Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/12/2018

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir leben ohne Zweifel in Zeiten rasanten Wandels: technologischen Wandels, demografischen Wandels. Auch die Welt verändert sich und dreht sich für viele Menschen immer schneller. Die Frage, die uns hier im Deutschen Bundestag beschäftigen muss, ist: Wie halten wir in Zeiten beschleunigter Veränderungen eigentlich unsere Gesellschaft zusammen? Eine wesentliche Voraussetzung – eine wesentliche Voraussetzung – ist, dass sich die Menschen auf den Sozialstaat verlassen können. Dazu gehört, dass wir ein Kernversprechen unseres Sozialstaates verlässlich erneuern, nämlich dass man nach einem Leben voller Arbeit eine auskömmliche, eine ordentliche Absicherung im Alter hat. ({0}) Diese Bundesregierung ist angetreten, dieses Kernversprechen für die nächsten Jahrzehnte zu erneuern. Mit dem heute vorgelegten Rentenpakt gehen wir einen großen und wichtigen ersten Schritt. Dieser Rentenpakt bedeutet Sicherheit für alle Generationen – für Großeltern, für Eltern und für Enkel –: für die Älteren durch das garantierte Rentenniveau von mindestens 48 Prozent, erst einmal bis 2025 – davon, meine Damen und Herren, profitieren in Deutschland 20 Millionen Rentnerinnen und Rentner –, damit die Löhne und auch die Renten im Einklang steigen können; für die Jüngeren durch stabile Beiträge. Wir werden die Beitragsstabilität in diesem Land sichern. Die Beiträge werden bis 2025 nicht über 20 Prozent steigen, und das in einer älter werdenden Gesellschaft. Es sind diese beiden doppelten Sicherungslinien, die mithelfen, dass wir im Gegensatz zu anderen politischen Kräften in Deutschland eben nicht die Generationen beim Thema Rente gegeneinander ausspielen; das ist mir sehr wichtig. ({1}) Zu dem Rentenpakt für Deutschland gehört neben diesen beiden Sicherungslinien auch, dass wir Kindererziehungszeiten stärker anrechnen, Stichwort „Mütterrente“. Meine Damen und Herren, ich bin ein bisschen stolz und dankbar, dass wir es in der Koalition gemeinsam hinbekommen haben, bei der Mütterrente dafür zu sorgen, dass alle – vor allen Dingen Mütter, aber auch Väter –, die vor 1992 Kinder zur Welt gebracht und Kinder erzogen haben, davon profitieren können. Davon profitieren 10 Millionen Elternteile in Deutschland, die Kinder erzogen haben. Auch das ist kein Rentengeschenk, meine Damen und Herren. Das ist eine Anerkennung von Kindererziehungsleistung und ein Stück mehr Gerechtigkeit. ({2}) Wenn wir uns das ansehen, stellen wir fest: Wir haben noch eine große Aufgabe zu schultern – weil in den nächsten Jahren die Lebensarbeitszeit ja durchaus ausgeweitet wird –, nämlich dafür zu sorgen, dass es eine anständige und solidarische Absicherung auch für Menschen gibt, die im Beruf einfach nicht mehr können. Wer aus gesundheitlichen Gründen früher aus dem Erwerbsleben ausscheidet, braucht den Schutz unserer Solidargemeinschaft. Deshalb ist es sozialpolitisch geboten und richtig, dass wir die Erwerbsminderungsrenten – zugegebenermaßen: für zukünftige Fälle; aber auch für die ist es wichtig – durch die Veränderung der Zurechnungszeiten verbessern. Davon profitieren immerhin 170 000 Menschen in Deutschland. Das ist für mich eine Frage des Anstands und der Fairness. Bei aller Diskussion über Lebensarbeitszeit: Wir müssen Menschen absichern, die beruflich nicht mehr können, weil sie nicht gesund sind, weil sie krank sind, und deshalb ist die Verbesserung der Erwerbsminderungsrente sozialpolitisch ein wichtiger Schritt. ({3}) Das vierte Element dieses Rentenpakts für Deutschland ist, dafür zu sorgen, dass wir Geringverdiener in Deutschland entlasten. Es wird ja dieser Tage viel über Steuerentlastungen diskutiert. Die Wahrheit ist aber auch, dass Geringverdiener in Deutschland, Menschen mit niedrigem Einkommen nicht so sehr von der Senkung von Lohn- und Einkommensteuer oder von der Senkung des Soli profitieren können, weil sie in der Regel kaum oder gar keinen Soli und keine Einkommensteuer zahlen. Deshalb sorgen wir mit diesem Rentenpakt durch eine Entlastung von Sozialversicherungsbeiträgen dafür, dass Geringverdiener mehr Geld in der Tasche haben, und zwar ohne den Schutz der Sozialversicherung zu verschlechtern. Es bleibt auch in diesem Bereich bei guten Rentenanwartschaften. Ich will das in einen Zusammenhang bringen. Ich habe vorhin gesagt, dass der Rentenpakt für Deutschland ein wichtiger Schritt ist, um dieses Kernversprechen des Sozialstaats zu erneuern. Die Bundesregierung hat sich vorgenommen, dass wir im nächsten Jahr weitere Schritte gehen. Dazu gehört die Einführung der Grundrente für diejenigen, die ihr Lebtag gearbeitet haben, aber durch niedrige Löhne keine höheren Anwartschaften haben als die Grundsicherung. Diese Menschen wollen wir besserstellen als die, die nicht gearbeitet haben. Wir werden auch die Selbstständigen in das System und den Schutz der Alterssicherung einbeziehen. Der dritte Schritt wird Anfang 2020 zu leisten sein: Dann wird die Rentenkommission Vorschläge machen, wie wir langfristig, auch über 2025 hinaus, das System der Alterssicherung auf stabile Füße stellen. Mein Ziel ist es, dass wir in dieser Koalition diese drei Schritte auch in dieser Legislaturperiode umsetzen, um langfristig dafür zu sorgen, dass sich die Menschen auf das System verlassen können. ({4}) Aber, meine Damen und Herren, wir reden vor dem Hintergrund einer veränderten demografischen Situation über die Alterssicherung. Ab 2025 wird die Generation der sogenannten Babyboomer, also die Jahrgänge der in den späten 50er- und frühen 60er-Jahren Geborenen – eine große Altersgruppe –, in Rente gehen. Wenn wir in den nächsten 20 Jahren, zwischen 2025 und 2040, die Alterssicherung auf stabile Füße stellen wollen, dann sind die Veränderungen im System der Rente und der Alterssicherung das eine, das Richtige und Notwendige. Aber das andere ist das, was wir am Arbeitsmarkt zustande bringen: Wir müssen durch eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, durch mehr Anstrengung bei Ausbildung und Qualifizierung, auch durch Fachkräfteeinwanderung und dadurch, dass Menschen arbeiten können, dafür sorgen, dass wir tatsächlich genug Leute haben, die einzahlen, um das System auf stabile Füße zu stellen. Die Veränderungen am Arbeitsmarkt und die Veränderungen in der Alterssicherung sind kommunizierende Röhren. Sie werden mich fragen – das wird hier in der Debatte eine Rolle spielen –: Kann sich Deutschland das leisten? Ich drehe das mal um, meine sehr geehrten Damen und Herren: Es wird ein Kraftakt – ohne Zweifel. Aber ich finde, in Zeiten rasanter Veränderungen ist es richtig, dass wir Menschen Sicherheit und Orientierung geben und dafür sorgen, dass man sich nach einem Leben voller Arbeit auf die Altersvorsorge verlassen kann. Das ist ein wichtiger Beitrag zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft. All das Gerede vom Zusammenhalt ist nichts wert, wenn man nicht dafür sorgt, dass der Sozialstaat verlässlich ist, und deshalb sorgen wir mit diesem Rentenpakt für einen ersten wesentlichen Schritt. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Abgeordnete Ulrike Schielke-Ziesing, AfD. ({0})

Ulrike Schielke-Ziesing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004873, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Bürger! Uns liegt nun ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Leistungsverbesserung und Stabilisierung in der gesetzlichen Rentenversicherung vor. Sehr schönes Wording, macht die Sache aber auch nicht besser; denn von einer Leistungsverbesserung, geschweige denn von einer Stabilisierung, kann keine Rede sein. ({0}) Herr Minister Heil, Sie belasten die heutigen Beitragszahler, indem der Beitragssatz nicht so gesenkt wird wie eigentlich gesetzlich vorgesehen, und den Rentenbeziehern werden ständig Verbesserungen versprochen, die jedoch auch zum größten Teil durch die Rentenkasse selbst finanziert werden müssen. ({1}) Dies geht folglich zulasten aller Rentenbezieher, die auf die gesetzliche Rentenversicherung angewiesen sind, und zulasten der Beitragszahler, die hoffen, irgendwann noch eine auskömmliche Rente zu erhalten. Sie haben sich auch vorgenommen, die gesetzliche Rentenversicherung zu stabilisieren. In welchem Zeithorizont denken Sie da? Bis zur nächsten Wahl? Anders kann ich mir Ihren Gesetzentwurf nicht erklären. ({2}) Die Rentenkommission, hauptsächlich bestehend aus SPD und CDU, soll im März 2020 einen Bericht vorlegen. Bis dahin ist diese Legislaturperiode fast verstrichen, und mit den Ergebnissen der Rentenkommission muss sich die neue Regierung befassen. Herr Heil, Sie führen mit Ihrem Rentenpaket Maßnahmen ein, deren Folgen Ihr Nachfolger ausbaden muss. ({3}) In Ihrem Gesetzentwurf schreiben Sie – Zitat –: Soweit für die Einhaltung der Haltelinie beim Beitragssatz zusätzliche Mittel notwendig werden, werden diese aus dem Bundeshaushalt geleistet. Ich weiß nicht, ob es bei meinen letzten Reden nicht so deutlich wurde; ich wiederhole meine Forderung bei diesem Thema jedoch sehr gerne, weil es eine zentrale Fehlentwicklung in der gesetzlichen Rentenversicherung ist: Die gesetzliche Rentenversicherung wird schon seit Jahren mit versicherungsfremden Leistungen belastet. Das sind Leistungen, die eigentlich aus Steuern finanziert werden müssen. Alle neu von Ihnen geplanten Leistungen sind versicherungsfremd: die Erhöhung bei der Mütterrente, die Entlastung der Geringverdiener, die Erhöhung der Anrechnungszeiten bei der Erwerbsminderungsrente. Hier wurden keine Anwartschaften in Form von Beiträgen erworben. Aus diesem Grunde sind diese Leistungen auch aus Steuermitteln zu bezahlen. ({4}) Allein diese drei von Ihnen neu geplanten Vorhaben kosten die Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung im Jahr 2019  4,1 Milliarden Euro. ({5}) Ihre Strategie ist Abwarten, bis die gesetzliche Rentenversicherung Ihnen signalisiert, dass sie Bundesmittel benötigt, um ihre Pflichten erfüllen zu können. Nur: Das ist der falsche Weg, den Sie, Herr Minister Heil, da beschreiten. Die gesetzliche Rentenversicherung mag noch gute Beitragseinnahmen haben und kann Ihre Wahlgeschenke noch finanzieren – nur, zu welchem Preis? Bei dieser Rechnung benötigen wir auch keine höheren mathematischen Kenntnisse, das ist wirklich recht einfach: Wenn versicherungsfremde Leistungen durch die gesetzliche Rentenversicherung getragen werden müssen, dann wird die Summe, die an die Rentenempfänger ausgeschüttet wird, logischerweise kleiner. Die heutigen Rentner sind es, die Ihre Wahlkampfgeschenke mit einer geringeren Rente finanzieren müssen. An dieser Stelle hätte ich mir eine Zusammenstellung der versicherungsfremden Leistungen gewünscht – das ist leider nicht erfolgt –, dann wäre Ihnen sehr schnell klar geworden, wie lächerlich Ihre Jahreszahlung von 500 Millionen Euro eigentlich ist. Als ein kleines Gegenbeispiel: Die jährliche Erleichterung, die den Rentenbeitragszahlern aufgrund Ihrer doppelten Haltelinien verwehrt bleibt, beträgt rund 3,6 Milliarden Euro. Die Bundesregierung predigt ständig, die Bürger sollen doch bitte privat vorsorgen und sich nicht nur auf die gesetzliche Rentenversicherung verlassen. ({6}) Gleichzeitig erschweren Sie den Bürgern die private Vorsorge, wenn Sie Beitragssenkungen nicht so wie geplant durchführen. Mit Ausnahme des Jahres 2023 liegt der Beitragssatz bis 2025 laut geltendem Recht immer unter dem von Ihnen festgelegten Beitragssatz. ({7}) Irgendwie müssen die Wahlkampfgeschenke ja finanziert werden. ({8}) Verantwortungslos ist Ihr Handeln auch angesichts der Tatsache, dass die Beiträge in Zukunft noch steigen werden und das verfügbare Einkommen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten damit noch weiter sinken wird. Die Situation wird zusätzlich noch dadurch verschlimmert, dass parallel dazu natürlich auch ein Anstieg der Beitragslast für die Arbeitgeber einsetzen wird. Ihrer Milchmädchenrechnung nach erhöht sich jedoch das verfügbare Einkommen der Rentner im Gegenzug. Das ist löblich. Aber warum muss bei jeder Erhöhung, die die SPD einführt, die arbeitende Bevölkerung darunter leiden? Damit gefährden Sie die Arbeitsplätze von morgen und sägen an dem Ast, der die Rente sichert. ({9}) Von der Arbeiterpartei von damals ist entschieden nichts mehr übrig geblieben. ({10}) In Ihrem Gesetzentwurf sehen wir besonders die Entlastung von Geringverdienern kritisch. Geringverdiener sollen bei der Beitragszahlung fiktiv so gestellt werden, als hätten sie monatlich 1 300 Euro verdient. Da auch diese Maßnahme nicht durch den Haushalt des BMAS bezuschusst wird, bedeutet dies, dass alle gesetzlich Versicherten, die mehr als 1 300 Euro im Monat verdienen, diese Beiträge mitzutragen haben. ({11}) Daraus ergibt sich dann bei der Rentenberechnung, dass Versicherte, die beispielsweise 500 Euro im Monat verdient haben, denselben Rentenanspruch erwerben wie Versicherte, die in diesem Zeitraum 1 300 Euro verdient haben. ({12}) Hier wird das Prinzip der Beitragsäquivalenz komplett aufgegeben, also der Grundsatz der Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung. Es erfolgt eine sozialistische Umverteilung, die man keinem Versicherten mehr erklären kann. ({13}) Herr Heil, legen Sie ein zukunftsorientiertes Rentenkonzept vor, in dem Sie nicht die Beitragszahler gegen die Rentenbezieher ausspielen! ({14}) Rechnen Sie endlich die versicherungsfremden Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung heraus, und hören Sie auf, ständig neue hinzuzufügen! ({15}) Strukturieren Sie darauf aufbauend ein zukunftssicheres Rentenkonzept! Das, was wir heute diskutieren, ist nichts weiter als ein Lindern der Symptome und nicht die Bekämpfung der Ursachen. ({16}) Obergrenze beim Beitragssatz und ein konstantes Rentenniveau sind nicht unbedingt hilfreich, um die Folgen des demografischen Wandels abzumildern. Erweitern Sie die Bandbreite der Einzahler in die gesetzliche Rentenversicherung. Beispielsweise sollten Politiker keine Sonderstellung mehr einnehmen. Es ist nicht vermittelbar, dass wir Politiker innerhalb kurzer Zeit so viele Rentenanwartschaften erwerben, wie ein Durchschnittsverdiener in seinem Leben niemals schaffen wird. Das ist kein haltbarer Zustand. ({17}) Mit dem von uns eingereichten Antrag zur Anrechnungsfreistellung der Mütterrente bei der Grundsicherung im Alter wollen wir Rentnerinnen entlasten, die zwar durch den halben Entgeltpunkt mehr für Kindererziehungszeiten eigentlich eine höhere Rente bekommen, die aber eine so niedrige Rente erhalten, dass sie Grundsicherung im Alter beantragen müssen. Diese Rentnerinnen werden nichts von der Erhöhung ihrer Rente haben, da diese vollständig auf die Grundsicherung im Alter angerechnet wird. Wir als AfD-Fraktion halten dies für ungerecht. ({18}) Es erscheint als ein Gebot der Fairness den Müttern gegenüber, keine volle Einkommensanrechnung bei der Mütterrente vorzunehmen. Durch eine angemessene Freistellung der Renten bei der Einkommensanrechnung wird die Altersarmut gezielt bekämpft. Mit einer Einkommensfreibetragslösung würde sich die Änderung bei der Mütterrente auch auf die armen Rentnerinnen auswirken. Wir fordern daher die Bundesregierung auf, möglichst zeitnah einen Gesetzentwurf zur Änderung des SGB XII vorzulegen, der eine angemessene Anrechnungsfreistellung für die Mütterrente vorsieht. Vielen Dank. ({19})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Peter Weiß, CDU/CSU. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der heutige Tag ist nicht nur ein Tag, an dem draußen die Sonne scheint, sondern ist auch ein guter Tag für die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland. Mit dem Rentenpakt der Großen Koalition machen wir vor allen Dingen eines: Wir stabilisieren zusätzlich die erste Säule der Altersvorsorge in Deutschland, die umlagefinanzierte Rente, für alle Rentnerinnen und Rentner, für alle Betragszahlerinnen und Beitragszahler. Das ist heute ein guter Tag für die Rente. ({0}) Für mich sind die beiden wichtigsten Punkte in diesem Rentenpakt: Erstens. Nachdem wir in der letzten Legislaturperiode bereits bei der Mütterrente für alle vor 1992 geborenen Kinder eine deutliche Verbesserung erreicht haben, setzen wir rentenrechtlich ein halbes Erziehungsjahr zusätzlich obendrauf. Ja, die Rentenversicherung ist eine umlagefinanzierte Versicherung, sie hängt davon ab, ob der Generationenzusammenhalt funktioniert. Deswegen ist für die Rente nicht nur wichtig, dass Beiträge bezahlt worden sind, sondern dass Männer und Frauen bereit waren, Kinder großzuziehen, ihnen eine gute Ausbildung zu geben. ({1}) Mit der Mütterrente erkennen wir gerade diese besondere Leistung an. Ich bin froh, dass von der zusätzlichen Erhöhung der Mütterrente 10 Millionen Rentnerinnen und Rentner in Deutschland unmittelbar profitieren werden. Das ist eine großartige Leistung, die wir heute hier ins Parlament einbringen. ({2}) Das Zweite ist: Jeder kann sich vorstellen, dass es Menschen gibt – jeder hat vielleicht davon betroffene Bekannte oder Familienangehörige –, die eben nicht bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze durcharbeiten können, sondern die durch einen Schicksalsschlag, Krankheit, Unfall, vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden mussten. Dann ist die sogenannte Erwerbsminderungsrente das einzige Einkommen, das man hat. Was wir heute vorlegen, ist eine neue Berechnungsmethode bei der Erwerbsminderungsrente, indem wir nämlich als Bezugspunkt das gesetzliche Renteneintrittsalter nehmen, was gegenüber allen früheren Berechnungsmethoden, die im Gesetz standen, eine deutliche und massive Verbesserung darstellt. Ich finde, ein Sozialstaat kann sich gerade dann „Sozialstaat“ nennen, wenn er denen, die sich nicht selber helfen können, die Hilfe angedeihen lässt, die notwendig ist, um ein Leben in Würde zu führen. Das machen wir heute mit der neuen Erwerbsminderungsrente. ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn man schon darüber diskutiert: „Was ist zielgerichtet, um Altersarmut zu bekämpfen oder zu vermeiden?“, dann ist die Antwort darauf eben nicht die Gießkanne, sondern die zielgerichtete Hilfe. Mit der Mütterrente helfen wir Frauen, die eine niedrige Rente haben. Mit der neuen Erwerbsminderungsrente verhindern wir, dass künftig eine immer größer werdende Zahl von Erwerbsminderungsrentnern in die Grundsicherung im Alter fällt; das ist die zweitgrößte Gruppe. Wenn wir es auch noch schaffen, in dieser Legislaturperiode eine verpflichtende Altersvorsorge gerade auch für die Solo-Selbstständigen, die vernünftig ist, einzuführen, dann werden wir dafür sorgen, dass wir in den drei wichtigsten Punkten, wo Altersarmut entstehen kann, handeln, und zwar zielgerichtet und nicht mit der Gießkanne. ({4}) Zu Recht stellt sich die Frage: Wie finanzieren wir das alles? In der Tat profitieren wir derzeit von einer außergewöhnlich guten Einnahmesituation in der Rentenversicherung. Der Rentenversicherungsbeitrag ist deswegen auf einem historischen Tief von 18,6 Prozent. Aber mit diesem Rentenpakt betreiben wir bereits Vorsorge für die Zukunft, indem wir ab dem Jahr 2022 den Bundeszuschuss an die Rentenversicherung mit zusätzlichen Milliarden erhöhen. Bereits in diesem Jahr liegt der Bundeszuschuss bei 94 Milliarden Euro, das ist der größte Einzelposten in unserem Bundeshaushalt. Die Bundesmittel für die Rentenversicherung werden in den kommenden Jahren auf deutlich über 100 Milliarden Euro ansteigen. Wir machen das bewusst, um das Rentenversicherungssystem insgesamt zu stabilisieren und um alle Einkunftsarten an der Finanzierung der gesetzlichen Rente zu beteiligen. Ich will aber dazu sagen: Selbstverständlich wird und muss die gesetzliche Rentenversicherung auch in Zukunft überwiegend beitragsfinanziert sein. Nur aus einer beitragsfinanzierten Rente ergibt sich der Rechtsanspruch, dass sie genauso geschützt ist wie privates Eigentum. ({5}) Aber gerade weil wir zusätzliche Bundesmittel in dieser Höhe zuschießen, stellt sich die Frage „Was ist eigentlich versicherungsfremd und was nicht?“ in Zukunft nicht mehr; denn das, was wir künftig mit Steuermitteln in der Rente finanzieren, ist weit mehr als das, was man als versicherungsfremd bezeichnen kann. Wir haben ein Rentensystem, das einen vernünftigen Mix aus Beiträgen und Steuern darstellt, das solide finanziert ist und damit zukunftssicher ist. Ich will noch hinzufügen: Mit dieser neuen Finanzarchitektur sorgen wir auch dafür, dass kleinkariertes Nachrechnen überflüssig wird. Im Übrigen stelle ich mir sowieso die Frage: Sind Erwerbsminderungsrenten versicherungsfremd? Nein, das ist ein Teil des Versicherungsversprechens der Rentenversicherung. ({6}) Auch wenn das manche anders sehen würden: Ist die Mütterrente versicherungsfremd? Nein, wir brauchen Kinder, damit auch in Zukunft Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer da sind, die Beiträge zur Rentenversicherung zahlen. Deswegen ist es richtig, den generativen Beitrag zu belohnen. ({7}) Kurzum, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Ich glaube, dass wir mit dem heutigen Rentenpakt einen wichtigen Schritt machen, die gesetzliche Rente zu stärken. Mit der Rentenkommission haben wir zusätzlich eine hochkarätige Expertenrunde einberufen, die für die mittel- und langfristige Entwicklung der Rente ein solides Programm vorlegen wird. Ich freue mich, dass wir für die jetzigen Rentnerinnen und Rentner, aber auch für die zukünftigen Rentnerinnen und Rentner mit guten Beratungsergebnissen der Rentenkommission für Klarheit sorgen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Johannes Vogel, FDP. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Arbeitsmarkt- und die Sozialpolitik dieser Koalition unter eine Überschrift stellen wollte, dann müsste man den Satz formulieren: ({0}) Sie denken zu wenig voraus. Sie denken zu wenig voraus bei einer der zentralen Herausforderungen unserer Zeit, nämlich bei der Veränderung der Arbeitswelt durch die Digitalisierung. Was für faszinierende Chancen für mehr Selbstbestimmung haben wir da! Was wäre das für eine Überschrift für eine Agenda 2030! Aber davon ist hier nichts zu erkennen. Bei dieser ersten Herausforderung tun Sie zu wenig. ({1}) Sie denken auch zu wenig voraus bei der zweiten Herausforderung, nämlich bei der Herausforderung durch den demografischen Wandel. Da tun Sie auch noch das Falsche. Ausdruck dessen ist das, was Sie uns heute im Deutschen Bundestag vorlegen. ({2}) Ausgerechnet in der Legislaturperiode, die das Jahrzehnt einleitet, in dem die geburtenstarken Jahrgänge anfangen, in Rente zu gehen, schaffen Sie ein Rentenpaket, das effektiv die Stabilisierungspolitik, die wir im überparteilichen Konsens in den 2000er-Jahren betrieben haben, rückabwickelt. Das ist unverantwortlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD. ({3}) Gerade in der Sozialpolitik müssen wir doch in Jahrzehnten denken und dürfen nicht in Legislaturperioden denken. Dieses Rentenpaket ist der Ausdruck dafür, dass Sie das Gegenteil tun. Ich will drei Beispiele nennen und erklären, warum das so ist. Erstens. Lieber Peter Weiß, ihr legt hier ein Rentenpaket vor, das gerade nicht zielgerichtet gegen Altersarmut hilft. 90 Prozent der Ausgaben dieses Rentenpakets bis 2025 gehen in Maßnahmen, die nicht zielgerichtet gegen Altersarmut helfen. Ihr gebt das Geld – wenn du nicht willst, dass wir sagen: „mit der Gießkanne“, dann sage ich es gerne treffender – mit dem Gartenschlauch aus. Das ist der falsche Weg. ({4}) Der zweite Punkt ist – das halte ich für fatal –, dass Sie die Rentenformal zulasten der Jüngeren manipulieren wollen. Hier muss man noch einmal erklären, was damals die SPD selber in die Rentenformel mit dem sogenannten Nachhaltigkeitsfaktor eingeführt hat. Dahinter steht der Gedanke, dass wir die Herausforderungen durch den demografischen Wandel fair auf alle Generationen verteilen wollen. Ausgerechnet diesen Faktor setzen Sie hier effektiv aus. Das ist für die Jüngeren nicht zu tragen. Deshalb ist es eine unverantwortliche Rentenpolitik. ({5}) – Nein, lieber Kollege Matthias Birkwald, Generationen gegeneinander ausspielen, das tut nicht derjenige, der auf Tatsachen hinweist, sondern das tut derjenige, der diese Tatsachen schafft. Das ist die Große Koalition. ({6}) Auf die Frage, wie das langfristig finanziert werden soll, bleiben Sie bis heute jede Antwort schuldig. Wenn Sie auf Ihre Rentenkommission verweisen – das haben Sie auch heute wieder getan –, die klären soll, wie das nach 2025 finanziert werden soll, dann verhält es sich damit so, als ob Sie sich in ein Restaurant setzten, teures Essen bestellten und sich beim Dessert überlegten, wie das Ganze bezahlt werden soll. Das ist aber nicht unser Anspruch an Politik. ({7}) Dann haben Sie über den Sommer hinweg bewiesen, dass Sie die Rentenkommission noch nicht einmal unabhängig arbeiten lassen wollen. Die SPD will die Gießkannenpolitik bereits über 2025 dauerhaft festschreiben. Die CSU will schon wieder neue versicherungsfremde Leistungen. Die CDU will mal wieder nichts, muss aber zusehen, wie ihr die Rentenpolitik entgleitet. ({8}) Das ist nicht der richtige Weg in der Sozialpolitik. ({9}) Die Kosten für das Ganze explodieren. ({10}) Reden wir mal konkret über die Zahlen! Eine dauerhafte Festschreibung der Manipulation der Rentenformel, die Sie hier vornehmen, kostet bis 2030  69 Milliarden Euro im Jahr. Das sagen nicht wir, sondern das sagt die Deutsche Rentenversicherung. ({11}) 2035 sind es schon 80 Milliarden Euro im Jahr. Das sagen nicht wir, sondern das sagt ein Mitglied Ihrer Rentenkommission. Wie sollen die Jüngeren das bezahlen? ({12}) Sollen die Beitragssätze explodieren, was gerade Geringverdiener überfordern würde? Setzen Sie auf wundersame Brotvermehrung im Steuertopf? Wollen Sie die Mehrwertsteuer um 6 Prozentpunkte erhöhen? Diese Fragen müssen Sie beantworten. Wir werden Sie so lange fragen, wie Sie uns die Antworten schuldig bleiben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition. ({13}) Trotz des Sommertheaters, bei dem man gesehen hat, dass das, was Sie vorhaben, gar nicht langfristig tragbar ist, haben wir leider kein Umdenken erlebt. Von der ersten Fassung des Referentenentwurfs bis zur Fassung des Gesetzentwurfs, den Sie heute in das Parlament einbringen, hat sich fast nichts verändert, bis auf eine Stelle; das finde ich bemerkenswert, weil das etwas über Ihr Denken aussagt. Sie mussten feststellen, dass aktuell, kurzfristig, durch die gute Lage auf dem Arbeitsmarkt das Geld in der Rentenkasse so üppig ist, dass trotz Ihrer neuen versicherungsfremden Leistungen, die Sie mit einem Griff in die Beitragskasse finanzieren wollen, die Situation entstehen könnte, dass im nächsten Jahr der Beitragssatz gesenkt werden muss. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen: ({14}) Sie sorgen dafür, dass der Beitragssatz durch Ihre Rentenpolitik heute schon höher ist, als er ohne Ihre Rentenpolitik wäre. Sie sorgen dafür, dass er künftig stärker und schneller steigen wird, als es ohne Ihre Rentenpolitik der Fall wäre. Das Einzige, was aus Ihrer Sicht auf gar keinen Fall passieren darf, ist eine Entlastung der Bürgerinnen und Bürger; das schreiben Sie auch noch in das Gesetz. Das ist doch grotesk, liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von der Union. ({15}) Aber es ist ja nicht zu spät. Deshalb appelliere ich ganz ernsthaft an Sie: Kehren Sie um! Denken Sie im weiteren Verlauf der Beratungen sowie in der zweiten und dritten Lesung noch einmal über die ganze Richtung Ihrer Rentenpolitik nach! ({16}) Ich spreche ganz konkret die SPD an: Kehren Sie zurück zur Tradition der Rentenpolitik eines Franz Müntefering! ({17}) Als Sie in der Partei angefangen haben, über die Rentenpolitik zu diskutieren, hat er sehr zutreffend gesagt: Das kann überhaupt nicht funktionieren. Da muss man nicht Mathematik studiert haben, da reicht Grundschule Sauerland. Der Mann hat recht. ({18}) Kehren Sie um! ({19}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union – ich spreche jetzt gerade die Jüngeren in der Union an –, denken auch Sie noch mal darüber nach! Sie können jetzt die Richtung Ihrer Rentenpolitik korrigieren. In einer der künftigen Legislaturperioden, zumindest sofern Sie dann noch regieren werden oder wollen, ({20}) müssten Sie es ohnehin tun, aber unter größeren Schmerzen. Jetzt ist die Chance, diese Situation zu vermeiden. Kehren Sie um, und machen Sie eine bessere Rentenpolitik! ({21}) Lassen Sie uns doch gemeinsam erstens zielgerichtet gegen die Altersarmut vorgehen, zweitens die kapitalgedeckte Vorsorge endlich besser machen! ({22}) Ich weiß, Sie wollen es nicht hören; aber Länder wie die Niederlande, die Schweiz, Schweden, Australien, Kanada gehen doch nicht ohne Grund diesen Weg. Lassen Sie uns drittens die Rente endlich modernisieren! Die Skandinavier machen uns sehr erfolgreich vor, wie es mit einem flexiblen Renteneintritt geht. Da kann jeder selber entscheiden, wann er in Rente gehen kann. Das wäre eine Rentenpolitik, die vorausdenkt. Nur Mut! ({23})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Matthias Birkwald, Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Vogel, nach dieser Rede bin ich wirklich froh, dass die FDP sich entschieden hat, nicht zu regieren, und dass Sie im BMAS nichts zu sagen haben. ({0}) Das ist nämlich alles unseriös. Wir müssen doch wissen, dass wir in Deutschland, also die Arbeiterinnen, die Arbeiter und die Angestellten, ein bisschen auch die Beamten und die Selbstständigen, im Jahr 2017 einen Kuchen gebacken haben, der 3,28 Billionen Euro umfasst, 3 280 Milliarden Euro. Das ist der viertgrößte Kuchen der Erde. Davon wurden gerade einmal 9,16 Prozent für die gesetzliche Rentenversicherung ausgegeben. Wie war das im Jahr 2000, bevor Franz Müntefering, Walter Riester und Co die gesetzliche Rente in den Sinkflug geschickt haben? Da hatten wir noch einen Anteil der Renten von 10,35 Prozent, und das Bruttoinlandsprodukt lag nur bei etwas über 2 Billionen Euro. Also, von einem viel kleineren Kuchen haben die Rentnerinnen und Rentner vor 18 Jahren ein deutlich größeres Stück erhalten, und damals gab es auch noch 2,5 Millionen Rentner weniger als heute. Also, Herr Vogel: Wir haben zu wenig Geld für die Rentnerinnen und Rentner und nicht zu viel. So ist die Lage. ({1}) Meine Damen und Herren, wir müssen doch einmal politisch entscheiden, wie viel uns das würdevolle Leben unserer älteren und alten Menschen wert ist. Ich sage Ihnen: Es gibt Länder, in denen die Rentnerinnen und Rentner nicht nur 9 oder 10 Prozent vom ganzen Kuchen, vom Bruttoinlandsprodukt, wert sind, sondern 14 Prozent, ({2}) in Österreich zum Beispiel. Dort erhalten männliche Arbeiter und Angestellte im Alter durchschnittlich – festhalten an den blauen Sitzen! – eine Bruttorente von 2 288 Euro. Das sind 1 079 Euro brutto im Monat mehr, als deutsche Arbeiter und Angestellte im Ruhestand bekommen. Bei den Frauen sind es immerhin noch 341 Euro mehr. Wie sieht denn die Lage in Bayern aus, Herr Dobrindt? In Bayern erhielten Männer, die 2017 neu in Rente gingen, durchschnittlich 1 081 Euro Altersrente auf ihr Konto überwiesen. Die österreichischen Männer haben also deutlich höhere Renten. ({3}) Das österreichische Rentensystem ist bis 2059 seriös und nachhaltig finanziert. Warum? Weil alle Menschen mit Erwerbseinkommen in die Rentenkasse einzahlen, auch Beamtinnen und Beamte, die Selbstständigen und die Politiker. ({4}) Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen. Herr Bundesminister Heil, das kann Deutschland sich leisten. Nun zum Rentenniveau, von dem Sie immer sagen, das sei alles unwichtig. Das Rentenniveau ist die wichtigste Stellschraube im gesamten Rentensystem. ({5}) Ja, Herr Bundesminister Heil, Sie wollen endlich den Sinkflug des Rentenniveaus für sieben Jahre stoppen. Das ist übrigens ein Erfolg von Gewerkschaften, Sozialverbänden und der Linken, ({6}) und ich finde es trotzdem gut. ({7}) Aber, Herr Minister, dass Sie die Beitragssatzbremse einführen wollen, ist überhaupt keine gute Idee. Hören Sie nicht auf Herrn Vogel! Fragen Sie lieber Menschen, die zum Beispiel 3 000 Euro brutto im Monat verdienen, ob sie nicht bereit wären, für ein Rentenniveau von 53 Prozent statt wie heute 48 Prozent 30 Euro mehr im Monat zu bezahlen! Wer 2 000 Euro brutto im Monat hat, müsste nur 20 Euro mehr zahlen. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Die meisten Menschen wären dazu bereit; denn die Renten ihrer Großeltern, ihrer Eltern und vor allen Dingen, Herr Vogel, ihre eigenen Renten würden deutlich steigen. ({8}) 53 Prozent Rentenniveau hieße zum Beispiel, dass die männlichen Neurentner in Bayern, Herr Dobrindt, statt 1 081 Euro nach dem Konzept der Linken fast 1 190 Euro an Altersrente erhielten, 109 Euro mehr; das ist doch was. ({9}) Und die bayerischen Frauen hätten statt 684 Euro eine eigenständige Nettoaltersrente von 752 Euro, auch immerhin 68 Euro mehr. Mit anderen Worten: Alle Rentnerinnen und Rentner hätten gut 10 Prozent Nettorente mehr. Das wären doch erste notwendige Schritte hin zu einer den Lebensstandard sichernden Rente. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Birkwald, der Kollege Kleinwächter möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Bitte schön.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Herr Kollege Birkwald, Sie haben gerade ausgeführt, dass man, wenn man ein bisschen mehr einzahlen würde, am Ende ein deutlich besseres Rentenniveau hätte. Ihnen sind die Berechnungen, beispielsweise von Martin Werding, zur Zukunft der Rente schon bekannt?

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

2060 sinken wir aktuell auf ein Rentenniveau von circa 41 Prozent, und Sie wollen uns jetzt mit einer Berechnung, ausgelegt auf einen Anteil vom Bruttoinlandsprodukt, weismachen, dass die Leute, wenn sie jetzt mehr zahlen würden, im Alter eine deutlich höhere Rente hätten – wohl wissend, dass der Altersquotient auf 65 Senioren pro 100 Erwerbstätige steigen wird, wohl wissend dass wir letztendlich nur einen Kuchen zu verteilen haben, der von den Erwerbstätigen finanziert werden muss und natürlich unter den Rentnern aufgeteilt wird? Sie stellen sich tatsächlich hierhin und sagen: Wenn Sie 20 oder 30 Euro mehr Rentenbeiträge im Monat zahlen, dann werden Sie am Ende eine deutlich bessere Rente haben. – Wollen Sie das den Leuten wirklich so vermitteln? ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich glaube, das war eine Superfrage. Dann kann ich Ihnen nämlich erstens erklären, dass wir im Durchschnitt um die 1 Prozent Arbeitsproduktivitätssteigerung und Wirtschaftswachstum haben. ({0}) Das wird in all diesen Debatten, bei denen immer nur über Köpfe gesprochen wird, nicht erwähnt. Der Kuchen wird größer; es ist also mehr zum Verteilen da. ({1}) Zweitens. Hier sitzt Andrea Nahles, heute Fraktionsvorsitzende. Sie war aber einmal Arbeitsministerin und hat ein Rentenpaket vorgelegt. Da hat sie – vielen Dank dafür! – freundlicherweise auch mal unsere Vorschläge durchgerechnet. ({2}) Dabei kam heraus, dass es, wenn wir das Rentenniveau wieder auf 53 Prozent anhöben, keinen Cent teurer wäre als Ihr Dreisäulensystem. Ihr rechnet nämlich nie die Kosten für Riester, 4 Prozent vom Bruttoeinkommen, und für eine Betriebsrente aus. ({3}) Ich habe beim Ministerium angefragt, und die haben mir gesagt: Man braucht im Jahr 2030 einen Beitragssatz von 29 Prozent – den haben wir aber auch 2030 im Dreisäulensystem –; dann würden Arbeitgeber 10,9 Prozent zahlen, Arbeitnehmer 10,9 Prozent, die Arbeitnehmer aber noch 4 Prozent für Riester und 3,2 Prozent für eine kapitalgedeckte Betriebsrente. Das heißt, wenn man ehrlich ist, sind die Kosten immer gleich. Ich will das nur nicht den von Finanzmarktinteressen getriebenen Kapitalmärkten überlassen, sondern dem guten Solidarsystem der gesetzlichen Rentenversicherung. ({4}) Wir haben das alles durchgerechnet; Sie können es haben. Rechnen Sie bei der Arbeitsproduktivität, und zwar konservativ, mit 1 Prozent. Rechnen Sie beim Wirtschaftswachstum, konservativ, mit 1 Prozent. Herr Professor Dr. Gerd Bosbach – nicht zu verwechseln mit Wolfgang Bosbach; nur damit das klar ist – ({5}) ist Professor für Statistik, Empirie und Mathematik an der Fachhochschule Koblenz, Standort Remagen. Er hat ausgerechnet, dass bei 1 Prozent Produktivitätssteigerung die Renten für die Babyboomer so zu finanzieren sind, dass auch für sie Artikel 1 des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ gilt. ({6}) Das dazu; jetzt mache ich aber weiter. – Ich sage, liebe Koalition, lieber Herr Minister Heil: Sie wollen das derzeit viel zu niedrige Rentenniveau einfrieren. Der Sinkflug geht nicht weiter; okay. Aber Einfrieren reicht nicht. Wir Linken wollen eine gesetzliche Rente, die auch 2040 und 2060 noch den Lebensstandard sichern wird, und deswegen wollen wir zügig zu einem Rentenniveau von 53 Prozent zurückkehren. ({7}) Nun zur Mütterrente. Herr Heil, herzlichen Dank dafür, dass Sie den vermutlich verfassungswidrigen Plan der CSU, nur für Mütter oder Väter mit drei oder mehr Kindern die Mütterrente zu erhöhen, verhindert haben! Danke dafür! Viele Eltern, auch bayerische Eltern, Herr Dobrindt, mit ein oder zwei Kindern werden erleichtert sein. Aber, Herr Minister, Sie bleiben auf halber Strecke stehen. Warum? Ab Januar 2019 sollen Mütter oder Väter für ein Kind, das vor 1992 geboren wurde, statt 62,06 Euro Mütterrente 80 Euro erhalten. Halbe Strecke! Warum? Die Mütter im Osten werden für dasselbe Kind nur 76,73 Euro bekommen. ({8}) Das sind bei zwei Kindern knapp 80 Euro weniger im Jahr, Herr Minister. 28 Jahre nach der Einheit darf das nicht sein. ({9}) Gleichen Sie die Mütterrenten in Ost und West sofort an! Und gleichen Sie die Rentenwerte in Ost und West an! Die Linke fordert 96 Euro Mütterrente für jedes Kind, egal ob in Rostock oder in München geboren, egal ob es 1960 oder 2010 geboren wurde. ({10}) Natürlich muss die Mütterrente komplett aus Steuermitteln bezahlt werden. Da der Präsident mir das Ende der Redezeit anzeigt, sage ich: Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Matthias Birkwald, wenn es im „Guinnessbuch der Rekorde“ eine Kategorie gäbe, in einer politischen Rede pro Satz möglichst viele Zahlen unterzubringen, dann wären Sie ganz vorne mit dabei, ({0}) wobei Zahlen zwar nicht zu ersetzen, aber natürlich auch nicht alles sind. Die Regierung Hubertus Heil macht sich auf eine große Reise zu durchaus großen Zielen: Stabilisierung des Rentenniveaus, Beitragssatz im Zaum halten, Mütterrente, Schließen der Gerechtigkeitslücke und die auch von uns unterstützte Verbesserung der Erwerbsminderungsrente. Aber wenn man sich auf große Fahrt macht, dann sollte man auch ein geeignetes Fahrzeug haben und sich genügend Proviant mitnehmen, damit man nicht auf halber Strecke verhungert. ({1}) Und Sie sind ungefähr so gut vorbereitet wie jemand, der mit einem Schlauchboot den Atlantik überqueren will. Wieder einmal greifen Sie auf die Rücklage der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler zurück, um Ihre Pläne zu finanzieren, und kommen dann absehbar ins kurze Gras. In der letzten Legislatur haben Sie mit dieser Strategie dank der guten Beschäftigungslage und dank der hervorragenden Konjunktur noch einmal Glück gehabt; aber das wird nicht ewig funktionieren. Es funktioniert ja schon ab 2021/2022 nicht mehr. Darum sind Sie auf einen ganz windigen Trick gekommen: Ab 2022 wollen Sie eine Demografiereserve anlegen. ({2}) 2022, das ist in der nächsten Legislaturperiode! Warum fangen Sie, wenn Sie das machen wollen, nicht schon jetzt damit an? Das wäre wenigstens halbwegs glaubwürdig. ({3}) Der Ort, wo Sie diese Demografiereserve anlegen wollen, muss auch mehr als stutzig machen, nämlich beim Finanzminister. Hallo? Wenn das eine Demografiereserve für die Rentenversicherung sein soll, warum geben Sie das Geld nicht der Rentenversicherung? Vielleicht will der nächste Finanzminister im Jahr 2022 gar nichts mehr von dem wissen, was Sie von hier aus groß versprochen haben. Das ist doch hochgradig windig und durchsichtig schwach finanziert. ({4}) Für die Zeit nach 2025 haben Sie überhaupt nichts anzubieten, wie es weitergehen soll. Dann müssen Sie sich nicht wundern – ich schaue gerade die Sozialdemokraten an, auch wenn ich in dieser schwierigen Situation nicht auf sie einschlagen möchte –, wenn Sie angreifbar werden, weil die Bürgerinnen und Bürger das begreifen. Es reicht nicht aus, Hubertus Heil, von hier aus zu beschwören, man wolle nicht, dass die Generationen gegeneinander ausgespielt werden. Wenn man keine tragfähigen langfristigen Antworten hat, dann öffnet man Argumentationen Tür und Tor – wie von Johannes Vogel, wie von fragwürdigen Wissenschaftlern –, die da lauten: Das ist alles nicht finanzierbar. Das System bricht zusammen. – Das ist das Problem. Wir wollen auch nicht die Generationen gegeneinander ausspielen. ({5}) Darum haben wir uns einen Maßnahmenmix überlegt, wie man nach 2025 die Finanzierung sicherstellen kann, ({6}) und zwar durch eine Erweiterung des Versichertenkreises – Stichwort „Bürgerversicherung“ –, ({7}) durch eine verbesserte Erwerbstätigkeit und einen höheren Anteil von Frauen am Erwerbsleben, durch eine andere Familienpolitik, ({8}) durch qualifizierte Zuwanderung, durch längeres, gesünderes Arbeiten, bessere Prävention und Reha, ({9}) durch einen Steuerzuschuss, der aber transparent und direkt als Stabilisierungsbeitrag an die Rentenversicherung gegeben wird. Das ist der Finanzierungsmix, den man plausibel machen kann. Damit kann man dem Argument des Generationenkrieges entgehen und echte Generationengerechtigkeit schaffen. ({10}) Gerade meine Generation hat daran ein Interesse. Vor 20, 25 Jahren, als Norbert Blüm sagte: „Die Rente ist sicher“, gehörte ich zur jüngeren Generation, die nicht überlastet werden durfte. Jetzt bin ich 52 Jahre und kann für mich und meine Generation der Babyboomer, die dieses Land im Moment ganz überwiegend am Laufen hält, nur sagen: Wir haben es satt, als Klotz am Bein für die Zukunft gesehen zu werden. ({11}) Wir haben es satt, nur als Belastungsfaktor dargestellt zu werden, wenn es um unsere Alterssicherung geht. Generationengerechtigkeit bekommt man nur hin, wenn man eine tragfähige langfristige Politik betreibt, die ich leider ein Stück weit vermisse. ({12}) Jetzt muss ich noch kurz was zum Thema Mütterrente loswerden. Es ist ja gut, wenn wir diese Gerechtigkeitslücke schließen, auch wenn dies nicht richtig finanziert wird. Aber das ist nicht zielgerichtet für diejenigen, die von Altersarmut betroffen sind; ({13}) das ist das Problem. Die Mütterrente ist nicht zielgerichtet für diejenigen, die von Armut betroffen sind, insbesondere nicht für diejenigen, die in der Grundsicherung sind. Deswegen brauchen wir eine Garantierente als Ausgleich für diejenigen, die lange Kinder erzogen, gearbeitet und Angehörige gepflegt haben. ({14}) Dazu haben wir Grüne ein Konzept vorgelegt. Wenn sich die CSU weniger mit der Mondfahrt beschäftigen würde, mit der Mission „Zukunft auf der Mondoberfläche“, ({15}) und stattdessen mehr mit den irdischen Problemen, dann würden wir in diesem Land ein ganzes Stück weiterkommen. ({16})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Kurth, der Kollege Birkwald würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte. ({0}) – Aber nicht so viele Zahlen, bitte. ({1})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Dazu enthalte ich mich eines Kommentars. – Herzlichen Dank, Herr Präsident, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Kollege Markus Kurth, vielen Dank dafür! Erstens. Du hast eben gesagt, Markus, dass die Anhebung der Mütterrente im Kampf gegen Altersarmut nicht zielführend wäre. ({0}) – Abwarten, Johannes, abwarten. – Bist du bereit, mir zuzustimmen, dass es Untersuchungen gibt, dass Frauen weniger Rente erhalten, desto mehr Kinder sie haben, wenn die Kinderzahl zwischen eins und vier liegt? Jetzt können wir einmal überlegen, wie viele Menschen mehr als fünf Kinder haben. ({1}) – Darum geht’s aber. – Die Mütterrente kommt gerade bei den Frauen mit drei, vier oder mehr Kindern an, weil sie häufig ganz geringe eigenständige Altersansprüche haben. Das war ja auch der Grund, warum die CSU überlegt hatte, die Mütterrente erst ab dem dritten Kind einzuführen. Dass ich das für verfassungswidrig halte, habe ich schon gesagt. Dennoch wird es so sein, dass die Erhöhung der Mütterrente, also der zusätzliche halbe Entgeltpunkt, dazu beitragen wird, Altersarmutsprophylaxe zu leisten. Zahlen und Studien dazu liegen vor. Ich bitte dich darum, das zur Kenntnis zu nehmen. Zweitens. Wie hoch wird denn die Garantierente der Grünen sein? Die Berechnungen, die ich kenne, laufen darauf hinaus, dass es ungefähr 80 Euro netto mehr werden als die heutige Grundsicherung im Alter, also in etwa so hoch, wie die Minigrundrente, die Minister Heil plant. Ist das so, oder kommt bei eurer Garantierente mehr raus? Danke schön.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zur letzten Frage zuerst. Wir schlagen vor, dass jemand, der wenigstens 30 Jahre Kinder erzogen, gearbeitet oder Angehörige gepflegt hat, also 30 Versicherungsjahre hat, 30 Rentenpunkte bekommt; das entspricht im Moment knapp 1 000 Euro. ({0}) Das ist natürlich nicht die Welt, aber liegt immerhin über dem Grundsicherungssatz. ({1}) Das heißt, diese Personen müssen nicht an ihre Ersparnisse gehen. ({2}) Diese Personen können in ihren Wohnungen wohnen bleiben und sind im Rentenversicherungssystem und nicht in der Fürsorge, nicht im Sozialhilfesystem. ({3}) Das ist eine wichtige Anerkennung, ein Beitrag zur Würde des Menschen. Das Tolle an unserer Idee mit 30 Entgeltpunkten bei der Rente ist ja, dass die Garantierente mitwächst, wenn die allgemeine Rente steigt. Es unterliegt nicht der Willkür eines Finanzministers. ({4}) Es ist ein überlegenes Konzept. Jetzt komme ich aber zu der Frage: Ist die Mütterrente zielgerichtet – speziell gegen Altersarmut – oder nicht? Die Argumentation „je mehr Kinder“ – insbesondere in Westdeutschland; in Ostdeutschland war das anders –, „desto geringere Rentenansprüche, weil die Frauen nicht am Erwerbsleben teilgenommen haben“, ist richtig. Aber mit zunehmender Kinderzahl sank die Erwerbsbeteiligung von Frauen in Westdeutschland dermaßen stark ab, dass die Rente jetzt so niedrig ist, dass diese Frauen es selbst mit einem halben Entgeltpunkt Mütterrente nicht schaffen werden, über die Grundsicherungsschwelle zu kommen. Das heißt, dieser zusätzliche halbe Entgeltpunkt wird eins zu eins mit der Sozialhilfe verrechnet. In diesem Sinne ist es leider nicht zielgerichtet. ({5}) An dieser Stelle würde unsere Garantierente in der Tat mehr helfen. Darauf muss man durchaus aufmerksam machen, auch wenn natürlich jeder Mutter und jedem Vater der halbe Rentenpunkt gegönnt sein mag. Da die Uhr weitergelaufen ist, sage ich zum Schluss nur: Alle sollten sich gut überlegen, ob sie mit der CSU auf Mondfahrt gehen oder ob sie mit Bündnis 90/Die Grünen zuerst die irdischen Probleme lösen wollen. Danke. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Ralf Kapschack, SPD. ({0})

