heute ein Tag der Freude, dass wir dieses Projekt umgesetzt haben. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als Nächstes für die FDP-Fraktion der Kollege Till Mansmann. ({0})

Till Mansmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004815, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Heil! Als Sie uns dieses Gesetz hier im Plenum vor wenigen Wochen vorgestellt haben, haben Sie es schon gesagt: Die Arbeit muss zum Leben passen, nicht umgekehrt. ({0}) Sie haben das heute in Ihrer Rede noch zweimal betont. Das ist richtig, Herr Minister Heil; das ist die Wahrheit. Aber es ist doch nur die halbe Wahrheit. Genauso gilt nämlich: Die Arbeit muss zum Produkt, zur Dienstleistung, zum Betrieb passen. Das ist die andere Seite der gleichen Medaille; aber die Große Koalition hat sich entschieden, diese andere Seite kaum zu beachten. Dabei ist zum Beispiel die großartige Einrichtung der Tarifautonomie, deren 100. Geburtstag wir an diesem Dienstag feiern durften, das Abbild dieser beiden Seiten. Das gilt auch für die zweiseitige arbeitsvertragliche Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Darüber setzen Sie sich hiermit hinweg. Der Gesetzentwurf, den Sie uns vorgelegt haben, ist einseitig, unausgegoren und schlecht ausbalanciert. ({1}) Sie sagen uns, das sei nun mal so, das sei halt ein Kompromiss. Ja, Politik im demokratischen Rechtsstaat, im Parlamentarismus besteht aus Kompromissen. Das ist schon richtig; aber das hier ist kein Kompromiss zwischen diesen beiden Seiten, die ich gerade beschrieben habe. Es ist ein Kompromiss zwischen zwei Fraktionen, die nicht mehr um die Sache, sondern um ihre Macht ringen. ({2}) – Ja, doch! Da geht es darum, wer sich durchsetzt, wer nachgibt und wer sein Gesicht verliert. ({3}) Sie haben den Blick auf das Wesentliche verloren. Dieser Kompromiss hinterlässt viele Fragezeichen. Sie haben Schwellen eingebaut. Diese liegen bei 45 bzw. bei 200 Arbeitnehmern. Natürlich ist es in der Sache richtig, wenn Sie versuchen, kleine Unternehmen vor Überforderung zu schützen. Sie aber nehmen die Zahl 15 aus einem anderen Paragrafen des Befristungsrechts und verdreifachen die Zahl einfach. Warum nicht 30? Warum nicht 60? ({4}) Künftig ist es für ein Unternehmen ein großer Unterschied, ob es 44 oder 46 Mitarbeiter beschäftigt. Das ist der falsche Weg. Es ist auch ein Unterschied für die betroffenen Arbeitnehmer. Nehmen wir einen Betrieb mit 46 Angestellten, in dem künftig vier Angestellte vom Recht der Brückenteilzeit Gebrauch machen können sollen. Wenn künftig der vierte Arbeitnehmer – bleiben wir bei dem Beispiel; denn es ist ja zulässig – sein Golf-Handicap verbessern möchte ({5}) und die fünfte Arbeitnehmerin – ich nehme jetzt absichtlich eine Frau; denn Sie wollen ja vor allen Dingen die Situation von Frauen verbessern – für ein halbes Jahr vom Recht auf Brückenteilzeit Gebrauch machen möchte, um ihr Kind zu erziehen und es gut durch die Schule zu bringen, dann muss diese fünfte Frau warten, bis der vierte Mann sein Handicap verbessert hat. Wäre es nicht besser und sachgerechter gewesen, im Gesetz selbst kluge Sachgründe zu nennen und sich da vielleicht etwas breiter und flexibler aufzustellen? ({6}) Dann hätte man die willkürlichen Schwellen vielleicht gar nicht gebraucht, die jetzt dazu führen, dass ein sehr großer Teil der Menschen, denen Sie helfen wollen, gar nicht von diesem neuen Recht Gebrauch machen können. Das ist ja auch den Grünen und den Linken aufgefallen. Ein Anspruch mit Sachgrund wäre ein echter Beitrag zur Einzelfallgerechtigkeit gewesen. Nun, die SPD hat sich in der Großen Koalition mal wieder inhaltlich durchgesetzt und ihren sachgrundlosen Anspruch bekommen. ({7}) Das ist jetzt ausreichend gelobt worden von den Sozialdemokraten. Dass die Sozialdemokraten gerade um jeden kleinen Erfolg heftig ringen und sich darüber freuen – dafür haben wir ja Verständnis. Aber liebe Marktwirtschaftler in der Union, ({8}) was ist denn Ihr Job? Die Sozialdemokratie durch einseitige Eingriffe in Arbeitsvertragsbeziehungen zu retten? Die zahlreichen Bedenken der Experten haben Sie einfach vom Tisch gewischt und sich hinter einer Protokollerklärung versteckt, die ein handwerklich schlechtes Gesetz noch rechtsunsicherer macht ({9}) und den Streit in die Arbeitsgerichte trägt. ({10}) Sie von der Union glauben gerade, Sie müssten das tun, und zwar nicht um der Sache selbst willen, sondern um die Koalition in die nächste quälende Phase hinüberzuretten. Die Fraktion der Freien Demokraten wird diesen Gesetzentwurf daher ablehnen. Vielen Dank. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Mansmann. – Als Nächstes für die Fraktion Die Linke die Kollegin Susanne Ferschl. ({0})

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister! Liebe Besucherinnen und Besucher auf den Tribünen! Auf dem Tisch liegt ein Gesetzentwurf, der den Beschäftigten das Recht auf eine vorübergehende Teilzeit garantieren soll – die Brückenteilzeit. Wir hätten heute die Chance gehabt, über einen echten Anspruch und eine echte Verbesserung für Beschäftigte abzustimmen. Leider ist aus dem großen Wurf nichts geworden. Die vorherige Große Koalition – das ist schon gesagt worden – hatte im Koalitionsvertrag eine Brückenteilzeit für Beschäftigte in Betrieben mit mehr als 15 Mitarbeitern vereinbart. Es ist auf Andrea Nahles verwiesen worden. Jetzt soll dieses Recht erst in Betrieben mit mehr als 45 Mitarbeitern gelten; seine volle Wirkung entfaltet das Gesetz erst in Betrieben ab 200 Mitarbeitern. Damit schauen etwas mehr als die Hälfte aller Beschäftigten in die Röhre. Da darf man sich dann auch nicht wundern, wenn die Menschen die Lust auf Politik verlieren. ({0}) Ich hoffe nur, dass in der Großen Koalition jetzt nicht darüber debattiert wird – ich habe das vorhin so von Ihnen, Herr Oellers, vernommen –, als Kompensationsgeschäft für diese Brückenteilzeit das Arbeitszeitgesetz aufzuweichen oder die Anzahl der Sachgründe zu erweitern. Ich hoffe nur, dass das nicht der Fall ist. ({1}) Über 14 Millionen Beschäftigte werden weiterhin keinen Anspruch auf die Brückenteilzeit haben, weil man einfach zu viele Hürden aufgebaut hat. Die erste Hürde habe ich schon genannt: Das Gesetz gilt erst ab einer Betriebsgröße von über 45 Mitarbeitern. Das ist eine völlig willkürliche Grenze. Sie existiert im Arbeitsrecht nicht. Damit schafft die Bundesregierung einen Präzedenzfall, und ich bin mal gespannt, in welcher anderen gesetzlichen Regelung uns diese Grenze wiederbegegnet. So schleift man das Arbeitsrecht und den Schutz der Beschäftigten – aber nicht mit uns. ({2}) Die zweite Hürde ist, dass in Betrieben, die zwischen 45 und 200 Mitarbeiter haben, nur jede 15. Mitarbeiterin bzw. jeder 15. Mitarbeiter einen Anspruch hat. Die dritte Hürde sind die sogenannten betrieblichen Gründe, die der Arbeitgeber anführen kann. Das heißt in der Praxis: Wenn ich das Glück habe, in solch einem Betrieb die 15. Beschäftigte zu sein, und eigentlich einen Anspruch auf Teilzeit hätte, kann mein Chef zu mir sagen: Dagegen sprechen betriebliche Gründe. – Dann habe ich wieder Pech gehabt. Das ist ein doppelter Überforderungsschutz für Arbeitgeber. Das ist, als würde man Gürtel und Hosenträger gleichzeitig tragen. Beschäftigte haben aber Doppel- und Dreifachbelastungen durch Arbeit, Kindererziehung, Pflege, Weiterbildung oder Ähnliches. Sie bräuchten eigentlich einen Überforderungsschutz! ({3}) Und genau das, meine Damen und Herren, ist der Unterschied zwischen allen anderen Fraktionen und uns. Sie, insbesondere die Kolleginnen und Kollegen von der FDP, fragen: Wie können kleine Unternehmen einen Rechtsanspruch auf Brückenteilzeit für alle eigentlich realisieren? Wir aber fragen: Wie soll eine alleinerziehende Frau in einem kleinen Betrieb ohne diesen Rechtsanspruch ihr Leben organisieren? Management und Organisationsgeschick fordern Sie offensichtlich hauptsächlich von den Beschäftigten ab. Ich finde das enttäuschend. ({4}) Außerdem hat die Bundesregierung versäumt, mit diesem Gesetz klare, praxisorientierte Spielregeln aufzustellen. Genau das wäre aber die Aufgabe des Gesetzgebers. Mit diesen vielen Einschränkungen ist kein eindeutiger Anspruch für Beschäftigte festgelegt. Sie verlagern damit den Konflikt auf die betriebliche Ebene. Beschäftigte müssten den Anspruch gerichtlich klären lassen. Als Betriebsrätin kann ich Ihnen nur sagen, dass Arbeitnehmer in den seltensten Fällen den Arbeitgeber verklagen; denn sie haben Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Das heißt, aufgrund von Unklarheiten in der Gesetzgebung kommen Beschäftigte nicht zu ihrem Recht. ({5}) Schade, dass Sie aus diesem wirklich guten Ansatz so wenig gemacht haben. Wir fordern weiterhin ein Recht auf Brückenteilzeit für alle Beschäftigten und ein Verbot von Arbeit auf Abruf. Beides wird es mit diesem Gesetzentwurf nicht geben. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächstes für Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Beate Müller-Gemmeke. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Es ist schön, dass Sie vorne in der ersten Reihe sitzen. Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Beim Thema Teilzeit geht es um viel. Es geht um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, um die eigenständige Existenzsicherung, und es geht um die Absicherung im Alter – vor allem für Frauen. Deshalb brauchen wir hier gute Lösungen. Am Gesetzentwurf hat sich aber leider trotz der Anhörung und der Kritik nichts verändert. Bei der Brückenteilzeit gibt es weiterhin doppelte und dreifache Hürden. Für die Frauen, die ihre Arbeitszeit verlängern wollen, wird sich gar nichts verändern. Das kritisieren wir, und deshalb lassen wir heute über drei Änderungsanträge abstimmen. ({0}) Erster Änderungsantrag. Einen Anspruch auf Brückenteilzeit – das wurde schon gesagt – soll es ja nur in Unternehmen mit mehr als 45 Beschäftigten geben. Rund 35 Prozent der Beschäftigten können allein durch diese eine Hürde nicht befristet in Teilzeit gehen, vor allem Frauen, die in kleineren Betrieben arbeiten. Die Folge ist: Für viel zu viele Beschäftigte bleibt dann eben nur die Variante „unbefristete Teilzeit“ mit all den bekannten negativen Folgen, Stichwort „Teilzeitfalle“. Deswegen beantragen wir, den Schwellenwert auf 15 Beschäftigte abzusenken. Diese Forderung ist uns wichtig, und deshalb werden wir darüber auch namentlich abstimmen lassen. ({1}) Zweiter Änderungsantrag. Es gibt ja noch die Zumutbarkeitsgrenze für weitere 20 Prozent der Unternehmen mit 46 bis 200 Beschäftigten. Das ist eine zusätzliche rein formale Hürde. Diese ist überhaupt nicht notwendig; denn einen Anspruch auf Brückenteilzeit gibt es ja nur, wenn keine betrieblichen Gründe dagegen sprechen. Bei der Prüfung dieser betrieblichen Gründe werden die organisatorischen Probleme und Hindernisse aufgrund der Betriebsgröße berücksichtigt, also ist das doppelt gemoppelt. Abgesehen davon: Es ist einfach nicht akzeptabel, dass die Brückenteilzeit, wenn keine betrieblichen Hindernisse vorliegen, einfach so formal abgelehnt werden kann. Deshalb wollen wir, dass auch die Zumutbarkeitsgrenze gestrichen wird. ({2}) Dritter Änderungsantrag. Hier geht es um die Frauen, die heute schon in Teilzeit arbeiten und ihre Arbeitszeit verlängern wollen. Gerade hier passiert viel zu wenig; denn deren Arbeitszeitwünsche müssen unverändert nur bei einem freien Arbeitsplatz berücksichtigt werden. Wenn Beschäftigte länger arbeiten wollen, muss es auch um das Arbeitszeitvolumen gehen. Nur dann erhöhen sich die Chancen, und das ist dringend notwendig. Hier geht es immerhin um 1,3 Millionen Teilzeitbeschäftigte, die ihre Arbeitszeit verlängern wollen – das sagt das Statistische Bundesamt –, und davon sind mehr als 900 000 Frauen. Deshalb stellen wir auch diesen Änderungsantrag zum Arbeitszeitvolumen zur namentlichen Abstimmung. ({3}) Es gibt noch zwei weitere Aspekte, die uns wichtig sind, wenn es um die Teilzeit geht, und wegen derer wir heute auch über unseren Antrag für mehr Zeitsouveränität abstimmen lassen. Wir wollen, dass die Beschäftigten tatsächlich mitbestimmen können, wenn es um die Lage ihrer Arbeitszeit geht, und wir fordern ein Recht auf Homeoffice alternierend zum festen Arbeitsplatz. All das fehlt im Gesetz. In manchen Lebenslagen kann das schon helfen. Dann müssen Frauen erst gar nicht ihre Arbeitszeit reduzieren. Auch so entsteht mehr Zeitsouveränität, weil Arbeit dann besser ins Leben passt. Sehr geehrte Regierungsfraktionen, das Gesetz ist nur ein erster Schritt, und doch ist es ein Gesetz, das viel verspricht und wenig hält. Deshalb werden wir uns, wenn die Änderungen abgelehnt werden, enthalten; denn nur ein erster Schritt ist uns einfach zu wenig. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. – Als Nächstes die Kollegin Katja Mast, SPD-Fraktion. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren auf den Zuschauerrängen und zu Hause an den Bildschirmen! Zu meinen zwei Vorrednerinnen will ich sagen: Höher, schneller, weiter ist immer möglich. Wir als sozialdemokratische Familie konzentrieren uns auf das, was möglich ist, und wir sind froh darüber, dass wir heute das Gesetz zur Brückenteilzeit im Deutschen Bundestag verabschieden. ({0}) Was ist die Brückenteilzeit? Brückenteilzeit heißt, dass ich ein Recht auf befristete Teilzeit in Anspruch nehmen kann. Ich sage also, wie lange meine Teilzeit dauern soll. Das ist bis heute in der Arbeitswelt so nicht möglich, und deshalb ist es eben ein großer Fortschritt. ({1}) Erstens. Warum ist es für unser solidarisches Land wichtig, dass wir dieses erste große Gesetz aus dem Haus von Hubertus Heil heute hier verabschieden? Es ist deshalb wichtig, weil wir wissen, dass vor allen Dingen Frauen lange auf dieses Gesetz gewartet haben, und weil wir wollen, dass die Zeit mit Kindern und Familie nicht in der Teilzeitfalle endet. ({2}) Zweitens. Warum ist es uns darüber hinaus wichtig? Weil immer mehr Menschen in Deutschland mehr Selbstbestimmtheit und Arbeitszeitsouveränität haben wollen. Dafür gibt es viele Gründe. Deshalb sagen wir: Ihr müsst gar keinen Grund nennen, wenn ihr die Brückenteilzeit beantragt. – Auch das hat etwas mit Selbstbestimmtheit zu tun. ({3}) Drittens. Es ist uns wichtig, weil wir mehr Weiterbildung brauchen. Wir haben heute schon über das Qualifizierungschancengesetz diskutiert, wo es darum geht, in der sich schnell verändernden Arbeitswelt mehr Chancen auf Weiterbildung zu haben und auch geförderte Weiterbildung zu bekommen. Aber manchmal soll man ja sogar Zeit dafür brauchen. Deshalb ist die Brückenteilzeit auch ein Instrument, um die Arbeitswelt 4.0, 5.0 oder 6.0 vorzubereiten. ({4}) Viertens. Warum freuen wir uns darüber? Weil wir festgestellt haben, dass unsere Koalitionspartner von CDU und CSU einfach eine Bundestagswahl länger gebraucht haben als wir, um zu verstehen, dass wir dieses Gesetz für die Menschen in Deutschland brauchen. ({5}) Fünftens. Da sich das vorhin so komisch angehört hat, will ich noch einmal sagen, dass es uns wichtig ist, dass wir Arbeit auf Abruf endlich regulieren. Wir sorgen damit dafür, dass Menschen am Ende des Monats wissen, wie viel Geld sie verdienen, und dafür, dass Menschen Sicherheit haben, wenn sie krank sind, da sie wissen, wie viel Entgeltfortzahlung sie im Krankheitsfall bekommen. Wir wollen nicht mehr Arbeit auf Abruf, sondern wir wollen Arbeit auf Abruf an dieser Stelle endlich tatkräftig regulieren. ({6}) Wir geben Planungssicherheit für Arbeitnehmer und Arbeitgeber, weil damit klar ist: Es gibt Regeln, wie man das verabredet. Mir ist besonders wichtig: Wir wollen natürlich mit der Brückenteilzeit keinen Betrieb überfordern. Deshalb sagen wir, dass das auch in Filialen gilt, die einer größeren Betriebseinheit angehören. Die Bezugsgröße dieses Gesetzes für betriebliche Gründe ist aber natürlich der Betrieb. Das ist uns an dieser Stelle besonders wichtig. Insgesamt haben wir ja in der Koalition einen quasi sozialpolitischen Herbst. Wir liefern ein Gesetz nach dem anderen, viele im Verantwortungsbereich von Minister Heil und Ministerin Frau Giffey, aber auch viele andere. Lassen Sie mich auf zwei davon ganz kurz eingehen. Wir haben heute hier im Hohen Hause schon das Gute-Kita-Gesetz diskutiert. Hier geht es darum, in einem solidarischen Land Familien und Kinder zu stärken, und natürlich auch darum, dass wir mit der später zu verabschiedenden Parität in der Krankenversicherung, dass also Arbeitnehmer und Arbeitgeber soziale Sicherheit gleichermaßen finanzieren, den nächsten Schritt gehen. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich sehe, dass die Uhr blinkt, Herr Präsident. Lassen Sie mich noch einen Schlusssatz sagen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Einen Satz haben Sie noch, Frau Kollegin.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident, sehr großzügig von Ihnen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

So bin ich.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zum Schluss kommend will ich sagen: Es geht bei der Brückenteilzeit und den anderen Gesetzen darum, den Menschen in diesem Land zu zeigen: Wir hier im Hohen Hause kümmern uns um ihren Alltag, den wir täglich ein Stück weit besser machen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als letzter Redner hat das Wort der Kollege Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir bringen heute mit den Veränderungen des Teilzeitrechts einen langen Diskussionsprozess zu Ende. Wir sind froh darüber, dass dieser Diskussionsprozess sehr intensiv geführt worden ist. Es ist ja durchaus eine schwierige Materie. Zum einen geht es darum, dass die Betriebe weiterhin ihre Planungssicherheit haben und auf das Arbeitsvolumen aufbauen können, das sie brauchen, um ihre Leistungen anbieten zu können, und dass sie dieses Arbeitsvolumen mit entsprechend qualifiziertem Personal besetzen können. Zum anderen geht es um die Vereinbarkeit in verschiedensten Bereichen – von Familie und Beruf bis hin zu persönlichen Interessenlagen –, also darum, dies alles unter einen Hut zu bringen. Insofern ist es schon entscheidend, flexible Arbeitszeiten zu haben. Es ist vorrangig den Tarifpartnern vorbehalten, vieles selbst zu regeln. Es wurden schon lange Arbeitskämpfe geführt, zum Beispiel für die 35‑Stunden-Woche. Das haben wir ja alles miterlebt. Aber gleichzeitig ist es wichtig, einzelne Bereiche auch gesetzlich zu regeln. Deshalb freuen wir uns als Union heute, dass die Erweiterung des Teilzeitrechts um die Brückenteilzeit so gelungen ist. Dass wir einen längeren Diskussionsprozess benötigten, lag an der schwierigen Abwägungsfrage. Sie, Frau Kollegin Mast, haben gesagt: Sie sind froh, dass die Union das eingesehen hat. – Die Union war ständig gesprächsbereit, sie war kein Hindernis, ({0}) sondern es ging uns darum, die entsprechenden Grenzen zu setzen. Wir stehen dazu und sind auch froh darüber, dass wir nun mitberücksichtigen, dass die Organisation in kleinen Betrieben schwieriger ist, wenn beispielsweise ein Betrieb nur über eine IT-Kraft verfügt, diese plötzlich den Anspruch erhebt, nur noch halbtags zu arbeiten, und auf dem Arbeitsmarkt nicht so schnell eine zusätzliche IT-Kraft gefunden werden kann. Das ist in größeren Betrieben leichter zu bewerkstelligen. Uns ging es nicht einfach nur um die Diskussion oder darum, Sie intensiv zu blockieren, sondern darum, die entscheidenden Fragen zur Betriebsorganisation zu klären. Deshalb danken wir der SPD für die Einsichtsfähigkeit, ({1}) dass wir die Grenzen angehoben haben: bei Betrieben mit 45 Mitarbeitern keine Anwendung, darüber hinaus gestaffelt, ab 200 Mitarbeitern volle Anwendung. ({2}) Ich glaube, das wird letztendlich auch der Wirklichkeit gerecht. Ich danke der SPD, dem Bundesminister Heil – frühere Bundesminister haben diese Einsichtsfähigkeit nicht gehabt – sehr herzlich; denn sonst hätten wir es schon früher über die Wupper heben können. ({3}) Für uns ist auch der soziale Aspekt entscheidend. Die Union lebt den Geist der sozialen Marktwirtschaft und verdeutlicht dies auch hiermit, die FDP offensichtlich nicht. Sie spricht immer nur von der Marktwirtschaft. Das ist der entscheidende Unterschied. ({4}) Von daher gilt es, dies sozial auszugestalten. Ich glaube, dass uns das auch gelungen ist und dass vor allen Dingen eine vernünftige Rechtsabwägung stattgefunden hat. Mitentscheidend ist sicherlich die Beschlussempfehlung, die wir im Ausschuss getroffen haben. Hier haben wir Präzisierungen festgelegt, die die Grundlage dafür sind, wie es in den Betrieben anzuwenden ist. Auch hier danke ich ausdrücklich der SPD-Fraktion und unseren Kolleginnen und Kollegen, dass sie das Gesetz so großartig mit ausformuliert haben, damit es gemäß seinem Ursprung einen breiten Anwendungsbereich findet. Wir werden die Anträge, die von Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt worden sind, insbesondere die Änderungsanträge, ablehnen; denn die nehmen nicht auf die betrieblichen Situationen Rücksicht. ({5}) Die Linken sagen grundsätzlich, jeder hat einen Rechtsanspruch. ({6}) Wie die Betriebe das zu organisieren haben, ist Ihnen völlig egal. Sie wollen gar nicht auf die reale Arbeitswelt Rücksicht nehmen. ({7}) Ich habe bei Ihren Vorschlägen fast den Eindruck, dass Sie nicht erkennen wollen, dass kleine Betriebe großen Herausforderungen ausgesetzt wären. Deshalb müssen wir Ihren Antrag ablehnen. Ich glaube, es ist ein großer Fortschritt, Familie, Beruf und eigenes persönliches Engagement in Einklang zu bringen. Noch eines: Die Teilzeitbeschäftigten finde ich am wenigsten auf den Golfplätzen, vielleicht die Gesellschafter, die Geschäftsführer, die angestellten Geschäftsführer. ({8}) Gruppen von Geschäftsführern, die alle Teilzeit arbeiten, habe ich auch noch nie gesehen. Darum hält sich die Befürchtung, es könnte zu mehreren Golf-Handicaps führen, garantiert in Grenzen. In diesem Sinne wünsche ich eine gute Zustimmung zu einem erfolgreichen Gesetz. ({9})

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Staaten, die nicht bereit sind, ihren eigenen Staatsbürgern Papiere auszustellen und so die Rückführungen ihrer eigenen Staatsbürger verhindern, muss die Entwicklungshilfe gestrichen werden. ({0}) Das sagt nicht nur der gesunde Menschenverstand; das fordern wir in unserem Antrag. Nach Auskunft des Bundesinnenministeriums halten sich in Deutschland über eine halbe Million Menschen mit einem abgelehnten Asylantrag auf. Nicht wenige davon können aufgrund fehlender Ausweisdokumente nicht abgeschoben werden. Sind Ausweisdokumente nicht vorhanden, dann können biometrische Daten weiterhelfen. Ich habe Minister Müller bereits im Bundestag dazu befragt. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten die Antwort des Herrn Minister: Die Tunesier und die Marokkaner haben biometrische Daten. Ich habe mit den Innenministern dort gesprochen, und sie sagten zu mir: Wenn wir einen Tunesier zurücknehmen sollen, dann muss es auch ein Tunesier sein.  Aber die Länderinnenminister können die Identifizierung der hier Angekommenen bis heute nicht definitiv sicherstellen. Wir haben diese biometrischen Daten bisher nämlich nicht. Zitat Ende. – Erstaunlich fand ich übrigens, dass dieser Umstand die Kollegen der Unionsfraktionen laut Plenarprotokoll erheitert hat. Was gibt es da eigentlich zu lachen, wenn ein Entwicklungsland schafft, was die Bundesregierung nicht kann oder nicht will? ({1}) Lieber Herr Minister Müller – vom BMZ ist ja, glaube ich, niemand da –, wenn Sie das nächste Mal Hunderte Millionen Euro nach Marokko oder Tunesien überweisen, dann tun Sie doch den Kollegen Innenministern einen Gefallen und verlangen Sie die biometrischen Daten. Die IBAN scheint ja zu funktionieren. Zur Not schreiben Sie Ihr Anliegen in den Verwendungszweck. Da haben Sie 140 Zeichen. ({2}) Die Bundesregierung hat bereits 2016 in einem Akt der Verzweiflung Brandbriefe an insgesamt 17 Staaten verschickt: Ägypten, Algerien, Marokko, Äthiopien, Benin, Burkina Faso, Ghana, Guinea, Guinea-Bissau, Mali, Niger, Nigeria, Tunesien, Bangladesch, Indien, Pakistan und Libanon. Und hat das Briefeschreiben was gebracht? Offensichtlich nicht. Liebe Freunde der Regierungsfraktionen, gemeinsam mit uns, der AfD, kann dieses Problem heute gelöst werden. Machen Sie heute zur Abwechslung einfach mal das Richtige! ({3}) Willensbekundungen in die Richtung gab es von Ihnen schon zuhauf. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer sagte der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ noch im Mai: Wir können nicht auf der einen Seite Entwicklungshilfe bezahlen, und auf der anderen nehmen diese Länder diese Leute nicht zurück. Bayerns Noch-Innenminister Joachim Herrmann sagte, dass man manchmal über die Entwicklungshilfe Druck auf Herkunftsländer machen müsse. Anfang 2016 ging sogar der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel mit der Idee hausieren, man werde nordafrikanischen Staaten die Entwicklungshilfe kürzen, wenn sie Illegale ohne Aufenthaltsrecht nicht zurücknehmen. Liebe Freunde von der SPD, da können Sie ruhig schon mal klatschen. Der Mann war immerhin Ihr Vorsitzender zu einer Zeit, als Sie noch nicht in den Umfragen hinter der AfD lagen. ({4}) Was haben denn diese Herren alle gemein? Sie sind seit vielen, vielen Jahren in Regierungsverantwortung. Und was haben sie bisher gemacht? Sie haben nichts gemacht. In einer Infratest-dimap-Umfrage vom Frühling dieses Jahres sprechen sich 59 Prozent der Bürger für die Kürzung von Entwicklungshilfe bei nichtkooperativen Ländern aus. Unser Antrag sieht aber nicht einmal einen sofortigen radikalen Schnitt vor, ({5}) sondern setzt auf mehrere Eskalationsstufen bis hin zur völligen Streichung der Mittel. Sie haben deshalb die einmalige Chance, Ihre Glaubwürdigkeit ein Stück weit zu reparieren. So eine Chance bekommt man nicht jeden Tag. Sie wissen selbst, was passiert, wenn man zu viel ­seehofert, also Dinge verspricht und dann nicht hält. Sie haben es am Sonntag in Bayern gesehen, ({6}) und sie werden es nächste Woche Sonntag in Hessen wieder sehen. Nutzen Sie heute die Chance: Machen Sie endlich mal das Richtige! Vielen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist Volkmar Klein für die CDU/CSU. ({0})

Volkmar Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004071, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Staatssekretärin! Denn selbstverständlich ist das BMZ hier auch vertreten. – Alle Länder haben die Pflicht, ihre eigenen Staatsbürger wieder in ihr eigenes Staatsgebiet zurückzunehmen, um die Rückreise zu erlauben. Das stimmt zweifelsohne. Es gibt Staaten, die Personen, die aus Deutschland oder aus anderen EU-Staaten abgeschoben werden sollen, nicht in ihr Heimatland zurückreisen lassen wollen. Sie verweigern die dafür erforderlichen Ausweise. Auch das stimmt. Es gibt Staaten, die offenkundig sogar ein Interesse daran haben, dass Leute im Ausland bleiben. Es wird ja auch – das ist kurzfristig betrachtet auch durchaus ein Vorteil für diese Länder – Geld zurücküberwiesen. Das alles stimmt. Es stimmt auch, dass diese Staaten damit ihrer Aufgabe nicht gerecht werden und man eigentlich von Staatsversagen in diesen Ländern sprechen könnte, zumindest von ziemlich schlechter Regierungsführung. Schlechte Regierungsführung oder, wie es auf Neudeutsch heißt, das Fehlen von Good Governance ist natürlich allgemein in der Entwicklungszusammenarbeit ein ziemlich großes Problem, weil es sicherlich sehr viel entscheidender ist als jedes Geld der Welt, in den jeweiligen Ländern dafür zu sorgen, dass die Menschen mehr Chancen, mehr Jobs und damit auch mehr Perspektiven haben. Ownership wird in vielen Ländern viel zu wenig gelebt. Ich hatte im Sommer die Gelegenheit, in den Tschad zu reisen, wo bis hin zur Lebensmittelsicherheit die Grundlagen fehlen und erst recht alles, was mit dem Schaffen von Chancen und Jobs in diesem Land zu tun hat. Insofern ist es an so einer Stelle und auch insgesamt sicherlich richtig, zu überlegen: Was hilft eventuell, eine bessere Regierungsführung einzufordern? Die Frage ist nur, wie. Was hilft denn? Ich habe persönlich an mehreren Stellen Diskussionen erlebt, bei denen mir teilweise von denselben Leuten im selben Satz zwei Fragen gestellt wurden. Die erste Frage – damals bezogen auf Ägypten in der Zeit der Muslimbrüder – war: Wie könnt ihr einem Land, in dem Christen verfolgt und die Menschenrechte missachtet werden, Entwicklungszusammenarbeit gewähren? Die zweite Frage in diesem Satz war: Wie könnt ihr zuschauen, wie im Mittelmeer Menschen ertrinken? Beide Fragen sind berechtigt. Aber die Antwort kann nicht sein, einfach Geld zu streichen. Denn dann gibt es noch weniger Perspektiven. Dann gibt es noch weniger Chancen für die Menschen in diesem Land. Genau das, meine Damen und Herren, ist eben nicht in unserem Interesse. In unserem Interesse ist, dass die Menschen in den Ländern, in denen sie leben, mehr Chancen haben, nicht weniger Perspektiven. ({0}) Insofern müssen wir völlig unabhängig vom Versagen eines Staates, von Bad Governance, sehr wohl Hilfe leisten, nicht in dem Sinne, dass dem Staat geholfen wird, wohl aber, dass den Menschen geholfen wird. Es geht um beides, einerseits um humanitäre Hilfe, andererseits aber auch darum, dafür zu sorgen, dass die Voraussetzungen für Perspektiven in diesen Ländern besser werden. Genau das ist die Philosophie von Entwicklungszusammenarbeit insgesamt. Auch wenn sie für uns schon aus ethischen Gründen wichtig ist, bedeutet gut gemachte Entwicklungszusammenarbeit automatisch, gleichzeitig Fluchtursachen zu bekämpfen. Insofern ist das BMZ insgesamt eigentlich dasjenige Ministerium, das Fluchtursachen bekämpft, und dies nicht nur mit den Mitteln aus dem Titel im Haushaltsplan, der als Sonderinitiative tatsächlich so heißt. Mit 465 Millionen Euro ausgestattet steht er gemeinsam mit den deckungsfähigen anderen Sonderinitiativen, mit rund 1 Milliarde Euro, dafür, dass Fluchtursachen bekämpft werden, damit eben genau das, was hier angeprangert wird, weniger passiert. Ich glaube, dass das der richtige Weg ist. ({1}) Unabhängig davon ist die Frage, wie wir es denn schaffen, vernünftig und effektiv besser Druck auszuüben, natürlich berechtigt. Da sind sicherlich auch noch Verbesserungen erforderlich. Ich würde mir manches Mal gerade von unserem Außenministerium ein noch etwas stringenteres Vorgehen wünschen. Aber wir haben schon sehr viele Erfolge zu verzeichnen. Allein wenn ich mir das immer wieder genannte Beispielland Marokko anschaue, dann muss ich feststellen, dass wir da sehr geschickt verhandelt haben. 2015 gab es 61 Rückführungen nach Marokko, 2016 gab es 112 solcher Rückführungen, im vergangenen Jahr, 2017, waren es 634 und in diesem Jahr ausweislich der mir vorliegenden Statistik zum Stichtag 31. Juli bereits 413 Rückführungen, das heißt mindestens zehnmal so viele Abschiebungen nach Marokko wie im Jahr 2015; das gegenwärtige Jahr ist ja noch lange nicht zu Ende. Ich sage: Das ist eine positive Entwicklung, und das sind die Wege, entsprechend Druck auszuüben, auf denen wir auch Erfolg haben, diese Rückführungen zu erreichen. ({2}) Unter dem Strich bleibt aus meiner Sicht, dass wir sehr geschickt bessere Regierungsführung einfordern und dafür auch Druck ausüben müssen, einerseits darauf, dass die verschiedenen Länder ihre eigenen Staatsbürger anerkennen, andererseits aber auch darauf, dass diese Länder Freiheit als solche und Perspektiven für die Menschen anerkennen. Heute ist der Internationale Freiheitstag der International Justice Mission gegen Sklaverei und Menschenhandel. Einige von Ihnen tragen wie ich diese Bändchen mit „#frei“. Das ist etwas, was im Sinne von guter Regierungsführung ganz wichtig ist. Wir müssen alles tun, um das entsprechend einzufordern. Wir müssen unter dem Strich am Ende des Tages erreichen, dass die Menschen in ihren Heimatländern mehr Chancen haben, mehr Jobs und damit mehr Perspektiven haben. Das ist uns wichtig, einerseits aus ethischen Gründen, andererseits aber auch aus unserem ganz eigenen praktischen deutschen Interesse. Daran lasst uns gemeinsam arbeiten und nicht irgendwelchen simplen Anträgen folgen. Danke sehr. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als nächsten Redner rufe ich den Abgeordneten Dr. Christoph Hoffmann für die FDP auf. ({0})

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Titel des Antrags der AfD zeigt wieder, dass sie nicht auf der Höhe der Zeit ist. ({0}) Das Denken der AfD ist in Zeiten stehengeblieben, als es in den Kirchen noch Nick-Negerlein gab. Das war eine Plastikfigur, in die man Geld hineingeworfen hat, wo­raufhin sie artig genickt hat. – Sie sprechen heute immer noch von Entwicklungshilfe statt -zusammenarbeit. Das zeigt, wes Geistes Kind Sie sind. ({1}) Das Anliegen des Antrags, die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit wegen Rücknahmeverweigerung von Staaten zu streichen, ist eine Idee, die der Autor wohl am Stammtisch aufgegriffen hat. ({2}) Es ist verständlich, dass am Stammtisch so gesprochen wird; denn das Unverständnis der Menschen draußen über die mangelnde Abschiebung ist durchaus groß. Die Regierung hat außer markigen Worten hier auch nicht viel zustande gebracht. ({3}) Wir sind aber heute hier im Bundestag, und eine Aneinanderreihung von Stammtischparolen hält einer näheren abwägenden Betrachtung sicherlich nicht stand. Deshalb lassen Sie uns den Sachverhalt genauer anschauen. Es ist grundsätzlich nicht akzeptabel, dass Asylbewerber nicht kooperativ sind, Ausweise vernichten oder ihre Identität und Herkunft verschleiern. Dafür gibt es eigentlich keinen Grund. Es ist auch nicht akzeptabel, dass die Staaten ihre Angehörigen nicht mehr zurücknehmen oder ihnen die Staatsangehörigkeit einfach aberkennen oder sie bezweifeln. Aber warum verschleiern Asylsuchende die Herkunft, warum nehmen Staaten ihre Leute nicht zurück? Es geschieht, weil es ökonomisch für sie klar besser ist. Aber eine Streichung der deutschen EZ-Mittel ist meist unwirksam, weil diese Mittel nur wenige Promille am Bruttoinlandsprodukt dieser Staaten ausmachen. Nehmen wir ganz konkret die Forderung des AfD-Abgeordneten Waldemar Herdt, der hier am vergangenen Donnerstag für die Einstellung der Entwicklungszusammenarbeit mit Kamerun plädiert hat. Die deutsche EZ macht gerade einmal 1 Prozent am Haushalt Kameruns aus, und der deutsche Anteil an den gesamten ODA-Mitteln für Kamerun liegt bei etwa 10 Prozent. Was, glauben Sie nun, wird Kamerun tun, wenn Deutschland die EZ-Mittel streicht? Nichts, weil es für die Regierenden dort unbedeutend ist; das sind die entscheidenden Figuren. Die Streichungen von EZ-Mitteln träfen hingegen die Armen, sie träfen die Jugend, weil dann Agrarförderung oder Bildung oder Demokratieförderung abgestellt werden. Damit würde außerdem in ungleichem Maße der Migrationsdruck, den Sie ja so beklagen, erhöht. Es trifft also die Falschen. ({4}) Was brauchen wir? Erstens. Die Außenpolitik muss handeln, um in den Ursprungsländern Rücknahmebereitschaft zu erzielen. Diplomatie ist das erste und das beste Mittel, das es hier gibt, ({5}) und das ist bei weitem nicht ausgereizt. Danach sind Sanktionen wie Visamaßnahmen, Sanktionen gegen Regierende, engste Freunde der Regierenden oder das Einfrieren von Bankkonten durchaus auch Maßnahmen, die man prüfen kann. Das trifft dann auch die Richtigen. Zweitens. Die Bundesregierung hat es seit Jahren versäumt, die gesetzlichen und verwaltungstechnischen Grundlagen für zügige Asylverfahren und schnellere Rückführungen zu schaffen. Die FDP hat dazu einen Gesetzentwurf für ein modernes und längst überfälliges Einwanderungsrecht vorgelegt. Drittens. Meine Erfahrungen als Bürgermeister zeigen, dass nicht kooperative Asylbewerber ihre Papiere wiederfinden oder sie von zu Hause zugeschickt bekommen, wenn es wirklich ernst wird. Also wäre das wichtigste und erste Mittel nicht, die EZ zu streichen, sondern die Ernsthaftigkeit unseres Rechtsstaates den angeblich Papierlosen klarzumachen. ({6}) Außenministerium und Innenministerium müssen also endlich handeln und die Klaviatur der Möglichkeiten kreativ ausreizen, ohne das Kind, wie Sie es wollen, mit dem Bade auszuschütten. Pauschale EZ-Streichungen sind falsch und verquer. Jeder Fall liegt anders und muss einzeln geprüft werden. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächste Rednerin ist die Abgeordnete Gabi Weber für die Fraktion der SPD. ({0})

Gabi Weber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004438, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über einen Antrag der AfD-Fraktion, der sich in erster Linie mit Themen aus dem Bereich Inneres befasst. Wenn es um Abschiebungen geht, ist nach meiner Kenntnis der Bundesinnenminister in Verbindung mit den Länderinnenverwaltungen zuständig. Mit Entwicklungszusammenarbeit hat das nichts zu tun, außer man möchte Dinge miteinander vermischen, die nicht zusammengehören; ({0}) und genau das ist Ihre Absicht, meine Damen und Herren. Es geht Ihnen vordringlich um zu geringe Abschiebezahlen in die drei Maghreb-Staaten Marokko, Algerien und Tunesien. Um diese zu korrigieren, schlagen Sie vor, diesen drei Staaten das Geld für die Entwicklungszusammenarbeit zu kürzen oder gar ganz zu streichen, wenn sie nicht endlich willens sind, das zu tun, was Sie wollen. – Das wollen wir nicht. ({1}) Ich weiß nicht, wann Ihnen die Idee für diesen Antrag gekommen ist; aber – der Kollege Hoffmann hat schon darauf hingewiesen – auf der Höhe der Zeit sind Sie damit auf jeden Fall nicht. Außerdem weist er eine erschreckende Erkenntnis über Sinn und Zweck von Entwicklungszusammenarbeit auf. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Entwicklungszusammenarbeit im Maghreb dient einerseits der Stärkung von Lebensperspektiven und gesellschaftlicher Entwicklung vor Ort; sie ist aber andererseits auch ein wesentlicher Baustein der gutnachbarschaftlichen Zusammenarbeit mit unseren Partnern südlich des Mittelmeers, in unmittelbarer Nähe zu Europa. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, was genau unterstützen wir in Marokko, Algerien und Tunesien? Wir unterstützen bei der beruflichen Qualifizierung. Aktuell sind sechs neue Projekte zur beruflichen Bildung in Tunesien in Planung. Sollten wir das zurücknehmen? Außerdem unterstützen wir die Länder bei guter Regierungsführung. Dazu gehört insbesondere Dezentralisierung; denn dort, wo Leute mitbestimmen können, fühlen sie sich zu Hause und sicher aufgehoben. ({3}) Wir helfen beim kommunalen Aufbau. Wir unterstützen bei der Korruptionsbekämpfung. Wir leisten Unterstützung in den Bereichen Wasserversorgung und Abwasser­entsorgung, bei der Abfall- und Kreislaufwirtschaft, im Gesundheitswesen und beim Ausbau des Bereichs der erneuerbaren Energien. Wir stehen dabei unseren Partnern beratend mit unserem Wissen zur Seite. ({4}) Diese Unterstützung schafft Lebenschancen für die Menschen in ihren Heimatländern, damit sie sich dort ein Leben aufbauen können, so wie sie es sich vorstellen. Und das ist immer noch die beste Fluchtursachenbekämpfung. ({5}) Sehr geehrte Damen und Herren auf der Tribüne, stellen Sie sich vor, es gäbe in Ihrem Lebensumfeld keine Polizei und Justiz, auf deren Schutz und Hilfe Sie sich verlassen könnten, keine funktionierenden Schulen für Ihre Kinder, keine Jobs für junge Menschen in Ihren Familien und zudem durch die Folgen des Klimawandels nur noch magere Erträge in der Landwirtschaft. Was würden Sie tun? Kämen Sie nicht auch auf die Idee, woanders Ihr Glück für sich und Ihre Familie zu suchen? ({6}) All dem steuern wir mit unserer Entwicklungszusammenarbeit gegen. Aber darauf liegt ja nicht das Hauptaugenmerk des AfD-Antrags. Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass die Umsetzung Ihrer Kürzungsvorschläge zum Gegenteil des mit Ihrem Antrag Beabsichtigten führen würde? Fehlende wirtschaftliche und persönliche Zukunftsperspektiven sind eine wesentliche Triebfeder für Fluchtbewegungen. Wenn Sie das also beabsichtigen, wäre das eine interessante Wendung Ihrer bisherigen Haltung. ({7}) Sie müssen sich schon einmal entscheiden, welchen Argumentationsstrang Sie nun eigentlich durchhalten wollen. Abschließend noch ein Wort zur Sprache Ihres Antrags. Sie überschreiben ihn mit „Entwicklungshilfe“. Dieser Begriff ist längst überholt. Sie zeigen auch hier wieder eindrücklich, dass Sie den Anschluss an die Gegenwart verpasst haben und sich gern in der Vergangenheit bewegen. Außer Abwehrmaßnahmen fällt Ihnen kein Beitrag zur echten Bewältigung der Herausforderungen unserer Partner ein. Das kann man so machen; aber dann wird es halt Murks. Meine Fraktion sieht daher in Ihrem Antrag keine zielführende Beratungsgrundlage. Vielen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächstes spricht Frau Kollegin Evrim Sommer für die Fraktion Die Linke. ({0})

Helin Evrim Sommer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004897, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da ist uns aber ein aufschlussreicher Antrag der AfD auf den Tisch geflattert. Letztes Wochenende sind rund 240 000 Menschen in Berlin auf die Straße gegangen. „Grenzenlose Solidarität“ war das Motto. Solidarität – damit sind wir schon beim Thema. Schauen wir doch mal, was die AfD zur Entwicklungspolitik vorschlägt, und denken wir das bis zum Ende durch. Ich war vor zwei Wochen in Bangladesch und Myanmar. In Bangladesch haben wir ein Flüchtlingslager besucht. Dort leben über 1 Million geflüchtete Rohingyas, Angehörige einer muslimischen Minderheit, brutal vertrieben vom Militär in Myanmar. Die UNO spricht von einer ethnischen Säuberung. Was mich heute noch nicht schlafen lässt, ist die erschütternde Situation in den überfüllten Camps: Fäkalien vermischen sich mit Matsch auf den Straßen, dazu völlig apathische Kinder, unterernährt, 90 Prozent des Trinkwassers verseucht, die Behausungen bloß aus Plastiktüten. Das ist eine unbeschreibliche humanitäre Katastrophe, meine sehr verehrten Damen und Herren. Nach der Logik der AfD ist das ein klarer Fall: zwei unkooperative Staaten, dazu ein Flüchtlingsproblem, das weit weg ist. Also: geht uns nichts an, keinen Cent dorthin. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage Ihnen ganz deutlich, wohin das führen würde: Der IS rekrutiert in den Lagern in Bangladesch äußerst erfolgreich seine zukünftigen Kämpfer, bei Menschen, die keine Alternative haben, die keinen Ausweg mehr sehen. Wenn wir nicht gegensteuern, wird der IS in Südasien zu einer ernsten Gefahr. Das bedeutet Terror, Krieg und weitere Menschen auf der Flucht. Deswegen müssen wir den Menschen vor Ort dringend helfen. ({0}) Die Rohingyas müssen in ihre Heimat zurückkehren können. Wir brauchen schnellstmöglich eine politische Lösung des Konflikts. ({1}) Meine Damen und Herren von der AfD, in Ihrem Antrag zeigen Sie klar, worum es Ihnen eigentlich geht; Sie wollen den Druck erhöhen, um Geflüchtete aus Deutschland in die Herkunftsländer abzuschieben, und Herkunftsländern, die sich weigern, sollen die Entwicklungsgelder gekürzt oder gar gestrichen werden. Wie einfältig ist das denn, bitte schön? ({2}) Wenn zum Beispiel im Irak keine Schulen, keine Krankenhäuser mehr gebaut werden, fliehen doch mehr Menschen aus diesem Land. Keine Entwicklungsgelder bedeutet keine Entwicklung, und das bedeutet mehr Menschen auf der Flucht. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau Kollegin Sommer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Keuter von der Fraktion der AfD?

Helin Evrim Sommer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004897, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein. – Ihr Antrag ist nicht nur kurzsichtig, sondern auch ein Bumerang. Wir von der Linken sagen ganz klar: Das ist zynisch, das ist unmoralisch, und das ist vor allem unmenschlich. ({0}) Es ist kein Wunder, dass ich Ihren Antrag strikt ablehne. Meine Damen und Herren, zum Schluss noch eine Bemerkung in eigener Sache. Ich kam selbst als Flüchtlingskind nach Deutschland, mit neun Jahren mit meiner Familie, verfolgt von der hochgerüsteten türkischen Militärjunta. Ich habe hier in Deutschland wirklich ein sicheres Zuhause gefunden. Für die Hilfe in meinem Fall bin ich dankbar. Aber ich muss auch sagen: Ich bin wachsam. Nationalismus und Rassismus sind immer die Feinde der Demokratie. ({1}) Dagegen müssen alle Demokratinnen und Demokraten aufstehen, auf der Straße, am Arbeitsplatz, aber auch hier im Hohen Haus. Vielen Dank. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Der Abgeordnete Keuter, AfD, hat sich zu einer Kurzintervention gemeldet.

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Sommer, ich finde es schade, dass Sie die Zwischenfrage eben nicht zugelassen haben. Es hat mich schon sehr verwundert, dass Sie nicht zu unserem Antrag gesprochen haben, sondern über Flüchtlingsprobleme der Rohingya in Myanmar und in Bangladesch. Ja, Sie werden sich wundern, auch die AfD war dort. Wir waren nämlich dort gemeinsam, Frau Sommer. Sie wissen, dass wir die Ansicht teilen, dass dort ganz großes Leid geschieht. Aber die Frage ist, ob wir den Menschen dort helfen, indem wir sie nach Deutschland holen ({0}) und erst einmal tröpfchenweise Entwicklungshilfe vor Ort leisten oder ob wir nicht besser dieses Problem im Großen politisch lösen. Das ist eine Frage, mit der wir uns ganz sachlich auseinandersetzen wollen. Ich habe gerade nicht erkannt, dass Sie hier zu unserem Antrag gesprochen haben. Das war eine sehr emotionale Rede. Unser Ansatz ist aber, dass man sich grundsätzlich Gedanken darüber machen soll, ob die Entwicklungshilfe, die wir im Moment praktizieren, der richtige Weg ist oder ob man nicht über ein anderes System nachdenken muss. Ich finde es sehr schade, dass Sie das wieder auf eine parteipolitische Ebene herunterbrechen. Vielen Dank. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Wollen Sie antworten, Frau Sommer? ({0})  – Gut. Dann fahren wir in der Debatte fort. Als Nächster spricht Uwe Kekeritz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({1})

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir kennen ja die AfD-Anträge, die alle das gleiche Strickmuster haben. Zentraler Baustein ist das Aufbauen von Feindbildern, und es sind immer die Migranten. Das gilt auch für diesen Antrag, auch wenn Sie sehr vorsichtig formulieren und versuchen, den Anschein der Seriosität zu wahren. Im Antrag greifen Sie Zahlen auf, die zum Teil richtig sind. Sie werden aber wie in allen anderen AfD-Anträgen interpretiert und in Botschaften verwandelt, die dann nicht mehr korrekt sind. ({0}) Natürlich müssen Staaten ihre Staatsbürger zurücknehmen. Deutschland hat mit vielen Staaten Verträge abgeschlossen. Darüber ist schon genügend gesagt worden, glaube ich. Mit Ihrem Antrag soll der falsche Eindruck erweckt werden, die Staaten würden ihre Bürger grundsätzlich nicht zurücknehmen und keine Ausweispapiere erstellen, da sie auf die Überweisungen der Migranten spekulierten, die obendrein alle illegal hier lebten. Als Beleg dafür wird in der Begründung ausgerechnet Marokko, das durch Überweisungen seiner Migranten über 7 Milliarden Euro jährlich erhält, genannt. Die Botschaft der AfD ist klar: Die Menschen sind illegal hier, die Regierung in Marokko nimmt sie nicht zurück, sie stellt keine Papiere aus, und wir zahlen auch noch 7 Milliarden Euro. Die AfD weiß offensichtlich ganz genau, dass hier gleich mehrere falsche Botschaften vermittelt werden. Die Rückführung nach Marokko läuft seit langem sehr gut. Auch wenn sie es nicht explizit so formuliert, sendet die AfD doch die klare falsche Botschaft, dass die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Deutschland 7 Milliarden Euro pro Jahr für Marokko zahlen – nach dem Motto: Wir sind die Opfer; wir sind die Leidtragenden. Tatsache ist, dass diese 7 Milliarden Euro hauptsächlich von Migranten stammen, die vor vielen Jahrzehnten ausgewandert sind und in den USA, Kanada, Belgien, Frankreich, Deutschland, Spanien oder sonst irgendwo leben. Sie haben sich dort eine Existenz aufgebaut und zahlen in diesen Ländern Steuern. Sie überweisen auch Geld nach Marokko. Das ist gut. Es ist entwicklungsdienlich. Wir wollen das auf alle Fälle beibehalten. ({1}) Haben Sie sich einmal Gedanken darüber gemacht, wie viele Deutsche im Ausland leben und wie viel Geld sie zurücküberweisen oder mit wie viel Erspartem sie dann nach Jahren zurückkommen? Ich stelle auch die Frage, warum die AfD solche Wörter wie „Entwicklungshilfe“ benutzt. Ja, manche sagen: Die kennen sich halt überhaupt nicht in der Entwicklungspolitik aus. – Auch ich bin der Meinung: Die haben sich damit noch nicht auseinandergesetzt. ({2}) Aber das ist überhaupt nicht das Problem. Das Problem ist, dass Sie sich mit der Thematik überhaupt nicht auseinandersetzen wollen, sondern dass Sie jedes Thema aufgreifen und entsprechend instrumentalisieren – egal welches; und wenn es Wölfe sind: ({3}) Sie werden es immer auf Flüchtlingssituationen zurückführen und Ihr Feindbild weiter aufbauen. ({4}) Wie das zu bewerten ist, hat der Kollege Martin Schulz vor einigen Wochen hier eindeutig formuliert. Das sollten Sie sich einmal zu Herzen nehmen.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Kekeritz, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Frohnmaier hat schon einmal gefragt und hat damals bewiesen, dass er sich mit der Thematik immer noch nicht auseinandergesetzt hat. Das ist nicht besser geworden. Er spielt im AwZ vier Stunden lang mit seinem Handy. Passen Sie da einfach auf! Dann wird das auch in Zukunft besser werden. ({0}) Die Grundproblematik, dass zurzeit 70 Millionen Menschen auf der Flucht sind – Tendenz steigend – und die meisten von ihnen – hören Sie gut zu – von den ärmsten Ländern aufgenommen werden – Bangladesch, Tschad, Libyen, Jordanien –, spielt für Sie keine Rolle. Stattdessen bieten Sie Hau-drauf-Lösungen, die da lauten: Entwicklungszusammenarbeit streichen. Es wurde auch von der Kollegin Weber schon gesagt: Wollen Sie tatsächlich Mittel für Gesundheitseinrichtungen, Schulen, Wasserversorgung und Ausbildung streichen? Ich nenne so etwas würdelos. Das passt nicht zu Deutschland. ({1}) In einem solchen Antrag könnte man ja auch Werte, Ethik und Moral einfordern. Immerhin leben wir in Deutschland mit seiner Geschichte, seiner Kultur und den daraus entwickelten Werten. Aber ein solches Deutschland ist Ihnen völlig fremd. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Wolfgang Stefinger für die CDU/CSU.