Ralf Kapschack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004321, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauer! Was wir heute diskutieren, ist ein echter Kurswechsel in der Rente. Der FDP geht das zu weit, den Linken nicht weit genug. Dann kann es so falsch nicht sein. ({0}) Im Ernst: Wir garantieren für die nächsten Jahre ein Rentenniveau von 48 Prozent. Das bedeutet, Renten und Löhne entwickeln sich wieder im Gleichklang. Nun gibt es ja Schlaumeier bei der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und anderswo, die behaupten, das sei gar nicht zu finanzieren. Es ist kein Naturgesetz, sondern eine politische Entscheidung, wie viel uns eine solide Alterssicherung wert ist. ({1}) Den Eindruck zu erwecken, Nichtstun koste auch nichts, ist völlig daneben: Immer mehr Menschen würden in der Grundsicherung landen – das kostet –, und es kostet politisches Vertrauen, Vertrauen in Staat und Politik. Deshalb ist dieser Kurswechsel dringend nötig. Eine ordentliche Absicherung im Alter ist ein zentrales Versprechen des Sozialstaats; Hubertus Heil hat schon darauf hingewiesen. Viele Menschen haben Angst, trotz langer Erwerbstätigkeit im Alter in Armut abzurutschen. Würde das Rentenniveau sinken, müssten Frauen und Männer immer länger arbeiten, um einen Rentenanspruch zu erwerben, der oberhalb der Grundsicherung liegt. ({2}) Deshalb ziehen wir jetzt eine Haltelinie ein, nicht mit der Gießkanne, auch nicht mit dem Gartenschlauch. Es geht um eine zielgenaue Pflege der zarten Pflanze Vertrauen. ({3}) Gleichzeitig schaffen wir mit der Beitragsgarantie mehr Solidarität zwischen den Generationen. Es ist eben keine Entscheidung zulasten künftiger Generationen. Im Gegenteil: Wir schaffen Sicherheit, gerade auch für junge Menschen, dass sie im Alter eine auskömmliche Rente bekommen. Dann wird ja oft die demografische Entwicklung bemüht, um angeblich zu belegen, dass es Abstriche bei der Rente geben muss oder dass wir am besten alle bis 75 arbeiten sollten. ({4}) Das zahlenmäßige Verhältnis von Alten und Jungen ist ein Indikator, nicht mehr und nicht weniger. Entscheidend ist das Verhältnis von Beschäftigten zu Rentnern und deren Produktivität. Damit ist klar: Es gibt einen untrennbaren Zusammenhang zwischen dem Arbeitsmarkt, ordentlichen Löhnen und einer auskömmlichen Rente. ({5}) Ich würde mir wünschen, die eben schon genannten Schlaumeier würden genauso massiv für Tarifverträge und gute Löhne werben, wie sie unsere Rentenpläne kritisieren. ({6}) Ja, wir wollen einen Kurswechsel bei der Rente; wir wollen mehr Solidarität und Sicherheit. Was die Koalition jetzt auf den Weg bringt, ist vor allem Verdienst der SPD. ({7}) Die Sicherung des Rentenniveaus und stabile Beiträge sind ein wichtiger Schritt. Wir brauchen aber langfristige Lösungen. Deshalb war es richtig, dass Olaf Scholz gefordert hat, das Rentenniveau bis 2040 zu stabilisieren. Dafür braucht es allerdings politische und gesellschaftliche Mehrheiten. ({8}) Hier und heute wollen wir mit diesem Gesetz erneut die Leistungen für Menschen verbessern, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten können; denn eines der größten Armutsrisiken – das ist schon angesprochen worden – ist die Erwerbsminderung. Deshalb werden wir die Zurechnungszeiten ein weiteres Mal anheben. Davon werden künftige Erwerbsminderungsrentner erheblich profitieren. Ich persönlich finde, wir sollten schauen, ob wir irgendwann auch etwas für den Bestand tun können. ({9}) Dieser Pakt ist der Auftakt. Im kommenden Jahr führen wir die Grundrente für Menschen ein, die jahrzehntelang gearbeitet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben. Außerdem machen wir einen ersten großen Schritt in Richtung Erwerbstätigenversicherung, indem wir die Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen. Wenn es nach mir geht, beziehen wir die Abgeordneten gleich mit ein. ({10}) Das wäre nur logisch und würde sicherlich auch das Vertrauen in Staat und Politik stärken. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger, CDU/CSU. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung bringt heute den Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung bei der Rente ein. Wir sind uns ja alle einig hier in diesem Hohen Haus, dass wir ständig daran arbeiten müssen. Leistungsverbesserungen sind auch immer ein Ausdruck dessen, dass der Staat gute Rahmenbedingungen für eine gute wirtschaftliche Entwicklung geschaffen hat. Das ist ja letztendlich die Grundlage dafür, dass wir den Menschen im Alter ein gesichertes Auskommen mit einer stabilen Rente geben können. Dafür steht die CDU/CSU, und dafür steht diese Koalition. Deshalb ist es gut, dass diese Koalitionsbeschlüsse jetzt auch umgesetzt werden. ({0}) Vieles ist dargelegt worden: die Verbesserungen bei der Mütterrente, bei der Erwerbsminderungsrente und auch die Sicherung des Rentenniveaus, wobei ich der Überzeugung bin, dass dies keinem hilft, der nur 15 Jahre lang eingezahlt hat. Was helfen dann irgendwelche Sicherungen? Aber das ist Ausdruck dessen, den Menschen die Stabilität des Rentenversicherungssystems zu vermitteln. Es gilt aber auch, Verlässlichkeit in die Wirtschaft zu tragen. Wir haben stabile Beitragssätze, derzeit 18,6 Prozent, und bis 2025 dürfen sie höchstens auf 20 Prozent steigen. Ich glaube, das ist ein verlässlicher Beitrag auch gegenüber unseren Betrieben, damit sie wegweisend und in die Zukunft gerichtet kalkulieren können. Es ist auch ein Beitrag zur Entlastung der Geringverdiener durch die Ausweitung der sogenannten Gleitzone von 850 auf mittlerweile 1 300 Euro, wobei wir – ich sage es ganz offen – darüber noch einmal diskutieren müssen. Das soll letztlich ja für diejenigen gelten, die Vollzeit beschäftigt sind. Wir wollen damit nicht die Teilzeitbeschäftigung fördern oder Teilzeitbeschäftigungen mit guten Verdienstmöglichkeiten einen Attraktivitätsschub geben. In einem nachfolgenden Konzept – das ist schon dargelegt worden – werden wir die Absicherung der Selbstständigen über eine Opt-out-Lösung – gesetzliche Rentenversicherung oder private Vorsorge – angehen. Damit wollen wir den Menschen für die Zukunft die Sicherheit geben, auch im Alter vernünftig versorgt zu sein und ein gutes Leben führen zu können. Das ist unser Anspruch, und dafür hat in besonderer Weise die CSU gekämpft. Ich bin völlig verwundert, wer sich heute mit einschließt, Erfinder der Mütterrente zu sein. Das ist haargenau das Programm, das die CSU über Jahre hinweg verfolgt hat ({1}) und das mit der unionsgeführten Regierung eingeführt worden ist. Schon unter Norbert Blüm wurden bereits Kindererziehungszeiten in die Anrechnung einbezogen. Da heute wieder über versicherungsfremde Leistungen gestritten wurde, möchte ich dem Kollegen Weiß ausdrücklich beipflichten: Natürlich ist ein Umlagesystem immer auf Nachwuchs angewiesen. Darüber zu streiten, ob die Mütterrente und die Anerkennung von Kindererziehungszeiten versicherungsfremde Leistungen darstellen, ist meines Erachtens müßig. Wir stehen dazu, dass auch Mütter eine gute Versorgung aus der Rentenversicherung erhalten sollen. ({2}) Ich bin sehr verwundert, dass von den Kollegen aus den Oppositionsfraktionen eigentlich immer wieder nur die alten Vorstellungen vorgetragen wurden. Die FDP hat ihre eigenen Vorstellungen. Ich war schon verdutzt, lieber Kollege Vogel, dass Sie auf der einen Seite kritisieren, wir hätten keine langfristige Lösung in Bezug auf die Finanzierung der Rente, uns gleichzeitig aber – da bitte ich wirklich darum, das zu unterlassen – Manipulation bei der Rentenformel unterstellen. ({3}) – Nein, das ist keine Manipulation, lieber Johannes Vogel. Wir werden bei der Rentenversicherung immer auf irgendeine Art und Weise Anpassungen aufgrund der Herausforderungen vornehmen müssen. Da ist es nicht statthaft, immer von Manipulation zu reden. ({4}) Wer langfristige Finanzierung einfordert, gleichzeitig aber sagt: „Es ist nicht statthaft, dass der Beitragssatz stabil gehalten wird“, und dafür plädiert, den Beitragssatz kurzfristig vielleicht um einen Zehntel Prozentpunkt wieder abzusenken, dem sage ich: Das ist nicht statthaft; das kann man auch nicht durchgehen lassen. – Und mit Ihrer Vorstellung, dass jeder ins Rentenalter eintreten kann, wie er selbst will, bluten Sie letztendlich die Finanzierungsgrundlage der Rentenversicherung aus. Das muss man auch mitsehen. ({5}) – Natürlich. Der Kollege Birkwald hat wieder die sozialistische Leier losgelassen, alles in die Zukunft zu verschieben. ({6}) Wir stehen für sichere Renten und sorgen auch für Besitzstand, indem – auch das ist wichtig – wir es den Menschen ermöglichen, auch einen Eigentumserwerb zu tätigen. Höhere Beiträge, wie Sie sie letztendlich propagieren, bedeuten, dass sich die Menschen keinen Eigentumserwerb mehr leisten können. ({7}) – Ja, natürlich. Man kann das Geld ja nur einmal ausgeben. ({8}) Wir als Union und als Koalition stehen dafür, dass das Eigentum gestärkt wird – mit dem Baukindergeld und dergleichen mehr –, ({9}) dass junge Familien Eigentum erwerben können und dann mit einem eigenen Häuschen mietfrei in die Rente gehen können. ({10}) Auch das ist ein Beitrag für die Alterssicherung. In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Tack, SPD. ({0})

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ja eine beeindruckende Stunde, die wir heute erleben, weil man hier grundsätzliche Aussagen zur Rentenpolitik aller Fraktionen sehr deutlich identifizieren kann. Die AfD sagt wie selbstverständlich: Stabilisierung des gesetzlichen Rentensystems – das ist alles ganz großer Unfug. – Das ist folgerichtig, wenn man weiß, dass ihr Vorsitzender Meuthen ja die Abschaffung der gesetzlichen Rentenversicherung möchte. ({0}) Wir sind sehr stolz darauf, dass wir ein deutlich anderes Konzept heute in den Bundestag einbringen. ({1}) So kann man auch auf den Rängen und zu Hause sehen, wo der Unterschied in der Rentenpolitik liegt. Die AfD möchte die gesetzliche Rente inklusive aller Beiträge abschaffen. ({2}) Dann komme ich zu unseren Freunden der FDP. Die machen auch eine ganz interessante Nummer auf. Sie sagen: Die gesetzliche Rente kann man machen; aber eigentlich wollen wir, dass jeder privat vorsorgt. Das kann man mit Aktien und Fonds machen. Wenn man Glück hat, bleiben die stabil. Wenn man Pech hat, ist es Lebensrisiko. – Auch das ist nicht unser Konzept. Dann kommen wir zu den Freunden der Linken. ({3}) Das ist ja auch beeindruckend. ({4}) Sie sagen: Ihr macht das alles gut, und wir haben es ja erfunden. ({5}) Aber weil man das ja so auch nicht machen kann, es nicht reicht, das so darzustellen, sagen Sie: Wir wollen das Doppelte. – Die Nummer kennen wir; das ist ja gelebte Praxis in allen Politikfeldern. ({6}) Dann kommen unsere Freunde der Grünen. Sie sagen: Es ist gut, was ihr macht; aber wir finden, da müsste man noch drüber hinausgehen. Wer eine gute Rente will, der muss auch gute Arbeit organisieren. – Ja, richtig! ({7}) Wir freuen uns, dass ihr nicht nur bei der Frage der Rente, sondern auch bei der Frage der Umsetzung der Brückenteilzeit, nämlich der Möglichkeit insbesondere für Frauen, mehr am Arbeitsleben teilzunehmen und damit ihre Altersvorsorge besser abzusichern, dabei seid. Wir freuen uns, dass ihr dabei seid, wenn wir den sozialen Arbeitsmarkt machen, um auch Langzeitarbeitslose stärker in die Erwerbsbeteiligung mit hineinzunehmen. Wir freuen uns, wenn ihr sagt: Die Grundrente ist eine gute Sache. ({8}) Wir merken, interessanterweise machen wir ja scheinbar verdammt viel richtig und haben eine sehr breite Zustimmung dieses Hauses. Wir freuen uns, dass wir hier eine so große Gemeinsamkeit haben. ({9}) Einen kleinen Wermutstropfen will ich dann noch nennen: Im letzten Bundestagswahlkampf war ja eines der großen Themen, was wir mit der Rente machen. Ich kann mich noch daran erinnern, dass wir bei der CDU/CSU ja die Situation hatten, ({10}) dass man dort keinen Bedarf an Veränderungen bei der Rente bis 2030 sah. Umso wichtiger und besser ist, dass wir jetzt miteinander weiter sind und dass wir gemeinsam miteinander Verantwortung dafür tragen wollen, dass wir die Rente stabilisieren, dass wir Generationengerechtigkeit herstellen, dass wir für Solidarität in diesem Land sorgen, indem wir heute gemeinsam einen Rentenpakt einbringen, der den Namen verdient. Im nächsten Jahr geht es mit den weiteren anstehenden Maßnahmen weiter. Herzlichen Dank. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kerstin Tack. – Schönen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, von mir an Sie. ({0}) – Guten Morgen! – Nächster Redner: Kai Whittaker für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass die AfD offensichtlich dazugelernt hat und bei Rentendebatten nur noch einen Redner ans Rednerpult schickt und nicht mehr zwei. Sonst würde man nämlich erkennen, dass Sie zwei Rentenkonzepte haben ({0}) und nicht eins. ({1}) Werte Kollegen, mir geht in dieser Debatte auf den Zeiger, wie dieses Rentenpaket den Menschen in diesem Land madig gemacht wird. Wir wollen die Erwerbsminderungsrente verbessern, weil wir ganz klar sagen: Wer einen Schicksalsschlag erleidet, wer krank wird, der darf nicht dadurch bestraft werden, dass er eine schlechte Rente bekommt. Wir wollen von daher diese Rente verbessern, und es ist gut, dass wir das machen. Mit der doppelten Haltelinie geben wir den Menschen Sicherheit – den Rentnern wie den Arbeitnehmern. Als wir den damaligen Rentenkompromiss gemacht haben, haben wir das unter dem Eindruck einer schlechten Wirtschaftslage gemacht. Wir hatten 5 Millionen Arbeitslose. Heute ist die Lage eine ganz andere; deshalb können wir den Menschen eine bessere Sicherheit geben, als wir es damals versprochen haben. Aber dass Sie hier insbesondere über die Mütterrente so schäbig reden, finde ich unfassbar. ({2}) Die Tatsache, dass alle Oppositionsfraktionen sagen, sie müsste steuerfinanziert sein, zeigt, dass Sie sich mit der Herkunft des Umlagesystems überhaupt nicht beschäftigt haben. Der Vater des Umlagesystems, Wilfrid Schreiber, hat 1956 ganz klar gesagt, dass es nicht nur ein umlagefinanziertes Rentensystem braucht, sondern auch eine umlagefinanzierte Kinderrente. Genau das machen wir hier mit dieser Mütterrente. Er hat auch ganz klar gesagt – ich zitiere –: Es ist ersichtlich sinnlos, dem Staatsbürger zunächst Einkommensanteile in Form von Steuern abzunehmen und sie ihm dann mit der Geste des Wohltäters zurückzugeben. Im Gegenteil: Das, was Kollege Peter Weiß gesagt hat, ist richtig: Ein Umlagesystem erfordert, dass es Kinder gibt. Wir müssen die Menschen, die Kinder bekommen und erzogen haben, unterstützen und dafür belohnen. Das tun wir. ({3}) Was mich aber in der größeren Rentendebatte auch fassungslos macht, ist, wie sehr zum Beispiel auf das Rentenniveau, lieber Kollege Birkwald, abgestellt wird und dass gleichgesetzt wird: Sinkendes Rentenniveau heißt sinkende Renten. ({4}) Das Gegenteil ist der Fall. Da kann ich leider auch die SPD nicht ganz ausnehmen, weil ihre Fraktions- und Parteivorsitzende im Sommerinterview gesagt hat – ich zitiere –: Der Wertverlust der Rente hat den Leuten zurecht in den letzten Jahren immer mehr Angst gemacht. ({5}) Das ist falsch. ({6}) – Doch, Herr Birkwald. – Die Rente ist seit 2008 bis zum letzten Jahr nominal um 16 Prozent gestiegen. Wenn ich die Inflation abziehe – das sind 11 Prozent –, bleiben real noch 5 Prozent übrig. Im gleichen Zeitraum ist das Rentenniveau aber um 5 Prozent gesunken. Das zeigt, dass Rentenniveau und Rentenhöhe nicht zwingend etwas miteinander zu tun haben, sondern so unterschiedlich wie zwei Paar Schuhe sind. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Frage oder Bemerkung von Herrn Birkwald?

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Immer gerne. Er wird mich wahrscheinlich jetzt auch wieder mit Zahlen traktieren wie den Herrn Kollegen Kurth.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Selbstverständlich. – Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Auch an den Kollegen Whittaker vielen Dank dafür. Nominal steigen die Renten meistens am 1. Juli. Okay. Aber seit dem Jahr 2000 sinken die Renten im Verhältnis zu den Löhnen. ({0}) Genau das ist das Problem; das darf ich Ihnen mal sagen. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass im Jahr 2000, Menschen, die neu in Rente gegangen sind, sogenannte Zugangsrentner, die 35 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt hatten, also sogenannte langjährig Versicherte, noch 1 021 Euro und im Jahr 2017 nur noch 881 Euro auf das Konto überwiesen bekommen haben? Wenn man jetzt die Inflation, die es in diesen 17 Jahren gab, einrechnet, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass den Rentnerinnen und Rentnern, die 35 Jahre eingezahlt haben, im Durchschnitt ein Drittel ihrer Rente fehlt. Das sind fast 400 Euro. Das merken die Menschen, weil sie sich im Alter eben nicht mehr so viel kaufen können wie die Kolleginnen und Kollegen, die die Werte erwirtschaften. Das ist stiekum, heimlich, leise geschehen und ist jetzt 17 Jahre her. Jetzt kommen Menschen zu mir, die sagen: Ich habe 35, 45 Jahre gearbeitet und befinde mich jetzt in der Lage, dass ich eine Rente habe, deren Niveau sich nahe der Grundsicherung bewegt, also dem Rentner-Hartz IV. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Renten gesunken sind und dass Frau Nahles an dieser Stelle und nur mit diesem Satz im Sommerinterview leider sehr wohl recht hatte, aber vergessen hat, zu erwähnen, dass die SPD das eingeführt hat? ({1})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Birkwald, ich bin gerne bereit, das zur Kenntnis zu nehmen, wenn Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Union erst seit 2005 Regierungsverantwortung trägt ({0}) und die Höhe der Rente ja nicht nur mit der Rentenpolitik zusammenhängt, sondern auch mit der wirtschaftlichen Lage. Die wirtschaftliche Lage zwischen 2000 und 2005 war nun einmal bescheiden, um es einmal sehr vorsichtig auszudrücken. Dafür war nicht die Union verantwortlich, sondern die damalige rot-grüne Bundesregierung. ({1}) Insofern haben Sie mit Ihrer Feststellung nicht recht; denn seitdem wir regieren, steigt die Rente auch real. Das zeigt, dass unsere Wirtschaftspolitik funktioniert. ({2}) Liebe Kollegen, was mich an der ganzen Debatte auch stört, ist, wie mit dem Thema Renteneintrittsalter und Lebensarbeitszeit umgegangen wird. Ja, wir haben das Renteneintrittsalter von 65 auf 67 Jahre erhöht. Aber wenn man sich einmal anschaut, wann die Menschen in diesem Land in Rente gehen, dann sieht man, dass sich in den letzten 25 Jahren das faktische Renteneintrittsalter um exakt ein Jahr erhöht hat. Gleichzeitig hat sich die Bezugsdauer, also die Zeit, wie lange Menschen Rente bekommen, um vier Jahre erhöht. Das zeigt einmal mehr: Nur weil die Menschen länger arbeiten, heißt das nicht, dass sie weniger Rente oder kürzer Rente bekommen. ({3}) Im Gegenteil: Sie können auch mehr Rente beziehen. Deshalb ist diese Debatte, die Sie führen, hysterisch. Ich wünsche mir, dass wir neben dem aktuellen Rentenpaket, das wir jetzt diskutieren, auch in die Zukunft schauen. Lieber Herr Kollege Vogel, man kann ja kritisieren, dass wir da mit dem Gartenschlauch rumgehen. In Baden-Württemberg gibt es eine tolle Gartenschlauchfirma namens Gardena. ({4}) Die machen Gartenschläuche, mit denen man sehr zielgerichtet wässern kann. Sie sind also herzlich gern eingeladen, so etwas einmal in Augenschein zu nehmen. ({5}) Wenn man schon über die Digitalisierung und die Zukunft spricht, dann hätte ich mir vorstellen können, dass wir einmal darüber reden, wie wir große Teile der Bevölkerung am zukünftigen Kapitalgewinn dieses Landes beteiligen. ({6}) Denn die Digitalisierung bedeutet, dass wahrscheinlich die Lohnquote in diesem Land eher sinken wird und die Kapitalrenditen eher steigen werden. Wenn wir die Menschen daran beteiligen wollen und die Kluft zwischen geringen und hohen Vermögen nicht weiter auseinandergehen soll, dann wird das ein wesentlicher Punkt sein. Ich hoffe, dass wir zukünftig eine ergänzende kapitalgedeckte Rente in diesem Land bekommen. Danke schön. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege Whittaker. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Dr. Albert Weiler für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Albert Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004439, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebes Podium auf der Tribüne! Erlauben Sie mir ganz kurz noch eine private Geste. Mein Vater war lange im Krankenhaus, hatte eine schwere Herzoperation gehabt. Ich möchte dir an der Stelle beste Genesungswünsche aussprechen, lieber Papa. ({0}) Meine Damen und Herren, lieber Markus Kurth, Sie fühlen sich mit 52 Jahren als Belastungsfaktor. Ich bin 52 Jahre, ich fühle mich als Motor der Gesellschaft. Ich glaube, so soll man herangehen und sich nicht als Belastungsfaktor sehen. ({1}) Ich kann sie nicht mehr hören, die Koalition der Schwarzmaler von Grünen, Linken und AfD. Die gesetzliche Rentenversicherung garantiert bereits seit Jahrzehnten, dass die Menschen in Deutschland im Alter gut abgesichert sind. Das ist jedoch kein Ruhekissen. Deshalb wollen wir dieses bewährte System stärken und an verschiedenen Stellen auch weiter verbessern. Drei Punkte sind überaus wichtig. Der erste Punkt: Die doppelte Haltelinie, also die Garantie, höchstens 20 Prozent an Beiträgen zu zahlen bei mindestens 48 Prozent Auszahlung, gewährleistet faire Rahmenbedingungen für Rentner und Beitragszahler wie auch für die Steuerzahler. Das bewährte Prinzip der Generationengerechtigkeit basiert auf dem Vertrauen der heutigen Beitragszahler, im Alter selbst gut abgesichert zu sein. Dieses Vertrauen werden wir weiter stärken. Deshalb sichern wir mit diesem Gesetzentwurf die Renten der heutigen Empfänger ab, berücksichtigen gleichzeitig die Interessen der jetzigen Beitragszahler und gehen verantwortungsvoll mit Steuermitteln um. Auf diese Weise tragen wir zur Stabilisierung und Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung bei und schaffen so gleichzeitig generationsübergreifend Vertrauen in unser bewährtes System der allgemeinen Rentenversicherung. Der zweite Punkt, meine Damen und Herren: Eltern leisten durch die Kindererziehung einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft. Sie sichern aber auch das generationsübergreifende Konzept unserer Altersversorgung ab. Aus persönlicher Erfahrung weiß ich, dass viele Mütter, gerade in Ostdeutschland, früher einer Doppelbelastung ausgesetzt waren. Es wurde von ihnen erwartet, Kinder großzuziehen, aber gleichzeitig auch weiter arbeiten zu gehen. Die Leistungen aller Mütter erkennen wir an und belohnen sie. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass wir Eltern, die sich für die Kindererziehung entschieden haben, nachträglich in dieser Entscheidung unterstützen. Ich bin daher sehr froh, dass wir für die Erziehung von vor 1992 geborenen Kindern ein weiteres halbes Kindererziehungsjahr in der gesetzlichen Rentenversicherung festlegen. ({2}) Punkt drei: Wir werden die Situation für Menschen mit verminderter Erwerbsfähigkeit verbessern. Es ist eine persönliche Katastrophe, gesundheitsbedingt nicht mehr oder nur noch vermindert am Arbeitsleben teilnehmen zu können. Diese Menschen sind in besonderem Maße auf unsere Solidarität, auf die Solidarität der Versichertengemeinschaft angewiesen. Wir werden deshalb das Ende der Zurechnungszeit für Rentenzugänge weiter verlängern und ab dem Jahr 2020 schrittweise auf das vollendete 67. Lebensjahr erhöhen. ({3}) Mit diesen Maßnahmen werden wir die Situation für die Menschen mit verminderter Erwerbsfähigkeit weiter kontinuierlich verbessern. Sehr geehrte Damen und Herren, Sicherheit ist eines der höchsten Güter, die ein Staat gewährleisten muss. Unsere Rente muss sicher sein. Um dies zu gewährleisten, müssen wir heute und auch in Zukunft kontinuierlich Verbesserungen im Rentensystem vornehmen. Die Union und die SPD haben eine Kommission eingesetzt, die geeignete Vorschläge für die Zukunft erarbeiten wird. Ich selbst setze mich hier aktiv persönlich dafür ein, dass unser generationsübergreifendes Rentensystem auch in Zukunft gerecht und sicher ist. Meine Damen und Herren, zum Abschluss: Soziale Sicherheit zeichnet Deutschland seit Jahrzehnten aus. Wir sind die Besten in Europa, und das werden wir auch bleiben. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Weiler. Wir hier oben schließen uns den Genesungswünschen an Ihren Vater selbstverständlich an. Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/4668, 19/29 und 19/4843 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind wie immer damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 7,5 Millionen Menschen in Deutschland haben einen Minijob. Das sind 7,5 Millionen Menschen, die in den letzten fünf Jahren von der allgemein guten wirtschaftlichen Entwicklung und von der sehr guten Lohnentwicklung abgekoppelt geblieben sind, weil Sie es in den letzten Jahren versäumt haben, die starre Minijobgrenze von 450 Euro anzuheben. ({0}) Das ist ungerecht, und das kann nicht richtig sein. Ich denke beispielsweise an den 18-jährigen Niklas, der mir gestern Abend noch schrieb – er wohnt in Freising –, dass er mit dem 450-Euro-Job das Geld für seinen Führerschein verdient. Ich denke an die Schülerin, die in der Bäckerei arbeitet, in der ich mir samstagvormittags meine Brötchen kaufe, und die die Eigentümerfamilie in den Randzeiten entlastet. Und ich denke an den Oberstabsfeldwebel, der von seinem Einkommen natürlich seine Familie ernähren kann, der sich aber mit einem 450-Euro-Job sein Hobby, das Motorradfahren, extra finanzieren kann. Ich denke an die vielen Studierenden in Deutschland, die sich mit ihrem Minijob in Gastronomie und im Handel ihr Studium erleichtern, um einen Lebensstandard zu haben, der angemessen ist. Überall, liebe Kolleginnen und Kollegen, steigen die Löhne. Die Menschen verdienen in ihren Berufen mehr, und die meisten Menschen bekommen tatsächlich auch mehr. Ausgerechnet aber die Minijobber bleiben zurück. Für sie wirkt sich die allgemein gute Entwicklung bei den Löhnen nicht im Geldbeutel aus. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition, Sie haben es in den letzten fünf Jahren versäumt, diese starre Einkommensgrenze von 450 Euro anzuheben. Das ist ungerecht, und das wollen wir ändern. ({1}) Ganz besonders bitter ist es natürlich für die 700 000 Minijobber, die einen Arbeitslohn in Höhe des Mindestlohns haben. Der Mindestlohn steigt jedes Jahr; das ist richtig und auch gut so. Aber das wirkt sich gerade bei den Geringverdienern nicht im Geldbeutel aus. ({2}) Warum? Weil die Minijobgrenze starr bei 450 Euro beibehalten wurde. Das kann nicht richtig sein. Das muss geändert werden. ({3}) Deshalb haben wir einen Gesetzentwurf vorgelegt, der zweierlei regelt: Erstens wollen wir, dass alle Menschen von der guten wirtschaftlichen Lage, von den allgemeinen Lohnerhöhungen wirklich profitieren können. ({4}) Deshalb wollen wir, dass in einem ersten Schritt diese starre Minijoblohngrenze von 450 Euro zum 1. Januar 2019 deutlich angehoben wird, nämlich auf rund 550 Euro. Das sind 100 Euro mehr. Das haben sich die Menschen verdient. Das sind im Übrigen auch 100 Euro mehr, von denen die Arbeitgeber Sozialversicherungsbeiträge abführen werden. ({5}) Zweitens wollen wir weg von der starren Minijobgrenze hin zu einer Dynamisierung. Künftig soll die Minijobgrenze mit jeder Erhöhung des Mindestlohns auch automatisch steigen. So schlagen wir vor, dass ab dem 1. Januar 2019 nicht mehr ein starrer fixer Betrag die Minijobgrenze bildet, sondern dass in Zukunft die Minijobgrenze das 60-Fache des Mindestlohns beträgt. Damit steigt sie automatisch mit jeder Mindestlohnerhöhung. Das ist gut, das ist gerecht und koppelt niemanden mehr von der guten wirtschaftlichen Entwicklung ab. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition, ich bitte Sie: Stimmen Sie diesem Gesetzentwurf zu. Verweigern Sie den Menschen nicht ihren verdienten Lohn. Ja, liebe SPD, es ist in der Tat Zeit für mehr Gerechtigkeit. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Pascal Kober. – Nächster Redner: Torbjörn Kartes für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Torbjörn Kartes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004774, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Der Minijob in Deutschland hat schon eine sehr lange Geschichte. Bereits in der Reichsversicherungsordnung 1911 wurde festgelegt, dass vorübergehende Dienstleistungen versicherungsfrei bleiben. 1977 wurde zum ersten Mal überhaupt der Begriff der geringfügigen Beschäftigung eingeführt. 2003, übrigens unter Rot-Grün, wurde die Geringfügigkeitsgrenze auf maximal 400 Euro festgesetzt und der allzeit bekannte 400‑Euro-Job entstand. Dieser Betrag wurde dann 2013 auf die heute noch gültigen 450 Euro erhöht. Jetzt möchte ich heute keine rechtshistorische Vorlesung halten, sondern vielmehr auf folgende Punkte hinweisen. Der Minijob in unserem Land hat sich bewährt. Er ist ein gutes Instrument auf unserem insgesamt sehr guten Arbeitsmarkt, insbesondere in den letzten Jahren. Er wird von vielen Menschen in unserem Land gewollt und auch genutzt. Das gilt für den Schüler, für den Rentner, die Studentin, die sich etwas hinzuverdienen möchten. Hunderttausende Menschen wie sie haben darum dieses Modell gewählt und sind damit im Übrigen auch sehr zufrieden. Da bin ich voll und ganz bei Ihnen. Klar ist aber auch, dass viele andere einen Minijob zusätzlich ausüben, weil sie es müssen, weil ihr reguläres Einkommen nicht ausreicht, weil sie gar kein anderes Einkommen haben, weil die Rente nicht ausreicht. Ich bin dennoch der Meinung, dass wir den Minijob insgesamt nicht verteufeln sollten, sondern dass er für beide Fallgruppen ein gutes Instrument ist, am Ende des Tages mehr Geld in der Geldbörse zu haben. Aus unserer Sicht ist für die zukünftige Entwicklung wichtig, dass der Minijob nicht attraktiver sein darf als ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis. Um es noch deutlicher zu sagen: Unser gemeinsames Ziel ist und bleibt, dass möglichst viele Menschen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen, ({0}) für die Rente ansparen, auf eigenen Füßen stehen, im Erwerbsleben Halt finden, ihren Kindern ein Vorbild sind. Das beste Mittel gegen Armut ist, die Menschen in Arbeit zu bringen, und zwar in sozialversicherungspflichtige Arbeit. Dafür muss die Politik die Rahmenbedingungen schaffen, und das haben wir in den letzten Jahren äußerst erfolgreich getan. Um das noch mal ganz deutlich zu betonen: Unsere Arbeitslosigkeit ist historisch niedrig. 45 Millionen Menschen waren im August erwerbstätig. Das sind sogar noch einmal über eine halbe Million mehr als im letzten Jahr. Das sind im Übrigen alles sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse. ({1}) Wir wissen auch, dass immer noch viel zu viele Menschen auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Ich habe das bereits erwähnt. Deswegen haben wir heute Morgen auch einen anderen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, der die sogenannten Midijobs attraktiver machen möchte. Über den Begriff kann man streiten, aber in der Sache sind es gerade diese Jobs, die den Weg hin zu sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung erleichtern sollen. Um es noch einmal ganz kurz zu erläutern: Bisher war es so, dass derjenige, der zwischen 450 und 850 Euro verdient, weniger Abgaben zahlt. Wir wollen diese sogenannte Gleitzone, in der man weniger Abgaben zahlt, je weniger man verdient, deutlich ausweiten und auf insgesamt 1 300 Euro erhöhen. Das Besondere hierbei ist, dass die Midijobber in dieser Gleitzone zwar weniger Abgaben zahlen, aber dennoch volle Rentenansprüche erwerben. Das geschieht durch eine Umlagefinanzierung in der Rentenkasse. Das ist aus unserer Sicht ein richtiger Schritt für eine bessere Rente. Liebe Kollegen von der FDP, das unterscheidet uns im Übrigen auch von Ihrem Antrag; denn diese Regelung, die Aufstockung der Rentenbeiträge, sehen Sie in Ihrem Antrag gerade nicht vor.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung vom Kollegen der AfD?

Torbjörn Kartes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004774, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herzlichen Dank, Herr Kollege Kartes, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich bin irritiert über die Bemerkung, die Sie gerade gemacht haben, dass diese 45 Millionen Beschäftigten 45 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte seien. Es ist doch statistisch jedermann bekannt, dass 12 Millionen von diesen 45 Millionen nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Dieser, mit Verlaub, saloppe Umgang mit diesen sehr einfachen Fakten irritiert mich. Können Sie diese Irritation teilen?

Torbjörn Kartes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004774, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, da haben Sie mich falsch verstanden. Ich habe gesagt, dass 45 Millionen Menschen erwerbstätig waren ({0}) und dass das über 500 000 Menschen mehr sind als im Vorjahr und dass die Jobs aus dieser Mehrung alles sozialversicherungspflichtige Jobs gewesen sind. ({1}) – Das war klar. Das habe ich gesagt. Wenn Sie es nicht verstanden haben, dann wiederhole ich es ganz gerne noch mal. Ich möchte jetzt ganz kurz zum Vorschlag der FDP hinsichtlich der Anpassung des Rahmens kommen. Sie wollen hier den Rahmen eines Minijobs auf das 60‑Fache des gesetzlichen Mindestlohns festlegen. Was würde das bedeuten? Sie haben es in Zahlen gesagt: Wir wären heute schon bei 530 Euro im Monat, demnächst bei 550 Euro und 2020 bei 561 Euro. Dazu, um zum Schluss zu kommen, kann ich nur sagen: Das überzeugt uns, ehrlich gesagt, nicht. Das ist vor allen Dingen auch nicht im Sinne des Erfinders des Minijobs. Minijobs sollen ein Hinzuverdienst sein und nicht im Mittelpunkt einer Erwerbsbiografie stehen. Mit dem Vorschlag der FDP betreiben wir aber die Privilegierung der geringfügigen Beschäftigung deutlich zu stark ({2}) und verringern damit die Anreize, reguläre Arbeit aufzunehmen. Das wollen wir gerade nicht. Wir glauben vielmehr, dass wir mit der Stärkung der Midijobs auf dem richtigeren Weg sind, gerade für diejenigen, die unsere Unterstützung brauchen. Deswegen lehnen wir Ihren Vorschlag ab und werden unser Vorhaben weiterverfolgen. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Kartes. – Nächster Redner: Uwe Witt für die AfD-Fraktion. ({0})

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste des Hohen Hauses! In Deutschland arbeiten aktuell 7,5 Millionen Menschen in Minijobs. Diese sind für die Arbeitnehmer steuer- und meist auch sozialversicherungsfrei. Es gilt brutto für netto. Das ist für viele Arbeitnehmer attraktiv und rechnet sich auch für Arbeitgeber, die bei einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung und gleichbleibendem Bruttolohn deutlich höher belastet würden. Seit 2013 liegt die Verdienstgrenze bei Minijobs unverändert bei 450 Euro. CDU und FDP wollten das laut ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2017 ändern. Die FDP setzt ihr Wahlprogramm mit diesem Antrag konsequent um. Sie will die Verdienstgrenze künftig an den Mindestlohn koppeln und schlägt vor, die Höhe solle sich am 60-Fachen des Mindestlohnes bemessen. ({0}) Für alle geringfügig Beschäftigten, die regelmäßig bis an die Verdienstgrenze von derzeit 450 Euro arbeiten, gilt, dass eine Lohnerhöhung zwangsläufig zu einer Reduzierung der Arbeitszeit oder in ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis in der Gleitzone führt, egal ob das nun durch eine Anhebung des Mindestlohnes oder eine sonstige Lohnerhöhung, beispielsweise des Tariflohnes, erfolgt. Der Wechsel in ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ist in vielen Fällen weder für Arbeitnehmer noch für Arbeitgeber attraktiv. Wer Minijobs nicht durch sozialversicherungspflichtige Jobs ersetzen will oder kann und wer auch nicht die Anzahl an Minijobs erhöhen will, kommt um eine angemessene Erhöhung der 450-Euro-Grenze nicht herum. Es ist auch eine gute Idee, das dynamisch zu tun. 2017 wurden nur 1 Million Minijobs mit dem Mindestlohn oder darunter vergütet – 1 Million von über 7 Millionen Minijobs. Das bedeutet, dass 6 Millionen Minijobber oberhalb des Mindestlohnes verdienten. Der Mindestlohn ist durchaus als Bezugsgröße für eine dynamische Anpassung der Verdienstgrenze geeignet, weil er an die Tariflohnentwicklung gebunden ist. Die AfD stimmt im Grundsatz einer angemessenen Anhebung der Verdienstgrenze für Minijobs und der Verweisung in den Ausschuss zu. Wir wissen natürlich, dass innerhalb der Regierungskoalition unter einem SPD-geführten Ministerium für Arbeit und Soziales eine Anhebung der Einkommensgrenze bei Minijobs ein schwer durchzusetzendes Thema ist. Das Ministerium hat erst kürzlich darauf verwiesen, dass das nicht im Koalitionsvertrag steht. Tatsächlich findet man auf den 175 Seiten die Worte „geringfügige Beschäftigung“ gar nicht und das Wort „Minijob“ nur einmal, nämlich exklusiv auf Wunsch der SPD in Bezug auf Minijobs in der Zeitungsbranche, wo man den Arbeitgeberbeitrag zur Rentenversicherung um zwei Drittel senken möchte. Da stellte sich für mich die Frage, warum die SPD ausschließlich diesen Punkt behandelt haben wollte. Liebe Bürger, werte Kollegen, vielleicht sind Sie jetzt genauso überrascht, wie ich es war, wenn Sie hören, dass die DDVG, einer der größten deutschen Presse- und Medienkonzerne, im Besitz der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ist. Die DDVG hat über ganz Deutschland verteilt eine Verflechtung von Unternehmensbeteiligungen im Presse- und Medienbereich aufgebaut. Diese Unternehmensbeteiligungen sind derart komplex, dass 452 DIN-A4-Seiten gerade ausreichen, um alle darzustellen. Hierüber verbreitet die SPD nicht nur ihre sozialistische Ideologie. ({1}) Nein, sie verdient damit auch nicht schlecht. Bilden Sie sich einfach selber ein Urteil, wenn ich Ihnen erkläre, worum es geht. Für das Austragen aller Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland werden circa 300 000 Zusteller benötigt. Davon sind fast alle über einen Minijob auf 450-Euro-Basis tätig. Hierbei muss das jeweilige Unternehmen 15 Prozent Rentenversicherungsbeiträge und circa 15 Prozent weitere Abgaben zahlen. Für diese Unternehmen, also auch für die in SPD-Besitz befindliche DDVG, sollen diese 15 Prozent Rentenversicherungsbeiträge bis 2022 um zwei Drittel gesenkt werden. Diese Absenkung bringt den betroffenen Unternehmen eine Einsparung bis 2022 in einer Gesamthöhe von 550 Millionen Euro. ({2}) Liebe Kollegen, das ist die Politik, die die Volkspartei SPD zulasten der Steuerzahler seit Jahrzehnten betreibt. ({3}) Leider scheinen der SPD auch die Interessen der Arbeitnehmer – jedenfalls wenn es um die eigene Gewinnmaximierung geht – nicht besonders wichtig zu sein; denn bis Ende 2017 gab es eine Ausnahmeregelung, nach der auch die bei der SPD befindliche DDVG den Zeitungszustellern weniger als den Mindestlohn zahlen durfte. ({4}) Da macht die SPD Klientelpolitik für sich selbst und, wie bei Sozialisten üblich, natürlich auf Kosten anderer. ({5}) – Nein, Zwischenfragen lasse ich nicht zu. Kommen wir zu dem Antrag der FDP zurück.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Nein.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut.

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Liebe Kollegen, 7,5 Millionen Minijobber und 2,2 Millionen Arbeitgeber, bei denen diese beschäftigt sind, werden genau hinschauen, was wir hier machen; darunter ganz besonders die 2,8 Millionen Minijobber im Nebenerwerb, die bereits im Hauptjob Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Wenn es nach den Vorstellungen von Grünen oder Linken geht, soll es nämlich bald vorbei sein mit brutto für netto. Ich will gar nicht sagen, dass Minijobs keine Probleme mit sich bringen. 4,7 Millionen Minijobber sind ausschließlich geringfügig beschäftigt und haben keinen Hauptjob, in dem sie Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Da muss man sich schon fragen, ob der Gesetzgeber nicht bei den ausschließlich geringfügig Beschäftigten die Rahmenbedingungen so setzen sollte, dass eine Grundabsicherung in der Sozialversicherung erfolgt. ({0}) Man könnte zum Beispiel die Möglichkeit der Befreiung von der Rentenversicherungspflicht auf Minijobs im Nebenerwerb begrenzen. ({1}) Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es sich bei Minijobs ebenso wie bei Teilzeitjobs und Leiharbeit um prekäre Arbeitsverhältnisse handelt, von denen in der Regel niemand wirklich leben kann. Viele Minijobber im Nebenerwerb müssen neben ihrer Haupttätigkeit zusätzlich arbeiten, um überhaupt ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Zum wiederholten Male muss ich hier darauf hinweisen, dass eine beschäftigungspolitische Wende dringend überfällig ist und eine Reform des Hartz-IV-Systems damit einhergehen muss. Doch wie will man das machen mit einer Partei wie der SPD, deren ganzes Wirken die letzten Jahre mehr Ideologie als Vernunft, mehr Eigennutz als Bürgernähe und mehr Untergangssehnsucht als Verantwortung erkennen lässt? ({2}) Die SPD hat in einer durchaus selbstkritischen Analyse – aus Fehlern lernen – richtig erkannt, dass sie sich zu einer Volkspartei ohne Volk entwickelt. ({3}) Aber wenn man sich das kopflose Handeln der SPD-Führung in den letzten Wochen anschaut, gewinnt man nicht den Eindruck, als lerne hier irgendjemand aus Fehlern. Ich habe deshalb wenig Hoffnung, dass sich unter dieser Regierungskoalition noch etwas in die richtige Richtung bewegt. Umso wichtiger ist eine gute Oppositionsarbeit, zu der die AfD gerne zur Verfügung steht. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Uwe Witt. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat Dr. Barbara Hendricks.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ihre Bewertungen des Handelns der SPD interessieren in der Tat in diesem Haus keinen Menschen. Das will ich einmal ganz allgemein sagen. ({0}) Aber ich will zurückweisen, was Sie zur DDVG gesagt haben. Ich selbst bin sechs Jahre lang Schatzmeisterin der SPD gewesen, kann also tatsächlich von innen sagen, was die DDVG ist. Die DDVG ist die Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft. Sie ist eine Beteiligungsgesellschaft. Dazu gehört zum Beispiel auch ein Reiseservice, mit dem ich noch in diesem Jahr auf der Ostsee unterwegs war. Da gibt es natürlich keine Zusteller von Zeitungen, um das nur einmal als Beispiel zu sagen. Bei allen Tageszeitungen, an denen die DDVG beteiligt ist, gibt es keinen bestimmenden Einfluss. Der höchste Anteil, den die DDVG an einem Verlag hat, beträgt 23 Prozent. Alle anderen Beteiligungen sind niedriger. Das heißt also, es gibt keinen ökonomisch bestimmenden Einfluss und infolgedessen auch keinen Einfluss auf die Geschäftspolitik. Die Geschäftsführer agieren selbstverständlich nach dem GmbH-Gesetz frei. Wie soll das denn auch anders sein? Wenn man einen kleineren Anteil als 25 Prozent hat, kann man ja überhaupt gar niemanden in der Geschäftsführung bestimmen. Infolgedessen gibt es auch keinerlei Anweisungen in die Richtung, wie denn etwa mit Zeitungszustellern umzugehen sei. Alles andere, was Sie hier behauptet haben, entbehrt wirklich jeder Grundlage. Es passt in das Bild, das wir von Ihnen kennen: Unwahrheiten behaupten und so tun, als hätten Sie immer recht. Nein, Sie haben nicht recht. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Hendricks. – Herr Witt, bitte, wenn Sie mögen.

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich bin etwas enttäuscht, dass Sie Ihre eigenen Unternehmensverflechtungen nicht verstehen. Sie können gerne in meinen Unterlagen nachschauen. Auf 452 Seiten sind die unterschiedlichen Beteiligungen der DDVG aufgelistet. Hier steht: Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands – das sind Sie doch irgendwie –: 100 Prozent Beteiligung. ({0}) Aber vielleicht ist der Bericht, der im Internet veröffentlicht und jedermann zugänglich ist, auch einfach falsch. Danke schön. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen herzlichen Dank. – Nächste Rednerin: Gabriele Hiller-Ohm für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich komme zum Gesetzentwurf der FDP zurück. Liebe FDP, mit Ihrem Gesetzentwurf wollen Sie die Mini- und Midijobs deutlich ausweiten, und Sie, Herr Kober, nennen das auch noch gerecht. ({0}) Ich sage Ihnen: Mit Gerechtigkeit hat das überhaupt nichts zu tun. ({1}) Und ich sage Ihnen ganz klar: Das ist mit der SPD nicht zu machen. ({2}) Die Konjunktur boomt, die Arbeitslosenzahlen sinken. Warum, so frage ich Sie, wollen Sie gerade jetzt noch mehr Minijobs? Der Wirtschaft geht es blendend. Wäre es da nicht angebracht, endlich auch einmal an die Beschäftigten zu denken? ({3}) Wie wäre es mit guter Arbeit, unbefristeten sicheren Arbeitsverhältnissen, fairen Löhnen, die vor Armut schützen, und gerechten Aufstiegschancen? Eines ist sicher: Mit Minijobs und einer Ausweitung des Niedriglohnsektors – die Sie ja wollen – erreichen Sie das nicht. Minijobs führen glasklar in die Sackgasse. Sie sind eben kein Sprungbrett in eine reguläre, sozial abgesicherte Beschäftigung. Das ist durch zahlreiche Studien belegt.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Herrn Kober?

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. – Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, das wollen Sie ja auch gar nicht. Sie fühlen sich ausschließlich den Unternehmen verpflichtet. Das dokumentieren Sie ganz klar auch mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf. ({0}) Die Arbeitgeber sind es, die von kleinen, schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen profitieren; denn Minijobs bieten für Unternehmen ein hohes Maß an Flexibilität im Niedriglohnsektor. Besonders in kleinen und mittleren Betrieben haben Minijobs reguläre Beschäftigung oft schon verdrängt. Ganze Branchen leben inzwischen überwiegend von Minijobberinnen und Minijobbern. Im Dienstleistungssektor, vor allem in ländlichen Regionen, gibt es oft überhaupt keine ordentlichen Beschäftigungsalternativen mehr. Darunter leiden vor allem die Frauen; denn Minijobs sind nach wie vor eine Frauendomäne. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine schlechte Entwicklung. Die müssen wir stoppen. ({1}) Ich freue mich deshalb über jede Erhöhung des Mindestlohns; denn sie führt dazu, dass im Minijob immer weniger Stunden gearbeitet werden kann. ({2}) Auf diese Weise werden die Minijobs für Arbeitgeber hoffentlich sehr bald so unattraktiv, dass sie endlich wieder gute, sozial abgesicherte Arbeitsplätze anbieten. Das, meine Damen und Herren, ist der richtige Weg. ({3}) Geradezu zynisch ist es, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, in Ihrem Gesetzentwurf behaupten, Sie würden durch eine Ausweitung der Minijobs das Armutsrisiko in Deutschland verringern. Fakt ist, dass gerade die vielen Minijobs das Armutsrisiko für die Betroffenen immer weiter in die Höhe treiben. Ja, richtig: Viele Minijobberinnen und Minijobber meinen, geringfügige Beschäftigung sei eine gute Sache. Sie brauchen keine Steuern und Sozialabgaben zu zahlen. Sie haben das Geld also cash auf der Hand. Für Rentnerinnen und Rentner – da gebe ich Ihnen recht – und auch für Studierende sind Minijobs eine attraktive Zuverdienstmöglichkeit. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie – noch mal der Versuch – eine Zwischenfrage?

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein! Überhaupt nicht.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ja, gut, ich frage Sie ja nur.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wie aber sieht es mit den Millionen Menschen aus, die sich oft mit mehreren Minijobs durch ihr gesamtes Berufsleben hangeln? Keine Krankenversicherung, keine Absicherung bei Arbeitslosigkeit, jahrelang niedrige Löhne und in der Regel keine Chance, jemals wieder aus den Minijobs herauszukommen. Dazu kommt: keine Absicherung im Alter. Über 80 Prozent der geringfügig Beschäftigten lassen sich vom Arbeitnehmeranteil der Rentenversicherung befreien und erwerben dadurch überhaupt keine Rentenansprüche. Diese Menschen haben übrigens auch keinen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente im Fall einer Berufsunfähigkeit. Altersarmut ist da fest vorprogrammiert. Millionen von hart arbeitenden Menschen werden somit von Aufstieg und Wohlstand systematisch abgehängt. Die FDP befördert das mit dem Gesetzentwurf, den Sie uns heute vorgelegt haben. ({0}) Dazu sagen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Nein! ({1}) Aber natürlich sehen wir auch, dass nicht alle Menschen zu jeder Zeit ihres Berufslebens in Vollzeit arbeiten können. Wenn Kinder da sind oder Angehörige gepflegt werden müssen, bleibt als Möglichkeit, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, oft nur der Minijob. Das, meine Damen und Herren, werden wir jetzt ändern, zum Beispiel mit der Brückenteilzeit. ({2}) Die werden wir hoffentlich schon in der nächsten Woche durch das Parlament bringen. Mit der Brückenteilzeit ermöglichen wir es Millionen Beschäftigten in regulärer Beschäftigung, ihre Arbeitszeit zu verkürzen, um dann, rechtlich abgesichert, wieder voll einsteigen zu können. Wichtig ist dafür aber natürlich, dass wir Menschen aus prekärer Beschäftigung, also aus Unsicherheit, schlechter sozialer Absicherung, mieser Bezahlung und schlechten Arbeitsbedingungen, herausbekommen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit. Sie sind wieder mal drüber. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist nur mit guter Arbeit und sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu erreichen, und dafür kämpfen wir. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen herzlichen Dank. – Wenn Sie überziehen, dann ziehe ich die Zeit bei den Kollegen ab. Das müssen Sie dann in Ihrer eigenen Familie austragen. Nächste Rednerin: Susanne Ferschl für die Fraktion Die Linke. ({0})

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf den Tribünen! Wie immer, wenn die FDP vorgibt, etwas im Sinne der Beschäftigten zu tun, ist das nicht mehr als schöner Schein; das haben wir auch beim vorigen Tagesordnungspunkt gesehen. ({0}) Sie behaupten, die Beschäftigten profitieren von einer Dynamisierung und von einer Anhebung der Minijobgrenze. In Wahrheit wollen Sie aber nur den Niedriglohnbereich erhalten und damit Ihre Klientel, nämlich die Arbeitgeber und Unternehmerverbände, bedienen. ({1}) Auf den ersten Blick scheinen Minijobs auch aus Arbeitnehmersicht finanziell attraktiv zu sein. Man erhält Lohn scheinbar ohne Abzüge. Beschäftigte sind von Steuer- und Versicherungsabgaben befreit, aber sie sind auch frei von sozialem Schutz. ({2}) Lieber Kollege Kober, es ist Unsinn, zu behaupten, Sie wollen die Minijobgrenze anheben, weil die Mindestlohnerhöhungen ins Leere laufen und die Menschen daran nicht partizipieren. Die Menschen profitieren von einer Arbeitszeitverkürzung, das heißt, sie arbeiten für den gleichen Betrag kürzer. Ihr Problem ist doch ein ganz anderes. Ihr Problem ist, dass den Unternehmen billige Arbeitskräfte kürzer zur Verfügung stehen, ({3}) und das schmälert die Attraktivität der Minijobs aus Sicht der Unternehmen, insbesondere des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes. ({4}) Darum geht es: Am liebsten würden Sie den Mindestlohn doch lieber heute als morgen abschaffen. Aber die FDP ist ja als verlässlicher Steigbügelhalter der Unternehmens­interessen bekannt. ({5}) Die Mövenpick-Steuer liegt schon einige Zeit zurück, deswegen ist es mal wieder Zeit für ein Geschenk an den DEHOGA, den Deutschen Hotel- und Gaststättenverband. ({6}) Für die Menschen bedeutet ein Minijob, dass sie sich nicht eigenständig gegen die Standardrisiken des Lebens schützen können: keine Absicherung in der Krankenversicherung, keine Arbeitslosengeldansprüche und Rentenansprüche, die nie und nimmer zum Leben reichen. Minijobber sind immer abhängig, entweder vom Ehepartner, von der Familie oder vom Amt. In vielen Fällen ist ein Minijob nicht gewollt, sondern absolut notwendig, weil der reguläre Job oder die Rente eben nicht zum Leben reichen. Es gibt Frauen – zwei Drittel aller Minijobber sind Frauen –, die haben nachts einen Putzdienst, arbeiten morgens an der Rezeption und betätigen sich abends noch als Näherin. Das ist kein privates Vergnügen, sondern bittere Realität für immer mehr Menschen in unserem Land. ({7}) In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Minijobber im Nebenjob um 1 Million auf 2,8 Millionen angestiegen, und wir sprechen hier nicht von hochdotierten Nebenjobs wie bei der nordrhein-westfälischen Landesregierung, die jetzt einen ähnlichen Antrag in den Bundesrat einbringen will. Ich habe auch einen Nebenjob; er ist jedoch nicht hoch dotiert. Ich bin Betriebsrätin, und ich weiß, auf welcher Seite ich stehe: auf der Seite der Beschäftigten. ({8}) Als Betriebsrätin möchte ich Ihnen gern einmal die Praxis Ihrer Politik vor Augen führen. Minijobber im Betrieb sind fast immer Beschäftigte zweiter Klasse, die meisten pauschal als Aushilfen eingruppiert, unabhängig davon, ob sie eine qualifizierte Tätigkeit ausüben oder nicht. Die Löhne liegen weit unter denen der regulär Beschäftigten. Viele Minijobber müssen aufstocken. 2017 wurden 4,2 Milliarden Euro an Aufstockerleistungen gezahlt, 1 Milliarde Euro davon an Beschäftigte aus der Hotel- und Gaststättenbranche – Nachtigall, ick hör dir trapsen! ({9}) Das sind Steuergelder, das heißt, der Staat subventioniert diese Lohndrückerei auch noch. In der Praxis werden den Minijobbern häufig Urlaubsansprüche und Sonderzahlungen, wie zum Beispiel das Weihnachtsgeld, verwehrt; Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge finden überhaupt keine Anwendung, und es gibt meist nicht einmal Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Das ist die bittere Realität von Minijobs, und das ist der Grund, warum Arbeitgeber trotz der höheren pauschalen Sozialabgaben ein so großes Interesse an den Minijobs haben: weil letztendlich trotzdem noch ein größerer Profit aus den Beschäftigten herausgequetscht werden kann. ({10}) Wenn Sie für diese Menschen etwas tun wollen, dann stärken Sie Mitbestimmungsstrukturen sowie Tarifverträge und erhöhen Sie den Mindestlohn. ({11}) Aber Sie wollen ja beides nicht. Im Übrigen würde Ihr Antrag dazu führen, dass eine halbe Million Menschen aus der Sozialversicherung in prekäre Minijobs gedrängt würden. Das ist absolut unverantwortlich. Minijobs sind – das ist schon gesagt worden – keine Brücke in reguläre Beschäftigung. Es gibt so gut wie keine Aufstiegs­chancen, Weiterbildung in diesen Jobs findet gar nicht erst statt – gerade für Frauen eine biografische Sackgasse. Der Erste Gleichstellungsbericht der Bundesregierung bezeichnet Minijobs nicht umsonst als desaströs. ({12}) Wir sagen: Schluss damit! Es wird Zeit, dass man diesen Sumpf austrocknet. Die Subventionierung des Niedriglohnsektors muss endlich unterbunden werden. ({13}) Deswegen fordert Die Linke einen Mindestlohn von wenigstens 12 Euro und die Einbeziehung aller Beschäftigten in die Sozialversicherung, damit alle entsprechend abgesichert sind. ({14}) Die Sozialversicherungspflicht muss ab dem ersten Euro gelten. Eine kleine Anmerkung noch zum Schluss: Auch die CSU ist da ganz auf der Linie der Unternehmensverbände. Mein Wahlkreiskollege Stephan Stracke ist jetzt leider nicht mehr da, aber er hat erst jüngst von mitwachsenden Minijobs gesprochen – die gleiche Wortwahl wie die der DEHOGA-Geschäftsführerin Frau Hartges. Ich würde sagen: Wer gute, sozialversicherungspflichtige Arbeit und einen solidarischen Sozialstaat möchte, der macht am Sonntag sein Kreuz an der richtigen Stelle. Vielen Dank. ({15})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Susanne Ferschl. – Nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen: Beate Müller-Gemmeke. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste auf den Tribünen! Beim Minijob ist heute bei 450 Euro Schluss, und jetzt will die FDP einen 550-Euro-Job. Die Begründung ist ganz einfach: Sie sprechen von der Tarifentwicklung und der Teilhabe am Arbeitsleben. Das zeigt: Im Weltbild der FDP ist beim Minijob alles super – in der Realität sieht das aber anders aus. ({0}) Minijobs sichern nicht die Existenz der Menschen, ({1}) und sie sind auch keine Brücke in reguläre Beschäftigung. Mehr Geld im Minijob hilft auch nicht den Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II, ({2}) auch wenn das in Ihrem Gesetzentwurf steht; ({3}) denn der größte Teil – daher kann man sich die Frage ersparen – wird sofort wieder verrechnet. Die 550-Euro-Jobs helfen diesen Menschen kein Stück weiter.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage? – Ach, das war gar nicht so gemeint? ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, es wird verrechnet. Ich wusste ja, was gefragt wird. – Aber wenn wir jetzt gerade – –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Moment, stopp! Er meldet sich deutlich, oder? – Gut. Darf er oder darf er nicht?