Dr. Wolfgang Stefinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004414, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister Müller! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In meiner letzten Rede, die ich zum Thema Entwicklungszusammenarbeit gehalten habe, habe ich erwähnt, wie viel ich schon gelernt habe. Um zu lernen, muss man aber auch lernen wollen. Ein Thema ist, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD: Entwicklungszusammenarbeit heißt nicht, dass wir Almosen verteilen, und vor allem auch nicht, dass wir nur anschaffen und bestimmen. Vielmehr bedeutet Entwicklungszusammenarbeit, dass wir auf Augenhöhe mit den Staaten agieren müssen. ({0}) Mit einer Sanktionspolitik würden Sie den Schleppern und Schleusern helfen – Sie wollen ja helfen: Entwicklungshilfe –, noch mehr Geschäfte zu machen. Sie würden den Menschen vor Ort einen Bärendienst erweisen. Die Folge wären nicht weniger, sondern mehr Flüchtlinge, die sich auf den Weg machen. Unser Ansatz ist ein anderer. Minister Müller war kürzlich in Tunesien. Er und wir als Union wollen dort Zukunftsperspektiven schaffen. Wir wollen Lebensper­spektiven in den Ländern schaffen. Mit Tunesien haben wir einen Ausbildungspakt geschlossen. 75 000 Jobs sind dort bereits geschaffen worden, und rund 60 000 junge Menschen sind ausgebildet worden. Wir schaffen Strukturen zur Ausbildung und Beschäftigung in Tunesien. Sie haben in Ihrem Antrag Tunesien erwähnt. Tunesien ist ein Hoffnungsträger in Nordafrika. Die Demokratie- und Menschenrechtslage hat sich verbessert. Ja, es gibt Probleme bei der Wirtschaft. 36 Prozent der jungen Menschen sind arbeitslos. Deswegen müssen wir dieses Thema angehen. Denn die jungen Menschen brauchen Chancen, sie brauchen Perspektiven. Vor allem brauchen sie eine gute Zukunft. ({1}) Unsere Entwicklungspolitik wird von dem Ansatz „Fördern und Fordern“ geleitet. Wir setzen auf Anreize. Wir wollen diejenigen belohnen, die bei guter Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung vorangehen. Im Übrigen helfen hier insbesondere auch die politischen Stiftungen, die im Ausland tätig sind. Deren Gelder fürs Ausland wollen Sie ja streichen, wie Sie im Haushaltsausschuss immer wieder deutlich machen. Für uns ist klar: Wer kooperiert, der profitiert auch. ({2}) Seit 2017 gibt es Reformpartnerschaften mit Tunesien, Ghana und der Elfenbeinküste. Weitere Länder werden folgen. Wir von der Union stehen klar für eine moderne und zukunftsgerichtete Entwicklungszusammenarbeit. Wir schaffen Zukunftsperspektiven in den Heimatländern. Wir stärken die Investitionssicherheit und wollen eine schlanke Bürokratie. Wir unterstützen unsere Wirtschaft, insbesondere auch die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die in Afrika investieren wollen. Wir stärken die berufliche Bildung, um gute Fachkräfte vor Ort zu haben. Wir setzen mit dem geplanten Gesetz Anreize für Investitionen in Entwicklungsländern. Wir setzen auf Armutsbekämpfung und Ernährungssicherung. Wir unterstützen den Aufbau von Versorgung mit erneuerbaren Energien. Wir unterstützen beim Klimaschutz. Das ist Zukunftspolitik, und das ist vor allem eine moderne Entwicklungspolitik. ({3}) Ja, liebe Kollegen, wir können auch beachtliche Erfolge vorweisen. 1980 lebten 40 Prozent der Weltbevölkerung in absoluter Armut. Heute liegt dieser Anteil bei rund 10 Prozent. 1950 konnten zwei Drittel der Menschen weder lesen noch schreiben. Heute sind wir bei weniger als 15 Prozent. Auch in der Gesundheit haben wir viele Erfolge erzielt. Ich erinnere an die Bekämpfung von Malaria, Flussblindheit oder Pocken. Hier haben wir sehr viel erreicht und werden weiter viel erreichen. Wir stehen auch für schnelle Hilfe zur Verfügung. Im Irak konnten innerhalb von wenigen Wochen für über 600 000 Kinder Schulen und eine Trinkwasserversorgung für über 2 Millionen Menschen aufgebaut werden. Ja, liebe Kollegen von der AfD, natürlich müssen die betreffenden Staaten auch etwas tun. Sie müssen sich mehr anstrengen und kooperieren. Das fordern wir auch ein. Aber wir werden den Menschen vor Ort nicht das Wasser abdrehen, wie Sie das wollen. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor, sodass ich die Aussprache schließe. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/5042 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mit der positiven Wirtschaftsentwicklung in Deutschland sind auch die Leistungsfähigkeit und die Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung gesichert. An dieser positiven Wirtschaftsentwicklung müssen und wollen wir die Versicherten teilhaben lassen. Deshalb entlasten wir Arbeitnehmer, Rentner und Selbstständige mit kleinen Einkommen um insgesamt 8 Milliarden Euro jährlich. ({0}) Ab Januar 2019 wird vor allem der Beitrag zur Krankenversicherung wieder paritätisch finanziert, also zu gleichen Teilen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Das gilt auch für den kassenindividuellen Zusatzbeitrag, den die Versicherten bisher alleine tragen. 6,9 Milliarden Euro jährlich mehr in den Taschen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Rentner! Oder ganz konkret: Ein Arbeitnehmer mit einem Einkommen von 3 000 Euro brutto zahlt 15 Euro im Monat weniger. Ein Rentner mit 1 000 Euro Rente zahlt künftig monatlich 5 Euro weniger für seine Krankenversicherung. Das haben wir nicht nur im Koalitionsvertrag so vereinbart, sondern wir erfüllen damit auch ein Anliegen der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft, unserer CDA, des Arbeitnehmerflügels der CDU. Wir sind diesem Anliegen gerne gefolgt. ({1}) Mit Blick auf die Arbeitgeber glaube ich, dass wir zumindest einen Anreiz dafür setzen, dass diese sich wieder mehr für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitssystem verantwortlich fühlen und sich auch entsprechend einsetzen. ({2}) Hohe Beiträge zur gesetzlichen Krankenkasse überfordern nicht nur Arbeitnehmer und Rentner, sondern auch diejenigen, die zwar hauptberuflich selbstständig, aber weit weg davon sind, Reichtümer zu verdienen. Ich denke dabei zum Beispiel an Tagespflegepersonen wie Tagesmütter und Tagesväter, die sich liebevoll und verlässlich um die ihnen anvertrauten Kinder kümmern und dabei noch nicht einmal eine Vergütung erhalten, die dem allgemeinen Mindestlohn entspricht. Ich denke aber auch zum Beispiel an junge Gründerinnen und Gründer sowie an diejenigen, die in Projekten engagiert sind. Für alle diese Menschen senken wir die Mindestbeitragsbemessungsgrundlage – noch stärker als ursprünglich im Kabinettsentwurf vorgesehen – auf 1 015 Euro. ({3}) Selbstständige mit geringem Einkommen müssen künftig circa 170 Euro im Monat zahlen und damit weniger als die Hälfte ihrer bisherigen Beiträge. Damit werden wir die wirtschaftliche Situation vieler Selbstständiger deutlich verbessern. ({4}) Daneben schaffen wir mit diesem Gesetz für unsere Zeitsoldaten einen Zugang zur GKV. Für unsere Bundeswehr entscheiden sich jährlich knapp 15 000 Zeitsoldaten, die während der Dienstzeit truppenärztlich versorgt werden, die sich aber nach ihrem Ausscheiden neu orientieren müssen. Für sie schaffen wir ab dem 1. Januar 2019 ein Beitrittsrecht betreffend die gesetzliche Krankenversicherung nach Ende der Dienstzeit. Darüber hinaus können Zeitsoldaten – auch das haben wir festgelegt –, die im März 2012 aus dem Dienst ausgeschieden sind und am 1. Januar nun das 55. Lebensjahr vollendet haben, der GKV beitreten. Ich hoffe, dass diese Maßnahme auch zur Steigerung der Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber beiträgt. Ich will noch eines an dieser Stelle sagen: Ich fand es bemerkenswert – ich war auch gerührt –, dass sich heute Morgen Oberstleutnant Buch persönlich für die Unterstützung bei uns bedankt hat. Ich gebe diesen Dank herzlich gerne an die Soldaten und speziell an die Zeitsoldaten zurück, die uns an anderer Stelle stets und ständig mit toller Arbeit unterstützen. ({5}) Wenn wir von der Entlastung der Versicherten reden, lohnt auch ein Blick auf die Kassenfinanzen. Die gesetzlichen Kassen haben in den letzten Jahren erhebliche Rücklagen aufgebaut. Unter dem Strich reden wir über ein Geldpolster in Höhe von rund 28 Milliarden Euro. Das Potenzial für Beitragssenkungen haben die Kassen – vor diesem Hintergrund vorsichtig ausgedrückt – nicht ausgeschöpft. Wir ziehen deshalb parallel zur Rentenversicherung eine neue gesetzliche Obergrenze und verpflichten Kassen, die die Obergrenze überschreiten, Rücklagen abzubauen und damit den Zusatzbeitrag zu senken. Die Versicherten und Beitragszahler dürfen sich darauf verlassen, dass mit ihren Beiträgen zweckentsprechend umgegangen wird. Die Juliustürme bei den Kassen der gesetzlichen Krankenversicherung gehören so der Vergangenheit an. Aber auch da war uns Augenmaß wichtig. Wir von der Union haben uns dafür eingesetzt, dass dem Abbau zunächst eine Reform des Risikostrukturausgleichs vorausgeht. Mit diesem Junktim stellen wir sicher, dass sich die einzelnen Kassen, die jeweils Geld aus dem Gesundheitsfonds bekommen, das sie zur Versorgung ihrer Versicherten benötigen, nicht nur Versicherte mit guten Risiken aussuchen, sondern sich gleichermaßen um alle kümmern, also auch um die Versicherten mit schlechten Risiken. Wir geben 8 Milliarden Euro jährlich an die Menschen zurück, die unsere Gesellschaft tragen und jeden Tag hart dafür arbeiten oder langjährig hart dafür gearbeitet haben. Herzlichen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist Detlev Spangenberg für die Fraktion der AfD. ({0})

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Einführung von kostendeckenden Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung für die Bezieher von Arbeitslosengeld II aus Steuermitteln“ lautet der Titel des Antrags der AfD-Fraktion zu diesem Thema. Wir beziehen uns hier auf das berechtigte Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag Seite 102, Zeile 4764. Wir haben auch hier wieder einen Fall, wo Leistungen ausgereicht werden, die vom Auftraggeber nicht gedeckt werden. Ich gehe einmal auf den Begriff der sozialen Versicherung ein. Das ist eine Gemeinschaft zur Abdeckung von Risiken mit der Möglichkeit, Leistungen zu empfangen. Es gilt das Solidarprinzip und jeder leistet Beiträge nach seinen Möglichkeiten. Aber es gilt auch – das ist der Unterschied – einen Grundbetrag zu leisten, einen Mindestbetrag, um auch Leistungsempfänger in der Solidargemeinschaft, in der Versicherung, zu sein; das ist der Grund. Bei den Arbeitslosengeld-II-Empfängern gibt es aktuelle Stellungnahmen des GKV-Spitzenverbandes vom Oktober 2018 und der Knappschaft mit der Aussage: Die Sicherheit des Lebensunterhalts der Menschen, die Arbeitslosengeld II beziehen, obliegt dem staatlichen Träger. Aber eigentlich müsste auch die gesundheitliche Vorsorge dort mit eingebaut sein; das ist sie aber nicht. So fehlt laut GKV-Spitzenverband der Betrag zur gesundheitlichen Grundsicherung, der normalerweise durch den Staat in den Gesundheitsfonds einzuzahlen wäre. ({0}) Allerdings wurde die gesetzliche Krankenversicherung verpflichtet, die Sicherstellung der Gesundheit dieses Personenkreises zu gewährleisten. Mit dieser Verpflichtung ergeht ein Auftrag an die Krankenkassen, das zu tun, aber der Auftraggeber müsste diese Verpflichtung ausgleichen. Er müsste natürlich das Geld zahlen, das diese Personengruppe kostet. Jetzt kommen wir zu den Zahlen. Es wird festgestellt, dass 96,81 Euro pro Monat für jeden arbeitslosen ALG-II-Empfänger eingezahlt werden. Laut „Ärzte Zeitung“ vom Dezember 2017 fallen aber rund 245 Euro Kosten pro Monat an, was einen Fehlbetrag im Gesundheitsfonds von rund 148 Euro ergibt. ({1}) Meine Damen und Herren, es gibt bereits einige, die weniger bezahlen müssen, zum Beispiel Studenten, Selbstständige und freiwillig Versicherte. Hier liegen die Beiträge zwischen 112 Euro und ungefähr 176 bis 190 Euro. Das heißt, selbst die Beiträge von denjenigen, die in irgendeiner Form privilegiert sind, liegen immer noch höher als die Beträge, die der Staat für seine Betreuungspflichtigen, nämlich die Arbeitslosengeld-II-Empfänger, bezahlt. Den Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen von 12,7 Milliarden Euro für diese Gruppe sind rund 4 Milliarden Euro gegenüberzustellen, die eingezahlt werden. Das ergibt eine Deckungslücke von 8,7 Milliarden Euro, die hier fehlen. Das heißt, nicht einmal ein Drittel der Aufwendungen der Kassen werden durch Steuermittel gedeckt. Das ist nicht in Ordnung. Wenn ich jemandem einen Auftrag erteile, dann muss ich ihn auch so stellen, dass er den Auftrag erfüllen kann. Aber hier gibt es eine Riesenlücke in der Deckung. ({2}) Das ist als eine nicht zu rechtfertigende Lastenverteilung auf Kosten der GKV-Versicherten zu werten, die durch Steuermittel auszugleichen ist. Nicht nachvollziehbar oder auch bemerkenswert ist außerdem im Gegensatz dazu die Zusage, wie viel der Staat Arbeitslosengeld-II-Empfängern zahlt, die privat versichert sind. Sie bekommen von staatlicher Seite den Mindestbetrag von rund 340 Euro. Für sie werden also rund 244 Euro mehr gezahlt als für die Arbeitslosengeld-II-Empfänger, die gesetzlich versichert sind. Das widerspricht jeder Logik. Wie gesagt: Hier muss man sich überlegen, was zu tun ist. Es ist nicht einzusehen, dass die gesetzlich Versicherten eine Leistung aufbringen müssen, die eigentlich eine gesamtgesellschaftliche Leistung ist. Wir haben eine Versicherungsgemeinschaft, und wenn ich jemanden dort hineinpacke, dann muss derjenige, der den Auftrag erteilt – ich sagte es schon –, auch die dafür nötigen Kosten aufbringen. Die Forderungen von FDP und Linken, alle freiwillig versicherten Selbstständigen von den vorgesehenen abgesenkten 1140 Euro Mindestbeitragsbemessungsgrenze auf 450 Euro abzusenken, würde bedeuten, die Situation noch zu verschlimmern; denn dann bekämen die gesetzlichen Krankenkassen gerade mal 70 oder 65 Euro. Dadurch wird das Problem noch mehr verschärft; es sei denn, der Staat zahlt dem Gesundheitsfonds die Differenz, die ich eben nannte, von ungefähr 200 bis 240 Euro ein. Aber davon habe ich nichts gehört. ({3}) Meine Damen und Herren, es gibt eine Unterdeckung, die auszugleichen ist. Nun kommen wir zu einer interessanten Zahlenspielerei. Wir könnten nämlich, wenn der Staat seinen Verpflichtungen nachkommen würde, den Zusatzbeitrag komplett streichen. Die Summen – Sie haben eben von 8 Milliarden Euro gesprochen – stimmen ungefähr überein. Wenn der Staat seiner Verpflichtung nachkommen würde, die Krankenkassen mit dem Geld auszustatten, das ihnen für die Arbeitslosengeld-II-Empfänger zusteht, dann können wir den Zusatzbeitrag komplett streichen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Außerdem ist eine kleine Mogelpackung dabei: Wenn Sie den Arbeitgebern nämlich die Hälfte des Zusatzbeitrages aufdrücken, was passiert dann mit dem Geld? Das erscheint dann wieder in ihrer Kostenrechnung, und dann erhöhen diese entweder den Preis, oder sie entlassen Arbeitnehmer und zahlen weniger Steuern. – Das ist verschroben, aber wenn man sich ein bisschen mit BWL auskennt, dann müsste man das nachvollziehen können. Recht vielen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als Nächstes spricht der Kollege Dr. Karl Lauterbach für die SPD. ({0})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Gesetz, das wir heute beschließen werden, ist ein besonders wichtiges Gesetz in der Sozialgesetzgebung; denn wir werden damit die gesetzliche Krankenversicherung angesichts der massiven Kostensteigerungen, die wir in den nächsten Jahrzehnten erwarten müssen, zukunftsfest machen. Für die Kostensteigerungen gibt es drei Ursachen. Erstens: die demografische Entwicklung der Gesellschaft. Die Babyboomer werden ab 2020 zunehmend in Rente gehen und somit weniger in die Krankenversicherung einzahlen. Sie werden aber mehr herausnehmen, weil sie zu einem Zeitpunkt, wo sie weniger verdienen, mehrheitlich chronisch krank werden. Zweitens. Es gibt eine deutlich höhere Lebenserwartung. Das ist eine sehr gute Nachricht, aber leider nehmen die chronischen Erkrankungen mit höherer Lebenserwartung zu. Außerdem können wir chronische Erkrankungen früher diagnostizieren. Somit ist die Behandlungsdauer länger. Das steigert die Kosten. Drittens: der dramatische technologische Fortschritt. Zum Beispiel wurden bessere Methoden zur Behandlung von Lymphompatienten gefunden. Unheilbar Kranke können teilweise geheilt werden, aber in jedem einzelnen Fall kostet die Behandlung 400 000 Euro. Dieses Verfahren werden wir zukünftig auch bei vielen anderen Tumorpatienten einsetzen. Wenn wir dieses Gesetz heute nicht beschließen würden, dann würden all diese zusätzlichen Kosten von den Arbeitnehmern alleine zu zahlen sein, weil die Arbeitgeberbeiträge eingefroren worden sind. Das heißt, für die Kosten, die sich aufgrund der sich ändernden Demografie und durch den Fortschritt ergeben, würden im Wesentlichen die Arbeitnehmer aufkommen. Das hätte schleichend zu einer dauerhaften Privatisierung des Gesundheitssystems geführt. Die wenden wir heute ab. Darin liegt aus meiner Sicht die historische Bedeutung des heutigen Beschlusses. ({0}) Gleichzeitig können wir nur ausgeben, was erwirtschaftet wird. Daher ist die ausdrückliche Förderung von Gründern durch die Halbierung des Beitragssatzes vorgesehen. Bisher gab es hier Ungerechtigkeiten, weil dem Gründer ein fiktives Einkommen zugeschrieben wurde, das er aber gar nicht hatte. Es wurde mit der Fiktion eines Einkommens, das er gar nicht hat, gearbeitet. ({1}) – Nicht alles, was Sie sagen, ist falsch. ({2}) Aber trotzdem bleibt unser Ansatz richtig, und wir werden es umsetzen. Wären Sie in die Regierung gegangen, könnten Sie es jetzt vielleicht verkünden. ({3}) Ich komme zu der wesentlichen Verbesserung, die wir für die Soldaten erreichen konnten. Auch das ist keine Kleinigkeit. Diese Verbesserung finde ich besonders wichtig. Soldaten, die unserem Land dienen, müssen später oft deutlich überhöhte Krankenversicherungsbeiträge zahlen, weil sie die Versicherungszeiten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht erfüllen und sich somit teuer privat versichern müssen – auch im Alter, was hohe Beiträge bedeutet. Oder sie kommen nicht mehr in die gesetzliche Krankenversicherung, weil ihnen die entsprechenden Zugänge fehlen. Daher werden wir die Situation für Soldaten deutlich verbessern, in der Übergangsphase sogar für diejenigen, die älter als 55 Jahre sind. Wir werden dafür sorgen, dass eine kleine Gruppe das Privileg erhält, in die gesetzliche Krankenversicherung zurückkehren zu können. ({4}) Wenn ich das sagen darf: Ich persönlich hielte es für richtig, wenn das für alle gelten würde. ({5}) Denn die Kostendynamik in der privaten Krankenversicherung konnte niemand absehen. Viele fühlen sich in der privaten Krankenversicherung gefangen und würden gerne wechseln, sind aber jetzt zu alt. Wir erreichen heute viel, aber es muss auch ehrlich gesagt werden: Das langfristige Ziel unserer Partei ist die Bürgerversicherung, ein gutes System für alle. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus für die FDP. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Minister Jens Spahn! Meine Damen und Herren! Ich möchte in meinen Ausführungen zunächst auf unseren eigenen Antrag eingehen, der vorsieht, dass die Krankenversicherungsbeiträge für hauptberuflich Selbstständige fairerweise, Herr Kollege Lauterbach, nach dem tatsächlichen Einkommen bemessen werden. Bei Ihnen hören die Solidarität und die Fairness bei 1 000 Euro auf, das ist bei uns nicht der Fall. ({0}) In der öffentlichen Anhörung wurde deutlich, dass die von Ihnen angestrebte Absenkung für freiwillig GKV-versicherte Selbstständige nicht ausreichend ist. Es war die einhellige Meinung fast aller Experten, dass das höchstens ein erster Schritt sein kann. Wir als FDP-Fraktion wollen keine Trippelschritte, wir wollen keine halben Sachen machen. Lassen Sie uns doch einfach Zeit sparen und gleich unseren Antrag verabschieden ({1}) und so eine Beitragsbemessungsgrenze in Höhe von 450 Euro festlegen. Das wäre fair gegenüber allen. ({2}) Dann müsste für die Beiträge kein fiktives Einkommen herangezogen werden, sondern sie würden nach dem tatsächlichen Einkommen berechnet werden. Wir wollen mit unserem Antrag die in Ihrem Gesetz noch vorhandene Ungleichbehandlung und Unfairness beseitigen. Wen treffen die fiktiven Mindestbeiträge? Es wurde schon angesprochen: Sie betreffen gerade Frauen – auch das haben wir in der Anhörung gehört –, die zum Beispiel aufgrund ihrer familiären Situation nicht an feste Arbeitszeiten gebunden sein wollen. Sie wollen vielleicht Verwandte pflegen. Sie wollen irgendwelchen anderen Tätigkeiten nachgehen. ({3}) Diese Frauen bestrafen Sie. Diese Gründerinnen verdienen aber von Anfang an vielleicht nicht den von Ihnen zwar reduzierten, aber unserer Meinung nach noch viel zu hohen Mindestbeitrag. Daher fordern wir in unserem Antrag, die Mindestbeitragsbemessungsgrenze auf 450 Euro abzusenken. Das wäre gerade für diese Gründerinnen eine faire Maßnahme. ({4}) Aber an unserem Beitrag wird ja sowohl seitens der Bundesregierung als auch von den Grünen zum Beispiel immer kritisiert: Na ja, Selbstständige, die können ihr Einkommen ja selbst gestalten und sich, wie es immer so schön heißt, arm rechnen. Das ist mal wieder so eine typische Argumentation. ({5}) Das verdeutlicht, dass Sie Vorurteile gegenüber Selbstständigen haben und dass Sie auch gar keine Ahnung von Selbstständigen haben; sonst würden Sie so was nämlich gar nicht behaupten. ({6}) Selbstverständlich sind Einnahmen nicht gleich Gewinn. Das weiß jeder, der schon mal selbstständig war. ({7}) Von den Einnahmen muss man natürlich die Kosten abziehen. Nehmen Sie zum Beispiel einen Blumenhändler, der durch seinen Blumenverkauf 500 Euro Einnahmen hat. Aber das ist doch nicht sein Gewinn! Davon muss man doch die Kosten abziehen, die vorher für seine Investitionen in die Blumen entstanden sind; um mal ein ganz einfaches Beispiel zu nennen. ({8}) Meine Damen und Herren, Selbstständige erfahren ja sowieso schon eine Schlechterbehandlung gegenüber Angestellten, abhängig Beschäftigten, da sie zum Beispiel auch Mieteinnahmen und andere Einnahmen verbeitragen müssen. Wenn Sie also wirklich Fairness haben wollen, dann stimmen Sie unserem Antrag zu. ({9}) – Ja, natürlich lasse ich diese Zwischenfrage zu. Für die Kollegin Klein-Schmeink bin ich dazu immer gerne bereit. Ich weiß auch schon, was sie fragt.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Eigentlich hat die Kollegin gleich selber Gelegenheit, zu sprechen. – Bitte, Frau Klein-Schmeink.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie haben natürlich recht. – Sie haben gerade abgehoben auf die Einkommen der Selbstständigen. Natürlich geht es darum, sie fair zu verbeitragen; das ist ganz klar. Aber wir haben in der GKV einen ganz klaren Grundsatz: Gehälter von Angestellten werden auf Grundlage des Bruttobetrages verbeitragt. Das heißt, eine angestellte Pflegerin bezahlt auf ihr Bruttogehalt den Krankenversicherungsbeitrag. Natürlich müssen wir darauf achten, dass auch die kleine Selbstständige dann ein vergleichbares Einkommen verbeitragen muss. Es ist eben so: Ein Selbstständiger hat über das Finanzamt einen Bescheid über sein Nettoeinkommen. ({0}) Da sind eben alle anderen Ausgaben schon abgezogen. Das müssen wir schon in Betracht ziehen. Sie haben recht: Es geht darum, ein faires und gerechtes System zu haben. Das muss für alle gelten, und da muss man auch gleiche Maßstäbe haben. Da frage ich Sie: Wie wollen Sie diesen Unterschied zwischen brutto und netto abbilden? Die Antwort darauf vermisse ich in der Diskussion. ({1})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Kollegin, für die Frage. – Ich wusste, dass sie kommt, weil Sie sie immer stellen. Aber leider ist auch bei Ihnen kein Erkenntnisgewinn eingetreten. ({0}) Sie kriegen von mir immer eine ähnliche Antwort. Aber lassen Sie mich zuerst sagen: Das Wort „kleine Selbstständige“ kann ich nicht leiden. Es sind geringfügig verdienende Selbstständige und keine kleinen Selbstständigen. ({1}) Das mal vorweg. Die Menschen sind nämlich nicht klein, sondern sie wollen am Erwerbsleben teilnehmen, ob als Selbstständige oder nicht. ({2}) – Nein, ich finde, diese Wortwahl ist schon ganz entscheidend, und sie passt sehr zu den Vorurteilen, die Sie da haben. Aber ich versuche es noch mal: Brutto und netto, auf der einen Seite der Angestellte und auf der anderen Seite der Selbstständige – ich habe versucht, es zu erklären –, Gewinn und Einkommen, das ist etwas ganz anderes. ({3}) Ein Blumenhändler oder jeder andere, der zum Beispiel irgendetwas herstellt – – ({4}) – Natürlich war das die Frage. – Es geht um zwei unterschiedliche Bemessungsgrundlagen. Der Selbstständige zahlt seine Steuern auf sein zu versteuerndes Einkommen, und er kann bestimmte Sachen auch nicht abziehen. Aber es geht darum, dass er die Kosten von seinen Einnahmen abziehen muss; denn das, was er an Einnahmen hat, ist doch nicht das, was für ihn übrig bleibt. ({5}) Genau das ist es. Sie werden es einfach nicht verstehen. Wir können es mal bei einem Kaffee oder einem Glas Wein besprechen. Da werde ich Sie mit einem Steuerberater zusammenbringen. Ich bin mein Leben lang selbstständig gewesen. Ich weiß, wie es läuft. Sie anscheinend nicht, Frau Kollegin. Aber das kriegen wir auch noch hin. ({6}) Herr Minister, kurz noch zum Morbi-RSA. Da kann ich Sie nur herzlich bitten: Werden Sie aktiv; denn es ist ganz wichtig, dass beim Morbi-RSA ganz schnell etwas passiert. Sie können sich sicher sein, dass wir als konstruktive Opposition Sie dabei unterstützen werden. ({7}) Da ich gerade bei Ihnen bin, Herr Minister: Ja, es tut mir leid; es wird ja auch immer gesagt: Ihr kritisiert immer so viel an den Gesetzen, und ihr sagt gar nichts Positives. ({8}) Ich weiß ja auch: Männer sind sensibel. Deswegen, Herr Minister Spahn, will ich Sie auch mal loben: Ja, positiv ist – es wurde schon gesagt –, dass für ehemalige Soldaten ein nahtloser Übergang in die GKV sichergestellt wird. Das begrüßen wir sehr. Die Menschen, die unserem Land gedient haben, verdienen auch unsere besondere Unterstützung. ({9}) Deswegen war das eine gute Maßnahme. Positiv finden wir auch, dass Bezieher von Kranken- und Mutterschaftsgeld jetzt endlich nur ihre tatsächlichen Einnahmen verbeitragen müssen. Vorher mussten sie ja auch den Mindestbeitrag zahlen. Das finden auch wir toll, dass Sie das umgesetzt haben, was unsere Sachverständigen in der Anhörung verdeutlicht haben. Also, das war jetzt ein Lob. Ich hoffe, Sie haben es mitbekommen. – Gut, wunderbar. Ansonsten muss ich aber sagen, dass der Gesetzentwurf mehr Schattenseiten hat als Positives. Deswegen werden wir dagegenstimmen. Ganz herzlichen Dank. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner: Dr. Achim Kessler für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach dem eher erheiternden Beitrag gerade wollen wir wieder ein bisschen ernst werden. ({0}) – Ja, das glaube ich, dass Sie es ernst gemeint haben. Das ist aber ein Unterschied. Das sogenannte Versichertenentlastungsgesetz bleibt Flickwerk und beseitigt die soziale Ungerechtigkeit in unserem Gesundheitssystem nicht; aber wir erkennen an, dass es einige längst überfällige Korrekturen vornimmt. Wir begrüßen, dass die Mindestbemessung der Beiträge von Selbstständigen noch einmal gesenkt wird: von 1 140 Euro auf rund 1 050 Euro. Aber ich finde, es sollte Sie doch stutzig machen, wenn sogar die FDP einer Forderung der Linken zustimmt. Wir bleiben dabei: Die Mindestbeitragsbemessung für Selbstständige muss auf 450 Euro gesenkt werden. ({1}) Letztlich soll das reale Einkommen herangezogen werden. Selbstverständlich – das ist uns besonders wichtig – muss das für alle freiwillig Versicherten gelten, auch für Rentner und Studierende und nicht nur für Selbstständige, die die FDP meint. ({2}) Die Neuregelung zum Abbau der Rücklagen der Krankenkassen hat auch bei der Anhörung breite Kritik gefunden. Aber Sie hören weder auf uns noch auf die Sachverständigen noch auf den Bundesrat. Sogar der Bundesrat hat gefordert, den Kassen höhere Finanzreserven zu belassen. Die Landesregierungen sind an dieser Stelle weitsichtiger als die Bundesregierung. ({3}) Ich fordere Sie auf: Verzichten Sie auf die Rückzahlung der Überschüsse der Krankenkassen. Verbessern Sie stattdessen die Leistungen für die Versicherten. ({4}) Denn Brillen oder Zahnersatz sind kein optionaler Luxus, sondern sollten als grundlegende und medizinisch notwendige Leistungen kostenfrei zur Verfügung stehen. ({5}) Selbstverständlich begrüßen wir die Wiederherstellung der paritätischen Beiträge. Es besteht aber überhaupt kein Anlass, dass Sie sich dafür feiern lassen. Die paritätische Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung wurde 2004 von SPD und Grünen abgeschafft – mit der Zustimmung von CDU und FDP im Bundesrat. ({6}) Sie nehmen also nur Ihre eigene Verschärfung wieder zurück. Herr Minister, nicht Ihnen ist das zu verdanken, sondern dem beharrlichen Protest der Gewerkschaften und der Sozialverbände, bei denen wir uns an dieser Stelle ausdrücklich bedanken möchten. ({7}) Aber wir sind noch nicht am Ende des Weges. Nach wie vor tragen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen erheblichen Teil der Gesundheitskosten alleine. Nach Angaben der Gesundheitsberichterstattung des Bundes haben die Versicherten 2016 Gesundheitskosten in Höhe von 24,3 Milliarden Euro alleine getragen. Das betrifft zum Beispiel Zuzahlungen zu Zahnersatz, zu Sehhilfen, zu Arzneimitteln, zu Pflegedienstleistungen, aber auch zu Heil- und Hilfsmitteln. Ich fordere Sie auf, diese Ungerechtigkeit zu beenden. Sorgen Sie dafür, dass diese Leistungen in den Leistungskatalog der Krankenversicherung aufgenommen werden! ({8}) Ich möchte noch auf einen anderen Umstand zu sprechen kommen, der leicht übersehen wird. Die Wiederherstellung der Parität bringt den Versicherten eine geringfügige Entlastung von durchschnittlich 15 Euro bei 3 000 Euro brutto. ({9}) Auf dem Gehaltszettel wird das aber nicht zu merken sein; denn Sie wollen gleichzeitig den Beitragssatz zur Pflegeversicherung um 0,5 Prozentpunkte erhöhen. Das ist keine wirkliche Entlastung, sondern Symbolpolitik. ({10}) Wenn Sie die Versicherten wirklich entlasten wollen, dann setzen Sie unseren Vorschlag einer solidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung um, in die alle einzahlen, auch Beamte, Selbstständige und selbstverständlich auch wir Abgeordnete. ({11}) Durch die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze und die Berücksichtigung aller Einkommensarten kann die drängende Frage der Finanzierung unseres Gesundheitssystems dauerhaft gelöst werden. Durch die Einbeziehung der Besserverdiener können zugleich die Beitragssätze sinken, sodass 90 Prozent der Versicherten weniger Beiträge zahlen. So können wir erreichen, dass alle Menschen gerecht einzahlen und die bestmögliche Gesundheitsversorgung erhalten. Dafür steht Die Linke. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Jetzt spricht die Kollegin Maria Klein-Schmeink für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist das heute ein Gesetzentwurf, der unsere Zustimmung finden wird, ({0}) und zwar aus guten Gründen. Zunächst verdient das Gesetz, das hier im Entwurf vorliegt, seinen Titel, nämlich „Versichertenentlastungsgesetz“. ({1}) Es findet tatsächlich eine deutliche Entlastung statt, und zwar gerade für diejenigen, die als Versicherte in den letzten Jahren – man kann eigentlich sagen: im letzten Jahrzehnt – über Gebühr zur Finanzierung unseres Gesundheitswesens beigetragen haben. ({2}) Dass wir da wieder einen ersten Schritt zu einer wirklichen Gerechtigkeit gehen, ist ein wichtiger Meilenstein, und den sollten wir hier auch würdigen; denn es ist ein wichtiger Beitrag, um eine nachhaltige Finanzierung sicherzustellen – und das unter Beteiligung der Arbeitgeber, so wie es sich in einer sozialen Marktwirtschaft gehört. ({3}) Zweiter Meilenstein. Die Selbstständigen mit geringem Einkommen haben unsere Solidarität, die Solidarität der gesetzlichen Krankenversicherung, verdient. Da mussten wir dringend einen Schritt weiter gehen. Wir haben in der letzten Wahlperiode viele Initiativen in diese Richtung ergriffen; die sind hier im Haus immer abgelehnt worden. Auch deshalb ist es ein wichtiger Schritt, dass wir da jetzt vorankommen und für eine faire und gerechte Belastung sorgen, dass wir diejenigen mit geringem Einkommen stark entlasten und ihnen den Zugang zu den guten und solidarischen Leistungen der GKV zu fairen Preisen verschaffen. Das ist ein wichtiger Schritt, und den begrüßen wir ausdrücklich. ({4}) Wir freuen uns natürlich, dass Sie sich der Lösung angeschlossen haben, die wir die ganze Zeit über vorgeschlagen haben, weil es eine bürokratiearme ist und die Selbstständigen mit den sonstigen freiwillig Versicherten gleichstellt. ({5}) Das zu dem Teil, den wir begrüßen. – Es gibt natürlich auch Schwierigkeiten in diesem Gesetzentwurf. Da muss man ganz klar den Coup von Jens Spahn nennen, mit dem er die Regelung für die Rücklagenauflösung der Krankenkassen verschärft, was Sie jetzt leider alle mittragen. Sie haben versucht, das ein bisschen abzumildern, indem Sie gesagt haben: Das muss an die Reform des Finanzausgleichs der Krankenkassen gekoppelt werden. ({6}) Das ist richtig, und es ist wichtig, dass dieser Schritt endlich kommt – den haben wir auch immer eingefordert –; aber Sie müssen zugestehen: Sie haben diesen Beschluss der Rücklagenauflösung schon gefasst, obwohl wir wissen, dass die Wirkung eines noch zu beschließenden Risikostrukturausgleichs noch gar nicht zum Tragen kommen kann. Wir werden erleben, dass es große Schwierigkeiten für all die Krankenkassen geben wird, die keine großen Rücklagen haben; das ist immerhin ein Drittel aller Krankenkassen. Wir werden sehen, dass Schieflagen entstehen werden für viele kleinere Betriebskrankenkassen, die dann einen erheblich höheren Beitrag nehmen müssen als andere Krankenkassen. Es gibt auch ein paar größere Krankenkassen, bei denen das ein Thema werden wird. ({7}) Die stehen dann wieder unter dem Diktat eines Preiswettbewerbs, und das, meine Damen und Herren, schadet den Versicherten, schadet den Patienten, und davon müssen wir wegkommen. ({8}) Wir wollen hin zu einem Perspektivenwechsel. Wir wollen, dass es um bessere Qualität der Krankenkassenleistungen geht, dass eine Krankenkasse dafür belohnt wird, dass sie sich für gute Leistungen, für guten Service, für gute Begleitung ihrer Versicherten im Krankheitsfall einsetzt. ({9}) Dafür muss sie belohnt werden, nicht dafür, dass sie eine Dumpingkrankenkasse ist. Da muss der Weg hingehen. ({10}) Wir haben Ihnen mit unserem Entschließungsantrag Wege aufgezeigt, wie man mehr Transparenz herstellen kann, damit Krankenkassen mit ihren guten Leistungen wirklich punkten können, und zwar mit den real bestehenden Leistungen für die Versicherten vor Ort. Das muss belohnt werden. Da müssen wir hinkommen. Da wünsche ich mir in den nächsten Monaten auch von Ihnen Schritte nach vorne. Wir haben Ihnen ein paar Vorschläge gemacht und werden auch nicht müde werden, die weiterzuverfolgen; denn das ist es, was gelebte Solidarität ausmacht. Es geht nicht nur um die Finanzierung, sondern auch darum, dass diejenigen, die die Leistungen der Krankenkassen brauchen, verlässlich wissen „Ich bekomme diese Leistung, und ich bekomme sie so, dass sie meinen Bedürfnissen gerecht wird“ und dass nicht ausgerechnet diejenigen, die krank sind, chronisch krank sind, eine Behinderung haben, darunter leiden müssen, dass die Krankenkasse sich nicht genug um sie bemüht, weil es sich für sie nicht lohnt. Davon müssen wir wegkommen, und dafür werden wir uns weiterhin einsetzen. Danke schön. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als Nächster hat das Wort der Bundesminister Jens Spahn. ({0})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ehrlich gesagt, wundere ich mich über den Schwerpunkt der einen oder anderen Rede hier. VEG, das ist das Versichertenentlastungsgesetz. 56 Millionen Mitglieder von Krankenkassen in Deutschland werden entlastet. Herr Kessler, selbst im Zusammenspiel mit dem, was wir in der Pflegeversicherung, in der Arbeitslosenversicherung entscheiden, ist das eine Entlastung. Ich weiß übrigens gar nicht: War das ein Plädoyer dafür, kein zusätzliches Geld für die Pflegeversicherung zu mobilisieren? Wir sagen den Menschen halt ehrlich: Wenn wir bessere Pflege wollen, mehr Pflegekräfte und bessere Bezahlung, dann müssen wir das auch finanzieren, ({0}) und dann braucht es zusätzliche Beiträge in der Pflegeversicherung. – Ich weiß gar nicht, was das hier für eine Debatte sein soll. ({1}) Für 56 Millionen Versicherte ist das auch im Zusammenspiel all dessen, was wir tun, eine Entlastung, weil wir den durchschnittlichen Zusatzbeitrag senken können; im Schnitt sind das 0,6 Prozentpunkte. Ich mache das mal deutlich: Bei 3 000 Euro brutto sind das 18 Euro Entlastung im Monat, über 200 Euro Entlastung im Jahr. 56 Millionen Menschen in Deutschland profitieren jeden Monat konkret auf ihrer Lohnabrechnung von diesem Versichertenentlastungsgesetz. Das ist der Schwerpunkt dieses Gesetzentwurfes, und das ist die gute Botschaft. ({2}) Dann kommen noch die Selbstständigen dazu; das ist schon angesprochen worden. Ich kann Ihnen sagen: Jemand, der als Solo-Selbstständiger, also in der Regel ohne Angestellte – Taxifahrer, Kioskbesitzer, Webdesigner; es sind Männer wie Frauen in diesen Berufen –, am Ende 1 000 Euro, 1 200 Euro im Monat hat, zahlt künftig statt rund 350 Euro Beitrag im Monat rund 160 Euro Beitrag im Monat. Ich kann Ihnen sagen: Wenn Sie nur 1 000 Euro, 1 200 Euro im Monat zur Verfügung haben, macht das einen ziemlichen Unterschied. Diese Menschen haben nichts davon, wenn es irgendwelche abstrakten Debatten gibt. Die haben etwas davon, wenn es konkrete gesetzliche Änderungen zum 1. Januar gibt, und genau das ist es, was wir hier machen. ({3}) Wir wissen gleichzeitig: Das geht nur, weil wir eine gute wirtschaftliche Lage haben. Es geht natürlich nur, weil wir so viele Beitragszahler, Menschen in Lohn und Arbeit, haben wie noch nie, weil die Löhne in Deutschland steigen, weil die Wirtschaft gut läuft. Deswegen haben wir Spielraum für Leistungsverbesserungen, wo sie nötig sind – in der Pflege, bei der ärztlichen Versorgung auf dem Land, im Krankenhaus; da, wo die Dinge im Alltag nicht so gut sind, wie sie sein sollen –, und können gleichzeitig Beiträge senken, im Übrigen, über die Parität hinaus, auch beim durchschnittlichen Zusatzbeitrag. Um die Wirtschaft erfolgreich und wettbewerbsfähig zu halten, wollen wir – so steht es im Koalitionsvertrag –, dass die Lohnnebenkosten für die sozialen Sicherungssysteme insgesamt unter 40 Prozent bleiben. ({4}) Deswegen haben wir in diesem Gesetzentwurf mit angelegt, dass wir den Kassen, die übermäßig hohe Rücklagen haben – da geht es nicht um Vorsorge für schlechte Zeiten, sondern um zwei, drei, vier Monatsausgaben; da wird Geld gehortet für ich weiß gar nicht was –, das klare Signal senden: Da müssen die Beiträge gesenkt werden. Jeder Gesundheitspolitiker, der den Gesamtzusammenhang sieht, weiß: Gute Gesundheits- und Pflegepolitik funktioniert nur, wenn die Wirtschaft gut läuft, und da, wo Beiträge gesenkt werden können, müssen sie auch gesenkt werden, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Auch das steht in diesem Gesetzentwurf. ({5}) Ein Letztes, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Ehrlich gesagt, verstehe ich schon wieder nicht ganz, was hier passiert. ({6}) Wir machen diese Versichertenentlastung ja gerne. Ich freue mich, dass 56 Millionen Menschen was davon haben. Aber wenn ich das richtig in Erinnerung habe, ist das eines der Kernthemen gewesen, mit dem Sie in diese Große Koalition gegangen sind. Es ist Ihr Gesetz, Ihr Erfolg, aber statt das zu feiern und sich zu freuen, höre ich schon wieder, was alles fehlt. Zu unser aller Glück in dieser Koalition: Lernen Sie endlich, sich über Ihre Erfolge zu freuen! Ansonsten wird das nichts. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Dazu erhält jetzt der Kollege Dr. Edgar Franke für die Fraktion der SPD Gelegenheit. ({0})

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Jens Spahn, seit Wochen können wir überall jeden Tag lesen: Politik setzt nichts um. Politik ist Streit anstelle vernünftiger Sacharbeit. Es wird nichts für die Menschen getan. – Dieser Gesetzentwurf ist aber genau das Gegenteil, weil wir viel für die Menschen bewegen. Ich bin sehr froh, dass wir ihn haben, Herr Spahn. ({0}) Wenn selbst Maria Klein-Schmeink von den Grünen uns lobt, kann er nicht so schlecht sein. ({1}) Die SPD, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat durchgesetzt, dass die Arbeitgeber wieder die Hälfte der Krankenversicherungsbeiträge zahlen. Das war für uns Sozialdemokraten in der Tat ein ganz wichtiger Punkt im Koalitionsvertrag. ({2}) Die SPD hat durchgesetzt, dass Selbstständige mit geringem Einkommen entlastet werden. Die SPD hat auch durchgesetzt, dass Zeitsoldaten nach dem Ende ihrer Dienstzeit eine vernünftige Krankenversicherung bekommen. Das war ebenfalls ein ganz wichtiges Anliegen von uns Sozialdemokraten. ({3}) Das ist glaubwürdige, konkrete Politik für die Menschen. Ich denke, das wird auch überall so gesehen. Es ist, wenn Sie so wollen und man ein Bild nehmen will, der rote Faden sozialdemokratischer Gesundheitspolitik. Wir sagen immer: Der Zugang zur bestmöglichen Versorgung – unabhängig vom Wohnort, unabhängig vom Alter und vor allen Dingen unabhängig vom Einkommen – ist der rote Faden der sozialdemokratischen Gesundheitspolitik. Dies ist ein gutes Beispiel hierfür, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({4}) Viele von Ihnen wissen: Die Arbeitgeberbeiträge sind seit vier Jahren bei 7,3 Prozentpunkten eingefroren. Die Beiträge der Versicherten sind inzwischen um 1 Prozentpunkt höher. Dass die Versicherten die Zusatzbeiträge alleine bezahlen, bedeutet, wenn Sie so wollen, dass der medizinische Fortschritt seit vier Jahren von den Versicherten, von den Rentnern, von den Arbeitnehmern, finanziert wird. Wir sind froh, dass das aufhört. ({5}) Zum Verständnis: Wir werden jetzt eine paritätische Finanzierung auch der kassenindividuellen Zusatzbeiträge haben. Das ist wichtig. Es gilt der Maßstab: versprochen und gehalten, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Lieber Kollege Franke, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Union?

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Von wem denn? – Okay. Von Sachsen-Anhalt, alles klar.

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hochverehrter Herr Kollege Franke, Sie wissen ja, dass ich Sie sehr schätze, auch in der konstruktiven Debatte. Es ist ja hier schon angeklungen, dass immer so getan wird, als ob die Wiederherstellung der Beitragsparität für Arbeitnehmer und Arbeitgeber eine ausschließliche Forderung der SPD und der Linken gewesen sei. ({0}) Ist Ihnen bewusst, dass das schon seit Einführung der Beitragsfinanzierung eine Kernforderung der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft ist? Wenn ja, warum sprechen Sie das nicht an? Vielen Dank. ({1})

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Kollege Lauterbach hat ja schon zu Frau Aschenberg-­Dugnus gesagt, dass manchmal richtige Meinungen von anderen Seiten kommen. Die können auch von Ihrer Seite kommen. Das ist vollkommen in Ordnung. 2003, als wir 5 Millionen Arbeitslose hatten, Herr Kessler, waren wir in einer ganz anderen wirtschaftlichen Lage. Ich glaube, dass in letzter Zeit aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung und der Tatsache, dass die Wirtschaft brummt, viele gesehen haben, dass wir es uns jetzt angesichts der veränderten Rahmenbedingungen leisten können, die Parität wiederherzustellen. Im Übrigen – das darf ich noch sagen – geht es um Entlastungen in Höhe von 8 Milliarden Euro. 8 Milliarden Euro können bei dem einzelnen Versicherten mehrere Hundert Euro pro Jahr bedeuten, und das ist kein Pappenstiel. Ich möchte zwei Punkte noch kurz ansprechen. Zunächst zu den Selbstständigen. Sie haben von den vielen kleinen Selbstständigen gesprochen, auch von der kleinen Blumenhändlerin, Frau Aschenberg-Dugnus. Da geht es oftmals um Selbstständige mit sehr geringen Vermögenswerten. Viele, die sich gesetzlich versichern, sind von den hohen Beiträgen überfordert. Das ist weder volkswirtschaftlich noch sozial gerecht. Deswegen sollten wir die Selbstständigen mit geringen Einkommen entlasten. Wir senken den Mindestbeitrag; sie müssen künftig über die Hälfte weniger bezahlen. Es ist vernünftig, diese Beiträge zu senken und die sogenannten kleineren Selbstständigen zu entlasten, weil sie eben nicht zu den Schönen und Reichen gehören. ({0}) Das betrifft auch die nächste Gruppe, die Zeitsoldaten, für die wir uns als SPD immer eingesetzt haben. Mit dem Gesetz ermöglichen wir den Soldaten nach ihrer freien Heilfürsorge wieder den Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung; denn die Frauen und Männer, die als Soldatinnen und Soldaten auf Zeit ein hohes persönliches Risiko für unsere Sicherheit, für Deutschland in Kauf nehmen und auch im zivilen Bereich viel für uns leisten, haben Respekt, Anerkennung und unsere Solidarität verdient. Dies drücken wir mit diesem Gesetzentwurf aus. ({1}) Ein weiterer Punkt ist mir wichtig: Rentner, oftmals auch Soldaten im Rentenalter, sind mit sehr hohen Prämien in der privaten Krankenversicherung gefangen. Auch das ist ein Thema, das wir angehen, weil das weder vernünftig noch sozial gerecht ist. Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir beschließen heute soziale Verbesserungen und eine Entlastung in Milliardenhöhe für die Normalverdiener und vor allen Dingen für Soldaten und Kleinselbstständige. Das ist der rote Faden sozialdemokratischer Politik. Darüber freuen sich viele Sozialdemokraten, Herr Spahn, in Hessen und auch hier im Bund, weil es eine richtige und gute Politik ist. Ich danke Ihnen ganz herzlich. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Letzter Redner in der Debatte ist der Abgeordnete Erich Irlstorfer für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Erich Irlstorfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004311, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Ich kann nur sagen: Es ist völlig egal, wer wann in den Koalitionsverhandlungen den ersten Vorschlag zu diesem Gesetzentwurf gemacht hat. Tatsache ist, dass wir, die Große Koalition, bei all den Veränderungen, die es gesellschaftspolitisch und politisch gibt, Wort halten und die Punkte, die im Koalitionsvertrag festgehalten sind, jetzt auch umsetzen. ({0}) Ich glaube, dass es ein sehr gutes Zeichen ist, dass wir bei der gesetzlichen Krankenversicherung wieder zur Parität zurückkehren, innerlich sage ich: endlich zurückkehren. Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich unseren Koalitionspartnern – ob CDU, CSU oder SPD – und natürlich der Opposition. Ich kenne die Forderungen, die es immer wieder gegeben hat, und diese Forderungen waren richtig. Heute werden wir darüber abstimmen. Es freut mich, dass Sie mitstimmen. ({1}) Tino Sorge hat erwähnt, dass in Kreisen der Union – ob bei der CDA oder der CSA – immer wieder Menschen aus der Arbeitnehmerschaft dabei waren und uns auf dieses Thema hingewiesen haben. Ich glaube auch, dass es wichtig ist, dass es solche Organisationen gibt, die ihren Einfluss immer wieder geltend machen. Ich glaube, das zeichnet Volksparteien aus. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist für 56 Millionen Versicherte eine Entscheidung der Gerechtigkeit, dass man einen damals notwendigen Beschluss wieder zurückführt, wenn es dem Land wirtschaftlich und finanziell wieder gut geht, und es ist die Rückkehr zur sozialversicherungspflichtigen Normalität, dass sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber solidarisch den Beitrag je zur Hälfte teilen. Für die Arbeitnehmer geht es um eine finanzielle Entlastung in Höhe von Milliarden Euro, und die Arbeitgeber tragen diese Entscheidung mit. Das ist Ausdruck von ordentlicher Konjunktur und politischem Willen, aber es ist noch viel mehr: Es ist ein Signal, dass es 2018 eine funktionierende Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmerinnen und Unternehmern und ihren Beschäftigten in Deutschland gibt. ({3}) Verehrte Kollegin von der FDP, ich kann das, was Sie heute hier vorgetragen haben, so nicht stehen lassen. Bisher hatte ich nicht ganz verstanden, warum Jamaika gescheitert ist. Heute verstehe ich es. Ich habe langsam das Gefühl, dass Sie nicht regierungsfähig sind und das mit ein Grund ist, warum Sie hier so auftreten. ({4}) Ich möchte an dieser Stelle sagen, dass das ein Bekenntnis der Unternehmerschaft ist. Viele Millionen Unternehmer wissen, dass ihr höchstes Gut der Auszubildende, die Beschäftigte in Teilzeit, der Beschäftigte in Vollzeit ist und dass sie nur dann erfolgreich sein können, wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ordentlich bezahlt werden und auch angemessene Beiträge zahlen. ({5}) Herr Dr. Kessler, ich möchte auch auf Sie eingehen. Sie fordern den Ausbau von Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung. Darüber kann man streiten, darüber kann man diskutieren; das ist vollkommen klar. Aber es kann natürlich nicht sein, dass wir Beiträge senken und gleichzeitig die Leistungspalette ausbauen. Das wird nicht funktionieren; das ist rechnerisch einfach nicht möglich. ({6}) Ich möchte herausstellen, dass wir alle, die wir hier im Plenum versammelt sind, uns über diesen Punkt einig sind, weil er inhaltlich richtig ist und ein gutes Zeichen ist, dass wir hier ordnungspolitisch korrigieren. Wir korrigieren aber auch die Beiträge zur Pflegeversicherung, damit wir die Mittel zielgerichtet ausgeben können. In diesem Sinne freue ich mich auf Ihre Zustimmung. Herzlichen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Beitragsentlastung der Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5112, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 19/4454 und 19/4552 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Bei Enthaltung von AfD und der Fraktion Die Linke und Gegenstimmen der FDP ist der Gesetzentwurf mit der Mehrheit von SPD, Grünen und CDU/CSU angenommen. Das war die zweite Beratung. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf wiederum bei Enthaltung von AfD und der Fraktion Die Linke und Gegenstimmen der FDP mit der Mehrheit von SPD, Grünen und CDU/CSU angenommen. Herzlichen Glückwunsch! ({0}) Wir haben eine ganze Reihe weiterer Abstimmungen. Wir stimmen über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/5119 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Bei Enthaltung von FDP, AfD und den Linken und Gegenstimmen der Grünen ist der Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalition abgelehnt. Wir setzen die Abstimmungen über die Drucksache 19/5112 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/4538 mit dem Titel „Einführung von kostendeckenden Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung für die Bezieher von Arbeitslosengeld II aus Steuermitteln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Damit ist der Antrag von der Mehrheit des Hauses gegen die Stimmen der AfD abgelehnt. Wir kommen zu Buchstabe c. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/4320 mit dem Titel „Absenkung der Krankenversicherungsbeiträge für freiwillig gesetzlich versicherte Selbstständige“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung von AfD und der Fraktion Die Linke mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Grünen ist der Antrag abgelehnt. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5112 die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/102 mit dem Titel „Geringverdienende Selbstständige und andere freiwillig Versicherte entlasten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Bei Enthaltung von FDP und AfD ist der Antrag gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit der Mehrheit von CDU/CSU, SPD und Grünen abgelehnt. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/4244 mit dem Titel „Gerechtere Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2019“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Bei Enthaltung der Grünen stimmt die Mehrheit des Hauses gegen Die Linke für die Beschlussempfehlung. Damit ist der Antrag abgelehnt. Das waren die Abstimmungen.

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in der ersten Lesung über das Mandat, über das wir heute abstimmen, schon ausführlich debattiert. Ich möchte zunächst den Blick räumlich und zeitlich etwas weiten. Der Nahe und der Mittlere Osten, das heißt der Irak, Syrien und Jordanien, das alles ist unsere unmittelbare Nachbarschaft. Wir haben in Europa in den vergangenen Jahren schmerzlich erfahren, was es in der Konsequenz heißt, wenn in unserer Nachbarschaft Bürgerkriege und Kriege ausbrechen, staatliche Strukturen zerfallen, Regeln unserer internationalen Ordnung infrage gestellt werden. Wir kennen die Folgen. Die Folgen sind Terrorismus, Schleuserkriminalität, illegale Migration und humanitäre Katastrophen. Hinzu kommt, dass wir das in Zeiten der Globalisierung nicht mehr einfach regional eingrenzen können und nicht versuchen können, das auszugrenzen. Wir können es uns auch nicht wegwünschen; es bleibt da. Wir können vor allem nicht von unseren Freunden und Verbündeten verlangen, dass sie sich um diese Probleme kümmern. Nein, wir müssen uns auch selbst engagieren – diplomatisch, entwicklungspolitisch und, wenn notwendig, auch militärisch. ({0}) Es kommt ein Zweites hinzu. Am 10. Dezember jährt sich der Tag der Unterzeichnung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum 70. Mal. Es ist ein unendlich wichtiges Datum für uns und ein Wert, um den wir lange, lange gestritten haben. Auch vor diesem Hintergrund konnten und können wir es nicht einfach akzeptieren, dass Millionen Männer und Frauen terrorisiert, vertrieben, vergewaltigt, ausgehungert und ermordet wurden. Das ist die grausame Spur, die der IS im Nahen und Mittleren Osten gezogen hat. Im Gegenteil: Die Menschen im Nahen und Mittleren Osten haben wie wir ein Recht auf ein Leben in Frieden und Freiheit ohne Angst vor Terror und Unterdrückung. Deshalb war es richtig, dass wir uns beim Erstarken des IS der großen neugebildeten Koalition gegen den Terror angeschlossen haben. 70 Staaten gehören zu dieser Koalition. Wir haben die Terrormiliz „Islamischer Staat“ im Irak und in Syrien inzwischen erfolgreich zurückgedrängt, nicht nur wegen der Koalition gegen den Terror, sondern vor allem wegen des gemeinsamen Kampfes der irakischen Sicherheitskräfte und der kurdischen Peschmerga. Deutschland hat seinen Beitrag mit den Tornados, den Tankflugzeugen und mit der Ausbildung und Ausrüstung der Peschmerga geleistet. Das war ein wichtiger Beitrag zu diesem gemeinsamen Erfolg. Vor drei Wochen sind wir mit einigen Abgeordneten gemeinsam im Irak gewesen, und es war zu spüren, dass Hoffnung herrscht, Hoffnung auf eine Zukunft, die die Menschen selbst gestalten können. Die Lage im Irak ist heute so stabil wie lange nicht mehr. Aber es gilt selbstverständlich noch der alte Grundsatz: Wir haben den Krieg gewonnen; jetzt gilt es, den Frieden zu gewinnen. Wir haben ein sehr interessantes Gespräch mit dem VN-Sondergesandten Jan Kubisch gehabt. Er sagte zu Recht – ich zitiere: „Die Menschen wollen jetzt die demokratische Dividende haben.“ Das heißt, sie wollen die gesellschaftliche Aussöhnung, den wirtschaftlichen Wiederaufbau, die Rückkehr in die Heimat, ein verlässliches Regierungshandeln. Es war gut, zu sehen, dass die Parlamentswahlen im Mai dieses Jahres für irakische Verhältnisse friedlich verlaufen sind. Wenn wir uns jetzt die aktuelle Regierungsbildung anschauen, dann sehen wir, dass sich langsam, aber sicher eine reformfreudige Mannschaft andeutet, mit erfahrenen, aber auch vielen jungen Gesichtern. Das heißt, wir sehen eine Entwicklung, bei der das große Potenzial, das dieses Land hat, in Zukunft durchaus genutzt werden könnte. Das ist die eine Seite. Ich will aber nicht unterschlagen, dass wir die Fragilität der Situation nicht unterschätzen dürfen. Den Vereinten Nationen zufolge sind immer noch rund 20 000 IS-Anhänger im Irak und in Syrien aktiv. Deshalb herrscht auch eine andauernde Notwendigkeit – das ist Konsens in der Koalition gegen den Terror –, weiter aufzuklären. Das Aufklären der IS-Kämpfer – das haben wir bei unserem Besuch auch gehört – ist deutlich schwieriger, zeitaufwendiger geworden, weil sie zunehmend verdeckt operieren. Deshalb ist die Bedeutung unserer Tornados und Tankflugzeuge noch einmal gestiegen. Wir bringen diese unverzichtbaren Fähigkeiten seit zweieinhalb Jahren ganz zuverlässig ein. Das ist eine enorme Anstrengung für die Soldatinnen und Soldaten und eine enorme Belastung für unser Material. Wir haben deshalb gemeinsam verabredet, dass wir diese wichtige Fähigkeit noch ein weiteres Jahr zur Verfügung stellen. Wir wollen aber auch, ähnlich wie wir das bei MINUSMA gemacht haben, der Koalition früh signalisieren: Wir machen das noch ein ganzes Jahr; dann sind es dreieinhalb lange Jahre gewesen. Aber dann erwarten wir auch, dass jemand anderes uns auslöst; dann melden wir uns von diesem Einsatz ab. Im Augenblick sind übrigens die Belgier und die Niederländer in der Regenerationsphase. Der zweite Teil dieses Mandates ergibt sich aus meinen Worten. Es ist der gemeinsame Fähigkeitsaufbau der irakischen Sicherheitskräfte, das sogenannte Capacity Building. Wir haben in Bagdad Teile davon gesehen, zum Beispiel die spezialisierte Ausbildung „train the trainer“, den Aufbau einer leistungsfähigen militärischen Ausbildungs- und Schullandschaft, den Ausbau von Schlüsselfähigkeiten wie Sanität, Counter-IED, Logistik und ABC-Abwehr. Wir haben gemeinsam den Pilotlehrgang in Taji besucht, wo diese Ausbildung gemeinsam mit elf anderen Nationen stattfindet. Alle unsere Gesprächspartner aus der Regierung und der internationalen Gemeinschaft haben uns gegenüber die klare Bitte geäußert, in dieser Transformationsphase den Irak weiterhin zu unterstützen. Das wollen wir auch, aber wir wollen natürlich dann von der neugebildeten Regierung gerne noch einmal eine klare Einladung für unsere Streitkräfte für dieses Capacity Building haben. Der dritte Punkt ist: Erbil wird wichtig bleiben. Unser Beitrag wird sich aber verändern. Wir dürfen nicht vergessen: Dort haben wir zu Beginn dieses schrecklichen IS-Terrors angefangen mit Schießtraining, Erster Hilfe und Häuserkampf, also mit ganz banalen Fähigkeiten. Das ist jetzt erfolgreich abgeschlossen. Jetzt geht unser Beitrag auf eine andere Ebene; er wird kleiner und konzentrierter. Es geht um nachhaltige Ertüchtigung, wie zum Beispiel zum Ausbau der Peschmerga-Klinik oder zur selbstständigen Instandsetzung von Gefechtsfahrzeugen sowie der dahinterliegenden Logistik. All das wird gebraucht; auch darüber konnten wir uns gemeinsam informieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unterm Strich: Die irakischen Streitkräfte sind noch nicht in der Lage, allein für die Sicherheit ihres Landes zu sorgen. Dazu müssen sie den Sicherheitssektor reformieren. Wir wollen dazu beitragen, dass loyale, effiziente Streitkräfte ausgebildet und gestärkt werden. Der deutsche Beitrag wird dafür gebraucht. Wir haben aber auch ganz klar miteinander vereinbart, dass wir Prüfschritte haben sowie Halte- und Endpunkte einbauen werden. Heute geht es darum, dieses Mandat gemeinsam auf den Weg zu bringen, um mehr Stabilität in einer Region zu erreichen, die weiß Gott leidgeprüft ist, in der es aber auch Hoffnung gibt. Ich bitte um Zustimmung für dieses Mandat. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Rüdiger Lucassen für die AfD-Fraktion. ({0})

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Die Bundeswehr ist in viel zu vielen Einsätzen auf der Welt. Out of area sollte die Ausnahme sein und nicht die Regel. Während die Bundeswehr ihren wichtigsten Auftrag, die Landes- und Bündnisverteidigung, nicht mehr sicherstellen kann, muss sie mit enormem Aufwand angebliche Verpflichtungen in Asien und Afrika – wie wir gerade gehört haben: in unserer unmittelbaren Nachbarschaft – stemmen. Doch welche Verpflichtungen sind das eigentlich? Internationale? Rechtliche? Humanitäre? Die Bundesregierung bleibt bei der Frage, warum sie unsere Soldaten ins Ausland schickt, immer im politischen Wohlfühlbereich. International – das klingt nach: Alle sind dabei; wir also auch. Humanität – wer will es da wagen, nicht mitzumachen? Ob die ganzen Missionen aber tatsächlich die Lebensbedingungen vor Ort verbessern oder den sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands dienen, kann man leider nicht feststellen; denn die Bundesregierung nennt nie klare Einsatzziele und legt auch nie eine tragfähige Strategie vor. In den allermeisten Fällen ist ein humanitärer Erfolg nicht vorhanden. Die Flüchtlingszahlen aus den Gebieten, in denen die Bundeswehr eingesetzt ist, beweisen es. ({0}) Bei dem Mandat für den Einsatz im Irak kommen zu den handwerklichen Fehlern noch rechtliche hinzu; denn der gesamte Einsatz basiert einzig auf einer bilateralen Abmachung mit der irakischen Zentralregierung. Es gibt keine multinationalen Strukturen, die Sie sonst bei jeder Gelegenheit beschwören, weder UN noch EU noch NATO. Die Bundesregierung ist Teil einer sogenannten Koalition der Willigen. Sie verletzt damit das Grundgesetz und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Auslandseinsätzen. ({1}) Auslandseinsätze der Bundeswehr dürfen nur im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit stattfinden. Diesen Rahmen gibt es hier nicht. Was macht die Bundesregierung stattdessen? Sie berichtet immer wieder von den Bitten der irakischen Regierung, die Deutschen mögen Ausbildungsunterstützung schicken. Meine Damen und Herren der Bundesregierung, es kann ja sein, dass die Irakis das gerne hätten. Ein solcher Wunsch ersetzt aber nicht die Rechtsprechung des höchsten deutschen Gerichts und nicht das Grundgesetz. ({2}) Zudem: Von welcher irakischen Regierung sprechen Sie? Fünf Monate nach der Wahl gibt es keine. Dann machen die Abgeordneten der Union noch etwas ganz Perfides: Sie sagen, dass sich die deutschen Soldaten diesen Einsatz wünschen würden. Dazu zwei Dinge. Erstens. Glauben Sie im Ernst, zu wissen, was die deutschen Soldaten sich wünschen, nur weil Sie als Abgeordnete einmal ein paar Stunden in einem Feldlager auf Besuch waren? Zweitens. Seit wann bestimmt der gefühlte Wunsch unserer Soldaten über einen Auslandseinsatz? ({3}) Wenn Sie die Wünsche unserer Soldaten ernst nehmen wollen, sehr verehrte CDU, dann stellen Sie ordentliche Ausrüstung zur Verfügung, und schicken Sie unsere Truppen nicht in das nächste unkalkulierbare Abenteuer im Morgenland. ({4}) Die Bundesregierung weiß, dass das ganze Mandat auf tönernen Füßen steht; denn laut Antrag will sie am 30. April nächsten Jahres den Einsatz überprüfen. Kein anderes Mandat enthält eine solche Überprüfungsklausel.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Lucassen.

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich habe die Uhr angehalten. Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der CDU/CSU-Fraktion?

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Aber gerne.

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Lucassen, können Sie bestätigen, dass Sie von deutschen Soldaten im Irak gefragt worden sind, warum Sie als AfD den Antrag ablehnen und kein Vertrauen zeigen für die erfolgreiche Arbeit der deutschen Soldaten im Einsatz?

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Otte, hier machen Sie wieder den gleichen Fehler, und ich würde Sie auch mit der entsprechenden Information versorgen über unsere Aufgabe als Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Das, was die Soldaten machen, wenn sie einen Auftrag erhalten haben, ist das eine. Das machen sie gut, und wir beide haben gesehen, wie im Irak dieser Auftrag durch unsere Soldaten sehr gut, sehr engagiert und auch mit der richtigen Emotionalität durchgeführt wird. Das andere ist: Wir hier haben zu entscheiden über das Werkzeug Bundeswehrsoldaten, so nenne ich es einmal, um es für Sie ganz plakativ zu machen, das wir als verlängerten Arm der Politik einsetzen. Gerade da verläuft die Trennungslinie. Begreifen Sie das doch bitte endlich einmal. Danke. ({0}) Kein anderes Mandat enthält eine solche Überprüfungsklausel. Warum also dieses? Weil die Bundesregierung in diesem Moment nicht einmal weiß, mit welcher Art von Regierung sie es demnächst in Bagdad zu tun haben wird. Das ist eine Art von politischer Waghalsigkeit, die sich weder die alte CDU noch die alte SPD erlaubt hätte. Die SPD-Fraktion möchte ein solches Mandat in weiten Teilen nicht mittragen. Das spürte man auch im Ausschuss. Die Situation dieser ehemals stolzen deutschen Partei ist so dramatisch – ein einstelliges Ergebnis in Bayern, der drohende Untergang in Hessen –, dass sie ihre Forderungen in der Koalition nicht mehr durchsetzen kann. Die SPD kämpft nur noch gegen ihre Verzwergung. ({1}) Aber hier geht es am Ende auch um das Leben von deutschen Soldaten. ({2}) Deswegen fordere ich Sie auf, Ihrer Überzeugung zu folgen, Ihrem Gewissen, wenn Sie wissen, was ich damit meine. Tun Sie das Richtige! Stimmen Sie gegen den Einsatz im Irak! Ich danke Ihnen. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Rolf Mützenich das Wort. ({0})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zurückdrängung des „Islamischen Staates“ ist keine rein militärische Aufgabe. Im Gegenteil: Korruption, Misswirtschaft, systematische Ausgrenzung ethnischer und religiöser Gruppen, schlechte Regierungsführung sind ebenfalls weltweit Nährboden für den „Islamischen Staat“. Deswegen wird es darauf ankommen, ob die neue irakische Regierung, die sich in den nächsten Tagen bildet, diese Herausforderung annimmt, die Menschen integriert, eine gute Regierungsführung zeigt und insbesondere das, was die Menschen im Irak erwarten, nämlich soziale Gerechtigkeit, auch erfüllt. Meine Damen und Herren, wir engagieren uns deswegen insbesondere mit zivilen Mitteln. Seit 2014 hat die Bundesrepublik Deutschland, hat dieser Deutsche Bundestag 1,4 Milliarden Euro für humanitäre Hilfe, für Wiederaufbau, für Beratungsleistungen zur Verfügung gestellt. Dem Irak kommt auch zugute, dass wir insbesondere die Nachbarländer in dieser Situation mit großen Summen unterstützen. Ich glaube, es ist notwendig, daran zu erinnern. Wir wollen nicht alleine mit militärischen Antworten auf diese Herausforderungen reagieren, sondern insbesondere mit zivilen und politischen Maßnahmen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Mützenich, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Lambsdorff?

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn er schon weiß, was ich sagen will, ja.

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe nur eine Frage, lieber Herr Mützenich. Wir schätzen uns ja, wir kennen uns lange. Deshalb wundert mich der Einstieg in Ihre Rede. Kennen Sie in diesem Haus irgendeinen oder irgendeine, der oder die glauben würde, man könne den IS allein mit militärischen Mitteln bekämpfen? Glauben Sie wirklich, dass hier so jemand sitzt? Glauben Sie, dass in der NATO jemand das glaubt oder in der Allianz gegen den „Islamischen Staat“? Ich glaube das nämlich nicht. Ich glaube, Sie bauen hier einen Popanz auf.

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Lambsdorff, ich will keinen Popanz aufbauen, aber ich glaube, Reden hier im Deutschen Bundestag müssen aufklärerischer Natur sein. ({0}) Sie dürfen sich nicht nur an die Abgeordneten wenden, sondern müssen auch zeigen, dass dieses Parlament eine hohe Verantwortung im Rahmen einer demokratischen Sicherheitspolitik hat. Ich bin stolz, dass ich der sozialdemokratischen Fraktion angehöre, die eben nicht alleine über Sicherheitspolitik debattiert, sondern auch über Friedenspolitik, über zivile Mittel. Das wollte ich mit diesem Einstieg deutlich machen. ({1}) Ich spreche Ihnen das gar nicht ab. – Vielen Dank. ({2}) Auch wenn wir uns mit zivilen Mitteln engagieren, sage ich trotzdem – auch für uns Sozialdemokraten, lieber Herr Kollege Lambsdorff –, dass der IS auch mit militärischen Mitteln zurückgedrängt werden muss. ({3}) Das war für uns in der SPD-Fraktion ein schwerer Lernprozess. Aber wir haben uns dazu bekannt. Sie waren noch nicht Mitglied im Deutschen Bundestag, als wir uns hier sozusagen zerrissen haben in der Frage, ob wir auch Waffen in den Nordirak liefern dürfen. Aber wir wissen: Es gibt Gewalträume, es gibt eine Bürgerkriegsökonomie, die leider eben insbesondere auch militärisch von regionalen Mächten unterfüttert wird. Deswegen haben wir uns damals zu diesem Einsatz bekannt. Alle Fraktionen des Deutschen Bundestages haben damals von Anfang an dieses Mandat parlamentarisch intensiv begleitet. Ich bin froh, dass das für ein selbstbewusstes Parlament steht. Dieses Parlament macht, seitdem das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, aus dieser Verantwortung des Bundesverfassungsgerichts mehr. Jetzt formulieren wir Mandate mit. Jetzt diskutieren wir. Jetzt stellen wir auch Bedingungen. Ich finde, deswegen haben wir es verfassungsrechtlich, völkerrechtlich gut begründet. Ich hätte mir gewünscht, dass zum Beispiel auch Beschlüsse der Generalversammlung der Vereinten Nationen zur Begründung herangezogen worden wären. Aber die Erneuerung des Beschlusses im Sicherheitsrat war auch notwendig, sodass der Deutsche Bundestag weiß, es ist völkerrechtlich und verfassungsrechtlich mandatiert. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Mützenich, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Pflüger?