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich würde jetzt einfach weitermachen – und zwar gleich mit Herrn Vogel, da er eben beim Thema Rente die Bundesregierung kritisiert und gemeint hat, sie würde zu wenig nach vorne schauen. Was heißt das jetzt eigentlich beim Minijob? Diese Jobs sind die Altersarmutsfalle Nummer eins, und nun wollen Sie sie auch noch auf 550 Euro ausweiten. Minijobs bedeuten Minirenten, daher droht vielen Frauen Altersarmut, und im Übrigen sind Minijobs häufig auch noch eine berufliche Sackgasse. Genau diese Realität sollten Sie, die FDP, endlich zur Kenntnis nehmen. ({0}) Von einer Ausweitung der Minijobs würde stattdessen vor allem die Wirtschaft profitieren. Die 550 Euro bedeuten mehr Arbeitsstunden und mehr Arbeitsleistung. Damit könnten die Beschäftigten wieder mehr Stunden eingesetzt werden, und zwar flexibel und kurzfristig. So läuft das beispielsweise bei der Arbeit auf Abruf; denn das sind vor allem Minijobs. Dies alles lohnt sich für die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, und deshalb gibt es mittlerweile im Gastgewerbe und auch im Wohnungswesen genauso viele Minijobs wie sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Das geht gar nicht. Diese Entwicklung wollen wir stoppen. ({1}) Deshalb wollen wir die Minijobs nicht ausweiten, sondern stattdessen die Hürden im Übergang zu regulärer Beschäftigung abbauen. Unser Ziel ist sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Der Mindestlohn hat dabei übrigens viel bewirkt. Wir könnten ja zusammen dafür streiten, dass der Mindestlohn weiter erhöht wird. Es gibt jetzt weniger Minijobs und dafür mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, besonders in Ostdeutschland und im Handel. Davon profitieren die Beschäftigten tatsächlich: Sie können länger arbeiten, sie verdienen mehr, und sie haben einen höheren Lohn. Genau so muss es sein. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Johannes Vogel von der FDP-Fraktion.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Beate Müller-­Gemmeke, es wurde gerade wieder gesagt, der Minijob sei für viele Menschen eine Falle. Ist Ihnen, ist dir bekannt, dass alle repräsentativen Umfragen, die es unter Minijobbern gibt, ergeben haben, dass die weit, weit überwiegende Zahl der Minijobber in einer Lebenssituation ist, in der sie gar nichts anderes haben wollen – weil sie zum Beispiel Studenten sind oder sich in bestimmten anderen Lebenssituationen befinden – als diese unkomplizierte Möglichkeit, sich etwas dazuzuverdienen? Sollten wir dann nicht für die kleine Minderheit, die gern etwas anderes hätte als einen Minijob, die wahren Ursachen dieses Problems beseitigen: die ungerechte Steuerklasse V, die unfairen Zuverdienstgrenzen bei Hartz IV und all die Ursachen, die in Wahrheit die Menschen „einsperren“, ({0}) aber nicht diejenigen leiden lassen, die sich im Minijob einfach unkompliziert etwas hinzuverdienen wollen und seit Jahren in diesen Möglichkeiten reduziert werden, weil wir in der Sozialpolitik mit der Lohnentwicklung alles dynamisieren, nur die Minijobs nicht? Das macht doch keinen Sinn. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Vogel. – Frau Müller-Gemmeke.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Kollege Vogel, ich habe es eben gesagt: Es wird deutlich, dass die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in vielen Branchen immer mehr auf Minijobs setzen, ({0}) zum Beispiel bei der Arbeit auf Abruf im Gastronomiebereich und in den Hotels. Dort werden immer mehr Minijobber beschäftigt, die mal arbeiten können und mal nicht. Sie haben keine Planungssicherheit und wissen nicht, welches Einkommen sie am Ende monatlich haben. Diese Entwicklung finden wir schlecht. Was mich immer wundert, ist: Warum können die Menschen, die wenig arbeiten wollen – aufgrund von Kindern, Pflege etc. –, nicht einfach sozialversicherungspflichtig wenig arbeiten? ({1}) Dann hätten sie trotzdem einen Rentenanspruch, und sie wären abgesichert, sozialversichert etc. Das würde doch genauso funktionieren. Also: Wir sollten dafür sorgen, dass es mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gibt, die gut abgesichert ist und durch die die Menschen einen Rentenanspruch erwerben. In diese Richtung muss es gehen. Wir sollten nicht stattdessen den Fehlanreiz noch erhöhen, unabgesichert in kleinen Minijobs zu arbeiten. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion: Antje Lezius. ({0})

Antje Lezius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004341, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kaum eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme wurde in den letzten Jahren so kontrovers diskutiert wie die Regelungen zu den sogenannten Minijobs und den geringfügig Beschäftigten. Dabei ist die Versicherungsfreiheit von Nebenbeschäftigungen so alt wie die Sozialversicherungsgesetze. Beginnen wir mit den Minijobs. Heute sind Minijobs ein flexibles Instrument im deutschen Arbeitsmarkt. Gerade für Schüler und Studierende sowie Rentner erlauben sie eine einfache Art des Hinzuverdienstes. Auch gibt es Personengruppen, die ihren Hauptjob um Tätigkeiten ergänzen wollen, die Spaß machen oder die Prestige bringen. Wenn der Universitätsprofessor noch eine Beratung durchführt oder der Fabrikarbeiter abends mit seiner Band auftritt, dann sind diese Tätigkeiten für die Alterssicherung ohne wesentliche Bedeutung, dann muss hier nicht der Teufel der prekären Beschäftigung an die Wand gemalt werden. Für diejenigen, die längere Zeit ohne Beschäftigung sind, kann ein Minijob ein erster Schritt sein. Er kann einen Beitrag zur Aktivierung und Wiedereingliederung von Arbeitslosen in die Beschäftigung leisten. Auch für die Bekämpfung der Schwarzarbeit sind Minijobs von Bedeutung. Durch diese unbürokratische Beschäftigungsmöglichkeit sind vor allem mehr haushaltsnahe Dienstleistungen aus dem Bereich der Schattenwirtschaft herausgekommen. Die Arbeitsbedingungen der Minijobber dürfen nicht schlechter sein als bei vergleichbaren sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Der Minijobber hat den gleichen Kündigungsschutz und Anrecht auf Urlaub und Entgeltfortzahlung. Es ist wichtig, dass dies im Berufsalltag auch umgesetzt wird, meine Damen und Herren. Für Minijobs zahlt der Arbeitgeber eine Sozialabgabe in Höhe von rund 30 Prozent des Bruttolohns. Er leistet also einen Beitrag zur Sozialversicherung, der höher ist als bei regulärer Beschäftigung. ({0}) Ich sage es ganz offen: Einer moderaten Erhöhung der Verdienstgrenzen könnte ich als ehemalige Unternehmerin etwas abgewinnen, nicht jedoch dem vorgeschlagenen Automatismus. Vor allem ist mir eines wichtig: die Umsetzung unseres Koalitionsvertrages; denn der beinhaltet eine ganze Reihe von bedeutenden Punkten. Hierzu gehören unter anderem die Einführung einer Brückenteilzeit, mit der wir Frauen aus der Teilzeitfalle holen, das Teilhabechancengesetz, durch das wir Langzeitarbeitslosen den Weg zurück zur Beschäftigung ebnen, das Qualifizierungschancengesetz, mit dem wir Arbeitslosigkeit durch rechtzeitige Beratung und passgenaue Förderung gar nicht erst entstehen lassen und besonders kleine Unternehmen unterstützen, das Fachkräftezuwanderungsgesetz, um den Zuzug der benötigen Fachkräfte zu steuern und an unseren Bedarf anzupassen, die bessere Gestaltung der Arbeitszeit, wobei wir mit Maß flexibilisieren wollen und die Gesundheit im Blick behalten werden, eine nationale Weiterbildungsstrategie, damit wir die Chancen der Digitalisierung besser nutzen können. All das sind Vorhaben, die die Union und die SPD zusammen umsetzen, um unser Land voranzubringen und Arbeit zukunftsfähiger zu gestalten. ({1}) Ebenfalls im Koalitionsvertrag festgelegt ist, dass wir die geringfügigen Beschäftigungen in der Gleitzone stärken, die sogenannten Midijobs. Midijobs sind die Brücke in versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Wir werden hier die Verdienstmöglichkeiten deutlich anheben. Damit profitieren mehr Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen von niedrigen Beiträgen, ohne dass sich ihre Rentenanwartschaften verschlechtern. Beschäftigungen zwischen 450 und 1 300 Euro werden attraktiver. Unsere Linie ist: Wir behalten das flexible Instrument der Minijobs, aber vor allem entlasten wir die Beschäftigung in der versicherungspflichtigen Gleitzone. Meine Damen und Herren, das ist verantwortungsvoll im Sinne der Bürgerinnen und Bürger. Danke schön. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen herzlichen Dank, Frau Lezius. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion: Dr. Marcel Klinge. ({0})

Dr. Marcel Klinge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004782, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Hiller-Ohm, wie sage ich es möglichst höflich? Spätestens nach Ihrem Auftritt heute wird die SPD in Bayern von keinem Minijobber mehr eine Stimme bekommen. Weiter weg von der Realität können Argumente nicht sein. ({0}) Meine Damen, meine Herren, die Studentenkneipe in Regensburg, der Traditionsgasthof am Starnberger See und der Biergarten im Allgäu stehen vor dem Aus. ({1}) Der Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel in vielen Betrieben im Tourismus ist mittlerweile zur Existenzfrage geworden. ({2}) Vor allem Wirte und Gastronomen trifft dieses Problem mit ganzer Wucht. Die Folgen sind weitreichend. Schauen wir nach Bayern, unserem Branchenprimus in Sachen Tourismus: Seit 2006 hat dort jede vierte Schankwirtschaft zugemacht. Nachfolger bleiben massenhaft aus. Wer möchte schon dauerhaft sieben Tage die Woche schuften, wenn ihm die Mitarbeiter fehlen? Die FDP-Fraktion wird dieser Entwicklung nicht tatenlos zusehen. ({3}) Wir wollen dem Fachkräfte- und Arbeitskräftemangel im Tourismus und darüber hinaus mit einem Maßnahmenpaket entgegenwirken. Unsere Vorschläge zur qualifizierten Zuwanderung haben wir gestern vorgelegt. Wir reden nicht nur, wie die GroKo, sondern wir legen Ideen vor. ({4}) Wir brauchen mehr Wertschätzung und Unterstützung für die Ausbildungsarbeit vor Ort. Wir wollen – darum geht es heute –, dass beispielsweise die 1,1 Millionen Minijobber im Gastrogewerbe auch weiterhin ihre Stunden arbeiten können. ({5}) Der Mindestlohn klaut Wirten und Mitarbeitern gleichermaßen, wenn wir ihn nicht automatisch regelmäßig anpassen, wertvolle Arbeitszeit. ({6}) Das 60-Fache des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns als Verdienstgrenze für den Minijob heißt für den Wirt: 60 Stunden im Monat Planungssicherheit, die er nutzt, um sein Saisongeschäft, den Service bei gutem Wetter und das Weihnachtsgeschäft zu garantieren. Und das heißt für die fleißigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dass sie regelmäßig am Ende des Monats mehr in der Tasche haben. ({7}) Das ist doch eine vernünftige Politik, von der alle Beteiligten profitieren. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Ihr Auftritt heute hat wieder einmal gezeigt, dass Sie in der Arbeitsmarkt- und Mittelstandspolitik die Interessen von kleinen und mittleren Betrieben völlig aus dem Auge verloren haben. ({9}) Es reicht eben nicht aus, wenn Minister Altmaier sich regelmäßig als neuer Ludwig Erhard inszeniert. Es reicht eben nicht aus, dass die Handvoll Wirtschaftspolitiker, die Sie noch in Ihren Reihen haben, nach solchen Debatten wie heute kommen und sagen: Ihr von der FDP habt ja eigentlich recht; aber die SPD lässt uns nicht. – Noch sind Sie in Bayern nicht unter 30 Prozent gefallen. ({10}) Deswegen sage ich: Machen Sie endlich wieder Politik für die Leistungsträger in unserem Land, und honorieren Sie unternehmerischen Einsatz im Tourismus und darüber hinaus! ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Klinge. – Nächster Redner für die SPD-Fraktion: Bernd Rützel. ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Klinge, es gibt einen Unterschied zwischen Wollen und Können. Beides muss sich bedingen. Wenn man will und wenn man kann, dann können wir Politik machen. ({0}) Sie wollen zwar, aber sie können nicht. Dieses Können hätten Sie gekonnt, wenn Sie in die Regierung eingetreten wären. ({1}) Das haben Sie aber nicht gemacht. ({2}) Lieber Pascal Kober, wir haben es in der letzten Zeit nicht versäumt, die Regelungen für Minijobs auszuweiten, sondern wir wollen das nicht. Wir machen das nicht, weil wir ein anderes Verhältnis, eine andere Denkweise dazu haben; denn Minijobberinnen und Minijobber sind nicht krankenversichert, auch nicht pflegeversichert, ({3}) und die zahlen auch nicht in die Arbeitslosenversicherung ein, ({4}) und die meisten lassen sich auch von der Rentenversicherungspflicht befreien. 7,5 Millionen Minijobber gibt es. Zwei Drittel davon – wir haben es gehört – sind ausschließlich geringfügig beschäftigt. Ihr Freund, Ihr Kollege, der Sie angerufen hat, den Sie zitiert haben, der sich samstags ein paar Brötchen hinzuverdienen will, kann das tun. Er kann jeden Samstag zehn Stunden arbeiten; dann ist er immer noch im Bereich von 450 Euro, in dem ein Minijob möglich ist. Wenn er mehr machen will, dann empfehle ich ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis; denn auch dann ist für ihn gesorgt. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Rützel, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Herrn Kober?

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Natürlich.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kober, bitte.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Lieber Kollege Rützel, Sie haben gesagt, die Minijobber seien nicht krankenversichert und nicht rentenversichert. Wollen Sie nicht vielleicht auch zur Kenntnis nehmen, dass beispielsweise Schülerinnen und Schüler und Studierende krankenversichert sind? ({0}) Wollen Sie nicht auch zur Kenntnis nehmen, dass eine Ehefrau, die einen Minijob macht, familienmitversichert ist? ({1}) Wollen Sie nicht vielleicht auch zur Kenntnis nehmen, dass es, wie ich ausgeführt habe, Menschen gibt, die voll sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind – und zwar durchaus nicht prekär –, die auch renten- und sozialversicherungspflichtig beschäftigt und damit krankenversichert sind? Wollen Sie nicht auch das zur Kenntnis nehmen?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Rützel.

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zum Glück ist in unserem Land fast jeder krankenversichert, rentenversichert und arbeitslosenversichert. Das ist nämlich unser Solidarsystem. Das ist unser Sozialstaat. Das ist die Solidarität, die wir haben. ({0}) Das Entscheidende sind einfach die Fragen: Wer zahlt ein? Wer bezahlt die Zeche? Wer steht für andere ein, die von dieser Leistung profitieren? Das ist der springende Punkt. ({1}) „Solidarsystem“ heißt sich gegenseitig unterhaken und sich gegenseitig mitnehmen. ({2}) Es heißt nicht, dass nur die einen den Profit haben. Ich gönne es jedem, einen Minijob zu machen – ob Rentner, Schülerin oder Schüler –, und das mag, kurz gedacht, vielleicht auch ganz sinnvoll sein. Aber am Ende des Tages stehen diese Menschen oft alleine da, ohne Altersversorgung und ohne vorgesorgt zu haben. Ich weiß, dass auch Sie seit eh und je ein Kämpfer für den Mindestlohn waren. Ist meine Kenntnis da richtig? ({3}) – Schön, darüber freue ich mich. – Es ist gut, dass der Mindestlohn die Minijobs nicht aufgelöst hat, sondern dass sie in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt wurden. ({4}) Da wir ja gerade etwas über den schönen Starnberger See gehört haben, wo es wunderbare Gaststätten gibt: Im Gaststättengewerbe hatten wir die höchste Zuwachsrate, was die Umwandlung von Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung betrifft. In dieser Branche sind gute Arbeitsbedingungen ganz wichtig. Das sagt nicht nur die SPD, sondern auch der DEHOGA, der zuständige Verband. Denn da braucht man Menschen, und Menschen bekommt man heute nur noch, wenn es gute, ordentliche Arbeitsbedingungen gibt. Das ist das Fundament, auf dem man aufbauen kann. ({5}) Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf, dass die Erhöhung des Mindestlohns – wir freuen uns darüber, dass er erhöht wird – bei den Menschen, die in einem Minijob sind, nicht ankommt. Das suggeriert dieser Gesetzentwurf zumindest. Meine Kollegin Gabi Hiller-Ohm hat schön ausgeführt und, wie ich finde, blendend aufgezeigt ({6}) – das muss ja nicht jedem gefallen, aber das sind unsere Positionen –, dass infolge der Erhöhung des Mindestlohns, wenn der Betrag von 450 Euro also gleich bleibt, für dieses Geld natürlich weniger gearbeitet werden muss. ({7}) Also kommt der Mindestlohn natürlich auch bei diesen Leuten an. Das Ziel ist doch, im Rahmen dessen, was geboten wird, so viel wie möglich für meiner Hände Arbeit zu bekommen. Ich bin froh, dass wir darüber hinaus Tarifverträge haben, die die Menschen viel besser absichern. Im Übrigen gibt es davon noch viel zu wenige; denn nur jeder Zweite fällt unter den Schutz eines Tarifvertrages. Zusammenfassend möchte ich an dieser Stelle sagen, dass die Umwandlung in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vor allen Dingen Frauen, Älteren und Ostdeutschen sehr zugutegekommen ist. Diese Gruppen waren von diesen Beschäftigungsverhältnissen nämlich am meisten betroffen. Diese Entwicklung finde ich äußerst positiv und erfreulich. Wenn Sie diese Entwicklung umkehren wollen, dann sieht man daran, wo die verschiedenen politischen Linien verlaufen. Das ist auch in Ordnung; das soll man ja auch sehen. Wir sind ganz klar für sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Wir sind der Meinung, dass die 450‑Euro-Jobs vorübergehend ganz interessant sein können, dass sie aber auf lange Sicht nicht dazu beitragen, Altersarmut zu verhindern und den Menschen eine Absicherung zu bieten. Ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis – vorhin haben wir über die Rente gesprochen – ist das Fundament für ein gutes Miteinander. Vielen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Bernd Rützel. – Nächster Redner: Wolfgang Strengmann-Kuhn für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland gibt es 7,5 Millionen geringfügig Beschäftigte, davon fast 5 Millionen, die ausschließlich eine geringfügige Beschäftigung haben. Das sind definitiv viel zu viele. Wir wollen, dass es weniger werden, und wir wollen geringfügige Beschäftigung in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung umwandeln. Das muss unser gemeinsames Ziel sein. ({0}) Es ist gut, dass durch den Mindestlohn – der Kollege Rützel hat das eben beschrieben – genau das passiert ist. Das ist sehr zu unterstützen. Diesen Weg müssen wir weitergehen. Wir müssen mehr Selbstbestimmung und mehr Freiheit für die Menschen hinbekommen, indem wir Grenzen und Hürden abbauen, und nicht, indem wir Grenzen und Hürden zementieren, wie Sie es in Ihrem Gesetzentwurf machen. Ich werde in der kurzen Zeit drei Punkte ansprechen, die aus grüner Sicht wichtig sind, wie man diese Hürde abschafft, um die Minijobfalle, die es real gibt – empirisch –, zu überwinden. Der erste Punkt ist der Einbezug in die gesetzliche Rentenversicherung. Derzeit gibt es das Opt-out-System, mit dem Ergebnis, dass die meisten aus der gesetzlichen Rentenversicherung aussteigen. Das wollen wir abschaffen, damit die Menschen in der gesetzlichen Rentenversicherung abgesichert sind. Das ist ein Schutz vor Altersarmut und führt dazu, dass die Grenze zwischen Minijobs und darüber hinausgehender Beschäftigung beseitigt wird und es einen Anreiz für sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gibt. ({1}) Der zweite Punkt. Von einem Minijob kann man nicht leben, ({2}) sondern man lebt von irgendetwas anderem. ({3}) Eine Möglichkeit ist, dass man vom Partner oder von der Partnerin lebt. In Deutschland gibt es massive Anreize für eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung: ein Hauptverdiener und ein Minijobber. Sie haben eben explizit gesagt, dass Sie da an die Ehefrauen denken. ({4}) Das ist Ihr Frauenbild in der FDP. Unser Frauenbild ist das nicht. Wir wollen gleichberechtigte Erwerbstätigkeit und auch für Frauen eine eigenständige Absicherung und ein eigenständiges Einkommen. ({5}) Dafür muss man bei den Anreizen ansetzen, zum Beispiel das Ehegattensplitting abschaffen und es durch eine Kindergrundsicherung ersetzen. Wir wollen nicht die Ehe, sondern die Kinder fördern. Auch das würde dazu beitragen, mehr Anreize für sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu schaffen. ({6}) Dritter Punkt – er ist mir besonders wichtig –: Viele Minijobber stocken mit Hartz-IV-Leistungen auf. Da nützt Ihre Regelung überhaupt nichts; denn dadurch würde sich bei den Leuten netto überhaupt nichts verändern. ({7}) Hier ist wichtig, zu sehen, dass bei den Anreizen, die es derzeit gibt, die Belohnungen viel zu schwach sind. Die ersten 100 Euro darf man bei einem Minijob dazuverdienen, wenn man Hartz IV bezieht. Danach wird jeder zusätzliche Euro mit 80 Prozent besteuert. ({8}) Eigentlich haben wir den Spitzensteuersatz, also bei den unteren Einkommen. Auch das müssen wir ändern. Wir müssen endlich dazu kommen, dass sich Erwerbstätigkeit wieder lohnt und belohnt wird. Deswegen streiten wir Grüne für eine Garantiesicherung, bei der die Transferentzugsrate – so heißt das ja technisch – deutlich gesenkt wird, damit es sich wieder mehr lohnt, wenn die Menschen mehr arbeiten, auch wenn man einen Minijob hat. Wir Grüne wollen die Minijobfalle und die Armutsfalle beseitigen und die Menschen befreien. Die FDP will die Fallen beibehalten und größer machen. ({9}) Das ist der Unterschied zwischen uns: Uns geht es um Freiheit, Selbstbestimmung und bessere soziale Absicherung, ({10}) Ihnen geht es darum, die Fallen beizubehalten. Vielen Dank. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Strengmann-Kuhn. – Nächster Redner: Peter Aumer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Minijobs sind ein wichtiges arbeitsmarktpolitisches Instrument für Beschäftigte und Betriebe in Deutschland geworden. Warum? Erstens: Sie ermöglichen vielen Menschen den Einstieg in die Arbeitswelt. Zweitens: Sie ermöglichen ohne großen bürokratischen Aufwand Hinzuverdienst. Drittens: Sie bieten Unternehmen Flexibilität. Lieber Herr Dr. Klinge von der FDP, ich glaube, Sie brauchen uns, die Union, also diejenigen, die maßgeblich für die soziale Marktwirtschaft in unserem Land verantwortlich waren, ({0}) nicht zu erklären, wie das funktionieren soll. Wir stehen für die soziale Marktwirtschaft in Deutschland wie kein anderer. Ich glaube, auch wir in Bayern können sehr gut Politik. Bayern steht hervorragend da. ({1}) Wir müssen uns von Ihnen nicht erklären lassen, wie das zu funktionieren hat. Da, glaube ich, muss schon jemand anders kommen. Ich unterstreiche das, was Herr Rützel gesagt hat: Es geht um das Wollen und Können. Wir haben gestern schon den Populismus der FDP im Hinblick auf den Soli beobachtet. ({2}) Heute geht es bei Ihnen also in diese Richtung. Ich glaube, dass die Menschen in Bayern am Sonntag sehr wohl anders entscheiden, als Sie es sich erhoffen. ({3}) – Nein, bin ich gar nicht. Jetzt passen Sie mal auf! Ich komme genau zu meinem Punkt. Ich bin nur auf Ihren Kollegen eingegangen. Minijobs, meine sehr geehrten Damen und Herren, sind Bestandteil des wirtschaftlichen Aufschwungs in unserem Lande. ({4}) Deswegen ist es schade, dass Rot-Grün, die das eingeführt haben, sich heute nicht mehr dazu bekennen. ({5}) – Wir sagen es auch, ja. ({6}) – Jetzt schreien Sie doch bitte nicht die ganze Zeit dazwischen. Durch die Minijobs, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist illegale Beschäftigung beispielsweise eingedämmt worden. Aber – das gehört auch dazu – man muss anerkennen, dass Mehrfachbeschäftigung zugenommen hat. ({7}) Das IAB hat sehr klar festgestellt, dass – – ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Jetzt hören Sie doch wirklich mal auf! Sie sind echt ein kleiner Schreihals. Nein, jetzt reicht es! Jetzt ist der Herr Aumer dran, und der redet jetzt und basta! ({0}) – Ich sage jetzt „basta“. – Ich sage: Ich möchte gerne, dass man den Kolleginnen und Kollegen zuhört. Sie können draußen alle Ihre Gespräche führen. Aber ich finde, es ist in der Zwischenzeit eingerissen, dass, während Kolleginnen und Kollegen versuchen, ihre Gedanken auszuführen, es in den Paralleldebatten im Plenum ausartet, und ich versuche, das zu regeln. „Basta“ ist ein falsches Wort; da gebe ich Ihnen recht. Das haben andere gesagt. Das ist nicht mein Wortgebrauch. Deswegen: Aufhören! – Gut. ({1})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann mache ich weiter. Frau Präsidentin, vielen herzlichen Dank. Die IAB hat festgestellt, welche Gründe es gibt, dass man Mehrfachbeschäftigung annehmen muss. Der erste Grund war die hohe Nachfrage am Arbeitsmarkt nach Arbeitskräften, die durchaus erfordert, dass man eine gewisse Flexibilität und Dynamisierung auf dem Arbeitsmarkt mit einbringt. Die schwache Lohnentwicklung in unserem Land ist auch ein Grund gewesen. Deswegen wollen auch wir nicht den Rückgang des Mindestlohns. Ich denke, es war sicherlich eine Ergänzung, aber das muss sich auch bei den Minijobs widerspiegeln. Der dritte Grund war, dass die Teilzeitbeschäftigungen zugenommen haben und dass der Minijob ein gewisser Ausgleich zu diesen Teilzeitbeschäftigungen ist. Da haben wir – das ist vorher angesprochen worden – einen Entwurf für ein Gesetz zur Brückenteilzeit eingebracht, das sicherlich auch einen Beitrag dazu leistet, dass man nicht mehr so viele Minijobs braucht. Die Zahlen sprechen für sich – wir sind heute schon öfter darauf eingegangen –: 7,5 Millionen geringfügig Beschäftigte gibt es in Deutschland, davon 2,8 Millionen mit Minijobs, die vor allem als Teilzeit betrieben werden. Die Umfragen zeigen ganz klar, dass sich die 7,5 Millionen im Rückgang befinden, gerade bei der ausschließlichen Beschäftigung. Auch das ist, glaube ich, wichtig. Peter Weiß hat mir vorhin mit auf den Weg gegeben, dass die – da haben wir von der CDU/CSU etwas Gutes gemacht – Minijobs rentenversicherungspflichtig sind und dass man optieren muss, um aus der Rentenversicherung rauszufallen. Das war ursprünglich ja nicht für die 400-Euro-Jobs vorgesehen. Ich glaube, man kann auch mit der FDP etwas Gutes auf den Weg bringen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir als CSU sagen – Frau Ferschl, Sie haben gerade den Stephan Stracke angesprochen –, dass wir durchaus eine Anpassung der 450-Euro-Jobs brauchen. Wenn man als Richtwert den Mindestlohn nimmt, der sich von 7,50 Euro auf 9,19 Euro verändern soll, dann hätte man ab dem 1. Januar 2019 einen Betrag von 470 Euro. Ich glaube, dass diese Anhebung der Minijobgrenze durchaus akzeptabel wäre und dass man da durchaus etwas Gutes auf den Weg bringen kann. Dass das Spannungsfeld zwischen dem Zuwachs an Einkommen und Teilhabe und zwischen dem Einstieg in normale Arbeitsverhältnisse immer bleibt, wenn man die Grenze immer erhöht, das ist sicherlich auch klar. Uns ist als Union ganz wichtig, dass wir Vollbeschäftigung in unserem Land schaffen. Das erreichen wir nur mit einer guten und einer verlässlichen Arbeitsmarktpolitik. Wir haben das in der Vergangenheit auch bewiesen. Dazu gehören vor allem gut bezahlte und sozialversicherungsrechtlich abgesicherte Arbeitsverhältnisse. Dazu gehören aber auch flexible Instrumente im Arbeitsmarkt. Dazu gehört auch der Minijob, und deswegen wollen wir, dass der Minijob erhalten bleibt. Es gibt nicht nur Menschen, die gezwungen sind, einen Minijob anzunehmen. Die gibt es sicherlich auch, aber es gibt auch viele, die das freiwillig machen, um sich etwas hinzuzuverdienen. Ich glaube, man muss beide Seiten der Medaille sehen. Wir müssen uns Mühe geben, Menschen sozialversicherungspflichtig zu beschäftigen. Aber diejenigen, die etwas dazuverdienen wollen, müssen auch die Möglichkeit dazu haben. Deswegen werben wir in der Koalition dafür, dass wir zumindest eine gemäßigte Anpassung hinbekommen. Die 470 Euro, wie von Stephan Stracke vorgeschlagen, wären aus meiner Sicht ein guter Kompromiss, und deswegen sollten wir in Gespräche einsteigen, um da eine gute Lösung zu finden. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Peter Aumer. – Nächste Rednerin Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Schönen Dank für den Gesetzentwurf! Der kann uns helfen, deutlich zu machen, was für große Unterschiede in diesem Haus existieren, was die Inhalte angeht. Ich kann Ihnen für die SPD-Fraktion sagen: Wir lehnen Ihren Gesetzentwurf rundweg und aus vollem Herzen ab. ({0}) Man greift sich schon ein bisschen an den Kopf: Wir reden über Fachkräftebedarf und auch auf Ihre Initiative über Zuwanderung, und dann kommen Sie mit so einem Gesetzentwurf um die Ecke und sagen: Ja, unsere Idee ist, wir weiten einfach die Minijobs aus. – Das Gegenteil wäre doch sachlogisch. ({1}) Was wir in diesem Land brauchen, ist gute Arbeit, gut entlohnte sozialversicherungspflichtige Arbeit, von der die Menschen gut leben können und von der sie auch eine gute Rente haben. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kolbe? Erlauben Sie – –

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. – Ich kann für die SPD-Fraktion sagen: Wir sind stolz wie Bolle, dass mit der Einführung des einheitlichen gesetzlichen Mindestlohnes nicht nur die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nach oben gegangen, sondern auch die Minijobanzahl nach unten gegangen ist. ({0}) Wir haben mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns ein Geschäftsmodell erledigt, was insbesondere in Ostdeutschland im Handel, im Gastgewerbe und bei den Friseuren vorkam. Menschen wurden dort auf die Minijobs und auch auf das Amt verwiesen, nach dem Motto: Den Rest kannst du dir ja dort holen. – Zum Teil haben die fast Vollzeit gearbeitet. Dem haben wir einen Riegel vorgeschoben, und darauf sind wir wirklich stolz. Davon haben Frauen profitiert, und davon haben Ostdeutsche profitiert. ({1}) Wir werden einen Teufel tun, Menschen künstlich im Minijobbereich zu halten, und das ist genau der Effekt, den es im Moment leider gibt. Sie sind dort nämlich oft – da habe ich ein anderes Menschenbild als Sie, vielleicht weil ich eine ostdeutsch sozialisierte Frau bin – ({2}) nicht freiwillig, Sie zahlen zu einem erschreckend hohen Anteil nicht in die Rentenversicherung ein, arbeiten zumeist zu sehr niedrigen Löhnen, profitieren nicht von Weiterbildung und erfahren auch keine beruflichen Aufstiege. Ich kann Ihnen als ostdeutsche Frau sagen – ich will Sie nicht schocken –: Ich könnte gut mit sehr, sehr viel weniger Minijobs in diesem Land leben. ({3}) Die gegenwärtige Gesetzeslage schafft durch den steigenden Mindestlohn Anreize, auch darüber nachzudenken, Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung umzuwandeln. Weil das hier so anklang: Das ist nicht verboten. Man kann auch über diese 450 Euro hinausgehen. Ja, dann wird das eine sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung; das ist aber gar nicht schlimm. Insofern profitieren womöglich auch die Menschen im Minijobbereich vom Mindestlohn – durch neue berufliche Perspektiven oder einfach, weil sie durch ihre Teilzeitbeschäftigung nicht mehr so lange für ihr Geld arbeiten müssen. Wie profitiert man davon denn nicht? Sie argumentieren in Ihrem Gesetzentwurf außerdem mit Bürokratieerleichterungen. Das zeigt auch, dass Sie ganz schön stark auf Minilöhne in diesem Bereich fokussiert sind. Aber das gilt ja nur für Mindestlohnbezieher. Wir haben aber viele Branchen, in denen es Branchenmindestlöhne oberhalb des Mindestlohns gibt, und da ist überhaupt nichts mit Bürokratieerleichterungen. Da haben wir dann ab 1. Januar 2019 mit Ihrem Gesetzentwurf einen 551,40‑Euro-Job. Herzlichen Glückwunsch! Damit stiften Sie doch nur mehr Verwirrung als Klarheit. Außerdem zeigt die hohe Summe, dass Sie nicht nur dynamisieren, sondern gravierend ausweiten wollen. 8,50 Euro hätten etwa 53 Stunden pro Monat bedeutet; Sie wollen 60 Stunden pro Monat im Minijobbereich. Das ist eine gravierende Ausweitung des Minijobbereichs, und dann ist es logisch, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf über die Auswirkungen schweigen; das kann ich nachvollziehen. ({4}) Liebe FDP, es ist schon ein Problem, wenn man in der Opposition ist: Man kann Vorschläge machen, die dann zwar auch diskutiert, lebendig diskutiert, aber halt nicht umgesetzt werden. Bei diesem Gesetzentwurf muss ich allerdings sagen: Zum Glück sind Sie in der Opposition, zum Glück für viele Millionen Menschen in diesem Land. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Daniela Kolbe. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Pascal Kober.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegin Kolbe, ich meine, wir müssen uns irgendwo mal für einen Lösungsweg entscheiden. Sie haben davon gesprochen, dass Sie eigentlich möchten, dass mehr Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Es gibt viele Gegenden in Deutschland, in denen Fachkräfte fehlen, und zwar branchenübergreifend. Wenn man das entsprechende Potenzial steigern wollte, indem die Menschen mehr arbeiten, dann müsste man am Arbeitszeitgesetz etwas ändern. Das wollen Sie ja auch nicht ändern. Oder gehe ich da falsch in meiner Annahme? Beispielsweise kann der Oberstabsfeldwebel, den ich Ihnen vorhin in meinem Beispiel vor Augen geführt habe – den gibt es wirklich –, nicht einfach zu seinem Arbeitgeber gehen und sagen: Ich möchte gerne ein paar Euro dazuverdienen, erhöhe meine Arbeitszeit! – Jetzt hätte er aber die Chance, neben seinem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis am Samstag in einem Handwerksbetrieb, der dringend auf Unterstützung angewiesen ist, mitzuhelfen. Der Handwerksbetrieb kann aber auch nicht einfach die Arbeit seiner voll sozialversicherungspflichtig beschäftigten Hauptangestellten einfach ausweiten – das geht auch nicht. Die Wirtschaft und die Arbeitgeber sitzen in einer Falle, und Sie behindern diejenigen, die wirklich etwas leisten wollen, die etwas dazuverdienen wollen. Irgendwo muss die Lösung liegen, Frau Kolbe.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Frau Kolbe, bitte.

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege Kober, wir sind ja für lebensbegleitendes Lernen. Insofern ist es für Sie vielleicht gut, zu hören, dass es überhaupt nicht verboten ist, in diesem Land eine Teilzeitbeschäftigung zu haben, die sozialversicherungspflichtig ist. Man ist dort nicht auf geringfügige Beschäftigung festgelegt. ({0}) Genau das ist ja unser Punkt: Wir würden uns sehr freuen, wenn Menschen mehr arbeiten würden und dabei sozialversicherungspflichtig beschäftigt wären, mit Rentenansprüchen, mit Arbeitslosenversicherung. Was mir auffällt, ist, dass insbesondere von der FDP, aber auch von der Union beispielsweise in Bezug auf das Gastgewerbe argumentiert wird, es gäbe einen Fachkräftebedarf. Das ist ja überhaupt nicht zu negieren – das stimmt. Dann werden Vorschläge gemacht; ich kenne das auch aus meinem Heimatland Sachsen. Da wird dann gesagt, der Mindestlohn sei zu hoch oder die Arbeitszeit sei zu kurz, man müsse das Arbeitszeitgesetz irgendwie ausweiten. Also auf Deutsch gesagt: Wir finden mehr Fachkräfte, wenn wir die Arbeitsbedingungen verschlechtern. – Auf welchem Planeten leben Sie denn? ({1}) Wir leben in einer Republik, in der der Arbeitsmarkt brummt. Das heißt, wenn Unternehmen eine Zukunft haben wollen, müssen sie gute Arbeit bieten. Gute Arbeit ist gut entlohnt, und gute Arbeit ist nicht geringfügig – das ist unsere Position. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kolbe, und vielen Dank, Herr Kober. – Dann kommen wir zur letzten Rednerin in dieser Debatte: Jana Schimke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass die FDP sich irgendwann noch einmal auf einen arbeitsmarktpolitischen Vorschlag bezieht, der den Mindestlohn im Blick hat, hätte ich auch nicht für möglich gehalten. Ich will gar nicht verheimlichen, dass ich selbst den Mindestlohn damals sehr kritisch gesehen habe. ({0}) Aber Sie sind doch die Partei, die immer gegen den Mindestlohn war, ({1}) sicherlich auch aus berechtigten Gründen. Und jetzt legen Sie einen arbeitsmarktpolitischen Vorschlag vor, der sich auf den Mindestlohn bezieht. Das finde ich schon bemerkenswert. ({2}) Meine Damen und Herren, ich halte diesen Vorschlag für falsch, und zwar aus unterschiedlichsten Gründen: Erstens. Der Mindestlohn wird ja alle zwei Jahre auf Grundlage der Empfehlung der Mindestlohnkommission erhöht. Durch die vielen Gespräche mit Vertretern unterschiedlichster Branchen kriegt man natürlich als Wahlkreisabgeordnete auch mit, dass es hier und da schon knirscht. Den Mindestlohn zu zahlen, ist in der Tat nicht in jeder Branche in Deutschland so leicht zu bewerkstelligen, wie wir uns das politisch oftmals wünschen. Deswegen halte ich einen Bezug auf den Mindestlohn bei der Frage, wie wir möglicherweise eine Anpassung bei den Minijobs vornehmen, für den falschen Weg. Zweitens. Natürlich hat die Union auch im Wahlprogramm den sogenannten mitwachsenden Minijob gefordert; das war sicherlich Gegenstand unserer Forderungen. Aber wir müssen uns bei arbeitsmarktpolitischen Ideen in der Zukunft immer auch daran orientieren, wie wir Maß und Mitte einhalten. Jedes arbeitsmarktpolitische Instrument – und die Minijobs sind natürlich seit der Agenda 2010 eine ganz bedeutende Sache – hat irgendwo auch seine Zeit. Aber es gibt eben auch Zeiten, in denen man vielleicht mal anders denken sollte, in denen man vielleicht mal neu denken sollte. Die Minijobs in ihrer derzeitigen Form – so, wie wir sie jetzt kennen – sind ja im Jahr 2003 entstanden. Dann gab es später eine Erhöhung der Verdienstgrenze auf 450 Euro. Was war das für eine Zeit, meine Damen und Herren? Das war eine Zeit, in der wir in Deutschland Rekordarbeitslosigkeit hatten, 5 Millionen Arbeitslose. Deutschland war der kranke Mann Europas. Man hat damals dieses Instrument in dieser Form eingeführt, um Menschen wieder einen Weg in die Arbeit zu ebnen, natürlich auch, um Arbeitgebern eine Möglichkeit zu geben, unkompliziert Menschen wieder in Beschäftigung zu bringen. Unser Ziel war es damals – auch das Ziel der damals regierenden Parteien –, wieder mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt zu schaffen und darüber hinaus natürlich auch die Arbeitslosigkeit abzusenken und Deutschland arbeitsmarktpolitisch auf einen besseren Weg zu bringen. Was ist seitdem geschehen? Viele Jahre sind ins Land gegangen. Wir reden heute über die niedrigste Arbeitslosigkeit, die wir jemals in Deutschland hatten. Wir reden über Rekordbeschäftigung. Wir reden über Rekordeinnahmen in unseren sozialen Sicherungssystemen. Die Frage ist schon berechtigt: Wo wollen wir künftig hin? Leben wir noch in einer Zeit, in der wir Instrumente wie den Minijob brauchen? Leben wir in einer Zeit, in der wir alles dafür tun sollten, die Einkommensgrenzen auch bei Minijobs oder Midijobs exorbitant zu erhöhen? Ist es das, was wir wollen? Ich halte das für bedenklich. Ich würde da nicht unbedingt mitgehen wollen. Was wollen wir? Unser Ziel muss es sein, weiterhin Flexibilität am Arbeitsmarkt sicherzustellen – da sollten wir uns mal Gedanken machen –: in Sachen Arbeitszeit, ({3}) in Sachen Kündigungsschutz. Darüber müssen wir reden, damit wir es schaffen, dem deutschen Arbeitsmarkt seine Starrheit zu nehmen. ({4}) Selbstverständlich gehören auch die Minijobs dazu. Wir wollen dieses Instrument ja behalten – darum geht es hier gar nicht. Wir wollen, dass Studenten, dass Rentner weiterhin eine Möglichkeit haben, etwas dazuzuverdienen. ({5}) Das wollen wir natürlich auch; das ist unser Ziel. Wir wollen Menschen, die Schwierigkeiten haben, in den Arbeitsmarkt zu kommen, weiterhin ein Instrument an die Hand geben, das es ihnen möglicherweise erleichtert. Aber was ist denn die Realität? Was hat sich denn seit 2003 im Bereich der Minijobs ergeben? Wir haben da einen Frauenanteil von zwei Dritteln – das muss man ganz klar festhalten. Die größte Gruppe von Menschen, die in Deutschland in einem Minijob tätig sind, ist die Gruppe der Personen im erwerbsfähigen Alter, nicht die Gruppe der Rentner oder der Studenten. ({6}) Nein, das sind Menschen, die eigentlich in vollzeitnaher Beschäftigung tätig sein sollten. Darüber müssen wir doch mal reden. ({7}) Meine Damen und Herren, es gibt eine weitere Entwicklung: Wir haben eine signifikante Zunahme von Minijobs im Nebenerwerb. Das heißt, es geht hier nicht nur um Studenten oder so, bei denen wir sagen: Ja, genau für die ist das. – Nein, es gibt auch Menschen, die einen Hauptjob haben und nebenbei noch den Minijob machen. Das tun sie nicht, weil der Hauptjob so schlecht bezahlt ist. Nein, das sind Teilzeitkräfte, die einfach noch mal was mitnehmen wollen. Es ist ein Mitnahmeeffekt, der entsteht: Man macht einen Teilzeitjob und nebenbei einen sogenannten Minijob, um mehr Netto vom Brutto zu haben. Das ist menschlich nachvollziehbar. Aber die Frage ist: Wollen wir das politisch? ({8}) Ich halte das nicht für richtig. ({9}) Es gibt noch einen Punkt, den ich bei der Rente mit 63 sehr bedenklich finde. Was ist passiert? Die Menschen gehen mit 63 in Rente und arbeiten beim selben Arbeitgeber in Form eines Minijobs weiter. Auch darüber sollten wir vielleicht mal reden. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Das machen wir heute aber nicht mehr, Frau Schimke, weil Ihre Redezeit vorüber ist.

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Nein, die Richtung muss eine andere sein: Wir brauchen mehr Netto vom Brutto. ({0}) Wir wollen den Soli abschaffen – dazu wird es künftig eine Initiative geben – und natürlich auch die Sozialversicherungsbeiträge senken. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Schimke. – Damit schließe ich die lebendige Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/4764 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Jetzt könnte ich mir vorstellen, dass es einen gewissen Wechsel gibt. Deswegen lese ich den nächsten Tagesordnungspunkt langsam vor. Ich bitte Sie aber, zügig die Plätze zu wechseln.

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Was wir zurzeit am Horn von Afrika beobachten, macht wirklich Hoffnung. Einige sprechen sogar von einem afrikanischen Märchen. Der Friedensschluss zwischen Äthiopien und seinen Nachbarn grenzt tatsächlich fast an ein Wunder, vor allen Dingen, wenn man sich die Entwicklung in den letzten Jahren dort anschaut. Vor allem aber wird er das Leben und die Zukunft der Menschen in Ostafrika, aber auch weit darüber hinaus verbessern. Er liegt im fundamentalen Interesse Ostafrikas sowie der Golfstaaten an der Ostküste des Roten Meeres. Aber der Friedensschluss liegt auch in unserem Interesse. Er bedeutet, dass eine krisengeschüttelte Region langsam zur Stabilität zurückfindet, mit all den Chancen, die das für Handel, Wirtschaft, Migration und die Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität haben kann. Das ist für Europa und damit auch für uns in Deutschland von großer Bedeutung. Deshalb freue ich mich sehr darüber, dass der Deutsche Bundestag das heute zum Thema macht. ({0}) Der äthiopische Premierminister Abiy hat erreicht, was bisher kaum denkbar erschien. Er brach mit innenpolitischen Tabus. Er hat das ganze Land in eine Art Reformeuphorie versetzt und einen Versöhnungsprozess mit dem Erzfeind Eritrea angestoßen. Dabei ist nach all dem, was wir sehen und hören, ein großer Veränderungswille im Land spürbar, vor allen Dingen bei der jungen Generation, die weiß, was das für sie und ihre Perspektiven bedeutet. Dieser Prozess und die Verantwortlichen dort sollen auf unsere Unterstützung zählen können. Wir bauen dabei auf jahrzehntelanges Engagement in Äthiopien und die langjährige, besondere Beziehung zwischen unseren Ländern. Ende des Monats wird Premierminister Abiy in Berlin am G-20-Afrika-Gipfel teilnehmen, bei dem es vor allem um den wirtschaftlichen Austausch zwischen unseren Ländern geht. Alles in allem muss man aber realistisch bleiben. Politische und gesellschaftliche Transformation schafft man nicht über Nacht, erst recht nicht dort. Das wissen wir aus eigener Erfahrung. Abiy steht vor gewaltigen Herausforderungen. Armut, Bevölkerungswachstum, rapide Urbanisierung und ethnische Konflikte, in deren Folge es 4 Millionen Vertriebene gibt, halten das Land trotz der positiven Entwicklung nach wie vor unter permanenter Spannung. Auch in Eritrea werden die mutigen Reformen in Äthiopien bislang nicht gespiegelt, ganz im Gegenteil: Es gibt nach wie vor keine Strategie, aus der hervorgeht, wie eine geordnete Öffnung in diesem Land aussehen könnte. Ich halte deshalb auch nicht viel davon, nun maximalen öffentlichen Druck zu entfalten. Es geht darum, die Reformkräfte zu ermutigen und auf geeignetem Weg innenpolitische Öffnung anzumahnen. Dazu loten wir gerade konkrete Anhaltspunkte aus. Vor allem im europäischen Rahmen verfügen wir über geeignete Mittel und Maßnahmen, die uns dabei helfen können. Aber auch bei den Vereinten Nationen werden wir als Sicherheitsratsmitglied ab dem kommenden Jahr die Entwicklung vor Ort weiter beeinflussen können; das haben wir uns fest vorgenommen. Die Bundesregierung engagiert sich bereits auf vielfältige Weise bei Krisenmanagement und präventiver Diplomatie am Horn von Afrika. Wir unterstützen zum Beispiel regionale Mechanismen, um eine Regelung für die sogenannte Nilwasserproblematik zu finden. Wir engagieren uns bei der Vermittlung im Darfur-Konflikt und im bürgerkriegsgeplagten Südsudan. In Somalia unterstützen wir den Aufbau föderaler staatlicher Institutionen und funktionierender Polizeistrukturen. Wir wollen so die afrikanische Friedens- und Sicherheitsarchitektur nachhaltig stärken, damit sie der Krisen und Konflikte auf dem Kontinent Herr werden kann, und dies, wenn es geht, aus eigener Kraft. Die gesamte Region um das Rote Meer steht heute unter Spannung. Gleichzeitig gibt es keine organisierten Dialogforen – geschweige denn Mechanismen kooperativer Sicherheit –, wie wir sie aus Europa kennen. Das darf so nicht bleiben. Auf unsere Initiative haben sich die Außenminister der EU-Länder schon im Juni mit der Lage am Roten Meer befasst. Ein Ergebnis war, dass sich die EU für ein regionales Forum für Dialog und Zusammenarbeit – das wird dort dringend gebraucht – einsetzen will. Das ist aber kein Selbstläufer. Die Interessenlagen vor Ort sind so komplex. Das Misstrauen unter den Beteiligten sitzt nach wie vor extrem tief. Gemeinsam mit dem EU-Sonderbeauftragten für das Horn von Afrika sind wir jedoch mit den Staaten der Region im Gespräch, um die Chancen für ein solches Forum auszuloten. Ein solches Forum wäre ein vehementer Fortschritt, wenn es darum geht, Länder zusammenzuführen und dabei zu unterstützen, die Probleme vor Ort selbst zu lösen. Eine Entspannung am Horn von Afrika wäre vor allem ein Segen für die Frauen, Männer und Jugendlichen, die aus Furcht vor Krieg und Unterdrückung sowie angesichts erdrückender Perspektivlosigkeit längst ihre Heimat verlassen haben. Das akute Leid der Menschen zu lindern und die aufnehmenden Gemeinden zu entlasten, genau dazu tragen wir bereits mit unserer humanitären Hilfe bei. Allein 2018 werden unsere Hilfeleistungen für die Region etwa 200 Millionen Euro umfassen. Aber das soll kein Dauerzustand sein. Den Menschen die Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen, muss auch das Ziel einer Außenpolitik sein, die bereit ist, dort Verantwortung zu übernehmen. ({1}) Deshalb – das ist wichtig – unterstützen wir die Friedensvermittlung nicht nur im Südsudan, im Sudan oder in Somalia, sondern wir verfolgen auch die Annäherung zwischen Äthiopien und Eritrea mit großem Interesse. Allerdings hat der Friedensschluss mit Äthiopien zum jetzigen Zeitpunkt – auch das muss man attestieren – zu keiner Verbesserung der Menschenrechtslage in Eritrea geführt. Auch am verpflichtenden Nationalen Dienst als zentralem gesellschaftlichem Kontrollelement hält das Regime dort nach wie vor fest. Deshalb werden wir uns gemeinsam mit unseren europäischen Partnern Gedanken über Anreize gegenüber Asmara machen, die helfen sollen, um diese Logik, die in ganz erheblichen Menschenrechtsverletzungen endet, endlich zu durchbrechen. Weil die Lage so ist, weil es Hoffnung gibt und weil es viele Verantwortliche dort gibt, die sich die gleichen Ziele gesetzt haben wie wir, bin ich dankbar, dass wir heute darüber reden. Die Herausforderungen für uns und für Europa sind groß in dieser Region. Aber auch die Chancen sind es. Im Moment ist ein guter Zeitpunkt. Lassen Sie uns die historische Wende am Horn von Afrika gemeinsam nach allen Kräften unterstützen. Die Bundesregierung wird das tun. Dass sich der Deutsche Bundestag heute damit befasst, ist ein gutes Zeichen, das sicherlich auch dort wahrgenommen wird. Schönen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Heiko Maas. – Nächster Redner für die AfD-Fraktion: Armin-Paulus Hampel. ({0})

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Gäste des Deutschen Bundestages, insbesondere die Damengruppe aus Niedersachsen! Ja, es tut sich etwas in Ostafrika. Herr Minister, das ist eine gute Botschaft; dem stimmen wir zu. Interessanterweise ohne jegliche Einmischung des Westens – auch ohne deutsche Einmischung – hat die äthiopische Regierung ihre Hand zum Frieden ausgestreckt. Man hat mit Eritrea Freundschaft geschlossen. Jetzt haben die alten Revolutionsführer ein Problem, ihre Notstandsgesetze in der Diktatur mit welcher Begründung auch immer aufrechtzuerhalten. Deutschland sollte also in der Tat darauf drängen, dass schleunigst Reformen zu einem besseren Prozess für das Land initiiert werden. Die Frage ist nur: Was sind denn unsere deutschen Interessen? Ich höre mit Begeisterung einen SPD-Außenminister das Wort „Rückführung“ in diese Debatte einbringen. ({0}) Kompliment! Das ging ja schnell – genau! –; das ist ein Lernprozess bei den Sozialdemokraten, bei den anderen vielleicht auch. Ja, wir müssen die Flüchtlinge aus Eritrea in ihr Land zurückführen, sobald dort friedliche Zustände herrschen. Das ist doch selbstverständlich. ({1}) So sagen es unsere Gesetze, und so will es zumindest meine Fraktion ebenfalls, meine Damen und Herren. ({2}) – Daran wollen wir arbeiten. Eritrea ist reif für einen Politikwechsel, und dieser eröffnet gestalterische Möglichkeiten. Es liegt also in unserem Interesse, in Eritrea bei den Rahmenbedingungen mitzuwirken. Allerdings sollten auch andere Nationen eingebunden werden. Mich hat schon gestern in der Kamerun-Debatte etwas gewundert, ({3}) als wir über die Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien gesprochen haben. Die haben nach dem Ersten Weltkrieg die Kolonie dort übernommen. Gleiches gilt hier am Horn von Afrika, in Ostafrika. Warum haben Sie nicht schon mal mit den Italienern gesprochen, der ehemaligen Kolonialmacht dort? Die sind doch zuallererst für die Folgen der Kolonialpolitik in Afrika verantwortlich. Das gilt genauso für Franzosen und Engländer, die – da hat Herr Nooke unrecht – in den letzten beiden Jahrhunderten eine furchtbare Herrschaft in Afrika ausgeübt haben. ({4}) Die sind zuerst aufgefordert, bevor man Berlin fragt, meine Damen und Herren. ({5}) Die Regierung in Eritrea hat noch ein anderes Problem. Sie wissen, dass die Auslandseritreer fleißig 2 Prozent ihres Jahreseinkommens als sogenannte Aufbausteuer bezahlen. Wenn die Flüchtlinge zurückkehren, entfällt diese; also braucht man andere Einnahmen. Da kann man etwas tun und sie unterstützen; denn das Land – das wissen wir – ist wohlhabend. Es ist reich an Bodenschätzen. Das Land ist fruchtbar. Dann frage ich, meine Damen und Herren: Könnten sich vielleicht diesmal ausnahmsweise deutsche Unternehmen in der Region engagieren, bevor die Chinesen wieder alles unter Kontrolle haben und dann bestimmt nicht auf einen demokratischen Friedensprozess in dieser Region hinwirken? Wir wissen, das interessiert die Chinesen überhaupt nicht. ({6}) Also, wir könnten Bodenschätze abbauen. Wir können die eritreische Wirtschaft stützen durch ein wirkliches Fair-Trade-Abkommen, ein wirkliches, ernsthaftes Fair-Trade-Abkommen. Wir können helfen, die Landwirtschaft zu modernisieren, und wir können beim Aufbau von Handwerk und Mittelstand helfen. Allerdings, meine Damen und Herren, eine Bitte. So ein Vorhaben muss zuerst zentral geplant und geführt werden. Wir sollten aus den Misserfolgen von Haiti lernen. Es muss einen Masterplan geben. Die in Haiti gescheiterten NGOs – das ist meine Bitte an Sie, Herr Minister – sollen bei diesem Unterfangen bitte, bitte nicht dabei sein; sonst scheitert es in Eritrea erneut. Danke schön, meine Damen und Herren. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Armin-Paulus Hampel. – Nächste Rednerin für die Bundesregierung: Maria Flachsbarth, die Parlamentarische Staatssekretärin. ({0})

Dr. Maria Flachsbarth (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003527

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Frieden ist ein Prozess:  Täglich, wöchentlich, monatlich geht es darum, Einstellungen langsam zu verändern, darum, alte Barrieren einzureißen und neue Strukturen aufzubauen. John F. Kennedy, 1963. Hier in Deutschland wissen wir ganz genau, was damit gemeint ist. Heute vor sechs Jahren wurde die Verleihung des Friedensnobelpreises an Europa für sechs Dekaden kontinuierlicher Arbeit an Frieden und Versöhnung, für die Umwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem Kontinent des Friedens verkündet. Frieden und Zusammenarbeit machten Europa zu einer der wirtschaftlich und politisch stabilsten Regionen der Welt. Man kann gar nicht häufig genug genau daran erinnern. Nun steht die Region am Horn von Afrika mit der Gemeinsamen Erklärung von Frieden und Freundschaft zwischen Äthiopien und Eritrea an einer historischen Weggabelung. Das muss nun täglich, wöchentlich, monatlich umgesetzt werden. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, wollen diesen Friedensprozess gern unterstützen. Deshalb hat Minister Dr. Gerd Müller Eritrea und Äthiopien vor sieben Wochen besucht. Er hat beide Staats- und Regierungschefs ermutigt, ihren eingeschlagenen Kurs fortzuführen. Das BMZ möchte beide Länder darin unterstützen, vor allen Dingen jungen Menschen gute Perspektiven in ihrer Heimat zu geben. Wir denken, dass Äthiopien sich da wirklich auf einem guten Weg befindet. Der neue Premierminister legt ein beachtliches Reformtempo vor: in der Innen-, in der Wirtschafts- und in der Außenpolitik. Das möchten wir zum Wohl der Bevölkerung fördern. Deshalb und zur Umsetzung des Marshallplans mit Afrika hat Dr. Müller dem äthiopischen Premierminister im August den Aufbau einer Reformpartnerschaft angeboten. In dem Zusammenhang, Herr Kollege Hampel, gehört das Werben um Investitionen aus Deutschland dazu. ({0}) Bereits jetzt arbeitet das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit daran, Berufsbildung in Äthiopien aufzubauen und Jobs zu schaffen. Durch unsere Arbeit haben wir bereits 350 000 Berufsschülerinnen und Berufsschüler erreicht und 58 Berufsschulen ausgestattet. Das wollen wir weiter intensivieren. ({1}) Wir helfen bei der Sicherung der Ernährung, bei der Ertüchtigung der Landwirtschaft, zum Beispiel durch Rekultivierung von über 530 000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche, durch Schulung von 90 000 Bauern in moderner Anbaumethodik, in Mechanisierung. Zu nennen sind aber auch die Unterstützung von Flüchtlingsprogrammen zur Verbesserung der Lebensbedingungen für Flüchtlinge und aufnehmende Gemeinden. Es geht um Ernährungssicherung, Gesundheit, Wasser- und sanitäre Versorgung. Dazu knüpfen wir aber auch Erwartungen an unsere Partner in Äthiopien, zum Beispiel die Erwartung, die jüngsten Auseinandersetzungen friedlich zu deeskalieren. Auch an Eritrea haben wir Erwartungen, vor allen Dingen in puncto grundlegender innenpolitischer Reformen. Die Feindschaft mit dem Nachbarn diente bislang als Begründung für den Nationalen Dienst von praktisch unbeschränkter Dauer. Dieser raubte der vornehmlich jungen Bevölkerung bisher jegliche Perspektive. Das ist einer der Hauptfluchtgründe, wie wir alle wissen. Wir erwarten deshalb von der eritreischen Regierung, dass sie diesen Dienst grundlegend reformiert und seine Dauer auf ein angemessenes Maß beschränkt. Wir erwarten außerdem, dass Eritrea dem guten Beispiel Äthiopiens folgt und nun ebenfalls politische Gefangene freilässt sowie demokratische und wirtschaftliche Reformen einleitet. Wir stehen bereit, das zu unterstützen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gilt jetzt, diesen uns hier in Deutschland und Europa so vertrauten, aber eben langen Prozess der regionalen Aussöhnung zu unterstützen – täglich, wöchentlich, monatlich. Es geht darum, die Umwandlung einer Region der Kriege zu einer Region des Friedens zu fördern; denn die mögliche Friedensdividende aus politischer Öffnung und wirtschaftlichem Erfolg ist für das Wohlergehen der Menschen vor Ort selbstverständlich von unermesslichem Wert. Das BMZ steht bereit, genau diesen Weg zu unterstützen. Herzlichen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Maria Flachsbarth. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion: Ulrich Lechte. ({0})

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Zunächst einmal freue ich mich, dass wir schon mal eine Verwendung für den Kollegen Hampel gefunden haben. ({0}) Den könnten wir als Sonderbeauftragten nach Eritrea schicken; er könnte dort Präsidentenberater werden – ein wunderbarer Moment. ({1}) – Ja, genau; die haben es dort schon geschafft, Frieden zu erreichen. Wenn Sie da sind, läuft da alles wie geschmiert. ({2}) Als Nächstes. Für uns als Außenpolitiker ist es eine große Freude. Wir Außenpolitiker haben unseren Minister da, wenn wichtige Dinge hier im Parlament besprochen werden. Das ist nicht bei jedem Ministerium der Fall. ({3}) Deswegen: Herzlichen Dank, Herr Minister, dass Sie heute unserer Debatte folgen! Man kann gar nicht genug betonen, was für ein historisches Ereignis am 9. Juli dieses Jahres stattgefunden hat. Der Friedensvertrag zwischen Äthiopien und Eritrea beendet über 20 Jahre Kriegszustand – und das ohne Einwirkung von außen. Die haben das tatsächlich von selber geschafft. Verheerend war dieser Zustand für die gesamte Region – das haben wir hier gehört –, negativ für alle Nachbarländer, nicht so schön. Jetzt denken wir mal an den Stellvertreterkrieg, den sich Kräfte aus Äthiopien und Eritrea auf dem Boden von Somalia geliefert hatten. Auch hier zeigt der Friedensschluss bereits positive Impulse zur Annäherung von Eritrea und Somalia. Vor einem Jahr noch undenkbar, haben die Außenminister von Äthiopien und Somalia vor zwei Wochen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York dazu aufgerufen, die Sanktionen des UNO-Sicherheitsrates gegen Eritrea aufzuheben. Was für ein Signal der Annäherung! Leider waren die bisherigen Reaktionen der Bundesregierung auf diese historischen Entwicklungen eher überschaubar. Aus diesem Grund ist es gut, dass wir uns als Bundestag mit diesem Thema heute beschäftigen und konkrete Forderungen an die Bundesregierung richten wollen. Wir als FDP haben dazu einen Antrag vorgelegt, aber wir erkennen natürlich auch an, dass im Antrag der Regierungskoalition viele richtige Sachen stehen. Nur leider klafft hier mal wieder eine große Lücke zwischen den Worten und den Taten. ({4}) Jetzt kommt ein bisschen Wasser in den Wein; leider kennt man das auch von unserem Herrn Minister. Denn der vorliegende Antrag vermerkt, dass in Ostafrika sieben der weltweit acht größten Flüchtlingslager sind. Es ist gut, dass Sie das wissen. Nur: Was folgt für Sie daraus? Sie kürzen die Mittel für das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR – herzlich willkommen bei meinem Lieblingsthema! –, und das, obwohl der Bedarf gerade hier so groß ist. In Äthiopien gibt es zurzeit 2 Millionen Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge. Der UNHCR meldet für 2018 einen Finanzbedarf von 328 Millionen Dollar; davon sind aber derzeit nur 21 Prozent gedeckt – große Freude. Im Nachbarland Somalia gibt es circa 3,5 Millionen Flüchtlinge. Der UNHCR meldet einen Finanzbedarf von 522 Millionen Dollar; davon sind 37 Prozent gedeckt. Das bedeutet also, dass über 60 Prozent des Finanzbedarfs fehlen. Auch für die Besucher hier zur Erklärung: Diese Mittel sind dazu da, dass man in den Flüchtlingslagern Nahrung, Wasser, Zelte und vielleicht zusätzlich etwas für die Bildung zur Verfügung stellen kann. Im Nachbarland Südsudan gibt es 4 Millionen Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge. Der UNHCR meldet einen Finanzbedarf von 783 Millionen Dollar; davon sind nur 33 Prozent gedeckt. In den Haushaltsberatungen 2018 hatten wir mit einem Antrag versucht, die Bereitstellung von mehr Mitteln zu regeln. Der Antrag wurde von der Regierungskoalition abgelehnt. Sie haben in den nächsten zwei Wochen in den Haushaltsberatungen für 2019 wieder die Möglichkeit, für den UNHCR mehr Mittel zur Verfügung zu stellen. Die Opposition haben Sie mit Sicherheit auf Ihrer Seite. Wenn man mal realpolitisch denkt, müsste eigentlich das ganze Haus diesem Antrag zustimmen, weil das der beste Weg ist, den Flüchtlingen, die von Bürgerkriegen betroffen sind, vor Ort zu helfen. ({5}) Meine vier Minuten Redezeit sind um; ich hätte noch viel mehr zu erzählen gehabt. Ein letzter Satz – das wird mein neuer „Karthago“-Satz –: Europas Zukunft ist Afrika – so oder so. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich für die Fraktion Die Linke. ({0})

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Lasst die Ära der Liebe und Versöhnung beginnen.“ – Das sind Worte, die man in den letzten Monaten und Jahren nur noch selten hört in einer Welt, in der es vor allen Dingen schlechte Nachrichten gibt. Deswegen will ich hier auch einmal der Koalition danken – das mache ich ja nicht so oft –: Ich finde es gut, dass wir als Außenpolitiker hier stehen und über Außenpolitik reden, ohne dass es um ein Bundeswehrmandat geht. Das kommt nämlich sehr selten vor. ({0}) Der Außenminister hat gesagt, dass Sätze wie dieser wie aus einem Märchen klingen; da gebe ich ihm recht. Als Äthiopiens Premierminister Abiy diesen Satz im Juni gesagt hat, waren wir alle überrascht und erfreut. Ehrlich gesagt, war ich noch überraschter über die Reaktion des Präsidenten von Eritrea. Er sagte: Nun sind wir, die Äthiopier und die Eritreer, eins. Wir sind nicht mehr zwei verschiedene Völker und wir werden daran arbeiten, das nachzuholen, was wir in den letzten Jahren verpasst haben. Afewerki, der in seinem Land keine Pressefreiheit zulässt, in dessen Land es einen schrecklichen Zwangsdienst gibt, wo gefoltert und gemordet wird, hat sich trotzdem auf diesen Friedensprozess eingelassen. Damit wird ein jahrzehntelanger, ebenso sinnloser wie blutiger Krieg, der 80 000 Tote gekostet hat, beendet. Wer von uns hätte das in diesen Zeiten gedacht – in Zeiten, in denen Hass, Lügen und Propaganda weltweit, auch hier in Deutschland, auf dem Vormarsch sind, in einer Zeit, wo Diplomatie mehr und mehr durch das Megaphon auf Twitter ersetzt wird? Aber wir sehen: Es kann funktionieren, und das macht Mut. Eritrea und Äthiopien haben es mit diesem Friedensschluss der Welt gezeigt. Sie haben gezeigt, wie Frieden gemacht werden kann, wenn er wirklich gewollt wird. Es ist ein Sieg, den wir vor allen Dingen dem Mut des äthiopischen Premierministers Abiy zu verdanken haben. Er hat gezeigt, dass selbst solche langjährigen, eingefahrenen Konflikte gelöst werden können. Das ist nicht nur ein Sieg für die Menschen in Eritrea und Äthiopien, das ist ein Sieg für die Diplomatie und für alle Menschen auf der Welt, die weiter daran glauben, dass sich Konflikte auch ohne Waffen und ohne militärische Gewalt lösen lassen. ({1}) Und es ist ein Signal an all jene Staatsführer weltweit, die auf Basis von Hass gegenüber anderen ihre Macht sichern. Das Signal lautet: Hört auf damit! ({2}) Eine Lehre, die wir aus diesem Konflikt ziehen können, ist, dass die Gewalt, die Eritrea und Äthiopien so lange gefangen gehalten hat, zu nichts geführt hat außer zu mehr Gewalt. Frieden kann man eben nur durch Vernunft erreichen. Das sage ich auch im Hinblick auf die Aufrüstungsbestrebungen der Bundesregierung. Wir haben im Haushalt 2019 – der Kollege Lechte kam ja schon auf den Haushalt zu sprechen – die Situation, dass von der Bundesregierung der höchste Verteidigungsetat seit dem Ende des Kalten Krieges vorgelegt wurde, während der Etat des Außenministers effektiv gesunken ist. Was ist denn das für ein Signal? ({3}) Außerdem sind die Waffenexporte der Bundesrepublik Deutschland in alle Welt weiterhin nicht gestoppt worden – übrigens sind auch nach Äthiopien Waffen exportiert worden. Gerade in den letzten Wochen gab es ethnische Konflikte und Tote auf den Straßen von Äthiopien. Ich kann nur hoffen, dass die Menschen dort nicht durch deutsche Munition ums Leben gekommen sind. Diese Form fragwürdiger Unterstützung für den afrikanischen Kontinent sollte schleunigst beendet werden. ({4}) Allerdings gehen die Signale, die wir erhalten, eher in die andere Richtung. Ich finde es ein von Grund auf falsches Signal, dass die Bundeskanzlerin bei ihrem Besuch in Angola Waffenlieferungen dorthin angekündigt hat. Was soll denn dadurch besser werden? Bei allem Optimismus gibt es natürlich auch Herausforderungen, zum Beispiel die Gewaltherrschaft in Eritrea; – das ist hier angesprochen worden. Auch die Neuordnung des Landes und der Gesellschaft in Äthiopien wird schwer. Ja, es gibt immer noch Gewalt. Ja, es gibt 2 Millionen Menschen, die im eigenen Land auf der Flucht sind. Trotzdem finde ich, dass heute mal der Zeitpunkt ist, eine positive und optimistische Rede zu halten; denn das Tempo, in dem sich beide Länder aufeinander zubewegt haben, ist wirklich historisch. Das muss hier angemessen gewürdigt werden. ({5}) Das ist ein Moment, der Mut macht. Ich möchte deshalb mit einem Zitat von Äthiopiens Präsident Abiy schließen: Liebe wird immer siegen. Andere zu töten, ist eine Niederlage. All denjenigen, die versucht haben, uns zu entzweien, will ich sagen: Ihr habt es nicht geschafft! ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Dr. Frithjof Schmidt. ({0})

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich klar zu sagen: Es ist gut, dass die Koalitionsfraktionen die Unterstützung des Friedensprozesses zwischen Äthiopien und Eritrea zum Thema in der Kernzeit machen. Es ist sehr gut, dass Außenminister Maas hier gesprochen hat. Das ist eine wichtige Initiative, die der Gemeinsamen Erklärung des Friedens und der Freundschaft zwischen Äthiopien und Eritrea nach Jahrzehnten eines brutalen heißen und kalten Krieges gerecht wird; das begrüßen wir sehr. ({0}) Seitdem wurden in Äthiopien Telefon- und Flugverbindungen wieder etabliert, beide Länder haben diplomatische Beziehungen aufgenommen, und am 11. September wurden die Grenzen das erste Mal seit über 20 Jahren geöffnet. Das bedeutet eine enorme Verbesserung für die Lage der Menschen vor Ort in beiden Ländern. Es ist wichtig, das festzustellen. Es ist richtig, dass Deutschland dort politisch und wirtschaftlich in enger Zusammenarbeit mit internationalen Partnern hilft. Gerade bei der Demarkierung der Grenzen, die für einen dauerhaften Frieden unerlässlich ist, sollte unser Land Unterstützung anbieten. ({1}) Aber auf keinen Fall darf dabei der große politische Unterschied zwischen beiden Staaten aus dem Blick geraten. In Äthiopien gibt es einen Aufbruch zu demokratischen Reformen, die Hoffnung geben, obwohl politische Repression nach wie vor zum Alltag gehört; auch das muss man sagen. Präsident Abiy Ahmed hat Hunderte politische Gefangene entlassen und politische Gruppen eingeladen, aus dem Exil nach Äthiopien zurückzukehren, um sich am politischen Prozess des Landes zu beteiligen. Das ist ein vielversprechender Anfang. Jetzt muss sich zeigen, ob die Zivilgesellschaft auch politischen Raum zur Entfaltung bekommt, ob die Rechte von Minderheiten und auch der Opposition respektiert werden. Eine solche Entwicklung voranzutreiben und zu unterstützen, verdient unser Engagement. ({2}) Präsident Isayas Afewerki und sein Regime in Eritrea sind dagegen ein ganz anders politisches Kaliber, Außenminister Maas hat das ja auch angesprochen. Von Reformaufbruch fehlt bisher jede Spur. Eritreas politisches System ist in der Figur des allmächtigen Präsidenten zentralisiert. Es gibt keine Legislative, keine Verfassung, keine unabhängige Justiz; Pressefreiheit und Religionsfreiheit sind massiv eingeschränkt. Es gibt einen unbefristeten staatlichen Zwangsdienst für jede und jeden über 18 Jahre bis mindestens zum 50. Lebensjahr; Herr Maas hat das zu Recht angesprochen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition: Es ist richtig, dass Sie in Ihrem Antrag von Eritrea umfassende demokratische Reformen fordern, aber es ist auch klar, dass dieser Präsident dort überhaupt keine Absicht hat, dem nachzukommen. Deswegen gibt es hier bisher keinen Anlass, die UN-Sanktionen und das Waffenembargo gegen Eritrea aufzuheben. Diese Politik der UNO bleibt notwendig und richtig. ({3}) Der positive Friedensprozess, der von Äthiopien ausgegangen ist, darf nicht dazu führen, das Regime des Diktators Afewerki zu verharmlosen. Der Verdacht, dass die Europäische Union bereit sein könnte – zum Beispiel als Preis für das Entgegenkommen in Migrationsfragen –, einen solchen Diktator quasi als Türsteher Europas in Afrika zu tolerieren, darf auf keinen Fall aufkommen. ({4}) Deswegen ist hier große politische Klarheit geboten. Das gilt – unter dem anderen Vorzeichen einer intensiven Kooperation – natürlich auch im Verhältnis zu Äthiopien. Die wichtige und notwendige Entwicklungszusammenarbeit darf nicht mit einer Politik der Flüchtlingsabwehr konditioniert und belastet werden. Wenn wir den Respekt vor demokratischen Werten und demokratischen Reformen von unseren afrikanischen Partnern glaubhaft einfordern wollen, dann darf nicht der Anschein einer Instrumentalisierung der Zusammenarbeit für die Abwehr und Unterdrückung von Flucht erweckt werden. ({5}) Man muss klar sagen: Die Europäische Union ist gegenwärtig überhaupt nicht über diesen Verdacht erhaben. Der sogenannte Khartoum-Prozess ist in dieser Hinsicht schwer belastet, hat eine massive Schieflage und bedarf einer politischen Neuausrichtung, gerade wenn wir europäische Initiativen ergreifen wollen, was ja grundsätzlich richtig ist. Ich denke, auch dafür bietet sich durch den Friedensprozess zwischen Äthiopien und Eritrea ein Ansatzpunkt und eine Chance, diese Politik zu verändern, die wir politisch nutzen sollten. Danke für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Christoph ­Matschie, SPD-Fraktion. ({0})

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuschauer auf der Besuchertribüne! Oft reden wir hier im Bundestag über Kriseneinsätze in Afrika. Mit der heutigen Debatte können wir eine äußerst positive Entwicklung in Afrika ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Ich finde, das ist ein guter Tag. Werte Kolleginnen und Kollegen, wir reden in diesem Zusammenhang nicht nur über den Friedensprozess mit Eritrea, den der äthiopische Regierungschef angestoßen hat, sondern wir reden auch über einen enormen Aufbruch innerhalb der äthiopischen Gesellschaft, über das Öffnen von verschlossenen Türen, das Zugehen auf die Opposition, über einen Prozess, der enorme Hoffnungen in Äthiopien geweckt hat. Ich finde es gut, dass die Bundesregierung heute hier nicht nur vertreten ist, sondern der Bundesaußenminister auch deutlich gemacht hat, dass die Bundesregierung diesen Prozess unterstützen will. Ich finde es gut, dass die Kollegin Flachsbarth für das BMZ deutlich gemacht hat, was die Bundesregierung in diesem Zusammenhang tut. ({0}) Ich will aber auch ganz deutlich sagen: Ich erwarte noch weitere Schritte. Wir dürfen nicht bei dem stehen bleiben, was wir bisher tun. Eine solche Entwicklung, wie sie dort im Gang ist, kann man beobachten, man kann business as usual machen. Aber Geschichte, deren Ausgang offen ist, hängt immer auch vom eigenen Tun ab; deshalb möchte ich, dass die Bundesregierung hier noch stärker als bisher tätig wird und diesen politischen Prozess und wirtschaftlichen Aufbruch mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützt. ({1}) Eins ist ganz klar: Ein solcher Reformprozess ist kein Selbstläufer. ({2}) Er braucht politische und wirtschaftliche Unterstützung. Ich bin selbst Ende August in Äthiopien unterwegs gewesen. Man kann die Hoffnung der Menschen mit Händen greifen. Man kann aber auch die Erwartung spüren, die in diesem Prozess steckt, die Erwartung auf Erfolge dieses politischen Prozesses, die Hoffnung auf wirtschaftliche Verbesserungen im Land. Und wenn diese Erwartung enttäuscht wird, wenn der Prozess nicht schnell genug vorankommt, kann es auch leicht wieder zu Rückschlägen kommen. Und wir dürfen auch nicht übersehen, dass dieser politische Aufbruch eine Kehrseite hat, dass es auch Anarchie im Land gibt, dass es Gewalt gibt, dass es ethnische Auseinandersetzungen gibt – all das dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren. Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir diesen Prozess mit allen Kräften unterstützen. ({3}) Herr Kollege Lechte, Sie wissen auch, dass Deutschland einerseits zu den größten Gebern in der internationalen Flüchtlingshilfe gehört und dass wir zum anderen auch in den Haushaltsberatungen über weitere Schritte diskutieren. Ich finde Ihre Forderung richtig, dass sich Deutschland hier mehr engagieren soll; aber das Bild, Deutschland hätte bisher zu wenig getan, ist, glaube ich, nicht richtig. Das Gegenteil ist der Fall: Die Bundesrepublik ist hier Vorbild in der Flüchtlingshilfe. ({4}) Mit Blick auf Eritrea will ich Ihnen recht geben, Herr Kollege Schmidt: Man darf die Situation dort nicht verharmlosen; das tut, glaube ich, auch niemand. Wir alle sehen, dass das Regime in Eritrea nach wie vor keine Veränderung im Land zugelassen hat; auch deshalb bedarf es dort neuer Gespräche. Es ist ein gewisser Aufbruch da, es gibt den Friedensschluss mit Äthiopien. Es gibt eine Annäherung.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der FDP-Fraktion?

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, aber gern.

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Matschie, wenn Sie mich schon direkt ansprechen: Sie wissen hoffentlich und können mir vielleicht bestätigen, dass in dem jetzigen Haushaltsansatz für den UNHCR gerade mal 260 Millionen Euro eingestellt worden sind, wir aber im vergangenen Jahr 477 Millionen Euro an diese Einrichtung der UN – die für mich eine der Schlüsseleinrichtungen im UN-System ist, auch im Bereich der humanitären Hilfe – gezahlt haben. Wenn die USA sich zurückziehen, ist es dringend notwendig, dass Deutschland den Beitrag erhöht und nicht mindert. Gleichzeitig verkündet unser Außenminister in New York, wir hätten den Ansatz nach oben gefahren. Dabei planen wir einfach mal 217 Millionen Euro weniger ein als im vergangenen Jahr. Das sind reale Fakten und Zahlen.

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Lechte, ich kann Ihnen bei den Zahlen durchaus recht geben; aber Sie wissen auch, dass wir noch in Verhandlungen über den Haushalt sind. Der Haushalt ist noch längst nicht entschieden, und genau über diesen Punkt wird im Moment intensiv verhandelt. Ich bin sicher, dass es uns gelingt, am Ende noch mehr Mittel auch für die humanitäre Hilfe zur Verfügung zu stellen. ({0}) Zurück zur Situation in Eritrea: Ich glaube, es bedarf intensiver Gespräche. Auch dort muss ein Reformprozess vorangebracht werden. Dass es außenpolitisch erste Schritte gibt, zeigt nicht nur der Friedensschluss mit Äthiopien, sondern eben auch das Zugehen auf Somalia. Ich hoffe, dass diesen außenpolitischen Bewegungen, die wir dort sehen, der Dynamik, die dadurch entsteht, auch innenpolitische Reformen folgen werden. Ich finde, was wir in Äthiopien erleben, ist eine äußerst mutige Politik, die der Regierungschef dort vorantreibt. In einem Land mit über 100 Millionen Einwohnern und 80 verschiedenen Völkern einen solchen Reformprozess auf den Weg zu bringen, ist eine Mammutaufgabe. Und es ist eine Aufgabe, die einen langen Atem braucht. Wer Reformprozesse kennt – wir als Politiker können nachvollziehen: es entstehen Widerstände und enttäuschte Hoffnungen auf dem Weg –, weiß, dass dieser Prozess sehr, sehr viel Mut, Energie und Kraft und Ausdauer braucht. Ich wünsche mir, dass die Bundesrepublik Deutschland diesen Prozess nach allen Kräften mit den Möglichkeiten, die sie hat, unterstützt: politisch, wirtschaftlich und finanziell. Wir wollen deutlich machen: Wir sehen das nicht nur technisch. Wir sehen nicht nur neue Märkte. Wir gucken nicht nur auf Flüchtlingsströme. Vielmehr berührt das, was dort passiert, auch unsere Überzeugungen, unser Herz, unseren Verstand und fordert unser demokratisches Engagement, diesen Aufbruch zu unterstützen. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Margarete Bause.

Margarete Bause (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004663, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Matschie, Sie haben gerade angekündigt, dass es wohl noch eine Erhöhung des Ansatzes für humanitäre Hilfe geben könnte. Wir hatten in dieser Woche im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe dafür 2 Milliarden Euro gefordert. Jetzt liegt der Ansatz bei 1,5 Milliarden Euro. Ich glaube, das ist nicht zu hoch. Leider hat die Große Koalition dagegengestimmt. Könnten Sie sozusagen etwas Mutmachendes in diese Richtung heute äußern?

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Matschie, wollen Sie Mut machen? – Bitte.

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, ich bin ja im Ausschuss dabei gewesen, und Ihre Beschreibung ist zutreffend. Ich habe aber eben schon deutlich gemacht: Wir sind gerade noch in den Verhandlungen dazu. Deshalb gab es auch im Ausschuss noch keine Zustimmung. Die Verhandlungen laufen noch; sie sind nicht abgeschlossen. Aber ich bin sehr zuversichtlich, dass es uns gemeinsam in der Koalition gelingen wird, die Mittel für humanitäre Hilfe noch weiter aufzustocken. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Wir machen weiter in der Rednerliste. Der nächste Redner: Der Kollege Jürgen Hardt, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zu dem Thema „Ausstattung der humanitären Hilfe“ anmerken, dass wir in den letzten Jahren aus der bitteren Erfahrung der Jahre 2015 und davor gelernt haben. Damals hatten wir tatsächlich eine Situation, in der Flüchtlinge in Flüchtlingslagern das Gefühl gewinnen mussten, es wird ihnen in den Flüchtlingslagern zukünftig schlechter gehen als zum damaligen Zeitpunkt. Der damalige Zustand war schon unbefriedigend genug; aber sie hatten sich damit arrangiert. Dass das ein ganz wesentlicher Antrieb für Überlegungen dieser Menschen war, sich auf den Weg nach Europa zu machen, das wissen wir. ({0}) Deswegen darf das nie wieder passieren. Wir haben in den letzten Jahren regelmäßig die Mittel zur Verfügung gestellt, die notwendig waren, um diesen Fehler zu vermeiden. Ich finde nur, die Bundesregierung ist klug beraten, wenn sie mit der Völkergemeinschaft so verhandelt, dass nicht der Eindruck entsteht: Die Deutschen zahlen eh am Ende alles. – Vorsicht und Fairness müssen sein, damit auch andere ihren Beitrag leisten. Aber am Ende wird es nicht daran scheitern, dass Deutschland zu wenig Mittel einsetzt. Ich glaube, die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass wir dieses Wort auch halten können.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Hardt, ist eine Zwischenfrage des Kollegen Liebich gestattet?

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte, Herr Liebich.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Bitte schön, Herr Liebich.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Hardt, da muss ich an die Frage der Kollegin Bause noch einmal anknüpfen. Wir haben das gleiche Spiel im Auswärtigen Ausschuss erlebt. Sie sagen jetzt, Sie hätten aus der Vergangenheit gelernt. Effektiv aber werden uns von der Regierung weniger Mittel vorgelegt, als in der letzten Zeit ausgegeben wurden. Daher stellen wir, die Grünen und die FDP den Antrag, dass Sie diese Mittel erhöhen mögen, aber Sie lehnen das ab. Wie passt das denn zusammen?

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das passt insofern zusammen, als wir einerseits von den tatsächlich verausgabten Mitteln am Ende einer Haushaltsperiode sprechen. Andererseits sprechen wir jetzt über die Zahlen, die wir im Haushalt 2019 ansetzen. Ich habe, glaube ich, gerade eben deutlich ausgeführt, dass ich es schon klug finde, dass wir im Haushalt die Zahl berücksichtigen, zu der wir uns aufgrund internationaler Vereinbarungen verpflichtet fühlen, und dass wir der Regierung dann den Spielraum geben, darüber hinausgehend zu verhandeln und sicherzustellen, dass die Aufgabe gelöst wird. Ich halte nichts davon, eine Zahl ins Schaufenster zu stellen; denn am Ende halten sich andere mit ihren Zuschüssen, mit ihren Einzahlungen entsprechend zurück. Das wäre für den deutschen Steuerzahler und für die Betroffenen sicherlich keine gute Lösung. ({0}) – Ich würde jetzt gerne zum eigentlichen Gegenstand der Debatte kommen und deswegen vielleicht die Zwischenfrage des Kollegen Lechte nicht zulassen wollen. Ich möchte noch einige Aspekte des Themas „Äthiopien und Eritrea“ ansprechen, die vielleicht noch nicht entsprechend gewürdigt worden sind. Wir sprechen immer darüber, was wir Deutschen, was wir Europäer tun können. Beim Compact with Africa haben wir einen starken Ansatz, der von Clustern ausgeht. Bestimmte afrikanische Länder werden dabei von bestimmten europäischen Ländern in einem nachhaltigen, langfristigen und umfassenden Prozess begleitet, damit die Entwicklung vorangeht. Ich finde, wir sollten ganz besonders ein Augenmerk darauf richten, dass wir innerhalb Afrikas zunehmend wachsende und funktionierende Strukturen haben und Afrika auf multilateraler Ebene selbst in der Lage ist, solche Prozesse sinnvoll zu begleiten. Das gelingt vielleicht nicht ohne Unterstützung von außen, aber eben im Sinne des Ownership, wie man das neudeutsch nennt, durch Afrika selbst. Das gelingt gemeinsam mit der Afrikanischen Union, die sich in den letzten Jahren deutlich fortentwickelt hat. Das gelingt auch gemeinsam mit der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit – Stichwort COMESA – im östlichen und südlichen Afrika. Ich glaube, dass wir als Deutsche und als Europäer gut beraten wären, gerade diese Institutionen zu stärken, weil wir aus unserer europäischen Erfahrung heraus wissen, dass dieser multilaterale Ansatz für die Lösung von solchen Konflikten ganz entscheidend ist. Deswegen würde ich mir wünschen, dass die regionalen und kontinentalen Strukturen Afrikas zur multilateralen Konfliktbewältigung genutzt werden. Ich habe den Außenminister so verstanden, dass die Idee, dass die Europäische Union ein Forum bieten könnte, in dem die Staaten der Region begleitet werden bei ihrem Prozess, eine Aussöhnung in Äthiopien und Eritrea zu erreichen, funktionieren könnte. Dabei müssen aber die Interessen der Nachbarstaaten Somalia, Sudan und Südsudan, die alle große Probleme haben, berücksichtigt werden. Ich möchte zum Schluss noch das, was der Kollege Schmidt gesagt hat, ganz deutlich unterstreichen. Die Menschenrechtslage in Äthiopien und Eritrea ist sehr unterschiedlich. Sie ist in beiden Staaten unbefriedigend, aber in Eritrea sehen wir eindeutig die größeren Defizite. Es darf natürlich jetzt keine umgekehrte Entwicklung eintreten, dass nämlich durch eritreischen Einfluss der Menschenrechtsstandard insgesamt weiter abgesenkt wird. Im Gegenteil: Die Bereitschaft der eritreischen Führung, an diesem Prozess teilzuhaben, muss einhergehen mit einem grundsätzlichen Wandel in der Menschrechtspolitik und auch mit einem grundsätzlichen Wandel im Bereich der Wehrdienst- bzw. Dienstpflichtenpolitik. Wir wissen, dass eine vierstellige Zahl von Asylanträgen in Deutschland allein deshalb bewilligt wird, weil die Praxis in Eritrea so ist, wie sie ist. Ich glaube, dass wir da hohe Maßstäbe ansetzen müssen. Ich glaube aber auch, dass der Außenminister mit sehr viel Wohlwollen dem Wunsch von Äthiopien und Eritrea nach Aufhebung der Sanktionen gegenüber Eritrea in der UN begleiten sollte. Das wäre ein angemessener Schritt und ein guter Startschuss für eine Integration dieser Staaten in die Weltwirtschaft. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Ulrich Lechte, FDP-Fraktion.

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Hardt, ich weiß, dass Sie als Sprecher für diesen Themenbereich die außenpolitische Waffe der CDU/CSU-Fraktion sind. Deshalb werden Sie verstehen, dass wir als Opposition deutlich machen – was Sie leider nicht so tun können –, dass der Haushaltsposten für das Auswärtige Amt derzeit völlig unterfinanziert ist. Wir wissen des Weiteren: Wenn wir im Bereich von Peacekeeping, Peace Missions und Flüchtlingshilfe, wie im Fall des UNHCR, vorzeitig sagen, wie viel Geld wir geben können, ermöglichen wir den Leuten bei der UNO, vor Ort zu planen. Geld, das frühzeitig und nicht erst unter dem Eindruck einer Krise bewilligt wird, kann besser eingesetzt werden. Darüber haben wir schon oft diskutiert. Deswegen fand ich es sehr schade, dass Sie meine Zwischenfrage nicht zugelassen haben. Dann hätten Sie einfach bestätigen können, was ich sage; denn das entspricht der Wahrheit. Wir müssen dringend den Haushaltsansatz erhöhen. Der UNHCR hat allein für dieses Jahr, weil die Flüchtlingszahlen weltweit steigen, einen weiteren Finanzbedarf von 600 Millionen Dollar angemeldet. Er lag insgesamt für dieses Jahr bei 7,5 Milliarden Dollar; für nächstes Jahr liegen die Prognosen bei 8,1 Milliarden Dollar. Das Geld muss irgendwo herkommen. Wenn wir es nicht schaffen, die Chinesen, die Russen, die G 20 und wie sie alle heißen einzubinden, dann wird Deutschland das am Ende übernehmen müssen. Allein am Horn von Afrika, über das wir gerade reden, gibt es 10  Millionen Flüchtlinge, die versorgt werden müssen. Darauf habe ich in meiner Rede auch hingewiesen. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Hardt, Sie hätten Gelegenheit, zu antworten.

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Lechte, ich möchte dazu nur sagen, dass wir vor dem Hintergrund des jetzt zu verhandelnden Haushaltes genau wie in den Jahren zuvor sicherlich sagen können, dass es an der notwendigen deutschen Unterstützung im Bereich humanitäre Hilfe und Krisenbewältigung nicht gelegen hat. Der Außenminister hat hierfür unsere Rückendeckung. Er weiß das aus den Ausschussberatungen, aus den Plenarberatungen. Insofern sehe ich das Problem, das Sie auf sich zukommen sehen, nicht. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Dietmar Friedhoff, AfD-Fraktion. ({0})

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Besucher! Frieden in einer der fragilsten Regionen Afrikas, Frieden zwischen Äthiopien und Eritrea als Zukunftsanker für Teilhabe, Nachhaltigkeit und Selbstentwicklung: ein Schritt mit Strahlkraft für eine ganze Region, für einen ganzen Kontinent. Deutschland und auch die Fraktion der AfD sind sich über die Bedeutung im Klaren. Wir werden gemeinsam sinnvoll, planvoll und zukunftsorientiert diesen Weg gestalten, allerdings in den Bereichen, wo wir meinen: Darin versteht Deutschland sein Handwerk. Arbeitsplätze und Perspektiven zu schaffen für die Menschen in Afrika, das muss das Ziel sein. Damit aber gerade dies eben auch passieren kann, müssen wir einmal ganz genau hinschauen, warum was wie passiert. Denn nur eine richtige Analyse am Anfang kann letztendlich zu einer richtigen Antwort auf die Gestaltungsfrage führen. Wie kam es zu diesem doch sehr schnellen Friedens- und Schulterschluss zwischen Eritrea und Äthiopien nach nunmehr fast 20 Jahren? Nun, die Chinesen schaffen Fakten in einer Zeit, in der Europa noch pfadfindermäßig eigene Wege sucht gemäß dem Grundsatz von Herrn Raabe und der SPD: Wir sind es schließlich den Menschen in Afrika schuldig. Die einen verfolgen wirtschaftliche Interessen, die anderen immer noch den karitativen Ansatz. Das Horn von Afrika, Äthiopien, soll Teil der neuen chinesischen Seidenstraße werden. Was wird also benötigt? Infrastruktur, Eisenbahnlinien, Flughäfen, Straßen. Beispiel ist die Eisenbahnverbindung von Addis Abeba nach Dschibuti. Länge: 750 Kilometer. Investitionen: 3 Milliarden Euro. Geldgeber, Umsetzer, Nutzer: China. Das bedeutet, dass die Chinesen nur in Äthiopien für den Bau einer Eisenbahn ein Drittel des gesamten weltweiten deutschen Entwicklungshilfeetats ausgeben. Schon vorhanden ist das internationale Flugdrehkreuz Addis Abeba. Hier werden schon jetzt annähernd 10 Millionen Fluggäste im Jahr in weit über 95 Länder der Welt transportiert. Aber was fehlt für dieses logistische Drehkreuz? Es fehlt Äthiopien, das keinen eigenen Zugang zum Meer hat, eines: ein Hafen. Zwei Häfen liegen in unmittelbarer Nähe. Hafen 1: Dschibuti. Dieser befindet sich bereits im Besitz der Chinesen; denn die haben dort eine Militärbasis zur Abwehr islamistischer Terroristen. Bleibt Hafen 2: Eritrea. Die Eritreer wiederum wurden in der letzten Zeit auch von Amerika umgarnt. Um ein stärkeres Festsetzen der Amerikaner zu unterbinden, schaffen die Chinesen eben Fakten. Investition ist auch hier das Zauberwort. Äthiopien und Eritrea schließen Freundschaft und damit Frieden. Äthiopien bekommt Zugang zum Hafen, und grenzüberschreitender Verkehr wird ermöglicht. Deswegen sind sowohl Eritrea wie auch Äthiopien genau wie die gesamte Region Gewinner. Denn hier wurde nicht, wie von Ihnen in Ihren Anträgen immer so gern gefordert, Mediation betrieben, sondern Konfliktlösung durch eine gemeinsame strategische Zielsetzung und deren Finanzierung und Umsetzung. Nun steht in beiden Anträgen explizit, wir sollen beim Aufbau und Ausbau von Infrastruktur helfen. Da müssen wir uns auch einmal ganz ehrlich fragen: Ist das unsere Stärke, und haben wir dazu die nötige Kraft, die nötige Ausdauer und das nötige Geld? Wir sagen eher: Nein. Deswegen muss und sollte Deutschland das tun, was es am besten kann: Verwaltungen aufbauen, bilden und ausbilden, um damit demokratische Strukturen zu integrieren und zu festigen, ({0}) Universitäten, Fachhochschulen, Verwaltungsschulen, Landwirtschaftsschulen und Meisterschulen aufbauen, für Ausbildung auch und gerade in handwerklichen Bereichen sorgen, und das in Verbindung mit der deutschen Industrie. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, genau das wäre Nachhaltigkeit in Reinform. Eine weitere wichtige Funktion Deutschlands ist die Vermittlung zwischen Ägypten und Äthiopien bezüglich des großen Staudamms am Nil, damit der Große Damm der äthiopischen Wiedergeburt zu einem Kanal des Fortschritts und des Friedens wird. Lassen wir die anderen die Straßen bauen. Machen wir unseren Job, und zeigen wir den Menschen, was sie tun können, damit die Menschen in die Lage versetzt werden, Selbstverantwortung zu übernehmen. Gerade das ist unser Ziel von der AfD-Fraktion für und in Afrika: Selbstverantwortung für eine zukunftsorientierte Selbstentwicklung. Danke schön. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Thomas Erndl, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher! Liebe Zuschauer! Wir haben letzte Woche den Tag der Deutschen Einheit gefeiert. Für alle Menschen in unserem Land, die vielleicht Ende 30 sind und älter, ist dieser Tag mit emotionalen Momenten und persönlichen Erfahrungen verbunden. Auch für alle Jüngeren ist das natürlich ein schöner Feiertag, aber am Schluss ein Tag ohne persönliche Erfahrung, letztendlich ein Verweis auf einen Eintrag im Geschichtsbuch. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte, dass irgendwann die Schlagzeilen von humanitären Katastrophen, Kriegen, Terror, politischer Instabilität in Afrika auch nur Einträge in Geschichtsbüchern sind und dass wir junge Menschen in Europa haben, die in Afrika einen Kontinent der Chancen sehen, mit dem es gilt auf Augenhöhe Handel zu treiben, Austausch, Wissenschaft, Bildung und vieles andere. Das mag natürlich weit weg klingen, aber wir diskutieren in dieser Stunde eben eine ganz besondere positive Entwicklung in Äthiopien, Eritrea. In der Region scheint sich etwas zum Guten zu wenden. Wir haben in den letzten Jahren bereits eine interessante wirtschaftliche Entwicklung in Äthiopien festgestellt. Aber mit dem Ministerpräsidenten Abiy scheint eine neue Zeit angebrochen zu sein. Neben vielen innenpolitischen Verbesserungen in Äthiopien gab es am 8. Juli 2018 – es ist bereits angesprochen worden – mit dem Friedensvertrag ein absolut vielversprechendes Zeichen zur friedlichen Überwindung der Feindseligkeiten. Ein bedeutender Fortschritt, der noch vor wenigen Monaten undenkbar schien. Der Ministerpräsident hat die politische Instabilität in seinem Land eindämmen können und von Beginn an betont, die Mauer zwischen Äthiopien und Eritrea niederzureißen und Brücken zu bauen. Dass das Ganze aber nach wie vor ein fragiler Zustand ist, zeigen die Unruhen, wie zuletzt auch in der Hauptstadt Addis Abeba. Deshalb ist es richtig, dass wir Parlamentarier mit unserem Antrag die Bundesregierung auffordern, die positive Entwicklung in Äthiopien und in der Region zu unterstützen. Wir machen hier bereits eine ganze Menge. Außenminister Maas hat vorgestellt, wie wir uns in der Region in Sicherheitsfragen engagieren. Staatssekretärin Flachsbarth hat das umfassende Engagement im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit dargestellt. Gerd Müller hat bei seinem Besuch im August dieses Jahres betont und letztendlich zugesagt, dass wir unsere Zusammenarbeit zu einer Reformpartnerschaft vertiefen. Gerade Ausbildung, Meisterausbildung, die Bildungseinrichtungen wollen wir zu einem Schwerpunkt machen, besonders die Berufsausbildung nach dem Konzept, wie wir es hier bei uns kennen. Auch mit weiteren Instrumenten in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik unterstützen wir. Das Goethe-­Institut hat in der Hauptstadt eine neue Bibliothek eröffnet, die Modell für weitere Einrichtungen in Afrika sein soll. Schon seit ganz langer Zeit unterstützt zum Beispiel das Deutsche Archäologische Institut bei Erhalt und Erforschung von Kulturgütern. Das mag hier unwichtig erscheinen, aber gleichzeitig stabilisieren wir damit auch bei Arbeitsplätzen und handwerklicher Ausbildung. ({0}) Bildung – es ist angesprochen worden – ist die Lösung vieler Probleme. Deswegen ist es mir ein besonderes Anliegen, mit Nachdruck für die Erhöhung der finanziellen Unterstützung und den Ausbau des Bildungssystems zu werben, zum Beispiel für die Deutsche Botschaftsschule sowie für das Informationszentrum des DAAD, das auch im Antrag der Regierungskoalition so vorgesehen ist. Mit unseren Einrichtungen waren wir im Übrigen auch in schwierigen Zeiten, in kriegerischen Zeiten vor Ort. Deswegen sind wir jetzt auch ein wichtiger und angesehener Partner in der weiteren Entwicklung. Die Umsetzung der Ideen von Ministerpräsident Abiy sowie eine nachhaltige Partnerschaft zwischen Äthiopien und Eritrea mit stabilen Strukturen in beiden Ländern haben positive Auswirkungen auf die ganze Region. Deswegen ist es so wichtig, dass wir diesen Prozess unterstützen. Als Parlamentarier machen wir das mit diesem Antrag deutlich. Letztlich sehen wir, dass gutes Regierungshandeln immer die Menschen in den Mittelpunkt stellen muss. Das scheint nun in Äthiopien in einem gewissen Umfang der Fall zu sein. Bei vielen Regierungen in Afrika ist das nicht der Fall. Deswegen ist es so wichtig, dass wir diese Region, dass wir Äthiopien auf diesem so positiven Weg begleiten und unterstützen, nicht von oben herab, sondern als Partner auf Augenhöhe. Der Antrag zeigt hier Handlungsfelder auf. Afrika als Kontinent der Chancen schließt natürlich unsere Wirtschaft, unsere Unternehmen mit ein. Wir sollten natürlich auch diese Chancen nutzen. Afrika als Kontinent der Chancen – das muss unser Bild sein. So werden Berichte über humanitäre Not, Kriege und Terror irgendwann nur Einträge in den Geschichtsbüchern sein. In diesem Sinne bitte ich Sie um Unterstützung für unseren Antrag. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Till Mansmann, FDP-Fraktion. ({0})