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. Halten Sie die Uhr dann bitte an?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ja, natürlich.

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön.

Tobias Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004852, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Sie haben gerade die völkerrechtlichen Voraussetzungen beschrieben. Ich frage mich bei diesem Mandat tatsächlich: Wo sind die gegeben? Sie sagen, es sollte völkerrechtlich konform sein. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 12. Juli 1994 formuliert, dass die Einsätze im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit stattfinden müssen. Wo ist dieses System kollektiver Sicherheit im Kontext dieses Irak-Einsatzes?

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Pflüger, Sie verwechseln Verfassungsrecht und Völkerrecht. Sie haben mich nach dem Völkerrecht gefragt. Die Vereinten Nationen haben in den letzten Jahren mehrfach einen Beschluss im Sicherheitsrat gefasst. Die internationale Staatengemeinschaft wurde aufgefordert, den bedrängten Staaten, die sich dem „Islamischen Staat“ auch militärisch erwehren müssen, beizustehen. Die Bundesrepublik Deutschland tut das unter einem Mandat der Vereinten Nationen. ({0}) – Es steht im Mandat. Lesen Sie es doch bitte. – Genau an dieser Stelle habe ich auch gesagt, dass ich glaube, dass zum Beispiel nicht nur der Sicherheitsrat für uns eine wichtige Plattform zur Heranziehung der Legitimation für dieses Mandat ist, sondern auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen. Meine Damen und Herren, das Mandat war geeignet und ist aus meiner Sicht auch den Herausforderungen gerecht geworden. Deswegen, Frau Ministerin, haben wir uns darauf verständigt, dass es in dieser Form letztmalig im Deutschen Bundestag beschlossen wird. In zwölf Monaten werden die Tornados und das Tankflugzeug aus diesem Mandat zurückgezogen. Es ist eine notwendige Voraussetzung für ein selbstbewusstes Parlament, zu zeigen, dass wir Mandate beenden können. ({1}) Der zweite Aspekt ist: Wir wollen, dass die Ausbildungsmission nur bis zum 30. April 2019 verlängert wird, weil ein selbstbewusstes Parlament wissen möchte, ob eine Nachfolgeregierung im Irak bereit ist, dieses Mandat zu erneuern. Das zeigt, dass demokratische Sicherheitspolitik auch bei diesem Mandat zum Durchbruch kommt. Wir wollen nicht nur, dass das die Regierung tut, sondern auch ein irakisches Parlament. Sie haben gesagt, viele Kolleginnen und Kollegen sind aus dem Irak zurückgekommen und haben gehört, dass die Parteien dieses Mandat unterstützen wollen. Wenn das so ist, dann ist es ein Leichtes, dass das irakische Parlament auch diesen Auftrag, diese Einladung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland dokumentiert. Sie dürfen nicht unterschätzen, dass das ein großer Schritt ist, den wir heute machen. Wenn ich das so sagen darf: Weder bei der Einbringungsrede noch heute, Frau Ministerin, ist erwähnt worden, dass wir das erste Mal in einem Mandat auch ein ausländisches Parlament zur Legitimierung eines Auslandseinsatzes heranziehen. Es ist doch eine Frage an die Gesellschaft, an die Volksvertreter in diesen Ländern: Wollen Sie nicht nur eine zivile, sondern insbesondere auch militärische Begleitung dieses Mandats? Ich finde, da kann ein Deutscher Bundestag sehr selbstbewusst sein, dass wir es zum ersten Mal im Deutschen Bundestag geschafft haben, dass das im Mandat steht. ({2}) Es ist ein Durchbruch und Maßstab auch für kommende Mandate. Meine Damen und Herren, ich habe am Anfang die Eingangsbemerkung gemacht, dass die Regierungsbildung und ‑politik im Irak die entscheidende Voraussetzung sein wird – nicht nur für dieses Mandat –, den Irak wieder als Staat zusammenzuführen, ob es gelingt, insbesondere die jungen Menschen, die heute in Basra, in Erbil, in Bagdad demonstrieren, auch in diese Regierungs-, in die Parlamentspolitik zu integrieren. Denn denen geht es nicht um religiöse und ethnische Fragen, denen es geht um soziale Gerechtigkeit, Verantwortung für das Land, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Ich glaube, das müssen wir unterstützen, gerade auch vonseiten des Deutschen Bundestages. Deswegen ist es so wichtig, dass wir uns mit den Parlamentarierinnen und Parlamentariern im Irak austauschen, dass aber auch die Zivilgesellschaft zusammenkommt. ({3}) Ich sage gleichzeitig: Ob die Herrschenden in den arabischen Hauptstädten wollen oder nicht, ohne die Integration dieser jungen Demonstranten, aber auch ohne Einbeziehung des sogenannten politischen Islam in die Ordnung der arabischen Länder wird es keinen Frieden geben. Ende August schrieb der vermutlich ermordete Journalist Jamal Khashoggi in der „Washington Post“: Es kann keine politische Reform und Demokratie in einem arabischen Land geben, ohne zu akzeptieren, dass der politische Islam Teil davon ist. Er hatte recht. Seine Gedanken und Überzeugungen werden weiter wirken. Ich bitte, diesem Mandat zuzustimmen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion spricht nun die Abgeordnete Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann. ({0})

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Damen und Herren! Der Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der Koalition gegen den IS-Terror und die damit verbundene Ausbildung und auch Ausrüstung der Peschmerga im Nordirak sind beide erfolgreiche Missionen. Beiden haben wir gerne zugestimmt, so wie wir als Freie Demokraten übrigens seit 2006 die Auslandsmandate in Verantwortung für unsere Wertegemeinschaft immer mitgetragen haben. Die Reputation der Bundeswehr ist übrigens da, wo wir im Einsatz sind, unglaublich groß: sowohl beim militärischen Partner als auch in der Zivilgesellschaft. Ich möchte an dieser Stelle den Soldatinnen und Soldaten im Namen der Freien Demokraten herzlich danken für ihren Einsatz, vor allen Dingen für ihr Engagement. Dass wir ein so gutes Image haben, ist ihr Verdienst. ({0}) Meine Damen und Herren, das ist der erfreuliche Teil. Weniger erfreulich ist, dass die Bundesregierung, wie bereits schon im März, erneut das Mandat zur Bekämpfung des IS-Terrors mit dem neuen Mandat zur Ausbildung im Irak verknüpft hat. Der Trick ist ganz einfach. Durch die Kopplung kann man nicht zu dem einen Ja und zu dem anderen Nein sagen. Wir haben bereits im März kritisiert, dass es beim Einsatz im Irak durchaus Unklarheiten gibt. Bis dato ist man auf unsere Kritik nicht eingegangen. Wir haben uns bei der Stimmabgabe im März noch enthalten, weil wir abwarten wollten, wie sich die NATO im Irak positioniert. Im Laufe der letzten Monate – das müssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen lassen – wurde in Brüssel verhandelt. Wir saßen mit am Tisch. Man ist auf unsere Wünsche eingegangen. Als besiegelt war, dass wir zusammen in die Mission gehen, steht Deutschland auf und zeigt der NATO die lange Nase. Meine Damen und Herren, was ist das für ein Signal an unsere Verbündeten? ({1}) Ohne die NATO, ohne unsere Verbündeten wären wir nicht da, wo wir heute auch in Deutschland sind. Nicht im Traume hätten wir den Wohlstand in Frieden, Sicherheit und Freiheit. Heute, wo wir veränderten Bedingungen ausgesetzt sind, wo unsere Armee weltweit im Einsatz ist, arbeiten wir in diesem Fall nicht mit der NATO-­Mission zusammen? Herr Außenminister, Sie reisen um die Welt und beschwören den Multilateralismus. Gut so. Warum werben Sei nicht in Ihrer Fraktion dafür, dass Deutschland an der Stabilisierung im Irak nicht bilateral, sondern gemeinsam mit der NATO-Mission unterwegs ist? Wir würden auf einer Mission aufbauen, die bereits im Irak existiert. Weder im Ausschuss noch in der Debatte haben wir je von Ihnen gehört, warum Deutschland das nicht tun sollte. ({2}) Der Hammer ist, dass Deutschland der NATO-Mission im Sommer noch zugestimmt hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, ich kann Sie nicht verschonen. Kollege Wadephul – Sie haben sich deswegen zu Recht im „Newsletter Verteidigung“ ausgeweint –, Kollege Hardt – exzellenter Artikel von Ihnen in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ –, Herr Röttgen – großer Außenpolitiker; das meine ich nicht ironisch, im Vorstand der Atlantik-Brücke –: Wo bleibt Ihr Aufschrei? ({3}) Frau Ministerin, ich weiß, Sie haben auch im Ausschuss eingeräumt, dass Sie das lieber in die NATO-Mission eingepackt hätten. Ich glaube, dass Sie eine solche Unzuverlässigkeit den Bündnisfreunden gegenüber nicht ernsthaft mit Überzeugung mittragen wollen, nur weil die SPD einmal mehr Bauchschmerzen hat. Meine Damen und Herren, ein letztes Zitat aus dem taufrischen Konzept der Bundeswehr: Die feste Integration in Bündnisstrukturen und der Einsatz im multilateralen Verbund kennzeichnen das Handeln deutscher Streitkräfte. Die Bundesregierung hatte die Möglichkeit, dieses Mandat heute im Bündnis aufzusetzen. Sie hatten die Chance, eine breite Mehrheit im Parlament zu setzen, und Sie wissen, wie wichtig das ist. Sie haben es vermasselt. Deswegen werden die Freien Demokraten außerhalb der NATO – ich betone das – diesem Mandat nicht zustimmen. Wenn Sie sich im Laufe der Zeit wieder im Bündnis zurechtfinden und mitmachen, dann können Sie in der Tat auf unsere Unterstützung bauen. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Alexander Neu für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Wir haben es hier mit einem Mandat zu tun, bestehend aus zwei Aufträgen: zum einen der Ausbildung der irakischen Sicherheitskräfte und zum anderen dem Kampfeinsatz gegen den IS. Auf den ersten Blick erschließt sich, mir zumindest, der Zusammenhang nicht, auf den zweiten und dritten Blick übrigens auch nicht – aber gegessen. Kommen wir zu der Problematik der Ausbildung der irakischen Armee. Ich frage mich, woher die Bundesregierung die Gewissheit nimmt, dass kein militärischer Wissenstransfer von der irakischen Armee an die Volksmobilisierungseinheiten oder sogar an Islamisten geht, zumal das sogenannte Train-the-Trainer-Programm eben keine Kontrolle mehr ermöglicht. Ich frage mich, warum kein ziviles Ausbildungsprogramm zum Minenräumen gefördert wird, und zwar über die 4 Millionen Dollar hinaus. ({0}) Ich frage mich, wie die Bundesregierung Sorge dafür tragen will, dass in der irakischen Armee alle Bevölkerungsteile repräsentiert sind und diese Armee nicht als potenzielles Repressionsinstrument gegen Sunniten und andere Bevölkerungsteile eingesetzt werden kann. Ich habe hierzu keine zufriedenstellenden Antworten gefunden. ({1}) Mit Blick auf den Kampf gegen den IS ist festzustellen, dass der IS territorial besiegt ist. Der Kampf im Irak und in Syrien ist weitgehend gewonnen, in Syrien aufgrund der Kämpfe der syrischen Armee und der SDF im Osten. Aber im Osten, sehr geehrte Damen und Herren, gewinnt der IS gerade wieder Gebiete zurück. Er gewinnt sogar Zugang zu Ölquellen und kann sich damit wieder refinanzieren – so der Bericht an den UN-Sicherheitsrat vom 27. Juli 2018 –, und das trotz der Anwesenheit der SDF-Kräfte. Wie kann das sein? Hierzu muss man wissen, dass die USA syrisches Territorium, und zwar den Nordosten Syriens, militärisch besetzt halten und damit erneut das Völkerrecht brechen. Dieses rechtswidrige Verhalten der Amerikaner wird auch vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages bestätigt. Aber die Amerikaner besetzen nicht nur rechtswidrig das Gebiet, sondern hindern auch aktiv die syrische Armee daran, den Kampf gegen den IS und andere Islamisten im Osten aufzunehmen. Es ist nachweisbar, dass die USA mehrfach die syrische Armee angegriffen haben. Wenn die Regierungsfraktionen im Mandatstext schreiben: „In diesem Zusammenhang werden ... Maßnahmen auf syrischem Gebiet durchgeführt, da die syrische Regierung weiterhin nicht in der Lage ist, alle von ihrem Territorium ausgehenden Angriffe durch den IS zu unterbinden“, dann ist das der Gipfel des Zynismus, sehr geehrte Damen und Herren. ({2}) Aber dieser Zynismus ist noch ausbaufähig. Denn die Bundesregierung unterstützt letztendlich – mindestens politisch, aber wahrscheinlich auch operativ – mit der Teilnahme an der Anti-IS-Koalition in Syrien direkt oder indirekt die völkerrechtswidrige militärische Besetzung im Nordosten Syriens durch die USA. Mir ist keinerlei Kritik seitens der Bundesregierung am Verhalten der Amerikaner in Syrien bekannt – nur Schweigen oder aber die abenteuerlichsten Rechtsinterpretationen. Sehr geehrte Damen und Herren, Russland und Iran befinden sich aber völkerrechtskonform in Syrien, weil eingeladen von der dortigen Regierung. Dennoch – dennoch! – lehnen wir auch deren militärische Präsenz in Syrien ab. ({3}) Denn auch das russische und das iranische Militär in Syrien tragen nicht zu einer langfristigen Stabilisierung und Befriedung des Landes bei. Syrien muss endlich eine selbstbestimmte Entwicklung gehen können, ohne Einmischung oder Erpressung durch Drittstaaten. ({4}) Folgerichtig lehnen wir den Anti-IS-Einsatz natürlich ab. Sehr geehrte Damen und Herren, alle Oppositionsparteien hier – mögen die Gründe auch unterschiedlicher Natur sein – sind gegen dieses Mandat. Ich glaube, auch in den Regierungsfraktionen, insbesondere bei der SPD, gibt es viele, die mit der Verlängerung hadern. ({5}) Ich frage mich, warum die SPD nicht den Mut aufbringt, gegen das Mandat zu stimmen, und zwar jetzt und nicht erst in einem Jahr. ({6}) Es liegt letztendlich an den Sozialdemokraten, ob sich Deutschland fortgesetzt an völkerrechtswidrigem Handeln beteiligt oder aber ihm ein Ende setzt. Danke. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Tobias Lindner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fangen wir einmal mit den beiden Dingen an, denen man noch etwas Positives an diesem Mandat abgewinnen kann. Erstens. Sie legen fest, dass Sie nach einem halben Jahr dieses Mandat evaluieren wollen. Das ist durchaus eine Forderung, die wir Grüne bei Bundeswehrmandaten schon seit längerer Zeit erheben. Das ist nichts Falsches. Aber Sie müssen sich dann doch die Frage gefallen lassen: Warum machen Sie das nur bei diesem Mandat? Sie können sicher sein, dass wir Sie bei jedem zukünftigen Bundeswehrmandat fragen werden, ob da eine Evaluation drin ist oder nicht. ({0}) Zweitens – Frau Ministerin, Sie haben es erwähnt –: Wir haben uns im Irak angeschaut, was unsere Soldatinnen und Soldaten dort tun. Da ist eine Menge Sinnvolles, was die Ausbildung betrifft, dabei. Ich persönlich kann nicht erkennen, was falsch daran ist, irakische Soldaten darin zu schulen, wie man chemische Waffen, die der sogenannte „Islamische Staat“ zurücklässt, entdeckt und unschädlich macht. Aber dann müssen Sie sich doch fragen lassen, warum Sie uns heute hier so ein völlig verquicktes, verworrenes, völkerrechtswidriges, verfassungswidriges Mandat vorlegen, ({1}) das weitaus mehr enthält als diese Bestandteile, denen ich persönlich durchaus noch einen Sinn abgewinnen kann. ({2}) Ihr Mandat folgt keiner klaren Strategie, und es hat keine klaren Ziele. Bei dem erstmaligen Einbringen dieses Mandats habe ich Ihren Staatssekretär Herrn Tauber im Verteidigungsausschuss gefragt: Welche Ziele und welcher Zustand müssen denn für die Bundesregierung erfüllt sein, damit Sie sich vor uns stellen und sagen können: „Jetzt sind wir fertig; jetzt ziehen wir ab“? ({3}) Auf diese Antwort, liebe Kolleginnen und Kollegen, warten wir, warte ich heute noch. Das zeigt, dass dieses Mandat ein planloses Mandat ist. ({4}) Es kommt noch etwas hinzu, und zwar, was das Völkerrecht betrifft. Ich meine vor allem mit Blick auf Syrien die Basis, auf die Sie sich stützen. Wenn Sie dieses Gewürge – die Aufrufe der Vereinten Nationen, aber eben kein Mandat des Sicherheitsrates nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen – wirklich ernst meinen, dann höhlen Sie damit das internationale Völkerrecht aus. Das werden wir nicht mittragen können. ({5}) Was die Verfassungsmäßigkeit betrifft – darauf wurde ja schon hingewiesen –: Sie agieren nun wieder einmal in einer Koalition der Willigen und nicht in einem System kollektiver Sicherheit, wie es nicht nur die Grünen fordern, sondern wie es auch das Bundesverfassungsgericht als Maßgabe vorschreibt, wenn wir die Bundeswehr im Ausland einsetzen wollen. ({6}) Sie tun das – man kann ja darüber streiten, ob das Aufgabe der NATO ist –, obwohl Sie eine andere Option hätten. Sie tun das, obwohl Sie, der Außenminister und die Bundeskanzlerin im Juli dieses Jahres zum NATO-Gipfel nach Brüssel gefahren sind und dort noch ein Engagement der NATO für die Ausbildung im Irak unterstützt haben. Sie hätten eine andere Option gehabt – zumindest aus verfassungsrechtlicher Sicht –, dieses Mandat auf eine vernünftige Grundlage zu stellen. Aber Sie haben sich bewusst dagegen entschieden. Warum Sie das getan haben, wird Ihr Geheimnis bleiben. ({7}) Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einen letzten Punkt erwähnen – auch ich bin hier ja schon einige Jahre dabei, und dies ist nicht das erste Mandat, das ich berate –: In früheren Zeiten hat sich eine Bundesregierung, haben sich Koalitionsfraktionen dafür interessiert, eine möglichste breite Mehrheit zu bekommen, gerade vor dem Hintergrund der Verantwortung, die wir für die Soldatinnen und Soldaten haben, die wir in Auslandseinsätze schicken. Sie haben diesmal alles darangesetzt, dass Oppositionsfraktionen aus guten, wenn auch unterschiedlichen Gründen sagen müssen: Dieses Mandat ist nicht zustimmungsfähig. Sie werden hier nachher eine Mehrheit bekommen – davon gehe ich aus –, aber sie wird denkbar knapp sein. Denn das ist nicht verantwortungsbewusst, was Deutschlands Rolle in der Welt betrifft. Das ist nicht verantwortungsbewusst im Hinblick auf das Völkerrecht und unsere Verfassung. Das ist auch nicht verantwortungsbewusst gegenüber den Soldatinnen und Soldaten, die Sie dann mit äußerst knapper Mehrheit in einen Auslandseinsatz schicken werden. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich dem Kollegen Florian Hahn das Wort erteile, bitte ich erst einmal um die Herstellung der notwendigen Aufmerksamkeit. Hilfreich könnte es dazu sein, dass die Abgeordneten, die in den hinteren Reihen oder auf dem Weg nach draußen stehen, Platz nehmen. Wir haben für jedes gewählte Mitglied des Hauses eine Sitzgelegenheit im Plenarsaal. Dringend notwendige Gespräche bitte ich draußen zu führen. Das Wort hat der Abgeordnete Florian Hahn für die Unionsfraktion. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ganz herzlichen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ministerin von der Leyen hat in ihrer Rede sehr präzise dargelegt, warum der Bundeswehreinsatz in Syrien und im Irak bisher so erfolgreich war, aber auch, warum er noch nicht beendet ist. Herr Kollege Lucassen, dass sich die Situation der Menschen im Irak seit unserem Engagement dort verbessert hat, können Sie, glaube ich, nicht ernsthaft infrage stellen. Das ist auch angesichts der IS-Opfer, muss ich sagen, ein Stück weit perfide. Der Kampf gegen den IS ist aber noch nicht endgültig gewonnen, und die Region ist noch nicht nachhaltig genug stabilisiert, um sich einfach davonzumachen. Deutschland muss jetzt weiter so zu seiner Verantwortung stehen und seine Verbündeten unterstützen. Dass angesichts dessen der deutsche Beitrag zum nächsten Oktober ungeprüft eingestellt werden soll, halte ich für nicht stringent, und es ist – ich muss es vorsichtig ausdrücken – auch nicht gerade förderlich, wenn es darum geht, uns als glaubwürdigen und verlässlichen Partner zu präsentieren. Es ist eben nicht verständlich, dass die Entscheidung zum Abzug der Luftaufklärung und der Luftbetankung bereits zum jetzigen Zeitpunkt endgültig getroffen wird, statt eine Bedrohungsanalyse im nächsten Jahr abzuwarten. Das ist eben nicht gerade ein Kennzeichen für ein selbstbewusstes Parlament. Eine stabile Bundeswehrpräsenz in der Region durch eine fortgesetzte und langfristige Beteiligung Deutschlands an allen Bereichen der Anti-IS-Koalition wäre sowohl aus strategischen als auch aus bündnispolitischen Erwägungen wünschenswert gewesen. Deutschland ist auch bei der humanitären Hilfe und beim Wiederaufbau der befreiten Gebiete im Irak sehr engagiert, und es sollte deshalb auch möglich sein, dass wir hier als vollwertiger Partner weiter am Tisch sitzen. Wir beklagen zu oft, dass wir, obwohl wir neben der Region selbst am meisten von den Folgen dieser Krise betroffen sind, gleichzeitig aber den geringsten Einfluss haben. Mit Blick auf die Befristung traue ich mich, zu wetten, dass der Einfluss absehbar nicht größer werden wird. Die Bundeswehr unterstützt unter dem Stichwort „Capacity Building“ inzwischen die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte im gesamten Land erfolgreich beim Fähigkeitsaufbau und trägt damit zur Stabilisierung des Irak bei. Der Schwerpunkt liegt auf der Ausbildung der Ausbilder zum Aufbau spezialisierter Fähigkeiten wie medizinische Versorgung, Beseitigung und Entschärfung von Kampfmitteln oder ABC-Abwehr. Das alles sind wichtige Schritte auf dem Weg hin zur Ausbildung professioneller Sicherheitsstrukturen im Irak. Deswegen hat man auf dem NATO-Gipfel im Juli einstimmig eine neue Mission beschlossen, in der sich alle bisher bilateral agierenden Partnerstaaten bündeln, um sich unter einem Dach effizienter und sicherer abstimmen zu können. ({0}) Dass Deutschland nun seine Ausbildungskomponente nicht in die NATO-Ausbildungs- und Beratungsmission integriert, finde ich, offen gesagt, peinlich. ({1}) Deutschland muss somit als einziges Land einen Sonderweg gehen, der unsere Partner nur irritieren kann. Gerade jetzt, wo der deutsche Sitz im UN-Sicherheitsrat vor der Tür steht, sollte Deutschland außen- und sicherheitspolitische Stärke und Zuverlässigkeit beweisen. ({2}) Auch im Zuge der Vertiefung einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik ist es essenziell für unsere europäischen Partner, dass wir zuverlässig und gemeinschaftlich agieren. ({3}) In diesem Sinne müssen wir unser Engagement im Irak auch militärisch fortsetzen. Ich bitte Sie daher, dem Mandat zuzustimmen. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur nachhaltigen Bekämpfung des IS-Terrors und zur umfassenden Stabilisierung Iraks. Mir liegen mehrere Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor. Entsprechend den Regeln nehmen wir sie zu Protokoll. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5051, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 19/4719 anzunehmen. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Schriftführerinnen und Schriftführer an ihrem Platz? – Das ist offensichtlich der Fall. Ich eröffne die erste namentliche Abstimmung, und zwar über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Bundesregierung. Gestatten Sie mir, während die Abstimmung läuft, noch einen geschäftsleitenden Hinweis. Nach dieser namentlichen Abstimmung wird es eine einfache Abstimmung geben, bevor wir zur zweiten namentlichen Abstimmung kommen. Es wäre hilfreich, wenn diejenigen, die ihre Stimme zur ersten namentlichen Abstimmung abgegeben haben, die Plätze an den Urnen wieder räumen und am besten ihre Sitzplätze einnehmen, sodass wir nachher zweifelsfrei das Abstimmungsergebnis feststellen können, bevor wir zur zweiten namentlichen Abstimmung kommen. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, welches seine Stimme nicht abgeben konnte? – Das ist hinten offensichtlich der Fall. Ich bitte darum, für uns auch den Blick auf die Abstimmungsurnen hinten an den Türen freizumachen. Wir können nicht erkennen, inwieweit Abgeordnete daran gehindert sind, an der Abstimmung teilzunehmen. Gibt es noch ein Mitglied des Hauses, welches seine Stimme zur ersten namentlichen Abstimmung noch nicht abgeben konnte? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Ich bitte nochmals, die notwendige Aufmerksamkeit herzustellen und sich in die Reihen der Fraktionen bzw. auch auf die Regierungsbank zu begeben, damit wir die folgenden Abstimmungsergebnisse zweifelsfrei feststellen können. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/5080. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der AfD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 11 b. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der AfD mit dem Titel „Rückholung aller Bundeswehreinheiten aus dem Irak“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5052, den Antrag der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/4842 abzulehnen. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung auf Verlangen der Fraktion der AfD namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Ist das Problem hier vorne links gelöst oder noch nicht? – Solange hier vorne repariert wird, frage ich schon einmal: Sind die anderen Schriftführerinnen und Schriftführer jeweils an ihrem Platz? – Einen kleinen Moment! Wir müssen für hier vorne eine neue Urne besorgen, also die Urne austauschen. – Sind alle Urnen abstimmungsbereit? – Ich eröffne die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, welches seine Stimme zur zweiten namentlichen Abstimmung bisher nicht abgeben konnte? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Ich bitte jetzt alle Abgeordneten und natürlich auch Mitglieder der Bundesregierung, welche an unseren weiteren Verhandlungen teilnehmen wollen, Platz zu nehmen. Ich bitte auch Herrn Bundesminister Altmaier, die notwendige Aufmerksamkeit herzustellen. Ausnahmslos an alle Fraktionen geht die Bitte, dass sie gegebenenfalls ihren Kolleginnen und Kollegen dort hinten ein Zeichen geben, dass wir gern fortfahren möchten. – Ich werde den nächsten Tagesordnungspunkt nicht aufrufen, bevor sowohl die Mitglieder der Bundesregierung, die hier noch im Gang stehen, ({0}) als auch die Mitglieder der Fraktionen, die im Moment meinen, hier in den Gängen Gespräche führen zu müssen, dies nicht beenden und die notwendige Aufmerksamkeit hergestellt ist. Ich hebe hervor, dass die SPD-Fraktion diesen Zustand als erste herstellen konnte, ({1}) und es betrübt mich, dass die Fraktion Die Linke dies bisher noch nicht hinbekommen hat, auch die AfD-Fraktion noch nicht. – Die FDP hat es geschafft; nun warten wir noch auf die Union, den Kollegen Grundmann. Auch die AfD-Fraktion könnte es schaffen.

Cornelia Möhring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004111, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedaure es sehr, dass wir heute keine abschließende Lesung der vorliegenden Gesetzentwürfe haben; denn die Streichung des § 219a StGB ist dringlich und schon lange überfällig. ({0}) Wir hätten sogar die parlamentarische Mehrheit, aber die SPD taktiert, anstatt klare Kante in der GroKo zu zeigen. Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, fehlt mir mittlerweile jedes Verständnis. ({1}) Sie haben kurz vor Unterzeichnung des Koalitionsver trages den eigenen Gesetzentwurf zurückgezogen. Sie haben völlig ohne Not den Willen der Mehrheit der Bevölkerung ignoriert und verhindert, dass wichtige Frauenrechte verwirklicht werden. Sie wollen zwar einen tollen Frauenpreis an Kristina Hänel verleihen – dazu gratuliere ich Kristina Hänel ausdrücklich; sie hat das mehr als verdient –, ({2}) aber hier im Bundestag lassen Sie Kristina Hänel im Regen stehen. Sie werden uns sicherlich gleich erzählen, dass Sie auf die Union hoffen, weil die Kanzlerin Ihnen ein Versprechen gegeben hat. ({3}) Nur, die Union scheint überhaupt gar nicht zu interessieren, wann oder wem die Frau Merkel etwas versprochen hat. Damit warten Sie doch auf Godot. Sie werden lange warten müssen, und das ist mehr als tragisch. ({4}) Nicht nur, dass Sie damit jeden Rest von Glaubwürdigkeit verspielen, Sie unterstützen damit auch das rückständige Frauenbild von Union und den Rechten ({5}) und rütteln damit an den eigenen Grundfesten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das in der Union vorherrschende Frauenbild müsste doch auch Sie erschüttern. ({6}) Frauen sollen zur Pflichtberatung, nicht zwecks Informationen, sondern weil sie alleine nicht entscheidungsfähig seien und – das wäre fast lustig, wenn es nicht so traurig wäre – weil sie vor Informationen geschützt werden müssen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Möhring, ich habe die Uhr angehalten. Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung?

Cornelia Möhring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004111, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr gerne.

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Möhring, ich freue mich sehr, dass Sie den Olympe-de-Gouges-Preis der SPD-Frauen Hessen-Süd angesprochen haben, den wir am Sonntag Kristina Hänel verleihen. Darauf freue ich mich schon sehr. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie am Sonntag zu dieser Veranstaltung kommen würden. Sie sehen an der Verleihung dieses Preises an Frau Hänel, wie wichtig es gerade den SPD-Frauen ist, beim § 219a eine gute Regelung zu finden. ({0})

Cornelia Möhring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004111, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ganz herzlichen Dank für die Einladung. Ich begrüße diesen Preis außerordentlich. Ich finde, Kristina Hänel hat ihn wirklich mehr als verdient; denn ohne Kristina Hänel hätten wir dieses Thema überhaupt nicht hier im Bundestag, und das wäre sehr fatal. ({0}) Im Übrigen hat auch meine Partei, Die Linke, Kristina Hänel zu Beginn dieses Jahres den Clara-Zetkin-Frauenpreis verliehen in Achtung ihrer Verdienste. ({1}) Ich werde gucken, ob ich kommen kann. – Aber umso mehr finde ich es schade, dass Sie zwar den Preis verleihen, aber hier nicht mal endlich Arsch in der Hose zeigen und diesen Gesetzentwurf durchbringen. ({2}) Ich will noch weiter argumentieren. Denn wenn es nach der Union geht, dann dürfen Frauen keine umfassenden medizinischen Informationen bekommen, weil sie dann den Schwangerschaftsabbruch als notwendige medizinische Leistung erfahren könnten. Um es mit einfachen Worten zu sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Frauen sind nach diesem Menschenbild, nach diesem Frauenbild anscheinend komplett hohle Nüsse, die nicht alleine handeln können und mit Informationen nur verunsichert werden. Auch das Lieblingsargument der Union unterstützt ihr doch damit. Das Lieblingsargument der Union lautet, das Werbeverbot müsse bleiben, weil Frauen sonst im wahrsten Sinne für einen Abbruch geworben werden. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Möhring?

Cornelia Möhring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004111, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich würde den Satz gerne beenden. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin echt davon überzeugt, dass niemand von uns irgendeine Frau auf diesem Planeten finden wird, die sagt: Zwei Abbrüche für den Preis von einem, da bin ich doch dabei. ({0}) Deshalb geht es doch um etwas ganz anderes als um ein Werbeverbot, das ein Informationsverbot ist. Es geht um den Einfluss des Staates auf den weiblichen Körper über den § 219a. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, Frauenrechte sind unteilbar. ({1}) Die unsäglichen Folgen dieses Paragrafen werden doch immer offensichtlicher. Die Zahl der Anzeigen gegen Ärzte und Ärztinnen nimmt zu und damit auch die Kriminalisierung und Stigmatisierung. Es gibt immer mehr Landstriche ohne Versorgung. Es ist keine Seltenheit mehr, dass Frauen 150 Kilometer oder mehr fahren müssen, um zu einer Pflichtberatung zu kommen, und dann gibt es nicht einmal Informationen über Ärzte oder Kliniken und oftmals auch nicht zu den medizinischen Verfahren. Laut Schwangerschaftskonfliktgesetz muss das aber eigentlich vorgehalten werden. Es wird also sogar die Umsetzung anderer Gesetze blockiert. Zum Abschluss: Vielleicht macht es ja gar keinen Sinn mehr, an Ihr Rückgrat zu appellieren; aber ich will es doch noch mal versuchen. Liebe Kolleginnen der SPD, lasst bitte nicht zu, dass die Informationsfreiheit und die Freiheit des Arztberufes behindert werden und Frauenrechte weiterhin ignoriert werden. Der § 219a könnte der Schicksalsparagraf für die SPD werden. Für viele Ärztinnen, Ärzte und Frauen ist das schon lange so. Deshalb muss er aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden; denn Frauenrechte sind unteilbar. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Silke Launert das Wort.

Dr. Silke Launert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004336, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Kollegin Möhring, ist Ihnen bewusst, dass es hier nicht um das Frauenbild der Union geht, sondern um eine Verfassungsvorgabe, nach der auch das ungeborene Leben ein Recht auf Leben hat, ({0}) und dass dieser Kompromiss ein Ausgleich dieser Verfassungsgüter ist? Auch das ungeborene Leben könnte ein kleines Mädchen und eine Frau werden wollen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Einen kleinen Moment, Kollegin Möhring. – Damit hier gar nicht erst Missverständnisse entstehen, sage ich: So, wie heute Mittag im Ältestenrat besprochen, können Sie bei der Erwiderung stehen bleiben, aber Sie können sich auch hinsetzen. Nur bei Fragen bleiben wir stehen. ({0}) Ich sage das bloß, weil wir heute im Ältestenrat dazu eine ausführliche Debatte hatten.

Cornelia Möhring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004111, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kollegin Launert, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass wir hier nicht über den § 218 StGB reden, ({0}) der davon handelt, ob Schwangerschaftsabbrüche erlaubt oder nicht erlaubt sind? Wir reden über den § 219a, der fälschlicherweise mit „Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“ überschrieben ist, obwohl man für Schwangerschaftsabbrüche gar nicht werben kann, und der faktisch ein Informationsverbot ist und die Berufsfreiheit von Ärztinnen und Ärzten sowie die Informationsrechte von Frauen behindert. ({1}) Wer das macht, wer da so stur ist, der offenbart ein Frauenbild, das nicht mehr in dieses Jahrhundert passt. ({2})

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drei Oppositionsparteien legen uns Anträge auf komplette oder teilweise Abschaffung des Verbots der Werbung für Abtreibung vor. Wir wollen heute nicht darüber entscheiden, weil in der Koalition über genau dieses Thema noch Gespräche geführt werden: aufseiten der SPD zwei Ministerinnen, aufseiten der Union zwei Minister. ({0}) Da besteht also noch Beratungsbedarf, bis wir dann vielleicht auch hier zu einer Entscheidung kommen. Ich nutze aber die Gelegenheit dieser Berichte nach § 62 der Geschäftsordnung, um ein paar Fakten in die Diskussion einzubringen; denn da geht einiges durcheinander. Als Erstes möchte ich noch einmal klarstellen: Die Gießener Ärztin, die hier schon genannt wurde – übrigens eine Allgemeinmedizinerin und nicht etwa eine Gynäkologin –, wurde nicht etwa deshalb verurteilt, weil sie Abtreibungen durchführt. Denn diesbezüglich ist ganz klar geregelt, dass keine Strafbarkeit besteht, weder für die Frau noch für den Arzt. Die einzige Voraussetzung ist, dass man die Voraussetzungen des § 218a einhält: in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft nach Beratung und einer Wartefrist von drei Tagen. Der Staat verzichtet da ganz bewusst auf eine Strafbarkeit; denn er weiß, dass das Kind nur mit der Mutter geschützt werden kann und nicht gegen sie. Verurteilt wurde Frau Hänel – der es nach eigenem Bekunden übrigens Spaß macht, Abtreibungen durchzuführen –, weil sie wiederholt auf ihrer Website für Abtreibungen in ihrer Praxis geworben hat, um Patientinnen zu akquirieren. ({1}) Solche Werbung verharmlost und kommerzialisiert Abtreibungen. Ich denke, das Frauenbild, das hinter dieser Regelung steht, ist ein ganz positives; denn die gesetzliche Regelung stellt ausschließlich darauf ab, welche Entscheidung die Frau am Ende nach der Beratung trifft. Sie braucht sich nicht zu rechtfertigen. Sie braucht sich nirgendwo zu erklären. Sie hat dann Zugang zu dem Arzt, den sie frei wählen kann. Da gibt es überhaupt keine Einschränkungen. ({2}) Der zweite Irrtum ist, dass es ein Informationsverbot für Frauen gäbe. Das Einzige, was § 219a wirklich ausschließen möchte, ist, dass durch diejenigen informiert und geworben wird, die selber kommerziell anbieten. ({3}) Das ist die einzige Einschränkung. Ansonsten gibt es öffentliche Informationen ohne eigenes Interesse, ohne jede Einschränkung. Deshalb können zum Beispiel auch Listen von Ärzten im Internet veröffentlicht werden. Ebenfalls völlig unproblematisch ist die individuelle Beratung durch den Arzt, wenn die Entscheidung über das Ob der Abtreibung gefällt ist und es konkret darum geht, welche Narkose angewandt wird, welche Methode gewählt wird und dergleichen mehr. Sie tun manchmal so, als gäbe es Informationen für die Frauen nur im Darknet. Das ist wirklich absurd. ({4}) Zusätzlich zu all diesen öffentlichen Informationsquellen sind die Beratungsstellen für die Beratung da. Sie beraten umfassend – nicht nur über die medizinischen Dinge. Schließlich geht es im Rahmen der Frage, ob eine Abtreibung durchgeführt wird, noch um ganz andere Aspekte: Wie kann ich eine Ausbildung mit einem Kind fortsetzen? Welche Unterhaltsansprüche habe ich gegen den Vater? Wie kann ich denn mit dem Kind leben? Dazu soll ermutigt werden, und dazu ist diese Beratung da. Der dritte Irrtum ist, dass durch § 219a Frauen angeblich keine Ärzte finden. Das ist nicht so; denn wenn es da Probleme gibt, dann liegen sie nicht an § 219a. Im Gesetz ist geregelt, dass jeder Arzt ohne Probleme die Information, dass er Abtreibungen durchführen will, der Beratungsstelle – jeder Beratungsstelle in ganz Deutschland übrigens – mitteilen kann. Frauen können sich dann dort darüber informieren, wer Abtreibungen vornimmt, und zwar deutschlandweit. Effektiver geht es doch gar nicht. Damit erreicht man jede Frau, die darüber nachdenkt, eine Abtreibung zu machen. Sie hat dann die freie Wahl. Ich würde Ihnen raten: Fragen Sie doch einmal alle Ärzte, die da ein Problem haben, ob sie ihre Adresse allen Beratungsstellen in Deutschland gegeben haben. Dann werden sie nämlich kein Problem haben, an die Frauen heranzukommen, die über eine Abtreibung nachdenken. Entscheidend ist aber – das möchte ich hier auch noch einmal zu bedenken geben –: Wir müssen doch vom Kind her denken. Das Kind ist kein Zellhaufen und kein Schwangerschaftsgewebe, sondern Mensch von Anfang an. Deshalb hat es das Recht auf Schutz verdient durch die bestmögliche Beratung und auf die Ermunterung bzw. die Ermutigung zu dem Kind. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Winkelmeier-Becker, ich habe die Uhr angehalten.

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist keine ärztliche Leistung. Deshalb ist § 219a in diesem Schutzkonzept zentral. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie gestatten keine Frage?

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Doch.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Meine Frage bezieht sich auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Wie bringen Sie Ihre Auffassung mit folgendem Zitat des Bundesverfassungsgerichts überein? Es lautet: Wenn die Rechtsordnung Wege zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärzte eröffnet, muss es dem Arzt auch ohne negative Folgen für ihn möglich sein, darauf hinzuweisen, dass Patientinnen seine Dienste in Anspruch nehmen können. ({0})

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie wissen ganz genau, dass dem ein ganz anderer Fall zugrunde lag. Es ging damals um Broschüren. Es ging um Demonstranten, die vor der Praxis ihrerseits falsche Informationen verteilten. Das war also ein ganz anderer Fall, der mit der heutigen Situation nicht mehr vereinbar ist. Wir haben auch die Sachverständigen in der Sachverständigenanhörung dazu befragt. Sie haben uns auch bestätigt, dass das völlig anders einzuordnen ist. Ich berufe mich auf die ursprüngliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das erklärt hat, dass der Staat verpflichtet ist, das Kind effektiv zu schützen. Niemand anders tut es. Der Staat ist derjenige, der die Aufgabe hat, sein Lebensrecht und seine Menschenwürde mit in die Abwägung einzubringen. Wenn er darauf verzichtet, das Strafrecht einzuschalten – was ich für absolut richtig halte –, muss er wenigstens eine Beratung zum Leben machen. Das ist schon sehr wenig. Würde er noch weniger machen oder jetzt auch noch konterkarierende Werbung zulassen, würde er seinem Verfassungsauftrag nicht mehr gerecht. Das Verfassungsgericht spricht hier vom Untermaßverbot. Unter dieses Schutzniveau, das jetzt schon sehr gering ist, darf es einfach nicht gehen. Das ist meine feste Überzeugung. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Jens Maier für die AfD-Fraktion. ({0})

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt wohl keinen Bereich, der mit mehr Emotionen, mit mehr ethischen und moralischen Fragen verbunden ist wie der um das Thema Schwangerschaftsabbruch. ({0}) In unserem Strafgesetzbuch sind in den §§ 218 ff. Regelungen enthalten, die das Ergebnis einer umfassenden und verfassungsrechtlich schlussendlich abgesicherten Diskussion darstellen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung im 88. Band auf Seite 203 im Tenor unter Ziffer 1 ausgeführt: Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, menschliches Leben, auch das ungeborene, zu schützen. … ({1}) Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu. Und unter Ziffer 3 wurde klargestellt: Rechtlicher Schutz gebührt dem Ungeborenen auch gegenüber seiner Mutter. Mein Bauch gehört mir – das gilt hier nicht. ({2}) Man müsste glauben, die Sache sei nun beendet, weil wir ein Ergebnis haben, mit dem man leben kann. Müsste man glauben! Tatsächlich schwelen aber die Konflikte noch weiter, wollen sich offenbar Linke, Grüne und sogar Liberale ({3}) mit dem gefundenen Kompromiss, den auch ich als Christ aus anderen Gründen nur schwer mittragen kann, ({4}) nicht abfinden und suchen nun nach Wegen, wie man die Dinge in ihre Richtung umdrehen kann. Was wollen die Grünen und Linken wirklich? Erschöpfen sich die vorliegenden Gesetzentwürfe tatsächlich darin, den Ärztinnen das Risiko strafrechtlicher Verfolgung zu ersparen, Rechtssicherheit für den Ärztestand zu schaffen? ({5}) Ich sage zumindest auf die Linken und Grünen bezogen: Nein. Man will aus dem mühsam zusammengebauten Mosaik ein Steinchen nehmen, um das Ganze zum Einsturz zu bringen. Am Ende steht dann das, was man eigentlich will: die kalte Fristenlösung. ({6}) Der Lösungsansatz der Linksgrünen, den § 219a StGB ganz abzuschaffen, führt unweigerlich zu einem Wertungswiderspruch im Gesetz. Das hat der Sachverständige Kubiciel deutlich gemacht und überzeugend begründet. § 218 StGB will das ungeborene Leben schützen. Diesem Lebensschutz läuft es zuwider, wenn man die Werbung für Abtreibungsmittel straffrei werden lässt, wie die Linksgrünen das wollen. ({7}) Ist es gelungen, einen solchen Wertungswiderspruch in das Gesetz zu bringen, und ist es erst mal gelungen, über diesen Wertungswiderspruch das Konzept infrage zu stellen, wird die alte Forderung wieder an die Oberfläche kommen, nämlich die nach Einführung der Fristenlösung. Darum kann ich hier nur sagen: Wehret den Anfängen! ({8}) Rüttelt nicht an dem Gesamtkonzept des Strafrechtsschutzes für das ungeborene Leben, nur weil ein einziger Fall – die Verurteilung einer Ärztin in Gießen, die sich selten dämlich angestellt hat – ({9}) die Anwendung des § 219a StGB fragwürdig erscheinen lässt. Das ist nur ein Vorwand der Abtreibungsbefürworter, das ganze Konzept infrage zu stellen. ({10}) Auch der Gesetzentwurf der FDP ist in dieser Hinsicht bedenklich. Dadurch, dass der Tatbestand des § 219a StGB nach der Vorstellung der FDP so eng gefasst wird, dass er praktisch keinen Anwendungsbereich mehr hat, wird die gleiche Wirkung erzielt, als wenn man ihn abschaffen würde. Warum, frage ich mich, sind Sie von der FDP nicht ehrlich und schließen sich den Anträgen der Linksgrünen an? Warum plädieren Sie nicht gleich für eine Aufhebung? Was soll diese Mogelpackung, die noch nicht einmal in sich schlüssig ist, weil sie bei einem noch gröberen Verstoß, nämlich einer üblen anpreisenden Werbung für Abtreibungsmittel, die Strafandrohung von derzeit zwei Jahren Freiheitsstrafe auf ein Jahr reduziert? An diesem Dazwischen zeigt sich das Grundproblem des heutigen Liberalismus. Er führt uns in die Beliebigkeit, er relativiert unsere Werte, er hat zugelassen, dass der Hass auf das Eigene in unserem Land kultiviert werden konnte. ({11}) Davon müssen wir wegkommen – im Großen wie im Kleinen. Wir brauchen eine Politik der klaren Haltung. ({12}) Wir von der AfD kultivieren die Liebe zum Eigenen, und das schließt die Liebe zum ungeborenen Leben mit ein. Für uns ist der Schutz des ungeborenen Lebens, wie auch immer, nicht verhandelbar. In unserem Grundsatzprogramm treten wir unter 6.7 für eine „Willkommenskultur für Neu- und Ungeborene“ ein. ({13}) Weiter heißt es dort: Die AfD wendet sich gegen alle Versuche, Abtreibungen zu bagatellisieren, staatlicherseits zu fördern oder sie gar zu einem Menschenrecht zu erklären. Dazu stehen wir. ({14}) Wir treten daher entschlossen einer Aufweichung der bestehenden Regelung entgegen. Die Gesetzentwürfe lehnen wir ab. Danke. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Eva Högl für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Mit Ihrer Erlaubnis, liebe Frau Präsidentin, beginne ich mit einem Zitat: Sie müssen das Urteil tragen wie einen Ehrentitel in einem Kampf für ein besseres Gesetz. Das sagte der Vorsitzende Richter Johannes Nink bei der Begründung des Urteils des Landgerichts Gießen am 12. Oktober 2018 – also letzten Freitag –, mit dem die Berufung der Gießener Frauenärztin Kristina Hänel verworfen wurde. Kristina Hänel war am 24. November 2017 vom Amtsgericht Gießen zu einer Geldstrafe von 6 000 Euro verurteilt worden, weil sie auf ihrer Homepage darüber informiert hat, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornimmt. Der Vorsitzende Richter der 3. Strafkammer des Landgerichts Gießen hat mit dem Strafverfahren, wie er es geführt hat, mit dem Urteil und vor allen Dingen mit seinen bemerkenswerten Worten bei der Begründung Rechtsgeschichte geschrieben; ({0}) denn das Gericht bestätigt zwar die Verurteilung, weist aber deutlich darauf hin, dass die Gerichte über § 219a StGB nicht anders urteilen können. Genau das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist der Grund, warum vier Fraktionen hier im Deutschen Bundestag unmittelbar nach dem Urteil gegen Kristina Hänel am 24. November 2017 entsprechende Gesetzentwürfe und Anträge hier im Bundestag auf den Weg gebracht haben, die zum Ziel haben, § 219a StGB abzuschaffen oder zu ändern. ({1}) Auch die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits am 11. Dezember 2017 einstimmig einen entsprechenden Gesetzentwurf auf den Weg gebracht. Es ist und bleibt unsere Position, die Position der SPD, dass Ärztinnen und Ärzte nicht bestraft werden dürfen, wenn sie erstens Abbrüche vornehmen und wenn sie zweitens darüber informieren. ({2}) Diese Frage dürfen wir nicht den Gerichten überlassen, und wir können sie auch nicht den Gerichten überlassen, wie das Berufungsurteil aus Gießen zeigt, sondern wir hier als Gesetzgeber im Deutschen Bundestag sind gefragt. ({3}) Frauen brauchen eine gute Beratung. Sie stehen vor einer schwierigen Entscheidung. Frau Winkelmeier-Becker, niemand ist so wertvoll und niemand ist so notwendig bei der Beratung wie ein Arzt oder eine Ärztin, ({4}) und deshalb brauchen Ärzte und Ärztinnen Rechtssicherheit, damit sie den Frauen eine eigenverantwortliche Entscheidung ermöglichen können. Natürlich sind die Meinungen hier in der Koalition verschieden; das ist bekannt. Ich sage für die SPD heute hier aber ganz deutlich: Wir nehmen die Bundeskanzlerin beim Wort. ({5}) Sie hat uns nämlich versprochen, zugesagt und fest versichert, dass wir eine vernünftige Lösung finden: Rechtssicherheit für Ärztinnen und Ärzte und objektive, gute Informationen für Frauen. ({6}) Diese Lösung, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es nur, wenn die Strafbarkeit von Ärztinnen und Ärzten bei objektiver Information beseitigt wird. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU – das sage ich jetzt mal ganz deutlich in Ihre Richtung –: Es eilt! Wir können das nicht auf die lange Bank schieben; denn jeden Tag werden Frauen vor Beratungsstellen, vor Arztpraxen und vor Kliniken belästigt. Es gibt jeden Tag weitere Anzeigen von sogenannten Lebensschützern, weitere Anklagen, Strafverfahren und Urteile. Deswegen hoffe ich sehr, dass wir noch in diesem Jahr hier im Deutschen Bundestag eine entsprechende Regelung verabschieden können, sodass die Strafbarkeit von den Ärztinnen und Ärzten genommen wird. Ich appelliere an Sie, sich dieser Lösung nicht zu verschließen. Abschließend will ich sagen, dass wir alle mal ganz hoffnungsvoll nach Irland schauen sollten. Ein konservatives, katholisches Land hat sich mit Zweidrittelmehrheit der Bevölkerung entschieden, die Abtreibungsregelung, die dort galt, abzuschaffen. ({8}) Ich finde, das könnte ein gutes Vorbild für uns hier im Deutschen Bundestag dafür sein, eine moderne Regelung zu schaffen und eine objektive Information zu ermöglichen. Ändern Sie mit uns gemeinsam den § 219a! Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Stephan Thomae für die FDP-Fraktion. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Högl, ich kann eigentlich nahtlos an Ihren Beitrag anknüpfen. – Seit ungefähr einem Jahr diskutieren wir jetzt schon über dieses Thema, den § 219a StGB, der dem Namen nach ein Werbeverbot beinhaltet, aber eben auch sachliche Informationen von Ärzten im Internet in zeitgemäßer Weise verbietet und verwehrt. Er erschwert es Frauen jedenfalls, sich in zeitgemäßer Weise im Internet darüber zu informieren, welcher Arzt in ihrer Nähe einen Schwangerschaftsabbruch vornimmt. So wie der Paragraf jetzt noch im Gesetz steht, ist er einfach nicht mehr zeitgemäß, und das ist doch eigentlich das Problem, mit dem wir zu kämpfen haben. ({0}) Es geht uns doch gar nicht darum, das Fristenmodell, die Beratungslösung, abzuschaffen, anzugreifen, zu torpedieren. Es geht uns nur darum, dass Ärzte in sachlicher Weise zusätzlich darüber informieren dürfen, wo, in welcher Weise und in welcher Umgebung sie einen solchen Eingriff vornehmen. Ich bekenne mich hier auch zum Fristenmodell mit Beratungslösung. Ich halte das für das Richtige. Aber so, wie der § 219a jetzt ist, kann er doch nicht bleiben, werte Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Deshalb muss ich, auch an die SPD gewandt, schon sagen: Es ist ein peinliches Bild, dass wir seit Monaten darüber diskutieren und diesbezüglich nichts zustande bringen und dass auch Sie mit den Stimmen der Großen Koalition diesen Tagesordnungspunkt ein ums andere Mal von der Tagesordnung des Rechtsausschusses haben absetzen lassen. Wir haben im Augenblick ein merkwürdiges Bündnis aus AfD und Union, ({2}) die beide versuchen, jegliche Änderung zu verhindern. Ich habe ja Respekt vor moralischen und ethischen Bedenken, aber auch die Anhörung der Sachverständigen, die wir hatten, ergab doch eindeutig das Bild, dass § 219a kein tragender Pfeiler des Schutzkonzeptes der §§ 218 ff. Strafgesetzbuch ist, werte Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Deswegen hat die FDP im Dezember letzten Jahres versucht, eine goldene Brücke zu bauen, über die nach unserer Auffassung auch die Union gehen könnte: eine vermittelnde Lösung, um eine breite Mehrheit im Parlament hervorzubringen. Es gibt ja nicht nur Ja oder Nein – lassen oder abschaffen –; es gibt auch vermittelnde Lösungen. Leider hat die Union diese Brücke nicht beschritten. Deswegen, Frau Kollegin Dr. Högl, muss die SPD irgendwann einmal Farbe bekennen. ({4}) Sie muss irgendwann einmal das Wort, das Ihnen die Bundeskanzlerin und der frühere Fraktionsvorsitzende Ihres Koalitionspartners, der Herr Kollege Kauder, gegeben haben, auch einfordern, muss es auch mal spitz stellen und sagen: Wir lassen die Frauen und die Ärzte nicht im Stich. Wir setzen uns auch für eine Änderung ein und stellen das auch irgendwann einmal spitz. Ihr eigener Parteivorstand hat am 23. April dieses Jahres deswegen auch entschieden, dass Sie mit der Union über eine Gesetzesänderung in Form eines Gesetzentwurfs verhandeln wollen. Ich zitiere jetzt wörtlich: Wenn dies nicht bis zum Herbst – der jetzt ist – zum Erfolg führt, muss in Gesprächen mit den reformwilligen Fraktionen bzw. Abgeordneten nach einer Lösung gesucht werden … ({5}) Ich kann Ihnen vermelden, dass es eine parlamentarische Mehrheit aus Linken, SPD, Grünen und der FDP gibt. Und wenn die Union nicht einschwenken will, ({6}) dann sollte die SPD diese Frage eben hier ohne ihren Koalitionspartner zur Abstimmung stellen. ({7}) Ich kann Ihnen für die FDP sagen: Wir halten unseren vermittelnden Vorschlag weiterhin aufrecht, aber wir werden uns keiner Initiative verwehren, die jedenfalls dafür sorgt, dass nicht alles bleibt, wie es jetzt ist. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Ulle Schauws für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Ulle Schauws (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004395, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein Jahr her, seit wir hier im Bundestag das erste interfraktionelle Gespräch zu § 219a geführt haben – mit den Kolleginnen der Linken, der FDP, der SPD, der Union und uns Grünen. Sie werden sich vielleicht daran erinnern: Wir waren nach der ersten Verurteilung von Kristina Hänel alle der Meinung, dass es nicht richtig sein kann, dass Ärztinnen strafrechtlich belangt werden, wenn sie Frauen umfassend über Schwangerschaftsabbrüche informieren. Darum haben vier Fraktionen einen Gesetzentwurf gemacht. Das hat sich dann bei Ihnen von der Union sehr schnell geändert. Denn Sie wollen – das haben wir in den letzten Monaten immer wieder gemerkt – am § 219a nichts ändern. ({0}) Schlimmer noch: Sie machen eine Nebendebatte über den § 218 auf; aber um den geht es hier nicht. ({1}) Ich muss Ihnen auch sagen: Bei dem, was wir jetzt zu lösen in der Lage wären, einfach schulterzuckend hinzunehmen, dass in der Zwischenzeit weitere Ärztinnen verurteilt werden, ist schon krass. Sie von CSU und CDU schwingen weiter die Keule des Strafrechts. Sie lenken ab, Sie lösen nichts, Sie sitzen aus. Da sage ich Ihnen – ganz im Sinne meines Kollegen von der FDP –: Das lassen wir Ihnen nicht länger durchgehen. ({2}) Menschen in diesem Land wollen selbstbestimmt in einer freien, emanzipierten Gesellschaft leben. Da gehört sexuelle Selbstbestimmung selbstverständlich dazu, und zwar ohne einen § 219a und ohne Bevormundung. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mal konkret: Was wäre denn, wenn § 219a aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wäre? Dann könnten Frauen sich im Falle einer ungewollten Schwangerschaft schnell, ohne Beschränkungen und online bei einer Ärztin oder einem Arzt fachlich informieren und bekämen so sehr viel mehr Sicherheit. ({4}) Ungewollt Schwangere könnten – ohne auf Listen von Beratungsstellen warten zu müssen – selbst herausfinden, wo und bei welcher Ärztin oder bei welchem Arzt sie Beratung und Hilfe bekämen. Und Ärztinnen könnten eine bestmögliche Versorgung von Frauen gewährleisten und so ihrer Staatsaufgabe – ich wiederhole das noch mal: es ist eine Staatsaufgabe – verantwortlich nachkommen. ({5}) Ärztinnen würden nicht mehr Gefahr laufen, verklagt zu werden. Darum geht es hier. Und sehr wichtig ist auch: Die medizinische Ausbildung könnte endlich erweitert werden. Dann könnte es auch möglich sein, dass in der medizinischen Ausbildung gelehrt wird, wie man Schwangerschaftsabbrüche professionell vornimmt. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Schauws, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung?

Ulle Schauws (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004395, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich lasse keine Zwischenfrage zu. Wenn Sie das alles nicht wollen, kann ich aber für meine Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sehr klar sagen: Wir wollen das so. Wir wollen Vertrauen anstatt Misstrauen gegenüber Frauen und Ärztinnen. Wir wollen Unterstützung und eigenverantwortliches Handeln anstatt Kontrolle und Repressionen. Das wird dem Anspruch von Frauen in diesem Land gerecht. Ganz dringend braucht es vor allem aber auch rechtliche Sicherheit für Ärztinnen. Das zeigen die Verfahren gegen Nora Szasz und Natascha Nicklaus aus Kassel sowie das zweite Urteil von letzter Woche gegen Kristina Hänel. Hier endlich die juristische Schieflage zu beseitigen, das ist unsere, das ist die politische Aufgabe, die wir jetzt zu lösen haben. ({0}) Ich kann nur das wiederholen, was die Kollegin Högl gerade gesagt hat: Sehr eindrücklich hat das auch noch mal das Landgericht Gießen betont. Es äußert Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Werbeverbots. Es fordert eine politische Entscheidung, denn die Gerichte seien „in solchen Dingen überfordert“; das hat der Richter gesagt. Ich darf noch einmal zitieren: Frau Hänel solle „das Urteil tragen wie einen Ehrentitel in einem Kampf für ein besseres Gesetz“. ({1}) Ich sage ganz klar: Da kann sich jetzt keine Fraktion wegducken, insbesondere die Fraktion der SPD nicht. Ihr habt einen eigenen Gesetzentwurf zur Streichung – Eva hat es gerade gesagt – beschlossen. Ich kann dazu nur sagen: Die Abstimmung freigeben zu wollen, ist auch ein Beschluss. Ihr seid im Wort bei den Frauen, ihr seid im Wort bei der Parteibasis, auch bei den Bürgerinnen. Die Ministerinnen Barley und Giffey äußern sich dazu gerne vollmundig. Bislang haben wir dazu aber von der Bundesregierung noch nichts gesehen. Das ist zu wenig. ({2}) Es ist unglaubwürdig, wenn Sie das Verfahren mit der Koalitionsmehrheit blockieren, die Gesetzentwürfe im Rechtsausschuss versenken und ausbremsen, anstatt endlich offensiv Lösungen für Informationsrechte außerhalb des Strafrechts zu suchen. Und währenddessen werden, wie gesagt, weitere Ärztinnen verklagt und Frauen vor Beratungsstellen belästigt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Schauws, setzen Sie bitte den Punkt.

Ulle Schauws (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004395, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. – Ich appelliere an Frau Nahles: Sie können viel an Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn Sie den Schritt der Freigabe der Abstimmung zu § 219a gehen, wenn Sie die reale Chance, aus der Mitte des Parlaments eine Mehrheit zu gewinnen, nutzen und wenn wir nicht länger warten, einen gemeinsamen Beschluss zu fassen, der lautet: Streichen wir § 219a! Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention erhält jetzt die Kollegin Sylvia Pantel das Wort.

Sylvia Pantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004370, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kollegin Schauws, würden Sie also den über 2 000 Beratungsstellen, die wir in der Bundesrepublik haben und die eine Frau, die in einem Schwangerschaftskonflikt ist, innerhalb einer Frist von drei Tagen aufsuchen kann, eine ordentliche Beratung absprechen? Es ist ja so: Man baut jetzt hier einen Popanz auf, indem man sagt, die Frauen könnten sich nicht informieren und würden nicht beraten. Es gibt die Pflicht der Beratung. Man bekommt innerhalb von drei Tagen einen Termin. Auch jeder andere Frauenarzt kann beraten. Der einzige Unterschied ist doch nur, dass derjenige, der berät, nicht an der Abtreibung verdienen darf. Und da frage ich Sie, was das mit Beratung zu tun hat. Wenn Sie ins Internet gehen, dann werden Sie auch aufgeklärt, wie eine Abtreibung erfolgen kann. Wo sehen Sie da ein Beratungsdefizit?