Till Mansmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004815, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Bundesminister Maas! Wenn große und schwere Konflikte wie der zwischen Eritrea und Äthiopien beigelegt werden, dann ist das eine großartige Sache. Aber dann darf man sich nicht zurücklehnen, sondern man muss handeln. Das ist der Anlass für die beiden Anträge, die heute hier vorliegen. Wichtig ist aber auch, in welchem Geiste dieses Handeln steht. Deswegen möchte ich die Gelegenheit nutzen und etwas Grundlegendes zur Migrationsdebatte sagen. Wir sprechen auch am Beispiel von Äthiopien und Eritrea wie in vielen anderen Zusammenhängen immer wieder von der Bekämpfung von Fluchtursachen. Das ist eine Art Generalerklärung für den Sinn von Entwicklungszusammenarbeit geworden. Ich halte dies für eine ungute, vielleicht sogar etwas gefährliche Entwicklung. In diesem Zusammenhang, Kollege Schmidt von den Grünen, teile ich Ihre Bedenken. Wir werden mit Entwicklungszusammenarbeit Migrationsbewegungen nur sehr langsam beeinflussen können. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit, die den Lebensstandard in anderen Ländern erhöht, sogar zu einer Zunahme von Migration führt. Wenn das so kommt, dann fällt uns dieser Ansatz irgendwann einmal schwer auf die Füße. Jetzt muss es darum gehen, die internationale Zusammenarbeit zu verbessern, Menschen aus bitterer Armut zu holen, den Lebensstandard aller Menschen weltweit anzuheben, Umweltschäden zu verringern, Frieden und Menschenrechte zu fördern. Es muss unser Ziel sein, Migration zu gestalten und zu managen, damit sie zum Vorteil der Migranten, zum Vorteil der Zielländer und nicht zum Nachteil der Herkunftsländer wird. Nicht zu verhindern, sondern zu gestalten ist unsere Aufgabe. Äthiopien und Eritrea sind sehr gute Beispiele dafür. Der Krieg zwischen diesen Ländern steht symbolisch für die Probleme des Nachbarkontinents. Der geschlossene Friede kann zum guten Beispiel für viele weitere Verbesserungen werden. So wie die Europäische Union mit ihrem Binnenmarkt und den offenen Grenzen den Wohlstand und den Frieden in Europa gesichert und ausgebaut hat, müssen wir auch in Afrika alle Entwicklungen unterstützen, die die Sperrwirkung von Grenzen reduzieren. Bisweilen stellen wir uns dabei etwas unbeholfen an. Deswegen fordern wir in unserem Antrag, die vielen im Augenblick unübersichtlichen Maßnahmen und Projekte auf nationaler und europäischer Ebene zu überprüfen und global zu bündeln. Wir müssen bei jedem Engagement sehr sorgfältig darauf achten, dass die Achtung von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsvermeidung immer unsere zentralen Forderungen sind und dass Verstöße dagegen mit jeder Härte geahndet werden. ({0}) Um es klar zu sagen: Eritrea erfüllt die Maßstäbe, die wir an die Entwicklungszusammenarbeit legen, nicht. Die GIZ hat ein Projekt, das unter anderem der Schulung von Ermittlern und Justizbeamten zur Grenzsicherung in Eritrea dient. Zur gleichen Zeit hat das Militär von Eritrea den Auftrag, Menschen mit Gewalt davon abzuhalten, das Land zu verlassen. Gerade mit Blick auf die jüngere deutsche Geschichte müssen wir überlegen, ob das richtig ist. Der Antrag der FDP-Fraktion weist in die richtige Richtung. Die Achtung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit dürfen wir nicht preisgeben. Wir sollten dabei auch multilaterale Programme im Rahmen der Vereinten Nationen – der Kollege Lechte hat das schon für den Haushalt ausgeführt – in den Geist stellen, in dem die Zusammenarbeit stattfinden muss, und das vonseiten der Entwicklungszusammenarbeit unterstützen. Da Ihr Antrag, liebe Kollegen von der Großen Koalition, im Grunde eine ähnliche Stoßrichtung hat, bitten wir Sie, gerade in diesem Zusammenhang noch einmal zu überdenken, ob man nicht vielleicht etwas verändern könnte. Wir werden hoffentlich die Gelegenheit haben, in den Ausschüssen darüber zu diskutieren. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner in der Debatte zu diesem Punkt: Frank Steffel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner in der Debatte kann ich, glaube ich‚ Einvernehmen feststellen. Das war eine wohltuend sachliche und in vielen Bereichen sehr kenntnisreiche Debatte. Danke ausdrücklich für das Lob der Opposition. Ich finde, das tut in einer solchen Frage dem Hause einmal ganz gut. Ich fand alle Reden sehr wertvoll, die von uns noch ein bisschen besser. ({0}) Insgesamt habe ich den Eindruck, dass wir alle die Bedeutung dieser Entwicklung in zwei sehr wichtigen Ländern Afrikas einschätzen können. Auch die Tatsache, dass die Debatte in der Kernzeit stattfindet, zeigt, dass die Bundesregierung und der Bundestag sehr gut daran tun, diesen Friedensprozess nicht nur zu unterstützen, sondern ihn auch in der deutschen Öffentlichkeit werbend darzustellen und darüber zu diskutieren. ({1}) Er hat natürlich strategische Bedeutung – das hat die Debatte auch deutlich gemacht – weit über das Horn von Afrika hinaus. Wir freuen uns, dass die beiden Länder – vieles ist dazu gesagt worden – sich dadurch hoffentlich in einem Friedensprozess befinden, der am Ende unumkehrbar wird. Wir freuen uns, dass die Menschen in Äthiopien hoffentlich von diesem Präsidenten ein Stück Demokratie, Menschenrechte und vieles mehr erlangen, als es in der Vergangenheit der Fall war. Äthiopien ist in seiner Entwicklung unzweifelhaft deutlich weiter als Eritrea. Es gibt berechtigte Zweifel, ob in Eritrea die Entwicklung auch so eintritt, wie wir uns das wünschen. Ich persönlich sage, ich habe den Eindruck, mit diesem Diktator wird das sehr, sehr schwierig. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Wir alle kennen die Bedeutung der Entwicklung in diesen beiden Ländern letztendlich für Europa und für uns. Natürlich muss das Ziel sein – von einer Partei wird immer der Eindruck erweckt, es gäbe hier einen Dissens –, dass Menschen, die aus Eritrea zu uns gekommen sind, zurück in ihre Heimat gehen und mithelfen, ihr eigenes Land wieder aufzubauen, wenn dort Demokratie, Menschenrechte und eine wirtschaftlich vernünftige Entwicklung für Familien, Kinder und alle Menschen möglich sind. Das ist doch unter allen vernünftigen Demokraten völlig unstreitig. Wir dürfen auch nicht zulassen, dass hier der Eindruck erweckt wird, es gebe eine Partei, die diese Interessen vertritt, und alle anderen sind anderer Auffassung. Ziel muss am Ende, nach meiner Überzeugung – das ist in der Debatte etwas zu kurz gekommen –, ganz wesentlich die Förderung privatwirtschaftlichen, marktwirtschaftlichen Engagements sein. Am Ende wissen die Menschen in Äthiopien und Eritrea sehr wohl, dass sie nicht morgen schon den europäischen Lebensstandard haben. Aber sie wollen das Gefühl haben – hier sind die 10 Prozent Wirtschaftswachstum in Äthiopien ein wichtiger Baustein –, dass es aufwärtsgeht, dass es ein Prozess ist, der kontinuierlich vorangeht, und dass es nicht irgendwann wieder Rückschläge gibt, die dazu führen, dass die Menschen darüber nachdenken, mit ihren Kindern die Region und das eigene Land zu verlassen. Nur wenn wir das hinkriegen, werden wir die Fluchtursachen erfolgreich bekämpfen und damit natürlich auch die Probleme, über die wir in Europa hinreichend diskutieren, reduzieren können. Dafür sind Investitionsvoraussetzungen zu schaffen. Das müssen wir auch bei den Regierungen dort immer wieder anmahnen. Ich will jetzt keine außenpolitisch-wirtschaftspolitische Rede halten, wir wissen alle, was deutsche Unternehmen, was europäische Unternehmen zu Recht erwarten, wenn sie in solchen Ländern investieren. Das sollten wir im Interesse der Länder anmahnen; denn nur mit ausländischen Investitionen und natürlich den Rahmenbedingungen in den Ländern wird es dort kontinuierlich eine dynamische Entwicklung geben. Deutschland engagiert sich zu Recht in beiden Ländern. Ich will das noch einmal ganz bewusst festhalten. Wir unterstützen auch den Premierminister in seiner Demokratisierung ausdrücklich. Es ist schon ein ermutigendes Signal, dass in einer der ersten Amtshandlungen 1 000 Oppositionelle freigelassen wurden. Das gab es nicht in allzu vielen Ländern in Afrika in den vergangenen Jahrzehnten. Ich möchte einen Punkt ansprechen, der mir persönlich wichtig ist. Wir sollten gemeinsam nicht nur auf humanitäre Hilfe achten, sondern insbesondere auf Bildung. Wir sollten alles dafür tun, dass die heranwachsende Generation, Kinder und Jugendliche, in beiden Ländern ein deutlich verbessertes Bildungssystem und damit mehr Chancen hat, damit sie einen wichtigen Beitrag beim Aufbau ihres Landes leisten kann. Vom Kollegen Matschie ist zu Recht gesagt worden: Wir brauchen einen langen Atem. Ja, auch das wissen alle, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Das wird keine Entwicklung von 5, 10 oder 20 Jahren sein, sondern das wird ein Prozess sein, der ein oder zwei Generationen bedarf. Die Menschen erwarten von uns ein wesentliches Signal: Unsere Unterstützung ist keine kurzfristige, sie ist keine mittelfristige, sondern sie ist eine langfristige. Die Menschen in beiden Ländern können sich darauf verlassen, dass der Deutsche Bundestag – unabhängig davon, wer regiert – alles dafür tun wird, dass die Entwicklung in beiden Ländern weiterhin erfolgreich ist; denn nur mit dieser Perspektive bleiben die Menschen in ihren Ländern und werden beim Aufbau von Demokratie und Marktwirtschaft mitwirken. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Steffel. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Wir kommen zur Überweisung. Interfraktionell ist beschlossen, die Vorlagen auf Drucksachen 19/4847 und 19/4837 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Christian Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004333, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Mai waren in Berlin 15 000 Menschen für bezahlbaren Wohnraum auf der Straße, am 15. September 11 000 Menschen in München. Am 20. Oktober werden Tausende Menschen in Frankfurt auf der Straße sein und einfordern, dass diese Bundesregierung endlich handelt und etwas für bezahlbaren Wohnraum in Deutschland tut. ({0}) Ignorieren Sie als Große Koalition nicht länger diese Proteste und die Menschen, die für das Grundrecht auf Wohnen auf die Straße gehen! Diese Menschen leiden unter horrenden Mietsteigerungen. Sie leiden unter den explodierenden Immobilienpreisen, unter Verdrängung, Gentrifizierung und der Polarisierung in unseren Städten. Diese dürfen wir nicht länger zulassen. ({1}) Wenn Sie als Union schon diese Proteste ignorieren und uns als Opposition auch nicht erst nehmen, ({2}) dann rate ich Ihnen: Hören Sie Ihrem Parteikollegen Markus Lewe zu, dem Präsidenten des Deutschen Städtetages! Er sagt: Die soziale Marktwirtschaft beim Wohnen muss neu justiert werden. – Deswegen bringen wir eine grüne Wohnoffensive und das Bestellerprinzip bei den Maklerkosten ein; denn wir sind davon überzeugt, dass die soziale Marktwirtschaft in eine Schieflage geraten ist und sie deswegen neu ausgerichtet werden muss. ({3}) Wir brauchen eine funktionierende Mietpreisbremse. Ich werde nicht müde, das hier zu betonen. Anders werden wir die Steigerungen bei den Mieten nicht bremsen können. Wir brauchen eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit, weil sonst die Spirale beim sozialen Wohnungsbau weiter nach unten gehen wird. Wir brauchen eine soziale und nachhaltige Bodenpolitik, um Spekulation in unseren Städten im wahrsten Sinne den Boden zu entziehen. ({4}) Ich weiß nicht, was Ihnen von der Union die Menschen auf der Straße entgegnen, wenn Sie sagen: Bei der Maklerprovision müssen wir uns noch unterhalten. – Wir haben in Deutschland die höchste Maklerprovision in ganz Europa. Hierzu sagen nicht nur wir Grünen, sondern auch das Deutsche Institut für Wirtschaft und das Bundeskartellamt, dass wir sozusagen neue Leitplanken bei der sozialen Marktwirtschaft brauchen. Deswegen sagen wir Grünen heute mit einem Gesetzentwurf ganz klar: Das Bestellerprinzip muss in Deutschland eingeführt werden. 7,14 Prozent Maklerprovision sind bei einem Immobilienerwerb von 350 000 Euro schlappe 25 000 Euro, also viel mehr als die Entlastung durch das Baukindergeld. Das ist zu viel. Deswegen sagen wir ganz klar: Hier muss endlich die Leitplanke des Bestellerprinzips eingeführt werden, damit der Markt wieder funktioniert. ({5}) Das ist übrigens viel billiger, als 12 Milliarden Euro in das Baukindergeld zu schieben, das am Ende zu Bau­preissteigerungen führt. Dieses Geld wäre besser im sozialen Wohnungsbau angelegt. ({6}) Ich bin gespannt auf die Debatte und Ihre Redebeiträge aus der Großen Koalition; denn ich will, dass Sie als Union heute beim Bestellerprinzip endlich Farbe bekennen. Wollen Sie es einführen oder nicht? Diese Antwort müssen Sie heute geben. ({7}) Bei der SPD bin ich gespannt, ob sie heute sagt, ob sie eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit will oder nicht. Auch dazu müssen Sie heute Stellung beziehen. Ich glaube, das sind Sie den Menschen, die in Deutschland zu Tausenden auf die Straße gehen, wirklich schuldig. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition, ignorieren Sie diese Proteste nicht! ({8}) Sonst werden Ihre Umfrageergebnisse nicht nur an diesem Sonntag bittere Realität für Sie. ({9}) Danke schön. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Volkmar Vogel. ({0})

Volkmar Uwe Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines ist erst einmal Fakt – das muss man auch betonen –: In Deutschland wird viel gebaut, und das ist gut so. Ich glaube, es ist die Verantwortung von uns allen, dafür zu sorgen, dass dieser Bauboom auch in allen Bereichen des Wohnungsbaus ankommt, insbesondere in dem Bereich, in dem es um soziale Belange geht. Denn Wohnen ist eine soziale Frage; das ist uns klar. Daran müssen wir arbeiten. Es ist wichtig, dass möglichst viel Wohnraum zur Verfügung steht. Das ist eine Aufgabe, die nicht nur uns hier im Deutschen Bundestag obliegt, sondern es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Gemeinschaftsaufgabe. Bund, vor allen Dingen die Länder und die Kommunen müssen gemeinsam handeln. Dazu brauchen wir alle Akteure. Es hilft nichts, wenn wir vielfältige Aktivitäten, für die ich mich ausdrücklich bedanken will, nur im kommunalen Bereich haben. Nein, wir brauchen genauso Investoren. Wir brauchen auch die vielen Privaten, die vielen Kleinvermieter, die das Gros der Vermietung in unserem Land ausmachen und die maßgeblich zum sozialen Frieden und guten Miteinander beitragen können. Ich glaube, dagegen kann wohl keiner etwas sagen. ({0}) Die Anträge erfassen meiner Meinung nach immer nur einen Teil dessen, was eigentlich die Gesamtproblemlage ausmacht. Es hilft nicht, nur im Mietrecht etwas zu tun. Es hilft auch nicht, nur in Teilen des Baurechts etwas zu tun. Vielmehr ist das eine Sache, die umfänglich betrachtet werden muss. Einige von Ihnen waren dabei: Der Wohngipfel hat den maßgeblichen Impuls dazu gegeben. Er ist gespeist vom Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen, das wir schon in der vergangenen Legislaturperiode miteinander auf den Weg gebracht haben und an dem alle Akteure beteiligt sind. Dies zeigt genau den Weg auf. An diesem Weg arbeiten wir. Ich bitte auch die anderen Kollegen hier im Hohen Haus, daran mitzuarbeiten. Die Lage ist differenziert zu sehen. Wir haben auf der einen Seite einen angespannten Markt, insbesondere in einzelnen Metropolen. Wir haben auf der anderen Seite aber durchaus auch entspannte Märkte – ich sage es einmal salopp – auf dem flachen Land. Beides müssen wir einer Betrachtung unterziehen. Für beides müssen wir die richtigen Maßnahmen finden. Wenn ich an den Wohngipfel vor wenigen Wochen denke, dann muss ich sagen, dass er die richtigen Ausgangspunkte festgehalten hat. Wir sorgen dafür, dass Wohneigentum gefördert wird. Denn machen wir uns nichts vor: Die sozialste Form des Wohnens ist das Wohnen im eigenen Wohneigentum. Aber das kann sich in unserem Land natürlich nicht jeder leisten, und das will sich auch der eine oder andere nicht leisten. Also müssen wir auch für den Mietwohnungsbau etwas tun. Wir haben damit begonnen. Ein wesentlicher Punkt, um gerade die Förderung des Wohneigentums voranzubringen, ist das Baukindergeld. Hier denken wir vor allen Dingen an die jungen Familien, an die Familien mit Kindern, die sich eine neue Existenz aufbauen wollen. Wir werden die Wohnungsbauprämie anpassen und verbessern, damit sie wieder attraktiv wird. Aber wir haben auch schon Maßnahmen im Mietwohnungsbau eingeleitet. Ich nenne nur den sozialen Wohnungsbau. 1,5 Milliarden Euro auch für das nächste Jahr ist eine stolze Zahl. Wenn es uns im Rahmen der Änderung des Grundgesetzes gelingt, auch hier Veränderungen herbeizuführen und den Bund wieder mehr in die Verantwortung zu nehmen, dann ist unser Ziel, das auf 2 Milliarden Euro aufzustocken. Wir hatten erst letztens die Diskussion zum Haushalt. Wir haben die Städtebauförderung. Sie wird auf hohem Niveau weitergeführt. Ich bitte darum – dieser Appell richtet sich auch an die Bundesregierung –, dafür Sorge zu tragen, dass bei den Verwaltungsvereinbarungen zwischen Bund und Ländern dafür gesorgt wird, dass auch die vielen Privaten in den innerstädtischen Quartieren hier mit einbezogen sind und ihren Beitrag leisten können. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sage auch: Vorsicht! Viel hilft nicht immer viel. Wir müssen vorsichtig mit den Förderprogrammen umgehen, damit wir den Markt nicht verzerren. Die Bauwirtschaft ist derzeit schon an der Kapazitätsgrenze, und vieles von dem, was auf den Weg gebracht wird, wird unter Umständen, wenn wir nicht aufpassen, eingepreist. Die preiswertere Möglichkeit, etwas für den Wohnungsmarkt zu tun – und daran arbeiten wir; auf dem Wohngipfel haben wir die entsprechenden Maßnahmen festgelegt –, ist, dass wir am Ordnungsrecht arbeiten. Dazu gehört das Mietrecht. Aber ich sage auch: Eine Änderung des Mietrechts ist auf Dauer keine Lösung. Das hilft nur, die derzeit schwierige Situation – Chris Kühn hat es eben beschrieben, und wir teilen diese Auffassung – zu mildern. Wir müssen dafür sorgen, dass die Mietpreisbremse örtlich begrenzt ist, dass sie zeitlich begrenzt ist und dass sie mit Maßnahmen einhergeht, mit denen man die Wohnungssituation insgesamt verbessert. Und das geht nur – da bin ich wieder bei meinen drei Akteuren: Bund, Länder und Kommunen – gemeinsam. Wir müssen auch ans Baurecht ran. Wir haben in der letzten Legislatur dafür gesorgt, dass die Baunutzungsverordnung geändert worden ist. Wir haben Sie um die Kategorie „urbanes Gebiet“ erweitert. Ähnliches brauchen wir auch in ländlichen Regionen mit dörflichem Kerngebiet, damit es leichter wird, zu bauen, damit es leichter wird, Gebäude umzunutzen und zu Wohnzwecken zu nutzen. Dafür haben wir die Baulandkommission ins Leben gerufen. Ich bin sicher: Sie wird diesbezüglich gute Ergebnisse liefern. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Wir arbeiten bereits an einer Umsetzung, andere denken noch darüber nach. Helfen Sie uns bei dem, was noch kommen wird – Wohneigentumsgesetz, Gebäudeenergiegesetz, Musterbauordnung –, und bei allem, was in diesem Zusammenhang eine Rolle spielt. Gerade die Antragsteller heute, die Linken und die Grünen, sind selber in den Ländern mit in der Verantwortung. Wir brauchen die Länder, wenn wir all das durchsetzen wollen. Lassen Sie uns das gemeinsam machen! Danke schön. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat der Kollege Udo Hemmelgarn, AfD-Fraktion. ({0})

Udo Theodor Hemmelgarn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004743, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauer auf den Tribünen! Die Wohnfrage ist die wohl wichtigste sozialpolitische Herausforderung der nächsten Jahre. Wohnen und ein sicheres Dach über dem Kopf gehören zu den Grundbedürfnissen jedes Menschen. Sowohl Grüne als auch Linke haben mit ihren Anträgen richtigerweise dargelegt, dass wir in vielen deutschen Städten und Gemeinden einen extrem angespannten Miet- und Wohnungsmarkt haben. Die richtigen Schlüsse daraus haben sie nicht gezogen. Die Miet- und Immobilienpreise sind seit 2013, insbesondere in den Metropolen, geradezu explodiert, und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen. Die Bundesregierung hat versprochen, bis 2021  1,5 Millionen neue Wohnungen zu bauen. Davon werden im Jahr 2018 gerade einmal 300 000 Wohnungen realisiert. Wie dann in den kommenden drei Jahren jeweils 400 000 Wohnungen pro Jahr erstellt werden sollen, wird wohl ein Geheimnis dieser Regierung bleiben. ({0}) Das deutsche Bauhauptgewerbe ist aus Kapazitätsgründen dazu jedenfalls nicht in der Lage. Aber wie ist es zu dieser Wohnraummisere gekommen? Die wichtigsten Ursachen sind: Erstens. Die aktiven Bürger werden durch die Vernachlässigung der Infrastruktur vom Land und aus den kleinen Städten vertrieben. Zweitens: die gewollte Freizügigkeit für Arbeitnehmer und Selbstständige innerhalb der EU. Drittens: die enorme Einwanderung von mehr als 1,8 Millionen meist illegaler sogenannter Flüchtlinge in unser Land. ({1}) Die daraus folgenden Entwicklungen waren für die Merkel-­Regierung immer klar erkennbar. Passiert ist nichts, absolut gar nichts. Diese Wohnraummisere war vermeidbar. ({2}) Der von den Grünen eingebrachte Antrag soll nun die bestehenden Wohnprobleme lösen, wird er aber nicht, weil vielfach die Kapazitäten dafür nicht vorhanden sind und Sie recht unverhohlen die Investoren, die Sie für die Realisierung brauchen, vor den Kopf stoßen. Das Motto müsste an sich lauten: Gemeinsam mit den Investoren diese Wohnraummisere bekämpfen. Sie jedoch wollen die Mietpreisbremse verstärken, Modernisierungen erschweren, die Umlagefähigkeit der Grundsteuer abschaffen, den Kündigungsschutz ohne Augenmaß ausweiten, Neu- und Ausbauten um eine weitere teure Klimakomponente erweitern. Das alles sind Mittel aus der sozialistischen Mottenkiste. Sie werden den Wohnungsbau weiter verteuern und erschweren. ({3}) In dieser Wohnraummisere braucht dieses Land Lösungen, die das Wohnen dauerhaft günstiger machen und die schnell Wohnraum schaffen. Das sind: nachhaltige Unterstützung der Städte und Gemeinden bei der Bereitstellung von Bauland, Abschaffung der Grundsteuer und der Grunderwerbsteuer bei voller Kompensation durch den Bund, ({4}) Verstärkung der Subjektförderung im sozialen Wohnungsbau, ({5}) zeitnahe Wohngelderhöhungen, zeitlich befristete Mehrwertsteuerbefreiung für Leistungen bei der Erstellung von Sozialwohnungen, ideologiefreie Dämmvorschriften und natürlich Außerkraftsetzung der jetzigen Energieeinsparverordnung. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns doch gemeinsam ein Moratorium über die EnEV vereinbaren, bis wieder ausreichend Wohnraum vorhanden ist. Zwei Punkte wurden von den Grünen gar nicht beleuchtet, obwohl diese für eine wesentliche Entspannung auf dem Wohnungsmarkt sorgen würden. Erstens. Es befinden sich noch immer mehr als 500 000 geduldete, abgelehnte Asylbewerber in unserem Land. ({7}) Es ist unsere verdammte Pflicht, dem Recht Geltung zu verschaffen ({8}) und diese Menschen in ihre Heimatländer zurückzuführen. Mehr als 1,8 Millionen Menschen sind darüber hinaus in unser Land geflüchtet, allein 700 000 aus Syrien. Ich frage mich daher, Herr Minister Seehofer: Hat Ihr Ministerium jemals genau überprüfen lassen, ob eine Rückführung in die Heimatländer möglich und zumutbar ist? ({9}) – Moment. Ich entscheide selber, was ich sage. Dass Sie das nicht ertragen, weiß ich. – Denn es ist grundsätzlich zu beachten: Asyl ist Schutz und Hilfe auf Zeit. Kollegen und ich haben Syrien im März dieses Jahres bereist, um festzustellen, ob eine Rückkehr der bei uns lebenden Syrier möglich ist. ({10}) Das syrische Territorium ist zu mehr als 90 Prozent befriedet. Allein in diesem Jahr sind laut „Zeit Online“ mehr als 1 Million Syrer aus dem Ausland in ihre Heimat zurückgekehrt. ({11}) Wenn das von dort aus möglich ist, warum ist das nicht aus Deutschland möglich? ({12}) Syrien braucht diese Menschen für den Wiederaufbau des Landes, und die hier lebenden Syrer brauchen ihre Heimat. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Ulli Nissen spricht für die SPD-Fraktion. ({0})

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bezahlbares Wohnen ist ein gewaltiges Problem. Gerade hat die Pestel-Studie festgestellt, dass in keinem Flächenland das Defizit an bezahlbarem Wohnraum so groß ist wie in Hessen. Hier regiert seit 19 Jahren die CDU, die letzten fünf Jahre zusammen mit den Grünen. ({0}) Spekulanten wurde Tür und Tor geöffnet. Letzte Woche war ich in zwei frisch verkauften Wohnhäusern im Frankfurter Nordend. Leider gibt es viele ähnliche Fälle. Ich lerne immer mehr Betroffene kennen. Am 21. Oktober, 15 Uhr, mache ich im Frankfurter Nordend einen „Rundgang des Grauens – Den Miethaien auf der Spur“. Die neuen Eigentümer versuchen, die Häuser zu entmieten. In der Schwarzburgstraße 54 sind jetzt schon sieben von neun Wohnparteien vertrieben worden. Die Modernisierungsankündigungen mit angedrohten Mieterhöhungen von über 220 Prozent – 11 Euro Erhöhung pro Quadratmeter – haben das geschafft. Zum Glück sind die verbliebenen Mieterinnen und Mieter widerspenstig. Sie haben meine große Unterstützung, unter anderem Frau Schult. Sie ist 72 Jahre alt, schwerbehindert – eine beeindruckende Frau, die seit Jahrzehnten in dem Haus wohnt und dort selbstverständlich nicht weg will. In der Neuhofstraße versucht der neue Eigentümer die „Vertreibung“ auf ähnliche Art und Weise. Von der Wingertstraße 21 und deren unerträglichem Miethai habe ich schon öfter erzählt. Der Bund gibt den Ländern einige Möglichkeiten, um den Menschen zu helfen. In Hessen wurden diese leider bisher nicht genutzt. Liebe Grüne, allein Anträge zu schreiben, genügt nicht. ({1}) Die Betroffenen sind empört, dass die hessischen Grünen in ihrer Regierungsbeteiligung mit der CDU nicht alles getan haben, um die Situation der Mieterinnen und Mieter zu verbessern. Warum wurden die Möglichkeiten des Baugesetzbuches nicht genutzt, ({2}) das einen Genehmigungsvorbehalt bei der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen ermöglicht? Warum nicht, Herr Kühn? Warum gilt in Hessen unter Grün-Schwarz eine Kündigungssperrfrist von nur fünf Jahren, obwohl Mieterinnen und Mieter auch zehn Jahre vor Eigenbedarfsklagen geschützt werden könnten? Warum, Herr Kühn? ({3}) Warum haben sich die Grünen in Frankfurt gegen die Mietenbremse bei der ABG Frankfurt Holding, die mehr als 50 000 Wohnungen hat, gewehrt, als sie in Alleinregierung mit der CDU waren? Jetzt ist die SPD Mitglied der Stadtregierung. Nun dürfen bei der ABG die Mieten nicht mehr als 1 Prozent pro Jahr erhöht werden. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Thorsten Schäfer-Gümbel neuer hessischer Ministerpräsident wird, dürfen bei allen hessischen Wohnungsbauunternehmen mit Landesbeteiligung die Mieten auch nur noch um 1 Prozent pro Jahr erhöht werden. ({5}) Das finde ich großartig. ({6}) Als rot-schwarze Bundesregierung haben wir wichtige Beschlüsse auf den Weg gebracht. Ich nenne nur einige Punkte: Wir deckeln künftig die Möglichkeit der Mieterhöhung nach Modernisierung auf maximal 3 Euro pro Quadratmeter – und dies für einen Zeitraum von sechs Jahren. Auf diese Umsetzung warten die Menschen dringend, liebe Kolleginnen und Kollegen. Auch wichtig: Das gezielte Herausmodernisieren soll künftig mit 100 000 Euro Bußgeld belegt werden. Dies muss pro Wohnung gelten. ({7}) Das wären dann in der Schwarzburgstraße immerhin 700 000 Euro. Ich persönlich könnte mir aber durchaus noch höhere Bußgelder vorstellen. Das Herausmodernisieren darf sich nicht mehr lohnen. Die Mietpreisbremse wird verschärft. Wichtig dabei: Wir müssen sie dringend entfristen. ({8}) Der Beobachtungszeitraum für die ortsübliche Vergleichsmiete soll von vier auf sechs Jahre erhöht werden. Dies würde zu einer unmittelbaren Absenkung der ortsüblichen Vergleichsmiete führen. Die Mietbelastung der Menschen ist im Augenblick viel zu hoch. ({9}) Die SPD will, dass niemand mehr als ein Drittel seines Einkommens für die Miete ausgeben muss. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf dem Wohngipfel haben wir gute Beschlüsse gefasst. Diese müssen wir jetzt schnellstens umsetzen, das erwarten die Menschen von uns. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Katharina ­Willkomm, FDP-Fraktion. ({0})

Katharina Kloke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004783, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für den Antrag der Grünen spricht, dass er zum Teil Reparaturbedarf und -möglichkeiten zutreffend beschreibt, um den Tanker Wohnungsmarkt wieder flottzumachen. Ihre Ansätze zur Schaffung von Neubau und Ausbau gehen vielfach in die richtige Richtung. ({0}) Gegen Ihren Antrag spricht das zugrundeliegende Weltbild vom Verhältnis zwischen Mieter und Vermieter. Es ist aus der Zeit gefallen. Durch Ihren Antrag weht ein Hauch Charles Dickens, wenn Sie auf der einen Seite nur schutz- und wehrlose Mieter sehen und auf der anderen Seite geldgierige, geradezu scroogehaft böse Vermieter. ({1}) Sie fordern eine quasi ausnahmslose, zeitlich verlängerte Mietpreisbremse, auf dass der Vermieter den Mieter nicht bis aufs letzte Hemd ausnehme. Dabei sind es doch zu zwei Drittel private Vermieter, die den Wohnraum in Deutschland überhaupt zur Verfügung stellen, ({2}) die vor allem ein gedeihliches, langfristiges Mietverhältnis wollen und die ihre Mietwohnung nicht als Investment sehen, aus dem die maximale Rendite rausgeholt werden soll. Sie sollten erkennen, dass eine den Wohnungsmarkt hermetisch abdichtende Mietpreisbremse dazu führt, dass das Wohnungsangebot kleiner statt größer wird; ({3}) denn Deckelung ist Gängelung, und das lässt nicht jeder Vermieter bis zum Exitus mit sich machen. Und wer kommt dann in die weniger werdenden freien Wohnungen – bei gleichem Bedarf? Das ist am Ende noch eher als bisher das kinderlose Doppelverdienerpaar und nicht die junge Familie mit den drei Kindern, für die Sie zu kämpfen vorgeben. Es hilft nur eines: Die Mietpreisbremse muss weg, und dann: Bauen, bauen, bauen! ({4}) Auch Ihr Gesetzentwurf zum Bestellerprinzip ist Licht und Schatten. Was die Grünen mit der Bundesjustizministerin eint, ist die Begeisterung für die Einführung des Bestellerprinzips – anders als Frau Dr. Barley, die hier Horst Seehofer als Ankündigungs- und Dann-doch-nicht-Vollzugsminister nacheifert, trauen sich die Grünen wenigstens, schwarz auf weiß hinzuschreiben, was sie wollen. Aber nur, weil man mit einem Thema anders umgeht als Horst Seehofer, macht man es nicht automatisch richtig. ({5}) Zum Inhalt nur einen Punkt. Was ist das für ein Verständnis von sozialer Marktwirtschaft, die Maklerprovision gesetzlich zu deckeln? Und das in einem Entwurf, in dem Sie selbst schreiben, in den Niederlanden liege die Provision zwischen 1 und 2,5 Prozent – als Ergebnis freien Aushandelns zwischen den Parteien. Liebe Grüne, Sie haben ein Problem damit, Wünsche, Wirkung und Wirklichkeit zu unterscheiden. ({6}) Deswegen lehnen wir Freien Demokraten Ihren Vorschlag ab. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Nicole Gohlke. ({0})

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, die Wohnungsfrage ist wieder zu der sozialen Frage geworden, und sie treibt Familien, ältere Menschen, aber auch Singles oder junge Menschen in Ausbildung oft in ganz existenzielle Nöte. Die explodierenden Mieten – sie spalten diese Gesellschaft und führen zu massenhafter Verdrängung. Die sogenannte Mietpreisbremse der Großen Koalition hat daran nichts geändert. In meiner Heimatstadt München liegt der durchschnittliche Mietpreis mittlerweile bei 18 Euro pro Quadratmeter – 18 Euro! ({0}) Die Kaufpreise sind innerhalb von zehn Jahren um 150 Prozent gestiegen, die Mieten um über 60 Prozent. Studierende müssen in München derzeit 600 Euro im Monat oder mehr für ein Zimmer auf den Tisch legen. Das ist einfach irre, diese Zahlen sind wahnsinnig! ({1}) Ich will es auch einmal deutlich sagen: Was wir derzeit am Wohnungsmarkt erleben, das ist Erpressung und Enteignung von Mieterinnen und Mietern, und dass diese Regierung nach fünf Jahren Amtszeit immer noch keine Antwort darauf hat – außer ein paar warmen Worten und einer Showveranstaltung vor zwei Wochen –, das ist einfach nur bodenlos. ({2}) Wohnimmobilien sind zum Spekulationsobjekt geworden, und dass dies so möglich ist, hat viele Ursachen. Es liegt aber auch daran, dass die Eigentümer fast freie Hand bei der Festlegung der Mieten haben und die Mieterinnen und Mieter oft überhaupt keine andere Wahl haben als zu bezahlen; denn Umziehen ist bei den derzeitigen Neumieten natürlich keine Alternative. Das kann sich kein Mensch leisten. ({3}) Eigentum verpflichtet aber – und Wohneigentum in besonderem Maße; denn Wohnen ist eben ein Grundbedürfnis. Wer Menschen das Dach über dem Kopf nehmen will, der muss in die Schranken gewiesen werden. Das ist geradezu ein Auftrag des Grundgesetzes, und es liegt im Interesse von Millionen von Menschen, die heute mit ihrem hart verdienten Einkommen irgendwelchen Immobilienspekulanten die Taschen vollmachen müssen. ({4}) Kolleginnen und Kollegen, es ist höchste Zeit, Mieterhöhungen einen Riegel vorzuschieben und sie auf einen Inflationsausgleich zu beschränken. ({5}) Das wäre ein einfacher Weg und für alle Beteiligten nachvollziehbar: keine Schlupflöcher, keine Ausnahmen – die Ihre Mietpreisbremse hat –, keine Geheimniskrämerei mehr. Mieterinnen und Mieter brauchen im Übrigen dann auch keinen Anwalt mehr, um Klarheit über ihre eigenen Rechte zu bekommen. Das wäre doch wirklich das Mindeste. ({6}) In vielen Städten treiben die steigenden Mieten Menschen mittlerweile auf die Straße. In München hatten wir gerade die größte Mieten-Demo jemals unter dem Motto „#ausspekuliert“. Die Menschen organisieren sich und wehren sich dagegen, dass ihnen ihre Städte und ihr Wohnraum weggenommen wird – und damit haben sie verdammt recht! ({7}) Es ist höchste Zeit für den Schutz von Mieterinnen und Mietern. Es ist höchste Zeit, für ihre Interessen zu kämpfen. Stimmen Sie dem Antrag der Linken zu! Wohnraum ist zum Wohnen da und nicht zum Spekulieren. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Emmi Zeulner ist die nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute einen Gesetzentwurf und mehrere Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und von den Kollegen von den Linken. Das Thema ist – viele haben es angesprochen; wie unser Bundesinnenminister Seehofer ebenfalls immer sagt – eine der sozialen Fragen unserer Zeit. Ich sage nicht „die soziale Frage unserer Zeit“; denn wir haben noch andere Themen: Pflege und viele, viele weitere. Es ist das Wohnen, und hier muss es der Politik gelingen – erstens –, Menschen zu Wohneigentum zu verhelfen. Deshalb freue ich mich, dass das Baukindergeld so gut nachgefragt wird und für alle Familien 12 000 Euro pro Kind auf zehn Jahre zur Verfügung stehen. ({0}) Wir als CDU/CSU hätten uns aber noch mehr vorstellen können und haben dies in Bayern auch so getan. Deshalb erhält eine Familie in Bayern mit zwei Kindern zusätzlich 38 000 Euro, also eine Gesamtunterstützung für Wohneigentum von 50 000 Euro. Denn so sieht ernstgemeinte Unterstützung von Familien für uns aus. Neben dem Wohneigentum geht es uns aber – zweitens – darum, die Interessen von Mietern und Vermietern auszugleichen. Wie Sie wissen, werden im Mietbereich rund 60 Prozent aller Wohnungen von ungefähr 3,9 Millionen privaten Kleinvermietern angeboten, und ich würde mir wünschen, dass Sie in Ihren Anträgen den Einsatz unserer Kleinvermieter einmal anerkennen, ({1}) anstatt dass Sie Ihre einseitige Klientelpolitik betreiben, um pauschal zu suggerieren, dass alle Vermieter etwas Schlechtes im Sinne haben; denn zwischen Mietern und Vermietern kann auch ein wertschätzendes Klima bestehen. Ich persönlich habe kein Interesse daran, die eine Seite gegen die andere Seite auszuspielen. ({2}) Wir als Deutschland sind eine historisch gewachsene Mieternation. Deswegen setze ich mich selbstverständlich auch für einen starken Mieterschutz ein, den wir im Vergleich zu anderen Ländern auch haben. Mit dem Mietrechtsanpassungsgesetz stärken wir diesen noch weiter; denn ja, wir haben ein Problem mit steigenden Mieten, und wir nehmen das ernst. Und ja, na klar, auch wir sind gegen das Herausmodernisieren aus Wohnungen. Den Regierungsentwurf dazu diskutieren wir in der nächsten Woche hier im Plenum. Was die Linken, die Grünen und Teile der SPD mit ihrem Mietenstopp fordern, würde dazu führen, dass wir jeglichen Preismechanismus aushebeln; aber damit lösen wir noch lange nicht das Problem. Was würde passieren? Wir würden die Mieten in den überhitzten Gebieten einfrieren, und aufgrund dieser Tatsache würde die Nachfrage, wie das jetzt schon der Fall ist, weiter steigen, sich wahrscheinlich sogar noch potenzieren. ({3}) Außerdem bestünde keinerlei Anreiz mehr, private Investitionen im Wohnungsbereich zu tätigen. Das haben inzwischen alle erkannt. Auch der Deutsche Mieterbund sagt, dass wir das Problem ohne privaten Wohnungsbau nicht lösen werden; ({4}) denn wir müssen vor allem mehr bauen, um die Nachfrage zu decken. Das werden wir zum Beispiel durch die degressive Sonderabschreibung anreizen sowie durch Maßnahmen für günstigeres Bauen und durch Baulandmobilisierung. Ich möchte aber ganz klar formulieren: Auch das wird nicht ausreichen; denn das Wachstum in den Ballungsgebieten hat Grenzen, was zum Beispiel das Bauland angeht. Auch die soziale Infrastruktur muss mitwachsen. Davon können Sie in Berlin ein Lied singen. Gerade deswegen ist der Preis in Form der Miete ein geeignetes Instrument, weil dadurch günstigere Standorte eine Chance bekommen. Es geht also auch in diesem Bereich um Chancengleichheit. Es macht doch keinen Sinn, vorhandene Infrastrukturen im ländlichen Raum leer stehen zu lassen und auf der anderen Seite in Ballungsgebieten nicht hinterherzukommen. Deswegen liegt eine Antwort auf die soziale Frage unserer Zeit in der Stärkung des ländlichen Raums. Der Bund muss, wie in Bayern praktiziert, ein Programm für ganz Deutschland auflegen, das es den Kommunen ermöglicht, mit einem sehr hohen Fördersatz – bei uns sind es 90 Prozent – den Erwerb und Abriss von alten Gebäuden zu tätigen, um Wohnraum entstehen zu lassen. Zum Paket gehört, wie erwähnt, dann auch eine gute Infrastruktur. Wir als CSU bauen keine Straßen aus Prinzip, wie uns manchmal vorgeworfen wird, sondern damit Menschen schnell von A nach B kommen und auch Unternehmer im Wettbewerb ihre Arbeitsplätze im ländlichen Raum erhalten können. Das führt dazu, dass Familienverbünde über alle Generationen zusammenbleiben können. Deswegen muss es weiter gelingen, eine funktionierende Infrastruktur von wohnortnaher Kinderbetreuung, ärztlicher Versorgung, Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Bildungseinrichtungen, einem guten öffentlichen Personennahverkehr, Kultur- und Freizeitangeboten zu stärken oder zu etablieren. Und kommt dann noch der Glasfaseranschluss im Haus dazu, sind das fast unschlagbare Argumente für den ländlichen Raum. Wir werden junge Familien anreizen, dorthin zu ziehen. Jetzt fragen Sie sich wahrscheinlich: Gibt es vielleicht schon einen solchen Ort in Deutschland? ({5}) Ja, Sie haben recht: Es ist Oberfranken. Danke schön. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Frank Magnitz ist der nächste Redner für die AfD-Fraktion. ({0})

Frank Magnitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004810, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte Zuschauer! Die Bundesregierung hat festgestellt: Die Mieten steigen, und das Volk wird langsam unruhig. Oh Wunder! Und was tut die Bundesregierung? Nachdem alle Regierungen der letzten 20 Jahre stehend geschlafen haben, verfällt man jetzt in Panik, und zwar Panik vor dem drohenden Machtverlust. In wildem Aktionismus rudert man herum und will mit einem Bündel völlig ungeeigneter Maßnahmen die Lage in den Griff bekommen. Der jüngst veranstaltete Wohngipfel war so ein Auswuchs. Das Ergebnis ist ein bunter Strauß von Maßnahmen, die alle am eigentlichen Problem vorbeigehen. ({0}) Das ist eine Gemeinsamkeit mit den heute vorliegenden Anträgen von Grünen und Linken: Keiner kommt einer Problemlösung auch nur ansatzweise nahe. ({1}) – Die AfD hat Antworten, jawohl. Hören Sie gut zu, dann können Sie eine Menge erfahren. Zwingende Voraussetzung für einen Lösungsansatz ist das Erkennen der eigentlichen Ursache des Problems. ({2}) Neben der sträflichen Untätigkeit aller Regierungen der letzten 20 Jahre hinsichtlich vorausschauender und bedarfsgerechter Planung haben ebendiese Regierungen unisono die heutige Situation aktiv herbeigeführt. ({3}) Zählen wir einmal auf – ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne Berücksichtigung der schon weit früher gemachten gravierenden Fehler –: 2002: Euro-Einführung. Konsequenz: Alles teurer, das Realeinkommen sinkt. ({4}) 2011: Einführung der Niederlassungsfreiheit. Konsequenz: Einwanderung in die Sozialsysteme und in den Wohnungsmarkt. ({5}) Größenordnung: mehr als eine halbe Million Menschen netto Zuwachs. 2015: Willkürliche und rechtswidrige Öffnung der Grenzen. ({6}) Konsequenz: Einwanderung in die Sozialsysteme und den Mietmarkt in ungeahntem Ausmaß. ({7}) 1,5 Millionen, 1,8 Millionen, 2 Millionen oder wohl doch etwas mehr? Keiner weiß Genaues; denn man hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, zu zählen, geschweige denn, Identitäten zu klären. ({8}) Mit all diesen Menschen konkurrieren heute unsere Landsleute, und das auch noch zu asymmetrischen Bedingungen. ({9}) Der durchschnittliche Mehrer des Bruttosozialprodukts muss seine Miete nämlich selbst erarbeiten, während der Wirtschaftsmigrant die Miete aus den Steuergeldern erhält, die die Erstgenannten erwirtschaften. ({10}) – Woher kommt das denn? Träumen Sie bitte weiter. – Das führt neben der grundsätzlichen Problematik auf dem Mietmarkt auch noch zu Mietpreissteigerungen, nicht nur durch die erhöhte Nachfrage, was ein reines Marktgesetz wäre, sondern auch einfach dadurch, dass dem Wirtschaftsmigranten die Höhe der Miete völlig gleichgültig ist. Er bekommt sie ja ohne eigene Leistung bezahlt. ({11}) – Nein, natürlich nicht. Träumen Sie weiter! Kommen wir zu pragmatischen Erwägungen. ({12}) Wir bevorzugen als schnellen Lösungsansatz die Subjekt- statt der Objektförderung, also die Ausweitung und Erhöhung des Wohngeldes. Das wirkt nämlich sofort. Der Antrag der Linken verfällt mal wieder in altbekannte sozialistische Muster: Regulierung, Deckelung, Beschneidung der Freiheit. Merke: Marktgesetze hebelt man nicht aus. Das funktioniert nicht. Oder ist das die Sehnsucht nach alten DDR-Verhältnissen? Ruinen schaffen ohne Waffen? Oder wie war das noch? ({13}) Im Prinzip blasen unsere Grünen mit ihrem Antrag in das gleiche Horn: Es soll mal wieder mehr im sozialen Bereich gebaut werden. Die Frage ist allerdings: Durch wen? Per Beschluss entsteht kein Bauland, kein Planer, kein Bagger und schon gar kein Baufacharbeiter. ({14}) Oder glauben Sie, die massenhaft eingewanderten Ärzte, Ingenieure und Facharbeiter werden es richten? ({15}) Zum wiederholten Male: Entlasten Sie die Nachfrageseite, dann entspannt sich auch der Mietmarkt. Wir haben schon jetzt alle Anzeichen einer Immobilienblase. Morgen, auf den Tag genau, jährt sich zum zehnten Mal der Lehman-Brothers-Crash. Mit den heutigen Anträgen kommen wir einer Wiederholung in unserem Lande näher. Danke für die Aufmerksamkeit. ({16})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Dr. Johannes Fechner. ({0})

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Es ist bezeichnend: Der Vorredner hatte vier Minuten, und außer billiger Flüchtlingshetze hatte er nichts zu bieten. Kein einziger Satz, wie Sie mehr sozialen Wohnraum schaffen wollen und was Sie gegen steigende Mieten tun wollen. Es ist einfach nur peinlich, was Sie auch bei diesem Thema abliefern. ({0}) Meine Damen und Herren, nicht nur in den Großstädten steigen die Immobilienpreise und die Mietpreise zum Teil sehr stark. Wenn Familien die Hälfte ihres Einkommens für die Miete ausgeben müssen und wenn selbst Normalverdiener sich in zentralen Wohnlagen keine Wohnung mehr leisten können, ({1}) dann zeigt uns das, wie groß der Handlungsbedarf ist und dass wir zwei Sachen tun müssen: Wir müssen mehr bauen, wir müssen mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen, und wir müssen Mieter vor explodierenden Mieten schützen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen wir, indem wir den sozialen Wohnraum massiv ausbauen. 5 Milliarden Euro stellen wir in dieser Legislaturperiode für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung. Mit dem Baukindergeld unterstützten wir gerade junge Familien beim Immobilienkauf. Auch eine vernünftige Regelung zur steuerlichen Abschreibung kann für mehr bezahlbaren Wohnraum sorgen. Sie sehen: Wir tun sehr viel, um bezahlbaren Wohnraum in Deutschland zu schaffen. ({3}) Aber bis dieser Wohnraum geschaffen ist – das ist der entscheidende Punkt –, müssen wir Mieter und Mieterinnen vor explodierenden Mieten schützen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deshalb ist es gut, dass Ministerin Barley den Gesetzentwurf nach der Sommerpause vorgelegt hat, sodass wir nun viele wichtige Maßnahmen gegen Herausmodernisierungen und dagegen, dass Mieten wegen zu hoher Modernisierungsumlagen steigen, treffen können. Zukünftig wird die Umlage von Modernisierungskosten nicht mehr zu 11 Prozent, sondern nur noch zu 8 Prozent möglich sein. Besser wären, wenn es nach uns ginge, 6 Prozent. Außerdem führen wir erstmals einen Deckel ein. Die Umlagekosten werden nicht mehr dazu führen können, dass die Mieten deutlich explodieren. Hier führen wir, wie gesagt, einen Deckel ein: Aufgrund von Modernisierungskosten können die Mieten nur um 3 Euro innerhalb von sechs Jahren pro Quadratmeter steigen. Auch da ist noch nicht das letzte Wort gesprochen, wenn ich höre, wie sich einige Unionsabgeordnete aus Baden-Württemberg und aus Bayern äußern. Frau Zeulner, auch Sie haben ja Herrn Seehofer geschrieben. Heute hat sich das ganz anders angehört; Sie sind da ein Stück weit umgefallen. ({4}) Aber wir werden Sie, was Ihren Brief angeht, beim Wort nehmen. ({5}) Sie haben Maßnahmen gefordert, wie sie auch Frau Barley vorschlägt. Lassen Sie uns diese wichtigen Schritte für die Mieterinnen und Mieter doch zusammen gehen, um sie vor überzogenen Mieten zu schützen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Auf dem Wohnungsgipfel wurde noch mehr vereinbart. Da wurde vereinbart, dass wir den Betrachtungszeitraum für den Mietspiegel von vier auf sechs Jahre ausweiten; das ist ein guter Schritt. Die SPD hat die wichtige Maßnahme durchgesetzt, dass das Bestellerprinzip im Hinblick auf die Maklergebühren nicht nur bei der Miete, sondern auch beim Immobilienkauf gilt. Auch das wird gerade junge Familien entlasten, die sich eine Immobilie kaufen wollen. Ich möchte hier ganz deutlich sagen: Man kann sich darüber streiten, ob beim Wohnungsgipfel noch mehr hätte herauskommen müssen; aber es sind wichtige Schritte beschlossen worden. Es geht mir gewaltig auf die Nerven, wenn der Kollege Luczak sagt, dass sich die Unionsfraktion nicht an diese Ergebnisse gebunden sieht, weil man nicht eingebunden war. Das nervt. Das kann nicht sein. Wir haben uns hier geeinigt. All diese wichtigen Maßnahmen, die im Rahmen des Wohnungsgipfels vereinbart wurden, werden wir umsetzen. Darauf werden wir bestehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Aber wir brauchen noch weitere Schritte. Zu Recht wird in Ihrem Antrag – das will ich ausdrücklich unterstützen – eine Verschärfung bzw. Verbesserung der Mietpreisbremse gefordert. Wir haben deutschlandweit Urteile, die zeigen, dass sich Mieterinnen und Mieter mit unserem Gesetz gegen explodierende Mieten wehren könnten; aber der Mieter muss wissen, wie hoch die Vormiete war. Wenn die Miete überhöht war, muss er jeden Cent zurückbekommen, der überzahlt wurde. Vor allem muss dieses Gesetz deutschlandweit gelten. Die unionsgeführte Regierung in Nordrhein-Westfalen lässt die Mietpreisbremse einfach auslaufen. Ich finde, das ist ein Schlag ins Gesicht für alle Mieterinnen und Mieter, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Weil wir die Mieterinnen und Mieter nicht im Regen stehen lassen können, wenn sie mit Mietwucher konfrontiert sind, also bei den ganz extrem hohen Mieten, müssen wir hier eingreifen. Da muss der Staat als Ordnungsmacht eingreifen können. Wir müssen § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes entsprechend handhabbar ausgestalten, damit der Staat gegen Mietwucher vorgehen kann. ({9}) Wir wollen, dass Mieter, die in Zahlungsverzug geraten, durch die Nachzahlung nicht nur eine fristlose, sondern auch eine ordentliche Kündigung aus der Welt schaffen können. Wir wollen für soziale Einrichtungen oder Vereine regeln, dass diese nicht dem Gewerbemietrecht unterfallen, sondern auch in den Genuss des sozialen Wohnungsrechts kommen, verbunden mit den entsprechenden Verbesserungen. All das werden wir im Rahmen der anstehenden Verhandlungen zum Mieterschutzgesetz ausführlich beraten. Dann werden wir entscheiden, welche dieser weiteren Maßnahmen für Mieterinnen und Mieter wir noch aufnehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Situation auf dem Wohnungsmarkt ist dramatisch. Wir müssen mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen, und wir müssen im Interesse der Mieterinnen und Mieter mehr dafür tun, dass die Mieten nicht weiter derart explodieren. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie hier geredet haben und wieder auf Ihrem Platz sitzen, wäre es nett, wenn Sie dann auch den anderen Rednern zuhören und ihnen nicht den Rücken zudrehen und sich unterhalten würden. Der nächste Redner ist der Kollege Hagen Reinhold, FDP-Fraktion. ({0})

Hagen Reinhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004229, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Ich habe den Kollegen, die vor mir gesprochen haben, ganz genau zugehört und habe dazu – wen wundert es? – ein paar Anmerkungen zu machen. Zuerst einmal an die Kollegen der Linken. Ich muss sagen: Ihr Verständnis davon, was für Mieter eine Wohnung ist und welche Eigentumsrechte damit verbunden sind, ist zumindest die konsequente Weiterführung Ihrer Politik. Das finde ich in Ordnung. Volkseigentum ist die Konsequenz dessen. ({0}) Die Ergebnisse können Sie auf jedem Bild aus der DDR von 1989 ablesen. Das ist nichts, was ich möchte. ({1}) Ich halte mich zu Anfang gar nicht so lange mit den Vorlagen der Grünen auf; denn wir haben von den Rednern der Regierungsfraktionen ja schon gehört, was sie so vorhaben. Ich frage mich: Hat die SPD eigentlich eine neue Zielgruppe? Die Umfragen deuten das ja schon ein bisschen an. Denn die Mietpreisbremse hat, so wie sie ausgestaltet und weiter fortgeführt worden ist, überhaupt keine Konsequenz für diejenigen, die wirklich dringend Wohnraum brauchen. Sie schützen nicht die Krankenschwester, sondern den Arzt, der unter den 200 Interessenten ist, die vor der Wohnung stehen, und der als derjenige ausgewählt wird, der die Wohnung bekommt. ({2}) Die 199 anderen Interessenten gehen nach wie vor ohne Wohnung nach Hause. Genau so ist es. ({3}) Es geht noch weiter: Es ist nicht nur so, dass Sie ihn bei der Auswahl der Wohnung bevorzugen. Sie bevorzugen ihn auch noch, indem Sie ihn, wenn er die Wohnung bekommen hat, durch eine Mietpreisdeckelung vor zu hohen Mieten schützen. Das ist keine Politik, die ich teilen kann, weil bei alledem offenbar wird: Sie knallen hier mit Nebelkerzen durch den Reichstag. Das tun Sie auch draußen auf der Straße, bei den Demos. Die Leute bekommen das mittlerweile ja mit. All Ihre Reden deuten darauf hin, dass Sie hier eigentlich soziale Komponenten einfließen lassen wollen. Aber Ihre Gesetze sagen nichts dazu. Legen Sie doch einmal einen Gesetzentwurf vor, in dem Sie konsequenterweise sagen: 30 Prozent der Mieten, die unter der Mietpreisdeckelung liegen, werden an Leute gegeben, die sich die Miete wirklich gerade so leisten können. – Das wäre wenigstens konsequent. Das hätte eine soziale Komponente. Das tun Sie aber überhaupt nicht! So sieht es nämlich aus. ({4}) Dieses Spiel geht bei der Modernisierungsumlage weiter: Jetzt senken Sie sie von 11 Prozent auf 8 Prozent ab. Ich habe schon gedacht: Huch, wird der Arzt wieder geschützt? Jetzt muss er nicht mehr 11 Prozent , sondern nur noch 8 Prozent zahlen. Das ist ja genial! – Wenn man sich ansieht, wie es in Deutschland bisher war, stellt man fest: Die laufende Rechtsprechung hat dafür gesorgt, dass die Leute, die sich die Modernisierungsumlage nicht leisten konnten, davon ausgenommen wurden und dass diejenigen, die sie sich leisten konnten, 11 Prozent gezahlt haben. So haben die Starken die Schwachen gestützt. Das ist scheinbar keine Politik mehr für die SPD. Schauen Sie mal, wo Sie damit hinkommen! ({5}) Ich sage Ihnen: Ihre Absenkung auf 8 Prozent wird ausschließlich darauf hinauslaufen, dass versucht wird, diese 8 Prozent nun von jedem einzutreiben und nicht mehr nur von denen, die es sich, wie es vorher der Fall war, leisten können. Man sieht: Die Union macht da auch noch mit. Ich zitiere einmal – das ist ganz hübsch – aus einem Expertengespräch zum sozialen Wohnungsbau, das Anfang der Woche in diesem Haus stattgefunden hat: Jeglicher Eingriff in den freien Wohnungsmarkt, der ohne eine Sozialkomponente erfolgt, führt zu weiteren Verwerfungen, Kappungsobergrenzen, Mietpreisbremsen, Kappung der Mietpreishöhe nach Modernisierung. – Solche Eingriffe sind das. Das schreibt der Experte der Union. Auch Sie sollten sich an das halten, was uns die Experten, die Sie selber eingeladen haben, ins Stammbuch geschrieben haben. ({6}) Ich stelle fest – meine Zeit geht langsam, aber sicher zu Ende –: Die Möglichkeiten, die Sie haben, nutzen Sie überhaupt nicht. Sie streuen den Leuten Sand in die Augen und sorgen nicht dafür, dass mehr Menschen den bezahlbaren Wohnraum, den sie brauchen, finden. Dafür müssten wir nämlich bauen, bauen, bauen. ({7}) Wir müssen dafür sorgen, dass die Leute den Wohnraum bekommen, die ihn wirklich verdient haben. All das tun Sie nicht, und das fällt den Leuten auf. Sie werden die Quittung dafür spätestens bei der Landtagswahl in Bayern bekommen. Noch haben Sie die Aussicht auf einen Scherbenhaufen. Montagfrüh bzw. Sonntagabend werden Sie vor dem Scherbenhaufen stehen, weil die Leute erkannt haben, dass Sie nur mit Nebelkerzen werfen und mehr nicht. Auf Wiedersehen! ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Bernd Riexinger. ({0})

Bernd Riexinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004865, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da sind die alten Ehepaare, die sich vor dem Tod des Partners auch deshalb fürchten, weil sie die Wohnung dann nicht mehr halten und eine neue nicht bezahlen können. Da sind die alleinerziehenden Mütter, die sich das Leben kaum mehr leisten können, weil mehr als die Hälfte ihres Einkommens für die Miete draufgeht. Und da sind die Frauen, die vom Frauenhaus zurück zu ihren sie prügelnden Männern ziehen, weil sie keine bezahlbare Wohnung finden. ({0}) So fassen die Autoren des Projektes „#MeineMiete“ die katastrophale Lage auf dem deutschen Wohnungsmarkt zusammen. Das ist für ein reiches Land eine soziale Katastrophe. ({1}) So kann es nicht weitergehen. Der Mietenwahnsinn ist längst ein Problem der gesamten Gesellschaft. Rund 40 Prozent der Haushalte in den Großstädten zahlen mehr Miete, als sie sich leisten können. Etwa 1,3 Millionen Haushalten bleibt nach der Mietzahlung weniger als der Hartz-IV-Regelsatz. ({2}) Menschen, die verzweifelt auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum sind, müssen mit ansehen, wie nebenan Häuser aus Spekulationsgründen leerstehen. Es ist ein Akt der Notwehr, wenn sie diese Häuser besetzen. ({3}) – Ja, ich weiß, dass Sie sich mehr darüber empören, dass Menschen auf diesen Missstand aufmerksam machen, als über diejenigen, die mit der Not der Leute Geld machen und spekulieren. ({4}) Natürlich wird das nicht die Probleme am Wohnungsmarkt lösen. Die Mieten steigen, weil zu wenig bezahlbarer Wohnraum gebaut wird. ({5}) Es fehlen 4 Millionen Sozialwohnungen. Die Bundesregierung hofft auf gerade einmal 100 000 Sozialwohnungen in den nächsten drei Jahren. Das ist nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir brauchen jährlich 250 000 zusätzliche Wohnungen mit langfristiger Sozialbindung. ({6}) Wir fordern 10 Milliarden Euro jährlich für Bau und Ankauf von Sozialwohnungen – öffentlich, genossenschaftlich und gemeinnützig. ({7}) Die Maßnahmen, die Sie beim Wohngipfel abgefeiert haben, sind völlig ungenügend. Hier liegt Totalversagen der Regierung vor. Sie verfolgt weiter die Ideologie des freien Marktes, wie wir es gerade auch von der FDP gehört haben. Das ist doch schiefgegangen. Schauen Sie sich dagegen Wien an. Dort sind zwei Drittel in genossenschaftlichem und gemeinnützigem Eigentum, und in dieser Weltstadt betragen die durchschnittlichen Mieten 4 Euro pro Quadratmeter. Das sollten wir uns zum Vorbild nehmen. ({8}) Das hat funktioniert. Aber bei Ihnen hat nichts funktioniert. Wir brauchen eine gesetzliche Begrenzung von Mieterhöhungen bzw. einen echten Mietpreisdeckel. Das kann nur ein erster und längst nicht ausreichender Schritt sein; aber das ist doch das Mindeste, was man von diesem Hause erwarten können muss. Danke schön. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Daniela Wagner hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Daniela Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004184, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern haben wir hier über Steuerentlastungen und Kindergelderhöhung gesprochen. Alles, was Sie gestern hier diskutiert haben, ist heute schon aufgefressen von den Mieterhöhungen von morgen. Das ist die Realität. ({0}) Sie gehen zwar Schritte in die richtige Richtung, und ich merke, dass unser Druck, den wir seit Jahren machen, auch hier im Haus Wirkung entfaltet, aber leider ist der Markt viel zu sehr entfesselt, als dass diese Maßnahmen ausreichen würden. ({1}) Ein paar Worte an die liebenswerten Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer in Hessen: Euch ist sicher nicht entgangen, dass laut Staatssekretär gestern im Bauausschuss Hessen eines der drei Bundesländer ist, wo die Wohnungsbaumittel am meisten erhöht wurden, ({2}) wo es einen immensen Investitionsaufwuchs gibt, wo Wohnungen gebaut werden und sogar so viel Geld zur Verfügung steht, dass die Kommunen mit der Bereitstellung von Grundstücken nicht nachkommen. Wir tun da wirklich etwas. ({3}) Ich will auch Ihnen, liebe Kollegin Willkomm von der FDP, sagen: Ihre eigenwilligen Einlassungen zu unserem vermeintlichen Weltbild – hier der böse Vermieter und dort der bedauernswerte Mieter – ({4}) laufen völlig ins Leere. Wir wissen ganz genau, dass es Millionen ordentliche Kleinvermieter gibt, die ganz faire Mietpreise anbieten und selten die Mieten erhöhen. ({5}) Von denen reden wir hier aber nicht, Kollegin. ({6}) Wir reden von denjenigen, die uns Paläste aus Glas und Stahl in die Gegend klotzen, wo anschließend Nettokaltmieten von 25 Euro verlangt werden und die die Grundstücke lange vorher gekauft haben, spekulativ liegen gelassen haben, den Planungsgewinn abgeschöpft und mit Gewinn weiterverkauft haben, damit das überhaupt gelingt. Das ist der Punkt. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, es gibt zwei Wünsche nach Zwischenfragen.