Ulle Schauws (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004395, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kollegin Pantel, vielen Dank für die Frage. – Ich kann dazu sagen, dass ich den Beratungsstellen eine hervorragende Arbeit attestieren kann. ({0}) Wir stellen die Fortsetzung der Arbeit der Beratungsstellen mitnichten in Abrede; davon ist überhaupt nicht die Rede. Aber der Unterschied ist: Wenn ich als Frau feststelle, dass ich ungewollt schwanger bin, dann werde ich mich nicht drei Tage hinsetzen und Däumchen drehen, bis ich den Termin bei der Beratungsstelle habe, sondern dann werde ich versuchen, Informationen bei denen zu bekommen, die sich am allerbesten auskennen, ({1}) und zwar bei der Ärztin oder dem Arzt meines Vertrauens. Und im 21. Jahrhundert muss es der Normalfall sein, dass ich mich auf der Internetseite einer Ärztin darüber informieren kann. ({2}) An dieser Stelle bauen Sie einen Popanz auf, indem Sie sagen, wir würden Beratungsstellen diskreditieren. Das ist nicht der Fall. Dass Frauen sich im 21. Jahrhundert unmittelbar bei der Person ihres Vertrauens informieren können, darum geht es hier, und darum geht es im § 219a, und nicht um das, was Sie sonst hineininterpretieren. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat nun der Abgeordnete Ingmar Jung für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ingmar Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will zunächst einmal sagen: Wir sprechen hier über ein Thema, das unheimlich emotional diskutiert wird, das teilweise missbraucht wird, das auch zu Polemisierung führt, was der Sache nicht gerecht wird. Ich will Ihnen mal für meine Fraktion sagen: Glauben Sie nicht, dass wir uns solche Fragen leichtmachen. Wir tun uns sehr schwer damit, weil wir uns in einem ethisch und moralisch sehr schwierigen Bereich befinden. ({0}) Ich möchte ein Zweites konkret feststellen, auch weil das jetzt mehrmals anklang: Dass eine Frau, die in einer solchen Konfliktsituation steckt, jedes Recht auf Information hat, auch auf die Information, wer in ihrer Nähe einen Abbruch durchführen kann, das ist doch völlig unstreitig. Das sehen auch wir in der CDU so, meine Damen und Herren. ({1}) So schlecht, wie Sie es reden, ist es heute nicht. Ich weiß auch nicht, ob es unbedingt besser wird, wenn ich mich durch verschiedene Homepages von Ärztinnen und Ärzten klicken muss, statt auf einer gemeinsamen Liste die Information finden zu können, wer das macht. ({2}) Sie können das überprüfen – ich nehme einmal das Beispiel Berlin, weil wir uns hier befinden –: In Berlin können Sie auf der Internetseite der Senatsverwaltung über einen Reiter ganz einfach eine Liste abrufen und schauen, wer sich wo befindet; Sie können es sogar auf Google Maps anschauen. Wir haben es an ein paar Beispielen getestet: Jeder findet eine Adresse, die nicht weiter als 400 Meter von zu Hause entfernt ist. Das ist ein Beispiel dafür, dass es wunderbar funktioniert. Ich gebe zu: Es gibt Beispiele dafür – das wissen wir auch aus der Anhörung; das wurde uns berichtet –, dass es Frauen nicht so leicht gefallen ist, an solch eine Liste zu kommen. Da sind wir uns völlig einig: Das müssen wir verbessern. Nur, warum man daraus den Schluss ziehen soll, das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche zu streichen, das leuchtet mir an der Stelle in keiner Weise ein. ({3}) Eins kommt mir in dieser Debatte wirklich zu kurz: Das Selbstbestimmungsrecht auch der betroffenen Frau ist an dieser Stelle ein unglaublich hohes Gut. Da gebe ich Ihnen vollkommen recht. Aber wir haben jetzt mehrmals gehört, Frauenrechte seien unteilbar und seien nicht einschränkbar. Wir haben hier einen Konflikt verschiedener Grundrechte. Auf der einen Seite gibt es das Abwehrrecht der Frau auf Selbstbestimmung; auf der anderen Seite gibt es auch – das ist verfassungsrechtlich verankert – eine staatliche Schutzpflicht für das ungeborene Leben. Das dürfen wir an der Stelle nicht außer Acht lassen. ({4}) Deshalb haben wir ein Gesamtkonzept, in dem dieser Schutz eben nicht nur in § 218, sondern auch in den folgenden Paragrafen gewährleistet wird. Dazu gehört auch § 219a, der die unabhängige Beratung gewährleisten soll, der dafür sorgen soll, dass nicht die, die kommerziell daran verdienen, am Ende die Beratung durchführen und die Werbung machen. Diesen Paragrafen müssen wir an dieser Stelle aus meiner Sicht so erhalten, und die Informationsmöglichkeiten muss man irgendwo anders suchen. Ich habe jetzt schon ein paarmal gehört, dass das Urteil in Gießen, auch das zweitinstanzliche Urteil, der Beweis für die Verfassungswidrigkeit ist. Die Juristen, die vor mir gesprochen haben, wissen, glaube ich, alle: Wenn ein Gericht eine Norm für verfassungswidrig hält, dann wird sie dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Das hat in Gießen niemand gemacht, ({5}) und das hat auch jetzt keiner gemacht. Daher muss man davon ausgehen, dass diese Norm nicht verfassungswidrig ist. Wissen Sie, Frau Högl: Wir kommen mit der Gewaltenteilung eigentlich ganz gut zurecht. ({6}) Wenn dann ein Richter in seiner Begründung versucht, Politik zu machen, nicht bloß eine Norm anwendet – das hat er nämlich vorher gemacht – und dann sagt, welche Gesetzgebung er von uns gerne hätte, dann zeigt sich, dass er an der Stelle dafür nicht zuständig ist. ({7}) Die Diskussion gehört hier in den Deutschen Bundestag und nirgendwo anders hin. Ich rate uns allen gemeinsam, in der weiteren Diskussion ein bisschen verbal abzurüsten, uns hier nicht ständig gegenseitig Dinge zu unterstellen, die an keiner Stelle wahr sind. Wenn wir dann gemeinsam eine Regelung und eine Verbesserungsmöglichkeit finden, wie wir für Frauen in Konfliktsituationen echte und gute Informationen bekommen, und wenn wir dann vielleicht einfach mal gemeinsam diskutieren, an welcher Stelle die Rechtsetzung richtig wäre, dann kommen wir vielleicht zu einem vernünftigen Ergebnis. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der nächste Redner ist Dr. Johannes Fechner für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Am vergangenen Freitag – ich möchte es noch mal erwähnen – hat das Landgericht Gießen die Berufung der Gießener Ärztin Kristina Hänel verworfen. Sie wurde zu 6 000 Euro verurteilt. Und wieso? Nur weil sie auf der Homepage ihrer Praxis neben anderen medizinischen Dienstleistungen auch den Schwangerschaftsabbruch genannt und über einen Link „Schwangerschaftsabbruch“ eine Datei zum Download angeboten hatte, die allgemeine Information zum Schwangerschaftsabbruch sowie zur Durchführung und zu den Methoden in ihrer Praxis enthielt. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann nicht sein. Wenn jemand über legales Tun sachlich informiert, dann halte ich es für verfassungswidrig, dieses legale Tun unter Strafe zu stellen. ({0}) Das müssen wir beenden. Wir sollten § 219a StGB streichen. Wir wollen keinen strafrechtlichen Druck auf Ärztinnen und Ärzte, sondern wir wollen Rechtssicherheit für Ärztinnen und Ärzte. ({1}) Nun wird in der Tat eingewandt, es sei verfassungsrechtlich notwendig, § 219a zu haben. Da möchte ich daran erinnern, dass die ganz große Mehrheit der Experten in der Sachverständigenanhörung das anders gesehen hat und ganz klar ausgeführt hat, dass die Streichung des § 219a keine verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten aufwirft, dass man das machen kann, weil es schlicht keinen Grund gibt, diese Vorschrift weiterzuführen. ({2}) Genau deshalb hat die SPD-Fraktion diesen Antrag gestellt. Auch wir wollen die Streichung dieses Paragrafen, und wir haben ihn eben nicht zurückgezogen. Wir haben stattdessen gesagt: Die Bundesregierung soll jetzt einen Vorschlag unterbreiten. Auf den warten wir, natürlich nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag; denn es mehren sich ja Tag für Tag die Anzeigen gegen Ärztinnen und Ärzte. Wir haben hier großen Handlungsbedarf. ({3}) Im Übrigen, auch wir wollen keine reißerische Werbung für Schwangerschaftsabbrüche. Ein Schwangerschaftsabbruch, das ist keine normale medizinische Behandlung; keine Frage. Deswegen wollen auch wir kein marktschreierisches Anpreisen von Schwangerschaftsabbrüchen. Das gibt es aber auch gar nicht. Vor allem: Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Frauen gibt, die sich von solcher Werbung tatsächlich verleiten lassen würden. Also, wir haben gar kein praktisches Strafbedürfnis für diese Vorschrift. ({4}) Genau deshalb haben auch viele unserer Nachbarländer, etwa die Schweiz, Österreich, Frankreich, Dänemark, Finnland, keine solche Vorschrift. Vielen Befürwortern des § 219a geht es nicht darum, Werbung für Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern, sondern darum, durch die Hintertür unsere liberalen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch zu kippen und auszuhebeln. ({5}) Sie wollen strafrechtlichen Druck auf die Ärztinnen und Ärzte ausüben, damit keine Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden; aber das machen wir nicht mit. Wir stehen zu unseren liberalen Schwangerschaftsabbruchsregelungen. ({6}) Wie geht es jetzt weiter? Bei aller Kompromissbereitschaft ist für uns eins klar: Wenn ein Regierungsvorschlag nur vorsehen sollte, dass in Beratungsstellen Kontaktdaten von Ärztinnen und Ärzten zur Verfügung gestellt werden, dann ist uns das zu wenig. ({7}) Wir wollen den strafrechtlichen Druck von den Ärztinnen und Ärzten nehmen. Deshalb muss mindestens der Tatbestand des § 219a deutlich reduziert werden. Am besten muss diese Vorschrift ganz gestrichen werden. ({8}) Wir müssen den strafrechtlichen Druck von den Ärztinnen und Ärzten nehmen. Als Sozialdemokrat bin ich immer chronisch optimistisch. Deshalb habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass die Bundesregierung im Herbst, und zwar im Herbst 2018, einen Vorschlag vorlegt, der mindestens den Tatbestand des § 219a deutlich reduziert. Ansonsten finde ich, dass die Abstimmung bei dieser wichtigen ethisch-moralischen Entscheidung freigegeben werden sollte. ({9}) Ich finde, die Diskussion über Sterbehilfe war eine Sternstunde des Parlamentes. Das war wirklich eine tolle Diskussion. Ich finde, es gibt genügend Gründe, hier genauso vorzugehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Wir müssen den strafrechtlichen Druck von den Ärztinnen und Ärzten nehmen. Es besteht großer Handlungsbedarf. Ich glaube, dass dieser Handlungsbedarf hier eine Mehrheit im Bundestag finden wird. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mich heute durchaus darauf eingestellt, dass wir eine emotionale Debatte führen. Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich bin schon durchaus irritiert, wie unsachlich und, Entschuldigung, auch falsch da an mancher Stelle argumentiert wird und wie zum Teil Äpfel mit Birnen verglichen werden. Da verweist die Kollegin Högl nach Irland ({0}) und sagt: Super! Daran sollten wir uns orientieren. – Ich darf darauf hinweisen, dass wir eine Rechtslage wie die in Irland zum Glück schon lange nicht mehr haben. Bei uns gibt es schon lange § 218 StGB. In Irland waren bis dato Schwangerschaftsabbrüche unzulässig und strafbar, selbst wenn Schwangerschaften aus Vergewaltigungen stammten – und Sie vergleichen das hier! Die Kollegin Schauws spricht dann von drei Tagen, die eine Frau warten muss, bis sie einen Beratungstermin hat. Da muss ich ganz ehrlich sagen: Sie bringen es komplett durcheinander. Wir reden von drei Tagen zwischen Beratung und ärztlichem Eingriff. Wenn man sich dann die schriftlichen Begründungen der Gesetzentwürfe anschaut, dann stellt man fest, dass es allerlei Falschbehauptungen gibt. Ich möchte einfach mal die Gelegenheit nutzen, das geradezurücken. Da heißt es dann: § 219a ist eine Norm aus der Nazizeit. – Dieser Begriff wird immer gern verwendet, um eine Regelung in Misskredit zu bringen. Tatsächlich stammt diese Norm aus dem Jahr 1933, aber noch verankert in der Weimarer Reichsverfassung. Im Übrigen wurde sie immer wieder durch legitim gewählte Gesetzgeber reformiert, und deswegen hat die Vorschrift nach wie vor ihre Daseinsberechtigung. Der Kollege Fechner sagte: Wir haben einen unerträglichen Zustand der Rechtsunsicherheit. ({1}) Ärzte wissen gar nicht, was sie machen sollen und machen sich dann strafbar. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, da sollten wir uns schon mal ehrlich in die Augen schauen, gerade wenn wir über den Fall in Gießen reden. Da reden wir über eine Allgemeinmedizinerin, die ganz genau gewusst hat – und auch heute weiß –, was sie darf ({2}) und was sie nicht darf, und sie macht es trotzdem anders. Da ist Rechtssicherheit vorhanden. ({3}) Die Regelung des § 219a ist klipp und klar. Sie ist im Übrigen kaum praktisch relevant, weil sie so klipp und klar ist. Ich habe mal nachgeguckt: Im Land Bayern gab es von 2000 bis 2017 eine einzige Anklage wegen Verstoßes gegen § 219a. ({4}) Es trägt auch nicht, zu sagen: Die Norm steht Schwangerschaftsabbrüchen im Wege. ({5}) Ich darf mal an die traurige Zahl erinnern, dass wir in Deutschland jährlich immer noch über 100 000 Schwangerschaftsabbrüche haben.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Hoffmann, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Kubicki?

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, sehr gern sogar.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001235, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Werter Herr Kollege, ich habe eigentlich zwei Fragen, die ich konzentriert stellen will. Die erste Frage: Wie lange, glauben Sie, braucht die CDU/CSU-Fraktion, um sich über eine Reform des § 219a sinnvollerweise Gedanken zu machen? ({0}) – Ich will jetzt auf die Zwischenrufe von der Seite nicht reagieren – das machen wir bilateral –; aber: Ich war an den Fernsehschirmen so wie viele andere interessierte Leute auch. Zweite Frage, die ich stellen will – so kompliziert ist der Tatbestand des § 219a eigentlich gar nicht –: Warum darf ein Arzt einen anderen Arzt über eine Beratungsstelle informieren, straflos, aber seine Patientinnen nicht? ({1})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kollege Kubicki, danke für die Fragen. – Bei der Frage eins ist es so: Sie gehen automatisch von einem Reformbedarf aus. Da will ich mal vorwegschicken: Das ist die neue Rolle der FDP. Sie zeigen die ganze Zeit mit dem liberalen Zeigefinger auf das, was alles verändert werden muss. – Bei der Gelegenheit will ich einfach mal darauf hinweisen, dass Sie vor einem Jahr die historische Chance gehabt hätten, ({0}) sich an der Regierung zu beteiligen und die Dinge in diesem Land zu gestalten. Ich erlaube mir den Hinweis: Diese Chance haben Sie verpasst. ({1}) Ein zweiter Punkt ist mir wichtig. Sie stellen in den Raum: Reformbedarf – ja. Vor Ihnen steht jemand, der sagt: Reformbedarf – nein. Denn bei § 219a, liebe Kolleginnen und Kollegen, reden wir über Lebensschutz. Das kommt hier in der Debatte überhaupt nicht vor. Es wird einfach vom Tisch gewischt. ({2}) Deswegen möchte ich um Verständnis werben, wenn wir als Volkspartei versuchen, dieses ganz breite Spektrum abzubilden. Da sind dann auch Leute wie ich dabei, die sagen: § 219a ist vom Konstrukt sehr gut. Jetzt zu Ihrer zweiten Frage. Die Idee ist, dass derjenige, der berät, unabhängig sein soll. Bei diesem wichtigen Thema Lebensschutz ({3}) wollen wir Unabhängigkeit dadurch sicherstellen, dass der, der berät, nicht derjenige sein darf, der am Ende des Tages Geld verdient. ({4}) Genau deswegen kommt es am Schluss zu der Konstellation, die Sie geschildert haben. ({5}) Dann wird in der Debatte teilweise argumentiert: § 219a schränkt das Recht auf freie Arztwahl ein. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, an keiner Stelle! Jeder kann sich seinen Arzt selbst aussuchen. ({6}) Im Übrigen: Gehen wir doch mal in die Lebenswirklichkeit! Bei jedem planbaren Eingriff ist es heute so, dass man sich die Ärzte nach Empfehlung, sei es durch einen Allgemeinarzt oder andere Informationen, oder nach Gesprächen aussucht. Im Übrigen – das ist wichtig –: Der Vergleich hinkt deswegen, weil wir hier nicht über einen ärztlichen Eingriff wie jeden anderen ärztlichen Eingriff reden; es ist ein ärztlicher Eingriff gegen ungeborenes Leben, und deswegen gelten dort andere Regelungen. ({7}) Genau aus diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht die staatliche Schutzpflicht gegenüber dem ungeborenen Leben manifestiert. Das ist eine grundrechtliche Institution. ({8}) Das Bundesverfassungsgericht sagt: Ein Schwangerschaftsabbruch darf nichts Normales sein; er darf nicht kommerzialisiert werden. – Das ist fast O-Ton. Deswegen bitte ich Sie um Verständnis für meine Haltung. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Gestatten Sie mir den Hinweis: Aufgrund der Thematik und natürlich auch der Emotionalität der Debatte haben wir alle Kurzinterventionen und Fragen zugelassen. Ich gehe davon aus, dass nicht nur ich hier im Präsidium mit dem Aufruf des Tagesordnungspunktes 13 und des Zusatzpunktes 4 wieder auf unsere Verabredungen zurückkomme, dass wir die festgelegten Redezeiten und die Limitierung von Kurzinterventionen und Fragen zu späterer Stunde einhalten, sondern dass das auch die mir nachfolgenden Kolleginnen und Kollegen im Präsidium tun.

Ingo Wellenreuther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003658, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute beschäftigen wir uns zum dritten Mal im Deutschen Bundestag mit dem Projekt „Forum Recht“ in Karlsruhe, nachdem in den letzten beiden Jahren Gelder für eine Machbarkeitsstudie und für Sachverständigenanhörungen in den Bundeshaushalt eingestellt wurden. Aber bekanntlich sind ja aller guten Dinge drei. Worum geht es heute im Wesentlichen beim Forum Recht? Dieses großartige Projekt „Forum Recht“ in Karlsruhe ist ein Projekt des Parlaments – verankert im Koalitionsvertrag, mitinitiiert von einem Initiativkreis in Karlsruhe, unterstützt durch das Bundesverfassungsgericht, den Bundesgerichtshof und die Bundesanwaltschaft, getragen von der Zivilgesellschaft und allen Fraktionen im Deutschen Bundestag mit Ausnahme der AfD. Inhaltlich geht es darum, dass in einem Informations-, Kommunikations- und Dokumentationszentrum vor Ort in Karlsruhe, aber auch im virtuellen Raum der Bevölkerung die Möglichkeit gegeben werden soll, zu erfahren, dass der Rechtsstaat das Rückgrat unserer Demokratie ist und wie sehr das Recht unseren Alltag prägt sowie unsere persönliche Freiheit schützt. Gerade diese Bedeutung von Recht, Justiz und Rechtsstaat ist vielen nicht bewusst und muss in Zeiten wie diesen, in denen Feinde des Rechtsstaates, und zwar Links- und Rechtsextremisten, den Rechtsstaat und seine Repräsentanten bekämpfen, deutlich gemacht werden, gerade auch angesichts besorgniserregender europäischer Entwicklungen in Ungarn, Polen und in der Türkei. ({0}) Dazu ist auf dem Gelände des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe ein circa 5 000 Quadratmeter großer Neubau vorgesehen. Dort soll neben einem klassischen Ausstellungsraum und einem Forum auch ein virtueller Raum entstehen, in dem Menschen in Gesprächen aufeinandertreffen und ihre Fragen, Wünsche und Visionen in Bezug auf das Thema „Recht und Rechtsstaat“ einbringen können. Knapp 100 Millionen Euro sind dafür vorgesehen; gut investiertes Geld, wie ich meine. Die Haushälter können es im November beschließen. Jetzt darf ich Ihnen sagen, warum dieses Forum Recht zwingend in Karlsruhe errichtet werden muss. Meine Damen und Herren, die Gründe liegen auf der Hand: Erstens. Karlsruhe steht seit über 65 Jahren als Symbol für den modernen und demokratischen Rechtsstaat. Die Deutschen sagen heute „Karlsruhe“ und meinen den Rechtsstaat damit; der „Gang nach Karlsruhe“ ist zum geflügelten Wort geworden. Das Forum Recht würde sich in Karlsruhe, in der „Residenz des Rechts“, neben dem BGH, der Bundesanwaltschaft und dem Bundesverfassungsgericht optimal einfügen. Zweitens. In Karlsruhe steht – das wissen nicht alle – die Wiege der Demokratie. Vor genau 200 Jahren wurde mit der Badischen Verfassung von 1818 die erste und freiheitlichste Verfassung auf deutschem Boden verabschiedet. Sie bildete die Grundlage für den Aufbau der Demokratie in Deutschland. Aber das Forum Recht soll auch weit über seinen Standort Karlsruhe hinaus für ganz Deutschland wirken und bundesweite Veranstaltungsreihen durchführen. Wir wollen heute deshalb zu Recht einen gemeinsamen Beschluss fassen, wonach im Wesentlichen der Deutsche Bundestag sich zur Gründung eines Forum Recht in Karlsruhe bekennt und dessen dauerhafte Finanzierung sichert. Daneben soll die Bundesregierung ein Realisierungskonzept vorlegen, der Bundestag eine öffentliche Anhörung durchführen und das Justizministerium die geeignete Rechtsform prüfen. Meine Damen und Herren, ich bin zuversichtlich, dass nach unserem heutigen zustimmenden Beschluss die letzten drei Aufgaben sehr schnell erledigt werden können. Denn: Ein Realisierungskonzept liegt mit der Machbarkeitsstudie eigentlich schon vor. ({1}) Eine öffentliche Anhörung im Bundestag ist eigentlich obsolet, weil viele Vorschläge der verschiedenen Akteure der Zivilgesellschaft bereits vorliegen; denn in einem ersten Symposium unterschiedlichster Fachleute und Bundestagsabgeordneter am 6. September dieses Jahres im Bundesverfassungsgericht sind diese bereits erörtert worden und in den Antrag eingeflossen. ({2}) Nach einem zweiten – bereits terminierten – Symposium am 6. Dezember 2018 im Bundesverfassungsgericht werden weitere Vorschläge einfließen. Aber gut: Doppelt hält besser. Soweit es dadurch zu keiner nennenswerten Verzögerung kommt, kann man das von mir aus auch noch machen. Schließlich hat das Justizministerium bereits im September dieses Jahres in einem Gutachten eine Stiftung des öffentlichen Rechts als geeignetste Rechtsform identifiziert. Deshalb würde es mich freuen, wenn wir ein entsprechendes Stiftungsgesetz noch in diesem Jahr im Bundestag beschließen können. Dazu liegt bereits ein guter Vorschlag auf dem Tisch. Meine Damen und Herren, Sie sehen also: Die vor wenigen Tagen bei einigen Fraktionen ausgebrochene Hektik hinsichtlich der Antragsformulierung war eigentlich vollkommen überflüssig – übrigens genauso wie eine Außenstelle des Forum Recht irgendwo in Deutschland. ({3}) Vieles von dem, was wir heute beschließen zu tun, ist bereits vorbereitet, Frau Keul. Deswegen wäre es am besten gewesen, wir hätten uns auf den hervorragenden Antrag verständigt, den der Kollege Carsten Körber bereits ausgearbeitet hatte. Trotzdem: Die Unionsfraktion stimmt dem vorliegenden Antrag heute mit großer Freude zu. Bald werden wir wirklich allen Grund haben, gemeinsam zu feiern, nämlich die Errichtung eines überragend wichtigen Projekts für den Rechtsstaat in Deutschland: das Forum Recht in Karlsruhe. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Wellenreuther. – Guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen. Nächster Redner: Thomas Seitz für die AfD-Fraktion. ({0})

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist kurios, dass wir heute über zwei Anträge diskutieren, die inhaltlich vollständig identisch sind. Hintergrund ist offenbar, dass die Linken von den übrigen beteiligten Fraktionen boykottiert wurden. Es kommt offensichtlich für die Mehrheit dieses Hauses nicht darauf an, was jemand sagt, sondern wer es sagt. Allein dieser entlarvende Umstand bringt den Zustand unserer Gesellschaft und damit auch unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung auf den Punkt. Es geht nicht um Werte und Rechtsgüter, sondern um Gesinnung. Und das, meine Herren und meine Damen, ist schäbiger als jede Form von Populismus. ({0}) Zum Antrag selbst. Es geht um ein „Kommunikations-, Informations- und Dokumentationsforum“ mit drei „interagierenden ‚Denk- und Handlungsräumen’“ – schönes Geschwurbel. „Recht und Rechtsstaatlichkeit sollen in einem spezifisch gestalteten öffentlichen Raum … erlebbar werden.“ In der Machbarkeitsstudie werden die Gesamtbaukosten auf 75 Millionen Euro und die jährlichen Betriebskosten auf rund 5,8 Millionen Euro geschätzt. Nach Elbphilharmonie, Stuttgart 21 und Berliner Flughafen wissen wir alle, was diese Schätzungen wert sind: nichts. ({1}) Wir rechnen also mit Gesamtkosten von mindestens 100 Millionen Euro sowie jährlichen Betriebskosten von mindestens 8 Millionen Euro. Für die ersten zehn Jahre bedeutet dies also in der Summe 180 Millionen Euro für ein weiteres Museum. Von mir aus nennen Sie es „Museum 4.0“, dann ist wenigstens die FDP glücklich. ({2}) Ein solches Museum braucht es aber nicht; denn der Raum, in dem Recht und Rechtsstaat erlebbar und begreifbar sind, existiert längst. Manche nennen diesen Raum ein „mieses Stück Scheiße“, die meisten Menschen nennen diesen Raum dagegen genauso wie wir von der Fraktion der AfD einfach „Deutschland“, „Heimat“ oder „Vaterland“. ({3}) Der Bürger erlebt tagtäglich, ob sich die Regierung an die Gesetze hält oder nicht. Der Blick auf einen beliebigen Bahnhof in Deutschland reicht aus, um zu begreifen, dass seit über drei Jahren Artikel 16a Grundgesetz von der Bundesregierung mit Füßen getreten wird. ({4}) Am Kölner Hauptbahnhof hatte das am Montag schon wieder beinahe tödliche Folgen. Das von einem syrischen Terroristen in Brand gesteckte Mädchen wird sein Leben lang an seinen erlittenen Verletzungen zu leiden haben. ({5}) Der Bürger, der Bauchschmerzen hat, wenn seine Frau abends alleine zum Joggen geht, spürt unmittelbar, dass Leben, Gesundheit und Freiheit seiner Liebsten nicht mehr ausreichend geschützt werden, ({6}) und zwar deshalb, weil die dafür Verantwortlichen es nicht können, es nicht für wichtig halten oder es vielleicht auch gar nicht wollen. Der Bürger, der erleben muss, wie herabsetzende Äußerungen im Internet ausufernd verfolgt und drakonisch bestraft werden, während Vergewaltiger mit Bewährungsstrafen davonkommen, ({7}) braucht kein Museum, um zu begreifen, dass unser Rechtssystem völlig aus dem Gleichgewicht geraten ist und es in immer stärkerem Umfang nur noch darum geht, die offiziell gewünschte Gesinnung durchzusetzen. ({8}) Über den Umfang der Aufgaben eines Staates kann man streiten. Oft ist da weniger mehr. Aber alle Befürworter sind sich einig: Der Schutz der Staatsgrenzen nach außen, ({9}) der Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum sowie die Gewährleistung einer unabhängigen Justiz sind unverzichtbar. Wenn der Staat dies nicht mehr leisten kann oder will, dann wird die Staatsgewalt zum Unterdrückungsinstrument. ({10}) Ich erinnere Sie an ein Zitat: „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande“. Vor fast genau sieben Jahren hat Papst Benedikt Ihnen diese Erkenntnis des Kirchenvaters Augustinus in seiner Ansprache an das Hohe Haus ins Stammbuch geschrieben. Bewirkt hat dies nichts; ({11}) denn 2011 war Deutschland im Vergleich zu heute noch fast vorbildlich in puncto Rechtsstaatlichkeit. Noch 2011 wäre es auch von einer – angesichts bevorstehender dramatischer Wahlverluste in Panik geratenen – Staatspartei CSU als offensichtlich unverhältnismäßig erkannt worden, wegen des Verdachts auf Sachbeschädigung mittels abwaschbarer Sprühkreide und Kunstblut mit oberster polizeilicher Priorität eine Vielzahl von Hausdurchsuchungen durchzuführen. ({12}) Ich komme zum Schluss. ({13}) Liebe Kollegen aller Fraktionen, wenn Sie 180 Millionen Euro zur Förderung des Rechtsstaats übrig haben, dann stellen Sie diese Mittel bitte den Ländern zur Verfügung, damit diese die Ausstattung von Justiz und Polizei verbessern. ({14}) Denn, liebe Kollegen, vor allem aber Sie auf der Regierungsbank, die fast leer ist: Den Rechtsstaat muss man leben, anstatt ihn in einem popkulturellen Propagandamuseum auszustellen. ({15})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächster Redner: Dr. Johannes Fechner für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Dass unser Rechtsstaat lebt und funktioniert, können Sie daran sehen, dass mein Vorredner aus dem Beamtenstatus entfernt wurde. ({0}) Nicht nur in den USA, sondern auch in Polen, in der Türkei oder in Ungarn ist der Rechtsstaat unter Druck geraten. Auch bei uns in Deutschland gibt es leider antirechtsstaatliche Tendenzen. ({1}) Leider gibt es bei uns auch immer mehr Bürgerinnen und Bürger, deren Vertrauen in den Rechtsstaat nicht mehr unbegrenzt ist. Der Abgasskandal ist dafür ein Beleg. Wenn wir also in einer Zeit leben, in der Bürgerinnen und Bürger leider das Vertrauen – zumindest ein Stück weit – in den Rechtsstaat verlieren oder sogar offen gegen ihn vorgehen, dann ist es umso wichtiger, den Bürgerinnen und Bürgern die Vorteile des Rechtsstaates und die Werte des Rechtsstaates anschaulich darzustellen. Genau dafür ist das Forum Recht ein spannender und geeigneter Ort. Deshalb haben wir in der SPD von Anfang an die Gründung dieses Forum Recht unterstützt. Es freut uns sehr, dass wir heute hier im Bundestag den Grundsatzbeschluss für das Forum Recht fassen und damit den Startschuss für die Einrichtung dieser wichtigen Institution geben können, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Uns in der SPD hat es sehr gefreut, dass eine hochkarätig besetzte Gruppe in Karlsruhe das Projekt eines Forum Recht in Karlsruhe auf dem Gelände des Bundesgerichtshofes initiiert hat. Es ist einmal mehr zu loben und hervorzuheben, dass aus der Mitte unserer Zivilgesellschaft dieser Impuls kam und entwickelt worden ist. Deshalb an dieser Stelle auch ein herzlicher Gruß und ein großes Dankeschön an alle, die in Karlsruhe im Initiativkreis für das Forum Recht tätig sind und in der Regel ehrenamtlich mitgearbeitet haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Mir gefällt am Forum Recht besonders, dass es kein reines klassisches Museum werden wird, sondern eine Stätte der Diskussion, in der die Vorteile des Rechtsstaates anschaulich und direkt erlebbar mit vielen virtuellen Angeboten und Rollenspielen dargestellt werden und wo für die Werte des Rechtsstaats geworben wird. Das geschieht nicht nur in Karlsruhe, sondern sollte, wie ich finde, auch an einem weiteren Standort, in Leipzig, und bundesweit mit einer Wanderausstellung geschehen. Ich halte es für richtig, dass wir bundesweit für den Rechtsstaat werben. So können wir deutschlandweit zeigen, wie wichtig ein funktionierender Rechtsstaat für eine freie Gesellschaft ist. Gerade vor dem Hintergrund unserer deutschen Geschichte können wir froh und stolz sein, in einem demokratischen Rechtsstaat zu leben und hierfür zu werben. Als Hauptsitz kann dabei – Kollege Wellenreuther hat es korrekt ausgeführt – nur Karlsruhe in Betracht kommen. Karlsruhe ist die Stadt des Rechts: Dort ist der Sitz des Bundesgerichtshofs und der des Bundesverfassungsgerichts; der Europäische Gerichtshof und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sind nicht weit entfernt, sodass auch ein rechtsstaatlicher Bezug zu Europa einfach darzustellen ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ein gutes Zeichen, dass dieses Anliegen gleich von fünf Fraktionen – SPD, Grüne, FDP, Linke und Union – geteilt wird. Es mag sein, dass die letzten Tage der Vorbereitung etwas holprig waren; das will ich ausdrücklich einräumen. Aber jetzt schaffen wir mit diesem Grundsatzbeschluss eine Basis für das Forum Recht und können, insbesondere in den jetzt anstehenden Haushaltsberatungen im November, diese Einrichtung auch finanziell absichern. Das Forum Recht wird ein Projekt der Zivilgesellschaft bleiben. Auf Basis der Vorschläge, die in Karlsruhe vom Initiativkreis ausgearbeitet werden und auch schon ausgearbeitet sind, wird das Justizministerium ein Realisierungskonzept erstellen. Ich freue mich, dass dies auch für die Bundesjustizministerin eines der wichtigsten Themen ist. Ich freue mich, dass Sie sich klar für dieses Projekt entschieden haben und es auch unterstützen. Es ist gut, dass das Justizministerium dabei eine koordinierende und keinesfalls eine bevormundende Rolle einnehmen wird. Um es ganz deutlich zu sagen: Wie das Forum Recht in Karlsruhe dann im Detail ausgestaltet wird, wird ganz entscheidend vom Unterstützerkreis und vom Initiativkreis aus Karlsruhe mitbestimmt werden. ({4}) Lassen Sie uns gemeinsam dieses wichtige Projekt vorantreiben und den heutigen Grundsatzbeschluss für das Forum Recht in Karlsruhe und Leipzig und für die bundesweite Ausstellung fassen. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Fechner. – Nächster Redner: Dr. Stefan Ruppert für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Justitia ist bekanntlich blind. Deswegen war es hochinteressant, zu sehen, wie sich führende deutsche Zeithistoriker und Rechtshistoriker in einem Symposium immer wieder Gedanken gemacht haben, wie man Recht darstellt. Wann sind Zensuren richtig? Welchen Raum müssen Diskurse, Debatten über Recht haben? Wir alle merken doch in der Gesellschaft, dass die Leute den Eindruck haben, dass das Recht manchmal der Macht weichen muss. Deswegen erscheint es uns sehr sinnvoll, einen solchen Ort des Diskurses über Recht, aber auch eine gewisse Rechtsikonografie, das gegenständliche Erfahrbarmachen von Recht, einzurichten. Wir begrüßen also die gesellschaftlichen Initiativen für dieses Forum. ({0}) Es ist eine partizipative, von unten entstandene Bewegung, eine Initiative, die angesichts der Kulturhauptstadt Europas entstanden ist. Bürger dieser Stadt haben einen Verein gegründet, Satzungen verfasst, Fördermittel beschafft. Sie haben das Bundesverfassungsgericht, die Präsidentin des Bundesgerichtshofs, die Bundesanwaltschaft und ganz viele Akteure der Zivilgesellschaft davon überzeugt, dass ihre Stadt einen solchen Ort braucht. Dann haben wir als Parlament gesagt: Wir wollen eine gesamtparlamentarische Initiative entwickeln. Wir wollen uns aus der Mitte dieses Raumes dafür engagieren. Was ist in den letzten Tagen geschehen? Wegen schlechter Kommunikation – das muss man leider sagen – haben wir diesem Vorgang eine Art Verstaatlichung, eine exekutive Prägung aufgesetzt; das finde ich schade. ({1}) Obwohl mehrere Wissenschaftler Machbarkeitsstudien und Ideen entwickelt haben, eine Kreativität im Raum war, haben wir gesagt: Wir beauftragen – zwar unter Beachtung dieser Ideen – das Bundesjustizministerium, eine Studie zu erstellen. Ich habe in den letzten Tagen viele frustrierte Rückmeldungen aus Karlsruhe bekommen. ({2}) Ich kann das verstehen. Aber ich kann aus Gesprächen mit Fraktionen der SPD, Grünen und CDU/CSU sagen: Wir werden dafür sorgen, dass diese Initiativen weiter Beachtung finden. Wir werden ihre Ideen aufnehmen und beachten. Wir werden sie nicht an den Rand drängen. Es ist ein partizipatives, ein parlamentarisches Projekt, und das werden wir uns auch nicht nehmen lassen. ({3}) Ich glaube, es ist eine verpasste Chance, das Selbstbewusstsein des Parlaments einmal etwas stärker zu dokumentieren. Es ist anscheinend der Wunsch einiger, es dann doch stärker in exekutive Hände zu legen. Ich glaube, das hätte das Projekt gar nicht gebraucht. Alle Vorbereitungshandlungen waren getroffen. Wir waren mehrfach vor Ort und haben uns davon überzeugt. Insofern wünsche ich mir, dass es eine dauerhafte Finanzierung des Forum Recht gibt; darauf sollten wir uns im Haushaltsausschuss jetzt konzentrieren. Vielleicht sollten wir uns auch noch mal zusammensetzen und den Austausch suchen. Ich glaube nämlich, dass wir ein sehr ähnliches, ich würde sagen: gemeinsames Verständnis dieser Institution haben und in der Sache gar nicht so weit auseinanderliegen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihre und Ihre und Ihre Fraktion das eher zu einer Art Staatsmuseum machen und diesen partizipativen Gedanken verdrängen wollen. Daran glaube ich nicht. Insofern bin ich voller Optimismus, dass in Zukunft Menschen erfahrbar erleben können, wie Recht funktioniert, welcher Segen es ist, dass wir Gewaltenteilung und eine funktionierende Rechtsstaatlichkeit haben. Sie ist nie perfekt; aber sie ist eine der größten Errungenschaften. Und eine freiheitliche Gesellschaft braucht Rechtsstaatlichkeit und Demokratie; beides gehört untrennbar zusammen. Insofern bin ich froh, dass das Forum Recht kommt. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Ruppert. – Nächster Redner: Niema Movassat für die Fraktion Die Linke. ({0})

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden über die Gründung des Forum Recht, einer Informations- und Kommunikationsplattform zu aktuellen Fragen von Recht, Justiz und Rechtsstaat. Eigentlich herrscht bei dem Thema ja große Einigkeit hier im Haus. ({0}) Und eigentlich sollte es auch einen gemeinsamen Antrag aller demokratischen Fraktionen geben. Das steht auch in einem Brief vom 6. Juli 2018, den Haushaltspolitiker der Union, SPD, Grünen, FDP und eben auch der Linken an die Richterin am Bundesverfassungsgericht Susanne Baer verfasst haben. Während also dem Initiativkreis des Forum Recht, dem auch die Präsidentin des BGH, Bettina Limperg angehört, eine gemeinsame Initiative angekündigt wurde, haben Sie jetzt Die Linke einfach vom Antrag gestrichen. ({1}) Und das, obwohl mein Kollege Victor Perli, der dem Haushaltsausschuss angehört, das Projekt von Anfang an mit vorangetrieben hat. ({2}) Ihr Verhalten, werte Kolleginnen und Kollegen von Union, SPD, Grünen und FDP, ist schlechter Stil – gegenüber uns und dem Forum Recht. ({3}) Ich weiß, dass es an der Union liegt, die sagt: Nur ohne Die Linke. – Aber dann müssen die anderen doch mal ordentlich Kontra geben. Das muss doch möglich sein, verdammt noch mal. ({4}) Weil wir als Linke das Forum Recht unterstützen, haben wir heute einen wortgleichen Antrag dazugelegt. Zum Thema selbst: Das Forum Recht soll die Bedeutung des Rechtsstaats für unsere Demokratie erfahrbar machen. Unser Grundgesetz ist ein Gegenentwurf zum nationalsozialistischen Unrechtsstaat. Das zeigt sich deutlich in Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Artikel 1 wird flankiert von Artikel 20 Absatz 3 Grundgesetz: Danach ist alle Staatsgewalt an Recht und Gesetz gebunden. Beide Artikel unterliegen der Ewigkeitsklausel und sind nicht veränderbar. Das zeigt die immense Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit für unser Land. Rechtsstaatlichkeit bedeutet eben auch, dass sich der Einzelne gegen staatliches Handeln wehren darf, unabhängig von der Staatsbürgerschaft. Deshalb ist es zum Beispiel fatal, dass Herr Dobrindt von der CSU den Begriff „Anti-Abschiebe-Industrie“ verwendete; denn es ist das gute Recht eines Asylbewerbers, gegen seinen Asylbescheid vorzugehen. ({5}) Dem Rechtsstaat schadet es auch, wenn NRW-Innenminister Reul, CDU, fordert, die Justiz möge nach dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entscheiden. Nein, die Justiz soll nach Recht und Gesetz Urteile fällen. ({6}) Unser Grundgesetz zeichnet sich durch die zentrale Bedeutung der Grundrechte aus: Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Diskriminierungsverbot, um nur einige zu nennen. Die Grundrechte werden immer häufiger von Rechtsradikalen wie der AfD infrage gestellt. Journalisten, die ihre Pressefreiheit ausüben, nennen Sie Lügenpresse. Muslimen wollen Sie die Religionsfreiheit entziehen, Schwule und Lesben diskriminieren und auf Flüchtlinge an der Grenze schießen. Auch die Rede von Herrn Seitz heute hat wirklich gezeigt, wie notwendig das Forum Recht für Ihre Weiterbildung ist. ({7}) Da lernen Sie dann auch, dass das Grundgesetz ein Bollwerk gegen Ihre Unmenschlichkeit ist. Meine Damen und Herren, es ist gut, dass neben Karlsruhe Leipzig als zweiter Standort für das Forum Recht angedacht wird; denn wir sollten nicht vergessen, dass neue staatliche Institutionen auch im Osten angesiedelt werden sollen. Das hat auch etwas mit gesellschaftlicher Gerechtigkeit zu tun. Für Leipzig spricht nicht nur, dass das Bundesverwaltungsgericht dort seinen Sitz hat. Vielmehr spricht auch die Geschichte für diesen Standort. Auch das Reichsgericht hatte seinen Sitz in Leipzig. In dessen Gebäude sitzt heute das Bundesverwaltungsgericht. Das Reichsgericht wurde zum Symbol nationalsozialistischen Unrechts, zum Beispiel als es den Kommunisten van der Lubbe zum Tode verurteilte, weil er angeblich den Reichstag angezündet hatte. Das war ein rechtsstaatswidriges Urteil. Ein Forum Recht in Leipzig kann einen Beitrag in besonderer Form dazu leisten, das nationalsozialistische Unrecht aufzuarbeiten. Deshalb wäre das ein guter zweiter Standort. Danke schön. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Niema Movassat. – Nächste Rednerin: Katja Keul für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der demokratische Rechtsstaat ist schnell und häufig in aller Munde. Er wird zitiert, mit ihm wird argumentiert. Jeder will ihn angeblich verteidigen. Es gibt in diesem Land nur noch ganz wenige Menschen, die sich an die Zeit vor dem demokratischen Rechtsstaat erinnern können. Die meisten sind damit aufgewachsen, dass er irgendwie schon immer da war. Trotzdem ahnen wir in letzter Zeit, dass es nicht immer selbstverständlich so bleiben wird. Wir blicken um uns herum und sehen, wie schnell die Dinge ins Rutschen geraten können, wenn der Konsens über den Rechtsstaat brüchig wird. Wir haben in der Türkei gesehen, wie in wenigen Monaten ein Rechtsstaat so abgewickelt werden kann, dass es eine ganze Richtergeneration brauchen wird, um ihn wieder aufzubauen. Wir blicken innerhalb Europas mit großer Sorge nach Polen und Ungarn. Letztlich merken wir auch in unserem eigenen Land, dass man den Wert des Rechtsstaats immer öfter wieder ausdrücklich erklären muss. ({0}) Wenn beispielsweise die Exekutive die Umsetzung von Urteilen verweigert oder Urteile trickreich verhindert und wenn dann noch Richterinnen und Richter beschimpft und bedroht werden, dann ist der Rechtsstaat in Not. ({1}) Der Rechtsstaat ist kein nettes Beiwerk der Demokratie; er ist das Rückgrat, das Fundament, auf dem die Demokratie erst gelebt werden kann. Ohne ihn wäre Demokratie die Diktatur der Mehrheit. Erst der Rechtsstaat stellt sicher, dass auch in einer Demokratie die Minderheiten vor der Mehrheit geschützt werden und Freiheit für alle möglich ist. ({2}) Es geht um nichts Geringeres als um das friedliche Zusammenleben der Menschen, um die Verhinderung willkürlicher Gewalt durch Gewaltenteilung, staatliches Gewaltmonopol und Justizgewährung. Um dieses Zusammenspiel der Gewalten im Rechtsstaat begreifbar und verständlich zu machen, brauchen wir eines auf keinen Fall: ein Museum für den Rechtsstaat. ({3}) Wir wollen mit dem Forum Recht das gesellschaftliche Bewusstsein für den Rechtsstaat stärken. Die Ausstellungen sollen den Bürgerinnen und Bürgern die Funktionsweisen des Rechtsstaats erfahrbar machen und alle Beteiligten einbeziehen. Dazu gehören nicht nur die Gerichte und die Anwaltschaft, sondern auch die Zivilgesellschaft. Ich denke da beispielsweise an das Deutsche Institut für Menschenrechte, aber auch an Amnesty International. ({4}) Die bislang vorliegenden Konzepte sind daher erst einmal nur eine Diskussionsgrundlage. Damit das Forum Recht seinem Anspruch gerecht werden kann, müssen wir spätestens ab jetzt diese Konzepte hier im Deutschen Bundestag und vor allen Dingen im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages offen und transparent diskutieren. ({5}) Das ist, Kollege Wellenreuther und Kollege Ruppert, nicht obsolet. Vielmehr ist hier die Mitte des Deutschen Bundestages. Um es deutlicher zu sagen: Dies ist kein Karlsruher Wahlkreisprojekt, über das im Haushaltsausschuss entschieden wird, sondern es gehört hier in die Mitte des Deutschen Bundestages. ({6}) Deswegen ist es partizipativ, wenn wir uns dieses Projekt hier und heute wieder zu eigen machen. ({7}) – Wir waren nicht eingeladen. Weder die Mitglieder des Rechtsausschusses noch die rechtspolitischen Sprecher im Rechtsausschuss waren eingeladen, Herr Ruppert. Ich bin froh, dass es uns in letzter Minute gelungen ist, einen Konsens für ein gesamtdeutsches Projekt zu formulieren und neben Karlsruhe auch Leipzig als Standort ins Spiel zu bringen. Dass die Union mal wieder darauf besteht, die Fraktion Die Linke von diesem Antrag zu streichen, ({8}) belastet das Projekt leider zusätzlich. Sie haben doch jetzt eine neue Fraktionsführung. Da sollten Sie diese rückwärtsgewandte Verweigerungshaltung dringend mal neu diskutieren. ({9}) Ein Blick nach Thüringen zeigt, dass auch da der Rechtsstaat nicht zusammengebrochen ist, ganz im Gegenteil. Mit dem heutigen Beschluss wollen wir das Projekt dennoch gemeinsam auf den Weg bringen und den Startschuss für die weitere Ausgestaltung geben. Einen Blick in die Geschichte muss das Forum Recht dabei sicher auch ermöglichen; denn wer die Gegenwart gestalten will, muss auch die Vergangenheit kennen und begreifen. Wichtiger aber noch wird es sein, den Blick in die Zukunft zu werfen und sich auf die Auseinandersetzungen vorzubereiten, die es brauchen wird, um den Rechtsstaat und damit das friedliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft weiterhin zu ermöglichen. Vielen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katja Keul. – Nächster Redner in der Debatte: Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine demokratische und liberale Ordnung kann nicht ohne einen stabilen Rechtsstaat existieren. Das ist nicht irgendwie ein abstrakter Satz. Vielmehr ist das der Kern unserer rechtsstaatlichen und freiheitlichen Ordnung. Der Rechtsstaat sichert Gerechtigkeit, Fairness und Freiheit: im Großen und im Kleinen, ganz gleich, ob es um die Schlichtung von Nachbarschaftsstreitigkeiten geht, um Rechtsschutz gegen staatliches Handeln, um Verlässlichkeit von Sicherheit und Ordnung, ob es darum geht, sicher zu leben oder ob es um Grundrechtsbindung der Verwaltung oder Minderheitenschutz geht. Um diesen Rechtsstaat, den wir in Deutschland und in Europa unser Eigen nennen, beneiden uns viele Menschen in der Welt. Deshalb können wir auf diesen Rechtsstaat stolz sein und seine Errungenschaften auch klar und deutlich herausstreichen. Dazu dient das Forum Recht; darauf sollten wir stolz sein, meine Damen und Herren. ({0}) Ja, ein Forum Recht als Begegnungs- und Kommunikationsraum ist notwendig. Es gibt gute historische Vorbilder. Ich nenne zum Beispiel das Haus der Geschichte in Bonn, welches die großartigen Schritte der bundesdeutschen Werdung aufzeigt und Lust macht auf Demokratie und Föderalismus. Dieses Haus soll die Menschen an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit heranführen. Das soll nicht in einem belehrenden Sinne geschehen. Vielmehr sollen die Menschen zusammenkommen und gemeinsam Recht erleben und spüren. Ja, wir müssen auch darüber reden, wie wir den Rechtsstaat verteidigen können. Das ist aber nicht nur eine Frage der Politik und der Institutionen, sondern beginnt bei jedem Einzelnen. Jeder, der vom Rechtsstaat überzeugt ist, kann auch andere überzeugen, für Recht und Gerechtigkeit einzutreten. Deswegen ist es richtig, dass wir nicht nur ein Museum schaffen, sondern einen Raum, in dem sich Menschen finden und über Recht und Gerechtigkeit sprechen. Es ist vor allen Dingen wichtig, dass auch die junge Generation, dass Schulklassen, den Weg in dieses Forum Recht finden; denn die Begeisterung für eine Rechts- und Gerechtigkeitsordnung muss bereits früh angelegt werden. Ja, Karlsruhe ist der richtige Ort – nicht allein, weil es eine lange liberale, rechtsstaatliche Tradition hat, sondern weil im Sprachgebrauch vieler Deutscher Karlsruhe ein Synonym für Gerechtigkeit und für die Verwirklichung eines guten und gütigen Urteils geworden ist. Man sagt nicht umsonst: Dann gehe ich eben nach Karlsruhe. – Das zeigt, dass die Menschen großes Vertrauen in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs haben. Das wollen wir durch das Forum Recht untermauern. Es zeigt, dass wir eine starke föderale Ordnung haben, wenn ein Forum Recht nicht in der Hauptstadt entsteht, sondern 600 Kilometer von dieser entfernt in der Hauptstadt des Rechts. Ja, wir müssen auch einen Blick auf die neuen Bundesländer werfen, auf Leipzig und auf die Tradition des Reichsgerichts, welches über viele Jahrzehnte eine liberale Rechtsprechung geprägt hat, aber auch auf das Wirken von Strafgerichtssenaten in Leipzig und auf das Bundesverwaltungsgericht. Insgesamt, glaube ich, ist das Geld für diese Begegnungsstätte gut angelegt; denn wir müssen für diesen Rechtsstaat werben. Das geht durch Symbole. Die Justiz hat zwar eigene Symbole; aber wir müssen darüber hinaus ein klares und deutliches Zeichen setzen, dass wir in Zeiten, in denen der Rechtsstaat deswegen angegriffen wird, weil die Demokratie gemeint ist, diesen Rechtsstaat verteidigen. Dabei helfen auch solche Einrichtungen. Insofern bin ich froh, dass die Haushälter das aufgenommen haben und dass wir das in einer gemeinsamen Kraftanstrengung auf den Weg bringen. Deswegen bitte ich, diesem Antrag zuzustimmen. Herzlichen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Volker Ullrich. – Nächster Redner: Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Unser Grundgesetz ist ein Glücksfall. Es ist möglicherweise nicht die perfekte Verfassung, aber es ist die stabilste der deutschen Geschichte. Wenn man die Begeisterung hört, mit der das Forum Recht eingeführt und seine Notwendigkeit begründet wird, fragt man sich, wie es eigentlich die letzten 70 Jahre funktioniert hat, die Gesellschaft am Rechtsstaat zu beteiligen und ihr zu verdeutlichen, warum er gut ist und warum es gut ist, dass wir ihn haben. So wurde im Koalitionsvertrag die Investition von Steuergeldern versprochen, bevor sie hier überhaupt beschlossen wurde. Das Haus der Geschichte in Bonn wurde ja gerade erwähnt, das ganz gerne in eine Reihe mit dem Forum gestellt wird. Nur sind Museen dummerweise als Teil von Kultur und Justiz Ländersache. Aber mit dem Konzept des Forums, mit Coworking und diesen Dingen, von denen man da spricht, kann man das ganz geschickt umschiffen. Mit den veranschlagten 75 Millionen Euro ist das Forum damit dann auch gleich 10 Millionen Euro teurer als das Haus der Geschichte in Bonn. Aber die das Projekt befürwortende, schon erwähnte Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer sagt: Das sind Peanuts. Schaut man genauer auf die geplanten Inhalte des Forums, scheint unsere Geschichte mit all ihren Prägungen irgendwie erst 1949 zu beginnen. So werden grundlegende Einflüsse der Bismarckzeit auf unser heutiges Rechtssystem kleingeredet. Der Leser findet zwischen den Zeilen immer wieder agitatorische Einsprengsel, die eher an Belehrung als an Dokumentation denken lassen. In der Einführung wird nicht nur gegen Populismus im Allgemeinen, sondern zum Beispiel auch gegen Ungarn und Polen im Besonderen ausgeteilt. Wenn frühere Verfassungsrichter Entscheidungen dieses Hauses, die teilweise heute noch wirken, als Verstoß gegen unsere Verfassung deklarieren, dann sollten wir uns fragen, ob wir nicht ein bisschen zurückhaltender im Maßregeln unserer europäischen Nachbarn sein sollten. Angesichts des Hauptarguments „Stärkung der freiheitlichen Demokratie“ frage ich: Gibt es noch eine andere Demokratie? Angesichts des zweiten Arguments „Der Rechtsstaat muss erlebbar werden“ sage ich: Wer diesen Rechtsstaat erlebbar machen möchte, muss ihn stärken, indem er die Exekutive, die Judikative stärkt, zum Beispiel die Polizei mit sicherer Ausrüstung und vielleicht auch mit Pistolen, bei denen nicht nach drei Schüssen das Magazin herausfällt. Man kann das Geld aber auch nehmen, um ursprünglich gemachte Förderzusagen gegenüber der industriellen Gemeinschaftsforschung einzuhalten. Das alles wäre sinnvoll für die Zukunft unseres Grundgesetzes. Und für die Geschichte fahren wir alle gerne weiter nach Bonn. Vielen Dank.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Als nächste Rednerin Esther Dilcher für die SPD-Fraktion. ({0})

Esther Dilcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ein fraktionsübergreifender Antrag zum Thema „Forum Recht“ liegt uns vor. Damit wollen wir hier im Haus ein Bekenntnis dafür abgeben, wie wichtig uns unser Rechtsstaat ist. Der Rechtsstaat ist ein Staat, der gemäß seiner Verfassung das von seiner Volksvertretung, also vom Parlament, von uns, gesetzte Recht verwirklicht und sich der Kontrolle unabhängiger Richter unterwirft, um die Freiheit des Einzelnen zu sichern. In Abstimmung mit Bündnis 90/Die Grünen und FDP sowie den Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD soll dieses Projekt nun auf eine breite parlamentarische Basis gestellt werden. Aus meiner Sicht ist es bedauerlich, dass es nicht möglich war, Die Linke bei der Gestaltung und der Endabstimmung einzubeziehen. Das möchte ich hier persönlich als mein Statement abgeben. ({0}) – Ich weiß. – Das liegt daran, dass es nach meiner Kenntnis einen internen Beschluss der CDU/CSU-Fraktion gibt, gemeinsame Anträge mit der Fraktion Die Linke auszuschließen. Gleichwohl habe ich aber mit meinem Mitberichterstatter aus dem Haushaltsausschuss alle Schritte in diesem Verfahren bis zur Einbringung des Antrags kommuniziert. Ich begrüße es daher sehr, dass Die Linke diesem Antrag heute zustimmen wird. Das Projekt selbst geht zurück auf eine Initiative aus Karlsruhe und hat seinen Lauf bereits in der letzten Legislaturperiode begonnen, in der ich diesem Haus noch nicht angehört habe und in der über den Haushalt des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz eine Machbarkeitsstudie erstellt wurde. Noch einmal vielen Dank an das Haus! Das war auch vor Ihrer Zeit, Frau Ministerin. In diesem Jahr wurde ebenfalls aus Haushaltsmitteln des BMJV weiteres Geld eingestellt, um Symposien zum Forum Recht durchzuführen – auch in Karlsruhe. Deswegen möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich denen danken, die in Karlsruhe dieses Projekt unterstützt haben. Stellvertretend für alle seien hier die Präsidentin des Bundesgerichtshofs, Frau Bettina ­Limperg – heute schon mehrfach genannt –, die Richterin am Bundesverfassungsgericht Frau Professor Dr. Susanne Baer, der Karlsruher Oberbürgermeister Dr. Frank Mentrup sowie Frau Elke Sieber und Herr Daniel Wensauer-Sieber genannt, die das alle ehrenamtlich gemacht haben, eine Geschäftsstelle betrieben haben und sich um dieses Projekt gekümmert haben. ({1}) Die Menschen, die in dieser Initiative engagiert sind, zu denen noch viele andere gehören, haben dort mit viel Herzblut dieses Projekt entwickelt und wollen für unseren Rechtsstaat werben, weil sie gesehen haben, wie wichtig das in unserer heutigen Zeit ist, in der – es wurde auch schon angesprochen – viele diesen Rechtsstaat als selbstverständlich hinnehmen und gar nicht mehr wissen, was das eigentlich für eine Errungenschaft ist und wie wichtig es ist, dass wir auch als Einzelne in diesem Rechtsstaat geschützt werden, als Minderheiten geschützt werden können. Deswegen noch einmal herzlichen Dank! Dieses Projekt ist in Karlsruhe schon über viele Jahre gewachsen. Deshalb sollte es auch dort verwurzelt bleiben. Forum selbst bedeutet Marktplatz, nicht Museum, wie das hier vielfach angeklungen ist, auch nicht Museum 4.0. Vielmehr werden Ausstellungen stattfinden können, Workshops etc. pp. Auch das sollte man den Menschen vor Ort überlassen, die diese Initiative entwickelt haben. Man sollte weitere Anregungen aufnehmen und das Projekt nicht als Parlament an sich ziehen. Vielmehr sollte das Parlament weiterhin wohlwollend unterstützen. Ich freue mich darauf, wenn wir im Haushaltsausschuss den bis jetzt noch leeren Titel füllen können. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Esther Dilcher. – Letzter Redner in der Debatte: Carsten Körber für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Carsten Körber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004332, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin, liebe Frau Dr. Barley! Heute ist ein besonderer Tag: ein besonderer Tag für das Parlament und ein besonderer Tag für den Rechtsstaat in Deutschland. Denn heute werden wir im Deutschen Bundestag einen Grundsatzbeschluss zur Gründung eines Forum Recht in Karlsruhe beschließen, und das mit einer breiten, überfraktionellen Mehrheit. Damit setzen wir zweifelsohne ein Zeichen für den Rechtsstaat und bringen den breiten Konsens dieses Hauses zu den grundlegenden Fragen von Recht und Gerechtigkeit zum Ausdruck. Das ist die wahrlich gute Nachricht. Diese Debatte hier im Deutschen Bundestag wäre aber nicht möglich gewesen – verschiedentlich wurde es schon angesprochen – ohne den großen Einsatz der Karlsruher Zivilgesellschaft, die vor einigen Jahren die Idee, ein Forum für den Rechtsstaat, ein Forum für das Recht zu schaffen, wieder aufgegriffen hat und ihr neuen Schwung verliehen hat. ({0}) Allen Akteuren, die häufig in aufopferungsvoller Tätigkeit dieses Projekt vorangetrieben haben, gilt heute unser aller Dank. ({1}) Ich möchte mich aber auch bei meinen Kollegen aus dem Haushaltsausschuss bedanken, ganz besonders bei Markus Uhl als Berichterstatter für den Einzelplan 07, BMJV, und bei meinen Kollegen aus dem Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Liebe Elisabeth Winkelmeier-Becker, lieber Ingo Wellenreuther, ihr habt von Anfang an für dieses Projekt gebrannt. Ihr alle, Sie alle haben es letzten Endes ermöglicht, dass aus einem einfachen Brief, den der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes im September 2016 an mich als Berichterstatter für das Verfassungsgericht im Haushaltsausschuss geschickt hat, so ein großes nationales Projekt werden kann. Am Ende dieser Überlegungen steht nun ein Konzept für eine Institution, die es in vergleichbarer Form weder in Deutschland noch in Europa gibt. Wir alle hier im Hohen Hause haben nun eine besondere Verantwortung für das Gelingen. Jetzt gilt es, dieser Verantwortung auch gerecht zu werden. Der nächste große Schritt muss sein, dass das Forum Recht der bloßen Idee entwächst. Deshalb lassen Sie uns die breite Unterstützung nutzen, die das Forum Recht jetzt erfährt. Und vor allem: Lassen wir keinen Leerlauf entstehen, der für den weiteren Fortgang gefährlich werden könnte. Ich will es ganz offen ansprechen. Der vorliegende Antragstext ist zweifelsohne ein großer Schritt, aber er birgt auch in einigen Punkten die Gefahr, das Projekt vielleicht ohne Not zu verzögern. Ich meine, da wäre mehr drin gewesen. Hier hätten wir als Parlament ein Stück weit mutiger sein können. ({2}) Umso mehr sind wir jetzt alle in der Verantwortung, dranzubleiben und eine zügige Umsetzung nicht nur einzufordern, sondern auch zu unterstützen. So erwarte ich vom BMJV eine zügige Zuarbeit des Realisierungskonzeptes, möglichst bis Anfang nächsten Jahres. In der nächsten Sitzungswoche sind wir als Haushaltsausschuss gefragt, in der Bereinigungssitzung die nötigen Mittel einzustellen. Eines halte ich für absolut entscheidend: Wir müssen ein Stiftungsgesetz beschließen und die Stiftung Forum Recht gründen, damit diese Anfang nächsten Jahres ihre Arbeit aufnehmen kann. Die Vorschläge hierfür liegen bereits auf dem Tisch. Ein Gutachten des BMJV liegt ebenfalls vor. Also: Worauf noch warten? Lassen Sie uns gemeinsam und vor allem miteinander ans Werk gehen. Die Anstrengung lohnt sich. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Carsten Körber. – Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/5047. Zur Abstimmung liegt uns eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung vor. Ich frage Sie: Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen – ich mache es jetzt einmal geografisch – der Fraktion Die Linke, der SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der AfD angenommen. ({0})

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der AfD geht es in ihrem Antrag nicht um die Bekämpfung von Missbrauchsfällen. Es geht ihr auch nicht um mehr Gerechtigkeit. ({0}) Sie wollen nicht nur die Indexierung, Sie stellen das Kindergeld für alle Familien in Deutschland infrage. Das wird es mit uns nicht geben, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({1}) Ihr AfD-Kollege aus dem Finanzausschuss hat letzte Woche hier im Bundestag gegen die Kindergelderhöhung für Familien in Deutschland gesprochen. Man sollte Ihr Wahlprogramm einmal intensiver anschauen und prüfen, wie oft das Wort „Kindergeld“ darin vorkommt. Sie werden lange suchen: Kein einziges Mal ist dort das Wort „Kindergeld“ erwähnt. Weder als steuerliche noch als soziale Leistung findet es Erwähnung. Nein, der AfD geht es hier nicht um Gerechtigkeit. Im Gegenteil: Sie stellt unseren bewährten Sozialstaat infrage. Das ist mit der SPD nicht zu machen. ({2}) Das Wort „Kindergeld“ findet natürlich nur dann Erwähnung, wenn es dazu dienen kann, Menschen gegeneinander aufzuwiegeln. ({3}) Hier haben Sie das Thema Kindergeldindexierung herausgegriffen. Dazu drei Anmerkungen. Der Anteil der Auslandsüberweisungen für Kindergeld betrug im Jahr 2017 trotz Steigerung 0,96 Prozent. Davon sind 68 Prozent der Empfänger aus den direkt angrenzenden europäischen Staaten: aus Frankreich, aus Österreich, viele aus Polen. Die AfD nennt immer Rumänien und Bulgarien, um Ressentiments zu schüren. Aus Rumänien sind 9 Prozent. Aber man höre und staune: 7 Prozent deutsche Staatsbürger empfangen diese Leistungen für im Ausland lebende Kinder. Was Sie aber verschweigen, ist: Die Mehrkosten für dieses Bürokratiemonster, das Sie hier installieren wollen, wird den Steuerzahler teuer zu stehen kommen, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({4}) Die CSU mit Innenminister Seehofer hat einige Zeit die Auffassung vertreten, ein nationaler Alleingang sei möglich. Wir haben das sehr genau geprüft. ({5}) Es kam natürlich das heraus, was an sich schon klar war. Weder national noch europäisch ist eine Indexierung rechtlich möglich. Meine Damen und Herren der AfD, ich würde mir mehr Mut zur Wahrheit gegenüber den Familien wünschen. Denn eine nationale Lösung müsste konsequenterweise zu einer nationalen Indexierung des Kindergeldes führen. Sagen Sie doch den Familien, dass ihnen in Coburg, in Zwickau oder in Wolgast wegen niedriger Lebenshaltungskosten auch ein geringeres Kindergeld droht als in München, Hamburg oder Frankfurt. Das ist mit uns nicht zu machen. Uns ist jedes Kind gleich viel wert, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({6}) – Ja, getroffene Hunde bellen am lautesten. ({7}) So wurde in Österreich auch diskutiert. Es wäre sehr schön, wenn die Familien, denen Sie die Leistung kürzen wollen, den Zusammenhang sehen. ({8}) Wir profitieren von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Zuge der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die aus dem europäischen Ausland zu uns kommen. Diese Menschen arbeiten in der Pflege, auf dem Bau, als Ingenieure oder als Ärztinnen. Sie arbeiten hier, sie zahlen hier Steuern und Sozialabgaben. Sie tragen dazu bei, dass es in unserem Land läuft. Und Sie von der AfD wollen diesen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern pauschal ihren Anspruch auf Leistungen absprechen. Für uns gilt: Wer in unserem Land arbeitet und Steuern und Sozialabgaben zahlt, der oder die muss auch die gleichen Leistungen erhalten. Sozialdumping auf dem Rücken von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern werden wir nicht zulassen, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Schrodi. – Nächste Rednerin: Mariana Harder-Kühnel für die AfD-Fraktion. ({0})

Mariana Iris Harder-Kühnel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004736, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In den letzten zehn Jahren haben sich die Kindergeldüberweisungen auf ausländische Konten fast verzehnfacht. ({0}) Allein im vergangenen Jahr sind 343 Millionen Euro Kindergeld direkt auf ausländische Konten geflossen. ({1}) Seit unserer letzten Debatte vor der Sommerpause hat sich die Lage weiter verschärft. Im Juni 2018 wurde Kindergeld für knapp 270 000 Kinder gezahlt, die im EU-Ausland leben. Das ist eine Zunahme um mehr als 10 Prozent innerhalb von nur sechs Monaten. So kann das nicht weitergehen. ({2}) Allerdings ist diese Entwicklung nicht verwunderlich. Denn das aktuelle deutsche Kindergeld von rund 200 Euro je Kind erweist sich in Ländern wie Rumänien für viele Menschen als beinahe vollwertiges Monatsgehalt. ({3}) In Rumänien verdient man im Hotelwesen im Schnitt 260 Euro, im Baugewerbe 320 Euro pro Monat. Das deutsche Kindergeld für zwei Kinder liegt somit deutlich darüber. Daher warnen parteiübergreifend immer mehr Politiker vor einer wachsenden Migration in das deutsche Sozialsystem. Ich zitiere den früheren Vizekanzler Sigmar Gabriel, SPD: In manchen Großstädten gibt es ganze Straßenzüge mit Schrottimmobilien, in denen Migranten nur aus einem Grund wohnen: Weil sie für ihre Kinder, die gar nicht in Deutschland leben, Kindergeld auf deutschem Niveau beziehen. ({4}) Auch zahlreiche Bürgermeister deutscher Großstädte, zum Beispiel Sören Link, ebenfalls SPD, sowie der Deutsche Städtetag fordern eine Indexierung. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages erklärte: Das Kindergeld sollte sich daran orientieren, was Kinder in ihrem tatsächlichen Aufenthaltsland brauchen, und nicht die Höhe aufweisen, die in einem anderen Land am Wohnsitz ihrer Eltern gezahlt wird. ({5}) Auch die deutschen Bürger sind sich einig: Nach einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der „Welt“ wollen 83 Prozent der Deutschen Kindergeldzahlungen ins EU-Ausland sogar ganz streichen. Selbst bei den Wählern von Grünen, SPD und Linken ist eine deutliche Mehrheit von knapp 70 Prozent der Befragten gegen Zahlungen für Kinder im EU-Ausland. ({6}) – Doch, gucken Sie nach. – Es besteht also seltene Einigkeit in Politik und Gesellschaft. Wir haben dringenden Handlungsbedarf. Kindergeldzahlungen ins Ausland sollten gerechterweise an die Lebensverhältnisse im Ausland angepasst werden. So weit, so gut. Ich frage Sie: Warum hat man das bislang nicht getan? Warum haben Sie Ihren Worten nicht längst Taten folgen lassen? ({7}) Warum haben Sie erneut den Volkswillen nicht beachtet? ({8}) Der entsprechende Gesetzentwurf liegt seit langer Zeit fertig in der Schublade der Bundesregierung. Er wurde aber nie verabschiedet. Eine Begründung: Man wolle keinen nationalen Alleingang, sondern abwarten, bis eine europäische Lösung gefunden sei. ({9}) Wie lange will man auch hier auf diese europäische Lösung warten? Sie wissen genau, dass es keine europäische Lösung geben wird, ({10}) genauso wenig wie bei der Verteilung von Migranten in der EU. ({11}) Dafür sind die Interessen einfach zu gegenläufig. Genau dieses ständige Hinhalten durch Verweis auf eine europäische Lösung ist es, was die Menschen in Deutschland und Europa frustriert und zu Recht mehr nationale Souveränität zurückfordern lässt. ({12}) Auch die weitere Begründung für die Nichteinbringung des Gesetzentwurfes ist scheinheilig: Man fürchte einen Verstoß gegen europäisches Recht. Dabei bezieht man sich unter anderem auf ein über 30 Jahre altes Urteil des EuGH, in dem es aber um einen ganz anderen Sachverhalt ging, nämlich um die völlige Streichung von Familienleistungen – die völlige Streichung, keine bloße Indexierung. ({13}) Hier wird also seit Jahren ein unzutreffendes Argument herangezogen, um die vermeintliche europäische Harmonie nur ja nicht zu stören. ({14}) Während die deutsche Politik jahrelang diskutiert, handelt Österreich. ({15}) Dort wird trotz gleicher EU-Regelung ab dem 1. Januar 2019 die Indexierung des Kindergeldes vorgenommen. ({16}) Grundlage dafür ist ein Gutachten, nach dem eine Indexierung in keiner Weise gegen EU-Recht verstößt, ({17}) insbesondere keine unzulässige Diskriminierung von EU-Ausländern darstellt. Auf dieses Gutachten könnte sich auch die deutsche Regierung stützen. ({18}) Das tut sie aber nicht. ({19}) Ich sage Ihnen, warum sie das nicht tut: weil es nicht zu ihrer Utopie eines harmonisch funktionierenden europäischen Zentralstaates passt. ({20}) Aufgrund dieser Utopie muss der deutsche Steuerzahler weiter zahlen und zahlen und zahlen. ({21}) Wir fordern die Bundesregierung daher erneut auf: Haben Sie den Mut der AfD, und passen Sie das Kindergeld für EU-Ausländer an die Lebenshaltungskosten in den Heimatländern an! ({22}) Beseitigen Sie dadurch einen Anreiz für die Einwanderung in unser Sozialsystem, und machen Sie endlich wieder Politik für das eigene Volk! Vielen Dank. ({23})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächster Redner: Johannes Steiniger für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieser AfD-Antrag vermischt erstens Dinge, die nicht zusammengehören. ({0}) Er zeigt zweitens die Ideenlosigkeit der AfD, weil sie gar keinen umsetzbaren Vorschlag vorlegt. Drittens – das ist wohl das Interessanteste –: Er kümmert sich mit keinem Wort um das eigentliche Problem, nämlich um den Missbrauch von Kindergeld. ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch heute haben wir wieder die alte Leier: Ihnen geht es nicht darum, die Probleme in Deutschland zu lösen. Ihnen geht es um Effekthascherei und Stimmungsmache. Aber damit kommen Sie bei uns nicht durch. ({2}) Zu meinem ersten Punkt. Sie werfen die Indexierung des Kindergeldes in einen Topf mit der Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme und mit dem Missbrauch. ({3}) Totaler Quatsch! ({4}) Das hat rein gar nichts miteinander zu tun, und das wissen Sie auch. ({5}) Ihnen geht es um eines: Sie wollen hier nur eine bestimmte Botschaft absetzen. Ich möchte einmal kritisch sagen: Leider geht Ihnen dabei in Teilen auch die Presse auf den Leim. So schreibt beispielsweise die „Berliner Morgenpost“: Wer in Deutschland gemeldet ist, dessen Kinder im Ausland leben, hat Anspruch auf Kindergeld. – Um es hier noch einmal ganz klar zu sagen: Das ist falsch, falsch und nochmals falsch. Natürlich zielt Ihr Antrag nur auf genau diese Botschaft ab, doch es bleibt schlichtweg falsch. Erstens erhält Kindergeld nur, wer hier beschäftigt ist. Zweitens geht es bei der Kindergeldregelung, über die wir heute diskutieren, nur um EU-Bürger. Es geht gerade nicht um alle Ausländer, wie die Kollegin gerade eben ja schon wieder zu suggerieren versucht hat. ({6}) Um es einmal ganz klar zu sagen: Das, was Sie hier unterschwellig sagen wollen, ({7}) ist ja, dass sozusagen die Flüchtlinge, die zu uns kommen, Kindergeld bekommen und dies dann in ihr Heimatland schicken. Absoluter Quatsch! ({8}) Der afghanische Flüchtling erhält natürlich kein Kindergeld für seine Kinder in der Heimat, und das ist auch richtig so. ({9}) Aber natürlich müssen wir darüber sprechen, ob wir beim Thema „Kindergeldzahlungen ins Ausland“ nicht zu Veränderungen kommen können und die Höhe dieser Zahlungen an die örtlichen Lebenshaltungskosten anpassen. ({10}) Denn das Kindergeld und der Kinderfreibetrag sollen ja gerade das Existenzminimum des Kindes steuerlich freistellen. Die Lebenshaltungskosten sind nun einmal in Rumänien für ein dort lebendes Kind niedriger als in Deutschland. ({11}) Was Sie übrigens nicht in Ihrem Antrag erwähnen, ist: In Luxemburg sind die Lebenshaltungskosten signifikant höher. ({12}) Aber für die Erkenntnis, dass wir da etwas machen müssen, brauchen wir Sie nicht. ({13}) Dafür brauchen wir nicht die AfD, meine sehr geehrten Damen und Herren. Denn wir haben dieses Problem schon in der letzten Legislatur thematisiert. Schon in der letzten Legislatur gab es Vorstöße der Bundesregierung, und ganz aktuell gibt es eine Initiative unseres Kollegen Sven Schulze im Europäischen Parlament. Diese ist zu begrüßen. Ich wünsche mir von der Bundesregierung, dass sie diese mit frischem Elan und neuem Druck auf die EU weiter unterstützt. ({14}) Jetzt zum zweiten Punkt. Ihr Antrag ist ideenlos. ({15}) Sie hätten sich etwas mehr Mühe geben können. Denn Sie fordern in Ihrem Antrag schlicht einen europarechtskonformen Gesetzentwurf durch die Bundesregierung. Wo ist denn Ihr eigener Vorschlag dazu? ({16}) Wo sind denn Ihre eigenen Eckpunkte zu einem Gesetz für eine europarechtskonforme Indexierung? Die Wahrheit ist: Sie haben gar keine. ({17}) Da ist nichts, nada: entweder weil Sie nicht wissen, wie es geht ({18}) – das spräche dann für die Konzeptlosigkeit Ihrer Fraktion –, oder aber Sie können gar keine konkreten Vorschläge vorlegen, weil Sie ganz genau wissen, dass der nationale Alleingang, den Sie vorschlagen, eben gerade nicht europarechtskonform ist. ({19}) Vielleicht haben Sie ja sogar tatsächlich die ganzen Gutachten gelesen, die sagen, dass wir die Indexierung nicht national einführen können, sondern dass wir an das europäische Sekundärrecht ranmüssen. ({20}) Wahrscheinlich wissen Sie auch ganz genau, dass es deshalb einen solchen nationalen Alleingang gar nicht geben kann und dass die Bundesregierung richtig handelt, wenn sie das Thema in der Europäischen Union adressiert. ({21}) Wenn das aber so wäre, meine sehr geehrten Damen und Herren, dann wären Sie wieder einmal entlarvt: Ihnen geht es nicht um die Sache. Sie wollen verunsichern, Sie wollen Stimmung machen, und Sie wollen einen Keil in die Gesellschaft treiben. ({22}) Zum Schluss will ich – drittens – auf das eigentliche Problem eingehen: den Missbrauch bei der Kindergeldzahlung. Das Erschleichen von Sozialleistungen ist ein Problem und muss hart bekämpft werden. ({23}) Wir haben dazu in der letzten Legislatur einiges auf den Weg gebracht. ({24}) – Von der AfD wurde gerade gefragt: „Was denn?“ Hören Sie einfach zu! Ich sage Ihnen die Maßnahmen, die wir gemacht haben. Viele der Maßnahmen sind gerade erst in Kraft getreten und beginnen jetzt langsam zu greifen. Erstens. Wir haben in der letzten Legislaturperiode die rückwirkende Zahlung von Kindergeld eingeschränkt, von 60 Monaten auf 6 Monate. Wir haben die steuerliche Identifikationsnummer als Bedingung für die Zahlung von Kindergeld beschlossen. Das macht den Missbrauch an dieser Stelle wesentlich unattraktiver und schwieriger. Zweitens haben wir im Gesetz zur Bekämpfung der Steuerumgehung auch eine Neuregelung zum Datenaustausch eingebaut. So können die Erkenntnisse des Bundeszentralamts für Steuern künftig viel schneller an die Familienkassen weitergegeben werden. Drittens ist der Datenabgleich zwischen den Behörden vor Ort im letzten Jahr verbessert worden. Wir haben automatisierte Verfahren, die die Datenübermittlung aus dem Ausländerzentralregister an die Familienkassen leichter machen. Beispielweise in Nordrhein-Westfalen gibt es bereits behördenübergreifende Prüfungen. Andere Länder wollen folgen. So kann zu viel gezahltes Kindergeld schneller zurückgefordert werden. ({25}) Und viertens gibt es bei den Familienkassen einen Aufwuchs der Kräfte, die explizit für die Bekämpfung von Missbrauchsfällen eingesetzt werden. In allen 14 regionalen Standorten der Familienkassen sind Personalzuwächse geplant. Sie sehen also: Statt Schaufensteranträge wie Ihren vorzulegen, nimmt diese Regierungskoalition die Probleme ernst und geht sie an. ({26}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben natürlich den Aufschrei der Bürgermeister im Sommer vernommen. Wir müssen noch mehr tun. Denn leider scheint der Kindergeldmissbrauch in einigen Gegenden Deutschlands zum Geschäftsmodell geworden zu sein. ({27}) Kriminelle Banden mieten schrottreife Wohnungen. Hier bringen Schlepper EU-Ausländer – häufig aus Osteuropa – unter widrigsten Bedingungen unter. Dann verschaffen sie diesen Scheinbeschäftigungen und beantragen mit gefälschten Dokumenten Kindergeld für nicht vorhandene Kinder. An jedem dieser Punkte müssen wir ansetzen. Aber das hat rein gar nichts mit Ihrem Antrag zu tun. ({28}) Der Datenaustausch muss deutschlandweit weiter etabliert werden. Wir müssen von den Best Practices der regionalen Kooperationen lernen und die Erfolge bundesweit umsetzen. Auch ein tagesaktueller Meldedatenabgleich zwischen Melde- und Sozialleistungsbehörden auf der einen und Finanzämtern auf der anderen Seite sollte diskutiert werden, und wir müssen auch besser international zusammenarbeiten, um dies entsprechend abzuprüfen. Am Ende des Tages bringt Ihr Antrag für diese Probleme rein gar nichts. Sie wollen Stimmung machen. Sie legen hier nichts Ordentliches vor, und deswegen lehnen wir den Antrag ab. ({29})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Johannes Steiniger. – Nächster Redner: Markus Herbrand für die FDP-Fraktion. ({0})

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Dieses Thema beschäftigt uns nicht das erste Mal. Schon in der letzten Legislaturperiode gab es dazu eine Initiative von Wolfgang Schäuble, die damals noch an der SPD scheiterte. Nunmehr hat – das festzustellen, gebietet die Wahrheit – Bundesminister Heil einen neuen Versuch gestartet. Das ist ehrenwert, aber leider auch bislang ohne Erfolg. In der Sache gibt es gute Gründe, sich mit aller Kraft bei den europäischen Partnern für die Änderung an der bestehenden EU-Regelung einzusetzen. Das ungute Gefühl, dass durch unsere vergleichsweise hohen Kindergeldzahlungen auch Fehlanreize gesetzt werden, gärt seit langem. Jetzt haben wir wieder diese emotional aufgeladene Debatte im Plenum, und sie bietet erneut denjenigen ein Spielfeld, die sagen: Wir haben für alles eine Antwort, auch wenn das Problem noch so schwer ist. ({0}) Die AfD vermittelt nämlich absichtlich und in mehrfacher Hinsicht in diesem Antrag falsche Eindrücke. ({1}) Erstens ist es Absicht der AfD, den Eindruck zu erwecken, andere würden sich dieses Themas überhaupt nicht annehmen. Ich habe eben schon etwas dazu gesagt: Es stimmt eben nicht. Zweitens. Liest man Ihren Antrag, dann könnte man glauben, dass es bei den Zahlungen ins Ausland um die Mehrheit der Kindergeldausgaben in Deutschland geht. Dabei ist aber – die Zahlen sind schon genannt worden – rechnerisch 2017 weniger als 1 Prozent unserer Kindergeldzahlungen ins Ausland gegangen. Herr Gauland sagt dazu wohl „Vogelschiss“. Dabei verschweigen Sie, dass es auch beispielsweise Fälle von im Ausland studierenden Kindern gibt. Das ist etwas völlig anderes. Es handelt sich hier keineswegs um Einwanderung in unsere Sozialsysteme. Sie erwecken also – und das völlig beabsichtigt – den Eindruck, Deutschland sei wieder einmal der Zahlmeister Europas. Und diesen Eindruck mischen Sie in der Begründung mit Ihren ausländerfeindlichen Ressentiments. Alles beabsichtigt! ({2}) Drittens lässt Ihr Antrag an überhaupt keiner Stelle erkennen, dass die Indexierung natürlich in beide Richtungen Auswirkungen hat. Schon die von Ihnen gewählte Überschrift des Antrags, die ja sehr irreführend ist, macht klar, dass es Ihnen hier beispielsweise nicht um in der Schweiz lebende Kinder geht. Für die müsste nämlich der deutsche Steuerzahler mehr Geld aufbringen. Viertens vermitteln Sie in geradezu abenteuerlicher Art den Eindruck, dass auch Fälle von Missbrauch – das ist alles schon gesagt worden – durch Ihren Antrag erfasst würden. Das sind Einzelfälle von im Ausland lebenden Kindern, die erfunden wurden. Beide Fälle haben rein gar nichts miteinander zu tun. Missbrauch von staatlichen Sozialleistungen muss selbstverständlich bekämpft werden – da sind wir alle einer Meinung –, und er muss auch sanktioniert werden. Mit dem Anliegen einer Indexierung allerdings haben diese Fälle nichts zu tun. ({3}) Es gibt strukturelle Schwächen im Kindergeldverfahren. Da muss man rangehen. Wenn Sie die beiden Fälle immer miteinander vermischen, entsteht automatisch ein falscher Eindruck, und genau das wollen Sie erreichen. Und fünftens – das ist der entscheidende Punkt – wollen Sie den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes den Eindruck vermitteln, dass wir hier in eigener Zuständigkeit dieses Thema regeln können. Auch das hätten Sie eigentlich besser wissen können bzw. wissen müssen. Ansonsten kann man es auch nachlesen. Es ist immer das gleiche Muster. Es ist genau die Absicht, die spürbare Unzufriedenheit der Menschen unter anderem auch mit EU-Vorgaben zu benutzen, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Diese Kampagne hier eignet sich aber dazu nun überhaupt nicht, weil wir nicht einmal zuständig sind. ({4}) Alles zusammengenommen mag der Antrag der AfD bei aller berechtigten Kritik in der Sache am Ende doch recht unappetitlich sein. Er ist weder zielführend noch zustimmungsfähig, weil uns ein europarechtskonformer Gesetzentwurf, wie gefordert, nicht einen Zentimeter weiterbringt. In der Sache fordern wir die Bundesregierung allerdings auf, auf europäischer Ebene die Angelegenheit weiter zu verfolgen und den Missbrauch beim Kindergeld effektiver zu bekämpfen. Ich darf mich für die Aufmerksamkeit bedanken. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Herbrand. – Nächster Redner: Jörg Cezanne für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn es einen guten Grund gäbe, über das Kindergeld zu reden, dann wäre es die Tatsache, dass ausgerechnet diejenigen unserer Gesellschaft, die auf dieses Kindergeld am meisten angewiesen wären, zum Beispiel Bezieher von Hartz-IV-Zahlungen, genau diese Leistungen für ihre Kinder verweigert bekommen. Das wäre ein guter Grund, mal über das Kindergeld zu reden. ({0}) Herr Schrodi hat schon darauf hingewiesen, dass das Stichwort „Kindergeld“ im AfD-Wahlprogramm überhaupt nicht auftaucht. Von daher weiß ich nicht, was Sie jetzt dazu gebracht hat, ausgerechnet dieses Thema hier vorzubringen. Aber gehen wir noch einmal die Argumente durch: Erstens. Kindergeld gibt es für Arbeit und nicht für Nationalität. Wer in Deutschland arbeitet und Steuern zahlt, hat Anspruch auf Kindergeld. ({1}) Das gilt auch für Beschäftigte mit ausländischen Pässen auf dem Bau, in der Pflege, in Privathaushalten, egal ob sie aus der Schweiz oder aus Rumänien kommen, und hat mit Sozialtourismus aber überhaupt nichts zu tun. ({2}) Zweitens. Kindergeld erhalten in Deutschland lebende erwerbstätige Eltern für ihre Kinder, unabhängig davon, wo diese Kinder wohnen. Die folgende Zahl ist schon genannt worden: Ein sehr geringer Teil der gesamten Kindergeldzahlungen, weniger als 1 Prozent, fließt ins Ausland. Die Zahl der Berechtigten hat in den letzten zehn Jahren zugenommen. Das kann in einem Europa mit wachsender Freizügigkeit für Arbeitsuchende und Beschäftigte keine Überraschung und schon gar keine verdächtige Entwicklung sein. ({3}) Drittens. Auch deutsche Staatsangehörige erhalten für ihre im Ausland lebenden Kinder Kindergeld. Warum die AfD, wie im Landtagswahlprogramm für Sachsen-Anhalt 2016 formuliert, sich dafür einsetzen will, dass Kindergeld nur noch für in Deutschland lebende Kinder gezahlt wird, müsste sie uns mal erklären. ({4}) Was es gibt – und das ist das eigentliche Problem –, sind zum Teil offensichtlich organisierte Fälle von Betrug. Dies berichten Bürgermeister einiger Städte vor allem im Ruhrgebiet schon seit längerem. Die Rede ist von 10 bis 15 Städten, in denen das gehäuft vorkomme. Die richtige Antwort bei Betrug, meine Damen und Herren, ist üblicherweise nicht eine Änderung von Gesetzen, sondern die polizeiliche Ermittlung, Verfolgung und schließlich Verurteilung der Betrüger. ({5}) Mehr als mit einer Gesetzesänderung wäre den betroffenen Städten also damit geholfen, wenn man mehr und entsprechend qualifizierte Ermittler zur Verfügung stellen würde. ({6}) Zu guter Letzt: Eine Gesetzesänderung bedeutet also keine angemessene oder sinnvolle und schon gar keine schnelle Abhilfe für diese überschaubare Zahl von Fällen. Diesen durchsichtigen Quatsch machen wir nicht mit. Deshalb lehnen wir den Antrag ab. Ich danke Ihnen. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jörg Cezanne. – Nächste Rednerin: Dr. Franziska Brantner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Diese Debatte hier ist absurd, und sie dient nur der Hetze. ({0}) Die AfD redet in dem Antrag – ich zitiere – von der „Einwanderung in unser Sozialsystem“. ({1}) So ein Quatsch! ({2}) Wer Hartz IV erhält, bekommt doch gar kein Kindergeld; das wird doch sofort angerechnet. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass die AfD da Quatsch erzählt, weiß sie sogar selber. Im Begründungsteil des AfD-Antrags steht – ich zitiere –: Beim Kindergeld handelt es sich um eine Steuervergütung …, die vorrangig … die Steuerfreistellung eines Einkommensbetrags in Höhe des Kinderexistenzminimums bei der Besteuerung der Eltern zum Ziel hat. Sie wissen es also eindeutig besser. Wir können also festhalten: Sie tun es trotzdem, Sie hetzen hier einfach, obwohl Sie es besser wissen. ({4}) Interessanterweise beziehen Sie sich in Ihrem Antrag auf die Zahlen aus einer Kleinen Anfrage von mir, die ich in der letzten Legislaturperiode gestellt habe. Deswegen kenne ich die Zahlen gut, und ich kann Ihnen sagen, dass Sie eine relevante Zahl aber unterschlagen haben, nämlich den Anteil der Kinder, die im Ausland Geld beziehen, an der Gesamtzahl solcher Kinder. Er liegt nämlich nur bei knapp über 1 Prozent. Diese Zahl hätten Sie vielleicht der Fairness halber auch noch zitieren sollen. ({5}) Der Antrag der AfD zeigt auch ein krudes Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und Fairness. Bulgarische EU-Bürger sollen danach nach deutschem Recht Steuern zahlen, aber nach bulgarischem Recht Steuervergütung bekommen? Das kann man doch niemandem erklären. ({6}) Wenn, dann müssten Sie schon konsequent sein. EU-Bürger sollen hier Kindergeld auf bulgarischem Niveau bekommen. Dann sollten sie hier aber auch nur Steuern auf bulgarischem Niveau zahlen, meine Damen und Herren. ({7}) Nehmen Sie doch einmal folgendes Beispiel: die polnische Frau, die hier bei uns Vollzeit in der Pflege arbeitet, die hier Unglaubliches leistet, aber ihre Kinder zu Hause hat. Das ist schwer genug, und dann soll sie auch noch weniger Kindergeld bekommen? Wie wollen Sie denn das erklären? Das ist doch grob unfair. ({8}) Schämen Sie sich! ({9}) Wenn man dem Vorschlag der AfD folgte, dann wären davon auch deutsche Kinder betroffen, die im Ausland leben. Das sind über 31 000 Kinder. Das heißt, wenn ein Kind in Prag studiert, dann wollen Sie auch, dass die Eltern nur Kindergeld auf tschechischem Niveau bekommen. Ist es das? Dazu sagt Ihr Antrag leider gar nichts. ({10}) Außerdem gibt es ja auch Länder, in denen die Lebenshaltungskosten höher sind. Frau Weidel, Sie würden davon ja mit Ihren Kindern in der Schweiz profitieren, ({11}) eindeutig! Von daher ist der hier vorliegende Antrag reine Stimmungsmache. ({12}) Was das echte Problem angeht, die Betrüger, die es vielleicht gibt, dagegen machen Sie nichts, dazu sagt der Antrag nichts. Wir haben es schon gehört: Da brauchen wir Datenaustausch, da brauchen wir mehr Kräfte vor Ort, aber keinen Populismus. ({13}) Diese Debatte, meine Damen und Herren, lenkt auch davon ab, worüber wir hier eigentlich reden sollten, ({14}) nämlich darüber, wie viele Kinder bei uns in Deutschland derzeit in Armut leben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({15}) Es kann doch nicht sein, dass in so einem reichen Land wie Deutschland jedes fünfte Kind von Armut betroffen ist. Das sind über 3 Millionen Kinder. Wir haben hierzu eine Forderung: Kümmern Sie sich, liebe Fraktionen der Großen Koalition, endlich darum, dass jedes Kind in Deutschland die gleichen Chancen hat. Darum geht es: Herz statt Hetze! ({16})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Franziska Brantner. – Nächste Rednerin: Dr. Wiebke Esdar für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Wiebke Esdar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Die Freizügigkeit ist eine der wichtigsten Errungenschaften der Europäischen Union; denn sie bedeutet, dass Deutsche im EU-Ausland frei arbeiten und leben können, und sie bedeutet natürlich auch, dass Bürgerinnen und Bürger aus den EU-Nachbarländern, aus den EU-Mitgliedstaaten – – ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Stopp, stopp, stopp, stopp, stopp! – Jetzt warten wir so lange, bis die Kollegen Platz genommen haben, weil es unter diesen Bedingungen mit der Rede nicht geht. – Ja, das gilt auch für Ihre Kollegen. ({0}) – Wir fangen noch mal von neuem an. Wir sind mitten in der Debatte. Das gilt auch für die Regierungsmitglieder. Bitte nehmen Sie Platz! Und wir fangen noch einmal von neuem an. Da müssen Sie noch einmal vom Platz aus gehen; dann machen wir es jetzt noch mal. ({1}) – Nein, das machen wir nicht. ({2}) Nächste Rednerin: Dr. Wiebke Esdar für die SPD-Fraktion. ({3})

Dr. Wiebke Esdar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Freizügigkeit ist eine der wichtigsten Errungenschaften der Europäischen Union; denn sie bedeutet, dass EU-Bürgerinnen und -Bürger nach Deutschland kommen können, um hier zu arbeiten und hier zu leben, so wie gleichzeitig Deutsche in andere EU-Länder gehen können, um dort zu leben und zu arbeiten. ({0}) Das heißt auch, dass wer in Deutschland arbeitet, Steuern und Sozialabgaben zahlt, auch die gleichen Sozialleistungen erhalten muss wie die Staatsangehörigen, und darum besteht auch der gleiche Anspruch auf Kindergeld, unabhängig von Nationalität und vom Wohnort der Kinder. ({1}) Eine Anpassung von Kindergeldzahlungen an die Lebenshaltungskosten am Wohnort der Kinder ist zum Glück aufgrund des EU-Diskriminierungsverbots nicht möglich. Wir können nicht unterscheiden zwischen Berlin und Paris, genauso wenig wie zwischen Bielefeld und Berlin. ({2}) Der vorliegende Antrag der AfD-Fraktion hingegen ist armselig. Ich sage Ihnen: Wer Arm gegen Noch-Ärmer ausspielt, ({3}) der schürt Sozialneid, und das ist armselig. Sie versuchen nämlich erneut – mit aufgebauschten Zahlen, damit, dass Sie Dinge vermischen, die nichts miteinander zu tun haben –, einfach nur gegen Minderheiten zu hetzen, statt einmal tragbare Lösungen für Probleme zu finden, die es gibt. Wenn wir uns die Zahlen und die Fakten anschauen – meine Vorrednerinnen und Vorredner haben das auch schon getan –, dann wissen wir, dann wissen Sie, dass 15,3 Millionen Kinder im letzten Jahr Kindergeld erhalten haben und nur 0,96 Prozent, weniger als 1 Prozent, der Kindergeldzahlungen ins Ausland gingen. Weniger als 1 Prozent! Ich möchte ein Zitat von Karsten Bunk, dem Leiter der zuständigen Familienkasse bei der Bundesagentur für Arbeit, hinzufügen. Er hat gesagt: Beim Kindergeld für Personen aus dem Ausland „findet so gut wie kein Missbrauch statt“. ({4}) Über zwei Drittel der Auslandsüberweisungen gehen nämlich in die Nachbarländer, insbesondere nach Polen, weil wir so viele Polinnen haben, die in Deutschland arbeiten, die uns insbesondere im Bereich Pflege aushelfen, wo wir einen Fachkräftemangel haben. ({5}) Um das an dieser Stelle klar zu sagen: Ja, wir wissen, es gibt Sozialmissbrauch. Stichproben ergaben Missbrauchsfälle beim Kindergeld, auch in meinem Heimatbundesland, in Nordrhein-Westfalen. Dagegen werden wir wirksam vorgehen. Die Antwort darauf darf keine Beschränkung des Kindergeldes insgesamt sein, sondern wir müssen prüfen, mit welchen Instrumenten wir den Kampf gegen den Missbrauch aufnehmen können. ({6}) Wir haben bereits gehandelt: Eltern und Kinder erhalten aktuell je eine eigene steuerliche Identifikationsnummer. Damit kann die BA durch Datenabgleich ausschließen, dass Eltern mehrfach Kindergeld erhalten. Der Datenabgleich zwischen dem Ausländerzentralregister und den Familienkassen wurde durch das Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen nach dem SGB II und dem SGB XII bereits verbessert. Seit Beginn des Jahres erhält das Bundeszentralamt für Steuern beim Wegzug von Personen die Daten von den Meldebehörden, um schneller reagieren zu können, wenn die Kindergeldberechtigung wegfällt. Und ab dem kommenden Jahr wollen die Familienkassen in allen deutschen Großstädten verstärkt Betrugsfällen nachgehen. – Darum geht es, meine Damen und Herren. Wer aber Sozialmissbrauch begegnen will mit einer grundsätzlichen Indexierung, der liegt falsch; denn Sozialmissbrauch herrscht dort, wo Armut herrscht, und das hat nichts mit Nationalität zu tun. ({7}) Das hat auch nichts mit Ratten zu tun. Das hat vor allem etwas mit der Hilflosigkeit der Menschen und mit der sozialen Ungleichheit zu tun. Wir ergreifen vielfältige Maßnahmen, um das Problem des Kindergeldmissbrauchs wirksam zu bekämpfen – vorbeugend. Dafür brauchen wir keine Populisten von rechts, und dafür brauchen wir auch keine Indexierung. Herzlichen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Esdar. – Darf ich noch einmal darum bitten, dass sich die Kolleginnen und Kollegen hinsetzen. Aus unserer Sicht sind da noch einige resistent. – Danke schön. Wir hier oben meinen nicht nur, dass Sie sich hinsetzen sollen – das reicht uns nicht –, sondern auch, dass Sie bitte dem letzten Redner jetzt Ihre Aufmerksamkeit schenken. Der letzte Redner in dieser Debatte ist Alois Rainer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alois Rainer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004384, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe antragstellende Fraktion, Sie wollen mit Ihrem Antrag einen nationalen Alleingang durchsetzen. Der ist gerade angesichts der vorliegenden Rechtsprechung nicht möglich. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat hierzu ausführliche Gutachten vorgelegt. ({0}) – Ja, genau das wollte ich gerade erklären, Herr Kollege, den Unterschied zwischen dem deutschen – in Anführungszeichen – „Kindergeld“ und dem österreichischen Kindergeld. Da gibt es nämlich einen signifikanten Unterschied. Beim Kindergeld in Deutschland handelt es sich um eine Steuervergütung im Rahmen des steuerlichen Familienleistungsausgleichs, die vorrangig in Form des Kinderfreibetrags die Steuerfreistellung eines Einkommensbeitrages in Höhe des Kinderexistenzminimums bei der Besteuerung der Eltern zum Ziel hat. Das bedeutet, dass der Anspruch auf Kindergeld in Deutschland grundsätzlich dem Einkommensteuergesetz unterliegt. Wir sprechen zwar von Kindergeld; aber der deutsche Staat kommt damit seiner verfassungsrechtlichen Pflicht, das Existenzminimum von Kindern steuerlich freizustellen, nach. Nun das österreichische Modell: Wenn man einfach sagt: „Wir könnten das Gleiche machen wie Österreich“, dann ist das schlichtweg falsch. Österreich hat ein völlig anderes System. Anders als in Deutschland wird das Kindergeld in Österreich nicht über eine Entlastung bei der Einkommensteuer geregelt. Es gilt vielmehr als Entlastung der zum Unterhalt verpflichteten Personen. Die Familien- und Kinderbeihilfe hat in Österreich die spezielle Funktion, einen Teil der Ausgaben für das Kind zurückzuerstatten. Mittel der Allgemeinheit sollen bei der Erfüllung der Unterhaltspflicht – beispielsweise Kauf von Nahrung, Kleidung, Schulsachen usw. – entlasten. Folglich ist das österreichische Modell auf Deutschland so nicht zu übertragen. Ja, Sie alle wissen: Die CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag hat in Neuhardenberg den Beschluss gefasst, dass auch wir die Indexierung des Kindergeldes in Europa wollen. Wir stehen zu diesen Aussagen; aber offenen Auges in eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof hineinlaufen, das wollen wir auch nicht. ({1}) Deshalb: Eine europäische Lösung ist notwendig. Sie wäre auch machbar; denn vor dem Brexit, als David Cameron mit der Europäischen Union verhandelt hat, hat man ihm diese Indexierung zugesagt. Und da wollen wir auch hin. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn nach der Europawahl Manfred Weber EU-Kommissionspräsident wird, dann werden die Karten neu gemischt. ({3}) – Also, Herr Kollege Schrodi, wenn Sie glauben, ich träumte von den Weißwürsten, ({4}) dann sind Sie schon relativ weit weg von der Realität. Ich habe Ihren Unsinn zum Soli letzte Woche nicht kommentiert. Ich habe auch den Unsinn, den Sie heute gesagt haben – es kann keine europäische Lösung geben –, nicht kommentiert. Aber so einen blöden Zwischenruf muss ich kommentieren. ({5}) Es gibt nämlich europäische Lösungen, wenn ich es denn nur will. Das ist der eine Punkt. ({6}) Lieber Kollege Schrodi, vielleicht ist Ihnen entgangen, dass Ihr Finanzminister, Olaf Scholz, was ich sehr begrüße, gegenüber der Kommission in Luxemburg die Initiative zur Indexierung des Kindergeldes weiterbetreiben will. Das ist ein kluger Mann auf Ihrer Seite. ({7}) Lassen Sie mich vielleicht noch mit einem Mysterium aufräumen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Eine Einwanderung in das deutsche Sozialsystem ist das nicht. Das muss man schon ein Stück weit anders sehen. Wir haben bei den Missbrauchsvorwürfen in der letzten Legislaturperiode schon gehandelt. Es geht nicht, dass hier Missbrauch getrieben wird; wir wissen, dass das immer wieder vorkommt. Mit der Einführung der Pflicht zur Angabe der Steuer-Identifikationsnummer bei der Beantragung von Kindergeld wurde ein großer Schritt nach vorne gemacht. Es wurde auch dadurch ein großer Schritt nach vorne gemacht, dass man das – in Anführungszeichen – „Kindergeld“ nur sechs Monate rückwirkend beantragen kann. Es wurden noch viele andere Dinge gemacht. So einfach, wie man es sich mit dem vorliegenden Antrag macht, kann man es sich also nicht machen. Trotzdem wären auch wir für eine Indexierung des Kindergeldes in Europa. Man muss das nur differenziert und richtig lösen, damit man die Richtigen erwischt. ({8}) – Ja, wir machen das, wenn es europarechtskonform ist. Dann werden wir das wieder aufgreifen. Jetzt macht das wenig Sinn. Ihr Antrag ist deshalb heute abzulehnen. Danke schön. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Rainer. – Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zum Antrag der Fraktion der AfD mit dem Titel „Kindergeld für im Ausland lebende Kinder indexieren – Anpassung des Kindergeldes für nicht in Deutschland lebende Kinder von EU-Bürgern an die Lebenshaltungskosten am Wohnort des Kindes“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/4883, den Antrag der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/2999 abzulehnen. Wir stimmen über die Beschlussempfehlung auf Verlangen der Fraktion der AfD namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre vorgesehenen Plätze einzunehmen und mir ein Signal zu geben, wenn die Plätze an den Urnen besetzt sind. – Alle Plätze sind besetzt. Dann eröffne ich die Abstimmung über die Beschlussempfehlung. Gibt es Kolleginnen oder Kollegen, die ihre Stimme noch nicht abgegeben haben? – Das ist nicht der Fall. Damit schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Wie immer wird Ihnen das Ergebnis bekannt gegeben, sobald es mir vorliegt. Wir kommen zum nächsten Tagesordnungspunkt. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die sich an der nächsten Debatte nicht beteiligen wollen, möglichst schnell das Plenum zu verlassen, und die anderen, Platz zu nehmen, damit ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufen kann.

Steffen Bilger (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004011

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erneut geht es heute um die Lkw-Maut. Für viele klingt dies nach einem trockenen Thema. Das ist es aber nicht; denn jeder Cent Lkw-Maut-Einnahmen steht für lebendige Verkehrsadern in Deutschland. Die Veränderungen bei der Maut, die wir nun vornehmen, bescheren uns ein Mehr an Geld, das wir in die Verbesserung der Infrastruktur zum Wohl unseres Landes und seiner Bürger investieren. Wir rechnen durch die Ausweitung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen und durch die neuen Mautsätze mit einem jährlichen Plus von 2,5 Milliarden Euro. Das ist eine Steigerung um über die Hälfte, von 4,7 Milliarden Euro im vergangenen Jahr auf 7,2 Milliarden Euro ab 2019. Das ist viel Geld – Geld, das wir in unsere Infrastruktur investieren. Diese Summe ist ein wichtiger Bestandteil des konsequenten Investitionshochlaufs, den diese Koalition nun schon seit vielen Jahren betreibt. ({0}) Eine meiner Aufgaben als Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium sind Spatenstiche und Verkehrsfreigaben. ({1}) Beides mache ich sehr gerne, wie Sie sich vorstellen können. ({2}) – Nein, das ist ein Teil meiner Aufgaben, lieber Kollege Luksic. Zusätzlich gibt es natürlich noch viele weitere. ({3}) Wie Sie sich vorstellen können, sind das Schönste dann doch die Verkehrsfreigaben, wie letzten Freitag in Bad Neuenahr in Rheinland-Pfalz. In den nächsten Wochen haben wir Spatenstiche und Verkehrsfreigaben in Hessen, Baden-Württemberg, Sachsen, Thüringen usw. Man sieht: Es geht mit der Infrastruktur in unserem Land voran. ({4}) Man sieht ganz konkret vor Ort, wo die Mauteinnahmen landen und wie sie den Menschen, der Wirtschaft und auch der Umwelt durch Stauvermeidung helfen. In der vorletzten Sitzungswoche haben wir uns in erster Lesung mit dem Entwurf der Bundesregierung eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes beschäftigt. Worum geht es bei diesem Gesetz? Es geht es um die Anpassung der Mautsätze bei der Lkw-Maut zum 1. Januar 2019 an das neue Wegekostengutachten. Wie gesagt: Klingt trocken, ist es aber nicht. Gestern hat sich der Verkehrsausschuss mit dem Gesetzentwurf befasst. Als Ergebnis der Beratungen gibt es zwei wichtige Änderungen im Gesetzentwurf, die ich kurz benennen möchte. Als Erstes komme ich zur Mautbefreiung für land- und forstwirtschaftliche Fahrzeuge. Nach dem geltenden Bundesfernstraßenmautgesetz sind landwirtschaftliche Fahrzeuge mit einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von bis zu 40 km/h von der Lkw-Maut befreit. Um land- und forstwirtschaftliche Betriebe von unnötiger Bürokratie zu entlasten, wird seit dem 1. Juli 2018 zusätzlich auf Kulanzbasis der Befreiungstatbestand für land- und forstwirtschaftliche Fahrzeuge aus dem Güterkraftverkehrsgesetz entsprechend bei der Lkw-Maut angewendet. Der Anwendungsbereich des Güterkraftverkehrsgesetzes betrifft unter anderem Lenk- und Ruhezeiten für das Fahrpersonal. Mit dem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen wird die derzeit geltende Anwendungspraxis inklusive der Kulanzregelung im Gesetz nachgezeichnet. Hierzu wird die bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit von bis zu 40 km/h als neues Tatbestandsmerkmal des Güterkraftverkehrsgesetzes eingefügt und ein Verweis auf den Befreiungstatbestand nach dem Güterkraftverkehrsgesetz eingebracht. Damit ist ein Gleichlauf der Be­freiungstatbestände in Bundesfernstraßenmautgesetz und Güterkraftverkehrsgesetz gewährleistet. Mit der 40-km/h-Grenze werden außerdem Wettbewerbsverzerrungen zulasten des gewerblichen Straßengüterkraftverkehrs verhindert. Damit folgen wir den berechtigten Bedenken mittelständischer Transportunternehmen. ({5}) Der zweite wichtige Punkt betrifft die Förderung von Fahrzeugen mit alternativen Antrieben. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sah bereits eine Mautbefreiung für Elektro-Lkw vor. Das ist richtig und wichtig. Die Koalitionsfraktionen wollen aber noch mehr für den Klimaschutz und die Förderung der alternativen Antriebe tun. Deshalb sollen auch Erdgas-Lkw bei der Maut begünstigt werden. Die Mautpflichtgrenze liegt bei 7,5 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht. In der Gewichtsklasse ab 7,5 Tonnen gab es laut KBA-Statistik zum 1. Januar 2018 gerade einmal 339 in Deutschland zugelassene Erdgas-Lkw. Das ist zu wenig. Deshalb wollen wir die Erdgas-Lkw für zwei Jahre komplett von der Maut befreien. Ab 2021 sollen diese Fahrzeuge dann eine reduzierte Lkw-Maut zahlen. Bei einer jährlichen Fahrleistung von 100 000 Kilometern lassen sich durch die Befreiung bis zu 19 000 Euro im Jahr sparen. Je nach jährlicher Fahrleistung ist es damit möglich, die Mehrkosten eines Erdgasfahrzeugs im Vergleich zum Diesel-Lkw innerhalb weniger Betriebsjahre durch die Mautersparnis auszugleichen. Wir werden mit großem Interesse verfolgen, wie sich die Zulassungszahlen für schwere Nutzfahrzeuge mit Erdgasantrieb entwickeln. Ich will alle Unternehmen mit Lkw im Fuhrpark und alle Lkw-Hersteller auffordern, diese Chance zu nutzen. ({6}) Unterm Strich liegt Ihnen ein guter, modifizierter Gesetzentwurf vor. Ich bitte um Ihre Zustimmung. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Steffen Bilger. – Nächster Redner: Wolfgang Wiehle für die AfD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Wiehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004933, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die Lkw-Maut wird ausgeweitet und künftig nicht nur auf Autobahnen, sondern auch auf Bundesstraßen fällig. Nach dem neuen Wegekostengutachten ändern sich auch die Mautsätze. Der Verkehrsausschuss hat einige Mängel im Gesetzentwurf der Bundesregierung beseitigt. Insoweit begrüßt die AfD-Fraktion den Gesetzestext, der heute Abend zur Abstimmung steht. ({0}) Der Gesetzestext greift aber trotzdem an einigen Stellen viel zu kurz und ist dadurch gegenüber bestimmten Gruppen unfair. Erste Lücke. Transporter zwischen 3,5 und 7,5 Tonnen werden von der Maut nicht erfasst. ({1}) Diese Lücke wird inzwischen von Unternehmen insbesondere aus Osteuropa mit sehr problematischen Geschäftsmodellen ausgenutzt. Neben der Mautfreiheit setzt man dort zum Beispiel auch darauf, dass in diesem Bereich keine Lenkzeiten kontrolliert werden. ({2}) Die lapidare Auskunft seitens der Bundesregierung in der öffentlichen Anhörung zu diesem Gesetzentwurf lautete, dass über den Bereich zwischen 3,5 und 7,5 Tonnen nichts im Koalitionsvertrag steht. Das ist, mit Verlaub, eine zu billige Ausrede, um hier nichts zu tun. ({3}) Zweite Lücke. Anlässlich der ersten Lesung hat die AfD die Mautausnahme für Elektro-Lkw kritisiert, weil sie eine einseitige Bevorzugung einer bestimmten Technologie bedeutet. Immerhin sollen jetzt mit Gas betriebene Lkw auch entlastet werden; wir haben es gerade vom Herrn Staatssekretär gehört. Was ist aber mit Fahrzeugen, die ausschließlich Biokraftstoffe oder E-Fuels tanken? Für die gibt es nach wie vor keine Regelung. Wenn man schon nach Umweltgesichtspunkten differenziert, dann doch bitte wenigstens konsequent. ({4}) Die dritte Lücke betrifft die Fernbusse. ({5}) Dieser Markt ist längst seinen Kinderschuhen entwachsen und braucht keinen Schutz mehr, zumal die Konkurrenz auf der Schiene immer die Schienenmaut, die sogenannten Trassenpreise, bezahlen muss. Das rechtlich vom Nahverkehr und vom Gelegenheitsverkehr mit Bussen abzugrenzen, mag schwer sein, aber das ist kein Grund dafür, dass die Bundesregierung nicht einmal versucht, diese Lücke zu schließen. ({6}) Lücke Nummer vier betrifft die Mautpreller. Ich meine Lastwagen, die mit manipulierter, abgeschalteter Abgasreinigung über unsere Autobahnen fahren. Sie müssten für das, was sie an Abgasen produzieren, eigentlich einen viel höheren Kostensatz für die Luftschadstoffe zahlen. ({7}) Jetzt weiß doch jeder, dass die Beförderungsbedingungen im öffentlichen Nahverkehr für Schwarzfahrer eine Strafregel enthalten. Wer erwischt wird, zahlt ein sogenanntes erhöhtes Beförderungsentgelt. Warum gibt es so etwas eigentlich nicht im Bundesfernstraßenmautgesetz? ({8}) Meine Damen und Herren, es geht der AfD nicht darum, einfach mehr Geld einzunehmen. ({9}) Wir fragen, wie die Kollegen von der FDP-Fraktion – ich habe Ihren Zwischenruf gerade gehört –, warum bei der Mautberechnung ein viel höherer Zinssatz einkalkuliert wurde, als er heute tatsächlich gilt. Die Angabe im Ausschussbericht – Drucksache 19/5102 – zu der Aussage der AfD zu diesem Thema muss und wird in diesem Sinne noch korrigiert werden. Den FDP-Antrag, der heute zum ersten Mal im Plenum ist, überweisen wir gerne an die Ausschüsse. Es gibt zwei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke. Der eine greift zu kurz, und der zweite will die Nutzung der Mautgelder für die Straßeninfrastruktur aufweichen. Beide Anträge finden nicht die Zustimmung der AfD. ({10}) Der Gesetzentwurf selbst ist löchrig wie ein Schweizer Käse und zu wichtigen betroffenen Gruppen ungerecht. Deshalb können wir ihm nicht zustimmen. ({11}) Gleichzeitig sagen wir voraus: Die Mautregelungen werden den Deutschen Bundestag in der nächsten Zeit noch öfter beschäftigen. Die ganzen Lücken dürfen nicht offen bleiben. ({12})

Udo Schiefner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004397, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch bei der Maut, über die wir heute diskutieren, galt für den ursprünglichen Entwurf das Struck’sche Gesetz: Kein Gesetz kommt aus dem Parlament so heraus, ({0}) wie es als Gesetzentwurf eingebracht worden ist. Wir haben ausgiebig beraten, wir haben Experten angehört, und wir haben als Koalition Entscheidendes in den Ausschuss eingebracht. Wenn die parlamentarische Arbeit so gut, schnell und einvernehmlich funktioniert, denke ich, darf man sich auch mal freuen. Wir ändern das Bundesfernstraßenmautgesetz heute sinnvoll und angemessen. ({1}) Durch die Maut beteiligen wir Nutzer an den Kosten der stark beanspruchten Straßen und Brücken. Die Maut für die Lkw gilt inzwischen auf allen Bundesstraßen. Statt auf 15 000 Straßenkilometern wird auf 52 000 Straßenkilometern Maut erhoben. Das hat Folgen, auf die wir heute reagieren. Wir gleichen die Mauthöhe für Autobahnen und Bundestraßen an. Ausweichverkehre über Bundesstraßen werden unattraktiv und sinnlos. Ich finde das richtig und wichtig; das ist ein gutes Signal. ({2}) Wir machen die Lkw-Maut fairer. Fahrzeuge mit einem zulässigen Gesamtgewicht oberhalb von 7,5 Tonnen nutzen die Straßen mehr als 10 000-mal stärker ab als ein Pkw. Deshalb machen wir das Gewicht und nicht mehr die Anzahl der Achsen zum Maßstab. Die Gewichtsklassen sorgen für Verursachergerechtigkeit. Außerdem werden große, laute und dreckige Fahrzeuge stärker zur Kasse gebeten; auch das ist richtig. Neben der Luftverschmutzung muss zudem für die Lärmbelastung gezahlt werden. Einen besonderen Anreiz setzen wir – dies wurde eben schon erwähnt – für Elektrofahrzeuge. Sie werden von der Lkw-Maut befreit. Nach drei Jahren prüfen wir, ob dies erforderlich bleibt. Auch umweltfreundliche Erdgasfahrzeuge – dies stand bisher nicht im Entwurf; aber es ist konsequent – wollen wir stärker fördern und deshalb von der Maut befreien. Ein Erdgasfahrzeug stößt im Vergleich zum Euro-6-Lkw 15 Prozent weniger CO 2 und bis zu 85 Prozent weniger Stickoxide aus. Deshalb werden die Erdgasfahrzeuge durch unsere Initiative gemeinsam mit dem Koalitionspartner jetzt für zwei Jahre komplett mautbefreit, und danach werden wir ihnen den Luftverschmutzungsanteil erlassen. Dieser Anreiz wird hoffentlich viele zum Umstieg motivieren. So wird auch der Betrieb von Erdgastankstellen wirtschaftlicher, und es werden sicherlich auch weitere Erdgastankstellen entstehen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, viel diskutiert wurde noch ein anderer Punkt. Durch die Ausweitung der Maut auf die Bundesstraßen sind Land- und Forstwirte stark betroffen. Deren berechtigte Sorgen haben wir in den Beratungen aufgenommen und eine, wie ich finde, akzeptable Lösung gefunden: Der eigentliche land- und forstwirtschaftliche Verkehr wird nicht dem gewerblichen Güterverkehr gleichgestellt, sondern von der Maut befreit. Dabei mussten wir bedenken: Mautfreie gewerbliche Gütertransporte unter dem Deckmantel land- und forstwirtschaftlicher Verkehre ({4}) darf es nicht geben – das gibt es heute –; denn sie treten in unfaire Konkurrenz zum Speditionsgewerbe. Grundsätzlich birgt jede Ausnahme von der Mautpflicht die Gefahr des Missbrauchs und erschwert die Kontrollierbarkeit. Wir brauchen also eine für alle, für Land- und Forstwirte und für Transportunternehmen, akzeptable Lösung. Und die haben wir gefunden: Land- und forstwirtschaftliche Fahrzeuge mit einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von 40 km/h im gewerblichen Verkehr sind mautbefreit. Wir schaffen dadurch Ausnahmen von der Maut, ohne den Wettbewerb im gewerblichen Güterverkehr zu verzerren. Die 40-km/h-Grenze setzen wir im Güterkraftverkehrsgesetz um. Das ist, wie ich finde, eine elegante Lösung. Der Transport von land- und forstwirtschaftlichen Gütern für eigene Zwecke, als Nachbarschaftshilfe oder auch im Maschinenring ist dadurch ebenfalls mautbefreit. Ich finde, das ist ein gutes Signal an Land- und Forstwirte in diesem Land. ({5}) Doch es bleiben, wie wir in der Anhörung gehört haben, noch Fragen offen. Die Bemautung der Fernbusse und der 3,5-Tonner wurde angesprochen. Darüber wird sicherlich bei den weiteren Beratungen und bei Veränderungen des Mautgesetzes zu reden sein. Dies legen wir nicht in die Schublade. Unser Ziel bleibt, dass im gewerblichen Güterverkehr alle den gleichen Bedingungen des Güterkraftverkehrsrechtes unterliegen; das ist für uns Sozialdemokraten ein ganz wichtiger Punkt. Gesetzgebung bleibt nicht stehen, es gibt also noch viel zu tun. Weiter beraten müssen wir auch die Forderung, kommunale Fahrzeuge zu befreien. Auch dies war Thema in der Anhörung, wir haben das diskutiert. Für Restmüllfahrten haben wir eine Ausnahme erwogen. Allerdings gibt es dazu noch keine überzeugende Lösung und – das ist wichtig – auch keine kontrollierbare Abgrenzung. Auch dieses Thema wollen wir weiter diskutieren und zur nächsten Mautrunde, nach dem nächsten Wegekostengutachten, wieder auf den Tisch legen. Wir müssen prüfen, ob und wie sich die Mautpflicht in diesem Bereich womöglich auf die Müllgebühren der Bürgerinnen und Bürger auswirkt, und auch das in unsere Beratungen einfließen lassen. Ich darf mich am Ende bedanken für die Arbeit des Ministeriums, aber auch für die gute Beratung im Ausschuss. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen herzlichen Dank, Kollege Schiefner. – Entschuldigen Sie, wir haben hier gerade ein anderes Thema gehabt. ({0}) – Ja, wir haben uns die Rednerliste angeguckt, dass sie auch korrekt ist. ({1}) Sonst wird wieder rumgemeckert. ({2}) Wer kommt jetzt dran? Herr Thomae? – Nein. – Sehen Sie, man muss auf die Rednerliste achten, dass sie korrekt ist. Nächster Redner: Oliver Luksic für die FDP-Fraktion. ({3})