Daniela Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004184, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, ich mache jetzt weiter. Auch der Städtetag zum Beispiel formuliert mittlerweile einen Bedarf an deutlich längeren Bindungsfristen. Das heißt, das Problem ist erkannt. Die Bindungsfristen sind ja in den zurückliegenden 30 Jahren immer kürzer geworden. Wir brauchen also nicht nur deutlich mehr Bundesmittel für Wohnraumförderung, sondern wir brauchen auch deutlich längere Bindungsfristen und letzten Endes am besten eine neue Gemeinnützigkeit, um mindestens 100 000 Wohnungen dauerhaft preiswert zu halten. ({0}) Verehrte Damen und Herren, natürlich ist auch uns klar, dass wir die Probleme auf dem Wohnungsmarkt nur lösen werden, wenn wir die Probleme im ländlichen Raum lösen, ({1}) gemeinsam mit den Wohnungsbauproblemen in den Großstädten. Wir müssen die Themen „Leerstand“ und „Attraktivität im ländlichen Raum“ angehen. Wir brauchen dort bessere Infrastruktur. ({2}) Noch ein letzter Punkt: Was wir unbedingt in Angriff nehmen müssen, ist die bodenlose Bodenspekulation in unserem Land, ({3}) die dazu geführt hat, dass man heutzutage überhaupt nicht mehr preiswert bauen kann, selbst wenn man preisbewusst baut, weil der Bodenpreis schon vorher eine Miete erzeugt hat, die keiner mehr bezahlen kann. Deswegen müssen wir uns dringend um das Thema Bodenpreise kümmern und dieses Spiel, das zahlreiche Spekulanten in unseren Städten treiben, dringend beenden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Ich lasse jetzt zwei Kurzinterventionen zu. Der Erste ist der Kollege Timon Gremmels. Lieber Herr Kollege, Sie haben das Wort.

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Wagner, weil Sie gerade Hessen angesprochen haben und auch aus Hessen kommen, möchte ich fragen, ob es grüne Wohnungsbaupolitik ist – Sie stellen ja dort die Wohnungsbauministerin –, wenn das Polizeipräsidium in Frankfurt für 220 Millionen Euro höchstbietend verkauft wird und die Einnahmen daraus nicht in die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum fließen, sondern der Großteil der Einnahmen dazu verwendet wird, den Landeshaushalt zu entlasten, indem man eine neue Universitätsbibliothek baut. Bibliotheken sind wichtig; sie müssen aber aus dem Landeshaushalt bezahlt werden. Ist es richtig, dass es grüne Wohnungsbaupolitik ist, das Geld nicht in das zu investieren, was im Rhein-Main-Gebiet dringend gebraucht wird, nämlich Wohnungen, sondern dafür genutzt wird, den Koalitionsfrieden in Wiesbaden herzustellen und den Landeshaushalt zu entlasten? Ist das grüne Wohnungsbaupolitik, so wie Sie sie sich vorstellen? Danke.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin Wagner, können wir noch die zweite Kurzintervention dazunehmen? Dann können Sie beide beantworten. ({0}) Der Kollege Hagen Reinhold.

Hagen Reinhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004229, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Wagner, Sie haben eben so schön gesagt, dass Ihnen sehr wohl bewusst ist, dass die privaten Vermieter teilweise sehr moderate Mieten nehmen. Dazu eine kurze Frage meinerseits. Wir wissen, dass 80 Prozent der Vermieter in Deutschland Privatpersonen sind, entweder als Einzelbesitzer oder in WEGs. Private Vermieter haben früher tatsächlich lange Mietverhältnisse ohne eine Erhöhung der Miete laufen gelassen, weil sie wussten, dass sie am Ende dieses Mietverhältnisses – das sind im Schnitt sieben bis zehn Jahre – auf einen Schlag die Mieterhöhungen, die über die Jahre nicht erfolgt sind, aufholen konnten. Hat nicht die Mietpreisbremse in den angespannten Wohnungsmärkten, wo sie jetzt gilt, das verhindert, weil private Vermieter jetzt nur noch einen kurzen Schritt machen können, und sie dazu gezwungen, jetzt jedes Jahr die Miete zu erhöhen, was sie früher nicht gemacht haben, weil sie das nicht mehr am Ende der Mietzeit auf einen Schlag machen können? Das ist doch ein Riesenproblem. Die Mietpreisbremse sorgt für eine Mieterhöhung, und zwar in riesengroßem Umfang. Darüber spricht hier keiner, und das ärgert mich. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, jetzt können Sie umfangreich antworten.

Daniela Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004184, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

So umfangreich wird es nicht. – Herr Kollege, dass der Koalitionsfrieden an sich schon einen Wert darstellt, müsste Ihnen ja bestens vertraut sein. ({0}) Deswegen habe ich viel Verständnis für das Anliegen, den Koalitionsfrieden zu erhalten bzw. zu schaffen. Zum Thema Frankfurt will ich nur sagen: Ich glaube, das ist nicht das Entscheidende. Entscheidend ist, dass unsere Ministerin die Wohnungsbaumittel in Hessen vervierfacht hat und dass damit in Hessen in nicht gekanntem Ausmaß und in nicht gekanntem Tempo die Wohnungsbauförderung voranschreiten konnte. Deswegen finde ich den Fall Polizeipräsidium weniger aufregend, als Sie es als Opposition vielleicht empfinden. Aber ich verstehe diese Haltung durchaus. ({1}) Zu Ihnen, Herr Reinhold, will ich nur so viel sagen: Der private Kleinvermieter, der Amateurvermieter, also das klassische Haus-und-Grund-Mitglied, ist von der Mietpreisbremse überhaupt nicht betroffen, ({2}) weil er nämlich die Mieten in dem Ausmaß wie diejenigen, die die Mietpreisbremse trifft und treffen muss, in aller Regel gar nicht erhöht. ({3}) Das ist jedenfalls meine Erfahrung auf dem Wohnungsmarkt der Kleinvermieter. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Wir fahren in der Rednerliste fort. Der Kollege ­Torsten Schweiger hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Torsten Schweiger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004889, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorredner Herr Vogel und Frau Zeulner haben hier ja schon mit einigen Irrungen und Wirrungen – so will ich das mal nennen – bei der Mietpreisbremse, beim Kauf und Verkauf von Wohnungen, mit und ohne Makler, aufgeräumt. Deswegen gestatten Sie mir, dass ich mich auf die vermeintliche „Wohnoffensive“, wie sie in den Anträgen genannt wird, konzentriere. Ich muss Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Blick aus der Praxis und mit 20 Jahren Erfahrung aus der Leitung eines kommunalen Bauamtes sagen: Ihr Antrag ist ziemlich inhaltsleer. – Das will ich ganz deutlich sagen. Fakten werden da schlicht ignoriert oder sind gar falsch dargestellt. ({0}) Ich will dafür ein paar Belege anführen. Erster Punkt. Wenn Sie eine Investitionszulage für die Innenentwicklung im Bestand fordern, kann ich nur sagen: Die gibt es schon. – Wir nennen es Baukindergeld, und wir haben obendrauf die schönste Sozialbindung festgelegt, die es überhaupt gibt, nämlich die Kinder. Zweiter Punkt. Sie wollen den Kommunen die Möglichkeit geben, ein Innenentwicklungskonzept festzulegen. ({1}) Ein Blick in das Baugesetzbuch macht da oftmals schlauer: §§ 12 und 13 regeln das, worauf Sie abzielen, die Bebauungspläne der Innenentwicklung. Wir geben uns im Moment Mühe, für § 13b, der ja eine Beschränkung bis 2021 beinhaltet, eine Verlängerung zu erreichen, und das werden wir in dieser Legislatur auch hinbekommen. Da freue ich mich schon auf Ihre Mithilfe; denn das kommt Ihrem Ziel ja sehr nahe. Dritter Punkt, auf den ich eingehen will: Wohngeld verdoppeln. Natürlich fordern Sie das, wie immer, ohne Gegenfinanzierungsvorschlag, sagen nicht, woher die zusätzlichen Mittel kommen sollen. Dafür wären zusätzliche Mittel von über 1 Milliarde Euro notwendig. Ich kann nur sagen: Viel Spaß bei der Diskussion mit den Ländern! Denn sie steuern immerhin die Hälfte dazu bei. Insofern kann man den Antrag auch unter diesem Gesichtspunkt meiner Meinung nach nur als populistisch, bestenfalls als unredlich bezeichnen. ({2}) Ein vierter Punkt ist, was Sie als Stärkung der Vorkaufsrechte bezeichnen. Auch dazu sind bereits Regelungen im Baugesetzbuch vorhanden und werden angewandt: §§ 24 und 25 zum allgemeinen und besonderen Vorkaufsrecht. Ich sage Ihnen: Eine weitere Verschärfung, die nur in Richtung Enteignung zu machen wäre, wird es mit unserer Fraktion nicht geben. ({3}) Aus Zeitgründen will ich auf die anderen Punkte nur stichwortartig eingehen: Zersiedelung verhindern, auch dieses Schlagwort findet sich im Baugesetzbuch. Schauen Sie mal in § 35 Absatz 3 BauGB; da ist die Splittersiedlung genannt – haben wir also schon. Technische Infrastruktur soll bereitgestellt werden. Das machen wir, zuletzt mit der Milliardenförderung des Breitbandausbaus. ({4}) Die Nahversorgung insbesondere im ländlichen Raum soll gesichert werden. Das machen wir. Die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ ist eingesetzt und wird dafür die entsprechenden Impulse liefern. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, nun das kurze, schmerzhafte Fazit, bevor meine Redezeit vorüber ist: Alte Hüte werden nicht dadurch besser oder neuer, dass man sie in unregelmäßigen Abständen erneut präsentiert. ({5}) Wir können diesen Antrag daher leider nur ablehnen. Es hat keinen Spaß gemacht, sich damit auseinanderzusetzen. Wenn es wenigstens neue Fakten gegeben hätte, könnten wir darüber reden, wie es weitergeht. So kann man diesen Antrag nur ablehnen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Bernhard Daldrup ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. ({0})

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich freut es eigentlich, dass wir aufgrund der Anträge der Linken und der Grünen heute diese Debatte führen, weil es das Thema in der gesellschaftlichen Diskussion hält. Das ist wichtig und auch angemessen. Zu ein paar Punkten kann man in der Tat Stellung nehmen. Zur Frage der neuen Gemeinnützigkeit, Chris Kühn, steht in dem Papier von Andrea Nahles und Thorsten Schäfer-Gümbel genau das drin, was Sie erwarten. Es ist eine andere Formulierung; aber beispielsweise die Kopplung der Förderung an die Dauer der Bindung und der Sozialpakt sind vernünftige Geschichten. Die SPD – das ist in der Tat so – geht manchmal über Kompromisse, die man in einer Großen Koalition eingeht, programmatisch hinaus. Das ist nichts Schlimmes, sondern, ganz im Gegenteil, etwas sehr Vernünftiges. Das tun manche andere ja auch. Ich sage es mal so: Wenn man sagt, dass die Mietpreisbremse in München nicht funktioniert, dann sollte man dafür sorgen, dass es in Bayern bald eine Mietpreisbremse gibt. ({0}) In Bayern gibt es das notwendige Landesrecht nicht. Von daher ist eine Kritik an der Mietpreisbremse in München irgendwie ungünstig. Wenn Bernd Riexinger sagt, man solle Sozialwohnungen wieder kaufen, dann muss man sich daran erinnern, dass Die Linke in Dresden selbst dabei gewesen ist, als der Wohnungsbestand zu billig verkauft wurde. Wenn man jetzt sagt, man solle ihn teuer zurückkaufen, ist man von neuen Erkenntnissen nicht so ganz weit entfernt. ({1}) Das nehmen andere auch für sich in Anspruch. Aber trotzdem: Ich finde es ja in Ordnung, dass wir diese Debatte führen. Das führt dazu, dass wir hier die konzertierte Aktion Wohngipfel mit ihren positiven Wirkungen darstellen können. In dem entsprechenden Paket sind 30 ganz unterschiedliche, konkrete Maßnahmen enthalten, ({2}) auch solche, die im Antrag der Grünen stehen. Im Antrag der Grünen heißt es aber: „das Nichtstun der Bundesregierung“. Ich will das nicht qualifizieren, Chris; das qualifiziert sich selber. Das heißt, wir spielen hier Hase und Igel, nach dem Motto: Was du auch machst, Große Koalition, wir wollen mehr. Aber denk dran: Das Märchen ist nicht gut ausgegangen. In dem Paket sind ganz ambitionierte Ziele in Bezug auf den Wohnungsbau enthalten. So ist von 1,5 Millionen neuen Wohnungen die Rede. Alle sagen: Damit habt ihr euch übernommen. – Jetzt werden von Ihnen aber wiederum mehr Wohnungen gefordert. Ich kann hier eine Erfahrung von der Expo Real vortragen: Die Immobilienwirtschaft war außerordentlich elektrisiert; denn sie hält die Verlängerung des Referenzzeitraums beim Mietspiegel – sie sprechen von „Manipulation“; so viel zum Rechtsstaatsverständnis dieser Leute – für die wirkliche Bedrohung, weil damit die Bestandsmieten gedeckelt werden. Das ist ihre größte Sorge, zugegebenermaßen neben anderen Punkten – das weiß ich auch – wie dem Mietenstopp. Aber diese Maßnahme wird in den Hotspots eine entsprechende Wirkung haben. Ich konnte hier eine ganze Reihe von Punkten darstellen, die auch im Rahmen des Wohngipfels formuliert und dargestellt worden sind. Ich glaube, ehrlich gesagt – das ist eben schon gesagt worden –: Wenn man weiter gehende Vorstellungen hat und hier die Backen aufbläst, dann ist man auch in der Pflicht, dort, wo man selber Verantwortung trägt, durchzugreifen. Ich wüsste nicht, dass der Geltungsbereich der Mietpreisbremse in Baden-Württemberg irgendwie ausgeweitet worden wäre. In Schleswig-Holstein steht das Auslaufen des Landesrechtes zur Verschärfung einer entsprechenden Mietpreisbegrenzung immer noch im Koalitionsvertrag. Über Hessen ist gerade schon Hinreichendes gesagt worden. Liebe Kollegin Wagner, schauen Sie sich mal die geförderten Wohnungen in der Zeitreihe an. Dann werden Sie sehen: In den meisten Jahren, in denen Sie mit in der Verantwortung waren, ist die Zahl dieser Wohnungen gerade mal dreistellig. ({3}) Wir haben beim Wohngipfel nicht alles erreicht, aber wir haben ganz wichtige Sachen durchgesetzt; einiges ist hier angesprochen worden. In manchen Punkten gehen wir weit über das hinaus, was Sie sich vorstellen. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Wie oft war das hier ein Thema, zum Beispiel beim Dragoner-Areal? Was haben wir uns über die Frage der Höchstpreise gekebbelt? Gucken Sie sich mal die neue Verbilligungsrichtlinie an! Die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt: „Bund darf seinen Baugrund quasi verschenken“. Das ist der Sachverhalt der neuen Verbilligungsrichtlinie. Das heißt mit anderen Worten: Wenn Kommunen sozialen Wohnraum schaffen wollen – übrigens sogar mit privaten Partnern, wenn die Bindung dauerhaft ist; Stichwort „neue Gemeinnützigkeit“ –, kann es sogar gelingen, dass man den Kommunen den Baugrund nicht zu einem Niedrigpreis, sondern ohne Preis zur Verfügung stellt. Das wäre doch in früheren Jahren ein sozialistisches Reformwerk gewesen. Es ist eine kopernikanische Wende in der Liegenschaftspolitik der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. ({4}) Herzlichen Dank, Olaf Scholz, sage ich an dieser Stelle. Das ist eine gute Entscheidung. So kommt man konkret vorwärts. Wir versuchen, eine Lösung am Wohnungsmarkt hinzubekommen, während andere vielleicht noch in der Zeitschrift „Schöner Wohnen“ blättern. Wir müssen das konkret machen, und das tun wir auch. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte ganz gerne – wir sind ja am Ende der Debatte – noch mal auf den Anfang der Debatte zurückkommen, auf Chris Kühn, der ja ein flammendes Plädoyer für die Mieter gehalten hat. Zugleich war er unglaublich anklagend und hat uns als Union vorgeworfen, wir ignorierten die Proteste der Mieterinnen und Mieter in unserem Land und täten als Bundesregierung überhaupt nichts; so schreiben Sie es auch in Ihrem Antrag. Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Sie kennen doch all die Maßnahmen, die wir ergriffen haben. Wir sind uns doch einig im Ziel, dass Menschen aus ihren Wohnungen nicht verdrängt werden dürfen, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten können. ({0}) Wir brauchen an dieser Stelle keine Nachhilfe von Ihnen. Wir sind die Partei der sozialen Marktwirtschaft. Wir legen auch Wert auf das Soziale in diesem Bereich. Deswegen handeln wir als Bundesregierung. ({1}) Wir haben jetzt ein Mieterschutzgesetz durch das Kabinett gebracht, das sich selbstverständlich mit all diesen Themen auseinandersetzt und gute und ausgewogene Vorschläge enthält. Wir gehen an die Mietpreisbremse ran. ({2}) Und wir verbessern die Transparenz auf dem Wohnungsmarkt, indem wir eine Auskunftspflicht einführen werden, aufgrund derer Vermieter sagen müssen, wenn sie von einer Ausnahme Gebrauch machen. Wir erleichtern den Mietern, ihre Rechte geltend zu machen; denn sie müssen den Vermieter zukünftig nicht mehr qualifiziert rügen, eine einfache Rüge reicht. Wir gehen auch das Problem der Modernisierungsmieterhöhung an. Wir reduzieren die Absetzbarkeit der Modernisierungskosten von 11 auf 8 Prozent. Wir führen eine Kappungsgrenze bei der Modernisierungsumlage ein. Was uns als Union besonders wichtig ist – das ist unser Vorschlag gewesen –: Wir gehen gegen die schwarzen Schafe unter den Vermietern vor, die ganz zielgerichtet Modernisierungen ausnutzen, um Mieter aus ihren Wohnungen herauszumodernisieren. Dazu sagen wir ganz klar: Das geht nicht. Das wird zukünftig sanktioniert. Das wird ordnungswidrig sein, meine Damen und Herren. ({3}) Für uns ist aber auch ganz wichtig, dass wir die Politik, die wir an dieser Stelle machen, nicht nur von den Extremen her ableiten. Wir müssen natürlich auch sehen – das ist in der Diskussion schon angeklungen –, dass die überwiegende Anzahl der Vermieter und Vermieterinnen in unserem Land ein wunderbares, ein ordentliches, ein gutes Verhältnis zu ihren Mieterinnen und Mietern hat und dass ihnen das auch wichtig ist, ({4}) dass sie eben nicht hingehen und Leute herausmodernisieren, sondern sehr genau auch auf die sozialen Aspekte achten. Sie berücksichtigen das, wenn ältere Menschen bzw. Senioren schon viele Jahre oder gar Jahrzehnte in ihren Wohnungen leben, und erhöhen die Miete eben nicht, sondern verhalten sich sozial verantwortlich. Das müssen wir bei allem, was wir machen, immer im Blick behalten. Wir dürfen nicht nur in Extremen denken und die Interessen gegeneinander ausspielen, sondern müssen das sozial ausgewogene Mietrecht, das wir heute haben, auch für die Zukunft erhalten. Wir als Union arbeiten daran, dass das so bleibt. ({5}) Ich möchte gerne noch ein Wort zu unseren anderen Maßnahmen sagen. Der Antrag der Grünen trägt im Titel das Wort „Wohnoffensive“. Sie tun so, als ob wir dort nichts täten. Ich war ein bisschen verwundert, Herr Kühn, dass Sie sich in Ihrer Rede – zugegeben, Sie hatten nur drei Minuten Redezeit und konnten daher nicht alle Punkte ansprechen – ausschließlich auf das Mietrecht fokussiert haben. ({6}) Sie hätten doch auch ein wenig dazu sagen können, was Sie unter einer Wohnraumoffensive verstehen. Vielleicht sollen ja nicht nur ein paar Baumhäuser im Hambacher Forst gebaut werden, sondern auch ein paar Wohnungen in unserem Land. ({7}) Wir haben auf dem Wohngipfel doch die entscheidenden Maßnahmen getroffen. Wir sagen: Wir investieren in den sozialen Wohnungsbau. Der Bund nimmt in dieser Legislaturperiode 5 Milliarden Euro in die Hand, um Menschen das Wohnen in bezahlbaren Wohnungen zu ermöglichen. Wir gehen noch weiter. Wir sagen eben: Auch die Mitte der Gesellschaft – der Handwerker, die Krankenschwester, der Polizeibeamte – soll sich Wohnungen leisten können. Deswegen schaffen wir steuerliche Anreize, damit Mietwohnungen auch in diesem Segment gebaut werden können. ({8}) Für uns ist das Entscheidende: Wir müssen mehr, schneller und kostengünstiger bauen. Nur so bekommen wir das Problem steigender Mieten nachhaltig in den Griff, meine Damen und Herren. ({9}) Ich möchte einen letzten Punkt Ihres Antrags ansprechen, der an so vielen Stellen widersprüchlich ist. Sie sagen, man müsse Anreize schaffen, um „Wohnungen barrierefrei neu- und umzubauen“. Gleichzeitig wollen Sie aber das Instrument, mit dem das heutzutage in der Praxis umgesetzt wird – nur so kann es ja überhaupt funktionieren –, nämlich die Modernisierungsmieterhöhung, deutlich begrenzen. Das passt doch nicht zusammen. Man kann doch nicht auf der einen Seite sagen: „Liebe Vermieter, liebe private Kleinvermieter, bitte investiert in euren Wohnungsbestand“, und auf der anderen Seite sich nicht dafür interessieren, wie das Ganze finanziert werden soll und sich wirtschaftlich tragen soll. Das funktioniert nicht und passt nicht zusammen. Wir müssen auf den demografischen Wandel reagieren. Deshalb brauchen wir das Instrument der Modernisierungsmieterhöhungen. Daran müssen sich alle beteiligen: der Staat mit Förderprogrammen und natürlich die Vermieter; aber auch die Mieter müssen ein Stück weit dazu beitragen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Zwischenfrage des Kollegen Kühn lasse ich nicht mehr zu. Er kann gerne eine Kurzintervention machen. Vielen Dank, meine Damen und Herren, für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ihre Redezeit war auch schon beendet. – Herr Kollege Kühn, Sie möchten das Wort zu einer Kurzintervention. Dann erteile ich Ihnen das Wort.

Christian Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004333, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Herr Präsident, dass Sie diese Kurzintervention zulassen. – Herr Luczak, wenn Sie unseren Antrag genau gelesen haben, dann wissen Sie, dass wir im Zusammenhang mit der Modernisierungsumlage den altersgerechten Umbau weiterhin als umlagefähig sehen. Das, was in unserem Antrag steht, passt sehr genau zusammen. Wir richten nämlich die Modernisierung auf die Zukunftsaufgaben aus: energetische Sanierung und altersgerechter Umbau, aber auch – vielleicht erfreut Sie als Union das – Sicherheit der Wohnungen; also auch Einbruchschutz ist bei uns vorgesehen. Wenn Sie sich die Modernisierungsumlage genau anschauen, wie Sie sie umgestalten wollen, dann stellen Sie fest, dass Luxusmodernisierungen weiterhin umlagefähig sind, weil Sie sie inhaltlich nicht begrenzen. Ich glaube, an dieser Stelle müssen Sie nacharbeiten. Leider sind Sie in Ihrer Rede auf die Frage des Bestellerprinzips, die wir in dem weiteren Gesetzentwurf, den wir eingebracht haben, angesprochen haben, gar nicht eingegangen. Meine Frage, die ich eigentlich stellen wollte, lautet daher: Wie steht die Union zum Bestellerprinzip bei den Maklergebühren? ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Luczak, wie ich sehe, wollen Sie antworten. Dann haben Sie jetzt das Wort.

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Kühn, ich antworte sehr gern. Ich möchte auf Ihren Antrag zu sprechen kommen, da Sie gesagt haben, was ich sage, stimme nicht. Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass die Bundesregierung „Mieterhöhungen im Bestand nach Modernisierungen … deutlicher begrenzen“ solle. Gleichzeitig schreiben Sie: Es sollen Anreize geschaffen werden, um „Wohnungen barrierefrei neu- und umzubauen“. Genau darauf habe ich hingewiesen. Natürlich teilen wir das Ziel. Schließlich leben wir in einer Gesellschaft, in der die Menschen erfreulicherweise immer älter werden. Im Jahre 2030 werden 6 Millionen Menschen über 80 Jahre alt sein. Die brauchen natürlich altersgerecht umgebauten Wohnraum, die brauchen ein seniorengerecht gestaltetes Bad, die brauchen vielleicht auch einen Fahrstuhl in ihrer Wohnung. Die entscheidende politische Frage lautet, wie wir dafür sorgen können, dass ein altersgerechter Umbau passiert. Dafür sind Instrumente vorhanden. Dabei belassen wir es aber nicht. Wir reduzieren die umlagefähigen Modernisierungskosten auf 8 Prozent; das ist auch richtig. Wir führen zudem eine Kappungsgrenze ein; auch das ist richtig. Wir gehen gegen die schwarzen Schafe vor, die übertreiben; auch das ist richtig. Wenn Sie nun behaupten, es gebe überhaupt keine inhaltlichen Begrenzungen, dann muss ich Ihnen aus juristischer Sicht sagen: Das ist einfach falsch. – Sie sprechen ständig von Luxusmodernisierungen. Schauen Sie sich die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs an. Solche übertriebenen Modernisierungsmaßnahmen sind überhaupt nicht umlagefähig. Solche Kosten lassen sich gar nicht auf die Mieter umlegen. Überdies gibt es eine Härtefallregelung, die den Mietern sozialen Schutz angedeihen lässt. Wenn es Mieter wirtschaftlich überfordert, können sie sich dagegen wehren, durch Kosten der Modernisierung belastet zu werden. Das ist ein guter, ein richtiger Ansatz. Wir wollen – dabei bleiben wir – ein sozial ausgewogenes Mietrecht. Aber wir brauchen auch die notwendigen Investitionen in altersgerechten Umbau und wollen die energetische Modernisierung, die wir für den Klimaschutz brauchen, vornehmen. Es geht darum, das entsprechend zu gestalten. Unter diesen Aspekten ist unser Entwurf gut und ausgewogen. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Mit dieser intelligenten Form der Redezeitverlängerung beende ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/4549, 19/4557 und 19/4829 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe und höre, dass das der Fall ist. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Marco Wanderwitz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003655

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor etwas mehr als einem Jahr haben wir uns schon einmal mit einem Gesetz beschäftigt, das den sperrigen Titel „Datenschutz-Anpassungs- und Umsetzungsgesetz EU“ trug. Im Lichte der unionsrechtlichen Vorgaben der Datenschutz-Grundverordnung und der Datenschutzrichtlinie Polizei und Justiz wurde mit diesem Gesetz seinerzeit insbesondere das allgemeine nationale Datenschutzrecht, nämlich das Bundesdatenschutzgesetz, neu gefasst. Das nun vorliegende Zweite Datenschutz-Anpassungs- und Umsetzungsgesetz EU will die bereichsspezifischen Datenschutzregelungen an den neuen Rechtsrahmen anpassen, den das Unionsrecht und nun auch das Bundesdatenschutzgesetz 2018 vorgeben. Durch enge Zusammenarbeit nahezu aller Ressorts der Bundesregierung können wir mit diesem einen Gesetz 154 Fachgesetze anpassen. Die Spannbreite dieses sehr umfangreichen Artikelgesetzes umfasst so ziemlich alle Lebensbereiche: das Meldewesen, das Sozialrecht, Finanzen, Transplantationsrecht, Tierschutz und Verkehrsrecht, um nur einige zu nennen. Das Gesetz ist allerdings überwiegend rein rechtstechnischer Natur. Es werden vorrangig Begriffsbestimmungen angepasst oder Verweise auf das Bundesdatenschutzgesetz alter Fassung korrigiert. Auch Rechtsgrundlagen für die Datenverarbeitung werden angepasst, insbesondere an den weiten unionsrechtlichen Begriff der Verarbeitung. Vereinzelt werden auch Rechtsgrundlagen geschaffen und Betroffenenrechte geregelt. Gegenstand des Gesetzes ist auch das gerade erst in Kraft getretene neue Bundesdatenschutzgesetz. Hier werden einige redaktionelle Fehler korrigiert, zum Teil bisher nicht existente Regelungen geschaffen, beispielsweise für die Datenverarbeitung im Rahmen von staatlichen Auszeichnungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen alle, dass es im Hinblick auf das Bundesdatenschutzgesetz und insbesondere die EU-Datenschutz-Grundverordnung große Verunsicherung gibt. Das betrifft insbesondere kleine und mittlere Unternehmen, aber auch Vereine und ehrenamtlich Tätige. Zwei besonders häufig angesprochene Themen betreffen Abmahnungen und die Pflicht zur Bestellung eines Datenschutzbeauftragten. Nach allem, was ich höre, was wir hören, ist es bisher nicht zu der befürchteten großen Abmahnwelle gekommen. Es besteht aber gleichwohl vielerorts in Unternehmen und Vereinen die Rechtsunsicherheit, dass es zu gewerbsmäßigen Abmahnungen kommen könnte. Zudem kann es auch – das will ich nicht verhehlen – eine unbekannte Dunkelziffer von Abgemahnten geben, Vereine beispielsweise, die nicht nach außen tragen möchten, dass ihnen ein vermeintlicher Datenschutzverstoß vorgeworfen wird. Wir sollten also das parlamentarische Verfahren zu diesem Gesetzentwurf nutzen, um zu prüfen, wie wir der Rechtsunsicherheit gegenüber Abmahnungen begegnen können. Auch wollen wir prüfen, ob wir Entlastungen für die Wirtschaft regeln können. Dabei weise ich allerdings darauf hin, dass der nationale gesetzgeberische Gestaltungsraum dafür äußerst eng ist – anders als mancher zu denken scheint. ({0}) In dem engen Spielraum, den uns die EU-Datenschutz-Grundverordnung hier lässt, besteht eine der wenigen Möglichkeiten, die es für Erleichterungen gibt, darin, Änderungen an der Bestellpflicht für betriebliche Datenschutzbeauftragte vorzunehmen. Sehr geehrte Damen und Herren, die Frist für die Anpassung an das EU-Datenschutzrecht ist im Mai ausgelaufen. Auch wenn Deutschland den Gesetzgebern der meisten anderen Mitgliedstaaten bei der Anpassung wieder einmal zeitlich voraus ist ({1}) – ich finde, es ist an sich eine positive Sache, wenn man der Erste ist – und der Umfang des Artikelgesetzes beträchtlich ist, bitte ich um zügige Beratung und Verabschiedung des Gesetzentwurfs, möglichst bis zum Jahresende. Ich habe anfänglich gesagt: Es ist eher ein rechtstechnisches Gesetz. – Insofern halte ich das für gut machbar und würde mir wünschen, dass wir bis zum Jahresende durchkommen. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Als Nächstes für die AfD-Fraktion der Kollege Roman Johannes Reusch. ({0})

Roman Johannes Reusch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004863, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die beiden Gesetzentwürfe bringen zusammen über 600 Seiten auf die Waage. Es sollen geändert werden – über den Daumen gepeilt; ich habe nicht genau nachgezählt – so um die 170 Gesetze und Verordnungen. Von daher finde ich es sehr schade, dass man aus der ersten Lesung einen Debattenpunkt gemacht hat. Das wäre gestern im vereinfachten Verfahren besser aufgehoben gewesen. Um hier die knappe Zeit nicht noch weiter zu vergeuden, teile ich mit, dass ich wenig Sinn darin sehe, vier oder fünf Punkte aus 170 herauszugreifen und hier in der Kürze der Zeit zu erörtern. Ich teile also lediglich mit, dass wir uns dem Überweisungsvorschlag anschließen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Das wollte ich gerade sagen. Das Präsidium bedankt sich bei der AfD-Fraktion ausdrücklich für die Zeit, die jetzt aufgeholt werden kann. Als Nächstes spricht für die Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Rita Hagl-Kehl. ({0})

Rita Hagl-Kehl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004287

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Richtlinie der EU 2016/680 betrifft den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden im Strafverfahren. Diese Richtlinie sowie die Datenschutz-Grundverordnung haben das europäische Datenschutzrecht grundlegend geändert. Der uns heute vorliegende Entwurf dient der Umsetzung dieser Richtlinie in nationales Recht sowie der Anpassung weiterer datenschutzrechtlicher Regelungen an die Datenschutz-Grundverordnung. Neben redaktionellen Anpassungen sieht der Gesetzentwurf darüber hinaus mit Blick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 20. April 2016 Änderungen vor. Diese betreffen die Anforderungen an die sogenannte zweckändernde Verwendung von in Ermittlungsverfahren gewonnenen personenbezogenen Daten. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Daten sind heute elementare Grundlage polizeilicher und staatsanwaltlicher Arbeit. Hierzu bedarf es verbindlicher Regelungen über deren Erhebung, den Umgang mit ihnen und deren weitere Verwendung. Diese wollen wir schaffen. Nach dem Gesetzentwurf erhalten nunmehr die Betroffenen ein Informationsrecht über die über sie gespeicherten personenbezogenen Daten. Die für Strafverfahren zuständigen Behörden werden ferner verpflichtet, künftig jeden einzelnen und nicht nur jeden zehnten Datenverarbeitungsvorgang zu protokollieren. Damit werden auch die Überprüfungsmöglichkeiten der Datenschutzbehörden erweitert. ({0}) Diese bleiben somit zukünftig nicht nur auf Stichproben beschränkt. Eine weitere Neuerung ist, dass das Bundesdatenschutzgesetz künftig auch für die Strafverfolgungsbehörden der Länder gelten soll. Damit werden deren Verarbeitungsvorgänge erheblich vereinfacht. Und einen weiteren wichtigen Punkt möchte ich he­rausgreifen: In Bezug auf die sogenannte zweckändernde Verwendung von Daten aus eingriffsintensiven Maßnahmen, etwa von Telekommunikationsüberwachungen oder Onlinedurchsuchungen, hat der Gesetzentwurf die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Kriterien aufgegriffen. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass der Entwurf außerdem der Stärkung des sogenannten Kernbereichsschutzes im Rahmen heimlicher Ermittlungsmaßnahmen dient. Abschließend möchte ich noch betonen, dass der Entwurf auch klärt, dass Strafverfolgungsbehörden auch Daten des Behördenfunks erheben können. Das Gleiche gilt für die Erhebung von retrograden Standortdaten, also solchen, die aus betrieblichen Gründen wie zum Beispiel beim Auslandsroaming bereits gespeichert worden sind. Hier bestand in der Vergangenheit Unsicherheit. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, der Gesetzentwurf ist ein weiterer Schritt in Richtung eines umfassenden europäischen Datenschutzes. Ich bitte Sie daher um Ihre Zustimmung zu diesem Vorhaben. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Als Nächstes spricht für die FDP-Fraktion der Kollege Dr. Jürgen Martens. ({0})

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe heute Morgen, ganz früh am Morgen – es war 0.10 Uhr –, schon mal eine Rede gehalten zu einem Umsetzungsgesetz im Bereich des Strafprozessrechts, mit dem wir europäisches Recht in nationales Recht umsetzen wollen, und habe bereits da zu monieren gehabt, dass die Bundesregierung die Frist für die Umsetzung der Richtlinie hat verstreichen lassen. Es war eine Frist bis zum 1. April, die da nicht eingehalten wurde. Beim Anpassungsgesetz an die Datenschutz-Grundverordnung hat man nicht ganz so viel Zeit verstreichen lassen. Gleichwohl muss ich auch hier wieder bemerken: Die Bundesregierung hat mal wieder eine Umsetzungsfrist nicht eingehalten. Das ist bedauerlich. Mit dem vorliegenden Gesetz zur Anpassung von zahlreichen Normen an die Datenschutz-Grundverordnung haben wir ein wahres Monster. Wenn man Gesetzgebungsverfahren kennt, dann macht einen das als solches schon mal misstrauisch, insbesondere dann, wenn es heißt, hier werde nur eine reine Anpassung vorgenommen. Man weiß: Solche Gesetze bringen die fast unwiderstehliche Verlockung mit sich, politisch zumindest schwierige Vorhaben, sagen wir mal, in einem nicht ganz so übersichtlichen Umfeld mit durch das Gesetzgebungsverfahren zu bringen. ({0}) Wenn man sich diesen Gesetzentwurf anschaut, stößt man im Bereich des Bundesdatenschutzgesetzes auf einmal in § 22 Absatz 1 Nummer 1d des Bundesdatenschutzgesetzes auf eine zusätzliche Regelung. Da heißt es, dass besonders sensible Daten – solche im Sinne des Artikels 9 der DSGVO – nun auch von nichtöffentlichen Stellen bearbeitet werden können sollen. ({1}) Das klingt als solches nicht besonders schlimm, aber es stellt sich die Frage: Wer befindet darüber, ob eine entsprechende Datenverarbeitung im öffentlichen Interesse ist oder nicht? Nach Ihrem Gesetz tut das wohl der private Datenverarbeiter. ({2}) Das dürfte allerdings unzulässig sein, denn: Was im öffentlichen Interesse ist, hat der Gesetzgeber oder zumindest eine öffentliche Stelle zu definieren. Also so einfach, dass es sich hier nur um Anpassungen handelt, ist das Ganze nicht. Im Gegenzug ist zu bemängeln, dass an mancher Stelle nichts geregelt wird, obwohl dies nach allgemeiner Auffassung eigentlich erforderlich wäre, zum Beispiel im Bereich des Datenschutzes bei der Nutzung von Telemediendiensten. Zur Erklärung: Das sind die Provider, die Ihnen den Zugang zum Internet verschaffen und die natürlich Daten speichern, erheben, verarbeiten, unter Umständen auch weitergeben, ohne dass der Kunde, der Nutzer davon etwas erfährt. Die Regelungen im Telemediengesetz zum Datenschutz sind nach allgemeiner Auffassung unzureichend. § 13 Telemediengesetz verweist beim Datenschutz auf die altehrwürdige Datenschutzverordnung aus dem Jahre 1995. Für die Jüngeren unter Ihnen: Das war noch sieben Jahre vor dem Auslaufen des Eurocheques. ({3}) Sagen wir mal so: Das damalige Datenschutzniveau kann man nicht als solches bezeichnen. Aber das Gesetz schweigt. Dieser Gesetzentwurf widmet sich diesem Thema nicht, obwohl es wirklich ein Massenphänomen betreffen würde. Auch im Melderecht werden erforderliche Anpassungen nicht erledigt. Der Bürger kann kaum überblicken, welche Stellen Meldedaten von ihm von den Meldebehörden erhalten. Und wenn er es wissen will, bekommt er im Regelfall keine Auskunft; denn die Gründe für die Auskunftsverweigerung in § 11 des Bundesmeldegesetzes sind extrem umfangreich und nach allgemeiner Auffassung rechtswidrig. Auch hier schweigt das Gesetz, meine Damen und Herren. Das ist nach unserer Auffassung mit der Datenschutz-Grundverordnung nicht vereinbar, aber nach Auffassung der Bundesregierung soll das wohl so bleiben. Das heißt für uns: Wir haben mit dem Gesetzentwurf viel zu tun. Eine ganze Menge Arbeit haben Sie uns auf den Tisch gelegt. Wir werden uns bemühen, das alles abzuarbeiten. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Martens. – Als Nächstes für die Fraktion Die Linke der Kollege Niema Movassat. ({0})

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin froh, dass wir heute über die Änderungen im Datenschutzrecht reden. Die Bundesregierung wollte zunächst diesen Packen Gesetzesänderungen ohne Debatte durch den Bundestag jagen; das betrifft etwa 200 Einzelgesetze. Ich finde, das geht nicht. So etwas muss hier diskutiert werden. ({0}) Zum einen wollen Sie 154 Änderungen unter anderem aufgrund der Datenschutz-Grundverordnung vornehmen. Vieles, was Sie beantragen, ist unproblematisch, aber es gibt eben auch äußerst bedenkliche Änderungen. Erstens: Die Änderungen im Staatsangehörigkeitsgesetz. Bisher sind Behörden, die mit Staatsangehörigkeitsfragen zu tun haben, die einzigen, die auf die personenbezogenen Daten zugreifen dürfen. Die Übermittlung der Daten an andere Stellen ist per Gesetz nicht erlaubt. Die Bundesregierung will das ändern. Die Daten sollen danach auch an Verfassungsschutzbehörden weitergeleitet werden können, ohne dass ein konkreter Verdacht vorliegt. Das ist kein Datenschutz, sondern eine Datenschutzverletzung. ({1}) Zweitens. Sie möchten gravierende Änderungen beim Asylgesetz im Bereich des Datenschutzes vornehmen. Nach der neuen Regelung können das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sowie Ausländerbehörden Gesundheitsinformationen, Berichte über das Sexualleben und andere intime Daten von Geflüchteten an andere Behörden wie die Verfassungsschutzbehörden weiterleiten. Hier wird klar: Datenschutz, selbst der Schutz intimster Daten, soll für Geflüchtete nicht gelten. Das ist abzulehnen; Datenschutz muss für alle gelten. ({2}) Drittens. Die Änderungen im Bundesdatenschutzgesetz sehen vor, dass auch nichtöffentliche Stellen Daten für die Sicherheitsbehörden bereithalten müssen. In der Gesetzesbegründung steht: Ein solches zwingendes Erfordernis – gemeint ist das Erfordernis zur Datenweitergabe – kann etwa bei der Verarbeitung von personenbezogenen Daten mit Religionsbezug durch zivilgesellschaftliche Träger im Rahmen von Präventions- und Deradikalisierungsprogrammen im Bereich religiös motiviertem, insbesondere islamistischem, Extremismus bestehen. Hiermit werden also zivilgesellschaftliche Organisationen, die wichtige Präventionsarbeit gegen religiöse Radikalisierung leisten, gezwungen, ihre Daten an die Sicherheitsbehörden herauszugeben. Jemand, der Sorge haben muss, dass er durch die Beteiligung an einem Präventionsprogramm bei den Behörden aktenkundig wird, wird an so einem Programm nicht mehr teilnehmen und sich dann erst recht radikalisieren. Was Sie als Bundesregierung wollen, ist kontraproduktiv im Kampf gegen Dschihadismus. ({3}) Dann haben Sie noch einen weiteren Gesetzentwurf zum Datenschutz im Strafverfahren vorgelegt. Bisher wurden Daten, die von der Polizei aufgrund von Gefahrenabwehrmaßnahmen gesammelt wurden, rechtswidrig im Strafverfahren verwendet. Dazu muss man wissen: Im Gefahrenabwehrrecht, also im Polizeirecht, darf die Polizei schon aktiv werden, wenn nur eine Gefahr besteht. Im Strafprozessrecht hingegen muss zumindest der Verdacht einer Straftat bestehen. Die Anforderungen sind also höher. Die Polizei kann also theoretisch über das Polizeirecht Maßnahmen wie eine Wohnraumüberwachung gegen eine Person durchführen, die sie nach Strafprozessrecht nicht hätte machen dürfen. Dadurch kann sie an Beweise kommen, die sie eigentlich gar nicht für das Strafverfahren hätte haben dürfen, weil ja gar kein Verdacht einer Straftat bestand. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt: Das geht so nicht. Es braucht eine klare gesetzliche Regelung. – Die haben Sie nun vorgelegt; das ist richtig und gut. Aber für den Datenschutz der Betroffenen im Strafverfahren – darum ging es dem Bundesverfassungsgericht eigentlich – haben Sie nicht gesorgt. Vielmehr können nach der neuen Regelung die Geheimdienste Daten mit den Strafverfolgungsbehörden austauschen. Der Betroffene hat kaum die Möglichkeit, dagegen vorzugehen. Das ist kein Grundrechtsschutz, das ist mehr Macht für die Sicherheitsbehörden. Nehmen Sie endlich mal den Datenschutz im Strafverfahren ernst! ({4}) Halten wir also fest: Unter dem Label „Datenschutz“ geben Sie den Sicherheitsbehörden mehr Befugnisse. Stattdessen brauchen wir aber endlich mal einen vernünftigen Datenschutz. Danke schön.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächstes erwarten wir den Kollegen Dr. von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trotz aller ernstzunehmenden Diskussionen und Verunsicherungen bleibt zu sagen: Die Europäische Datenschutz-Grundverordnung ist ein Meilenstein für den Schutz von Privatheit und Grundrechten in unserer digitalisierten Gesellschaft. ({0}) Sie ist ein Erfolg für den europäischen Binnenmarkt und wird aus gutem Grund derzeit von vielen Ländern wie Israel, aber beispielsweise auch Kalifornien kopiert – beides Regionen, die nicht gerade für ihre digitale Rückständigkeit bekannt sind. Wir haben mit der Datenschutz-Grundverordnung endlich ein europaweit geltendes Instrumentarium gegen multinationale Firmen, die sich bisher nicht an nationalstaatliches Recht gebunden fühlten. Leider haben Sie von der Union dieses Instrumentarium den Menschen in den letzten zwölf Regierungsjahren verweigert, meine Damen und Herren. ({1}) Aber auch bei der notwendigen Anpassung hat die Bundesregierung kaum eine Chance verstreichen lassen, den Datenschutz zu schleifen, wo es geht. Sie haben die Aufsichtsarbeit erschwert, Rechte der Betroffenen verkürzt und zusätzliche Unsicherheiten geschürt. Die bestehenden Spielräume und Öffnungsklauseln wie im Bereich des Beschäftigtendatenschutzes – da gucke ich mal Richtung SPD – sind immer noch nicht angegangen und genutzt worden. Das wird den gegenwärtigen Problemen und Herausforderungen schlicht nicht gerecht, meine Damen und Herren. ({2}) Auch mit der zweiten Vorlage schleifen Sie wieder Betroffenenrechte und Aufsichtsmöglichkeiten. An mehreren Stellen werden Abwägungserfordernisse zulasten der Bürgerinnen und Bürger zurückgeschraubt. Den zweiten Gesetzentwurf wollten Sie heute – das hat der Kollege angesprochen – ganz ohne Debatte hier durchbringen. Zur Erinnerung: Die sogenannte JI-Richtlinie stammt aus dem April 2016. Die lange bekannte Umsetzungsfrist – das wurde eben auch vom Staatssekretär genannt – war der 6. Mai 2018. Hier hätte man längst die notwendigen Anpassungen vorbereiten können und auch müssen. Leider wurde das verschlafen. Ob die Richtlinie korrekt umgesetzt wurde, insbesondere bei der Strafprozessordnung, wird bei einer Anhörung zu den beiden Gesetzentwürfen zu klären sein. Eine Anmerkung zum Kollegen Reusch: Die Seitenanzahl von Vorlagen ist immer ein Argument. Aber am Ende geht es um die Lebensbezogenheit des Themas, mit dem wir es hier zu tun haben, ({3}) und das betrifft die Menschen. Natürlich kann man hier nicht 600 Seiten referieren; aber man muss die wesentlichen Punkte ansprechen. Es ist ein wichtiger Prozess, den wir hier parlamentarisch begleiten. ({4}) Die Koalition aber hat den Gesetzentwurf genutzt, gleich mal etwas mit zu regeln, was dem Datenschutz der Menschen diametral entgegenläuft, nämlich die Erhebung retrograder, aus betrieblichen Gründen von Providern gespeicherter Standortdaten. Das verstecken Sie unter Artikel 1 Ziffer 6 Buchstabe a Unterpunkt bb des Gesetzentwurfs. So geht es einfach nicht, meine Damen und Herren. ({5}) All das zeigt: Diese Große Koalition ist leider nicht in der Lage, den gesetzgeberischen Herausforderungen durch die digitale Revolution gerecht zu werden. Sie doktern hinterher, werfen gerne mit Buzzwords um sich, gründen Kommissionen ohne Ende, statt endlich klare Standards und Regeln zu setzen. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein liberaler Rechtsstaat und ein erfolgreicher Wirtschaftsstandort, nicht weil wir so wenig regulieren oder Bürgerrechte relativieren, sondern weil unser Verfassungsstaat klare Regeln setzt, Grundrechte achtet und so für Rechtssicherheit sorgt. Fangen Sie endlich damit an! Ganz herzlichen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. von Notz. – Als Nächstes spricht für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Marc Henrichmann. ({0})