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Werte Präsidentin, vielen Dank für diese tolle Einführung in meine Rede, auf die ich mich jetzt umso mehr freue. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Große Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag festgelegt, keine Belastungen einzuführen. Aber im Verkehrsbereich haben wir heute die zweite Abgabenerhöhung. Zum einen wird die Kfz-Steuer durch den WLTP-Modus um 400 Millionen Euro erhöht. Zum anderen wird heute die Lkw-Maut um 3 Milliarden Euro zum 1. Januar 2019 erhöht. Das müssen am Schluss alle Verbraucher zahlen. Das ist eine Belastung für den Mittelstand. Dieser Kostendruck wird – das hat die Anhörung gezeigt – auch ein Stück weit an die Lkw-Fahrer weitergegeben werden. Deswegen ist das, was Sie tun, unverhältnismäßig und auch unsozial. Wir können dem so nicht zustimmen. ({0}) Zum 1. Januar 2019 werden die Verbraucherpreise steigen; das hat beispielsweise der BDI, das haben aber auch andere in der Anhörung des Bundestages gesagt. Auch der Kostendruck im Gewerbe wird zunehmen. Das liegt daran, dass wir eine doppelte Erhöhung haben: Zum einen haben wir die Ausweitung auf die Bundesstraßen. Zum anderen haben wir hier – das wurde eben angesprochen – einen angenommenen kalkulatorischen Zinssatz von 3,3 Prozent. Die offenen Fragen dazu konnten bisher im Verfahren weder in der ersten Lesung noch im Ausschuss noch in der Anhörung beantwortet werden: Wie kommt die Große Koalition eigentlich auf diese 3,3 Prozent? Die Einnahmen der Lkw-Maut werden ja direkt verbaut, ohne dass der Staat Kredite aufnimmt. Deswegen gibt es ja einige Professoren, die hinterfragen, warum hier überhaupt ein Zins angenommen wird. Und wenn man einen Zins annimmt, müsste es der sein, der in der Bundesverkehrswegeplanung angenommen wird: 1,7 Prozent. Sie setzen hier ohne Not das Doppelte an. Das ist ein Stück weit Wegelagerei ohne rechtliche Grundlage. ({1}) Aber es stimmt; Kollege Schiefner hat in einem Punkt recht gehabt: Einiges wurde im Gesetzgebungsverfahren in der Tat verbessert, einige falsche Anreize wurden behoben, beispielsweise im Bereich der Ausnahmen. Der E-Lkw wird mit Sicherheit erst im Stadtverkehr eine Rolle spielen, nicht auf die lange Distanz, was den 40‑Tonner angeht. Deswegen war es gut und richtig – und das fordern wir auch in unserem Antrag –, diese Ausnahmen auf Erdgas auszudehnen, degressiv zu gestalten, im Gegensatz zum E‑Lkw. Das ist insofern ein guter Ansatz, den wir unterstützt haben, wie auch die Ausnahme für land- und forstwirtschaftliche Betriebe. Die Balance zwischen der Landwirtschaft auf der einen Seite und der Abgrenzung zum gewerblichen Verkehr ist mit der derzeitigen Ausnahme unserer Meinung nach ordentlich gemacht. Deswegen haben wir das im Ausschuss auch unterstützt. Allerdings gibt es einen wichtigen Punkt, der noch nicht geändert wurde: Zum einen sind in der gleichen Gewichtsklasse beispielsweise die vierachsigen Fahrzeuge besonders stark belastet, im Vergleich zu dreiachsigen. Das ist, auch wenn man die Abnutzung der Infrastruktur betrachtet, nicht begründbar. Zum Zweiten – das hat die Anhörung klar ergeben – ist die Spreizung zwischen Euro 1 bis Euro 5 auf der einen Seite und den modernsten und saubersten Euro‑6-Fahrzeugen so gering, dass der Fuhrpark sich nicht erneuern wird, weil Sie keinen Anreiz setzen, indem Sie Euro‑6-Fahrzeuge vergleichsweise günstiger machen. Deswegen fordert die FDP, Luftverschmutzungskosten auszunehmen. Bei Euro‑6-Fahrzeugen wird es nicht zur notwendigen Flottenerneuerung kommen. Deswegen ist das, was Sie machen, ökologisch nicht so gut, wie Sie es eben dargestellt haben. Unser Antrag ist da in weitem besser. ({2}) Das heißt zusammengefasst: Diese 3 Milliarden Euro Erhöhung werden am Schluss die Verbraucher bezahlen, ab 1. Januar 2019 an der Ladenkasse. Das ist nicht nur eine Belastung für das mittelständische Transportgewerbe, die weitergegeben wird an andere Kunden, an die Endverbraucher, sondern wird auch im Gewerbe den Druck im Bereich der sozialen Standards erhöhen. Insofern ist es der falsche Ansatz. Ja, der Gesetzentwurf wurde an vielen Stellen richtigerweise nachgebessert. Dennoch: Was Sie hier machen, ist in dem Punkt nicht verhältnismäßig. Deswegen lehnen wir ihn ab. Ich darf Sie bitten – wenigstens für das nächste Mal –, unsere Anträge noch ein Stück mehr aufzugreifen. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Luksic. – Nächster Redner: Jörg Cezanne für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Linke unterstützt das Ziel des Gesetzentwurfs, die Mauteinnahmen von jetzt rund 4  Milliarden Euro auf zukünftig 8 Milliarden Euro zu erhöhen. Wir brauchen dieses Geld dringend, um Brücken und Straßen instand zu setzen und zu modernisieren. Aber – darüber möchte ich heute Abend mit Ihnen reden – es geht um mehr. Wir haben in Deutschland nämlich nicht nur ein unbestreitbares Problem mit dem Zustand des Straßennetzes; der Verkehrssektor selbst ist ein riesiges Problem: Erstens liegt er in der Liste der Klimasünder auf Platz zwei direkt hinter der Energieerzeugung, und zweitens steigen im Verkehr die CO 2 -Emissionen seit Jahren an, statt zu sinken. Daneben bereitet der stetig zunehmende Verkehr auch beim Gesundheitsschutz, bei Luftschadstoffen und bei lebenswerten Städten große Schwierigkeiten. Das kann so nicht bleiben. ({0}) Meine Damen und Herren, sagenhafte 96 Prozent der Emissionen des innerdeutschen Verkehrs gehen auf den Straßenverkehr zurück, so das Umweltbundesamt in seiner Berichterstattung atmosphärischer Emissionen. Wo also soll man klimapolitisch ansetzen, wenn nicht hier? Wir müssen endlich das „Weißbuch zum Verkehr“ der EU ernst nehmen. Wir müssen alles daransetzen, dass mittelfristig die Hälfte des Verkehrs von der Straße auf die umwelt- und klimafreundliche Schiene verlagert wird. ({1}) Ein Baustein dabei kann die Lkw-Maut sein. Aber wir dürfen uns auch keine Illusionen über die Wirksamkeit einer höheren Lkw-Maut machen. Preissignale allein führen nicht zu gesellschaftlichen Veränderungen. Während der Laufzeit des letzten Bundesverkehrswegeplans, der in etwa parallel zur Mauteinführung in Kraft gesetzt wurde, hat sich der Straßengüterverkehr verdoppelt und hat die Schiene nur bescheidene Zuwächse verbucht. Den Grund dafür kann man auf eine einfache Formel bringen: Wer Straßen baut, bekommt klimaschädlichen Straßenverkehr. ({2}) Seit Jahrzehnten betoniert die Bundesregierung den Interessen der Baulobby und der Automobilindustrie hinterher; die Länge des Schienennetzes und der schiffbaren Wasserstraßen ist ständig geschrumpft. So kann das nicht weitergehen. ({3}) Im aktuellen Bundesverkehrswegeplan ist von der dringend nötigen Investitionswende im Verkehrsbereich nichts zu spüren. Die Bundesregierung will weiterhin die Mautmilliarden für den Straßenbau reservieren, und das ist sowohl verkehrspolitisch als auch umweltpolitisch grundlegend falsch. ({4}) Deshalb schlagen wir vor, die Einnahmen aus der Lkw-Maut für eine ökologische Investitionswende im Verkehrsbereich einzusetzen. Die Mauteinnahmen dürfen eben nicht nur für den Straßenverkehr verwendet werden. Wir brauchen ein Ende, ein Durchbrechen des Finanzierungskreislaufs Straße. Dieser Kreislauf ist nicht mehr zeitgemäß. ({5}) Zu guter Letzt – die Anträge liegen Ihnen vor –: Wir wollen Schluss machen mit den Ausnahmen für die Fernbusse von der Maut; sie ist heute nicht mehr zu rechtfertigen. Sie stellen einen nicht zu rechtfertigenden Wettbewerbsvorteil gegenüber der Bahn dar. Auch die Mautbefreiung leichter Lkw von 3,5 bis 7,5 Tonnen Gesamtgewicht ist nicht mehr zu vermitteln. Sollten Sie den Änderungsanträgen zustimmen wollen, würden wir uns freuen; dann würden wir uns bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf nicht nur enthalten, sondern ihm auch gerne zustimmen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Als Nächstes hat das Wort der Kollege Stephan Kühn, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ab 2019 werden erstmals Kosten bei der Lkw-Maut berücksichtigt, die durch Lärm- und Luftverschmutzung im Straßengüterverkehr entstehen. Das ist richtig und war zugleich überfällig. ({0}) Doch von Kostenwahrheit sind wir noch ein großes Stück entfernt. Der Lkw-Verkehr soll mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nur 75 Prozent der Luftverschmutzungskosten und lediglich 28 Prozent der Lärmkosten tragen. Es kann nicht sein, dass ein Teil der Kosten auf die Gesellschaft abgewälzt wird. Der Straßengüterverkehr sorgt für Belastungen durch Lärm und Abgase und muss deshalb die Kosten dafür auch vollständig tragen. ({1}) Wir reden hier auch nicht über Peanuts: Bis 2022 wird der Lkw-Verkehr dadurch in Höhe von 1,3 Milliarden Euro vom Steuerzahler subventioniert. ({2}) Meine Damen und Herren, im Ergebnis der Expertenanhörung ist es in der Ausschussberatung zu einer Änderung am Gesetzesentwurf gekommen, die wir begrüßen, nämlich dass Lkws mit Erd- oder Flüssigerdgas bei der Maut bessergestellt werden. Wir hatten als Grüne eine bis 2025 befristete Halbierung der Mautsätze für Gasantriebe vorgeschlagen, weil diese Lkws eine bessere CO 2 -Bilanz haben; sie emittieren auch weniger Feinstaub. Es handelt sich um eine Brückentechnologie, die wir im Straßengüterverkehr brauchen. Die Koalition hat einen anderen Ansatz gewählt. Im Ergebnis ist jetzt aber ein technologieoffener Ansatz bei der Förderung alternativer Antriebe sichergestellt, und das begrüßen wir ausdrücklich. ({3}) Den Einsatz von Elektro-Lkws im Straßengüterverkehr durch eine Mautbefreiung zu fördern, ist grundsätzlich richtig, die handwerkliche Umsetzung im Gesetzentwurf hingegen weniger. Wir Grünen haben vorgeschlagen, dass Elektrolaster für die Mautfreistellung eine elektrische Mindestreichweite von 40 Kilometern aufweisen müssen, damit der Umweltvorteil eben nicht nur auf dem Papier, sondern auch auf der Straße zur Geltung kommt. ({4}) Ferner sollten Elektro-Lkw nur dann von der Maut befreit werden, wenn sie im Vor- und Nachlauf zur Schiene, also im kombinierten Verkehr, eingesetzt werden. Wir wollen nämlich keine Rückverlagerung von Verkehr von der Schiene auf die Straße; denn auch die Elektromobilität auf der Schiene ist nicht mautfrei; die Schienenmaut, die sogenannten Trassenpreise, fallen auch unter Fahrdraht an. Diese Forderung ist übrigens keine Idee von uns Grünen, sondern steht so im Masterplan Schienengüterverkehr des Bundesverkehrsministeriums vom Sommer letzten Jahres, der laut Koalitionsvertrag vollständig und dauerhaft umgesetzt werden soll. Im Masterplan Schienengüterverkehr heißt es, dass eine etwaige Privilegierung von Elektro-Lkw „ausschließlich im Vor-/Nachlauf zur Schiene im intermodalen Verkehr“ infrage kommt. So hätte man das auch umsetzen müssen. ({5}) Ich möchte darauf zu sprechen kommen, an welchen Stellen der Gesetzentwurf grundlegend hätte verändert werden müssen. Lkws zwischen 3,5 und 7,5 Tonnen zahlen keine Maut. Weil die Koalition diese „Mautlücke“ nicht schließt, sehen wir immer mehr kleine Lkws, die die Autobahnen verstopfen. Wenn Nutzerfinanzierung, dann muss sie auch für alle gelten. Auch kleine Lkws müssen für die Nutzung der Infrastruktur zahlen. Laut Wegekostengutachten entgehen dem Bund dadurch zwischen 2019 und 2022 Einnahmen von 1,4  Milliarden Euro, die nicht in die Verkehrsinfrastruktur investiert werden können. Auch bei der fehlenden Fernbusmaut ist die Koalition nicht konsistent. Der Bundesverband der Deutschen Industrie, die Allianz pro Schiene und der Verkehrsclub Deutschland haben in der Anhörung zum Gesetzentwurf einhellig die Einführung der Fernbusmaut gefordert; denn auch Fernbusse beanspruchen die Infrastruktur, die Straßen, die Brücken. Deshalb muss auch an dieser Stelle gelten: Nutzerfinanzierung für alle, also auch für Fernbusse. ({6}) Auch durch diese Subventionierung geht Geld verloren: jährlich 300 Millionen Euro zusätzliche Einnahmen, die gut und gerne als Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur hätten zur Verfügung stehen können. Abschließend: Die zusätzlichen Mauteinnahmen dürfen nicht einseitig für Straßenneubauinvestitionen verwendet werden. Die Einnahmen aus der Lkw-Maut müssen nach dem Prinzip „Verkehr finanziert Verkehr“ auch für Investitionen in die Schiene und die Wasserstraße eingesetzt werden. ({7}) Ich erinnere daran, dass bei der Einführung der Maut genau dieser Grundsatz galt, und er hat unverändert seine Berechtigung. Wenn wir es mit dem Klimaschutz ernst nehmen, dann brauchen wir zusätzliche Investitionen in die Schiene und in die Wasserstraße. An dieser Stelle kommen Sie diesem ursprünglich richtigen Ansatz nicht nach. Deshalb werden wir dem Gesetz heute nicht zustimmen. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Björn Simon, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Björn Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Hier und heute wird Erfolgsgeschichte fortgeschrieben. Vor über zehn Jahren hat die Bundesregierung die Lkw-Maut eingeführt. Seitdem wird Schritt für Schritt dafür gesorgt, dass nicht mehr die Steuerzahler und damit die Bürgerinnen und Bürger an sich, sondern mit den Lkw die hauptsächlichen Nutzer den Ausbau und den Erhalt unserer Verkehrsinfrastruktur finanzieren. Das ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie moderne Verkehrspolitik funktioniert und wie wir die gesetzlichen Rahmenbedingungen immer weiterentwickeln und an die verkehrspolitischen Herausforderungen unserer Zeit anpassen. Allein im Jahr 2017 brachte die Lkw-Maut – wir haben es schon gehört – rund 4,7 Milliarden Euro ein, die, liebe FDP, zweckgebunden in den Erhalt und Bau der Bundesfernstraßen fließen. Das ist der größte Einnahmeposten für die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur, die nicht weniger als die Grundlage für wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand in unserem Land ist. Entscheidend für den Erfolg des Gesetzes sind gleiche Mautsätze auf Autobahnen und Bundesstraßen, die wir hier durchsetzen, um Ausweichverkehre zu vermeiden. Das ist gerade für den ländlichen Raum von immenser Bedeutung. Wir führen drei Gewichtsklassen ein – zwischen 7,5 und 12 Tonnen, von 12 bis 18 Tonnen und ab 18 Tonnen –, weil ein 40-Tonner die Straßenbeläge nun mal deutlich stärker belastet als ein 10-Tonner. Damit senden wir ein wichtiges Signal an unsere Handwerksbetriebe, weil die zumeist mit 3,5- bis 7,5-Tonnern unterwegs sind. Das führt im Gegensatz zu den bisherigen Achsklassen zu mehr Gerechtigkeit nach dem Verursacherprinzip. ({0}) Zusätzlich fließen Berechnungen zu Luftverschmutzung und Lärmbelastung mit ein. Eine weitere gute Nachricht: In dem vorliegenden Entwurf klammern wir land- und forstwirtschaftliche Fahrzeuge von der Mautpflicht aus – wir haben es schon mehrfach gehört –, und das ohne Geschwindigkeitsbegrenzung. Diese Lösung ist nicht nur praxisgerecht, sie ist auch vor Ort umsetzbar, und damit zielen wir genau in die vom Bundesrat geforderte Richtung. ({1}) Ein weiterer Punkt, der uns sehr wichtig ist und gerade in die Debatte rund um alternative Antriebe passt: Elektrisch betriebene Lkw werden komplett von der Maut befreit. Zusätzlich haben wir den Erdgasantrieb mit in die Debatte aufgenommen – eine zukunftsträchtige Technologie, auch und vor allem beim Lastverkehr, bei der wir über größere Reichweiten sprechen als bei der Elektromobilität. Gemeinsam mit dem Bundesverkehrsministerium konnten wir vereinbaren, erdgasbetriebenen Verkehr auf zwei Jahre befristet komplett von der Mautpflicht zu befreien. Hiermit schaffen wir Anreize, verstärkt diese umweltfreundliche Technologie zu nutzen, und natürlich auch den Folgeanreiz, das noch sehr weitmaschige Netz von Erdgastankstellen stark auszubauen. Die Zukunftsfähigkeit des Erdgasantriebs wollen wir nach den zwei Jahren sichern, indem wir anschließend reduzierte Mautsätze berechnen. Was die Fortsetzung dieser Erfolgsgeschichte ausmacht, ist nicht nur die geplante Umsetzung der aktualisierten Mautsätze auf der Basis des Wegekostengutachtens für die Jahre von 2018 bis 2022, ist nicht nur das Fortschreiben der Nutzerfinanzierung, die auch weiterhin den größten Einnahmeposten für die Verkehrsinfrastrukturfinanzierung darstellen wird; es ist vielmehr die Tatsache, dass wir die Lkw-Maut durch Aspekte wie die Befreiung für elektrisch oder durch Erdgas angetriebene Lkw an die aktuellen verkehrspolitischen Herausforderungen anpassen. ({2}) Mein Dank gilt allen Beteiligten für die hervorragende Arbeit sowohl am Entwurf als auch an den noch eingebrachten Verbesserungen. Danke auch den Kolleginnen und Kollegen für die wirklich sachorientierte Diskussion im Verkehrsausschuss! Der vorliegende Gesetzentwurf mit den eingebrachten Änderungen verdient umfängliche Unterstützung, und darum bitte ich Sie. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Den Abschluss zu diesem Punkt macht der Kollege Karl Holmeier, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Fünften Gesetz zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes gehen wir weiter einen erfolgreichen Weg. Den Systemwechsel von der Steuerfinanzierung zur Nutzerfinanzierung im Bundesfernstraßenbau hat unser ehemaliger Verkehrsminister Alexander Dobrindt auf den Weg gebracht. Er hat dafür den Grundstein gelegt. Dafür einen herzlichen Dank! Ich danke auch dem jetzigen Minister Andreas Scheuer, der diesen erfolgreichen Weg ebenso erfolgreich weiterführt. Mit der Anpassung der Mautsätze zum 1. Januar 2019 auf Grundlage des neuen Wegekostengutachtens setzen wir auch ein Versprechen aus dem Koalitionsvertrag um: Die Maut wird für alle Lkw ab 7,5 Tonnen auf alle Bundesfernstraßen ausgeweitet, und, was entscheidend ist, es gelten auf allen Bundesstraßen und -autobahnen die gleichen Mautsätze. Das ist gerade für den ländlichen Raum von entscheidender Bedeutung. ({0}) Künftig stehen jährlich rund 7,2 Milliarden Euro Mauteinnahmen für die Verkehrsinfrastruktur in unserem Land zur Verfügung. Die dringend erforderlichen Investitionsmaßnahmen im Verkehrswegenetz in Deutschland sind somit für die Zukunft finanziell abgesichert; ({1}) denn nur mit einer guten Infrastruktur können der wirtschaftliche Erfolg und die gute Entwicklung unseres Landes auch in Zukunft sichergestellt werden. ({2}) Fünf Punkte, meine Damen und Herren, sind für uns besonders wichtig: Punkt eins. Wie schon gesagt: Gleiche Mautsätze auf allen Bundesstraßen und -autobahnen, das ist vor allem für den ländlichen Raum wichtig. Punkt zwei. Wir setzen mit dem neuen Bundesfernstraßenmautgesetz zwei Beschlüsse aus der letzten Wahlperiode um. Die Mauthöhe bemisst sich in Zukunft nicht mehr nur nach Achsen, sondern auch nach Gewichtsklassen. Vor allem die leichteren Fahrzeuge zwischen 7,5 und 18 Tonnen werden somit gerechter behandelt. Das ist ein ganz wichtiger Punkt für unser Handwerk. ({3}) Punkt drei. Die land- und forstwirtschaftlichen Fahrzeuge werden von der Maut freigestellt. Dies gilt auch für Leerfahrten. ({4}) Das war nicht immer so. Es ist ein wichtiges Signal für unsere Landwirtschaft. Wir haben die Verbindung zum Güterkraftverkehrsgesetz hergestellt. Für Lohnunternehmen gilt die Regelung „bis 40 km/h“. Auch das ist so in Ordnung. Punkt vier. Wir werden Elektro-Lkw mit dem neuen Gesetz von der Maut freistellen. Das dient dem Markthochlauf von elektrisch betriebenen Nutzfahrzeugen. Wir unterstützen damit eine Schlüsseltechnologie für einen nachhaltigen Verkehr in der Zukunft. Wir haben bereits das Förderprogramm für die Anschaffung von energieeffizienten und CO 2 -armen Fahrzeugen. Auch hier ist eine Unterstützung möglich. Das Programm gilt seit einem Monat, und es wurden bereits Anträge für 148 Fahrzeuge gestellt. Das ist also ein erfolgreicher Weg. ({5}) Wir bieten damit unseren Transportunternehmern einen wichtigen Anreiz, zur Schonung unserer Umwelt beizutragen. Der fünfte Punkt – auch der wurde schon angesprochen –: Wir befreien Lkw mit Erdgasantrieb zunächst für zwei Jahre von der Maut. Die Anschaffung dieser Fahrzeuge wird ebenfalls über ein Förderprogramm unterstützt. Mit der Befreiung von der Maut wird noch ein zusätzlicher Anreiz zum Kauf energieeffizienter erdgasbetriebener Lkw auf den Weg gebracht. ({6}) Wir brauchen aber auch, meine Damen und Herren, ein flächendeckendes Tankstellensystem in Deutschland, und das ist das Entscheidende. Was hilft es uns, wenn wir für zwei Jahre von der Maut freistellen, aber keine Tankstellen haben? ({7}) Deshalb fordere ich die Wirtschaft auf, schnell Tankstellen in Deutschland auf den Weg zu bringen. Ich bin mir sicher: Nach dem Henne-Ei-Prinzip erleichtert eine verstärkte Nachfrage nach LNG, nach Gas, sicherlich auch die Entscheidung, in LNG-Terminals und -Tankstellen zu investieren. ({8}) All diese Punkte, meine Damen und Herren – ich bin gleich fertig, Herr Präsident –, ({9}) verdeutlichen, dass wir mit der heutigen Verabschiedung des Fünften Gesetzes zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes einen wichtigen Beitrag zur Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur leisten. Selbstverständlich werden auch in Zukunft Anpassungen des Gesetzes notwendig sein; wir müssen das überprüfen. So wird zum Beispiel in den nächsten Jahren die Freistellung von der Mautpflicht eventuell für Fahrzeuge der Abfallwirtschaft beobachtet werden. Grundsätzlich sollten Befreiungen von der Zahlung der Maut aber Ausnahmen bleiben; ({10}) denn wer die Straße nutzt, soll entsprechend seiner Nutzung dafür zahlen. Diesen Grundsatz setzen wir mit dem neuen Bundesfernstraßenmautgesetz konsequent um, und diese Umsetzung, meine Damen und Herren, ist ein voller Erfolg. Danke den Berichterstattern und den Verantwortlichen für die schnelle und vor allem gut abgestimmte Beratung dieses Gesetzes! Vielen Dank und alles Gute der Maut in Deutschland! ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich danke Ihnen, dass Sie doch noch fertig geworden sind, ({0}) und ich schließe die Aussprache. Wir kommen unter dem Tagesordnungspunkt 15 a zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes. Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5102 (neu), den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/3930 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu gibt es zwei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke. Über die stimmen wir zuerst ab. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 19/5110? – Die Linke. Sonst noch jemand? – Die Grünen auch. Enthaltungen? – Keine. Gegenstimmen? – AfD, FDP, CDU/CSU und SPD. Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt. Dann kommen wir zum Änderungsantrag auf Drucksache 19/5111. Wer stimmt dafür? – Die Linke und die Grünen wieder. Wer stimmt dagegen? – Das ist wieder die gleiche Mehrheit wie vorhin: SPD, CDU/CSU, FDP und AfD. Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind CDU/CSU und SPD. Enthaltungen? – Die Linke. Wer stimmt dagegen? – FDP, Grüne und AfD. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das ist wieder die Koalition. Enthaltungen? – Die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Grüne, FDP, AfD. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen. Tagesordnungspunkt 15 b. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/4921 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Bettina Stark-Watzinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004902, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich war vor kurzer Zeit in Asien auf einer Veranstaltung zum Thema Fintechs. Der Erste, der mich ansprach, hat mich auf Deutsch angesprochen; er war nicht der Einzige. Dort sind Fintech-Unternehmen, die bewusst nach Asien gegangen sind, weil sie dort die besten Rahmenbedingungen für sich sehen. ({0}) In China, Japan, Südkorea, überall wachsen die Patente. Bei uns stagnieren sie seit dem Jahr 2000. Unter den Top 100 der wertvollsten Unternehmen sind gerade einmal drei deutsche Unternehmen, die ein Durchschnittsalter von 115 Jahren haben. Ich habe nichts gegen erfahrene und erfolgreiche Unternehmen – ganz im Gegenteil –, aber es könnten mehr sein, und ein bisschen frisches Blut wäre auch nicht schlecht. ({1}) Andere Länder haben hier schon ein funktionierendes Ökosystem für Innovation und Wachstum aufgebaut. Die Zahlen zeigen schonungslos: Unsere Regierung ist innovationsträge. Wenn man alle Fehler aus einer Kutsche beseitigt, erhält man möglicherweise eine perfekte Kutsche, aber wahrscheinlich nicht das erste Automobil. Das Zitat stammt von unserem EU-Botschafter für kreatives Denken – so was haben wir in der EU auch. Worauf will ich hinaus? Wir sind Weltmeister bei der Herstellung der Produkte des 19. und 20. Jahrhunderts. Grundlegende, neue Innovationen kommen bei uns aber zu kurz. Ohne Geld bleibt auch eine innovative Idee nur eine Idee. Klassische Bankkredite kommen für Risikogeschäfte meistens nicht infrage. Deswegen brauchen wir neben starken Finanzinstitutionen am Finanzplatz eben auch mehr Wagniskapital. ({2}) Allein in Israel, um das mal als Beispiel heranzuziehen, ist der Markt für Wagniskapital etwa zehnmal größer als in Deutschland. Das Land gilt bei Technologien als eines der innovativsten Länder auf der Welt. Auf einer Fläche, die kleiner ist als mein schönes Bundesland Hessen, aus dem ich komme, stehen 180 Venture-Capital-Fonds zur Finanzierung bereit. Ich hoffe, der hessische Finanzminister hört zu. Wir haben kluge Köpfe, aber neben zu vielen bürokratischen Hindernissen fehlt es vor allem an der Finanzierung des Wachstums von innovativen Ideen. Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfrage bestätigt uns in dieser Einschätzung. Wer also den Finanzplatz Frankfurt/Deutschland international stark machen möchte, wer Zukunft finanzieren möchte, wer Unternehmen Wachstum ermöglichen möchte, der muss Deutschland als Innovationsstandort für Wagniskapital und andere innovative Finanzierungen wettbewerbsfähig machen. ({3}) Wir müssen uns lösen von einem Feindbild: dass private Investoren schlecht sind. Wir sollten froh sein, dass wir neben innovativen Unternehmern auch Investoren haben, die bereit sind, Geld in risikoreichere Start-ups zu investieren. Stecken wir also nicht all unsere Energie in das Bekämpfen, sondern in den Aufbau des Neuen. ({4}) Deswegen ist eines klar: Wir brauchen ein modernes, international anschlussfähiges Steuersystem, wir brauchen Anleger in Wagniskapital, die durch eine faire Besteuerung zu Ermöglichern gemacht werden, und unser Finanzplatz benötigt neben klassischen Finanzierungsinstrumenten verlässliche Rahmenbedingungen für Alternativen wie Crowdfunding oder ICOs. ({5}) Wir wollen breite Schichten am Wachstum junger Unternehmen beteiligen und die dafür notwendigen Fondsstrukturen unterstützen. Eine Beteiligung der KfW ist gut, aber das kann nur die Spitze des Eisbergs sein. Schauen wir auch nicht weiter tatenlos zu, dass immer mehr junge Menschen in den Staatsdienst drängen. Stärken wir den Gründergeist an Schulen; denn wir brauchen Menschen, die die Gehälter im Staatsdienst finanzieren. Stärken wir den Gründergeist, um die Erfinder- und Unternehmertalente zu fördern. Wirtschaftsminister Altmaier möchte aktiv werden, das Finanzministerium fängt ihn wieder ein. ({6}) Blockieren Sie sich nicht. Streiten Sie sich nicht zwischen Finanz- und Wirtschaftsministerium. Denken Sie an die vielen Chancen, die uns verloren gehen. Lähmen Sie das Land nicht wieder durch unnötigen, sogenannten Beratungsbedarf wie beim Solidaritätszuschlag. Ich freue mich auf die weitere Diskussion im Ausschuss. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Hermann-­Josef Tebroke, CDU/CSU. ({0})

Dr. Hermann Josef Tebroke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Unionsfraktion begrüßen wir grundsätzlich jede Initiative und insofern auch den vorliegenden Antrag der FDP – ({0}) – ja, wir begrüßen Ihren Antrag –, insoweit er darauf ausgerichtet ist, die Maximen unserer sozialen Marktwirtschaft zu unterstützen. Dazu erstens. Jawohl, wir sind davon überzeugt, dass für die Entwicklung der Wirtschaft und des Wohlstands in unserem Land erfolgreiche Unternehmen wichtig sind. Und ja, wir sind davon überzeugt, dass wir Innovationsfähigkeit und Innovationsbereitschaft benötigen, um auch zukünftig wettbewerbsfähig zu sein. Meine Damen und Herren, wir sind auf einem guten Weg. In einer aktuellen Studie des Weltwirtschaftsforums hat die Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf die volkswirtschaftliche Stabilität Platz drei belegt ({1}) und hinsichtlich der Innovation den Platz eins. Der BDI titelt: Innovationsweltmeister. ({2}) Zweitens. Wir setzen dabei auf junge Unternehmen und innovative, mutige Unternehmerinnen und Unternehmer. Sie verdienen unsere Anerkennung. Sie verdienen aber auch unsere Unterstützung, Beratung, Netzwerke und natürlich auch Kapital – eine agile Gründerszene eben. Die Gründerszene, meine Damen und Herren, ist, drittens, agil. Damit widerspreche ich dem Antragsteller, der den Eindruck erweckt, als müsste man den neuen Gründergeist, die neue Gründerkultur erst schaffen. Das ist nicht richtig, und das ist auch nicht gerecht gegenüber denjenigen, die sich über viele Jahre erfolgreich in der Gründerszene engagieren. Nehmen Sie die letzten 20 Jahre, gerade auch die Zeit seit 2008/2009. So die Entwicklung im Business-­Angels-Markt: Sie begann analog und ist jetzt zunehmend digital. ({3}) Nehmen Sie die Angebote der Existenzgründungsberatung in den Wirtschaftsförderungsgesellschaften und den Einrichtungen des Handwerks. Nehmen Sie den Europäischen Investitionsfonds, INVEST, EXIST, die KfW-Gründerplattform, die Zusammenarbeit mit den Bürgschaftsbanken oder aber die Initiativen, die sehr wohl existieren, von Verbänden und von Unternehmen – vielleicht ist Ihnen das nicht so bewusst geworden –, die darauf setzen, mit den Schulen finanzielles Wissen zu vermitteln und Unternehmergeist zu begründen. ({4}) Ich finde, dass diese Initiativen und Akteure durchaus Anerkennung verdienen für das, was sie für die Gründerszene unternommen haben. Viertens, meine Damen und Herren von der antragstellenden Fraktion: ({5}) Die Koalition ist längst in der Gründerszene unterwegs. Das zeigt nicht nur der aktuelle Koalitionsvertrag. Der Kollege Hauptmann wird sicherlich auf den einen oder anderen Aspekt gleich noch eingehen. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der FDP-Fraktion?

Dr. Hermann Josef Tebroke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Bitte schön, Herr Kollege.

Frank Müller-Rosentritt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Kollege, wenn das alles so hervorragend ist, wie Sie beschreiben: Wie erklären Sie sich denn, dass zum Beispiel Israel pro Einwohner das Zehnfache an VC hat wie Deutschland?

Dr. Hermann Josef Tebroke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also, ich weiß nicht, ob es richtig ist, dass Sie die Effizienz einer Gründerszene alleine daran festmachen, wie viel Euro Venture-Capital pro Einwohner zur Verfügung gestellt werden. Ich glaube, dass Gründerszene mehr ist als nur die Bereitstellung von Kapital. Ich glaube, wir sollten uns im Rahmen der anstehenden Beratungen – deswegen begrüße ich diesen Antrag – ({0}) auch intensiver darüber austauschen, was zum Beispiel mit Venture-Capital in dieser Statistik gemeint ist und was wir an anderer Stelle mit Venture-Capital verbinden. ({1}) Ich glaube, dass es nottut – da darf ich vielleicht vorgreifen –, dass man hier nicht nur mit Begrifflichkeiten, sondern auch mit Themen etwas sortierter umgehen müsste. Wenn Sie erlauben: Gelegentlich macht der Antrag der FDP den Eindruck, als sei er – wie soll ich sagen? – eine Sammlung von Auszügen aus Forderungskatalogen von Unternehmens- und sonstigen Verbänden. Diese werden zusammengetragen ({2}) und sollen so etwas wie einen Antrag auf eine Gesetzesinitiative ergeben? Ich glaube, da müssen wir nicht nur eine Menge begrifflich sortieren, ({3}) sondern wir müssen uns viel deutlicher darüber unterhalten, wer eigentlich Adressat dieses Programmes ist und welche Unternehmensphasen Sie im Blick haben, wenn Sie von Förderprogrammen sprechen. Das geht hier drunter und drüber; das darf ich einmal sagen. Ich freue mich auf die Auseinandersetzung und auch auf die Sortierung solcher Hinweise, wie Sie sie gerade gegeben haben, was das Venture-Capital angeht. Meine Damen und Herren, fünftens. Auch die Zahlen sprechen durchaus für die Gründerszene. Ich möchte nicht nur auf den durchaus akzeptablen oder ansprechenden Beitrag von 1 Milliarde Euro Venture-Capital für Start-ups zu sprechen kommen – wir werden das gelegentlich neu sortieren –, ich möchte auch auf den KfW-Gründungsmonitor eingehen, den Sie zitiert haben, ({4}) wo Sie auf die sinkenden, stagnierenden Zahlen der Gründungen abstellen. ({5}) Wenn Sie genauer hinschauen, stellen Sie fest, dass man die Qualität der Zahlen analysieren müsste; denn die Unternehmensgründungen, die heute stattfinden, finden vor einem ganz anderen Hintergrund statt als vor zehn Jahren, wo viele Gründungen aus der Not heraus entstanden sind. Deswegen verdient es einen sorgfältigen Blick. Ich komme zum Schluss. Es ist gut und richtig, dass der Antrag die Gründerkultur und ihre Rahmenbedingungen in den Mittelpunkt stellt; deswegen ist der Antrag willkommen. Es ist aber nicht richtig, wenn der Eindruck entsteht, dass der Antrag selbst innovativ und zielgerichtet sei; darauf hatte ich gerade schon hingewiesen. Meine Damen und Herren, wir sind gut unterwegs in der Gründerszene in Deutschland. Aber wir wollen auch in Zukunft gut unterwegs sein. Und nichts ist so gut, dass man es nicht besser machen könnte. Deswegen freue ich mich auf die konstruktive Debatte in den Ausschüssen. Ich denke, das hat die Gründerszene auch verdient. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Leif-Erik Holm. ({0})

Leif Erik Holm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004761, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Guten Abend, liebe Bürger! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden über die Gründerkultur. Das ist wirklich ein wichtiges und gutes Thema, wie wir finden; denn wir haben ja den Gründergeist. Wir haben 2013 sogar eine neue Partei gegründet, weil es die alten nicht mehr auf die Reihe bekommen haben. ({0}) Und wir sehen heute: Das belebt den Markt, in diesem Fall den politischen Markt. Also, es ist wirklich eine gute Sache. So funktioniert es natürlich auch in der Wirtschaft: Ein starker Gründergeist bedeutet Aufbruch, die Ärmel hochkrempeln, Ideen in die Tat umsetzen. Das führt letztendlich zu mehr Wohlstand für alle. Diese Stimmung müssen wir in diesem Land tatsächlich wieder neu erzeugen. Aber das können wir von Merkels Minikoalition wohl nicht erwarten; denn die schleppt sich im Moment ja wirklich nur noch müde von Krise zu Krise. ({1}) Wir müssen über viele Dinge reden, beispielsweise über das Demografieproblem: Wir haben viel zu wenig junge Leute. Da ist unser Bildungsproblem: Aus unserem maladen Bildungssystem kommen, um es salopp zu sagen, viel zu viele Taxifahrer und viel zu wenig Spitzenwissenschaftler. ({2}) – Damit habe ich natürlich nichts gegen Taxifahrer an sich gesagt; das ist doch klar. – Und die paar Spitzenwissenschaftler, die wir haben, gehen dann auch noch ins Ausland, weil sie dort bessere Forschungsbedingungen vorfinden. ({3}) Die Idee des Antrags ist absolut richtig, wenngleich der Ausgangsgedanke offensichtlich ein anderer war. Ich habe mich etwas gewundert, als ich den Antrag zuerst gelesen habe: „Finanzstandort Frankfurt“. Was mag das bedeuten? Aber dann ist es mir relativ schnell eingefallen: ({4}) Wir haben in einer Woche Wahlen in Hessen. Ist doch klar, dass da noch schnell was zusammengeklöppelt werden musste. Wir haben hier ein Sammelsurium, das uns nicht wirklich weiterbringt. Es ist ein reiner Schaufensterantrag vor der kommenden Wahl, um die eigene Klientel noch einmal zu bedienen. ({5}) Das ist ja auch alles legitim; aber ich finde, wenn Sie den Ball schon spielen, dann sollten Sie ihn auch gut spielen. Das ist leider nicht der Fall. Sie bringen da teils Banalitäten zu Papier, und es bleibt viel zu viel auf halbem Wege stecken. ({6}) Wir stimmen Ihnen ja in vielen Dingen zu; das ist klar. ({7}) Es ist natürlich wichtig, dass wir dazu beitragen, dass sich junge Leute schon in der Schule, im Studium für wirtschaftliche Themen interessieren, sodass sie vielleicht den Weg zur Gründung einer eigenen Firma einschlagen. Eine steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung ist richtig; dazu haben wir ja selbst vor kurzem einen Antrag eingebracht. Auch der Zugang zu Wagniskapital ist natürlich von Bedeutung; aber das ist nicht das entscheidende Problem. Die Kernprobleme sind vielmehr, geeignetes Personal zu finden – das zeigen Studien –, bürokratische Hürden und die mangelhafte Verknüpfung von Bildungs- und Forschungseinrichtungen mit jungen Unternehmen. Wir brauchen echt gut gemachte Gründerzentren, die endlich dafür sorgen, dass Innovationen auch in Deutschland in wirtschaftlichen Erfolg umgemünzt werden. Diese Gründerzentren sind bei uns leider nicht so erfolgreich, wie sie sein könnten, unter anderem wegen des Bürokratieproblems: Es sind zig administrative Hürden zu nehmen in Landratsämtern, Gemeinden, bei der Stadtverwaltung, Anträge müssen ausgefüllt werden. Auf der anderen Seite ist der Universitätsbetrieb so behäbig, dass man das Ganze strukturell kaum mit jungen, agilen Start-up-Unternehmen zusammenbekommt. Schauen wir im Vergleich mal nach England. Mit dem Cambridge-Cluster haben wir ein Beispiel dafür, was möglich ist, wenn es einem ernst ist mit der Förderung von Innovation und Unternehmertum. Anfang der 80er-Jahre gab es in diesem Gebiet ungefähr 40 kleine Firmen im Hochtechnologiebereich – 40! Heute arbeiten dort 60 000 Menschen in über 4 300 Hightechfirmen. Das ist das sogenannte Phänomen Cambridge. Und das, was in Großbritannien funktioniert, muss ja wohl auch im Hochtechnologieland Deutschland möglich sein. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von dem Kollegen Müller-Rosentritt, FDP?

Leif Erik Holm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004761, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, bitte schön.

Frank Müller-Rosentritt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Kollege, ich kenne ganz konkrete Fälle, wo Spitzenwissenschaftler ihren Job zum Beispiel in Dresden nicht angetreten haben, weil ihre Frauen nicht mitkommen wollten, weil sie eine andere Hautfarbe hatten und sich unwohl fühlten. Sie fühlten sich deshalb unwohl, weil sie sich hier im Land nicht willkommen fühlen. Kann es sein, dass es an Ihrer Partei liegt, an Ihrer Ausgrenzungspolitik, dass Spitzenwissenschaftler nicht zu uns kommen? ({0})

Leif Erik Holm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004761, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das ist wirklich eine sehr, sehr armselige Suggestiv­frage, die Sie hier stellen, und es ist natürlich ein hanebüchener Unsinn. Es gibt – damit können wir an dieser Stelle wirklich einmal aufräumen – in der AfD keinen Rassismus, das ist ja wohl eindeutig. ({0}) Wir kritisieren Missstände in diesem Land – es ist schön, dass Sie das noch mal ansprechen –, Missstände, die diese Regierung zu verantworten hat, und das hat nichts mit Hautfarbe zu tun, das hat etwas mit illegaler Migration zu tun, die hier stattfindet. Da geht es überhaupt nicht um die Hautfarbe. ({1}) Ich wäre eigentlich ganz gerne beim Thema geblieben. Wir wollten über das Cambridge-Phänomen reden. ({2}) Wie haben die Briten das hinbekommen? Das ist nämlich wirklich interessant. Ein Baustein sind diese Gründerzentren, die eng mit den dortigen Spitzenforschern zusammenarbeiten. Aber ebenso wichtig war die Schaffung eines wirtschaftsfreundlichen Umfelds: Staatliche Regulierungen wurden zurückgefahren, Genehmigungsverfahren bei Unternehmensgründungen vereinfacht, arbeitsrechtliche Hürden wurden beseitigt, und die Steuern wurden gesenkt; das wurde schon angesprochen, ein wirklich wichtiges Thema. Kurz: Es wurde alles dafür getan, dass junge Unternehmen atmen und arbeiten können. Genau in diese Richtung müssen wir die Weichen stellen. Lassen Sie uns also dafür sorgen, dass Bürger und Unternehmen endlich steuerlich entlastet werden – Stichwort „Soli abschaffen“ –; es ist wirklich allerhöchste Zeit dafür. ({3}) Lassen Sie uns Bürokratie endlich wirklich abbauen, das Bildungswesen wieder flottmachen und die Forschung fördern. Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, dann kommt der Gründergeist wie von selbst aus der Flasche. In diesem Sinne freue ich mich auf produktive Diskussionen in den Ausschüssen. Danke schön. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Jens Zimmermann, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Jens Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004603, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss sagen, ich habe in den letzten zwölf Monaten viele Kolleginnen und Kollegen von der FDP kennengelernt, auch meine Ausschussvorsitzende, die eben vorgetragen hat, und ich hatte den Eindruck: Hier ist eine Partei wirklich zu ihren liberalen Wurzeln zurückgekehrt. ({0}) Aber manchmal – das ist eben das Problem – trügt der Schein. Wenn ich mir den ersten Absatz des vorliegenden Antrags anschaue, kann ich nur den Kopf schütteln: Da steht geschrieben, man müsse die Regulierung der Finanzmärkte zurückstutzen. ({1}) Man bräuchte mehr „Animal Spirits“ bei den Investoren. Außerdem wird noch gegen Gewerkschaften, Verbraucherschützer und NGOs gehetzt. Das ist leider die alte FDP, meine Damen und Herren, und das ist wirklich sehr, sehr schade. ({2}) Dann habe ich mich gefragt – ich habe den Titel aufmerksam gelesen –: Wo kommt denn jetzt eigentlich Frankfurt in diesem Antrag vor? ({3}) Ich habe festgestellt: Frankfurt kommt genau ein Mal in Ihrem Antrag vor – in der Überschrift. Als Hesse muss ich mich darüber doch wundern; ({4}) denn wir haben in Frankfurt ja einiges zu bieten. Ich würde mal sagen, diese von Ihnen im Antrag so herablassend zitierten Verbraucherschutzorganisationen hätten für solch einen Antrag einen Fachbegriff: Etikettenschwindel. ({5}) Sie konzentrieren sich – das ist inhaltlich ein zentraler Punkt, an dem Ihr Antrag viel zu kurz greift – einzig und allein auf Finanzierungsinstrumente. Ja, das ist ein wichtiger Faktor. Ich kann Ihnen aber sagen: In Hessen haben wir uns zum Beispiel für den Verbleib der Frankfurter Börse ausgesprochen. Sie sollte ja mit London fusionieren. Wir wollten das nicht. ({6}) Dagegen hat sich die FDP ja auch ausgesprochen; das kann man konstatieren. ({7}) Aber es geht eben um mehr. Die Tonlage, die Sie in diesem Antrag anschlagen, sorgt eben nicht dafür, dass wir in Frankfurt, in Hessen und in Deutschland ein gründerfreundlicheres Umfeld bekommen. Gründerökosysteme leben auch vom sozialen Umfeld. ({8}) Wir haben zum Beispiel in Frankfurt die Situation, dass Menschen Angst haben, sich irgendwann gar keine Wohnung mehr leisten zu können, wenn zum Beispiel Banker aus Großbritannien nach Frankfurt kommen ({9}) Eigentlich müsste man sagen: Ist doch eine super Sache, wenn die zu uns kommen. ({10}) Diese Angst sorgt aber eben nicht für ein Umfeld, das Kreativität und Toleranz fördert und das für eine offene Gesellschaft steht. Sie fördert am Ende auch nicht die Gründung von Unternehmen, meine Damen und Herren. ({11}) – Ja, da können Sie gerne rufen, dass das völliger Quatsch sei, Herr Kollege. Es gibt aber eine Organisation, die nicht gerade als Vorfeldorganisation der SPD bekannt ist und sich dazu geäußert hat. Das Weltwirtschaftsforum – ({12}) es ist eben schon zitiert worden – hat in dieser Woche auf die Kriterien und auf die Bedeutung genau dieser Umfeldfaktoren hingewiesen. Es gibt zum Beispiel in Berlin Menschen aus der ganzen Welt, die hier Unternehmen gründen, die ihre Ideen mitbringen und ({13}) die diese Stadt eben auch so bunt machen. Es gibt sie in Frankfurt, in Offenbach und in Hessen auch. Das ist ein ganz zentraler Punkt. Ich kann zur Förderung der Gründerkultur in Hessen und in Deutschland versprechen, dass wir uns zum Beispiel im Rhein-Main-Gebiet für eine offene und tolerante Gesellschaft einsetzen werden. ({14}) Thorsten Schäfer-Gümbel und wir werden dafür sorgen, ({15}) dass es bezahlbaren Wohnraum, ({16}) eine ordentliche Verkehrsinfrastruktur und ordentliche Bildungsmöglichkeiten gibt; ({17}) denn nur in einer Gesellschaft, die offen und tolerant ist, können Ideen sprießen. Nur dann kommen Gründerinnen und Gründer zu uns. Sie sind und bleiben der „Wolf of Wall Street“. Ich sage Ihnen noch mal: Mehr Animal Spirits. Herzlichen Dank. ({18})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Jörg Cezanne. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP! Es tut mir leid, aber ein bisschen Spott kann auch ich Ihnen nicht ersparen. Schauen Sie noch einmal in den Antrag hinein. Ich zitiere: Nach der Finanzkrise hat die Politik die Finanzmärkte deutlich stärker reguliert. Das muss jetzt sinnvoll zurückgestutzt werden. ({0}) Das bringt das komplexe Thema der Finanzmarktregulierung auf das Niveau eines Donald-Trump-Tweets, ({1}) nach dem Motto: Regeln für Finanzmärkte: schlecht, ganz schlecht. Zurückstutzen! – Auch die intellektuelle Tiefe Ihrer ökonomischen Analyse ist überwältigend. Zitat: Denn ohne dynamische Finanzmärkte geht es nicht. Na, Donnerwetter! (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Der war gut! Ähnlich kläglich ist die politische Analyse. Der Kollege Zimmermann hat schon darauf hingewiesen: Gewerkschaften, Verbraucherschützer und Antiglo­balisierungs-NGOs werden nicht die Start-ups in Deutschland finanzieren. ({2}) Das ist nicht deren Aufgabe, und es hat niemand gefordert. Hauptsache, man hat mal einen flotten Spruch rausgehauen. Ehrlicher und unverblümter könnten Sie nicht belegen, dass Sie aus der letzten Finanzmarktkrise gar nichts gelernt haben; es tut mir leid. ({3}) Auch Ihre Vorschläge zur Verbesserung der Situation von Starts-ups folgen – das wäre jetzt die ernsthafte Kritik – einem etwas schlichten Ansatz. ({4}) Statt begründeter und gezielter Förderung wollen Sie die angestrebte Gründerkultur im Wesentlichen durch Steuersenkungen ({5}) und Deregulierungen nach dem Gießkannenprinzip entfalten, ({6}) nach dem Motto: Wir gießen überall etwas hin und schauen, was passiert. Die Erfahrungen mit solcherlei Wirtschaftsförderung waren schon bei der Schaffung blühender Landschaften im Osten Deutschlands alles andere als ermutigend. Warum übrigens – auch darauf hat Herr Zimmermann schon hingewiesen – in der Überschrift Ihres Antrags der Finanzstandort Frankfurt extra angesprochen wird, wird Ihr Geheimnis bleiben. ({7}) Aber reden wir doch mal über den Finanzstandort Frankfurt. Laut „Global Startup Ecosystem Report“ vom April dieses Jahres zählt Frankfurt zu den zehn besten Städten für Start-ups. Das liege besonders an der hohen Dichte von Fintechs und der besonders gut entwickelten Zusammenarbeit mit den Banken und Aufsichtsbehörden im Rhein-Main-Gebiet. – Okay. ({8}) Die besondere Position Frankfurts hebt auch der Bericht des kalifornischen „Startup Genome“ vom Sommer 2018 hervor. Bei der frühen Finanzierung von Start-ups, dem – man muss es auf Englisch sagen – Early-Stage-Funding, seien die Werte gesund. Probleme gebe es, weil es nicht genügend Begleitung in der Frühphase gibt. Business Angels würden außerdem fehlen. Das große Problem sei aber, dass hohen Mieten bei Gewerbeimmobilien und Wohnungen es den Start-ups erschwerten, sich in Frankfurt anzusiedeln. ({9}) Und es wird auf einen erstaunlich niedrigen Anteil an Migrantinnen und Migranten verwiesen. Das zeigt noch einmal: Ein verengter Blick auf Steuervergünstigungen und Unternehmerfreiheit ist auch bei der Förderung von Start-ups nicht hilfreich. ({10}) Es geht eben auch um bezahlbare Wohnungen – diese kämen sogar allen Menschen in Frankfurt zugute –, um qualifizierte Beratung, um gute Kontakte zu potenziellen Geschäftspartnern, um gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Deshalb überzeugt uns Ihr Antrag nicht. Einen Bezug zu unserer hessischen Spitzenkandidatin erspare ich Ihnen jetzt. Danke schön. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Dr. Danyal Bayaz. ({0})

Dr. Danyal Bayaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Warum soll der Staat eigentlich überhaupt Gründerinnen und Gründer unterstützen? Weil sie Chancen erkennen, die andere nicht sehen, weil sie Arbeitsplätze schaffen ({0}) und weil sie auch Technologien von morgen entwickeln. Es kann ja nicht so sein, dass wir uns nur über die Ethik bei der künstlichen Intelligenz Gedanken machen und die erfolgreichen Start-ups dann aus den USA oder China kommen. Ich glaube, das wäre eine denkbar schlechte Arbeitsteilung. Deswegen teilen wir erst einmal das grundsätzliche Anliegen Ihres Antrages. Wir brauchen eine bessere Gründerkultur in Deutschland, damit gute Ideen auch wirklich umgesetzt werden können. ({1}) Jetzt ist aber die Frage: Ist der Antrag der FDP bei diesem Anliegen wirklich hilfreich? Da möchte ich glasklar antworten: ja und nein. ({2}) Sie fordern, dass die Regulierung der Finanzmärkte zurückgestutzt werden muss. Ich finde, wir sollten uns immer fragen: Wo können wir klüger, wo können wir besser regulieren? Aber zehn Jahre nach der Lehman-Pleite geht es nicht darum, die Regulierung mit der großen Heckenschere zurückzustutzen. ({3}) Das hilft weder der Stabilität am Finanzmarkt noch der Gründerkultur, meine Damen und Herren. ({4}) Trotzdem enthält der Antrag ein paar gute Punkte. Sie fordern zum Beispiel Plattformen, damit Unternehmen mit Start-ups zusammenkommen. Es ist übrigens – da bin ich Ordnungspolitiker – erst einmal eine Aufgabe von Verbänden und der Wirtschaft, das zu organisieren. Aber der Staat soll das gerne unterstützen. Ich finde es auch richtig, die Frage zu stellen: Wie können Banken, wie können Versicherungen, wie können Pensionsfonds noch besser in Risikokapital investieren? ({5}) Genau da stellt sich die Frage nach einer klugen Regulierung. Aber die Risiken müssen vertretbar sein. Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir die Potenziale nutzen. Da liegt der Ball bei der Bundesregierung. Kollegen Scholz und Altmaier: Die Bundesregierung muss an dieser Stelle auch liefern, meine Damen und Herren. ({6}) – Im übertragenen Sinne. Sie richten es natürlich aus. Jetzt komme ich noch einmal zu Ihrem Antrag. Christian Lindner hatte dieser Tage ein paarmal gesagt, dass das Thema Klimaschutz der FDP wieder ganz wichtig ist. Ich finde, das macht Hoffnung. Hoffnung ist ja übrigens ein urliberaler Wert. Da frage ich mich, warum diese Jahrhundertfrage in Ihrem Antrag eigentlich keine Rolle spielt. Auf 16 Seiten sagen Sie keinen Satz dazu, wie Gründergeist, wie Innovationen, wie soziale Marktwirtschaft wirklich dabei helfen können, Ressourcen zu schonen, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen. Ich finde das wirklich schade. ({7}) Es ist doch eine super Sache, wenn Start-ups zum Klimaschutz beitragen. Die sollen damit Geld verdienen, die sollen Arbeitsplätze schaffen, die sollen grüne Technologien entwickeln. Wir müssen dafür den Rahmen setzen, für eine soziale, für eine ökologische Marktwirtschaft. Den Rahmen setzen wir hier im Deutschen Bundestag, und zwar nicht in den Reden des Fraktionsvorsitzenden, sondern in jedem einzelnen Antrag, meine Damen und Herren. Da haben Sie mich leider enttäuscht. ({8}) Da sind ein paar Bundesländer übrigens weiter. Mein Heimatland Baden-Württemberg, ({9}) wo sich viele Ausgründungen aus Universitäten, viele Start-ups auf den Weg gemacht haben und heute schon mit grünen Produkten erfolgreich sind, und auch das von Ihnen, Frau Stark-Watzinger, angesprochene Hessen machen da eigentlich einen ganz guten Job. Ich finde, die haben sich auf den Weg gemacht, die haben eine ordentliche Start-up-Initiative, die haben die finanzielle Förderung verbessert, die erhöhen auch die Sichtbarkeit für ein Fintech-Ökosystem. ({10}) Deswegen hoffe nicht nur ich, sondern, ich glaube, auch viele Gründerinnen und Gründer, dass der Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir seine erfolgreiche Arbeit fortsetzen kann. ({11}) – Ja, da lachen Sie. Schauen Sie nur auf die heutigen Umfragen. Er ist ja nicht der beliebteste Politiker in Hessen, weil er so einen witzigen Namen hat, sondern weil er eine Bombenpolitik macht, meine Damen und Herren. ({12}) – Das klären dann die Hessen unter sich, Herr Kollege. ({13}) Es gibt eine weitere Leerstelle in Ihrem Antrag: die Gründerinnen. Frauen gründen seltener. Es ist schwieriger für sie, Kapital zu beschaffen. Aber das Interessante ist: Sie sind dann erfolgreicher, sie machen auch in den ersten Jahren mehr Umsatz als die männlichen Kollegen. Daraus folgt doch, dass wir Gründerinnen ganz gezielt, vielleicht sogar mit besonderen Programmen, wie die Iren es beispielsweise machen, unterstützen sollten. Da liegt das Potenzial. Ich glaube, man muss kein Feminist sein, um diese einfachen wirtschaftlichen Zusammenhänge zu begreifen. Das ist einfache Logik. ({14}) Das Problem ist: Schauen wir uns einmal die Zahlen des High-Tech Gründerfonds an, den Sie ja auch in Ihrem Antrag ansprechen. Da sind letztes Jahr 9 Prozent der Fördergelder an Gründerinnen gegangen. ({15}) Das ist, glaube ich, ein Problem. Deswegen meine ich: Wenn man das Potenzial von Start-ups wirklich ernsthaft heben möchte, dann dürfen wir nicht nur über Frankfurt reden, sondern dann müssen wir auch über Stuttgart, über Bielefeld, über die Hidden Champions in der Provinz reden, vor allem aber auch über Nachhaltigkeit und die Frauen. Dann sind auch wir gerne dabei. Herzlichen Dank. ({16})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Dr. Hans Michelbach ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wer den Antrag der FDP liest und die FDP heute hier hört, könnte meinen, Deutschlands wirtschaftliche Zukunft stünde geradezu am Abgrund. Die Wirklichkeit sieht glücklicherweise deutlich besser aus, ({0}) nicht nur was die Gegenwart betrifft, sondern auch hinsichtlich unserer wirtschaftlichen Zukunft. Die deutsche Wirtschaft gehört bei Forschung und Entwicklung weltweit zur Spitze. Das Prädikat „Innovationsweltmeister“ beweist dies klar. Ich frage natürlich die FDP: Warum machen Sie heute in einem Antrag unseren Wirtschaftsstandort schlecht? ({1}) Sie bejubeln Asien bzw. China. Ihnen fällt ja nicht einmal für das eigene Land und schon gar nicht für die Stadt Frankfurt etwas ein. ({2}) Ich kann nur sagen: Das, liebe FDP, war bei Ihnen schon einmal besser. Sie haben hier einen Wahlkampfantrag vorgelegt, der mit heißer Nadel gestrickt ist. Aber ich denke, Sie könnten es eigentlich besser, meine Damen und Herren. ({3}) Nehmen Sie einfach zur Kenntnis: Mehr als 25 000 neue Patente kamen 2017 aus Deutschland. Das ist Platz zwei in der Welt. Nur die USA haben nach dem Europäischen Patentamt mehr Patente als Deutschland. ({4}) Nirgendwo gibt es mehr Hidden Champions als in Deutschland. Nirgends sind mittelständische Betriebe innovativer und erfolgreicher als in Deutschland. ({5}) Klar ist: Wir brauchen immer neue und frische Ideen, und die müssen wir mit guten Rahmenbedingungen fördern. Wir brauchen immer wieder neue Start-ups mit Gründer- und Unternehmergeist. Wir müssen ihnen den Weg zum Erfolg möglichst einfach machen. Das gilt genauso für die Übernahme eines Betriebes in die nächste Generation wie für bestehende hochinnovative Unternehmen. Nicht nur die Neugründungen sind wichtig. Es ist auch wichtig, dass Betriebe erhalten werden. Wir haben in der letzten Legislaturperiode eine Generationenbrücke für die Steuerfreiheit von Betrieben bei der Schenkungs- und Erbschaftsteuer geschaffen, meine Damen und Herren. Das war die große Leistung, um hier Betriebe in der Zukunft zu erhalten. Das haben wir gemeinsam in der Großen Koalition auf den Weg gebracht, und das ist doch zu begrüßen. Es gilt natürlich, immer wieder eine Verbesserung anzustreben. Eine gewisse Schwäche bei der Einwerbung von Wagniskapital kann man natürlich schon sehen. ({6}) Da müssen wir sicher mehr Kapital bilden. Aber das hat natürlich gewiss mehr als nur eine Ursache. Darüber ist zu diskutieren. Aber eines, meine Damen und Herren, halte ich für hochgefährlich: von der Regulierung des Banken- und des Kapitalmarktsektors abzurücken, nur um im großen Stil die Tore für Start-up-Investoren zu öffnen. ({7}) Das findet sich in diesem Antrag. Das ist ein völlig falscher Ansatz. Gerade Stabilität und eine letzten Endes nicht zu starke Zinsentwicklung sind für die Stabilität und Sicherheit der Betriebe ganz wichtig. Es wäre völlig falsch, auf der Basis eines unsoliden Finanzmarkts etwas in die Zukunft zu führen. Das wäre ein völlig falscher Ansatz. Das oberste Ziel von Korrekturen muss die Prävention einer neuen Finanzkrise bleiben. Das ist die beste Grundlage für die Betriebe, für die Existenzgründer. Unsere Existenzgründer, unsere mittelständischen Betriebe brauchen den Unternehmergeist. Dazu brauchen sie weniger Bürokratie. Sie brauchen insbesondere mehr Freiraum und gute Rahmenbedingungen. Diese Freiräume wollen wir schaffen. ({8}) Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner: der Kollege Metin Hakverdi, SPD-Fraktion. ({0})

Metin Hakverdi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004289, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Land hat eine starke, robuste, hochinnovative Wirtschaft. Es ist hier schon gesagt worden: Deutschland ist Innovationsweltmeister. Das schreibt das Weltwirtschaftsforum in seinem Globalen Wettbewerbsbericht 2018. Darauf können wir alle zusammen stolz sein. Die Zukunft des Wirtschaftens wird aber immer digitaler. Der Anteil der digitalen Wirtschaft an der Wertschöpfung steigt immer mehr an. Die Digitalisierung erzeugt neue Geschäftsmodelle, die alte über Bord werfen werden. Diese umwälzende Kraft digitaler Wirtschaft können wir sehr eindrucksvoll im Silicon Valley, in Shanghai oder auch in Israel beobachten. Ich weiß, dass viele Kolleginnen und Kollegen hier im Raum sich diese Orte, die Unternehmen, die Institutionen dort angeschaut haben, ich auch. ({0}) Ich schaue aber auch nach Hause, zu uns nach Deutschland. In Hamburg-Bergedorf ist das LZN, Laser Zentrum Nord, nunmehr Teil der Fraunhofer-Gesellschaft. Dort wird an 3‑D-Druckverfahren geforscht. Bereits heute werden Teile für Flugzeuge von Airbus im 3‑D-Druckverfahren in Serie hergestellt. Diese Teile sind leichter. Das bedeutet viele Tonnen gespartes Kerosin im Lebenszyklus eines Flugzeugs. Das sind viele Tonnen weniger CO 2 . An der Technischen Universität Hamburg können Sie junge Gründer kennenlernen. Sie entwickeln ihre Ideen bei der Tutech Innovation GmbH in Hamburg-Harburg zu Geschäftsmodellen. Die Zahl solcher Jungunternehmer steigt, nicht nur in Hamburg-Harburg, Bergedorf und Wilhelmsburg, sondern in ganz Deutschland, an vielen Orten. Eine erfolgreiche Start-up-Szene ist eben auch Voraussetzung, dass unsere etablierten Unternehmen den Anschluss im internationalen Wettbewerb nicht verlieren. Start-ups sind Innovationsmotoren unserer Wirtschaft. Daher teilen wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, ausdrücklich Ihr Anliegen, ({1}) dass die Rahmenbedingungen für Start-ups ständig weiterentwickelt und verbessert werden müssen. ({2}) Leider spricht Ihr Antrag eine ganz andere Sprache. Ich zitiere – das kann ich Ihnen nicht ersparen –: Eines ist jedenfalls klar: Gewerkschaften, Verbraucherschützer und Anti-Globalisierungs-NGOs werden nicht die Startups in Deutschland finanzieren. ({3}) Wer seinen Antrag so einleitet, dem geht es nicht um die wirtschaftliche Prosperität unseres Landes, dem geht es nicht um die Schaffung guter Rahmenbedingungen für Start-ups. Das ist plumper Populismus, der keine Unterstützung verdient. ({4}) Die altbekannten Apologeten des Neoliberalismus scheinen sich zur Speerspitze eines entfesselten digitalen Kapitalismus zu machen. ({5}) Sie schreiben in Ihrem Antrag – wer ihn nicht gelesen hat, dem empfehle ich, den ersten Absatz dreimal zu lesen –, dass niemand – niemand! – in die wirtschaftliche Dynamik der Zukunft investiert, niemand außer Investoren mit „Animal Spirits“. Was für ein Bild haben Sie eigentlich von Investoren in Deutschland? Ich verstehe nicht, was Sie den Gewerkschaften vorwerfen oder den Verbraucherschützern. Natürlich finanzieren diese keine Start-ups. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Diese Kampfansage zeigt aber, dass Sie nicht erkannt haben, welche Rolle Gewerkschaften im digitalen Wandel heute haben. ({6}) Die Gewerkschaften sind unsere Partner. Zusammen arbeiten wir an der Schaffung angemessener Rahmenbedingungen in einer digitalen Arbeitswelt. Wichtige gemeinsame Themen sind Arbeit 4.0, Bildung und Fortbildung, Arbeitszeiten. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass es in der Gründerszene eine intensive Debatte über soziale Sicherheit gibt. ({7}) Was sie Animal Spirits nennen, stammt aus schlechten US Filmen der 90er-Jahre, die den unregulierten Kapitalmarkt verklärt haben. Wo das in der Realität hinführt, haben wir dann ja in der Finanzkrise alle schmerzhaft beobachten dürfen. Bei der Weiterentwicklung unserer sozialen Sicherungssysteme spielen die Gewerkschaften eine zentrale Rolle. Auch der Verbraucherschutz ist ein wichtiges Anliegen in einer beschleunigten Onlinewelt. ({8}) Deshalb sind Verbraucherschützer bei der Regulierung dieser Welt unsere Partner und nicht unsere Gegner. Wir müssen mit Verbraucherschützern zusammenarbeiten und sie nicht beschimpfen. Wenn wir das im Ausschuss beraten, bitte ich Sie, auf diese Rhetorik zu verzichten. Kolleginnen und Kollegen, die Unterstützung der Start-up-Szene verdient auch eine finanzpolitische Flankierung, aber bitte nicht diese billigen Feindbilder. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt der Kollege Mark Hauptmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Mark Hauptmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kollegen! Ich freue mich, dass wir auch um 22 Uhr in einer Sitzungswoche noch über die Zukunft Deutschlands reden, ({0}) darüber, wie wir in Zukunft wirtschaftlich erfolgreich sein wollen, nicht nur mit unseren erfolgreichen Firmen, die wir heute schon haben, sondern auch mit denjenigen, die kurz vor der Gründung stehen, und denjenigen, die unseren Wohlstand morgen sichern wollen. Geschätzte Kollegen der FDP, dass Sie beim Thema Regulierung in alter Verbundenheit ein Stück weit über das Ziel hinausschießen – geschenkt! –, dass Sie eine Woche vor der Hessen-Wahl den Finanzplatz Frankfurt in die Überschrift schreiben, aber dann komplett vergessen, ihn in Ihrem Antrag zu erwähnen – geschenkt! –, ({1}) aber die entscheidende Frage, die ich mir stelle, lautet: Wie schaffen wir es, dieser Besuchergruppe hier oben, die aus vielen jungen Leuten besteht, den Mut zuzusprechen: Traut euch und gründet! Traut euch, indem ihr Risiko in die Hand nehmt, indem ihr um Kapital werbt, indem ihr eure Visionen, eure Ideen, eure Zukunftshoffnungen auch realisiert. – Wir müssen dieser Generation, liebe Kolleginnen und Kollegen, Mut machen. Wir müssen dieser Generation sagen: Es ist nicht nur lohnenswert, in das warme Jäckchen des öffentlichen Dienstes zu streben, sondern gerade jemand, der in Deutschland gründet, tut etwas für sein Land; denn er sorgt dafür, dass wir auch morgen noch Wohlstand in diesem Land haben. ({2}) Meine geschätzten Kollegen, die Kollegin Stark-­Watzinger hat in Ihrer Rede sehr stark Israel in den Fokus genommen. Gerade Israel zeigt uns, dass ein hochinnovatives Land, wo sich am Rothschild Boulevard in Tel Aviv mehr Unternehmen angesiedelt haben als im ganzen Königreich Belgien, eben nicht verbunden sein muss mit einem starken Finanzplatz wie Frankfurt. Die Erfolgsgeschichte Israels beruht darauf, ausländisches Kapital in das Land zu ziehen, ({3}) weil es hier hochinnovative Gründungsideen gibt. Genau das wollen wir in Deutschland auch erreichen. ({4}) Jetzt müssen wir uns den Status quo anschauen. Der Status quo zeigt: Berlin ist nach London der Start-up-Platz Nummer zwei in Europa. Ich prophezeie Ihnen: Sollte es zum Brexit kommen, wird Berlin Start-up-Metro­pole Nummer eins in ganz Europa. ({5}) Das ist bei weitem nicht nur auf Berlin beschränkt, sondern wir sehen innovative Fintechs, die in Frankfurt gegründet werden. Wir sehen in Hamburg beim Kollegen Metin Hakverdi innovative Unternehmensgründungen genauso wie in Stuttgart, in München, aber auch – und das ist unsere deutsche Stärke – im ländlichen Raum im Verbund der vielen Technologie- und Gründerzentren. Diese Rolle wollen wir stark ausbauen. Meine geschätzten Kollegen, lassen Sie uns diesen Standort in Deutschland nicht schlechter machen, als er ist. ({6}) 75 Prozent der Patente für das autonome Fahren, eine der Schlüsseltechnologien der Zukunft, liegen bei deutschen Firmen. Die Google-Sprachsteuerung, Facebook Translation, der Long Short-Term Algorithm – erfunden in Süddeutschland, realisiert im Silicon Valley. Wir haben das Know-how in diesem Land. Die Frage ist: Wie können wir es auch hier in diesem Land zum Erfolg führen? ({7}) Und da geben wir, glaube ich, im Koalitionsvertrag eine richtige, wegweisende Antwort. Denn viele Aspekte, die Sie in Ihrem Antrag aufgreifen, stehen im Koalitionsvertrag längst drin. Da steht, dass wir EXIST erfolgreich weiterführen wollen. Da steht aber auch, dass wir die Zahl der Gründungsoffensiven in den nächsten Jahren weiter ausbauen wollen, dass wir die Beteiligungstochter KfW Capital noch einmal mit einem Investitionsvolumen von über 200 Millionen Euro erweitern wollen. Übrigens: Der operative Start von KfW Capital war an diesem Montag, nämlich am 15. Oktober. Also, auch die Debatte passt zu dem, was wir und diese Bundesregierung, vertreten durch den Staatssekretär, schon heute hier machen. ({8}) Wir werden beim Thema Coparion, also dem Ko-Investitionsfonds, weiter investieren. Was wir aktuell sehen – da gebe ich der FDP recht –, ist: Wir haben einen Finanzierungsbedarf ab der dritten Finanzierungwelle. Wir waren alle, glaube ich, in den letzten Jahren sehr erfolgreich, die erste und zweite Finanzierungswelle – Seed-Investment und Series A bzw. B – erfolgreich zu managen. Jetzt kommt es darauf an, dies für Firmen mit einem Kapitalvolumen von 10 Millionen Euro aufwärts auch in der Volumentiefe zu realisieren. Hier brauchen wir die Pensionsfonds – Peter Altmaier spricht mit ihnen. Da brauchen wir internationales Kapital – Peter Altmaier spricht mit ihnen. Da brauchen wir ein Bundeswirtschaftsministerium, das diese Themen auch im Hier und Heute schon angeht und nicht erst auf den Antrag der FDP für morgen wartet. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/5053 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung soll beim Finanzausschuss liegen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Dr. Fritz Felgentreu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004272, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns liegt heute ein Antrag zur Abstimmung vor, der die Bundesregierung auffordert, den sogenannten Atomwaffenverbotsvertrag umgehend zu unterzeichnen. Außerdem soll die Bundesrepublik ihre Teilnahme an der nuklearen Teilhabe der NATO unverzüglich aufkündigen, sobald der Vertrag vom Deutschen Bundestag ratifiziert ist. Und mehr noch: Der Antrag der Fraktion Die Linke unterstellt, dass das Fernbleiben der Bundesregierung bei den Vertragsverhandlungen der – Zitat – „abrüstungspolitischen Glaubwürdigkeit“ Deutschlands geschadet und die Institution der Vereinten Nation geschwächt habe. ({0}) Auch wenn die SPD-Fraktion die Bemühungen um ein völkerrechtliches Verbot aller nuklearen Waffen mit großem Respekt begleitet, so muss ich diesen letzten Vorwurf doch ganz entschieden zurückweisen. Meine Damen und Herren, es ist kein Widerspruch, die stabilisierende Wirkung der nuklearen Abschreckung anzuerkennen und gleichzeitig dennoch klar und deutlich zu sagen: Wir wollen auf Dauer mit diesem Damoklesschwert, mit der möglichen Auslöschung von Millionen Menschenleben, nicht leben. Wir wollen eine nuklearwaffenfreie Welt. ({1}) Diesem Ziel hat sich auch die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen verschrieben. Dafür hat sie im Jahr 2017 den Friedensnobelpreis erhalten. Tatsächlich ist es ein wichtiges Verdienst dieser Kampagne, das Thema der nuklearen Abrüstung wieder weit oben auf die internationale Agenda gesetzt zu haben. Die SPD-Fraktion teilt das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt mit den zahlreichen Unterstützer- und Unterzeichnerstaaten des Atomwaffenverbotsvertrages. Nicht zuletzt deshalb haben wir dieses Ziel ja auch im Koalitionsvertrag mit CDU und CSU noch einmal ausdrücklich festgehalten. Nicht zuletzt deshalb halten wir daran fest, dass wir neue Initiativen für Rüstungskontrolle und Abrüstung ergreifen wollen, um ein konventionelles und nukleares Wettrüsten zu vermeiden. Um diese gemeinsame Haltung deutlich zu machen, haben die Koalitionsfraktionen in diesem Jahr ein Bekenntnis zum INF-Vertrag in den Bundestag eingebracht. Bundestag und Bundesregierung müssen gemeinsam durch Diplomatie, Vertrauensbildung und Überzeugungsarbeit daraufhin hinwirken, dass die nukleare Bedrohung der Menschheit wieder geringer wird. ({2}) Auch der vorliegende Antrag hat dies letztlich zum Ziel. Trotzdem unterstützen wir diesen Antrag nicht. ({3}) Warum bleibt die SPD-Fraktion dem Atomwaffenverbotsvertrag gegenüber so skeptisch? Kolleginnen und Kollegen von der Linken, weil wir doch zur Kenntnis nehmen müssen, dass uns dieser Vertrag dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt keinen Zentimeter näherbringt. ({4}) Solange keiner der Nuklearwaffenstaaten auch nur daran denkt, dem Atomwaffenverbotsvertrag beizutreten, kann und wird dieser Vertrag keinen einzigen nuklearen Sprengkopf aus der Welt schaffen. Praktische Fortschritte in Richtung der nuklearen Abrüstung können wir nur im Dialog und nicht in belehrender Konfrontation mit den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats machen. ({5}) Echten Fortschritt halten wir derzeit vor allem dort für möglich, wo nicht als Allererstes die Grundsatzfrage gestellt wird. ({6}) – Ja, selbstverständlich. Deswegen diskutieren wir ja hier darüber, weil wir die Grundsatzfrage durchaus debattieren wollen. Wir als SPD werden uns in der Koalition auch weiterhin für das Inkrafttreten des Kernwaffenteststopp-Vertrages einsetzen, der bis heute von so essenziellen Ländern wie den USA oder China nicht ratifiziert worden ist. Auch das geplante Verbot der Herstellung von direkt waffentauglichem spaltbaren Material scheint ein kleiner Schritt zu sein; aber wenn er gelingt, wird er eine ganz große Wirkung haben. Wir wollen dort ansetzen, wo die schrittweise und verifizierbare nukleare Abrüstung am ehesten möglich zu sein scheint. ({7}) Zusammen mit den Partnern der sogenannten Non-Proliferation and Disarmament Initiative, einer Gruppe aus Ländern aller Kontinente, darunter Vertragsunterstützer und Vertragsgegner, macht sich Deutschland in den Vereinten Nationen allgemein und vor allem gegenüber den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates dafür stark, den Atomwaffensperrvertrag zum 50. Jahrestag seines Inkrafttretens im Jahr 2020 zu stärken und wirksam umzusetzen. ({8}) Der Atomwaffensperrvertrag enthält auch die Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung. Wir müssen uns deshalb noch beherzter dafür einsetzen, dass diese endlich erreicht wird. ({9}) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD-Fraktion hat der Kollege Armin-Paulus Hampel das Wort. ({0})

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kollegen und Kolleginnen! Liebe ausharrende Besucher dort oben auf der Besuchertribüne! Dass die Welt atomwaffenfrei werden muss, sind die Vorstellung und der Wunsch seit der ersten Anwendung 1945 in Japan. Ich glaube, jeder will dieses Ziel nach wie vor anstreben, aber die Umsetzung ist schwierig. Atomwaffen haben ein derartiges Zerstörungspotenzial, dass vor allem ihr Ersteinsatz in keinem Fall zu rechtfertigen ist. Das war die Maxime vieler in den 60er-, 70er-, 80er- und 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie wissen, dass das anders praktiziert wurde, als wir noch im Kalten Krieg einen machtvollen Gegner hatten, nämlich die Sowjetunion. Damals hat man sich diese Option eines Erstschlages sogar noch vorbehalten, weil die konventionellen Streitkräfte des Warschauer Paktes zu stark waren, sodass wir nicht sicher waren, ihnen widerstehen zu können. Im Kalten Krieg gab es deshalb die Doktrin der Flexible Response. Diese sah vor, im Falle eines feindlichen Angriffes mit konventionellen Mitteln notfalls auch nuklear zu eskalieren, Atomwaffen einzusetzen, um so das Risiko für einen Angreifer unkalkulierbar zu machen. Diese Politik der nuklearen Abschreckung war ein Notbehelf, weil der Warschauer Pakt uns damals konventionell überlegen war. Dieser Notbehelf hat die Spirale einer endlosen konventionellen Aufrüstung, meine Damen und Herren, in Europa gestoppt, und die Abschreckung hat über 70 Jahre lang funktioniert. Selbst die härtesten Betonköpfe im Warschauer Pakt haben stets aus wohlüberlegtem strategischem Kalkül gehandelt. Wir wissen, was nach dem Fall der Sowjetunion, aber auch in den 70er- und 80er-Jahren an kritischen Situationen vorgefallen ist. Auch da haben hohe sowjetische Militärs und die Politik immer sehr kühl und mit kühlem Kopf gehandelt. All das kann allerdings nicht als eine Blaupause für den Rest der Welt gelten. Einige von Ihnen wissen es: Ich habe 13 Jahre meines Lebens in Indien verbracht. Indien ist Nuklearmacht, sein Nachbar Pakistan – verfeindet mit Indien – ebenfalls. Als ich mal einen indischen Politiker darauf ansprach, dass Neu-Delhi für eine Nuklearrakete der Pakistaner nur anderthalb Flugminuten entfernt ist und dann ungeheure Opferzahlen von 20 Millionen und mehr Menschen zu beklagen seien, reagierte er sehr cool und sagte: So what, Paul? We are 1.2 billion people in India. – Das ist eine andere Art der Denke, auf die wir uns einstellen müssen. Dieses Beispiel zeigt, dass in den Schwellenländern und selbst in der Dritten Welt durchaus die gedankliche Bereitschaft vorhanden ist, Atomwaffen nicht nur als politisches Instrument – so wie wir sie genutzt haben –, sondern auch als militärische Option einzusetzen. Es ist also ganz anders zu bewerten, wenn Atomwaffen in den Händen von Politikern – übrigens auch von Politikerinnen, wenn ich an Pakistan denke – sind, ({0}) bei denen Menschenleben nicht zählen oder die sich von emotionalen Motiven und von Prestigedenken leiten lassen. Deshalb ist es in der Tat wichtig, dass wir hier unterscheiden und auf die Nationen eingehen, die an der Schwelle zur Entwicklung nuklearer Waffen sind. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass sich Deutschland nicht nur gegen die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen ausspricht, sondern darüber hinaus auch alle außenpolitischen Handlungsspielräume nutzt, um eine Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern. Finales Ziel kann es dann sein, in dem steten Bestreben nicht nachzulassen, einen weltweiten Verzicht auf Atomwaffen zu vereinbaren und durchzusetzen. Meine Damen und Herren, wer einmal die Bilder von Hiroshima und Nagasaki gesehen hat, ({1}) dem wird die furchtbare Wirkung von Massenvernichtungswaffen bewusst. Die Opfer dieser beiden japanischen Großstädte, glaube ich, verpflichten und mahnen uns für die Zukunft. Ich betone aber, dass man das mit klarem und kühlem Kopf für die unterschiedlichen Regionen dieser Welt bedenken muss und dass die Nuklearwaffen als eine strategisch-politische Waffe über viele Jahrzehnte in Europa den Frieden bewahrt haben. In anderen Teilen der Welt gefährden Atomwaffen allerdings den Frieden der Welt. Danke schön. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU hat der Kollege Roderich Kiesewetter das Wort. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Forderung nach einer nuklearwaffenfreien Welt – da möchte ich an die Rede des Kollegen Felgentreu anknüpfen – steht nach wie vor als eine ganz wichtige außenpolitische Forderung der Bundesrepublik Deutschland im Raum. Aber wir müssen die Lage realpolitisch und sehr scharfsinnig bewerten. Da greift mir der Antrag der Linken deutlich zu kurz. Sie nehmen keine Rücksicht auf außen- und sicherheitspolitische Interessen, weder Deutschlands noch unserer Verbündeten. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, betrachten wir doch einmal die Lage, wie sie wirklich ist. In Europa sind etwa 170 Nuklearwaffen der USA stationiert. Dem stehen 1 700 Nuklearwaffen Russlands gegenüber. Des Weiteren besteht der Verdacht, dass Russland durch die beabsichtigte Stationierung eines Waffensystems, das bis zu 2 000 Kilometer Reichweite hat, den INF-Vertrag bricht. Das wäre ein eindeutiger Bruch des INF-Vertrags. ({1}) – Das sind keine Nuklearwaffen. ({2}) Ein weiterer ganz entscheidender Punkt ist, dass die Sicherheitsarchitektur in Europa aus den Fugen geraten ist. Mit der Besetzung der Krim ist etwas geschehen, das das Vertrauen in die internationale Ordnung erheblich verletzt hat. ({3}) Denn mit dem Budapester Memorandum von 1994 hat die Ukraine ihre Nuklearwaffen an Russland übergeben und ist ein nuklearwaffenfreier Staat geworden. Hätte die Ukraine auf den Behalt der Nuklearwaffen bestanden, wären im Februar 2014 die Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ostukraine so nicht passiert. ({4}) All das gilt es in aller Klarheit anzusprechen. Der Bruch der internationalen Abkommen ist weder von der Bundesrepublik Deutschland noch von den Vereinigten Staaten betrieben worden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht mir um Folgendes: Ich möchte den Aspekt der nuklearen Teilhabe herausgreifen. Nukleare Teilhabe in Europa verhindert die Ausweitung von Nuklearwaffen. Denn damit verhindern wir, dass sich Staaten wie Polen und andere Länder – wir haben die Debatte in Polen gerade erst im Frühsommer dieses Jahres erlebt – nuklear bewaffnen wollen. Belgien, Niederlande, Italien, die Türkei und Deutschland übernehmen mit der nuklearen Teilhabe die Verantwortung, Schutzgarantien zu geben, und verhindern auf der anderen Seite die nukleare Proliferation in Europa. ({5}) Deshalb ist es so wichtig, dass wir in diesem Bundestag frühzeitig die Frage der nuklearen Teilhabe und damit auch der Trägersysteme behandeln. ({6}) Bis zum Jahr 2025 wird der Tornado der deutsche Beitrag für die nukleare Teilhabe sein. Aber ab 2025 wird dieses Einsatzsystem nicht mehr verfügbar sein. Heute müssen wir die Entscheidung treffen, wie es nach 2025 weitergeht. Eine schleichende Aufgabe der nuklearen Teilhabe entspricht nicht unseren außen- und sicherheitspolitischen Interessen. Vielmehr muss es doch unser Interesse sein, weiterhin glaubwürdig nukleare Teilhabe zu ermöglichen. Deshalb sollten wir, wenn die Amerikaner uns schon zur Lastenteilung auffordern, in der Lage sein, mit europäischen Fähigkeiten gemeinsam ein entsprechendes Flugsystem zu entwickeln und bereitzustellen und weiterhin die nukleare Teilhabe zu ermöglichen. ({7}) Das ist auch deshalb eine Chance für nukleare Abrüstung, weil wir nicht schleichend die nukleare Teilhabe aufgeben, sondern in der Lage sind, wenn wir sie fortsetzen, dies als Pfund in die Verhandlungen einzubringen. Das bedeutet also: Wir verhindern erstens, dass andere Staaten in Europa nuklearwaffenfähig werden. Zweitens zeigen wir, dass wir mit den Amerikanern weiterhin kooperieren. Und drittens haben wir mit der nuklearen Teilhabe auch einen transatlantischen Raum von Nordamerika bis zur östlichen Grenze der NATO, die unteilbar denselben Sicherheitsraum darstellt. Wir haben keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit. ({8}) Wenn es uns gelingt, das auch im Rahmen der nuklearen Teilhabe fortzusetzen, dann werden wir in der Lage sein, auch vernünftige Abrüstungsverhandlungen hinzubekommen. Aus meiner Sicht sind dabei zwei Dinge nötig: erstens, dass Russland den INF-Vertrag einhält, ({9}) – die Amerikaner halten ihn noch ein, und wir müssen darauf drängen, dass es so bleibt; das teile ich – und zweitens, dass wir durch Verhandlungsbereitschaft, durch Transparenz und durch die Ermöglichung gegenseitiger vertrauensbildender Maßnahmen in Rumänien und Polen, wo die Einrichtungen der Amerikaner sind, und umgekehrt in Kaliningrad und dort, wo womöglich im Umfeld von Jekaterinburg diese neuen Systeme stationiert werden, entsprechende Überprüfungsmaßnahmen einleiten. Dann ist der Ball rund, dann beruhen beide Seiten der Medaille – nukleare Rückversicherung auf der einen Seite und nukleare Teilhabe und Verantwortungsübernahme auf der anderen Seite – auf einem gemeinsamen Ansatz, und den sollten wir als Bundesrepublik Deutschland verfolgen. Ihr Antrag berücksichtigt das überhaupt nicht. Er greift zu kurz. Deshalb lehnen wir als CDU/CSU-Fraktion Ihren Antrag ab. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der FDP hat der Kollege Bijan Djir-Sarai das Wort. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Freien Demokraten bekennen uns grundsätzlich zu einer atomwaffenfreien Welt. Die Abrüstung, die Rüstungskontrolle und die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, insbesondere von Nuklearwaffen, sind ein zentrales Anliegen liberaler Außenpolitik. Hier reden und handeln wir in der Tradition von Hans-Dietrich Genscher und Guido Westerwelle. ({0}) Das Ausmaß an Leid und Zerstörung, das der Einsatz von Massenvernichtungswaffen bereitet, ist ungeheuerlich. Das Eskalationspotenzial ist zivilisationsbedrohend. Zu verhindern, dass es jemals wieder zur Zündung von Atombomben kommt, stellt somit eine der wichtigsten Aufgaben der Menschheit dar. Die Ereignisse von Hi­roshima und Nagasaki dürfen wir niemals vergessen, und wir müssen uns vor Augen halten, vor welcher Verantwortung wir stehen. Unabhängig davon muss diskutiert werden, ob der komplette Verzicht auf nukleare Abschreckung überhaupt in greifbarer Nähe liegt. An dieser Stelle reden wir über Realpolitik. Zudem gibt es bereits ein wirksames Instrument. Mit dem Atomwaffensperrvertrag hat die internationale Gemeinschaft im Jahr 1970 ein Werkzeug geschaffen, zu dem sich mittlerweile die große Mehrheit der Staaten bekennt. Die weltweit akzeptierten Kontrollmechanismen werden durch die Internationale Atom­energie-Organisation ausgeführt. Sie ermöglichen ein umfassendes Monitoring der relevanten Aktivitäten der Vertragsmitglieder. Die IAEO trägt insofern maßgeblich zur internationalen Sicherheit bei. Ihre Arbeit unterstützen wir selbstverständlich. ({1}) Dass auch der Atomwaffenverbotsvertrag das richtige Ziel verfolgt, steht hier außer Frage; das müssen wir nicht diskutieren. Das verdeutlicht auch die Tatsache, dass die damit verbundene Organisation 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. ({2}) Aber wir, die Fraktion der Freien Demokraten, sind der Meinung, dass es nicht zweckmäßig ist, ein zweites Vertragswerk neben dem NPT zu schaffen. ({3}) De facto wird mit dem Atomwaffenverbotsvertrag ein neues paralleles Abrüstungsregime zum NPT etabliert, allerdings ohne die gleiche umfangreiche Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft. Das wissen Sie so gut wie ich. So stimmt dem Atomwaffenverbotsvertrag keiner der fünf im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vertretenen Atomwaffenstaaten zu. Auch die Befürwortung wichtiger Nichtkernwaffenstaaten bleibt an dieser Stelle aus, meine Damen und Herren. Der Vertrag für ein Verbot von Atomwaffen birgt deshalb die Gefahr, den Atomwaffensperrvertrag zu schwächen. Das wollen wir nicht. Somit relativiert er auch die internationalen Bemühungen um nukleare Abrüstung und Nichtverbreitung. ({4}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Atomwaffensperrvertrag und die entsprechenden Kontrollmechanismen sind natürlich nicht perfekt. Das hat auch, glaube ich, niemand hier behauptet. Darüber braucht man nicht zu reden. Das ist völlig klar. Aber sie haben sich seit Jahrzehnten weitestgehend bewährt. Die internationale Gemeinschaft steckt darüber hinaus viel Arbeit in die Weiterentwicklung des Vertrages. Daran wollen wir festhalten, das wollen wir vorantreiben; ({5}) denn gerade in unsicheren Zeiten wie diesen muss auf die Verbindlichkeit internationaler Verträge gepocht werden. Wir fordern die Bundesregierung auch auf, sich im Rahmen ihres nichtständigen Sitzes im UN-Sicherheitsrat ab 2019 verstärkt für die globale nukleare Abrüstung einzusetzen. Ebenso müssen Deutschland und Europa ihre Bemühungen gemeinsam mit den internationalen Partnern intensivieren. Dabei sollte Deutschland übrigens – das ist an die Bundesregierung gerichtet – eine aktive Führungsrolle übernehmen. Vor diesem Hintergrund bekennen wir uns klar zu einer atomwaffenfreien Welt und der Weiterentwicklung des Atomwaffensperrvertrages. Ein zweites Vertragswerk ist aus unserer Sicht kontraproduktiv; daher lehnen wir es ab. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Matthias Höhn ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit 1947 gibt es die Doomsday Clock. Seitdem wird symbolisch auf dieser Uhr angezeigt, wie nah wir vor einer atomaren Katastrophe stehen. 1947 stand die Uhr auf sieben Minuten vor zwölf. Seitdem wird sie jedes Jahr von Atomwissenschaftlern und Friedensnobelpreisträgern mal nach vorn, mal zurückgestellt, je nach Sicherheitslage. 1991 stand sie auf 17 Minuten vor zwölf, im Jahr 2018 steht sie auf zwei Minuten vor zwölf. Es ist höchste Zeit, dass wir endlich konkrete Schritte zur atomaren Abrüstung einleiten, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Herr Kollege Kiesewetter, wenn Sie hier – ja nicht zu Unrecht – Länder aufzählen, die auch gerne in den Besitz von Atomwaffen kämen, dann bestätigen Sie doch die Notwendigkeit eines Vertrages, der Atomwaffen global ächtet. ({1}) Herr Felgentreu, Sie können auch heute wieder ICAN loben. Sie loben ICAN zu Recht für dieses großartige Engagement. Aber wenn es bei dem Lob bleibt, dann ist es auch nur ein Lippenbekenntnis, lieber Kollege Felgentreu. ({2}) Am 7. Juli 2017 haben 122 Staaten in der UN-Vollversammlung für den Atomwaffenverbotsvertrag gestimmt. Was haben wir erlebt? Die Bundesregierung hat nicht nur nicht zugestimmt; sie hat nicht einmal mitverhandelt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn eine Mehrheit der Weltgemeinschaft sich einem so zentralen Anliegen zuwendet, dann erwarte ich mindestens, dass die Bundesregierung mitredet und mitverhandelt und nicht außen vor bleibt. ({3}) Eben ist zu Recht darauf hingewiesen worden, was wir gemeinsam beklagen. Wir haben gestern Abend im Ausschuss auch wieder darüber geredet, dass zentrale vertragliche Eckpfeiler der Abrüstung – der KSE-Prozess, der INF-Vertrag; alles ist hier schon angesprochen worden – ins Rutschen geraten. Haben wir dann einmal eine neue Abrüstungsinitiative, ist es inakzeptabel, wenn die Bundesrepublik dann außen vor bleibt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Ich will auch zu dem eben vorgetragenen Argument etwas sagen, dass der Atomwaffenverbotsvertrag den Sperrvertrag unterminiere oder schwäche. Das Gegenteil ist doch der Fall. Nennen Sie mir eine Klausel in diesem Vertrag, der Ihr Argument stützt. Es ist im Gegenteil festgeschrieben, dass alle, die dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten, die Regeln des Sperrvertrags auch danach einzuhalten haben. Es gibt keine Schwächung des Sperrvertrages durch den Verbotsvertrag. ({5}) Sie haben den zentralen Punkt angesprochen: Der Atomwaffenverbotsvertrag ist natürlich zunächst einmal kein Widerspruch zur NATO-Mitgliedschaft; aber er ist ein Widerspruch zur nuklearen Teilhabe. ({6}) Sosehr mich diese Aussage ärgert, so dankbar bin ich Ihnen, dass Sie damit in aller Deutlichkeit aussprechen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ({7}) dass Sie nämlich auch in diesem Jahr, im Jahr 2018, zwei Minuten vor zwölf, meinen, nukleare Abschreckung würde mehr Sicherheit schaffen. ({8}) Ich will Ihnen sagen: 70 Prozent der Bevölkerung in diesem Land sehen das anders. Sie möchten nämlich, dass wir dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten und dass die US-Atomwaffen abgezogen werden. Hören Sie doch einmal auf die eigene Bevölkerung, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Zu Recht ist gesagt worden: Wir waren in diesem Haus 2010 schon einmal weiter. – Wenn Sie Herrn Westerwelle hier erwähnen, so sage ich Ihnen: 2010 ist in diesem Haus beschlossen worden, dass genau dies passiert, nämlich dass die Atomwaffen abzuziehen sind. Ich habe heute nichts gehört, warum dieser Beschluss nicht auch heute noch gelten sollte, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({10}) 2019 wird Deutschland, wie eben gesagt wurde, im UN-Sicherheitsrat vertreten sein. Das ist übrigens auch das Jahr, in dem sich zum 80. Mal der Beginn des Zweiten Weltkrieges jährt. Ich erhoffe mir von der Bundesregierung ein klares abrüstungspolitisches Signal. Treten Sie dem AVV bei, und ziehen Sie die Atomwaffen aus Deutschland ab! Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Katja Keul ist die nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie alle wissen genauso gut wie ich, dass uns derzeit eine neue nukleare Aufrüstungsspirale droht. Selbst die Koalition hat hier Anfang des Jahres schon die Sorgen um den Bestand des INF-Vertrages auf die Tagesordnung gesetzt. Wenn die USA oder Russland sich aufgrund gegenseitiger Vertragsverletzungsvorwürfe von diesem Vertrag endgültig zurückziehen, dann drohen neue Mittelstreckenraketen in Europa. Gerade erst Anfang dieses Monats haben die USA erstmals ausdrücklich angekündigt, sich aus dem Vertrag zurückziehen zu wollen. Dazu kommt die einseitige und völkerrechtswidrige Aufkündigung des Iran-Deals durch Trump, was nicht nur die Stabilität des Iran gefährdet, sondern auch eine nukleare Aufrüstung im Nahen Osten befürchten lässt. Die Hoffnung auf einen atomwaffenfreien Nahen Osten liegt seit der gescheiterten Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag 2015 auf Eis, und die nächste Überprüfungskonferenz im Jahr 2020 droht ein weiteres Mal zu scheitern, da die Atommächte keinerlei Anstalten machen, ihrer Verpflichtung aus Artikel 6 nachzukommen und konkrete Abrüstungsschritte zu vereinbaren. Im Gegenteil: Russland und die USA investieren in ihre Nuklearwaffen, und auch Deutschland ist über die nukleare Teilhabe an diesen Investitionen beteiligt. In dieser Situation hat ICAN mit der Initiative zum Atomwaffenverbotsvertrag eine großartige Leistung vollbracht. ({0}) 122 UN-Staaten haben diesen Vertrag letztes Jahr befürwortet, 53 haben unterschrieben, und 3 haben ihn sogar schon ratifiziert, darunter unter anderem Österreich. ICAN hat zu Recht dafür den Friedensnobelpreis bekommen, und wir haben uns sehr gefreut, dass Xanthe Hall uns mit der Medaille gestern im Bundestag besucht hat und wir ihr persönlich gratulieren konnten. ({1}) Auch andere NATO-Staaten haben sich im Übrigen in Sachen nukleare Abrüstung wesentlich kooperativer gezeigt als die Bundesregierung, die im Koalitionsvertrag zwar noch von einer atomwaffenfreien Welt fabuliert, sich aber anders als noch 2010 jetzt wieder zur nuklearen Teilhabe bekennt. Die Niederlande haben immerhin an den Verhandlungen teilgenommen, Schweden hat für den Vertrag gestimmt, und Irland und die Schweiz haben ihn sogar unterzeichnet. Dänemark, Norwegen und Spanien haben immerhin erklärt, dass sie Atomwaffen in Friedenszeiten nicht auf ihrem Territorium stationieren. Island und Litauen erlauben eine Stationierung nicht einmal im Kriegszustand. Da ist umso trauriger, dass die Bundesregierung sich nicht an den Verhandlungen beteiligt hat, nicht einmal als Gast. ({2}) Wenn Sie in dieser Situation den Verbotsvertrag schon nicht unterschreiben wollen, dann nutzen Sie doch wenigstens Ihren diplomatischen Spielraum und begleiten Sie ihn wohlwollend, statt sich komplett zu verweigern. Er ist doch die einzige Hoffnung für den Fall eines erneuten Scheiterns der nächsten Überprüfungskonferenz. Der Verbotsvertrag gefährdet nicht den NPT-Vertrag. Im Gegenteil: Er nimmt ausdrücklich Bezug auf den NPT-Vertrag und steht ausdrücklich im Einklang mit ihm. Alle Verpflichtungen aus dem bestehenden Vertrag gelten uneingeschränkt fort. Was den NPT-Vertrag wirklich gefährdet, ist mangelnde Bereitschaft der Atommächte, ihrer Verpflichtung zur Abrüstung nachzukommen. ({3}) Seit 1968 versprechen die fünf offiziellen Atommächte, ihre Atomwaffen abzurüsten. Stattdessen gibt es heute vier weitere inoffizielle Atommächte, und immer noch bedrohen 15 000 Atomwaffen die Existenz der Menschheit. Wir Grüne fordern deshalb den Abzug der Atomwaffen aus Büchel und die Beendigung der nuklearen Teilhabe. ({4}) Wir wollen die Vorhaltung von Trägersystemen wie dem Tornado beenden und auch die Investitionen in das Nachfolgemodell stoppen. Die Bundesregierung darf nicht länger die Produktion von Material für die nukleare Aufrüstung durch die Firma Urenco dulden. Wir Grüne erwarten von der Bundesregierung, dass sie sich klar gegen die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Europa ausspricht und dass sie sich innerhalb der NATO für die Überwindung einer Politik der nuklearen Abschreckung einsetzt. Und wir halten den weltweiten Ausstieg aus der zivilen Nutzung der Kernenergie für den einzigen Weg, die Nichtverbreitung langfristig sicherzustellen. ({5}) Dem hier zur Diskussion stehenden Antrag werden wir zustimmen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort die Kollegin Anita Schäfer. ({0})

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wird kaum jemanden hier im Parlament geben, der nicht eine atomwaffenfreie Welt wünscht. Global Zero, also eine Welt ohne nukleare Waffen, ist das erklärte Ziel der Bundesregierung. Die Basis dafür ist für die CDU/CSU-Fraktion noch immer der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag, NVV, von 1968. Nichtverbreitung von Nuklearwaffen, nukleare Abrüstung und friedliche Nutzung der Nuklear­energie sind die drei Säulen, die wir im Rahmen dieses Atomwaffensperrvertrages verfolgen und weiter stärken werden. Der Kritik am Atomwaffensperrvertrag sind wir uns bewusst. Wir nehmen sie ernst und adressieren sie etwa auf der NVV-Überprüfungskonferenz. Vergessen darf man aber nicht, dass durch den Atomwaffensperrvertrag große Erfolge erzielt wurden. Nachdem der ehemalige US-Präsident Barack Obama in Prag seine Vision einer atomwaffenfreien Welt verkündet hatte, ist die Zahl der Atomsprengköpfe zwischen 2009 und 2015 weltweit von 23 300 auf 15 850 gesunken. Während des Kalten Krieges lag diese Zahl zuweilen bei 70 000. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, auch 15 850 Atomsprengköpfe sind immer noch zu viele. Das ist aber kein Grund, dem Atomwaffenverbotsvertrag beizutreten, der den bestehenden Atomwaffensperrvertrag konterkarieren würde, ({0}) so wie es die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag fordert. ({1}) Ein weiterer Punkt, dem CDU und CSU keineswegs zustimmen können, ist die ablehnende Haltung gegenüber dem Bündnis mit den USA und der NATO, die in dem Antrag zum Ausdruck kommt. Die NATO hat als solidarische Gemeinschaft auch in schwierigsten Zeiten die Sicherheit der Bundesrepublik garantiert. Nukleare Teilhabe und Abschreckung sind Teil der NATO-Strategie, welche die Sicherheit Europas gewährleistet. Daraus ergibt sich ein Konflikt, nämlich der zwischen dem Wunsch nach einer atomwaffenfreien Welt und dem Wunsch nach Sicherheit. Auflösen lässt sich dieses Spannungsverhältnis nur durch gegenseitiges Vertrauen. Bedauerlicherweise ist dieses so wichtige Vertrauen in den vergangenen Jahren dramatisch erodiert. Wir erleben mit Russland und der Volksrepublik China zwei Atommächte, die einer immer gewaltsameren Politik folgen, nach außen und nach innen. Chinas gewaltsames Expansionsstreben im Südchinesischen Meer, die Annexion der Krim durch Russland, besonders aber Moskaus Involvierung in den Kaukasus-Krieg in Georgien 2008 und den Krieg in der Ostukraine sind Beispiele für das Vorgehen dieser beiden Staaten gegen Schwächere. Hinzu kommen hybride Kriegsführung gegen westliche Staaten, Attentate, Manipulationen von Wahlen, die Finanzierung extremistischer Parteien und mehr. All diese Entwicklungen ignoriert der vorliegende Antrag. Auf welcher Basis könnten wir allen Ernstes das Vertrauen für eine erneute, tiefere Kooperation im Bereich Abrüstung finden? Vor diesem Hintergrund hätte ich mich gefreut, wenn die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag nicht vollkommen einseitig auf die Vereinigten Staaten von Amerika und die NATO abgehoben hätte. Aber sich kritisch mit Russland auseinanderzusetzen, wäre wohl zu viel verlangt. ({2}) Ich wiederhole: Ja, auch wir wollen, ebenso wie die USA, langfristig eine atomwaffenfreie Welt. Der Atomwaffenverbotsvertrag ist aber nicht der richtige Weg dorthin. Daher lehnen CDU und CSU den Antrag der Fraktion Die Linke ab. Danke. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Thomas Erndl. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns in regelmäßigen Abständen hier mit der Frage des Beitritts zum Atomwaffenverbotsvertrag. Eine atomwaffenfreie Welt ist zweifelsohne ein wichtiges Anliegen. Und wer würde sich nicht eine Welt ohne Atomwaffen wünschen? In dieser Frage gibt es – wir haben es gehört – keinen Mangel an Verträgen, keinen Mangel an Papier, sondern das Problem ist vielleicht eher, dass es auch keinen Mangel an Staaten gibt, die sich nicht an die eine oder andere Vereinbarung halten. Ich glaube, es muss aber auch einmal festgestellt werden, dass bestehende Mechanismen dafür gesorgt haben, dass wir seit 1990  97 Prozent der Atomwaffen in Europa abgebaut haben. Im Koalitionsvertrag haben wir Rüstungskontrolle und Abrüstung als prioritäre Ziele deutscher Außen- und Sicherheitspolitik besonders hervorgehoben. Doch der Atomwaffenverbotsvertrag, der im Antrag genannt wird, ist nur eine Scheinlösung. Wir befinden uns – es wurde wieder einmal deutlich, dass die Fraktion Die Linke und auch die Grünen das letztendlich noch nicht realisiert haben – in einer neuen sicherheitspolitischen Lage. Diese muss man zur Kenntnis nehmen. Die Zustimmung Deutschlands zum Atomwaffenverbotsvertrag wäre in vielfacher Hinsicht kontraproduktiv; meine Vorredner haben das ausgeführt. ({0}) Wir würden uns isolieren und denjenigen Vorschub leisten, die auf eine Spaltung, zum Beispiel des NATO-­Bündnisses, abzielen. Und das ist wirklich nicht das, was wir wollen. Wir als CDU/CSU-Fraktion kümmern uns um unsere Sicherheit. Deswegen sagen wir: Es macht keinen Sinn, diesem Vertrag beizutreten, ({1}) zum Beispiel deswegen, weil keine einzige Nuklearmacht diesen Vertrag unterzeichnet hat. Diese Mächte lehnen ihn allesamt ab. Damit erübrigt sich eigentlich eine weitere Diskussion über dessen Wirksamkeit. ({2}) Der Vertrag gibt auch keine Antworten auf wichtige Fragen. Wie soll zum Beispiel mit einem Staat umgegangen werden, der heimlich Kernwaffen lagert? Wir erinnern uns: Russland sollte eigentlich kein Nowitschok haben; aber auf einmal war es irgendwo da. Auch das war letztendlich keine Erfüllung von bestehenden Verträgen. Zudem enthält das Abkommen sogar eine Ausstiegsklausel. Nach einem Jahr darf jeder Mitgliedstaat mit Verweis auf die geänderte Sicherheitslage das Abkommen wieder verlassen. Das heißt, alle daran teilnehmenden Staaten müssten nicht nur mit dem Risiko zurückgehaltener Nuklearwaffenarsenale leben, sondern auch mit der Möglichkeit, dass ein oder mehrere Länder das Abkommen kündigen und wieder atomar aufrüsten. Der Vertrag beinhaltet auch leider nur geringe Standards zur Überprüfung ziviler Atomprogramme. Angesichts dieser Risiken für unsere sicherheitspolitischen Interessen sollten wir lieber die Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung aufrechterhalten. Es mag natürlich paradox erscheinen; aber die Geschichte hat es letztendlich gezeigt: Die nukleare Abschreckung hat den Frieden in Europa erhalten und ihn eben nicht gefährdet. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur um das noch einmal klar auszudrücken: Eine kernwaffenfreie Welt bleibt unsere Vision. Das bleibt unser Ziel. ({4}) Es ist bereits so, dass fast alle Staaten völkerrechtlich verbindlich und für immer auf Kernwaffen verzichtet haben; die meisten natürlich in der Erwartung, dass auch die Atommächte eines Tages darauf verzichten. Doch die Realität ist nun einmal eine andere. Es ist nicht abzusehen, wann dieser Tag kommt. Außerdem gibt es außerhalb des Atomwaffensperrvertrages Staaten, die massiv atomar aufrüsten: Indien, Pakistan, Nordkorea. Auch das muss man einbeziehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die völlige nukleare Abrüstung bleibt selbstverständlich ein Ziel. Dieses wird jedoch durch den Atomwaffenverbotsvertrag nicht gefördert. Wegen dieser sicherheitspolitischen Risiken für unser Land, für Europa lehnen wir den Beitritt ab. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Erndl. – Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten – Atomwaffen abziehen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/1734, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/98 abzulehnen. Wer für die Annahme dieser Beschlussempfehlung ist, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind die Fraktionen der FDP, der CDU/CSU und der SPD. Wer ist dagegen? – Grüne und Linke. Enthaltungen? – Von der AfD. Damit ist die Beschlussempfehlung des Ausschusses angenommen.

Dirk Heidenblut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004295, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 95 Prozent der Literatur sind in Deutschland derzeit für blinde Menschen und für Menschen, die stark seheingeschränkt sind, nicht verfügbar, weil sie nicht in den entsprechenden barrierefreien Formaten existieren. Dies ist allerdings kein rein deutsches Problem. Deshalb hat die Weltgemeinschaft mit dem sogenannten Vertrag von Marrakesch die Aufgabe übernommen, das zu ändern und neue Regelungen zu finden und einzuführen. Die EU hat diesen Vertrag ratifiziert und mit der sogenannten Marrakesch-Richtlinie das Ganze dann entsprechend umgesetzt. Heute werden wir mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf diese Marrakesch-Richtlinie in deutsches Recht übertragen, und zwar durch entsprechende Änderungen des Urheberrechtsgesetzes. Wir werden Menschen mit Behinderungen, die – ganz gleich, aus welchem Grund – auch unter Einsatz technischer Sehhilfen nicht in der Lage sind, Literatur zu lesen, mit diesem Gesetz die Möglichkeit geben, ohne Zustimmung der Urheberrinnen und Urheber eine geeignete barrierefreie Kopie zu erstellen und natürlich auch zu nutzen. Erstellt werden dürfen diese Kopien entweder durch sie selbst oder durch von ihnen gewählte Hilfspersonen. Dieses Recht besteht unbeschadet einer womöglich durch die Urheberinnen und Urheber oder deren Rechteverwerterinnen und Rechteverwerter zur Verfügung gestellten entsprechenden Variante. Zudem schaffen wir für befugte Stellen die Möglichkeit, dass sie genau diese Rechte auch nutzen können. Dabei handelt es sich in aller Regel um Blindenbibliotheken und ähnliche Einrichtungen. Das sind sehr starke Rechte. So starke Rechte, die als Schranke in das Urheberrecht eingreifen, müssen natürlich zur Konsequenz haben, dass wir uns auch mit der Frage beschäftigen, wie wir die Urheberrechtsinhaber, deren Rechte wir damit eingeschränkt haben, dann weiter behandeln. Das gilt auch für die Frage, wie wir sie bei der Vergütung behandeln und wie wir diese Urheberrechtsinhaber so stellen, dass wir ihre Rechte auch beachten und diese entsprechend abwägen. Das macht das Gesetz ebenfalls, indem es dafür sorgt, dass eine Vergütung gezahlt wird, die allerdings – das haben wir im Ausschussprotokoll noch einmal klargestellt – angemessen sein muss und auf die soziale und gemeinnützige Verantwortung Rücksicht nehmen muss. Den Urhebern steht also eine angemessene, vernünftige Vergütung zu. Die Verwertungsgesellschaften haben dieses Recht bisher auch schon gehabt. Sie werden es in Zukunft weiter behalten. Ich bin mir ganz sicher – das ist an dieser Stelle auch noch einmal eine sehr deutliche Aufforderung –, dass sie dieses Recht wie bisher sehr angemessen nutzen und eine recht niedrige Vergütung festsetzen werden. Mit unserem Entschließungsantrag wollen wir darüber hinaus dafür sorgen, dass den Blindenbibliotheken, die wir wertschätzen und die für die Umsetzung des Ganzen wichtig sind, ausreichend Geld zur Verfügung gestellt wird. Das werden wir als Bund machen. Da werden wir aber auch die Länder in die Pflicht nehmen; denn es ist im Wesentlichen eine Aufgabe der Länder. Es ist ein gutes Gesetz – ein Gesetz, das dafür sorgen wird, dass die 95 Prozent bald Vergangenheit sein werden. Insofern bitte ich um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Professor Dr. Lothar Maier hat das Wort für die AfD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Lothar Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004812, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Menschen mit einer Sehbehinderung haben bisher nur stark eingeschränkten Zugang zu Literatur aus Wissenschaft, Kunst und Belletristik sowie zu allen Arten von Lehrbüchern. Der Kollege Heidenblut hat sogar auf den erschreckenden Prozentsatz von 95 Prozent nicht zugänglicher Literatur hingewiesen. Um dem zu begegnen, regelt die Übereinkunft von Marrakesch erforderliche Ausnahmen im Urheberrecht, die es sogenannten befugten Stellen in Deutschland erlauben sollen, ohne Zustimmung der Autoren deren Werke in barrierefreie Formate zu übertragen, also zum Beispiel in Brailleschrift oder in Tonaufzeichnungen. Zu kritisieren ist hier, dass der Gesetzentwurf keine klare Definition bzw. Auflistung der befugten Stellen enthält, sondern dies einer noch zu erstellenden Verordnung überlässt, die vom BMJ auszuarbeiten wäre. Wünschenswert wäre aber, dass schon im Gesetz klargestellt wird, dass alle öffentlichen oder gemeinnützigen Einrichtungen entsprechende Angebote machen können, also beispielsweise sowohl Blindenbüchereien als auch alle öffentlichen und gemeinnützigen Büchereien. Wenn schon nicht im Gesetz, müsste dies auf jeden Fall in der geplanten Verordnung sichergestellt werden. Die breit geführte Diskussion, die sich auch in der Anhörung im Rechtsausschuss widergespiegelt hat, über einen etwaigen Vergütungsausfall für die Autoren der zu übersetzenden Werke, halten wir für übertrieben. ({0}) Schon heute nimmt die Verwertungsgesellschaft WORT nach ihren eigenen Angaben jährlich nur rund 25 000 Euro aus Publikationen der betreffenden Literatur ein. Selbst wenn der Umfang der barrierefreien Literatur zunehmen sollte, sind diese Beträge zu vernachlässigen. Positiv ist, dass die betroffenen Sehbehinderten solche Übertragungen in der Regel wohl auf maschinelle Weise selbst vornehmen können, ohne einer Vergütungspflicht zu unterliegen. Werden Übersetzungen von befugten Stellen in Auftrag gegeben, bleibt dies wie bisher vergütungspflichtig – eine Einschränkung, die wir für hinnehmbar halten. Umstritten bleibt die Frage, ob kommerziellen Angeboten der Vorrang vor Übertragungen durch befugte Stellen eingeräumt werden sollte. Werden Übersetzungen von befugten Stellen durchgeführt, so bleibt es bei der Vergütungspflicht, was wir ebenfalls für akzeptabel halten. Alles in allem scheint der Gesetzentwurf doch eine deutliche Verbesserung der bestehenden Situation darzustellen. Es bleibt aber die Verpflichtung des Gesetzgebers und damit auch von uns, dafür zu sorgen, dass die Mittel für die Übertragung existierender Literatur in barrierefreie Formate aufgestockt werden. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Ansgar Heveling, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben die Zahl schon mehrfach gehört und werden sie sicherlich im Verlauf der Debatte noch häufiger hören: Nur etwa 5 Prozent der Literatur ist in barrierefreien Formaten zugänglich – und das in einer Zeit, in der Informationen und Wissen so immens wichtig sind. Für den Zugang zu Bildung, für die kulturelle, gesellschaftliche und politische, aber auch die berufliche Teilhabe ist der Zugang zu Schriftwerken einer der wichtigsten Schlüssel. Deshalb freue ich mich – und ist es auch Zeit –, dass wir heute die Marrakesch-Richtlinie in deutsches Recht umsetzen. Mit der Umsetzung verbessern wir den Zugang zu veröffentlichten Werken und insbesondere zu Sprachwerken für blinde, sehbehinderte oder anderweitig lesebehinderte Menschen. Eine schon geltende wichtige Regelung wird bleiben: Menschen mit einer Seh- oder Lesebehinderung dürfen barrierefreie Kopien von Werken mit Urheberrechtsschutz für den eigenen Gebrauch herstellen, ohne hierfür eine Vergütung zahlen zu müssen. Neu ist, dass alle Einrichtungen, die gemeinnützig barrierefreie Kopien für Menschen mit Seh- oder Lesebehinderung herstellen, barrierefreie Kopien an Menschen mit einer Seh- oder Lesebehinderung nicht mehr nur – in Anführungsstrichen – „altmodisch“ in Hardcopy verleihen dürfen, sondern ihre Inhalte auch online anbieten dürfen. ({0}) Ein weiterer Clou am weltweiten Marrakesch-System ist nun, dass diese befugten Stellen ihre Kopien auch mit den befugten Stellen in allen anderen Marrakesch-Ländern austauschen dürfen, also in allen EU-Ländern und in derzeit weiteren 41 Staaten; sicherlich werden weitere folgen. Wir haben bewusst die befugten Stellen ganz offen definiert als „Einrichtungen, die in gemeinnütziger Weise Bildungsangebote oder barrierefreien Lese- und Informationszugang für Menschen mit einer Seh- oder Lesebehinderung zur Verfügung stellen“. Tatsächlich sind dies im Moment meistens Blindenbibliotheken, aber genauso fallen darunter Medienzentren für blinde und sehbehinderte Menschen oder Umsetzungsdienste an Universitäten. Jede Einrichtung, die mitmachen will, kann mitmachen. Grundsätzlich gilt im Urheberrecht, dass man die Rechte für die Nutzung erwerben muss. Im Ausnahmefall der gesetzlichen Nutzungserlaubnis gibt es als Entschädigung aber immerhin eine angemessene Vergütung. Die vergütungsfreie Nutzung gibt es nur ganz ausnahmsweise, wie zum Beispiel in diesem Gesetz, wenn Einzelpersonen für sich selbst barrierefreie Kopien erstellen. Für die Nutzung durch befugte Stellen ist dagegen eine maßvolle Vergütung angemessen. Für den Gesetzgeber wäre es natürlich verlockend, die Urheberrechte zu beschränken, um soziale Zwecke zu fördern, ohne dabei in die Staatskasse greifen zu müssen. Damit wir die Grundrechte von Menschen mit Seh- oder Lesebehinderung und von Menschen, die Literatur aller Art schaffen, gleichzeitig verwirklichen können, müssen die befugten Stellen so ausgestattet sein, dass sie eine angemessene Vergütung zahlen können. Und mehr noch: Sie müssen auch für ihre sonstigen Aufgaben auskömmlich ausgestattet sein. ({1}) Deshalb begrüßen wir es in einem eigenen Entschließungsantrag ausdrücklich, dass die Bundesregierung im Nationalen Aktionsplan zur UN-Behindertenrechtskonvention die befugten Stellen mit einer einmaligen Finanzierungshilfe fördern will. Vor allem bei der Umsetzung von IT-Systemen dürfte das sehr helfen. ({2}) Jenseits des bisherigen Engagements bitten wir zudem die Länder eindringlich, den finanziellen Mehrbedarf befugter Stellen zu berücksichtigen. Und ganz wichtig: Bei der Nutzung durch befugte Stellen kommen wegen ihrer wichtigen sozialen und menschenrechtlichen Aufgaben nur sehr maßvolle Vergütungen in Betracht. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Roman Müller-Böhm für die FDP-Fraktion. ({0})

Roman Müller-Böhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004833, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Literatur ist Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe, und nur wer Zugang zur Literatur hat, hat auch einen umfänglichen Zugang zur gesellschaftlichen Teilhabe. Diesen Anspruch verfolgt der Vertrag von Marrakesch. Diesen Anspruch verfolgen wir als Freie Demokraten. Aber diesem Anspruch wird der Gesetzentwurf leider nicht gerecht. Deswegen können wir ihn auch nicht unterstützen. ({0}) Der Vertrag von Marrakesch ist Teil des gesellschaftlichen Fortschritts und verbessert für Menschen mit Seh- oder Lesebehinderung den Zugang zu Literatur. Bisher – das wurde gerade oft gesagt – sind nur 5 Prozent der gesamten Literatur für Menschen mit einer Seh- oder Lesebehinderung zugänglich. Machen wir es konkret: Allein bei der Deutschen Nationalbibliothek sind schätzungsweise 29,5 Millionen Werke für Menschen mit einer Seh- oder Lesebehinderung nicht zugänglich. Hierin, meine Damen und Herren, sehen wir Aufgabe und auch Chance, das Leben für Menschen mit Behinderung zu verbessern. ({1}) Die Marrakesch-Richtlinie befürwortet Maßnahmen, um diese Anzahl nachhaltig zu steigern, und diesem Ziel hat sich Deutschland verpflichtet. Das ist gut so! Schauen wir nach Europa. Andere Staaten verzichten auf eine Vergütung der Urheber. Das halten wir für komplett falsch. Autoren leisten eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe, und für uns ist es selbstverständlich, dass diese Arbeit angemessen entlohnt wird. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung wird die Vergütung der Urheber jedoch nicht zielgerichtet gelöst. Das führt zu mehr Bürokratie bei den Verwertungsgesellschaften, zu einer sehr unangemessenen Kontrolle der Blindenbibliotheken und zu einer finanziellen Überlastung der Büchereien. Das ist mit den legitimen Vergütungsansprüchen der Urheber nicht zu rechtfertigen. Diese Hürden gehen zulasten der Nutzer, also der Menschen mit Behinderung. Das können und werden wir nicht akzeptieren. ({2}) Die Verpflichtung Deutschlands auf die Marrakesch-Richtlinie und die UN-Behindertenrechtskonvetion erfordert ein stärkeres gesamtgesellschaftliches Engagement und eine höhere Beteiligung an den Kosten. Der im Gesetzentwurf geäußerte Appell an die Bundesländer ist schlicht zu wenig. Auch der Bund muss sich der Verantwortung stellen und die Zugänglichmachung barrierefreier Literatur verbessern. Dazu gehört ein stärkeres Engagement des Staates für eine verbesserte Teilhabe sehbehinderter und blinder Menschen im Bereich der Literatur. ({3}) Wir Freie Demokraten fordern erstens eine jährliche Pauschalvergütung für die Urheber, zweitens die vollständige Übernahme dieser Vergütung durch den Bund und drittens eine dauerhafte Förderung der Blindenbibliotheken durch den Bund. Nur so, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann dieser Gesetzentwurf den Zielen gerecht werden. Nur so brauchen wir uns hier im Hohen Hause hinterher nicht zu schämen. Nur so helfen wir den Menschen wirklich. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, Literatur ist Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe. Diesen Anspruch verfolgt der Vertrag von Marrakesch. Diesen Anspruch verfolgen wir als Freie Demokraten. Aber der Gesetzentwurf der Bundesregierung wird diesem Anspruch leider nicht gerecht. Deswegen können wir diesen auch nicht unterstützen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Sören Pellmann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sören Pellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Betroffene! Guten Abend! Literatur und ähnliche kulturelle Erzeugnisse gelten als wichtiger Zugang zu Information und zu Bildung. Blinden, Sehbehinderten und anderweitig lesebehinderten Menschen muss dieser Zugang ebenso gewährleistet werden. ({0}) Leider scheint es so, als ob sich die Bundesregierung für die hier betroffene Personengruppe wenig oder gar nicht interessiert. Lieber setzen Sie, liebe Bundesregierung, eine längst überholte, aus dem letzten Jahrhundert stammende Teilhabepolitik um. Da hilft es auch nicht, dass die Regierungsfraktionen zwei halbgare Anträge kurzfristig ins Verfahren gebracht haben. Die Regierung ignoriert mit diesem Gesetzentwurf die durch das Urheberrecht ermöglichten Steuerungsinstrumente für eine spürbare Verbesserung der Lage der Betroffenen. Gleichzeitig soll dieses Gesetz ohne bessere finanzielle und personelle Ausstattung für die Übertragung der Literatur in barrierefreie Formate, die durch den Bund zu tragen wäre, umgesetzt werden. Im vorliegenden Gesetzentwurf ist zudem eine Vergütungspflicht für die befugten Stellen vorgesehen, die diese Übertragung vornehmen. Diese gehen bereits an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, aber dies ignorieren Sie. Sie wollen die Verpflichtung dieser Stellen in Form einer ministeriellen Verordnung festlegen, obwohl die Marrakesch-Richtlinie das eindeutig den befugten Stellen selbst überlässt. Damit werden Sie die Situation erheblich verschlechtern. ({1}) Auch im europäischen Vergleich bleiben Sie weit zurück. Im Ergebnis der letzten Haushaltswoche stelle ich fest: Für Rüstung stehen Milliarden Euro zur Verfügung. Für eine relevante Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderungen fehlt aber wieder einmal das Geld. Das ist ein Skandal. ({2})l Es ist kein Wunder, wenn Menschen sich zunehmend von der herrschenden Politik abwenden und präfaschistische Strömungen selbst hier im Bundestag ankommen. Dieser Politikstil zulasten der Menschen ohne finanzstarke Lobbygruppen muss ein sofortiges Ende haben. ({3}) Aber als wäre dies nicht genug: Die Regierung schafft es im Gesetzentwurf auch noch, den berechtigten Personenkreis weiter einzuschränken. Die Koalitionsfraktionen versuchen zwar, dies zu beheben. Aber auch ihnen fehlt hier das Fachwissen. Ein Beispiel: Menschen mit Behinderung, die sehen können, aber nicht in der Lage sind, selbst ein Buch zu halten, werden von der durch die Regierungskoalition gefundenen neuen Formulierung weiterhin ausgeschlossen. Entsprechend den Ansprüchen der UN-Behindertenrechtskonvention ist aber genau dieser Personenkreis deutlich weiter zu fassen. Noch erschreckender als der Ursprungsentwurf des Gesetzes ist das Verfahren zu diesem. Viel zu lange wurde die deutliche Kritik in den vielen Stellungnahmen der Betroffenen, die auch in der Anhörung zur Sprache kamen, ignoriert. Erst die öffentliche Anhörung, die auch auf unseren Druck hin stattfand, sorgte für ein Überdenken bei den Regierungsfraktionen. ({4}) Liebe Regierungsvertreter, es skizziert sich ein verstörendes Bild, wenn Mitbestimmung und Teilhabe erst durch uns eingefordert werden müssen und nicht zur Selbstverständlichkeit im politischen Willensbildungsprozess gehören. ({5}) Wer die Rückmeldungen der Stellungnahmen ernst nimmt und die Anhörung verfolgt hat, weiß, dass es weiterer, wirklicher Verbesserungen für Blinde, Sehbehinderte oder anderweitig lesebehinderte Menschen im Gesetzentwurf bedarf. – Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Um dies zu erreichen, liegt unser Entschließungsantrag vor. Wir wollen damit die Chance auf Teilhabe und Bildung für alle deutlich stärken. Mit Ihrer Zustimmung können Sie heute zeigen, dass Sie sich für Belange jener Menschen interessieren. Danke schön. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Corinna Rüffer das Wort. ({0})

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe verbliebene Abgeordnete! Es sind um die Uhrzeit noch erstaunlich viele hier. Ich möchte an dieser Stelle preisgeben, dass Sie heute die Debatte über dieses Thema genießen dürfen, weil wir darauf bestanden haben, dass wir heute darüber diskutieren. Ich finde es wichtig, dass wir über dieses Thema diskutieren, auch wenn wir es zu später Stunde tun. Das Thema ist zu wichtig, um es zu Protokoll zu geben. Nachdem wir schon die erste Lesung ohne Debatte durchgeführt haben, ist es an der Zeit, über die Marrakesch-Richtlinie zu reden. ({0}) In Richtung AfD möchte ich in diesem Zusammenhang doch einen Satz verlieren. Als Sie in den Bundestag eingezogen sind, haben Sie gesagt: Sie werden den anderen das Arbeiten beibringen und keine Debatten zu Protokoll geben, sondern diese führen. – Dass Sie nun ausgerechnet bei einer behindertenpolitischen Debatte sagen: „Die ist uns so unwichtig, dass sie zu Protokoll geht“, ({1}) lässt Sie in einem bestimmten Licht erscheinen und bestätigt das, was wir immer vermutet haben. ({2}) Sie haben sich im Bereich der Behindertenpolitik bisher nur dadurch hervorgetan, dass Sie im Zweifel gezeigt haben, dass Sie auf dem Rücken der behinderten Menschen in diesem Land Ihren üblen Rassismus austragen wollen. Ich finde, es ist an dieser Stelle wichtig, das zu betonen. ({3}) Liebe Regierungskoalition, liebe Union und liebe SPD, bei Ihnen verwundert es mich nicht, dass Sie diese Debatte heute nicht führen wollten; denn der Gesetzentwurf, den Sie zur Umsetzung dieser Richtlinie vorgelegt haben, ist einfach Murks. Damit bleiben Sie hinter den Möglichkeiten der Marrakesch-Richtlinie und hinter dem, was wir von Ihnen erwartet haben, weit zurück. ({4}) Denn das Ziel der Richtlinie besteht doch ursprünglich darin, dass die Zugänglichkeit von Literatur – das ist mehrfach gesagt worden – für die Personengruppe der sehbehinderten, blinden oder anderweitig lesebeeinträchtigten Menschen verbessert wird. Dafür sorgen Sie aber schlicht und ergreifend nicht. Kronzeuge der These, die ich hier vortrage, ist – und das ist wirklich peinlich – der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Herr Jürgen Dusel, der Sie immer wieder aufgefordert hat, mutig zu sein und die Richtlinie vernünftig umzusetzen. Die Art, wie Sie das tun, führt im Zweifelsfall zu Verschlechterungen gegenüber der Situation, die wir heute haben. ({5}) Die Punkte sind benannt. Die bürokratischen Hürden, die Sie einbauen – die AfD hatte übrigens keinen Sachverständigen benannt und in der Sachverständigenanhörung auch nicht durch gute Fragen geglänzt; das will ich an dieser Stelle betonen –, ({6}) sind so hoch, dass die kleinen Bibliotheken befürchten, die Leistungen nicht zu erbringen. ({7}) Zur Vergütungsverpflichtung. Wir reden Pi mal Daumen über 25 000 Euro im Jahr. Bei einem Gesamtvolumen von 300 Millionen Euro der VG WORT ist das absolut lächerlich. ({8}) Drei Oppositionsfraktionen haben Vorschläge eingebracht, wie man zu einer vernünftigen Regelung hätte kommen können. Ich habe mich über den Vorschlag der FDP gefreut. ({9}) Ich finde es aber schade – und es nervt mich auch –, dass wir selbst an einer solchen Stelle, wo das problemlos möglich wäre, keine menschenrechtskonforme Regelung finden. Der Gesetzentwurf ist einfach schlecht gemacht, und auch wenn es heute schon spät ist, sollten wir darüber reden. Herzlichen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Michael Frieser für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie sehen mich doch etwas verwundert. Anscheinend habe ich in den letzten Wochen und Monaten einer anderen Debatte über die Umsetzung der Marrakesch-Richtlinie beigewohnt. ({0}) Frau Kollegin, Sie hätten die Möglichkeit gehabt, in dieser Diskussion sachlich Stellung zu beziehen. Aber außer formalen Argumenten haben wir leider Gottes nicht sehr viel gehört. ({1}) Ich bin mir sicher, dass es etwas besser wäre, wenn wir über die Fragen inhaltlich redeten. Die Marrakesch-Richtlinie scheint doch im weitesten Sinne – das hat die Anhörung eindeutig gezeigt – gut gelungen zu sein. Deshalb tun wir uns, glaube ich, keinen Gefallen, wenn wir der Welt draußen versprechen, wir hätten hier neue Instrumente entdeckt und erkannt. Wir können betonen – in Übereinstimmung mit eigentlich allen Sachverständigen –, dass der Inhalt dieser Richtlinie umgesetzt wurde. Es geht darum, das hohe Gut eines barrierefreien Zugangs durch die Marrakesch-Richtlinie auf den richtigen Weg zu bringen. Da hilft großes Getöse und Wahlkampfgeschrei überhaupt keinen Zentimeter weiter. ({2}) Ich will auf den Grund eingehen, warum es sich hierbei um ein so hohes Gut handelt. In der Stadt Nürnberg habe ich meine Jugend zum Teil im dortigen Zentrum für Blinde und Sehbehinderte, das mein Vater als Architekt mitverantworten konnte, verbracht. Was ich dort erlebt habe, ist, dass Information und Zugang zur Literatur ein ganz wesentlicher Punkt sind. Dort wurden die Bände in Brailleschrift wie Schätze behandelt. Dort herrschte ein Wissensdurst, von dem ich in meiner Schulzeit keine Kenntnis hatte. Vor diesem Hintergrund ist entscheidend, dass wir hier die Barrieren – zugegebenermaßen schrittweise – zurücknehmen. Es muss darauf hingewiesen werden, dass das Anfertigen von Kopien zum Eigenbedarf schon bislang zulässig war. Es kommt nun darauf an, die Institutionalisierung vorzubereiten. Wichtig ist an dieser Stelle, Teilhabe als Ausdruck des Sozialstaatsgebots zu sehen. Aber unter keinen Umständen darf der Eindruck erweckt werden, dass wir hier einen Paradigmenwechsel im Urheberrecht vornehmen. Es geht gerade nicht um das Ausspielen der Interessen auf der einen Seite von Blinden und Sehbehinderten und auf der anderen Seite von Urhebern. Es geht genau darum, einen Ausgleich der Interessen zu schaffen, ohne dass wir das Grundregelwerk verändern. Genau das werden wir gewährleisten einerseits durch das Gesetz und andererseits durch den Beitrag, den wir mit einem Änderungsantrag leisten. Ich muss deutlich sagen: Ich bin verwundert, dass man hier von einem ungeahnten Bürokratieaufbau spricht. Wir sind der Auffassung, dass das Deutsche Patent- und Markenamt ({3}) gerade aufgrund des kenntnisreichen Wirkens durch die Verwertungsgesellschaften die wesentliche Institution ist, die weiß, worum es geht. Die Anhörung hat gezeigt, dass wir das konkret fassen müssen. In der Tat ist eine pauschale Rechtevergabe an das Deutsche Patent- und Markenamt nicht ausreichend. Genau das regeln wir an dieser Stelle. Ich kann nur noch einmal deutlich machen: Es ist wichtig, dass wir uns dem Ziel stellen. Es ist egal, um wie viel es an dieser Stelle geht. Es ist eigentlich egal, ob es um 25 000 Euro oder mehr geht. Die Intention ist jedenfalls, Zugang zu schaffen und mit konkreten Vorgaben Barrierefreiheit Schritt für Schritt herzustellen. Ich glaube, aus berufenem Mund sagen zu können, dass das in der Umsetzung der Marrakesch-Richtlinie funktioniert. Wir machen die Vorgaben. Dass wir dann bei Bibliotheken und Institutionen die Hilfe der Länder brauchen, wissen die Länder bereits. Aber der Bund ist gut beraten, an dieser Stelle die Vorgaben zu machen. Aufgeregtheit hilft an dieser Stelle nicht weiter. Damit ist keinem Einzigen gedient. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Angelika Glöckner für die SPD-Fraktion. ({0})

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuschauer sind keine mehr da. Es ist schon eine große Wertschätzung gegenüber Menschen mit Behinderung, dass wir heute darüber sprechen. Frau Rüffer, ich glaube, ehrlich gesagt, nicht, dass wir einen Gesetzentwurf vorlegen, der es uns nicht erlaubt, darüber zu sprechen. ({0}) Vielfach wurde heute bereits gesagt: Wir machen mit der Umsetzung der Marrakesch-Richtlinie einen ersten Schritt, und zwar, wie ich finde, in die richtige Richtung; das ist nötig. Mehrfach wurde darauf hingewiesen, dass zu wenige betroffene Menschen Zugang zu barrierefreier Literatur haben. Das muss und das wird sich ändern. Ich möchte darauf hinweisen, dass es sehr wohl positive Aspekte gibt. Beispielsweise können Menschen, die blind oder seh- und lesebeeinträchtigt sind, barrierefreie Kopien selbst oder durch Hilfspersonen machen lassen, ohne dass sie hierfür die Zustimmung des Urhebers brauchen. Zudem können Blindenbibliotheken barrierefreie Werke selbst herstellen und der berechtigten Personengruppe zur Verfügung stellen sowie diese Werke weiterleiten und austauschen. Das sind durchaus Verbesserungen. Sie sind gar nicht darauf eingegangen, dass wir des Weiteren die Personengruppe erweitert haben, indem wir die Definition angepasst bzw. verändert haben; das ist Fakt. Es ist trotz Ihrer Aufgeregtheit nicht in Ordnung, dass Sie das ignorieren und nicht ansprechen. Man muss ansprechen, dass es zwei Lager gibt. Es gibt das Lager der Behindertenverbände und der Interessenvertretung der Blinden, die natürlich eine erhöhte Belastung dadurch befürchten, dass barrierefreie Werke durch die Blindenbibliotheken selbst hergestellt werden müssen; das ist ein wichtiger Aspekt. Aber es gilt auch, die Urheberrechte zu wahren. Ich finde, dass wir hier eine ordentliche Regelung gefunden haben. Es handelt sich hier um zwei Aspekte von verfassungsgemäßem Rang. Wir müssen in der Regierung verantwortungsbewusst handeln – das müssen Sie nicht – und abwägen; das ist ganz normal. Wir haben das gemacht und eine gute Lösung gefunden. Ich möchte dem BMAS danken, das mit seiner Entscheidung, eine einmalige Anschubfinanzierung zu gewähren, das Ganze auf die Zielgerade gebracht hat. Was gar nicht oder nur wenig zum Ausdruck gekommen ist, ist, dass wir hier über Angelegenheiten reden, die im Zuständigkeitsbereich der Länder liegen. Natürlich ist es gerechtfertigt, dass wir an die Länder appellieren und sie daran erinnern, dass wir von ihnen mehr Einsatz durch eigene Mittel erwarten. Wir sind auf einem guten Weg und werden sehen, was sich daraus entwickelt. Ein erster wichtiger Schritt ist gemacht. Wir bleiben dran. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Marrakesch-Richtlinie über einen verbesserten Zugang zu urheberrechtlich geschützten Werken zugunsten von Menschen mit einer Seh- oder Lesebehinderung. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5114, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 19/3071 und 19/3826 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der AfD-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der AfD-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5114 empfiehlt der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, eine Entschließung vorzunehmen. Wer stimmt für diese Entschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der AfD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/5120? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der AfD-Fraktion und der FDP-Fraktion bei Zustimmung der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/5121? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der AfD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt.