Marc Henrichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004744, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher! 154 bereichsspezifische Datenschutzregeln sind in diesem Gesetzentwurf enthalten, die wir an die Vorgaben der Datenschutz-Grundverordnung anpassen. Der Entwurf ist mit seinen technischen und redaktionellen Anforderungen eigentlich eher etwas für datenschutzrechtliche Feinschmecker. Ich glaube aber schon – und die Rückläufe aus den Wahlkreisen zeigen uns das; es gibt viele Vereine und kleine Unternehmer, die sich Gedanken und Sorgen machen –, dass Datenschutz ein laufender Prozess ist und dass wir Respekt zeigen, indem wir uns mit dem Thema auseinandersetzen. Deswegen macht die Debatte meines Erachtens auch Sinn. Mein Dank gilt insbesondere den Mitarbeitern im BMI – das möchte ich auch mal sagen –, die anderthalb Jahre viel zu leisten hatten und uns immer mit Rat und Tat zur Seite standen. Da darf man auch mal Danke sagen. ({0}) Datenschutz – oder besser: Datenpolitik – ist ein Thema, das Zukunftspotenzial hat. Ich glaube, ganz wichtig ist neben dem Schutzgedanken immer auch Augenmaß. Ich werde nicht müde, auch die Errungenschaften der Datenschutz-Grundverordnung in den Vordergrund zu stellen. Sie wurde oft verschrien, aber ich glaube, es ist ein Fortschritt, dass wir in Europa einheitliche Standards haben, von denen alle gleichermaßen profitieren und an die sich alle zu halten haben. Auch Kalifornien – als aktuellstes Beispiel; das wurde angesprochen – hat unser Datenschutzrecht kopiert; auch das sollte uns vielleicht ein Stück weit stolz machen. ({1}) Wir dürfen allerdings sicher nicht den Fehler machen, immer nur auf die Großen, die sogenannten Datenkraken, zu schauen. Vielmehr müssen wir auch die vielen kleinen und mittelständischen Betriebe, Vereine, Organisationen in den Blick nehmen. Auch hier muss Umsetzung mit Augenmaß der Leitgedanke sein. ({2}) Mut macht die Rückmeldung aus den Datenschutzbehörden, dass es eben nicht die Vielzahl von Verstößen gegeben hat, dass es keine großen Straforgien gegeben hat. Dennoch, glaube ich, gibt es noch einiges an Verbesserungspotenzial. Es gibt viel Unruhe und teilweise Sorge, und da sind wir auch gefordert, Beratung, Hilfe und Service für Mittelständler, Vereine und Bürger zu leisten. Das ist mein Verständnis eines modernen Staates. Da dürfen wir die Menschen auch nicht im Regen stehen lassen. ({3}) In den anstehenden Beratungen werden wir noch einige Änderungswünsche besprechen müssen. Da geht es um die Bestellung des betrieblichen Datenschutzbeauftragten, die sogenannte Zehner-Schwelle. Wir müssen zumindest über Erleichterungen dahin gehend reden, ob es nicht Sinn macht, diejenigen rauszunehmen, die sich nicht schwerpunktmäßig und betrieblich mit Datenverarbeitung befassen. Dabei müssen wir immer das Signal aussenden, dass wir das hohe Datenschutzniveau nicht gefährden wollen, aber auch Praktikabilität nicht völlig außer Acht lassen wollen. Die Abmahnwelle – ich sagte es – ist ausgeblieben; aber es ist uns weiterhin wichtig, ein Auge darauf zu haben. Es liegt ein erster Vorschlag vor, wie wir es unterbinden, dass Abmahnanwälte Geschäftsmodelle entwickeln. Wir dürfen auch hier Vereine, Verbände und Unternehmen nicht im Regen stehen lassen. ({4}) Wir werden auch die Debatte führen müssen, ob die Datenschutz-Grundverordnung auch marktverhaltensregelnde Normen enthält, die nach dem UWG abmahnfähig sind. Auch hier brauchen wir Klarstellung; das werden wir in der Debatte ansprechen. Zum Abschluss möchte ich noch kurz darauf zu sprechen kommen, was uns in der Zukunft erwartet. Wir haben die Evaluierung der Datenschutz-Grundverordnung vor der Brust. Auch da gilt es, besser zu werden und Vorschläge aus der Praxis aufzunehmen. Auch die E-Privacy-Verordnung steht an. Das sind beides Meilensteine, die wir in die richtige Richtung entwickeln und nutzen müssen. Autonomes Fahren, Telemedizin – all das sind Themen, denen wir uns stellen müssen, und denen können wir nicht mit einem datenpolitischen Stoppschild begegnen. Auch hier gilt es, ausgewogene Lösungen zu finden und den Schutz der Verbraucher, aber auch die Potenziale der Wirtschaft nicht aus dem Blick zu verlieren. Denn jeder Verbraucher und Bürger ist auch gleichzeitig Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Vorstand oder Mitglied eines Vereines. Wir als Union, als Partei der Mitte, stehen für eine Lösung mit Augenmaß. Ich freue mich auf die Ausschussberatungen. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächste Rednerin die Kollegin Saskia Esken, SPD-Fraktion. ({0})

Saskia Esken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004267, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor einigen Tagen hat mein Kollege Staatssekretär Fuchtel – ich habe gar nicht damit gerechnet, dass er jetzt hier sitzt – in unserem Wahlkreis ein Bierzelt zum Kochen gebracht mit der Ankündigung, er wolle die Datenschutz-Grundverordnung ändern. ({0}) Ich hatte dann die unschöne Aufgabe, das wieder einzusammeln; denn alleine können wir ja nun eine europäische Verordnung nicht ändern; das dauert vielleicht noch ein bisschen. ({1}) – Ja, das ist wohl wahr. Die ganz große Aufregung, die um den 25. Mai dieses Jahres herum entstanden ist, hat sich ein bisschen gelegt. Aber an diesem Abend wurde mir doch klar, welche Welle diese europäische Verordnung tatsächlich verursacht hat. Ich wiederhole mich, wenn ich hier offen eingestehe: Wir haben das unterschätzt. Und wir haben es versäumt, die zweijährige Übergangsfrist als Umsetzungsfrist zu nutzen und die Menschen dabei zu unterstützen, den Datenschutz als das zu erleben, was er ist: ein wichtiges Bürger- und Verbraucherrecht. ({2}) Datenschutz schützt keine Daten, er schützt Menschen, auch wenn sich viele derzeit nur genervt und nicht geschützt fühlen. Ziel der europäischen Verordnung war es natürlich, das Recht durch Harmonisierung zu stärken, nicht nur für Bürgerinnen und Bürger und für Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern vor allem auch für Unternehmen in Deutschland und Europa, die ein Level Playing Field vorfinden sollen. Wir beraten heute ein 500-Seiten-Werk voller rechtstechnischer Anpassungen an die DSGVO; die Kolleginnen und Kollegen haben einiges schon angesprochen. Da geht es zunächst darum, verbliebene Lücken in unterschiedlichen Rechtsbereichen zu schließen. Und es ist schon erstaunlich, in wie vielen Bereichen der Schutz personenbezogener Daten eine Rolle spielt. Manch einer hofft jetzt natürlich darauf, dass wir die für Mai 2020 vorgesehene Evaluation schon mal vorziehen, dass wir schon jetzt Ausnahmen – vor allem für Vereine und kleine selbstständige Unternehmen – bei den Pflichten oder wenigstens bei den Bußgeldern ermöglichen, wie sich das ein europäischer Mitgliedstaat ausgedacht hat. Da muss ich um Verständnis bitten: Für diese Evaluation, finde ich, müssen wir uns schon die nötige und auch die vereinbarte Zeit nehmen. Wir wollen die Verordnung ja nicht schon reformieren, bevor sie sich in gesprochenes und vor allem in gelebtes Recht entwickelt hat und wir wirklich verstehen können, wo der Schuh drückt. ({3}) Was auf europäischer Ebene noch zur Modernisierung und Harmonisierung aussteht – das ist auch schon angesprochen worden –, ist die E-Privacy-Verordnung, der besondere Schutz der Privatheit von Kommunikation und Surfverhalten. Wir hoffen und wünschen uns natürlich, dass die Bundesregierung ihren Teil dazu beitragen kann, dass die Verordnung im Trilog noch vor der Europawahl abgeschlossen werden kann. Ansonsten droht womöglich eine nationale Reform des Telemediengesetzes; das kann auch nicht im Sinne des Binnenmarktes sein. Die DSGVO – das habe ich hier schon mal gesagt – ist kein Grund zur Panik, aber ein guter Anlass zum Aufräumen. Deshalb finde ich es auch nicht überfordernd, sondern im Gegenteil sogar ratsam, auch in Vereinen und kleinen Unternehmen einen Datenschutzbeauftragten zu benennen. Denn wenn einer dafür zuständig ist, dann hilft das doch bei der Umsetzung. Eine gute Umsetzung bietet die Chance, Gewinne einzufahren durch bessere Daten, bessere Prozesse und sichere Kommunikation. Unter uns gesagt: Die Pflichten gelten ohnehin unabhängig davon, ob jetzt ein Datenschutzbeauftragter bestellt werden muss oder nicht. Die Pflichten ändern sich dadurch gar nicht; sie müssen trotzdem umgesetzt werden. Wirklich wichtig ist – da sind wir dran, und da sind wir uns auch einig –, dass überzogene und ungerechtfertigte Datenabmahnungen unterbleiben, und zwar ganz egal, ob es um den Datenschutz oder um andere Bereiche wie zum Beispiel das Urheberrecht geht. Wir machen Schluss mit der unlauteren Abmahnindustrie. ({4}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind spät dran mit dieser gründlichen Umsetzung – das ist auch schon gesagt worden –, und doch sind wir damit schneller als die meisten anderen europäischen Mitgliedstaaten. Es bleiben Rechtsbereiche offen, wie zum Beispiel der Beschäftigtendatenschutz. Auch Arbeitnehmer wollen sich nicht auf Schritt und Tritt beobachtet fühlen. Das ist aber keine Sache, die man mal eben am Freitagnachmittag durchzieht. Wir sind dran, im BMAS etwas zu entwickeln, und auch guten Mutes, dass da etwas vo­rankommt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie jetzt freundlicherweise zum Schluss, Frau Kollegin.

Saskia Esken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004267, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Freundlicherweise. – Insgesamt, denke ich, sind wir auf einem guten Weg, mit unserer Arbeit zu Vertrauen und Sicherheit in der digitalen Welt beizutragen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. Sie haben mit der Information, dass im bayerisch-baden-württembergischen Grenzgebiet auch Bierzelte zum Kochen gebracht werden können, sehr zu meiner Weiterbildung beigetragen. – Als nächster und letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt der Kollege Axel Müller. ({0})

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Ich will jetzt keine Nachhilfe in Geografie geben, aber der Kollege Fuchtel kommt nicht unbedingt aus dem bayerisch-baden-württembergischen Grenzgebiet. Hinter dem sperrigen Titel, der hier an der Anzeigetafel steht, verbergen sich vorzunehmende Änderungen nationaler Gesetzesbestimmungen aufgrund der europäischen Datenschutz-Grundverordnung, kurz: DSGVO. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen, etwas despektierlich gesagt: Diese Verordnung auf europäischer Ebene zieht geradezu einen ganzen Rattenschwanz an mehr oder weniger sinnvollen oder nachvollziehbaren Änderungen anderer gesetzlicher Vorschriften nach sich. Sie verlangt nicht nur die Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes, sondern sie verlangt auch zahlreiche spezialgesetzliche Regelungen, die neu gefasst werden müssen. Ich beschränke mich hier mit Blick auf den Pakt für den Rechtsstaat und den Umfang dieser Verordnungen auf die Regelungen der Strafprozessordnung. Die waren, Herr Kollege Reusch, durchaus lesenswert und auch informativ. Da hätte sich für die Praxis das eine oder andere schon herauslesen lassen können. Eine kritische Anmerkung zur DSGVO sei erlaubt. Ich beziehe mich auf den Kollegen Henrichmann. In der Realität, Herr von Notz, sieht es halt anders aus. ({0}) Die Rückmeldungen aus den Wahlkreisen sind doch ein bisschen anders als die Äußerungen in diesem geschützten Rahmen hier. Da kommt nicht viel Gutes zum Datenschutz zurück. ({1}) Wir müssen demzufolge bei der genannten E‑Privacy-­Verordnung in diesem Hause sehr, sehr wachsam sein; denn diese soll die DSGVO noch spezifisch ergänzen. Was auch immer da auf uns zukommt! Ich komme nun zu den von mir angesprochenen Punkten in der Strafprozessordnung. Erstens. Die Auffang­norm des § 500 Strafprozessordnung, Frau Staatssekretärin, bedarf durchaus der Erwähnung hier. Sie haben ja gesagt, dort wird klargestellt, dass nunmehr auch bei den Länderbehörden – sprich: bei den Staatsanwaltschaften; Justiz ist ja bekanntlich Ländersache – das Bundesdatenschutzgesetz zur Anwendung kommen soll. Warum eigentlich? Warum kommt nicht das Landesdatenschutzgesetz zur Anwendung? Warum geht das Bundesdatenschutzgesetz dem Landesdatenschutzgesetz vor, wenn Landesbehörden mit Daten umgehen? Wie widersprüchlich die Formulierung ist, zeigt sich in der weiteren Fassung des § 500 StPO. Dort steht nämlich explizit drin, dass für die Einhaltung und Kontrolle der datenschutzrechtlichen Bestimmungen nicht der Bundesdatenschutzbeauftragte, sondern der Landesdatenschutzbeauftragte zuständig ist. Hier ist der Gesetzentwurf widersprüchlich oder unvollständig; es bedarf zumindest einer Korrektur. Der zweite erwähnenswerte Punkt ist der § 491 StPO. Dahinter verbirgt sich eine Auskunftsverpflichtung der Staatsanwaltschaften gegenüber Betroffenen, insbesondere auch Beschuldigten, zu Verfahren, die gegen sie geführt werden. Nun ist es in der bisherigen Gesetzesfassung so formuliert, dass aus ermittlungstaktischen Gründen in den ersten sechs Monaten überhaupt keine Auskunft erteilt werden muss und darüber hinaus in weiteren 24 Monaten sogar im Einzelfall geprüft werden darf, ob es mit Blick auf einen etwaigen Ermittlungserfolg opportun ist oder nicht. Hier verweist die Neufassung des § 491 StPO auf die allgemeinen datenschutzrechtlichen Bestimmungen des Bundesdatenschutzgesetzes. Die gehen aber nicht so weit, und sie schränken diese ermittlungstaktischen Möglichkeiten ein. Das kann so weit gehen, dass der Ermittlungserfolg gefährdet wird. Das entspricht dann doch nicht ganz dem, was wir mit dem Pakt für den Rechtsstaat erreichen wollten. Darüber hinaus erwähnenswert erscheint mir, dass wir eine Änderung im Einführungsgesetz zur Strafprozessordnung vornehmen. Da sind Übergangsfristen formuliert, während der die Staatsanwaltschaften die Verarbeitungsvorgänge entsprechend behandeln dürfen – mit weniger oder mehr Aufwand. Diese Fristen sind für den 5. Mai 2023 und den 5. Mai 2026 normiert – aber nur für die Staatsanwaltschaften, nicht für die Gerichte. Das läuft nicht synchron. Hier ist mit einem ganz erheblichen Mehraufwand für die Justizbehörden auf gerichtlicher Seite zu rechnen. Es bedarf deshalb der Synchronisierung. Ein letzter Punkt: In § 21 des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz wird jetzt formuliert, es müsse so verstanden werden, dass die Behörde Auskünfte über den Verfahrensausgang, die einer Einstellung zugrunde liegen, in jedem Fall von Amts wegen den Betroffenen erteilen muss.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. – Warum denn?

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Weil die Zeit abgelaufen ist. ({0})

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das geht über die DSGVO hinaus. Ich kündige daher an, dass wir diesen gesamten Gesetzesvorgang im Ausschuss sehr kritisch begleiten werden; denn wir müssen über die von mir angeführten und auch von den Kollegen benannten Punkte noch ausführlich diskutieren. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Müller, auch für die einleitenden Worte. – Ich will darauf hinweisen, dass jedenfalls das Präsidium alle Redebeiträge der Redner hier sehr aufmerksam verfolgt. Und da die Kollegin Esken davon gesprochen hat, dass das Bierzelt in ihrem Wahlkreis stand und der bekanntlich in Baden-Württemberg liegt, war ich davon überrascht, dass – erstens – ein Bierzelt in Baden-Württemberg stand und dass man – zweitens – Baden-Württemberger zum Kochen bringen kann, was ja eine sehr intensive emotionale Regung voraussetzt. ({0}) Mit diesen Worten beende ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 19/4674 und 19/4671 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es hierzu anderweitige Vorschläge? – Das sehe ich nicht. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Werte Gäste auf den Rängen! „Die Budgetierung ist die Mutter aller Probleme.“ ({0}) So brachte es der Präsident des Berufsverbandes der Deutschen Urologen, Dr. Axel Schroeder, in Dresden vor einigen Tagen auf den Punkt. Im Rahmen des Gesundheitsstrukturgesetzes von 1993 führte der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer eine Budgetierung der Ausgaben ein. Ausgabenbegrenzung, sprich: Budgetierung, wurde für Kliniken, Arzthonorare und Arzneimittel ein zentrales Steuerungsinstrument, meine Damen und Herren. Ziel war vor allem eins: Wettbewerb. Die Gesundheitsversorgung sollte durch diese Budgetierung mit mehr Wahlfreiheit, höherer Beitragsgerechtigkeit und mehr Wirtschaftlichkeit gesund verbessert werden. Dem allen unterlag der Grundgedanke der totalen Budgetierung aller Leistungsbereiche und Verwaltungsaufgaben. Ein Budget also, das die Abrechnungsfähigkeit der ärztlichen Leistungen aushebelt und logischerweise – wie wir alle wissen – dazu geführt hat, dass der Arzt die letzten Tage und Wochen im Quartal die Praxis praktisch dichtmacht, meine Damen und Herren. ({1}) Das kennen Sie hoffentlich alle, da Sie ja, denke ich, alle gesetzlich krankenversichert sind, meine Damen und Herren. ({2}) 2016 sahen 61 Prozent der Ärzte ihre Therapiefreiheit aufgrund des zunehmenden Kostendrucks und der bürokratischen Verreglementierung in der Therapie infrage gestellt. Deshalb, meine Damen und Herren, arbeiten zurzeit auch circa 10 000 deutsche Ärzte im Ausland, rund 80 Prozent davon im deutschsprachigen Ausland. Der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. Andreas Gassen, forderte deshalb – zu Recht – im Auftrag der Selbstverwaltung und der Ärzte und Patienten dieses Landes, dass diese unselige Budgetierung abgeschafft werden muss. ({3}) Es muss eine klare Regelung zur Finanzierung der Arzt-Patienten-Kontakte geben, es muss das zugewiesene Honorar den real erbrachten Leistungen entsprechen, und es muss vor allem aufgehört werden, dem Patienten permanent in die Tasche zu lügen, indem man ihm sagt, es würden ihm quasi uneingeschränkte Leistungen zur Verfügung stehen. ({4}) Es muss den Menschen ehrlich gesagt werden, dass es bei vielen niedergelassenen Ärzten genau aus diesen Gründen bis zu vier Jahre später zu Wirtschaftlichkeitsprüfungen mit Regressverfahren kommt. Dann darf der Arzt mehrere 10 000 Euro zurückbezahlen. Auch Rückforderungen über 100 000 Euro sind keine Seltenheit, meine Damen und Herren. Der Arzt bezahlt damit Beratungs- und Untersuchungskosten sowie Kosten aus Heilmittelverordnungen zurück, die der Patient dringend medizinisch benötigte. Im Klartext: Der Arzt finanziert einen Teil der Therapie seiner Patienten aus der eigenen Tasche. Im hausärztlichen Bereich werden 6 Prozent der ärztlichen Leistungen umsonst erbracht und im fachärztlichen Bereich 15 Prozent. Spitzenreiter ist hier Hamburg, wo der Anteil im hausärztlichen Bereich bei 22 Prozent und im fachärztlichen Bereich bei 21 Prozent des Gesamthonorars liegt. Glauben Sie – das frage ich Sie jetzt ganz ehrlich und aus tiefstem Herzen –, dass Sie mit diesem System die am Anfang erwähnten 10 000 Ärzte nach Deutschland zurückholen können? Glauben Sie, dass Sie damit die Probleme der Hausarztversorgung im ländlichen Raum lösen können? Ich und unsere AfD-Fraktion glauben das jedenfalls nicht. ({5}) Schauen Sie: Vordringliche Aufgaben sind doch in erster Linie die Abschaffung der unsinnigen Budgetierung, eine Anpassung des EBM und des GOÄ-Leistungskataloges sowie die Neugestaltung der Bedarfsplanung. Dabei kostet die Abschaffung der Budgetierung nur 2 Milliarden Euro. Bei Reserven der Krankenkassen von 20 Milliarden Euro ist das tatsächlich ein Schnäppchen. Es geht bei der Abschaffung der Budgetierung nicht darum, die Ärzte reicher zu machen, sondern darum, die realen Kosten, die durch die Behandlung eines Patienten entstehen, auch eins zu eins zu vergüten. ({6}) Zusammenfassend lässt sich also feststellen: Die Budgetierung ist eine Mengenbegrenzung und Einsparung am Patienten. Deshalb fordern nicht nur die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung, verschiedene Hausarzt- und Facharztverbände, sondern auch wir, die Alternative für Deutschland, die sofortige Abschaffung der Budgetierung. Einer Überweisung in den Gesundheitsausschuss stimmen wir zu. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Alexander Krauß. ({0})

Alexander Krauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte am Anfang einige Punkte zurechtrücken. Vielleicht kann mein Vorredner dabei ein bisschen zuhören. Er ist ja auch als Arzt tätig, leider nur in einer Privatpraxis, behandelt also leider keine Kassenpatienten. Auch das muss man einmal sagen. Mich wundert es, dass gerade Sie dann der Experte sind, wenn es um die gesetzliche Krankenversicherung geht. Das ist unredlich. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage? ({0}) – Sie wird erlaubt.

Alexander Krauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Schlund kann gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sie haben erwähnt, dass ich eine Privatpraxis habe und die kassenärztliche Praxis nicht kenne. ({0}) Das ist leider nicht der Fall. Ich hatte lange Zeit eine Kassenpraxis und musste sie aus wirtschaftlichen Gründen wegen ebendiesen Regressen verkaufen. ({1})

Alexander Krauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Darauf komme ich noch zu sprechen, Herr Kollege. Ich glaube, da war anderes im Spiel. Lassen Sie mich ein paar Punkte klarstellen. Punkt eins: Wir haben in Deutschland eine Therapiefreiheit, das heißt, was medizinisch notwendig ist, kann ein Arzt auch verordnen. ({0}) Punkt zwei – auch das gilt –: Das Geld für das Gesundheitswesen fällt bei uns nicht vom Himmel, sondern das bringen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinschaftlich auf. Deswegen finde ich es auch in Ordnung, wenn die Kosten im Rahmen bleiben müssen, wenn also keine unnützen Leistungen verschrieben werden, sondern man genau hinschaut und fragt: Hat diese Leistung wirklich einen Nutzen für den Patienten? ({1}) Wie funktioniert unser System nun genau? Wir haben also Krankenkassen und Leistungserbringer auf zwei Seiten, die sich dann über Mengen und Preise verständigen. Das ist so ähnlich – jetzt werden Sie mitkriegen, dass wir Sachsen auch Bier trinken und das mit einflechten können – wie bei einer Familienfeier, wenn man den 50. Geburtstag feiert. Auch dort ist es gut, wenn man vorher mal in die Kneipe geht und mit dem Gastwirt über das Thema Preise spricht: Was wird ausgegeben für Bier und für das Essen? ({2}) Die allermeisten Kellner – das wissen wir – bringen nur das Bier, das jemand wirklich haben möchte. Aber es gibt halt auch den einen oder anderen Kellner, der vielleicht sagt: „Jetzt stelle ich mal fünf Bier auf den Tisch, die dann vielleicht gar nicht getrunken werden“, weil er weiß: Der Gastgeber bezahlt. ({3}) Genau das wollen wir im Gesundheitswesen vermeiden. Wir wollen keine Vergeudung im Gesundheitswesen haben, sondern wir wollen, dass die Mittel wirtschaftlich eingesetzt werden, die die Arbeitnehmer und Arbeitgeber aufbringen. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Krauß, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Schinnenburg?

Alexander Krauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich würde gern weiterreden. – Wir wollen also ein qualitativ gutes, aber eben auch ein wirtschaftliches Gesundheitssystem haben. Deswegen muss man vorher auch darüber sprechen, was wie viel kostet. Budget heißt im Übrigen nicht, die Ärzte bekommen jedes Jahr das gleiche Geld. Die Ausgaben für die ärztliche Versorgung steigen von Jahr zu Jahr im Durchschnitt um 1,4 Milliarden Euro. Diese gute Bezahlung ist richtig, weil gerade niedergelassene Ärzte eine sehr gute und wichtige Arbeit leisten. Jetzt zum Thema Regress. Es wird ja sehr häufig so getan – auch von meinem Vorredner –, als ob die Ärzte in Regress genommen würden. Richtig ist: Was abgerechnet wird, das wird kontrolliert, und zwar von der Kassenärztlichen Vereinigung. Also Ärzte kontrollieren, was Ärzte abrechnen. Das ist die Systematik, die wir haben; denn der Patient weiß leider nicht, was abgerechnet wird. Wenn jemand dabei deutlich über dem Durchschnitt liegt, dann fragt die Kassenärztliche Vereinigung, wie das zustande kommt. Ich habe bei mir im Erzgebirge einen Hausarzt, der deutlich mehr Augentropfen verschrieben hat, als das im Durchschnitt üblich ist. Da hat dann die Kassenärztliche Vereinigung nachgefragt: Wie kommt das? Da hat er es ihr erklärt und gesagt: Bei uns hat der Augenarzt geschlossen. Ich habe hier ein Altenheim, ich muss die Leute trotzdem versorgen. Deswegen habe ich wesentlich mehr Augentropfen verschrieben, als das üblich ist. – Natürlich hat die Kassenärztliche Vereinigung das akzeptiert. ({0}) Die Rückzahlungsforderungen sind die absolute Ausnahme. Der Linken gebührt ja das Verdienst, eine Kleine Anfrage gestellt zu haben, wie viele es denn gibt. Nur mal ein Beispiel aus Hessen vom vorigen Jahr: Bei einem von 200 Ärzten gab es Regressforderungen. Ob die dann eingezogen wurden bzw. ob die gerechtfertigt waren, ist wieder die nächste Frage. Das heißt, bei 199 von 200 Hausärzten gibt es gar keine Regressforderungen. Jetzt sage ich auch mal was in die Richtung der AfD: Da gibt es sicherlich den einen, der bei der Abrechnung vielleicht einen Fehler gemacht hat, und dann gibt es die anderen, Herr Kollege Schlund. Wenn eine medizinische Leistung eine halbe Stunde dauert und Sie davon 50 am Tag abrechnen, dann finde ich es berechtigt, wenn die Kassenärztliche Vereinigung sagt: Der Tag hat nun einmal nur 24 Stunden; das geht nicht. – Ich finde, das ist vollkommen berechtigt. Betrug werden wir nicht zulassen. ({1}) Liebe Freunde, meine sehr geehrten Damen und Herren, das Budget hat natürlich auch Nachteile. Darüber kann man auch sprechen. ({2}) Insofern finde ich: Wer mehr macht, muss auch mehr davon haben. Wer als Arzt fleißig ist, soll, finde ich, auch am Monatsende mehr abrechnen können. ({3}) Deswegen müssen wir auch darüber sprechen, wie wir die extrabudgetären Leistungen erhöhen können. Wir haben ja extrabudgetäre Leistungen. Jeder dritte Euro in diesem System ist extrabudgetär, der hat mit dem Budget nichts zu tun. Das betrifft zum Beispiel Impfungen, Vorsorgeuntersuchungen usw. Diese extrabudgetären Leistungen wollen wir ausweiten. Wir wollen eine behutsame Weiterentwicklung. Wir wollen nicht das System auf den Kopf stellen, so wie Sie das wollen. Deswegen haben wir in unserem Terminservice- und Versorgungsgesetz Anreize zur Mehrarbeit geschaffen. Wer also neue Patienten aufnimmt und sagt: „Ich schicke keinen weg“, kriegt zusätzlich Geld. Wenn eine Hausarztpraxis einen Termin beim Facharzt vermittelt oder bei der Terminvermittlung mithilft oder eine Facharztpraxis den Termin des Hausarztes aufnimmt oder wenn sie offene Sprechstunden anbietet, dann kriegt sie zusätzliches Geld. ({4}) Das ist unser Weg, zusätzliches Geld zu geben für zusätzliche Leistungen. Lassen Sie mich aber im Detail auch kurz noch auf die beiden Anträge eingehen. Die AfD sagt: Wir möchten keine Begrenzung für Ausgaben haben, aber es soll auch niemand mehr bezahlen. – Das ist das Prinzip „Wasch mich, aber mach mich nicht nass“. Das wird nicht funktionieren. Die FDP hat versucht, es ein bisschen klüger anzustellen. ({5}) Sie hat erst gar nichts dazu gesagt, wie sie es finanzieren will. Das kann man so machen. Da entgehen Sie dann bei mir aber leider nicht dem Vorwurf, dass Sie nicht sagen, wo das Geld herkommen soll; ({6}) denn das müssen Sie den Arbeitgebern erklären. Die Arbeitnehmer sind Ihnen ja herzlich egal. Insofern müssen Sie es denen nicht erklären. ({7}) Aber Sie müssen dann schon sagen, wo das Geld herkommen soll. Das müssen Sie erklären, und das haben Sie in Ihrem Antrag nicht gemacht. Ich will auch auf die Kritik an den Terminservicestellen eingehen. Ich kann überhaupt nicht verstehen, was die FDP dazu schreibt. Die Kassenärztliche Vereinigung hat die Aufgabe übernommen, die medizinische Versorgung sicherzustellen. Wenn jemand in diesem Land einen Augenarzttermin braucht, dann muss er diesen Augenarzttermin auch bekommen. Das ist doch selbstverständlich. ({8}) Die FDP wird uns nicht davon abhalten, dafür zu kämpfen, dass jeder einen Facharzttermin bekommt, der ihn braucht. Das werden wir uns von Ihnen nicht bieten lassen. ({9}) Es ist auch falsch, liebe Freie Liberale, wenn behauptet wird, der Arzt hat dadurch weniger Zeit zur Behandlung. Quatsch. Termine vereinbaren die Arzthelferinnen und nicht der Arzt. Das ist Unsinn. Insofern, liebe Freunde, lassen Sie uns behutsam und mit Augenmaß an der Verbesserung unseres Gesundheitswesens arbeiten, das insgesamt sehr gut ist. Vielen Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Abgeordneter Krauß, herzlichen Dank. – Das Wort zu einer Kurzintervention bekommt der Kollege Dr. Wieland Schinnenburg. ({0})

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Krauß, bei aller Freundschaft, Ihr Beitrag hat gezeigt, dass Sie nicht die geringste Ahnung vom System der gesetzlichen Krankenversicherung haben. ({0}) Sie haben die sachlich-rechnerische Überprüfung, die Budgetierung und die Wirtschaftlichkeitsprüfung munter durcheinandergewirbelt. Das sind völlig unterschiedliche Dinge. Alle drei sind grausam und oft nicht passend. Das haben Sie munter durcheinandergewirbelt. Ich will die Einzelheiten gar nicht erläutern. Nur ein Punkt stieß mir auf. Sie sagen: Ja, es ist wie beim Gastwirt. Zu ihm geht man vor einer Feier und bespricht die Preise. – Das mag ja sein. Der entscheidende Unterschied – das macht gerade deutlich, wie notwendig der Antrag von der FDP ist – ist, dass der Gastwirt sicher sein kann, das Geld, das er vereinbart hat, nachher zu bekommen. Hier kann sich kein Arzt sicher sein. Das ist der entscheidende Unterschied. Dafür sollten Sie und Ihre ganz Regierung sich schämen. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kollege Krauß, wollen Sie antworten? – Ich sehe, das ist der Fall. Sie haben das Wort.

Alexander Krauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, die Budgetierung gibt es nicht erst seit heute. Es ist geschildert worden, dass es sie seit 25 Jahren gibt. ({0}) Sie haben in der letzten Zeit zweimal den Minister gestellt. Dort haben Sie immer nur die Lippen gespitzt und nie gepfiffen. Hätten Sie es gewollt, dann hätten Sie die Budgetierung doch angehen können und sie abschaffen können. Das haben Sie nicht gemacht, ich glaube, aus gewissen Gründen: ({1}) weil Sie wissen, das System kann man nicht so einfach in die Tonne drücken. ({2}) – Das kann sein. – Insofern kann man auch gern über Argumente streiten. Ich habe immer ein Problem damit, wenn man im Deutschen Bundestag den Eindruck erweckt, als ob man selber die Intelligenz mit Löffeln gefressen hat. ({3}) Ich finde, ein bisschen Demut tut diesem Haus ganz gut. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nach diesen weitreichenden Worten erhält die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus für die FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Bezüglich unseres Antrages „Ambulante ärztliche Versorgung verbessern, Bürokratie abbauen, Budgetierung aufheben“ lassen Sie mich mit zwei ganz einfachen Wahrheiten beginnen, die eigentlich auch Sie verstehen müssten. Die erste Wahrheit ist: Die Budgetierung, meine Damen und Herren, ist leistungsfeindlich, weil durch die festgeschriebenen Obergrenzen, die bestehen, ein Teil der geleisteten ärztlichen Vergütung überhaupt nicht ausgezahlt wird. Das nenne ich leistungsfeindlich. ({0}) Die zweite ganz einfache Wahrheit ist doch: Mit begrenzten Mitteln kann ich doch keine unbegrenzte Patientenversorgung erreichen. Auch das müssen Sie einmal ganz laut aussprechen, meine Damen und Herren. ({1}) Deswegen wird eine Budgetierung weder den Patienten gerecht noch den Ärzten, die diese Leistungen jeden Tag tausendfach erbringen. – Wo ist eigentlich der Herr Minister? Ich hätte gedacht, dass ihn die Debatte interessiert. Die Terminprobleme, die Sie mit Ihrem Gesetz und mit sehr viel Bürokratie bekämpfen wollen, sind doch eine Folge der Budgetierung. Wer das infrage stellt, lügt sich doch in die eigene Tasche. Das sollten Sie auch einmal aufnehmen, meine Damen und Herren. ({2}) Die Budgetierung ist und bleibt ein planwirtschaftliches Instrument. Deswegen gehört es auch abgeschafft. ({3}) Es ist doch so: Die Krankheit der Menschen richtet sich nicht nach irgendwelchen statistischen Mittelwerten oder irgendwelchen mathematischen Formeln. Das ist doch völliger Quatsch. Die Situation ist seit langem bekannt und ist sowohl für Patienten als auch für Ärzte nicht mehr tragbar. ({4}) Meine Damen und Herren, wer erbrachte Leistungen nicht hundertprozentig vergütet, darf sich auch nicht wundern, dass dann verschiebbare Routineuntersuchungen in das nächste Quartal verschoben werden. Die von uns geforderte Entbudgetierung bei grundversorgenden Haus- und Fachärzten ist ein erster richtiger und wichtiger Schritt, um diese Missstände endlich zum Wohle der Patienten zu beseitigen. ({5}) Eine willkürliche Kappung der Vergütungshöhe ohne medizinische Begründung ist doch einfach nur Quatsch und nicht sachgerecht. Meine Damen und Herren, wissen Sie eigentlich, woher die Budgetierung stammt? Diese ist schon ziemlich früh, vor über 20 Jahren, mit den Lahnsteiner Beschlüssen eingeführt worden. Die Jüngeren unter Ihnen werden sich gar nicht daran erinnern: Wir hatten einmal eine Ärzteschwemme. Ich glaube, der Begriff ist überhaupt nicht mehr bekannt. Davon kann heute gar keine Rede mehr sein. Wir alle versuchen doch krampfhaft, Ärztinnen und Ärzte dazu zu motivieren, sich niederzulassen und vor allen Dingen aufs Land zu gehen und sich dort niederzulassen. ({6}) Aber nicht mit so einer Politik. Die Entbudgetierung wäre ein einfacher und zugleich effektiver Weg zur Fachkräftesicherung im Bereich der Medizin, ({7}) damit Ärzte, wie übrigens alle anderen Berufsgruppen auch, wieder für das vergütet werden, was sie tatsächlich erbringen. Zum zweiten Teil unseres Antrages. Natürlich müssen wir auch die Rahmenbedingungen verbessern. Dazu gehört, dass wir die Bürokratie abbauen. Unterhalten Sie sich doch einmal mit jungen Ärzten. Sie sagen: Wir haben das Budget, wir haben eine überbordende Bürokratie, und deswegen lassen wir uns nicht nieder. – Daran müssen Sie doch einmal arbeiten, meine Damen und Herren. ({8}) Sie wissen doch, was die Bürokratie für die Ärzte in Deutschland bedeutet. 54 Millionen Bürokratiestunden jedes Jahr. Das hätte ich gerne für die Patientenversorgung. Da würde vieles bei der Patientenbehandlung besser sein. ({9}) Das Ministerium und die GroKo machen es wie immer. Sie arbeiten nicht an Lösungen, sondern machen symbolische Symptombekämpfung: hier einmal etwas ausbessern, da etwas ausstopfen. Aber das wird alles nichts bringen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne. – Mit der Entbürokratisierung und der Entbudgetierung würden endlich nicht mehr diejenigen Ärzte bestraft, die sich auf ihre Patienten konzentrieren und ausschließlich nach medizinischen Kriterien behandeln. Meine Damen und Herren, am meisten profitieren würden davon die Patienten. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, die Jüngeren unter uns, so wie ich, beherrschen noch die Uhr, um es einmal freundlich zu formulieren. ({0}) Als Nächstes spricht zu uns die Kollegin Sabine Dittmar von der SPD-Fraktion. ({1})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der dünne Antrag der AfD und auch die Rede des Kollegen Schlund lassen mich als Gesundheitspolitikerin und als Medizinerin etwas ratlos zurück. So viele Fehler und Ungereimtheiten in einem so kurzen Text sind wirklich bemerkenswert. ({0}) Es geht schon in der Überschrift los. „Aussetzung der Budgetierung für Ärzte“ heißt es dort. Am Ende fordern Sie die Bundesregierung aber auf, die Budgetierung abzuschaffen. Also was jetzt: aussetzen oder abschaffen? Weiter schreiben Sie von einer Einschränkung der freien Berufsausübung zulasten der Patienten. Eine solche gibt es natürlich nicht; denn sie wäre im Übrigen auch verfassungswidrig. ({1}) Was mich wirklich richtig ärgert, ist die unsinnige Behauptung, dass es eine „ausschließlich ökonomisch begründete Einschränkung der Therapiefreiheit des Arztes“ gebe. Wollen Sie damit wirklich ernsthaft behaupten, dass Ärztinnen und Ärzte den Patienten medizinisch notwendige Leistungen und Therapien vorenthalten, weil sie zu teuer sind? ({2}) Damit unterstellen Sie den Ärzten in Deutschland flächendeckend ({3}) Verstöße gegen vertragsärztliche Pflichten, gegen Sozialrecht, gegen Berufsrecht und auch gegen das Strafrecht. ({4}) Ich bin selber Ärztin, und ich verwahre mich auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen gegen solche ungeheuerliche Unterstellungen. ({5}) Um Ihrem Antrag etwas Substanz zu verleihen, beziehen Sie sich auf eine Studie der Hamburger Uni, in der die Gesundheitsökonomen nachgewiesen haben, dass in den letzten Wochen des Quartals eine reduzierte Sprechstunde angeboten wird. Aber wenn Sie schon aus der Studie zitieren, dann lesen Sie sie bitte vollständig. Die Kollegin hat es getan; denn Sie hat es richtig wiedergegeben. Da ist nämlich zu lesen, dass es sich um eine Verschiebung von Routineuntersuchungen in das nächste Quartal handelt und nicht um die Verschiebung oder Abweisung von Patienten mit dringlichem Behandlungs- und Therapiebedarf. Das ist natürlich zu kritisieren. Das geht auch mit meinem Verständnis der Berufsethik nicht einher. Aber das gefährdet den Patienten nicht. Das hätten im Übrigen auch Sie erfahren, wenn Sie am Mittwoch bei dem Fachgespräch mit Professor Montgomery im Gesundheitsausschuss anwesend gewesen wären. ({6}) Aber Sie machen das, was Sie immer machen, und das, was Sie am besten können: Sie schüren Ängste beim Patienten. ({7}) Ihr Antrag wird auch dadurch nicht besser, dass Sie versuchen, eine in regelmäßigen Abständen von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung vorgebrachte Forderung zu instrumentalisieren.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, erlauben Sie eine – –

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich lasse keine Zwischenfrage zu. – Aber nicht einmal das gelingt Ihnen. Ich bin mir auch sicher, dass unsere Ärzteschaft Unterstützer mit mehr Sachverstand und Kenntnis verdient hätte. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ergebnisse der Hamburger Studie sind natürlich nicht hinnehmbar. Viele von uns haben es selbst schon erlebt, dass es teilweise schwierig ist und am Ende des Quartals noch schwieriger wird, einen Termin beim Facharzt zu bekommen. Deswegen handeln wir auch in der Koalition. Ende September ging das Terminservice- und Versorgungsgesetz durch das Kabinett. Im Dezember werden wir uns hier im Plenum damit beschäftigen. Mit diesem Gesetz wird unter anderem dafür gesorgt, dass das Mindestsprechstundenangebot eines niedergelassenen Arztes mit voller Kassenzulassung von 20 auf 25 Stunden erhöht wird. ({1}) – Genau, Frau Kollegin. – Ich weiß, dass viele Ärzte das schon leisten, aber eben nicht alle. ({2}) Wer einen vollen Kassenarztsitz hat, muss seine Zeit auch überwiegend den gesetzlich versicherten Patienten zur Verfügung stellen ({3}) und darf sie nicht etwa hauptsächlich mit Privatpatienten oder IGeL-Leistungen verbringen. ({4}) Deswegen halte ich diese Regelung auch für zumutbar. Die grundversorgenden Fachärzte – das sind zum Beispiel Augenärzte, die nicht operieren, Frauenärzte, Orthopäden oder auch Hals-Nasen-Ohren-Ärzte – müssen künftig fünf Stunden offene Sprechstunden anbieten. Der Patient braucht hier keinen Termin mehr und kann direkt in die Praxis kommen. Der behandelnde Arzt bekommt diese Leistungen mit einem Zuschlag – hören Sie gut zu, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD und von der FDP! – außerhalb des Budgets vergütet. ({5}) – Viel mehr Fälle, Frau Kollegin. Im Übrigen werden dem Facharzt zukünftig alle Patienten, die vom Hausarzt direkt vermittelt werden, vollständig außerhalb des Budgets vergütet, und zwar für den kompletten Behandlungsfall. ({6}) Für neue Patienten gibt es ebenfalls die Grundpauschale mit einem Aufschlag von 25 Prozent außerhalb des Budgets. Der Kollege Krauß hat es schon gesagt: Über 40 Prozent der heute abgerechneten Leistungen sind extrabudgetär. Mit den im Gesetz anvisierten Maßnahmen wird sich das noch einmal deutlich erhöhen. Deshalb: Wenn man genau hinschaut, dann sieht man, dass das, was Sie mit Ihrem Antrag fordern, liebe FDP, eigentlich schon passiert, ({7}) dass wir einen langsamen Ausstieg aus dem Budget haben, weil immer mehr Leistungen herausgenommen werden, aber eben nur da, wo es nötig ist. ({8}) Aber, Kolleginnen und Kollegen: Die Herausforderungen, vor denen wir in der ambulanten Versorgung stehen und die Sie auch zu Recht angesprochen haben, Frau Kollegin Dugnus-Aschenberger, werden wir mit der Frage „Budget, ja oder nein?“ nicht lösen. In Bayern zum Beispiel bekommen die Hausärzte schon seit Jahren das volle Honorar ausgezahlt. ({9}) Die Budgetierung spielt hier überhaupt keine Rolle. ({10}) Trotzdem haben wir in strukturschwachen ländlichen Gebieten Probleme mit der hausärztlichen Versorgung und mit der Nachbesetzung freiwerdender Arztsitze. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Maßnahmen zur Sicherstellung der flächenärztlichen Versorgung, die wir schon in der letzten Legislaturperiode begonnen haben, weiterentwickeln und dass wir auch zusätzliche Instrumente dazufügen. Im Versorgungsstärkungsgesetz haben wir zum Beispiel die Förderung der Weiterbildung in der Allgemeinmedizin und bei den grundversorgenden Fachärzten gestärkt. Wir haben Arztgruppen und gleiche MVZ zugelassen und einen Strukturfonds bei den Kassenärztlichen Vereinigungen ermöglicht. ({11}) Der „Masterplan Medizinstudium 2020“ wird den Rahmen für die Ausbildung der künftigen Medizinerinnen und Mediziner an die Herausforderungen anpassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unstrittig ist, dass uns die Arbeit im Gesundheitsbereich ganz sicher nicht ausgehen wird. Aber ich möchte hier noch einmal explizit feststellen, dass wir in Deutschland trotz mancher Ärgernisse ein hervorragendes, gutes, qualitätsgesichertes Gesundheitssystem haben. ({12}) Dies wird getragen von Ärzten, Ärztinnen, Apothekern, Apothekerinnen, den Menschen, die in der Pflege und in den verschiedenen Gesundheitsberufen arbeiten, die täglich gute Arbeit im Sinne der Patienten leisten. Unsere Versorgung orientiert sich an medizinischer Indikation und ist evidenzbasiert; denn nicht alles, was medizinisch machbar ist, ist für den Patienten dann auch notwendig oder ratsam. Es geht also nicht darum, durch Entbudgetierung eine nicht mehr zu kontrollierende Mengenausweitung hervorzurufen, ({13}) sondern es geht darum, durch gezielte Maßnahmen dafür zu sorgen, dass sich die Patientinnen und Patienten unabhängig von ihrem Wohnort und ihrem Versichertenstatus darauf verlassen können, medizinisch und pflegerisch gut versorgt zu werden.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Genau. – Frau Kollegin, jetzt kommen Sie bitte zum Schluss.

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich freue mich auf die Debatte im Gesundheitsausschuss. Dann können wir auch intensiver diskutieren. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Nur für das Protokoll: Die Kollegin Dugnus-Aschenberger heißt in Wahrheit Aschenberg-Dugnus. ({0}) Als Nächster spricht zu uns der Kollege Dr. Achim Kessler, Fraktion Die Linke. ({1}) – Oh, Herr Kollege. Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Ich hatte ja zugesagt, dass ich eine Kurzintervention zulasse. Der Kollege Dr. Schlund hat das Wort. ({2})

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, einmal etwas klarzustellen. Ich habe hier niemanden persönlich angegriffen. Ich finde, das ist bei solchen Sachthemen besonders wichtig. Sie können das natürlich machen, aber dann müssen Sie schon bei der Wahrheit bleiben. Wenn Sie im Gesundheitsausschuss schlafen, dann sehen Sie mich natürlich dort nicht sitzen. ({0}) Sie können gerne in die Protokolle schauen. Dann werden Sie sehen, dass ich dort war. Zweite Sache: Natürlich muss man zuerst eine Aussetzung machen, bevor man es abschafft. Man muss ja erst einmal an dem System arbeiten. Deswegen ist das auch folgerichtig. Dritter Punkt: Was ich am allerschlimmsten finde, ist, was Sie hier zur Ethik der Ärzte abgelassen haben. Sie gehören nämlich genau zu denen, die die Ethik der Ärzte benutzen, dass sie schamlos ausgebeutet werden. ({1}) Dann zur Semantik: Letztendlich ziehen Sie sich an Dingen hoch, reden selbst aber überhaupt nicht über die Budgetierung. Sie reden über die Ausbildung der Ärzte und über dies und das. Reden wir doch einfach einmal über die Budgetierung! Fragen Sie die Ärzte draußen einmal! Wie lange sitzen Sie denn schon im Bundestag, dass Sie gar nicht mehr wissen, was denen draußen auf den Nägeln brennt? ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Dr. Schlund, Sie sollten stehen bleiben. – Frau Kollegin Dittmar, Sie wollen antworten.

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege Schlund, ich habe am Mittwoch natürlich genau aufgepasst. Sie kamen erst in den Ausschuss, nachdem die Debatte mit Herrn Professor Dr. Montgomery schon zu Ende war. Ich führe nämlich Buch. ({0}) Ich muss Ihnen weiter sagen: Wir diskutieren heute ja nicht nur über Ihren Antrag, sondern auch über den Antrag der FDP. Da geht es sehr wohl um Versorgungsfragen. Daher müssen Sie es schon mir überlassen, welchem Antrag ich mich schwerpunktmäßig in meinem Debattenbeitrag widme. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nachdem das geklärt ist, hat der Kollege Dr. Achim Kessler, Fraktion Die Linke, das Wort. ({0})

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Besucherinnen und Besucher auf den Tribünen! Gesundheitspolitisch ist nicht viel von der AfD zu hören, außer dass sie Geflüchtete für alles Schlechte auf der Welt verantwortlich macht, zum Beispiel – völlig unsinnig – für steigende Kosten im Gesundheitswesen oder für die Ausbreitung multiresistenter Keime. ({0}) Zu den großen Herausforderungen der Gesundheitspolitik findet sich dagegen im Programm der AfD nichts, weder zur Zunahme chronischer Erkrankungen ({1}) – Sie können krakeelen, so viel Sie wollen, das macht es nicht besser – ({2}) noch zu den Auswirkungen des demografischen Wandels noch zu Patientenrechten oder einer gerechten Finanzierung. Auch gesundheitspolitisch ist die AfD ein schwarzes Loch. ({3}) Jetzt, kurz vor den Wahlen in Bayern und Hessen, entdeckt die AfD plötzlich ihr soziales Gewissen. Angeblich zum Wohl der Patientinnen und Patienten fordert sie die Aufhebung der Budgetierung. Das ist vollkommen unglaubwürdig. ({4}) – Sie können krakeelen, so viel sie wollen. Das macht es nicht besser. Stellen Sie mir doch eine Zwischenfrage. Noch vor zwei Wochen hat der Abgeordnete Schneider von der AfD an dieser Stelle die private Krankenversicherung gepriesen. ({5}) Er hat uns mitgeteilt, dass er jährlich 2 000 Euro zusätzlich für die private Krankenversicherung bezahlt, das sei ja nicht viel. Mit dem Einkommen eines Abgeordneten mag das hinkommen, aber von der Realität der Menschen ist das völlig abgehoben. Das ist eine klare Absage an das Prinzip der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung. ({6}) – Krakeelen Sie doch nicht ständig rum. Folgerichtig ist in Ihrem Programm zu lesen – ich zitiere –: ({7}) Das Kostenbewusstsein und die Eigenverantwortlichkeit des Bürgers – – Herr Präsident, könnten Sie für Ruhe sorgen? Ich höre mein eigenes Wort nicht mehr.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Zwischenrufe sieht die Geschäftsordnung ausdrücklich vor. Es ist noch nicht so laut, dass das Präsidium Sie nicht hören kann; ({0}) das gilt auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Kolleginnen und Kollegen. Ich greife schon ein, Herr Kollege Dr. Kessler, wenn es so weit ist.

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bin solches Krakeelen nur nicht gewöhnt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich unterbreche einmal Ihre Redezeit, damit das kein Problem wird. Ich kann Ihnen versichern, dass sich die Anzahl der Zwischenrufe aus den verschiedenen Fraktionen in etwa die Waage hält, auch was die Emotionalität betrifft. Gestern bei der Debatte über den Diesel war das beispielsweise sehr klar erkennbar. Aber wenn Sie sagen, Sie fühlen sich durch die Zwischenrufe belästigt, dann bitte ich darum, dem Redner zuzuhören. Ich hoffe, Herr Braun, dass Sie wirklich rücksichtsvoll sind. Darauf setze ich jetzt. ({0})

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, ich bin einfach andere Umgangsformen gewöhnt. ({0}) Also, ich zitiere aus Ihrem Programm: Das Kostenbewusstsein und die Eigenverantwortlichkeit des Bürgers sollen gestärkt werden. Von den Bürgerinnen und Bürgern verlangen Sie Einschränkungen, gleichzeitig wollen Sie mit der Abschaffung der Budgetierung die Ausgaben unkontrolliert steigern. Es drängt sich die Frage auf: Wem nützt das? ({1}) Die Abschaffung der Budgetierung verbessert nicht zwangsläufig die Versorgung der Patientinnen und Patienten, wie Sie behaupten. Ärztinnen und Ärzte dürfen beliebig viel untersuchen, beliebig viel verordnen, beliebig viel behandeln, und sie bekommen jede Leistung vergütet. Ärztinnen und Ärzte entscheiden, welche Behandlungen nötig sind, und als Leistungserbringer profitieren sie gleichzeitig davon. Die ersatzlose Aufhebung der Budgetierung führt zu unnötigen Behandlungen, und die können nicht nur nutzlos, sondern sogar schädlich sein. ({2}) Sie führt zu steigenden Ärzteeinkommen und als Folge zu steigenden Beiträgen. Das, meine Damen und Herren, ist nicht im Interesse der Versicherten. ({3}) Es verwundert nicht, dass die FDP aufgeschreckt einen Antrag mit derselben Forderung nachgeschoben hat. Was hier stattfindet, das ist ein neoliberaler Überbietungswettbewerb um einen Teil der Ärzteschaft auf Kosten der Patientinnen und Patienten. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Dr. Kessler, erlauben Sie eine Zwischenfrage, –

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

– was dazu beitragen würde, dass sich Ihre Redezeit weiter verlängert?