Dr. Anna Christmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004694, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir lesen in diesen Tagen viele Schlagzeilen, seien es 800 Millionen Euro Strafe für Dieselschummelei, seien es Fahrverbote in Hamburg, in Stuttgart, in Berlin bald auch, ab 2019, seien es gestresste Städte, in denen allein 40 Prozent des Verkehrs nur auf unnötigen Parksuchverkehr zurückzuführen sind. Das sind die mobilitätspolitischen Schlagzeilen, die wir derzeit lesen, und sie zeigen das ganze Versagen dieser Bundesregierung. Ein Dieselgipfel folgt auf den anderen, nur leider ohne Ergebnis. Die Staus in den Städten, sie bleiben. Der Stress der Menschen, morgens ins Büro zu kommen, ist unverändert. Diese Untätigkeit der Bundesregierung muss jetzt beendet werden! ({0}) Das fordern nicht nur wir. Das Umweltbundesamt hat gerade in einer neuen Studie wieder festgestellt: 80 Prozent der Menschen – das ist die Mehrheit der Gesellschaft – wünschen sich weniger Verkehr, wünschen sich weniger Lärm und sauberere Städte. Jetzt ist die Zeit für einen mutigen Aufbruch für saubere, nachhaltige Mobilität der Zukunft. ({1}) Dazu machen wir heute einen Vorschlag: Wir Grüne wollen Experimentierräume einrichten, in denen zukunftsweisende Mobilitätstechnologien, veränderte Mobilitätskulturen und moderne Infrastrukturen schnell und umfassend ausprobiert werden; denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ja so: Die Forschung, die Wirtschaft und ganz viele Start-ups, die haben längst die Mobilitätslösungen, die wir brauchen. Es ist die Politik, es ist die Bundesregierung, die an veralteten Technologien festhält. ({2}) Dabei sind es die neuen Ideen, auf die wir setzen müssen und die wir mutig ausprobieren müssen, um endlich gute Luft, weniger CO 2 und mehr Lebensqualität in den Städten und auf dem Land zu erreichen. ({3}) Mit den Experimentierräumen möchten wir genau diese Lösungen, diese nachhaltigen Mobilitätskonzepte schnell aus dem Labor auf Straße, Schiene und Radweg bringen, und zwar in den Städten und auf dem Land. Gerade für ländliche Räume sind neue Mobilitätskonzepte eine riesige Chance zur besseren Anbindung. Wichtig ist aber auch: Es kann nicht immer nur um ein oder zwei Lastenräder oder um zwei oder drei elektrifizierte Busse gehen. Was wir brauchen, sind ganze Städte und ganze Landkreise als Experimentierräume, als Leuchttürme für neue Mobilität. ({4}) Dafür muss man dann eben substanzielle Summen in die Hand nehmen. Als Grüne fordern wir 100 Millionen Euro im nächsten Haushalt – 50 Millionen für die Forschung und 50 Millionen für den Verkehrsbereich. Damit kann man dann tatsächlich die Ideen, die in den Laboren längst da sind, auch ausprobieren. Wir müssen das, was wir uns wünschen für eine lebenswerte Zukunft in den Städten und auf dem Land, sichtbar machen. Wir brauchen gelebte Visionen neuer Mobilität. ({5}) Das sage ich nicht zuletzt auch als Stuttgarter Abgeordnete. Das Stuttgarter Neckartor ist genau so ein Beispiel, über das wir häufig lesen im Zusammenhang mit dem Stress, den die Städte durch den Verkehr aushalten müssen. Ich würde mir wünschen, dass das Neckartor in Zukunft nicht mehr wegen der starken Verkehrsbelastung in den Schlagzeilen ist, sondern wegen der innovativen Mobilitätskonzepte. Stellen wir uns einmal vor – das könnte schon in wenigen Jahren umgesetzt sein; ich würde mir das wünschen –, dass ich mir mit einer App nach meiner Shoppingtour mein E-Lastenrad herbeirufen kann, dass ich mir den autonomen Bus herbeirufen kann, mit dem ich zum Cannstatter Wasen fahren kann, und dass mein Carsharing-Auto so klug ist, nicht in den Stau hineinzufahren, sondern eine gute Route hat. Das ist die Mobilität der Zukunft. ({6}) Der Witz daran ist ja: All diese Technologien existieren längst, wir müssen sie nur auf die Straße bringen. Dafür braucht es ein bisschen mehr Mut. Wenn sich diese Regierung nicht in internen Streitereien über Dieselnachrüstungen verheddern würde, dann könnte die Mobilität der Zukunft heute schon Gegenwart sein. Dafür haben wir heute einen Antrag vorgelegt. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Abgeordnete Andreas Steier das Wort. ({0})

Andreas Steier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004903, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Christmann, vielleicht sollten Sie mal die Hightech-Strategie 2025 der Bundesregierung lesen; da stehen viele Konzepte drin, ({0}) die unsere Regierung auch umsetzt. Dort steht die Idee der Erforschung und Erprobung von nachhaltigen, zukunftsorientierten Mobilitätskonzepten drin. Diese Idee wurde am 8. September 2018 im Kabinett besprochen. Es geht darum, wie Mobilität in Zukunft funktionieren kann, wie wir Konzepte aus der Wissenschaft in die Realität umgesetzt bekommen, wie wir die Mobilität auf den Gehwegen, auf den Fahrradwegen, auf der Straße, auf der Schiene miteinander koppeln können und wie das auch übergreifend funktionieren kann. Vor allen Dingen geht es in der Hightech-Strategie auch darum, wie wir die Bürger einbinden können, dass sie die Mobilitätskonzepte auch akzeptieren. Dabei hat die Bundesregierung besonderen Wert darauf gelegt, dass wir nicht nur den Mobilitätssektor allein betrachten, sondern auch die Kopplung zu anderen Sektoren vorsehen, dass wir Energie, Umwelt, Arbeit auch mit Handel und Produktion koppeln. Wir müssen auch dafür sorgen, dass Dinge transportiert werden. Es geht darum, die Stadt und den ländlichen Raum mit einem schlüssigen Mobilitätskonzept weiterzuentwickeln. Der Mobilitätssektor steht natürlich vor großen Umbrüchen. Wir haben viele neue Technologien, die entwickelt werden; diese sind auch in der Hightech-Strategie beschrieben. Dabei denke ich insbesondere an das autonome Fahren, an vernetzte Strukturen, an Insassenbewegung und Insassenerkennung, aber auch an alternative Antriebe. Hierfür gilt ganz klar: Wir müssen den Industriestandort und den Forschungsstandort Deutschland weiter sichern. Wir müssen dafür sorgen, dass wir neue Innovationen auf dem Gebiet der Mobilität hier bei uns halten, und wir müssen dafür sorgen, dass Deutschland weiterhin auch hier Innovationsstandort ist. Die Forschung bleibt deshalb auch ein Schwerpunkt der Bundesregierung; Staatssekretär Rachel sitzt ja auch auf der Regierungsbank. Die Bundesregierung und wir von der Großen Koalition gucken auch, dass wir weiterhin genügend Mittel für die Mobilität in den Haushalt einstellen, damit wir den Transfer von Forschung in Innovation auch weiter hier in Deutschland halten. Forschung ist dabei nicht nur Innovation, sondern Forschung ist natürlich auch Gewinnung von neuen Erkenntnissen. Neue Erkenntnisse in der Mobilität erfordern natürlich auch das Lösen von neuen Problemen, die sich in diesem Bereich stellen. Da sind wir gut unterwegs, und da werden wir auch weitere Konzepte entwickeln. Die Große Koalition hat die Bedeutung des Themas Mobilität erkannt. CDU/CSU und SPD haben diese Dinge bereits im Koalitionsvertrag gemeinsam festgehalten. Da steht zum Beispiel zum autonomen Fahren, dass wir das weiter vorantreiben werden, dass wir auch Mittel für Mobilitätsprogramme neu auflegen werden. Wir werden auch die Batterieforschung in dem Bereich hier in Deutschland weiter vorantreiben, damit wir diese gute Entwicklung hier in Deutschland halten. ({1}) – Sie können gerne nachher etwas erläutern. Aber wir haben eine sehr gute Entwicklung hier in Deutschland. – In Jülich haben wir eine sehr gute Batterieforschung vor Ort. In der Batteriezellproduktion müssen wir wieder schauen, dass wir hier in Deutschland führende Produkte hinbekommen. Und wir müssen natürlich auch ganzheitlich denken: Wir müssen auch synthetische Kraftstoffe hier vorantreiben. Wir dürfen uns nicht nur auf die E-Mobilität konzentrieren, ({2}) sondern müssen uns auch auf synthetische Kraftstoffe konzentrieren, damit wir insgesamt den Wandel gestalten können. Dafür sind wir gut unterwegs hier, und wir werden die Dinge auch weiterhin gut vorantreiben. ({3}) Die ganzen Maßnahmen sind wichtig, um zum einen Menschen sicher und schnell von A nach B zu bringen; sie sind aber auch wichtig dafür, dass wir hier in Deutschland für ein gutes Klima sorgen. Wir dürfen dabei aber die Wirtschaft nicht vernachlässigen. Wir haben eine führende Automobilwirtschaft vor Ort. Die gilt es auch weiterhin hier zu halten. Wir haben über 1 Million Arbeitsplätze in der Automobilwirtschaft. Da gilt es, auch weiterhin die Wertschöpfungsketten hier in Deutschland zu halten, ({4}) auch in der Tiefe die Wertschöpfung hier zu halten und nicht, so wie die Grünen, immer nur gegen die Automobilhersteller zu wettern, sondern wirklich dafür zu sorgen, dass diese auch hier vor Ort bleiben ({5}) und wir uns hier mit klugen Konzepten weiterentwickeln. Da hat die Bundesregierung sehr viel vorangetrieben, wir sind auf einem guten Weg, und, ich denke mal, da können wir auch weiterhin gut voranschreiten. ({6}) Wenn Sie über Mobilität sprechen, muss man aber auch ganz klar sagen: Man kann sich nicht nur auf eines konzentrieren. Wir müssen da sehr weit denken, müssen da auch das Auto in den Blick nehmen. Denn gerade in ländlichen Gebieten funktioniert es nicht immer mit dem ÖPNV; da ist das Auto auch weiterhin erforderlich, um junge Leute zur Arbeit, ältere Leute zum Arzt zu bringen. Da brauchen wir auch weiterhin kluge Konzepte für das Auto. Wir brauchen eine Vernetzung des Autos, in größeren Städten, mit dem ÖPNV, aber auch durch Carsharing. Das sind neue Systeme, die sich da entwickeln, und diese alle müssen wir vernetzen, ohne uns da auf eines zu konzentrieren. Nur dann, wenn wir gemeinsam mit allen Konzepten und systemübergreifend denken, werden wir auch eine gute Zukunft hier haben. ({7}) – Wir reden hier auch sehr konkret über neue Entwicklungen, die hier entstehen. Wir haben auch weitere Projekte, die die Bundesregierung vorantreibt. Neben dieser Hightech-Strategie gibt es im Forschungsministerium eine Forschungsagenda „Nachhaltige urbane Mobilität“. ({8}) Hier geht es ganz gezielt darum, wie in städtischen Gebieten die Mobilität weiterentwickelt werden kann, ohne dabei eine Präferenz auf ein Fahrzeug zu legen. Ich denke mal, da sind wir auf einem sehr guten Weg. Liebe Grüne, lassen Sie mir noch ein letztes Wort: Ich verstehe Ihre Abneigung gegenüber dem Automobil nicht. ({9}) Wenn es uns gelingt, dass wir da auch eine zukunftsfähige Technologie antreiben, ({10}) dann können wir Arbeitsplätze hier in Deutschland halten, können weiterhin gute Qualität für die Welt produzieren. Dafür müssen wir weiterhin einen guten Standort hier in Deutschland halten. Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Wiehle für die AfD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Wiehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004933, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Unter der Überschrift „Mobilitätsforschung“ präsentieren uns die Grünen hier ein neues Programm, mit dem sie wohl gerne fast eine halbe Milliarde Euro in ihre Lieblingsprojekte pumpen möchten, und zwar auf Kosten des Steuerzahlers. ({0}) Im Antragstext ist die Rede von Sharing-E-Bikes, E-Rollern und, auf ein Neues, von der Ladeinfrastruktur für E-Fahrzeuge. Und laut Punkt 3 des Forderungskatalogs geht es keineswegs nur um Forschung, sondern auch um „konkrete Umsetzungsmaßnahmen“. Die Überschrift des Antrags, meine Damen und Herren, ist also Etikettenschwindel. ({1}) Was wird hier im Vorfeld passiert sein? Hat da ein grüner Bürgermeister oder gar Ministerpräsident bei seiner Bundestagsfraktion angerufen und gesagt: „Ich habe da noch ein Vorzeigeprojekt für die Verkehrswende, aber mir fehlt das Geld; könnt ihr mir helfen?“? Nun haben wir also ein Programm für – Anführungszeichen auf – „Mobilitätsforschung“ – Anführungszeichen zu – auf dem Tisch. ({2}) Bis zu fünf Städte sollen mit bis zu 75 Millionen Euro bedacht werden, und – machen wir uns nichts vor – wenn das Geld bereitsteht, wird es auch abgerufen werden – 375 Millionen Euro also. Wer wird davon profitieren? In Punkt 5 ist von Kommunen, Wissenschaftseinrichtungen, Partnern aus Wirtschaft und sogenannter Zivilgesellschaft die Rede. Es werden die Freunde einer – ich zitiere mit Erlaubnis der Frau Präsidentin aus Punkt 1 – „umwelt- und klimagerechten Verkehrswende“ sein, also wohl das politische Umfeld der Grünen. ({3}) Was ist aber mit den betroffenen Bürgern? Für sie soll es sogenannte – Zitat – „bewährte Beteiligungsformate“ geben. Aber was heißt das? Will man da abendfüllende Workshops anbieten, ({4}) zu denen dann wieder die erwünschten Parteigänger kommen, aber eben nicht diejenigen, die sich am Abend von einem anstrengenden Arbeitstag erholen oder ({5}) froh sind, ein wenig Ruhe zu haben, wenn die Kinder im Bett sind? ({6}) Zu befürchten ist also, dass aus dem Ganzen ein gigantisches Beschäftigungsprogramm für grüne Organisationen, Kommunen und Einzelpersonen wird. ({7}) Und wenn das politische Umfeld einer Partei zum Zuge kommt, die sich vor allem mit Verboten und Einschränkungen profiliert, dann wird das auch für die Bürger der betroffenen Kommunen keine Freude sein. ({8}) Die Kritik an diesem Programm aus politischer Sicht ist aber noch nicht alles. Die zweite, bedeutende Frage ist, wie die Antragsteller hier mit dem Steuergeld umgehen wollen, das die Bürger unseres Landes tagein, tagaus hart erarbeiten. Es kann nicht sein, dass der deutsche Staat für solche Spielereien mit vollen Händen Steuergeld ausgibt. ({9}) Was ist das für eine Mentalität, die in dieses Haus Einzug gehalten hat? ({10}) Wenn durch die unsolide Geldpolitik der EZB die Einnahmen sprudeln und Verschuldung fast nichts mehr kostet, so scheint es, kann man wohl ungeniert in die Geldtöpfe greifen. Mit der Euro-Rettung einschließlich TARGET-Salden trägt Deutschland Kosten und Risiken in Billionenhöhe. Die Kosten für die Energiewende werden sich einschließlich EEG-Umlage und Gebäudesanierung ebenfalls auf die Billionenmarke zubewegen. ({11}) – Oh, danke für den Zwischenruf! Es steht nicht in meinem Manuskript, aber der Professor Raffelhüschen aus Freiburg ({12}) hat im Januar ausgerechnet, dass auch die Kosten für die Flüchtlingspolitik sich auf 1 Billion Euro zubewegen werden. Sie haben recht; danke für Ihren Zwischenruf! ({13}) Jetzt also auch noch eine „Verkehrswende“, und wenn hierfür wieder Gelder in Billionenhöhe anstehen, dann sind 375 Millionen im Vergleich dazu wohl eine Größenordnung, die manch einer als „Peanuts“ bezeichnen würde. Zu Zeiten der Monarchien, meine Damen und Herren, wuchs den Parlamenten die Rolle zu, die Ausgaben des Königs zu kontrollieren. ({14}) Auch wenn es heute ideologische Wasserköpfe sind, deren Verhalten wir kontrollieren müssen – erinnern wir uns an diese Aufgabe! Nehmen wir im Sinne der steuerzahlenden Bürger die Kontrollfunktion dieses Hauses ernst ({15}) und lehnen wir dieses Wünsch-dir-was-Programm ab! ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat René Röspel für die SPD-Fraktion. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Abend, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hallo, Hamed auf der Tribüne! Wir freuen uns über einen Zuschauer. ({0}) Er wird wahrscheinlich erleben, dass wir jetzt noch eine Stunde – oder vielleicht weniger – hier an unserem Arbeitsplatz verbringen. Dann werden wir wahrscheinlich alle ein Ziel haben, nämlich diesen Arbeitsplatz zu verlassen und nach Hause zu kommen. Ich vermute jedenfalls, dass niemand heute hier übernachten wird. Das heißt, wir alle werden gleich sehr unterschiedliche Formen von Mobilität produzieren, und diese hängt ab von den Rahmenbedingungen, die sich jeder irgendwann einmal selbst gesetzt hat. Da gibt es zum Beispiel diejenigen, die gesagt haben: „Ich wohne lieber in einem Außenbezirk von Berlin, wo es ruhiger ist, wo es weniger Lärm gibt, wo die Mieten niedriger sind“; die werden heute wahrscheinlich mit dem Auto, weniger wahrscheinlich mit der U‑ oder S‑Bahn dahin fahren müssen, also eine solche Form von Mobilität produzieren. Und dann gibt es andere, die gesagt haben: „Ich wohne lieber in der Innenstadt, wo es vielleicht lauter und die Miete etwas höher ist, aber ich bin eben in 15 Minuten zu Fuß vom Reichstag zu Hause“; das ist die andere Form von Mobilität. Mit diesem Beispiel will ich sagen, dass wir nicht allein über Mobilität reden können, sondern dass es eine viel breitere, eine globalere Betrachtung des Problems geben muss. Tatsächlich machen die Große Koalition und die Bundesregierung seit 2015 auch das, zum Beispiel indem wir ein Modellvorhaben „Langfristige Sicherung von Versorgung und Mobilität in ländlichen Räumen“ auf den Weg gebracht haben. Auch das ist kein lächerliches Spielprojekt, wie man bei der Büttenrede gerade vielleicht hätte denken können, sondern es ist für Menschen, die auf dem Dorf leben, sehr wohl interessant, ob es dort noch einen Laden gibt, ob die Kita in der Nähe ist und sie sich das Autofahren ersparen können, weil die Vor-Ort-Versorgung funktioniert – ein wichtiges Thema, mit dem man überflüssige Mobilität verhindern kann. Ich habe aus meiner Kindheit in Erinnerung, dass es in jeder zweiten Straße einen Tante-Emma-Laden gab und man maximal ein Auto in der Familie brauchte, das man vielleicht für Urlaubsfahrten benutzte. Also auch da muss man Mobilität, muss man Gesellschaft, muss man Stadtentwicklung breiter denken, als vielleicht einige dazu in der Lage sind. ({1}) Tatsächlich haben die Grünen recht: Auch Mobilität muss betrachtet werden, wir brauchen moderne Mobilitätskonzepte. Auch da sind wir eigentlich schon – Herr Steier hat es bereits gesagt, und Arno Klare wird noch ein paar ganz konkrete Beispiele nennen – auf einem recht guten Weg. Seit 2015 gibt es den Wettbewerb Zukunftsstadt, wo in der Endauswahl acht Kommunen zu Modellprojekten werden, wo die Kommunen Reallabore entwickeln, wo innovative Ideen einem Praxistest unterzogen werden, um zu zeigen: Vielleicht müssen wir Stadtentwicklung auch anders machen, vielleicht gibt es Mobilität, die nicht ohne Weiteres zulasten der künftigen oder schon der heutigen Generationen geht. Wer zu lange am Auspuff steht, wird vielleicht merken, dass das gar nicht so gesund sein kann. Letztes Jahr hat es eine Konferenz und daraus folgend einen Agendaprozess gegeben: „Wege zur Mobilitätswende – Forschung und Innovation für nachhaltige urbane Mobilität“. Herr Steier hat das gerade schon erwähnt. Das ist tatsächlich der richtige Ansatz. Das ist kein Ansatz, der uns zurückfallen lässt in alte Zeiten, sondern ein innovativer, kreativer Ansatz. Meine Kinder kennen nichts anderes als den Euro; das finden die normal. Und ich behaupte, dass spätestens die Kinder meiner Kinder nicht mehr darauf insistieren werden, ein eigenes Auto zu haben. Wie langweilig ist es, das den ganzen Tag vor der Tür stehen zu haben! Die werden auf ihrer App einprogrammieren, dass sie bitte schön um 17.18 Uhr zu Hause abgeholt werden – umweltfreundlich –, um dann eine Stunde später irgendwo anders sein zu können. Das ist doch Hightech. Das ist eine gute Zukunft, und die muss man heute organisieren. Deswegen werden die Ergebnisse aus solchen Konferenzen in die Agenda einfließen, die zurzeit vom BMBF erarbeitet wird. Es werden Modellprojekte, Experimentierräume geschaffen, wie wir sie schon im Koalitionsvertrag beschrieben haben und wie sie auch in der Hightech-Strategie nachzulesen sind. Ich komme zum Schluss, indem ich sage: Ja, Forschung ist wichtig und gut, und man braucht sie auch, um neue Ideen zu bekommen und Umsetzungsmöglichkeiten zu finden. Aber ich glaube, dass das eigentliche Problem mittlerweile auf einer ganz anderen Ebene liegt. Erstens haben wir eine Automobilindustrie, die die Zeichen der Zeit lange Jahre verpennt hat. Wir könnten viel weiter sein: Es gibt schon seit 2009 Modellprojekte, Modellregionen, wo Elektromobilität gefördert wird. Ich fahre seit vier Jahren ohne Problem ein E-Mobil, und das ist wunderbar. Man kann es mit dem überschüssigen Strom der Photovoltaikanlage speisen; das macht auch noch Spaß. Man sieht, wie man rekuperiert und Energie spart. Da könnte die Industrie viel weiter sein. Den noch wichtigeren zweiten Punkt habe ich schon ganz zu Anfang angesprochen: Auch wir müssen unser Verhalten ändern. Bundespräsident Gustav Heinemann, in meinem Wahlkreis geboren, sagte: Wenn wir mit dem Finger auf andere zeigen, zeigen immer drei Finger auf uns zurück. – Wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Dann gelingt auch die mobile Wende. Danke schön. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Thomas Sattelberger für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004869, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Grünen denken Experimentierräume neu. Sehr löblich; in unserem durchreglementierten Staat oft die einzige Möglichkeit, Neues wirklich zu erproben. Aber dieser grüne Antrag ist ein aufgewärmter Veggie Day für grüne Verkehrspolitik! ({0}) Ein Experiment, das soll doch ein Wagnis sein und kein Praxistest für Umerziehung! Neues entsteht eben nicht, wenn man vermeintliches Teufelszeug ausklammert. In echten Experimentierräumen für Mobilität muss alles drin sein, auch autonomes Fahren durch urbane Zonen, Uber ohne Taxireglement, kommerzielle Sammelbusse, modernste Dieseltechnologie und Hybride, Flugtaxis und Drohnen, ({1}) und dann nicht nur für die Deutsche Post, sondern auch für die Versandapotheken. Aber Experimentierräume sind viel mehr; dazu nachher mehr. Die grün-schwarzen Reallabore in Baden-Württemberg, sie sind besser als nichts, aber sie verzetteln sich im ideologischen Klein-Klein. Bürger-Rikschas und Parklets – die schwächelnde baden-württembergische Wirtschaft ({2}) braucht was ganz anderes. ({3}) Um im Zukunftswettstreit mithalten zu können, brauchen wir breitaufgestellte Freiheitszonen, German Valleys, ({4}) gerade in mittelständisch geprägten Regionen, experimentelle Innovations- und Wachstumskerne, Mittelständler mit Start-ups, vernetzt mit Mobilität, Bildung, Gesundheit und Kultur – nicht Ihr unisektorales, technologiegeschlossenes Verhunzen von Experimentierräumen! ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Sattelberger – –

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004869, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, ich bin so gut in Fahrt jetzt. – Andere Länder machen uns vor, was Experimentierräume sind: Steuererleichterungen, Vereinfachungen im Arbeits‑, Bau- und Umweltrecht, neue Mobilitätskonzepte, Community-Infrastruktur, E-Government, Lebensqualität und regionales Wachstum. Shenzhen in China, Sophia Antipolis in Südfrankreich, 48 Enterprise Zones in Großbritannien, Skolkowo bei Moskau – cross-sektorale Innovationsräume, keine grünen Verkehrserziehungsräume! ({0}) Oder der i3 bei BMW: separates Betriebsgelände, eigene Werksausweise, souveräne Arbeitszeit, flache Führungsstruktur, Experimentierräume geschützt vor den Arbeitsweltkontrolleuren. Wirkliche Zukunftsterritorien entstehen, indem man auch altgediente Vorschriften zeitlich befristet aussetzt, vereinfacht. ({1}) Ein Beispiel aus meiner Heimatstadt München: ein Haus auf Stelzen über dem Parkplatz eines Freibads, des Dantebads, in einem Jahr gebaut, für soziales Wohnen – vereinfachtes Vergaberecht, Auftrag an Generalunternehmer, Lockerung bei Auflagen zu Energieeffizienz und Barrierefreiheit. ({2}) Wir brauchen eine solche Offenheit in alle Richtungen – cross-sektoral, cross-ideologisch, aber nicht für die eigenen Erlösungs- und Lieblingsprojekte, meine Grünen! ({3}) Das gilt übrigens – lassen Sie mich es noch härter sagen – auch für die Grüne Gentechnik. ({4}) Die fürchten Sie ja wie der Teufel das Weihwasser – gegen die Meinung von 140 Nobelpreisträgern. Robert Habeck hat ja hier mit dem Neudenken schon begonnen. Wie wäre es denn mit Experimentierräumen für Biotech, liebe Grüne? Oder für Arbeit, liebe GroKo, lieber Herr Röspel? ({5}) Da würde ich jetzt gern den lieben Hubertus Heil adressieren und fragen, was er aus den Experimentierräumen, die schon Andrea Nahles kastriert hat, jetzt wirklich machen will. ({6}) Meine Damen und Herren, technologische und soziale Innovationen sind Zwillinge, aber eben nur dann, wenn man dem ersten Zwilling nicht das Spielbein amputiert.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Sattelberger, auch wenn Sie jetzt in Fahrt sind: Sie müssen einen Punkt setzen.

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004869, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Deswegen ist Ihr Antrag zu kurz gesprungen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Petra Sitte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beschäftigen uns im Bundestag derzeit ja mit künstlicher Intelligenz, und ich habe das Gefühl, für manche ist das eine echte Chance. ({0}) Der Antrag der Grünen greift allemal ein drängendes Problem auf. Wir haben eine rasante Entwicklung von Elektrofahrzeugen, wir reden permanent über autonomes Fahren oder App-basierte Leasingmöglichkeiten, und es gibt einen Umbruch in der privaten und in der öffentlichen Mobilität. Diese Entwicklung muss natürlich wissenschaftlich begleitet werden; das ist doch gar keine Frage. Die im Antrag stehende Idee ist sinnvoll, einen solchen Experimentierraum finanziell gut auszustatten und ihn am Ende eben auch wirklich in eine solche Forschung mit einzubetten. Allerdings scheint es mir persönlich nicht zielführend, die ganze breite Palette der Elektromobilität aufzufächern und alles erforschen zu wollen. Aber darüber kann man ja reden. Meine Damen und Herren, zurzeit nutzen Konzerne und Autohersteller ihre Marktmacht, um ihre Geschäftsmodelle durchzusetzen. Verstehen Sie mich an der Stelle nicht falsch: Ich bin allemal für kluge Fortschrittspolitik und auch für die Entwicklung der E-Mobilität. Aber ob die eben – auch von Herrn Sattelberger – geschilderten Modelle dem öffentlichen Interesse entsprechen oder gar bestehende Verkehrsprobleme noch verschärfen, wäre zu diskutieren, und ich glaube, dass die Idee, die Sie gerade formuliert haben, eher dazu führt, dass wir weitere Verkehrsprobleme bekommen, ({1}) weil man auch mit einem E-Auto wunderbar im Stau stehen kann. Ich will hier mal zwei Szenarien etwas überzeichnend vorstellen: Erstens entstehen in den Städten riesige Flotten von elektrischen Sharing-Fahrzeugen von konkurrierenden Firmen. Nun könnte man ja sagen: Okay, das ist für die Kunden und Kundinnen gut; denn dann fallen die Preise. – Das ist aber natürlich schlecht für die Bewohnerinnen und Bewohner, weil dann einfach alle vor ihrer Tür im Stau stehen. Der Parkraum wird kleiner, der öffentliche Raum wird weiter eingeschränkt, beispielsweise für Fahrradfahrende oder für Fußgänger, der ÖPNV wird niederkonkurriert. ({2}) Das bedeutet dann am Ende: Beim Kampf um die Marktmacht fallen die Preise des Individualverkehrs, und natürlich wirkt sich das zum Nachteil des ÖPNV aus. Ich meine, dieses Szenario ist schwierig bzw. nicht anzustreben. ({3}) Zweites mögliches Szenario. Ergänzend zu einem ausfinanzierten, ökologischen, qualitativ hochwertigen und preiswerten – oder noch besser: gebührenfreien – ÖPNV werden kommunal regulierte Sharing-Anbieter zugelassen, wie es andere Länder ja auch schon tun. Diese bieten dann neue Angebote von App-vermittelter Tür-zu-Tür-Mobilität an. Die Fahrzeugflotten wären dann auf eine sinnvolle Größe begrenzt und stünden in erster Linie denen zur Verfügung, die sie benötigen, beispielsweise Familien mit kleinen Kindern oder eben in ihrer Mobilität eingeschränkten Personen. Die Rad- und Fußverkehrsinfrastruktur könnte massiv ausgebaut werden, und die Zahl tödlicher Fahrradunfälle könnte drastisch reduziert werden. In Berlin kann man sich anschauen, wie so etwas gehen könnte, wie so eine Vision Wirklichkeit werden könnte. Mit dem Berliner Mobilitätsgesetz soll Berlin mobiler, sicherer, klimafreundlicher und natürlich auch im Interesse aller gesteuert bzw. entwickelt werden. Eine Anmerkung noch: Wer hier in Berlin morgens mit dem Auto vor die Hütte fahren will, der hat nicht begriffen, dass die S-Bahn das viel schnellere Verkehrsmittel ist. ({4}) Berlin kann insofern zu Recht als Schrittmacher und in der gemeinsamen Diskussion über diese Dinge aber eben auch als Beispiel gelten. Dort sind eben gemeinsam mit der Zivilgesellschaft und mit Interessenverbänden genau solche Konzepte entwickelt worden, sei es der massive Ausbau von Radschnellwegen, sei es die Umstellung der BVG-Busse bis 2030 von Diesel- auf Wind- und Sonnenenergie ({5}) oder sei es eben auch das Ziel „Vision Zero“, um die Zahl der Verkehrsverunfallten möglichst gering zu halten. Meine Damen und Herren, welchen Weg die Verkehrspolitik nimmt und welcher Weg dann eben auch umweltfreundliche und tatsächlich lebenswerte Städte hervorbringt, können wir hier gemeinsam diskutieren. Wir als Fraktion wünschen uns natürlich viel eher das zweite Szenario. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dr. Wolfgang Stefinger aus der Unionsfraktion ist erkrankt, hat aber seine Rede hier zu Protokoll gegeben. – Und wir nehmen sie auch zu Protokoll. ({0}) Das Wort hat der Kollege Arno Klare für die SPD-Fraktion. ({1})

Arno Klare (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004329, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe hier den Antrag liegen und ihn auch gelesen. Wie Sie sehen, habe ich viele Anmerkungen gemacht. Als ich ihn gelesen habe, ist mir aufgefallen: Das, was da steht, ist ja nicht schlecht, ({0}) aber wir haben es schon. Der Antrag kommt zehn Jahre zu spät. Ich erwähne nur ein paar Beispiele; ich habe ja nur wenig Zeit: Erster Punkt. „Innovation City Bottrop“ sagt Ihnen was. Das hat 2010 begonnen. Dort wurden 125 Projekte mit Bürgerinnen und Bürgern entwickelt, um eine ganze Stadt treibhausgasneutral zu machen. Ungefähr 20 davon sind Mobilitätsprojekte. Das alles ist schon da. Man muss es nur ausrollen, und das wird auch ausgerollt: nach Essen – Kai Gehring wird das bestätigen –, nach Mülheim und ins gesamte Ruhrgebiet. Bottrop ist eine Modellstadt, in der genau das, was hier drinsteht, schon gemacht wird. ({1}) Zweiter Punkt. Wir haben fünf Modellstädte in Deutschland ausgewählt, die bestimmte Projekte durchführen – vom Bund finanziert bzw. mit Mitteln des Bundes ausgestattet. Ich erwähne jetzt nur zwei, weil sie hochinteressant sind, nämlich Bonn und Reutlingen. Bonn hat 325 000 Einwohner, Reutlingen hat 125 000 Einwohner; es gibt also einen deutlichen Größenunterschied. Es geht dort darum, das Wiener Mobilitätsmodell zu erproben. Was ist das Wiener Mobilitätsmodell? Für die, die es nicht wissen: In Wien kann man für 365 Euro im Jahr eine Karte kaufen, und dann fährt man für 1 Euro am Tag so viel, wie man will. Aber die anderen Tickets sind teurer und nicht preiswerter geworden. Man hat in Wien einen Zuwachs von 20 Prozent im ÖPNV erzielt und hat weniger Individualverkehr auf den Straßen. Das wird jetzt auch in den Modellstädten ausprobiert. Die ganze Stadt Bottrop ist ein Living Lab, Bonn ist ein Living Lab und Reutlingen auch. Wir machen das, was hier steht, schon. ({2}) Dritter und letzter Hinweis. Jetzt kommt ein Ausflug ins Saarland; es geht um autonomes Fahren. Wenn man den Leuten im Landkreis Merzig-Wadern vor ungefähr fünf Jahren gesagt hätte, dass sie mal ein Living Lab werden, hätten sie gesagt: Du hast einen Knall. – Sie sind es. In dem gesamten Kreis – zusammen mit Luxemburg und einem Teil von Frankreich – probiert man jetzt autonomes Fahren aus. Das gilt für andere Städte in der Republik auch: in Berlin, in Braunschweig, in Dresden, in Düsseldorf, in Hamburg. Es gibt ganz viele Städte. Das alles sind schon Living Labs. Das ist all das, was Sie hier in diesem Antrag beschreiben. Das ist schon existent, und Sie sind ein wenig spät dran mit Ihrem Projekt, so gut ich diese Idee ja finde. Aber manchmal kommen Ideen zu spät. Das ist sozusagen Erinnern an die Zukunft; das ist nichts Neues mehr. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/3160 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass ich zu dieser späten Stunde zu dem spannenden Thema Feuerungsanlagen reden darf, und hoffe auf viele feurige Reden meiner Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Wir haben in den letzten 20 Jahren erhebliche Fortschritte bei der Reduktion der Emissionen von Feinstaub, Schwefeldioxid und Stickoxiden erreicht. Dennoch sind die negativen Auswirkungen dieser Emissionen auf unsere Umwelt und die Gesundheit der Menschen immer noch gravierend. Auch beim Klimawandel, das heißt für die Erderwärmung, sind Emissionen ursächlich. Die hier nun vorliegende Verordnung der Bundesregierung trägt dem Rechnung und wird die Emissionen bestimmter Schadstoffe deutlich reduzieren. Mit der Verordnung wird die MCP-Richtlinie – Medium Combustion Plant Directive – der Europäischen Union umgesetzt. ({1}) Die Richtlinie – und in der Folge auch die Verordnung – sieht für Deutschland nationale Emissionsgrenzwerte für die Luftschadstoffe Schwefeldioxid, Stickoxide und Gesamtstaub vor. Diese gelten dann direkt bzw. ab dem Jahre 2025 oder ab dem Jahre 2030. Zusätzlich werden Anforderungen an die Registrierung von nicht genehmigungsbedürftigen Anlagen gestellt. So wird die Überwachung der Emissionen aus den Anlagen vorgeschrieben. Außerdem wird die Berichterstattung für die Jahre 2021, 2026 und 2031 an die Europäische Kommission zur Emissionsentwicklung in den geregelten Anlagen festgehalten. Die Verordnung geht über die MCP-Richtlinie der Europäischen Union hinaus. Das liegt daran, dass die Richtlinie den Mitgliedstaaten lediglich Mindestanforderungen vorgibt. Zur Wahrung bestehender Umweltstandards übernimmt die Verordnung Regelungen aus der 1. Bundes-Immissionsschutzverordnung und der TA Luft. Diese sieht in Deutschland bereits jetzt höhere Standards vor. Hinter diese dürfen wir auch nicht zurückfallen. Die Verordnung enthält Übergangsregelungen für bestehende Anlagen, die ein Einhalten der Grenzwerte erst ab 2025 vorsehen. Die gewährte Übergangsfrist liegt in dem für die TA Luft üblichen Rahmen und gewährt ausreichend Zeit zur Umsetzung. Die dafür erforderliche Technik, wie elektrostatische Staubabscheider und Anlagen zur katalytischen Abgasreinigung von Stickstoffoxiden, ist verfügbar. Zu beachten ist auch, dass bei weitem nicht bei allen Anlagen Nachrüstungsbedarf entsteht. Sehr alte Anlagen haben zu diesem Zeitpunkt ihre technische Lebensdauer erreicht. Die Bundesregierung geht davon aus, dass 40 000 Anlagen vom Anwendungsbereich erfasst sind. Nicht genehmigungspflichtige Feuerungsanlagen mit weniger als 1 Megawatt Feuerungswärmeleistung unterfallen auch weiterhin ausschließlich der 1. Bundes-Immissionsschutzverordnung. Die Pflichten zur kontinuierlichen Emissionsmessung wurden aus der TA Luft übernommen und werden daher in dieser Verordnung lediglich fortgeschrieben. Wir alle wissen, dass die Luftbelastung in Europa zu hoch ist. Dies hat nicht nur gesundheitliche Auswirkungen, sondern verursacht auch hohe volkwirtschaftliche Kosten. Die MCPD ist Teil des Luftreinhaltepaketes der EU, und die heute hier zur Beratung anstehende Verordnung ist ein Baustein der Bundesregierung dafür, die Luftqualität in Deutschland zu verbessern. Mit dem jetzigen Entwurf berücksichtigen wir einerseits die wirtschaftlichen Belange, andererseits aber auch die im Bundes-Immissionsschutzgesetz geforderten Grundsätze zur Vorsorge gegen und zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen. Dies wägen wir gleichwertig ab. Bis Ende März 2019 ist unter Beteiligung der Öffentlichkeit ein nationales Luftreinhalteprogramm zu erstellen. Dies muss Maßnahmen enthalten, die zum Erreichen der Minderungsverpflichtungen voraussichtlich notwendig sind. Es geht um die 43. Bundes-Immissionsschutzverordnung. Das Programm ist mindestens alle vier Jahre zu aktualisieren. Klar ist aber auch: Alle Sektoren müssen ihren Beitrag zur Verringerung der Emissionen leisten. Es geht um die Gesundheit der Menschen, und es geht um unsere Umwelt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und schenke Ihnen 1 Minute und 41 Sekunden. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Marc Bernhard für die AfD-Fraktion. ({0})

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Sie freuen sich alle schon. – Das Ziel der hier zugrundeliegenden EU-Richtlinie ist eigentlich, einheitliche Emissionsgrenzwerte und gleiche Wettbewerbsbedingungen in ganz Europa zu schaffen. Und was macht das Umweltministerium daraus? Wieder einen nationalen Alleingang! ({0}) Gleiche Wettbewerbsbedingungen? Nicht für Deutschland! Die Bundesregierung ist offensichtlich der Auffassung: Den Deutschen geht es zu gut; ({1}) da kann man ruhig ein paar Wettbewerbsnachteile mehr draufpacken. ({2}) So werden aus einem 0,25‑Gramm-Stickstoffdioxidgrenzwert in der EU-Richtlinie mal geschwind 0,1 Gramm für Deutschland – völlig egal, ob es notwendig ist oder nicht. ({3}) In der Begründung wird zwar ausführlich erläutert, was uns das alles mindestens kosten soll, aber was es bringt, mag man uns nicht sagen. Die Regierung weiß nicht, wie viel diese Emissionen überhaupt zur Gesamtsituation in Deutschland beitragen; sie weiß ganz offensichtlich nicht mal, was es bringt, die europäischen Grenzwerte noch mal zu verschärfen. ({4}) Die Regierung weiß also eigentlich gar nichts und belastet trotz dieses Nichtwissens wieder einmal die Menschen in unserem Land. ({5}) Durch Ihre neue Verordnung werden gerade kleine und mittelständische Unternehmen besonders belastet, also diejenigen, die über 80 Prozent der Auszubildenden beschäftigen und über 60 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze schaffen. Und nun beziehen Sie sogar noch Notstromaggregate ein! Ist das Ihr Ernst? Sie wollen tatsächlich für Notstromaggregate, die nur für den Notfall vorgehalten werden, Luftreinhalteanforderungen festlegen? Selbst der grüne Umweltminister von Baden-Württemberg rechnet damit, dass ab 2019 in Deutschland wegen der Energiewende öfter mal das Licht ausgehen wird. ({6}) Und sollten Sie dann das Pech haben, gerade auf einem Operationstisch zu liegen, wird es Ihnen sicherlich völlig egal sein, ({7}) wie viel Stickoxid das Notstromaggregat erzeugt, das Sie gerade am Leben erhält. ({8}) Wie Sie sehen, geht es hier um Leben und Tod, und deshalb müssen Notstromaggregate auch aus der Verordnung herausgenommen werden; denn es darf nicht sein, dass Sie auf der einen Seite durch Ihre vermurkste Energiewende Blackouts verursachen und auf der anderen Seite ausgerechnet die Menschen bestrafen, die genau dagegen Vorsorge treffen. Diese Menschen müssen unterstützt und dürfen nicht bestraft werden. ({9}) Deshalb lehnt die AfD-Fraktion diese Verordnung ab. Herzlichen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Karsten Möring für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bernhard, hören Sie mal genau zu, falls Sie nicht schon zu müde sind, um noch was aufzunehmen. ({0}) – Nein, ich rede deswegen langsam, damit ich die neun Minuten auch substanziell füllen kann, ({1}) die Sie mir mit Ihrem Wunsch, drei Minuten zu reden, verschafft haben. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Richtlinie über mittelgroße Feuerungsanlagen ist Bestandteil des Maßnahmenpakets für saubere Luft der EU. – Wenn ich Ihnen etwas zum Lernen vortragen möchte, dann werde ich kein Feuerwerk abbrennen; denn es soll Sie ja nicht ablenken vom genauen Zuhören. ({3}) – Da können Sie mal sehen, für was Sie glauben, dass ich Sie halte: für einen Schornstein. ({4}) Donnerwetter! Aber kommen wir mal zum Ernst zurück, auch wenn es spät ist oder früh – je nach der Betrachtungsweise. Wir reden über das Maßnahmenpaket für saubere Luft der EU, das für Deutschland nationale Emissionsgrenzwerte für Luftschadstoffe wie beispielsweise Schwefeldioxid, Stickoxide und Gesamtstaub vorsieht. Gelten sollen diese Grenzwerte nach dieser Verordnung ab 2025 respektive ab 2030. Sie dienen dazu, die Mitgliedstaaten bei der Erreichung verbindlicher Minderungsziele über die Reduktion nationaler Emissionen bestimmter Luftschadstoffe, wie sie in der NEC-Richtlinie festgelegt sind, zu unterstützen. Die Anforderungen dieser Verordnung sollen zur Angleichung an die Struktur des europäischen Rechts in einer eigenständigen Verordnung umgesetzt werden, wie wir das von europäischen Richtlinien so kennen. Der vorliegende Verordnungsentwurf regelt genehmigungsbedürftige Anlagen im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Das wird gleich noch eine Rolle spielen, meine Herren von der AfD. Es geht um Anlagen mit einer Feuerungswärmeleistung von weniger als 50 Megawatt und mehr als 1 Megawatt, die mittelgroßen eben. Geregelt werden auch einige bisher nicht genehmigungsbedürftige Feuerungsanlagen. Zur Wahrung bestehender Umweltstandards übernimmt der Verordnungsentwurf Regelungen aus der deutschen TA Luft, und zwar aus der aus dem Jahre 2002. Das bedeutet: Die Grenzwerte, die in dieser TA Luft von 2002 festgelegt worden sind, gelten nach deutschem Immissionsschutzrecht auch dann, wenn sie strenger sind, als die EU-Richtlinie das vorsieht. Denn wir haben ja, schon bevor es diese Regelung auf EU-Ebene gab, in Deutschland solche Grenzwerte festgelegt. Das war vor über anderthalb Jahrzehnten. Es werden auch verfahrenstechnische Vorgaben gemacht. Die Regelungen zu Großfeuerungsanlagen in der 13. BImSchV müssen demnächst noch mal überarbeitet werden. Also: Wir konkretisieren die Werte nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz und nach der EU-Richtlinie. Sie haben jetzt moniert, dass wir in diesem Verordnungsentwurf bei den europäischen Grenzwerten in mehreren Fällen Festlegungen über eine Eins-zu-eins-Umsetzung hinaus treffen. Einen Punkt habe ich schon genannt: Die TA Luft von 2002, auf die wir zurückgreifen, gilt nach wie vor. Ein Prinzip in unserem Immissionsschutzrecht besagt, dass wir eine Verschlechterung einmal erreichter Werte nicht zulassen. Wir haben diesen Zustand schon seit anderthalb Jahrzehnten, und es ist bisher nicht erkennbar gewesen, dass diese Regelungen zu einem Wettbewerbsnachteil für die deutsche Industrie – weder für die kleinen und mittleren noch für die großen Unternehmen – geführt haben. Es gibt einen weiteren Punkt, der dafür spricht, bei diesen Werten durchaus über eine Eins-zu-eins-Umsetzung hinauszugehen: Wir müssen aufgrund der NEC-Richtlinie Grenzwerte bei einer ganzen Reihe von Schadstoffen erreichen. Dazu müssen wir Maßnahmen ergreifen, über die wir aber selber entscheiden können. Deswegen definieren wir in einigen Bereichen Grenzwerte, von denen wir annehmen, dass wir sie brauchen, um die Werte der NEC-Richtlinie zu erreichen. Da geht es um die Luftreinhaltung, und das setzen wir um. ({5}) Ein weiteres Prinzip unseres Immissionsschutzrechtes besagt: Anwendung des Stands der Technik. Die EU-Richtlinie selbst verlangt diese Anwendung des Stands der Technik nicht; vielmehr wird das später im Rahmen einer Novellierung, in einem eigenen Akt, geregelt, nämlich bei der Entwicklung der sogenannten BVT-Merkblätter. Wir wissen aber, dass es in einer Reihe von Nachbarländern – in Holland, in der Schweiz, in Österreich – Umsetzungen nach dem Stand der Technik gibt, was wir übernehmen wollen. Wenn wir uns nämlich am Stand der Technik orientieren, heißt das nichts anderes, als dass wir die Ziele, die wir technisch erreichen können und die auch – das füge ich mal hinzu – bezahlbar sind – zu den Kosten komme ich gleich noch –, tatsächlich auch anstreben. Damit die Belastungen nicht unnötig groß werden, haben wir in diesem Verordnungsentwurf lange Übergangsfristen – längere, als wir normalerweise in solchen Regelungen finden – vorgesehen. Sie können nämlich bis zu zehn Jahre dauern, und dies gibt den Unternehmen Investitionssicherheit und einen Planungszeitraum, bei dem sie wissen, bis wann sie das umsetzen müssen. Wir sprechen also von nicht unerheblichen Belastungen, aber es gibt hierbei auch einen erheblichen Entlastungsfaktor. Neben den Investitionskosten, die nötig sind, und den laufenden Kosten, die ebenfalls nötig sind, ergeben sich durch die Anwendung dieser Technik auch eine ganze Reihe von Einsparungen, sodass die Belastung per Saldo durchaus tragbar ist. ({6}) Es gilt ein Prinzip, das in allen Umweltschutz- und Klimaschutzmaßnahmen Anwendung findet: Wenn wir saubere Luft haben wollen, wenn wir bessere gesundheitliche Vorsorge für die Menschen in Deutschland treffen wollen, dann müssen wir dafür Geld aufwenden. Ich sage nur: Die Luftreinhaltung, die wir anstreben und die wir mit der Verordnung verbessern, und der Gesundheitsschutz, den wir auf diese Weise erreichen, sind das Geld, das wir dafür ausgeben, allemal wert. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Judith Skudelny das Wort. ({0})

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Fantastisch; 00.26 Uhr: Meine Damen und Herren, wir treffen uns hier zur Geisterstunde, um über das europäische Maßnahmenpaket für saubere Luft zu debattieren. ({0}) Bislang wurden in manchen Teilen nur Grenzwerte auf nationaler Ebene festgesetzt. Dass wir in Europa jetzt auch für diese Anlagen flächendeckend Grenzwerte für Luftschadstoffe festlegen, ist gut. Es ist gut für die Menschen in Europa, und es ist gut, einheitliche Standards für die Industrie zu schaffen. Faire und einheitliche Umweltstandards bedeuten nämlich auch faire und gleiche Rahmenbedingungen für die Industrie in Deutschland, und wenn wir das mit dem Luftschutz verbinden können, ist das eine Maßnahme, die grundsätzlich zu unterstützen ist. ({1}) Die Verordnung basiert auf der sogenannten MCP-Richtlinie. In dieser Richtlinie werden zunächst einmal der Rahmen und Mindeststandards festgelegt. Es ist aber jetzt schon absehbar, dass im Rahmen des ­Sevilla-Verfahrens neue Grenzwerte festgelegt werden und dass sich unsere Industrie an diese neuen Grenzwerte irgendwann auch wird anpassen müssen. Unser Kritikpunkt an der Verordnung betrifft den Sachverhalt, dass wir in vorauseilendem Gehorsam in manchen Bereichen jetzt schon strengere Standards festlegen, die über das, was die EU im Moment verordnet, und über das, was wir aktuell haben, hinausgehen. ({2}) Das wiederum verfehlt ein Stück weit das Ziel der einheitlichen Umweltstandards. Begründet wird das damit, dass unsere Unternehmen Investitionssicherheit bekommen. Da das Verfahren auf europäischer Ebene aber transparent ist, braucht die Politik den Unternehmen nicht zu sagen, wie sie Investitionssicherheit bekommen können, sondern das können die schon ganz gut selber herausfinden. Wir müssen transparente Verfahren haben; dann kann sich die Industrie auch unseren Standards – auch den Luftschutzstandards – anpassen. ({3}) Die Verordnung geht aber auch in anderen Bereichen über die Eins-zu-eins-Umsetzung, wie sie ja eigentlich im Koalitionsvertrag vereinbart ist, hinaus: Sie sieht kürzere Umsetzungsfristen vor, und sie enthält unbestimmte Definitionen, die dazu führen, dass manche Anlagen da mit hineingenommen werden, die da vielleicht nicht unbedingt hineingehören. Die Anwendung des Standes der Technik – was zusätzlich kommt – kann darüber hinaus im Zweifelsfall zu Doppelstrukturen führen, nämlich dadurch, dass wir auf europäischer Ebene über die Sevilla-Verfahren einen Stand der Technik und national einen parallelen Stand der Technik festlegen. Das sind Abweichungen, die wir in dieser Form nicht unterstützen wollen. ({4}) Wir sind aber trotzdem eine konstruktive Opposition, und es gibt ja auch gute Bereiche in der Verordnung. Einer der positiven Bereiche ist, dass wir verschiedene Verordnungen zusammenführen und mit der 44. BImSchV eine Verordnung für alle großen, mittleren und kleineren Feuerungsanlagen machen. Das ist eine Vereinfachung im Verfahren, und das ist durchaus begrüßenswert. ({5}) Allerdings haben wir die Befürchtung, dass die negativen Seiten die positiven Aspekte ein Stück weit überschatten. In der Gesamtschau: Positiv ist das Ziel, die Luft in Europa – nicht nur in Deutschland – einheitlich zu verbessern, positiv ist das Ziel, einheitliche Standards und damit bessere, faire Wettbewerbschancen für alle in Europa zu schaffen, und positiv ist auch die Zusammenfassung in einem Regelwerk. Es gibt jedoch zwei große und einen kleinen Fehler in der Umsetzung, Maßnahmen, die wir mangelhaft finden. In der Gesamtschau können wir den vorgelegten Gesetzentwurf trotz der positiven Eigenschaften leider doch nicht befürworten. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Dass ich es nach dem bremserischen Wirken der Bundesregierung bei der Luftreinhaltung in Brüssel bei Pkws noch erlebe, dass sie für die Luftreinhaltung strengere Grenzwerte anwendet, ist eine Überraschung. Das ist ein guter Schritt für die Gesundheit von Asthmatikern und Menschen mit Lungenkrankheiten. ({0}) Gesundheitsschutz ist wichtig. Deswegen sind die neuen Grenzwerte für kleine und mittlere Heizungsanlagen, die Strom produzieren, für Holz- und Pelletheizungen und für Biogasanlagen durchaus wichtig. Für die Energiewende brauchen wir diese Anlagen. Aber diese Anlagen müssen so gestaltet sein, dass zwischen dem Schutz der Natur und der Gesundheit bei gleichzeitiger Erhaltung unseres Lebensstandards und unserer ökonomischen Basis sowie des Klimaschutzes sorgfältig abgewogen wird. ({1}) Natürlich ist es schade, dass die Koalition in Bezug auf strengere Quecksilbergrenzwerte der Mut verließ. Aber auch das ist nicht überraschend; denn damit würde man die Kohleanlagen treffen, und das ist nicht in Ihrem Interesse. Aber Sie können das heilen. Stimmen Sie mit uns und den Grünen für den Kohleausstieg. ({2}) Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, damit Sie eine Schadstoffbewertung der Abluft Ihrer neuen Heizanlage durchführen können, müssen Sie sehr viele Vorgaben berücksichtigen: zu Messverfahren, zu Messwerten, zu Dokumentationspflichten und zu Grenzwerten. Bei der Dokumentation müssen Sie mindestens vier Verordnungen und Gesetze beherrschen. Sie können es ja mal im Selbstversuch machen, oder auch lieber nicht. Sie brauchen für die Recherche sehr viel Zeit, und ob der Grenzwert, den Sie für Ihre Anlage ermitteln, dann korrekt ist, ist nicht sichergestellt. Das ganze System ist trotz der jetzigen Vereinfachung immer noch so komplex und unübersichtlich, dass Unsicherheit sowohl bei Anlagenbauern und bei Handwerkern als auch bei Genehmigungsbehörden nicht auszuschließen ist. Die Fehler, die dann passieren, landen wahrscheinlich vor Gericht. Liebe Koalition, Sie haben doch nicht wirklich ein Interesse daran, diese Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Anwälte fortzuführen. ({3}) Deswegen fordert Die Linke ein Regelwerk, das übersichtlich und gut nachvollziehbar ist. ({4}) An die FDP gerichtet: Ich habe gehört, dass Sie eigentlich für Bürokratieabbau sind. Aber dass Sie jetzt die Bundesregierung auffordern, zusätzliche Novellierungen vorzubereiten, weil sie schon bekannte Änderungen, die kommen werden, nicht berücksichtigt, ist für mich nicht nachvollziehbar. ({5}) Im August besuchte ich das Technische Hilfswerk in Thüringen, und, ja, wir haben bei Notstromaggregaten ein Problem. Ein Notstromaggregat war trotz Funktionsfähigkeit nicht zum Einsatz freigegeben, weil das Messprotokoll zu alt war. Aber man hätte das Gesetz genauer lesen sollen. Es geht nicht darum, dass das Notstromaggregat die Grenzwerte einhalten muss. Das ist explizit ausgeschlossen – das ist auch richtig –, und es muss nicht mit Katalysatoren gegen Stickoxide oder mit Feinstaubfiltern nachgerüstet werden. Aber in der Vorschrift, die die Messregeln festlegt, ist es nicht vom Messverfahren ausgeschlossen. Im Klartext: Man muss messen. Aber welche Messwerte dabei herauskommen, ist egal. Hauptsache, man hat ein Protokoll für die Akten, dann kann man das Gerät wieder einsetzen. Diese Regelung sollten wir abschaffen. Wenn Sie beim Quecksilber auf strengere Grenzwerte gehen oder den Kohleausstieg vorantreiben, –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Lenkert.

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– wenn Sie für mehr Übersichtlichkeit bei den Vorschriften sorgen und die Regelung zum Notstromaggregat einer Verbesserung zuführen, dann können wir beim nächsten Mal Ihren Änderungen zustimmen. So werden wir uns enthalten. ({0}) Ich wünsche Ihnen allen einen guten Heimweg, eine warme Wohnung und auch, dass die Wohnung ohne zu viele schädliche Gase geheizt wird, damit Sie morgen nicht mit Raucherhusten aufwachen. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Dr. Bettina Hoffmann das Wort. ({0})

Dr. Bettina Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nur strenge Grenzwerte und wirksame Reduktionsziele für Luftschadstoffe gewährleisten ein hohes Schutzniveau für Umwelt und Gesundheit. Hätten wir das nicht schon längst angegangen, würde es bei uns ganz anders aussehen. Der Verordnungsentwurf der Bundesregierung wird aber hier nicht allen Punkten gerecht. In Deutschland werden noch immer EU-Emissionsgrenzwerte großflächig überschritten. Um ein hohes Schutzniveau für Umwelt und Gesundheit zu schaffen, sind deshalb strengere Anforderungen an Anlagen zwingend notwendig, und zwar auch jetzt. Diese Verordnung bleibt an einigen Stellen sogar hinter den technischen Möglichkeiten zurück. Es gibt keine Innovationsanreize, um veraltete Anlagen, die zum Teil seit den 1960er-Jahren laufen, auf den neuesten Stand der Technik zu bringen. Der notwendige Austausch von Anlagen wird weiter verschleppt. Dabei wäre eine Nachrüstung der meisten Anlagen heute technisch problemlos möglich und kostenmäßig abgedeckt. Vorsorgender Umwelt- und Gesundheitsschutz geht anders, nachhaltige Wirtschaftspolitik im Übrigen auch. ({0}) Statt bei der Technik von vorgestern stehen zu bleiben, sollte die Verordnung ambitionierte Anforderungen setzen, die wenigstens dem Stand der Technik entsprechen. Um ein hohes emissionsbegrenzendes Anforderungsniveau für neue und bestehende Anlagen zu schaffen, muss der Verordnungsentwurf dringend nachgebessert werden. Wir haben hierzu im Umweltausschuss konkrete Vorschläge gemacht, und zwar vier an der Zahl. Diese vier Punkte möchte ich gerne nennen. Erstens. Es ist nicht akzeptabel, dass für Erdgasfeuerung bis 2031 NO x -Grenzwerte gelten sollen, die unter die Anforderungen der TA Luft zurückfallen. Erst ab 2031 sollen dann wieder die Grenzwerte der TA Luft gelten. Das konterkariert sämtliche Bemühungen, die NO x -Werte bei anderen Anlagen zu senken. Zweitens. Der vorgeschlagene Grenzwert für Quecksilberemissionen von 0,05 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft entspricht – das klang schon an – der TA Luft. Er ist aber vollkommen ambitionslos. Schon jetzt kann dieser Grenzwert von allen Anlagen ohne große Anstrengung eingehalten werden. Angesichts der Gefährlichkeit von Quecksilber, das wir überall in der Umwelt finden, sollten die Emissionen aus Feuerungsanlagen auf ein technisch unvermeidbares Maß gesenkt werden. Dazu ist ein Grenzwert von 0,01 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft erforderlich. Drittens. Die vorgesehenen Übergangsfristen sind zum Teil deutlich zu lang. Teilweise gibt es unbefristete Regelungen für Altanlagen – wie kann denn so etwas heute sein? –, und das beim frischgekürten Innovationsweltmeister Deutschland. Viertens. Es ist vollkommen unverständlich, warum für die emissionsärmeren Magergasmotoren NO x -Sensoren zur Überwachung vorgeschrieben sind, für Zündstrahlmotoren allerdings nicht. Diese emittieren in der Regel doppelt so viel NO x und erfordern deswegen eine viel strengere Überwachung. Alle diese Punkte standen im Übrigen im ursprünglichen Referentenentwurf aus dem Umweltministerium. Es ist mehr als traurig, dass sich das Umweltministerium bei einem solch wichtigen Schutz von Umwelt und Gesundheit am Kabinettstisch offensichtlich nicht durchsetzen kann. ({1}) Ich komme zum Schluss. ({2}) Ich finde es gut, dass ich heute in dieser Debatte das letzte Wort habe. Vielen Dank. Gute Nacht! ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung zur Einführung der Verordnung über mittelgroße Feuerungs-, Gasturbinen- und Verbrennungsmotoranlagen sowie zur Änderung der Verordnung über kleine und mittlere Feuerungsanlagen. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5107, der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 19/4080 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der AfD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.