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein, danke. – Meine Damen und Herren, wenn gesetzlich Versicherte am Ende des Quartals keinen Termin mehr bekommen oder wenn ihnen Medikamente oder Heilmittel nicht verordnet werden, dann läuft was falsch. Wir brauchen mehr Transparenz, damit Ärztinnen und Ärzte Leistungen nicht in den nächsten Monat verschieben aus Angst, das Budget zu überschreiten. ({0}) Bürokratische Hürden müssen abgebaut werden, damit Patientinnen und Patienten bedarfsgerecht behandelt werden können. Wir brauchen unabhängige Beschwerdestellen, an die sich Versicherte wenden können, wenn ihnen Leistungen vorenthalten werden. Wir müssen auch darüber diskutieren, wofür Geld ausgegeben wird. Nach einer Studie der Techniker Krankenkasse sind acht von zehn Rückenoperationen unnötig. Pharmakonzerne werfen teure Scheininnovationen auf den Markt und machen Werbung bei den Ärzten, damit diese teureren Medikamente verordnet werden. Das alles zahlen am Ende die Versicherten. Damit muss Schluss sein. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie jetzt bitte auch zum Schluss, Herr Kollege?

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zum Ende. – Patientinnen und Patienten haben das Recht auf die bestmögliche Versorgung, ({0}) und zwar alle, egal wie viel sie verdienen, und auch egal, welche Herkunft sie haben. Dafür steht Die Linke. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Kessler. – Als Nächstes für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht zu uns die Kollegin Dr. Kirsten Kappert-Gonther. ({0})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine lieben Damen und Herren! Kein Wort bei der Einführung des Antrags durch die AfD zu Versorgungsstrukturen, kein Wort über die Patientinnen und Patienten – das lässt tief blicken, was für ein Verständnis von Gesundheitspolitik Sie haben. ({0}) Die FDP hat über Versorgung gesprochen. Aber was Sie sagen, stimmt nicht. Das ist eine Mogelpackung. Die Entbudgetierung der Ärztehonorare bringt für die Versorgung rein gar nichts. ({1}) Sie wissen, dass mir die ärztliche Sicht aus über 12 Jahren kassenärztlicher Tätigkeit durchaus bekannt ist. Unsere Aufgabe hier im politischen Raum ist es aber doch, aus Sicht der Patientinnen und Patienten für eine gute Versorgung zu streiten. ({2}) – Das haben Sie nicht gemacht, Kollegin. – Wo liegen denn die Versorgungsprobleme? Schauen wir uns an, ob die Entbudgetierung irgendetwas bringen würde. ({3}) Erstes Beispiel. Im ländlichen Raum gibt es ganze Landstriche, in denen Hausärzte keine Nachfolge mehr finden ({4}) und bis über 70 arbeiten, weil sie ihre Patientinnen und Patienten nicht im Stich lassen wollen. Dort gilt die Budgetierung ja schon nicht mehr. Im ländlichen Raum würde das also gar nichts bringen. ({5}) Zweites Beispiel. In den Städten – das kenne nicht nur ich aus Bremen, sondern wahrscheinlich viele von Ihnen aus Ihren Städten – ist die Praxisversorgung sehr ungleich verteilt. In reicheren Stadtteilen bekommt man leichter einen Termin beim Arzt, bei der Ärztin, in ärmeren Stadtteilen weniger leicht. Aber gerade eine Hausärztin oder ein Hausarzt müssen doch für alle, überall und schnell erreichbar sein. Die Entbudgetierung würde im Zweifel dieses Problem sogar noch verstärken. Das kann doch nicht ehrlich Ihr Ziel sein. ({6}) Drittes Beispiel. Wird eine Patientin aus dem Krankenhaus entlassen, ist es viel zu häufig schwierig, einen Anschlusstermin zu bekommen. Diese Sektorbrüche zwischen stationär und ambulant müssen wir in der Versorgung angehen. ({7}) Auch hier bietet die Entbudgetierung keinerlei Antwort, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({8}) Im Gegenteil: Die gesetzliche Krankenversicherung muss in der Lage sein, eine gute medizinische Versorgung zu sichern und zu steuern. Ihre Vorschläge würden jährlich 2,5 Milliarden Euro kosten, Tendenz steigend. ({9}) Bezahlen würden das alle gesetzlich Versicherten der Solidargemeinschaft, ohne etwas davon zu haben. Das ist sozial ungerecht. ({10}) Die Überversorgung würde tendenziell zunehmen. Der Kollege Kessler hat zu Recht darauf hingewiesen: Überversorgung ist nicht nur teuer, sie schadet auch den Patientinnen und Patienten. Für unterversorgte Gebiete – das sagte ich bereits – ist die Budgetierung ja schon aufgehoben. Die Vorschläge von AfD und FDP wären ein Geldgeschenk für ganz bestimmte Facharztgruppen. Die Haus­ärztinnen und Hausärzte würden davon fast gar nicht profitieren. Die meisten Ärztinnen und Ärzte, die ich kenne, sind übrigens sehr viel mehr an guten Versorgungsstrukturen für ihre Patienten und Patientinnen interessiert. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Dr. Kappert-Gonther, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Aschenberg-Dugnus?

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Kollegin, für die Zulassung der Frage.

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wissen Sie, ich ärgere mich immer sehr, wenn von „Geldgeschenken“ an die Ärzte gesprochen wird. Ein Geschenk ist vom Wortsinn her eine Übertragung ohne Gegenleistung. Das, was wir mit der Entbudgetierung erreichen wollen, ist genau das Gegenteil, nämlich dass erbrachte Leistungen vergütet werden. Deswegen finde ich es eigentlich schon fast eine Unverschämtheit, wenn Sie von „Geldgeschenken“ reden; denn es geht darum, dass die erbrachten Leistungen zu 100 Prozent vergütet werden. Ich bitte Sie, darüber noch einmal nachzudenken oder allen niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten zu erklären, warum Sie eine Vergütung zu 100 Prozent als „Geschenk“ bezeichnen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kollegin Aschenberg-Dugnus, es geht um die Frage: Wie funktioniert Steuerung im Gesundheitswesen? Und: Will man Steuerung, oder will man keine? Sie möchten keine Steuerung. Wir sagen, wir möchten Steuerung, und zwar eine angemessene, damit wir Überversorgung abbauen, Fehlversorgung reduzieren und Unterversorgung beheben. Das tut man nicht, wenn man ganz gezielt Facharztgruppen zusätzliche Gelder durch die Entbudgetierung übertragen würde. Insbesondere bei der Primärversorgung würde fast gar nichts ankommen, und das macht gesundheitspolitisch keinen Sinn. ({0}) Glauben Sie denn tatsächlich, dass eine gute Gesundheitsversorgung allein von Ärztinnen und Ärzten abhängt? – Dem ist nicht so. Das ist Retromedizin. ({1}) Dass die AfD eine tiefe Neigung zu rückwärtsgewandten Gesellschaftsbildern hat, nun, das ist bei Ihnen ja eingewebt, ({2}) aber Sie, Kolleginnen und Kollegen von der FDP, sind doch eigentlich zum Fortschritt begabt. ({3}) Sie könnten da doch weiterkommen und nicht einzig und allein Klientelpolitik machen. ({4}) In einem modernen, an den Bedürfnissen der Menschen orientierten Gesundheitswesen arbeiten doch alle Berufsgruppen teamübergreifend Hand in Hand auf Augenhöhe zum Wohl der Patientinnen und Patienten: Ärztinnen und Pflegekräfte, Physio- und Ergotherapeuten, Logopädinnen, Psychologen, Hebammen. Dafür brauchen wir Geld. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Darin zusätzlich zu investieren, macht Sinn. Dort braucht es Butter bei die Fische. Ich danke Ihnen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt spricht zu uns der Kollege Stephan Pilsinger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der ambulanten haus- und fachärztlichen Versorgung von gesetzlich Versicherten und dem Zugang zu diesen Leistungen gibt es derzeit Defizite. Das Terminservice- und Versorgungsgesetz, das Bundesminister Spahn derzeit auf den Weg bringt, verspricht aber grundlegende Verbesserungen bei den Leistungen für die versicherten Patientinnen und Patienten. ({0}) Bei der Durchsicht der beiden Oppositionsanträge ist mir aufgefallen, dass vor allem die Fraktion der AfD das Vergütungssystem ärztlicher Leistungen total verkennt. Freiberuflich tätige niedergelassene Ärzte erhalten im Gegensatz zu Krankenhausärzten gerade keine Gehälter, da sie nicht angestellt sind. Vielmehr ist die vertragsärztliche Versorgung im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses unter anderem so geregelt, dass die ärztlichen Leistungen angemessen vergütet werden. Für die vertragsärztliche Versorgung der Versicherten werden Gesamtvergütungen vereinbart, die sich aus einer Preis- und einer Mengenkomponente zusammensetzen. Mit diesem System kommt es nicht zu einer Nichtfinanzierung von Leistungen, wie dies gern fälschlicherweise behauptet wird. Zudem werden neue oder förderungswürdige Leistungen neben der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung extrabudgetär vergütet. ({1}) Diese sogenannten extrabudgetären Leistungen machen mittlerweile 33 Prozent der Leistungen bzw. der Vergütungen für Ärzte aus. Mit dem aktuell geplanten Terminservice- und Versorgungsgesetz sind auch zahlreiche Maßnahmen vorgesehen, mit deren Hilfe die Ärzte für Zusatzangebote noch besser vergütet werden sollen. Dieses zusätzliche Honorarvolumen liegt bei schätzungsweise 600 Millionen Euro. ({2}) So soll zum Beispiel eine erfolgreiche Vermittlung eines dringend notwendigen Facharzttermins durch einen Hausarzt zusätzlich mit mindestens 5 Euro vergütet werden. Außerdem ist die extrabudgetäre Vergütung von Akutleistungen für Patienten geplant, die von den Terminservicestellen vermittelt werden. ({3}) Auch sind Zuschläge von mindestens 25 Prozent auf die Versicherten- und Grundpauschalen bei Leistungen für neue Patienten in der Praxis vorgesehen. Ebenso sollen Leistungen beim Patientenstamm vergütet werden, wenn eine neue Krankheit diagnostiziert wird. Für Leistungen, die in der offenen Sprechstunde erbracht werden, soll es einen Zuschlag von mindestens 15 Prozent auf die Grundpauschale geben. Was die Terminprobleme bei allen Facharztrichtungen betrifft, so bin ich mir mit der Fraktion der FDP insoweit einig, als hier etwas getan werden muss. ({4}) Bei einer Umfrage im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung gaben 34 Prozent der gesetzlich Versicherten an, im vergangenen Jahr mehr als drei Wochen auf einen Facharzttermin gewartet zu haben. Das kann so nicht bleiben. ({5}) Das Terminservice- und Versorgungsgesetz sieht auch hier eine Reihe von Maßnahmen vor, um Kassenpatienten schneller zu einer Behandlung zu verhelfen. Unter anderem sollen die Terminservicestellen ausgebaut werden. Die Terminservicestellen sollen künftig unter der einheitlichen Rufnummer 116 117 an sieben Tagen in der Woche rund um die Uhr telefonisch und digital erreichbar sein. ({6}) Dies ist zudem der erste Baustein einer grundlegenden Reform der Notfallversorgung. Außerdem werden die Aufgaben der Terminservicestellen erweitert, und zwar um die Vermittlung von Haus- und Kinderärzten zur dauerhaften Versorgung sowie um die Vermittlung von Patienten in Akutfällen an Praxen und Notfallambulanzen – auch während der Sprechstundenzeiten. Des Weiteren sollen die Mindestsprechstundenzeiten der Ärzte von 20 auf 25 Stunden pro Woche angehoben werden. ({7}) Meiner Ansicht nach sollte man hierbei aber noch einen Schritt weitergehen und über die Etablierung eines Primärarztsystems in Deutschland nachdenken. ({8}) Bisher ist die Versorgungssituation in Deutschland von einer direkten und parallelen Inanspruchnahme von hausärztlichen Praxen und Spezialisten gekennzeichnet. Oft gehen Patienten sogar zum falschen Arzt oder suchen mehrere Ärzte der gleichen Fachrichtung auf. In einem optimal gegliederten System ist der Hausarzt eigentlich der erste Ansprechpartner. Nur bei 10 bis 20 Prozent der Patienten ist überhaupt eine Überweisung oder Mitbehandlung durch einen Spezialisten erforderlich. Der überwiegende Teil der Anliegen von Patienten kann auch durch einen Hausarzt zeitnah, abschließend, in guter Qualität und mit hoher Kosteneffektivität behandelt werden. Ein weiterer positiver Effekt wäre die Vermeidung unnötig langer Wartezeiten auf einen Facharzttermin. Auch eine Fehlversorgung würde dadurch vermieden werden. Grundsätzlich aber sind wir mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz schon auf einem guten Weg. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/3393 und 19/4833 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Hans Jürgen Thies (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004915, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Verbraucherschutz insgesamt und der gesundheitliche Verbraucherschutz im Besonderen haben in den letzten Jahren in Deutschland einen extrem wichtigen Stellenwert erlangt. ({0}) Wir, die CDU/CSU, bekennen uns ganz ausdrücklich zu einem wirksamen Verbraucherschutz. In Deutschland leben schließlich 82 Millionen Menschen. Sie alle sind Verbraucher. Die Menschen in unserem Land erwarten vom Staat, dass er sie im Lebensmittelbereich wirksam vor Gesundheitsgefahren, aber auch vor Täuschungen schützt. Genau diesem Ziel dient das im Jahr 2005 verabschiedete Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch. Wirksamer Verbraucherschutz ist aber nur dann gewährleistet, wenn Markttransparenz und umfassende Verbraucherinformationen vorhanden sind. Dies erfordert staatliches Informationshandeln in Form effektiver Öffentlichkeits­information. ({1}) Ein ahnungsloser Verbraucher ist im Marktgeschehen strukturell unterlegen. Erst durch zeitnahe, leicht verfügbare Informationen wird er überhaupt in die Lage versetzt, in Kenntnis veröffentlichter Missstände eine autonome Konsumentscheidung zu treffen und gegebenenfalls von einem Vertragsabschluss mit einem genannten Unternehmen abzusehen. Dies stärkt letztlich die Vertragsfreiheit der Verbraucher, und diese ist bekanntlich in Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz besonders geschützt. Um diesem Anliegen Rechnung zu tragen, wurde im Jahr 2012 der Absatz 1a in § 40 Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch eingefügt. Die Vorschrift ermächtigt und verpflichtet nunmehr die Behörden, die Öffentlichkeit über Verstöße gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften zu informieren. Das bedeutet, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass eine Behörde dazu verpflichtet ist, egal ob gesundheitsgefährdend oder nicht, Verstöße öffentlich zu machen. Dazu zählen Kennzeichnungsverstöße, Grenzwertüberschreitungen oder auch Verletzungen hygienischer Anforderungen. Die Liste möglicher Verstöße ist sehr lang. Wenn bei einem Unternehmen ein Verstoß nicht unerheblichen Ausmaßes festgestellt wurde, landet das Unternehmen auf der Internetseite der Behörde. Diese Veröffentlichung im Netz ist für die Allgemeinheit jederzeit einsehbar. Es handelt sich hierbei um den sogenannten Internetpranger. Im Sinne des Verbraucherschutzes und der Transparenz ist dieses Instrument des § 40 Absatz 1a LFGB ein deutlicher Fortschritt. Dabei hat schon die drohende Veröffentlichung einen erheblichen generalpräventiven Effekt. Dass sogar behobene Verstöße publiziert werden, erhöht die abschreckende Wirkung noch. Allerdings bedeutet dieses staatliche Informationshandeln, durch das sich die Markt- und Wettbewerbssituation bestimmter Unternehmen durchaus zum Nachteil verändern kann, einen sehr, sehr schwerwiegenden Eingriff in die durch Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes geschützte Berufsfreiheit. Eine öffentliche Namensnennung von Unternehmen oder Marken kann diese durchaus irreparabel beschädigen, unter Umständen sogar finanziell ruinieren. Wegen dieser Eingriffsschwere sind an die Verfassungskonformität des § 40 Absatz 1a Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch hohe Anforderungen zu stellen. Die Veröffentlichungsvorschrift war deshalb von Anfang an, seit 2012, sowohl juristisch als auch politisch durchaus umstritten. Zahlreiche Landesbehörden hatten aufgrund mehrerer oberverwaltungsgerichtlicher Entscheidungen die Veröffentlichungsvorschrift sogar ganz außer Vollzug gesetzt. In der Rechtsanwendung herrschte also große Unsicherheit über die Verfassungsgemäßheit dieser Bestimmung. Hier hat jetzt zum Glück, sage ich mal, das Bundesverfassungsgericht durch seinen Beschluss vom 21. März 2018 Klarheit geschaffen. Das Bundesverfassungsgericht hat betont, dass die gesetzliche Veröffentlichungspflicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im weiteren Sinne durchaus genügt. Insbesondere sei die Informationsverbreitung, wenn sie denn verfassungskonform angewendet werde, geeignet und erforderlich, die legitimen Ziele des Gesetzes zu erreichen. Hervorgehoben hat das Bundesverfassungsgericht in dem Zusammenhang ausdrücklich, dass es im Grundsatz auch angemessen sei, die Interessen der Unternehmen im Falle eines im Raum stehenden Verstoßes hinter die Schutz- und Informationsinteressen der Verbraucher zurücktreten zu lassen. Lediglich in einem einzigen Punkt hat das Bundesverfassungsgericht die Regelung dennoch für verfassungswidrig erachtet. Beanstandet hat das Bundesverfassungsgericht allein, dass es an einer zeitlichen Begrenzung der Informationsverbreitung mangelt. Von diesem Befristungserfordernis abgesehen, ist nach Auffassung des Verfassungsgerichts eine verfassungskonforme Anwendung der angegriffenen Regelung durch die zuständigen Behörden durchaus möglich, ohne dass es einer Nachbesserung durch den Gesetzgeber bedarf. Der jetzt von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzentwurf sieht eine zeitliche Begrenzung der Veröffentlichung vor. Nach sechs Monaten müssen Veröffentlichungen wieder gelöscht werden. Auch diese Dauer der Löschungsfrist entspricht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts; denn mit einer zunehmenden Dauer der Veröffentlichung nimmt deren Informationswert für den Verbraucher deutlich ab. Wir unterstützen daher den Gesetzentwurf der Bundesregierung, weil er sozusagen minimalinvasiv die vorhandene gesetzliche Schwachstelle kurzfristig repariert. Dies muss nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts bis spätestens April 2019 geschehen. Mit der zügigen Verabschiedung dieser Gesetzesänderung stellen wir also wieder Rechtssicherheit im Lebensmittelrecht her. Nun noch ganz kurz zum Antrag der Fraktion Die Linke. Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier wird uns ein ganz bunter Blumenstrauß an weiteren Forderungen präsentiert, die weit über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinausgehen. Ja, auch wir von der CDU/CSU erkennen weiteren Änderungsbedarf beim LFGB. Es gibt einige Punkte, über die diskutiert werden muss, zum Beispiel darüber, wie ein bundeseinheitlicher Bußgeldkatalog aussehen könnte oder in welchen Fällen möglicherweise auf eine Doppelbeprobung verzichtet werden kann. Lassen Sie uns diese Fragen gründlich und in einem gesonderten, nicht fristgebundenen Gesetzgebungsverfahren klären. Heute müssen wir uns meines Erachtens auf das wirklich Wesentliche konzentrieren. Der Antrag der Bundesregierung ist konstruktiv und schafft schnelle Handlungsmöglichkeiten. Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts werden eins zu eins umgesetzt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Thies, kommen Sie bitte zum Schluss.

Hans Jürgen Thies (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004915, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin beim letzten Satz, Frau Präsidentin. – Die inhaltliche und fachliche Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung sollte nunmehr zügig in den zuständigen Ausschüssen erfolgen, damit wir Anfang 2019 wieder eine in jeder Hinsicht verfassungskonforme Gesetzesgrundlage haben. Vielen herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Stephan Protschka für die AfD-Fraktion. ({0})

Stephan Protschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004858, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Gott zum Gruße, Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Liebe Besucher und Gäste im Besucherbereich! Das Stuttgarter Regierungspräsidium mit seinem politisch sehr aktiven Präsidenten Manfred Bulling – Gott hab ihn selig – war seit Ende der 70er-Jahre nicht nur ein Vordenker unseres heutigen Themas. Bulling warnte zum Schutz der Verbraucher vor Glykol in hochpreisigen Weinen, vor Fadenwürmern in Speisefischen, vor Östrogen in Babynahrung und Nitrit in Mineralwasser. So handelte sein Haus auch, als er im August 1985 im Urlaub war. Es gab eine Warnung heraus: Birkel-Nudeln aus dem nahegelegenen Remstal seien mit mikrobiell belastetem Flüssigei hergestellt worden. Der Skandal war nicht nur das verschmutzte Flüssigei, der Skandal war auch, dass Birkel in einem Vergleich nach dieser berechtigten Warnung 12,8 Millionen D-Mark Schadensersatz vom Land bekam, obwohl das Land schon wusste, dass das im Prozess maßgebliche Gutachten vermutlich gefälscht gewesen war. Das war einer der bekanntesten frühen Fälle einer öffentlichen Warnung vor einem belasteten Lebens- bzw. Futtermittel. Nitrofen, Fipronil, Ehec – seither gab es sehr viele Fälle, in denen die Behörden vor belasteten Lebens- oder Futtermitteln warnen mussten. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 21. März 2018 den Behörden insoweit den Rücken gestärkt, als es im Grundsatz bestätigt hat, dass die Interessen des Unternehmens – Berufsfreiheit gemäß Artikel 12 Grundgesetz – in so einem Fall hinter dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit zurückstehen. Seit 2012 – das hat der Kollege schon angesprochen – waren die Behörden von Amts wegen verpflichtet, die Öffentlichkeit zu informieren, wenn Gesundheitsgefährdungen und/oder hygienische Mängel und Täuschungen – auch ohne Gesundheitsgefährdung – vorlagen. Das Bundesverfassungsgericht zieht die Grenze für Behörden und Öffentlichkeit dort, wo die Verstöße schon behoben oder noch nicht endgültig festgestellt sind. Die Bekanntmachung einer Warnung durch die Behörden wird zu Umsatzeinbußen und kann zur Existenzvernichtung des Unternehmens führen. Trotzdem sieht das Gericht die Veröffentlichung auch schon behobener Verstöße als legitim an, da die abschreckende Wirkung die Firmen zur Einhaltung der Vorschriften verstärkt motiviert. Das Gericht sieht es auch als legitim an, dass Verbraucher in ihre Kaufentscheidung einfließen lassen, ob sich ein Unternehmen in der Vergangenheit an Gesetze gehalten hat. Natürlich stimmen wir dem Bundesverfassungsgericht hier zu, wenn es eine zeitliche Begrenzung der behördlichen Warnung verlangt, um den Eingriff in die Berufsfreiheit des Unternehmens und des Unternehmers nicht ausufern zu lassen. Wir schließen uns auch dem Vorschlag der Bundesregierung einer Löschung nach sechs Monaten an. Ich möchte an dieser Stelle die Aufmerksamkeit des Gesetzgebers aber auch auf einen anderen Aspekt lenken, der nicht Teil der Fragestellung bezüglich dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war, aber von den Ausführungen des Gerichts quasi gestreift wird und an dem Sie alle beteiligt sind: Gerade gegenüber AfD-Mitgliedern oder -Wählern, die sich öffentlich dazu bekennen, ist es in der jüngeren Vergangenheit zu Boykottaufrufen gegen deren Unternehmen bzw. Denunziation bei den Arbeitgebern gekommen. Allein in meinem Kreisverband haben zwei Mitglieder ihren Arbeitsplatz verloren. Ich selbst war betroffen von diesen Boykottaufrufen. Meine Produktgeber wurden aufgefordert, mit mir keine Geschäfte mehr zu machen. Herzlich willkommen in Ihrer Demokratie, wie Sie es immer so schön sagen. ({0}) Nach unserem Demokratieverständnis darf jeder seine Meinung frei äußern, solange er damit keinen anderen beleidigt. ({1}) Wenn schon eine begründete Warnung der Behörden vor Gesundheitsgefahren in den Augen des Gerichts einen Eingriff in die Berufsfreiheit darstellt und zeitlich begrenzt werden muss, um wie viel mehr stellt dann eine rein politisch begründete Diffamierung eines Unternehmens oder Unternehmers einen solchen Eingriff dar? Wir werden uns dieses Themas annehmen und danken dem Bundesverfassungsgericht für den Hinweis auf die vom Grundgesetz her schützenswerte Berufsfreiheit. Die Bayern werden am Sonntag ihr Kreuz an der richtigen Stelle machen: bei uns. ({2}) „Gott mit dir, du Land der Bayern, deutsche Erde, Vaterland!“ Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion spricht nun die Abgeordnete Ursula Schulte. ({0})

Ursula Schulte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004404, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich Zuschauerin bei Phoenix wäre und hören würde, dass der Deutsche Bundestag jetzt über das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch diskutieren würde, würde ich wahrscheinlich einen Kaffee trinken gehen; ({0}) denn dieser Tagesordnungspunkt verspricht keine sonderlich spannende Diskussion. Aber dieses Gesetz ist für die Verbraucherinnen und Verbraucher durchaus interessant; warten Sie es einfach mal ab, Frau Künast. Ich hoffe, ich kann das ein wenig verdeutlichen. Das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch ist seit 2005 in Kraft. Das Gesetz gilt für Lebensmittel und Futtermittel, ebenso für Bedarfsgegenstände und Kosmetika. Oberstes Gebot ist die Lebensmittelsicherheit und damit der Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher. 2012 wurde der § 40 des LFGB durch Absatz 1a ergänzt. Dieser Absatz besagt, dass die Ergebnisse amtlicher Kontrollen bzw. Verstöße gegen das LFGB zwingend zu veröffentlichen sind. Voraussetzung dafür ist, dass ein hinreichend begründeter Verdacht besteht, dass zulässige Grenzwerte überschritten werden, dass gegen andere Bestimmungen in nicht unerheblichem Maße verstoßen oder wiederholt verstoßen wurde. Das zu erwartende Bußgeld muss mindestens 350 Euro betragen. Die Norm, liebe Kolleginnen und Kollegen, schreibt also vor, wann und unter welchen Bedingungen die Öffentlichkeit vor Produkten gewarnt werden soll, bei denen lebensmittelrechtliche Vorschriften nicht eingehalten wurden. Auch wenn es bei den meisten Beanstandungen nicht unbedingt um Gesundheitsgefährdungen geht, sondern „nur“ um Hygieneverstöße oder Täuschungen, haben nach unserer Ansicht Verbraucherinnen und Verbraucher ein Recht darauf, über Ekelküchen und Pferde- statt Rindfleisch in der Lasagne informiert zu werden. ({1}) Allerdings stoppten einige Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte die Veröffentlichung von Verstößen und äußerten Bedenken, unter anderem mit Blick auf das EU-Recht. Seit 2013 dürfen Verstöße gegen das LFGB bundesweit nicht mehr veröffentlicht werden. Der Absatz 1 des LFGB ist aber weiterhin uneingeschränkt gültig. Verstöße müssen von den Behörden dokumentiert und verfolgt werden. Nur die Öffentlichkeit erfährt nichts davon. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist doch im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher nicht hinnehmbar; denn mit Transparenz hat das überhaupt gar nichts zu tun. ({2}) Nun hat das Bundesverfassungsgericht Anfang März dieses Jahres entschieden, dass Verstöße gegen das LFGB doch veröffentlicht werden dürfen, sogar dann, wenn nur ein hinreichend begründeter Verdacht eines Verstoßes besteht. Das, finde ich, ist ein toller Erfolg für die Verbraucherinnen und Verbraucher, und darüber freue ich mich wirklich sehr. Damit ist auch klar – das sehe ich anders als Sie, Herr Thies –, dass § 40 Absatz 1a des LFGB nicht gegen die Berufsfreiheit der Betriebe verstößt. Allerdings mahnte das Gericht eine fehlende Befristung der Veröffentlichungen an. Diese Frist soll mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf beschlossen werden. Veröffentlichungen sollen nach sechs Monaten gelöscht werden können. Wir als SPD-Fraktion hätten uns zwar eine längere Frist vorstellen können, ({3}) aber mit den sechs Monaten können wir leben. Allerdings muss dann auch sichergestellt sein, dass die Beanstandungen in dieser Frist behoben werden. Dies setzt natürlich zwingend voraus, dass die Betriebe entsprechend kontrolliert werden. Im Übrigen haben die Betriebe, wenn ich das richtig verstehe, sogar ein Recht auf zügige und zeitnahe Nachkontrollen, wenn Verstöße festgestellt worden sind. Wir wollen mit diesem Gesetz einen Ausgleich zwischen den wohlverstandenen Informationsbedürfnissen der Verbraucherinnen und Verbraucher und den Interessen insbesondere kleiner Betriebe herstellen. Weil wir auch die Interessen der Betriebe und der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Blick haben, ist die Forderung einer Löschfrist von zwei Jahren, wie von den Linken gefordert, für uns eindeutig überzogen. Aber ich sage auch deutlich: Das LFGB ist notwendig. Es ist nicht der mittelalterliche Pranger, als den es manche berufsständische Verbände bezeichnen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, während wir uns mit der sechsmonatigen Löschfrist arrangieren können, hadern wir damit, dass es noch immer keinen einheitlichen Bußgeldkatalog gibt. ({5}) Den haben wir im Sommer 2017 beschlossen. Eine Arbeitsgruppe der Länder unter dem Vorsitz von Sachsen sollte den Bußgeldkatalog erarbeiten und auf den Weg bringen. Leider hat diese Arbeitsgruppe nach meinem Wissen noch nie getagt. ({6}) Das ist nicht nur schade. Ich finde, das ist auch ein Grund, bei den Ländern ein bisschen mehr Tempo anzumahnen. ({7}) Sachsen im Übrigen hat einen landeseinheitlichen Bußgeldkatalog. Dieser könnte doch ohne Probleme als Grundlage dienen. Das würde die Sache auch ein bisschen vereinfachen. Nach unserer Ansicht muss der bundeseinheitliche Bußgeldkatalog kommen. Er darf nicht in weite Ferne rücken. Er ist Teil des Koalitionsvertrages. Wenn ich den Applaus richtig deute, halten wir daran fest, dass wir diesen auf den Weg bringen wollen. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, CDU/CSU und SPD arbeiten zwar in einer Koalition zusammen; deswegen sind unsere Ziele aber noch lange nicht immer identisch. Das kann und soll man auch ruhig nach außen kommunizieren. Denn eigenständiges Denken ist den Fraktionen ja nicht per Koalitionsvertrag verboten worden, ({9}) und es hindert auch nicht daran, trotzdem gut zusammenzuarbeiten. ({10}) So kann sich die SPD-Fraktion nämlich gut vorstellen, alle Ergebnisse der Kontrollen im Rahmen des LFGB zu veröffentlichen. Verbraucher sollen sich bewusst entscheiden können, und dafür brauchen sie einfach Transparenz. ({11}) Wir haben ja überwiegend gute Ergebnisse. Das zeigt, dass die meisten Betriebe sauber und hygienisch arbeiten; das darf man dann auch ruhig öffentlich machen. Und: Das wäre doch eine tolle Werbung für diejenigen, die sich an die Bestimmungen halten, und für diejenigen, die Mängel haben, vielleicht ein Anreiz, diese schnell zu beheben. Außerdem haben wir uns vorgenommen, das Portal „ lebensmittelwarnung.de “ übersichtlicher und für den Verbraucher zugänglicher zu gestalten. Meldungen über Verstöße sollten zum Beispiel frühzeitiger eingestellt werden. Hilfreich für die Menschen wäre es auch, wenn sie auf diesem Portal Tipps und Ratschläge für den Fall bekommen würden, dass sie schon belastete Produkte verzehrt haben. Wir, die SPD-Fraktion – Sie haben das angesprochen, Herr Thies –, würden auch gerne mit der Doppelbeprobung aufhören. Damit kämen wir einer Forderung des Bundesrates nach. Auch er vertritt die Auffassung, dass eine Untersuchung in einem amtlichen Labor ausreicht. Vielleicht bekommen wir es – auch wenn Sie sich hier für etwas anderes ausgesprochen haben – wenigstens hin, festzulegen, dass die zweite Untersuchung im gleichen amtlichen Labor stattfinden kann. Das wäre auch ganz praktisch; denn die meisten Länder haben nur ein amtliches Labor. ({12}) Ebenso möchten wir, dass nicht nur überschrittene Grenzwerte, sondern auch – erst recht – der Nachweis von verbotenen Stoffen veröffentlicht wird. Zum Thema Doppelbeprobung bekommen wir übrigens Unterstützung vom Bundesverband der Lebensmittelkontrolleure, der hier ebenfalls eine Klarstellung fordert. Ich bin immer noch voller Optimismus, dass die Koalition in dieser Frage zu einer Einigung kommt. ({13}) Das wäre sowohl im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher als auch im Interesse der produzierenden Betriebe. Wir alle wollen sichere Lebensmittel und den Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher vor Täuschung und Irreführung. Dieses Ziel eint uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, und hilft vielleicht dabei, über Parteigrenzen hinweg gemeinsam an der Realisierung zu arbeiten. Herzlichen Dank. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Nicole Bauer für die FDP-Fraktion. ({0})

Nicole Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Gäste! Wir, die FDP, unterstützen jederzeit ein eigenverantwortliches Denken und Handeln der Bürger. Wir setzen uns für ein offenes und transparentes System im Rahmen eines wirksamen Verbraucherschutzes ein. Daher begrüßen wir auch die Pflicht zur Veröffentlichung und zur Information der Allgemeinheit bei Verstößen gegen das Lebens- und Futtermittelgesetz. ({0}) Die Bundesregierung ist angehalten, bis zum April 2019 die Änderung des § 40 LFGB vorzunehmen. Meine Damen und Herren, dass wir über dieses Thema heute und so frühzeitig hier diskutieren, gleicht einem Wunder. Wie oft hatten wir es in den vergangenen Wochen, dass Themen ignoriert, ja verschlafen wurden? Die Ferkelkastration ist ein Beispiel. Rechtzeitig einen gangbaren Weg für Landwirte, Behörden und Tierschützer zu finden, wäre möglich gewesen. Stattdessen haben Sie nur die Übergangsfristen verlängert. Lassen wir es jetzt gar nicht erst so weit kommen! Lassen Sie uns die Änderungen des Lebens- und Futtermittelgesetzes zügig verabschieden, allerdings nicht im Sinne des Antrags der Linksfraktion, meine Damen und Herren! ({1}) Sie schlagen darin eine 12-monatige Löschfrist für die veröffentlichten Informationen vor. ({2}) Werte Kolleginnen und Kollegen, haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, was es für die betroffenen Unternehmen bedeutet, ein ganzes Jahr lang an den Pranger gestellt zu werden? ({3}) Hygienische Missstände werden in der Regel schnellstmöglich abgestellt. ({4}) Ihre Forderung ist deshalb unverhältnismäßig. ({5}) Eine Veröffentlichung bis zum Abstellen der Missstände muss ausreichen. Bei wiederholtem Verfehlen schlagen wir eine gestaffelte Löschfrist von bis zu drei Monaten vor. Unverhältnismäßig ist es auch, aus einer Ordnungswidrigkeit eine Straftat zu machen. Ebenfalls unverhältnismäßig ist es, eine Auskunftspflicht für alle Lebensmittelkontrollen zu erwirken. Die Öffentlichkeit soll also jederzeit Auskunft über jedes Unternehmen erhalten können. Haben Sie schon einmal etwas von Datenschutz oder Betriebsgeheimnissen gehört? Sie stellen unsere Lebensmittelhersteller unter Generalverdacht. ({6}) Wir unterstellen niemandem Straftaten, und wir vorverurteilen auch keinen. Sie sprechen von einem Informationsgleichgewicht zwischen Verbraucher und Wirtschaft. Dieser Zustand – da gebe ich Ihnen recht – ist tatsächlich anzustreben, aber eben anders. Wir wollen unabhängige Doppelkontrollen, um objektiv die Ergebnisse beurteilen zu können. Außerdem ist es Sache des Gesetzgebers, bundesweit einheitliche Qualitäts- und Kontrollstandards zu definieren und einen einheitlichen Bußgeldkatalog auf den Weg zu bringen. Was wir aber nicht brauchen, sind Hygiene-Smileys. Mit welchen Labels, Kennzeichen und Ampeln wollen Sie die Verpackung von Lebensmitteln eigentlich noch zusätzlich zukleistern? ({7}) Wir brauchen sicherlich nicht noch mehr Bürokratie. Ganz im Gegenteil: Wir brauchen ein vereinfachtes Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch. Deshalb sprechen wir uns klar für eine behördliche Transparenz und eine umfassende Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger aus. Halten Sie bitte die Balance zwischen wirksamem Verbraucherschutz und übertriebenem Kontrollwahn. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Amira Mohamed Ali für die Fraktion Die Linke. ({0})

Amira Mohamed Ali (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004823, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Es geht um die Frage, nach welchem Zeitraum Meldungen über Verstöße von Unternehmen gegen die Vorschriften zur Lebensmittel- oder Futtermittelsicherheit in behördlichen Informationsportalen gelöscht werden, Meldungen, wie zum Beispiel die über das berühmte Pferdefleisch in der Lasagne. Die Linke sagt ganz klar: Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben bei solchen Ereignissen ein Recht darauf, vollständig aufgeklärt und voll informiert zu werden. ({0}) Die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht hier an unserer Seite; das ist mehrfach genannt worden. Das Gericht hat entschieden, dass der Informationsanspruch der Verbraucherinnen und Verbraucher schwerer wiegt als die durch die Berufsfreiheit geschützten Rechte der Unternehmen. Das ist ein großer Sieg für die Verbraucher. Das Gericht hat auch entschieden, dass die aktuelle gesetzliche Regelung nicht verfassungsgemäß ist; denn es fehlt die Löschfrist. Nach einer bestimmten Frist sollen die Meldungen über die Rechtsverstöße der Unternehmen wieder gelöscht werden, ähnlich wie die Punkte in Flensburg für die Autofahrer. Die Regierung schlägt nur eine Frist von sechs Monaten vor. In der aktuellen Praxis in vielen Bundesländern waren es bisher aber zwölf Monate. Was heißt das? Die Regierung nimmt dieses Urteil zum Anlass, die Verbraucherrechte faktisch zu schwächen; denn in der Praxis waren es bisher zwölf Monate, und jetzt sollen es sechs werden. Das geht nicht. Sie kehren das Urteil ins Gegenteil um. ({1}) Ich möchte hier noch mal an die Punkte in Flensburg erinnern. Rechtsverstöße von Autofahrerinnen und Autofahrern werden frühestens nach zweieinhalb Jahren gelöscht – und das aus gutem Grund. Es braucht eine vernünftige Wohlverhaltensphase, um Vertrauen wiederherzustellen. Unternehmen nach nur sechs Monaten schon wieder reinzuwaschen, ist Verbrauchertäuschung. ({2}) Die Linke lehnt diesen Vorschlag daher ab. Wir haben einen eigenen Antrag zu dem Thema eingebracht, der Verbraucherrechte wirklich stärkt. Wir fordern eine Löschfrist von 24 Monaten. Außerdem fordern wir insgesamt eine deutliche Verbesserung des Verbraucherinformationsrechts, und wir machen dafür in unserem Antrag konkrete Vorschläge. Es muss für alle leicht sein, an relevante Informationen über Unternehmen zu kommen. Die heutigen Informationsdienste sind teilweise gebührenpflichtig, und wesentliche Informationen sind oftmals nicht enthalten. Wir fordern daher ein umfassendes, kostenloses Informationsportal mit Blick auf unlautere Geschäftspraktiken – und das nicht nur in Bezug auf Lebensmittel, sondern auch auf Finanz- und Gesundheitsdienstleistungen –; ({3}) denn so ein Portal warnt nicht nur die Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern verbessert auch die Rechtstreue der Unternehmen. Es ist immer viel von Wettbewerb die Rede; der soll gestärkt werden. Leider meinen Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Regierung, damit in der Regel nur den Wettbewerb um den größten Profit der Unternehmen. Wie wäre es denn mal mit einem Wettbewerb um die saubersten Geschäftsmethoden? Das wäre ein wichtiger Fortschritt, und dafür braucht man Transparenz. ({4}) Stichwort „Sauberkeit“: Wir fordern in unserem Antrag auch die Einführung des sogenannten Hygiene-Smileys. Dabei geht es nicht um immer mehr Label, Frau Kollegin von der FDP. Es geht darum, dass Behörden alle Betriebe, die Lebensmittel verarbeiten oder verkaufen, mit einem Aufkleber versehen, der farblich kennzeichnet – damit ist das für alle leicht erkennbar –, wie die Hygiene in dem Betrieb ist. Seien wir ehrlich: Jeder von uns, der in ein Restaurant geht, möchte wissen, wie es um die Sauberkeit in der Küche bestellt ist. ({5}) In Dänemark gibt es bereits so ein System. Seit seiner Einführung hat sich die Zahl der Hygieneverstöße dort halbiert. Das ist offensichtlich ein Erfolgskonzept, und das sehen auch die Betriebe so. 88 Prozent halten das Smiley-System für gut oder sehr gut. Mit diesen Forderungen sind wir an der Seite von vielen NGOs, wie Foodwatch, und der Verbraucherzentralen. Wie Sie mit unserem Antrag heute umgehen, wird den Bürgerinnen und Bürgern zeigen, wie ernst Sie es mit den Verbraucherinteressen wirklich meinen. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun die Kollegin Renate Künast. ({0})

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit seinem Urteil ganz klar auf die Seite der Verbraucherinnen und Verbraucher gestellt und klar ausgedrückt: Die Menschen sollen es erfahren, wenn ein Betrieb gegen Lebensmittelvorschriften verstößt – und nicht erst, wenn es eine wirkliche Gefahr für Leib oder Leben gibt. Wer von uns will denn in einem Restaurant essen, das gerade eben oder gestern noch Schimmel, Rattenkot oder Ähnliches in der Küche hatte? Hier brauche ich meines Erachtens gar nicht viel zu erklären. Wir sind Wirtschaftsteilnehmer – Wirtschaft ohne Kunden funktioniert ja wohl nicht – und haben ein Recht auf Transparenz wie jede und jeder andere auch. Das müssen wir meines Erachtens gar nicht begründen. ({0}) Frau Bauer, Sie haben hier von „Pranger“ geredet. Ich muss Ihnen mal sagen: Da haben Sie sich irgendwie vergaloppiert. Kann man von „Pranger“ sprechen, wenn man die Wettbewerbsbedingungen für die verbessert, die sauber und ordentlich arbeiten, die eine saubere Küche haben und Personal dafür einsetzen, das Restaurant regelmäßig, jeden Abend, wieder ordentlich zu reinigen? Es soll jemand an den Pranger gestellt werden, wenn man öffentlich macht, dass er Rattenkot im Laden hat? Ich frage mich: Was haben Sie eigentlich für eine Vorstellung von Wettbewerb? ({1}) Ich muss Ihnen eines sagen: Frau Klöckner tut so, als würde sie mit diesem Gesetzentwurf das Urteil umsetzen. Das Urteil hat aber insgesamt von Informationen geredet. Die Frist von sechs oder zwölf Monaten war darin nur ein Punkt. Sie haben nicht mehr umgesetzt als in Bezug auf diese Frist und dann noch die schlechteste Variante genommen. Das schützt nicht die Verbraucher, sondern in mehreren Bundesländern wird der Standard – diese zwölf Monate, wie Sie von den Linken schon gesagt haben – gesenkt. Wenn ich auf die Verbraucherrechte und deren Situation gucke, dann fällt mir ein Satz ein – Sie kennen ihn –: Die dümmsten Bauern ernten die dicksten Kartoffeln. ({2}) Wenn ich das Ganze auf Frau Klöckner beziehe, dann würde ich sagen: Die Anzahl der umgesetzten Verbraucherschutzprojekte ist reziprok proportional zur Anzahl der YouTube-Videos, wenn Sie verstehen, was ich meine. ({3}) – Bei uns ist es ein bisschen schneller verstanden worden. Ich habe bewusst „reziprok proportional“ gesagt. Meine Damen und Herren, auch der Koalitionsvertrag wird faktisch missachtet. Gut, den muss ich nicht einfordern, aber darin steht der Ausdruck „übersichtliche und eindeutige Verbraucherinformation“. Wir als Kunden haben doch ein Recht auf einfache Transparenz und gute Hygienekontrollen. Es geht um das Wissen der Kunden und übrigens auch um fairen Wettbewerb, also nicht nur um die Frage der Verbrauchertäuschung. Es geht auch um fairen Wettbewerb: Was tun Sie eigentlich? Wie gewährleisten Sie eigentlich die Information der Verbraucher um deren Recht willen? Die Animation, die Bewegung, der Druck dahin gehend, dass wirklich ein fairer Wettbewerb stattfindet – was tun Sie dafür eigentlich? Sie lassen doch an dieser Stelle die Restaurants, die gut arbeiten, im Regen stehen. ({4}) In Nachbarländern, zum Beispiel in Dänemark, gibt es glückliche Smileys und traurige Smileys; da weiß man Bescheid. In Frankreich und Großbritannien gibt es Karten, auf denen man sieht, wo die wirklich guten Restaurants sind. Ich will, dass wir zu einer wirklich transparenten und leichtverständlichen Veröffentlichung der Kontrollergebnisse kommen. Ich will, dass man diese Ergebnisse vor Ort und im Internet sehen kann. Ich will, dass wir das Portal Lebensmittelwarnung.de so weiterentwickeln, dass wir jederzeit online und per App sehen können, was los ist, wie die Kontrollen sind. Wir brauchen dazu nicht auf die Flugtaxis zu warten; denn im Zuge der Digitalisierung wäre das schon heute per App leicht möglich. ({5}) Fazit zu diesem Gesetz: Sie haben mit diesem Gesetz eigentlich nichts für die Verbraucher getan, sondern in vielen Bundesländern den Standard nach unten getrieben. Sie haben keine Smileys eingeführt. Dafür zeige ich Ihnen einen Smiley, Frau Klöckner, nämlich einen roten mit nach unten gezogenen Mundwinkeln. ({6}) Danke. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Alois Rainer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alois Rainer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004384, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn einmal klarstellen, dass wir in Deutschland im weltweiten Vergleich die sichersten, die am besten kontrollierten und auch die besten Lebensmittel haben. ({0}) Darüber hinaus haben wir die besten Kontrolleure sowie die besten und mitunter strengsten Vorschriften. Ich bin überzeugter Lebensmittelhandwerker und Lebensmittelunternehmer. Ich habe vier Jahre die Änderung des LFGB begleitet; deshalb freue ich mich, dass ich heute darüber sprechen darf. Ich habe hier einige Dinge gehört: Ja, es ist richtig: Das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt, man solle die Löschfrist festlegen. Das steht jetzt im Raum. Sie wird auf sechs Monate festgelegt. Man kann darüber diskutieren, ob das zu kurz oder zu lang ist. Für mich persönlich ist es zu lang; denn wer einmal im Internet steht, steht immer im Netz. Also, so leicht geht das nicht raus. Lassen Sie mich eines mal erklären: Ich stehe als Lebensmittelunternehmer Rainer – ich nehme jetzt exemplarisch für viele andere meinen Namen, damit ich keinen anderen verwenden muss – im Netz, nicht weil ich einen gesundheitsrelevanten Fehler gemacht habe, sondern einen Bürokratiefehler. In Sachsen gibt es einen Bußgeldkatalog für so etwas. Da steht zum Beispiel, dass man bei der Nichtmeldung einer Schlachtung, was in der Hektik vor Weihnachten durchaus passieren kann, 500 Euro Bußgeld zahlen muss. Das steht dann auch im Netz mit dem jeweiligen Namen. Ein Großunternehmer, der ebenfalls einen Schaden in der Bürokratie verursacht hat, der aber ein No-Name-­Produkt einer großen Handelskette herstellt, steht ebenfalls im Netz. Wer, glauben Sie, hat am Ende der Tage einen Schaden? Der kleine Lebensmittelunternehmer, der mit seinem Namen wirbt, hat den Schaden, obwohl er eigentlich „nur“ einen bürokratischen Fehler gemacht hat. Deshalb bitte ich darum, dass wir in der Zeit, in der über dieses Gesetz noch verhandelt wird, miteinander reden, damit wir eventuell gesundheitsrelevante Aspekte in diese 350 Euro einbeziehen. Dann wäre ich damit einverstanden. Wenn es dann noch bürokratische Hemmnisse gäbe, dann müsste man diese Schwelle erheblich erhöhen; denn es soll zu nicht unerheblichen Verstößen gekommen sein. Jetzt stelle ich die Frage in den Raum: Bei einem Bußgeldrahmen bis 50 000 Euro, sind da 350 Euro Bußgeld nicht unerheblich? Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin absolut dafür – dazu stehe ich auch mit meiner Ehre als Lebensmittelunternehmer –, dass diejenigen, die nicht ordentlich wirtschaften, die die Gesundheit der Menschen aufs Spiel setzen, bestraft werden und dass deren Name auch genannt wird; aber es muss noch verhältnismäßig bleiben. ({1}) Man muss den Großen, der einen Lebensmittelskandal verursacht hat, schon wesentlich stärker – ich sage es mal auf Bayerisch – „auf die Schultern klopfen“ – nicht auf den Kopf hauen; das will ich nicht – als einen, der einmal ein kleines bürokratisches Missverständnis erzeugt hat. Deshalb bitte ich darum, dass die Koalition noch mal in sich geht, sich Gedanken darüber macht. ({2}) – Das ist durch die Regierung gegangen. Aber Sie wissen genau, liebe Kollegin, dass in der Regel kein Gesetz aus diesem Haus so rausgeht, wie es hineingegangen ist. ({3}) Mit dieser Hoffnung lebe ich, und deshalb mein eindringlicher Appell heute – ich wollte das nur klarstellen –, ({4}) dass man sich darüber Gedanken macht, was das alles bedeutet. Man kann über den Datenschutz reflektieren, wenn etwas über einen im Netz steht. Man kann darüber reflektieren, was es bedeutet, wenn persönliche Daten im Netz stehen. Ich habe es eingangs gesagt: Mit der Löschung schaut es auch nicht so gut aus. Wenn man einmal im Netz ist, dann wird man im Netz bleiben. Lassen Sie mich abschließend noch eine Statistik des Bundesamts für Risikobewertung von Februar 2018 zitieren. Daraus geht hervor, dass 81 Prozent der Verbraucher die Sicherheit von Lebensmitteln im Allgemeinen als „sicher“ oder „eher sicher“ einstufen würden. Das ist eine gute Zahl; die muss man verbessern. Da bin ich dabei. Sehr geschätzte Kollegin Künast, ich finde es nicht gut und nicht schön, wenn Sie pauschal vom Rattenkot in Läden und in Küchen sprechen. Ich finde das unredlich. ({5}) – Doch, natürlich. Schauen Sie im Protokoll nach. ({6}) Sie, Frau Künast, haben das in Ihrer Rede heute so gesagt. ({7}) Ich nehme diese Lebensmittelunternehmer in Schutz. Eine pauschale Verurteilung finde ich einfach nicht gut; ich habe es bereits gesagt. ({8}) Abschließend sage ich Ihnen: Wir brauchen eine gute Balance zwischen Verbraucher und Wirtschaft und Handel und keine weiteren Einschränkungen, die den Bürokratie- und Kontrollwahn nur weiter verstärken. Ich freue mich auf die weiteren Verhandlungen. Danke schön. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zur Geschäftsordnung der Abgeordnete Braun.

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Die AfD-Fraktion bezweifelt die Beschlussfähigkeit dieser Sitzung gemäß der Geschäftsordnung, und ich bitte um Überprüfung. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Jetzt ist es natürlich spannend, dass Vertreter dieser Fraktion gerade beim Vortrag dieses Antrages den Raum verlassen – aber gut. ({0}) Auch damit gehen wir um. Wir haben Regeln dazu. Zuallererst wird sich jetzt das Präsidium beraten, wie wir damit umgehen, und dann gibt es ja die Abstimmung, die gleich ansteht. Sie wissen, dass man die Abstimmung in der Sache, also über die Ausschussüberweisung, gegebenenfalls mit der Feststellung der Beschlussfähigkeit, wenn wir sie von hier vorn nicht feststellen können, verbindet. ({1}) Ich bitte um Aufmerksamkeit. ({2}) – Die Spielregeln sind in der Geschäftsordnung festgehalten, und nach dieser verfahren wir hier. Da das Präsidium von vorn nicht zweifelsfrei die Beschlussfähigkeit feststellen kann, schließe ich jetzt erst einmal ordnungsgemäß die Aussprache. Ordnung muss sein, auch im Protokoll. Wir werden jetzt über die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/4726 und 19/4830 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse abstimmen. Gleichzeitig werden wir damit die Beschlussfähigkeit des Deutschen Bundestages überprüfen. Dazu haben wir wiederum Regeln. Ich bitte Sie alle, den Saal zu verlassen und dann die Türen zu schließen. Sollten sich Schriftführerinnen und Schriftführer im Raum befinden, bitte ich gleich darum, dass sie sich an den Abstimmungstüren zur Verfügung stellen. Zuallererst bitte ich Sie, den Raum zu verlassen. Im Übrigen entscheiden wir, erst wenn wir das Abstimmungsergebnis festgestellt haben, wie es dann weitergeht mit dem Antrag „Freiheitsrechte bewahren – Kein Musterpolizeigesetz nach bayerischem Vorbild“. Das wird dann nachher verhandelt. Ich bitte auch diejenigen, die schon auf dem Weg nach draußen sind, um Aufmerksamkeit, damit wir dann, wenn alle draußen sind, zügig und sachgerecht die Abstimmung eröffnen können. Wer für die Überweisung der beiden Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse ist, muss nachher durch die „Ja“-Tür den Raum wieder betreten, wenn ich die Abstimmung eröffnet habe. Wer dagegen ist, kommt durch die mit „Nein“ gekennzeichnete Tür. Wer es nicht weiß, kommt ({3}) durch die Tür „Enthaltung“. – Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, den Saal zu verlassen. ({4}) Ich bitte um ein Zeichen, ob an allen drei Abstimmungstüren die notwendigen Schriftführerinnen und Schriftführer da sind. Als kleiner Service für Sie auf den Besuchertribünen: Hier findet im Moment die Feststellung der Beschlussfähigkeit des Deutschen Bundestages statt. Die Beschlussfähigkeit hat eine Fraktion im Haus angezweifelt. Nach unseren Regeln verbinden wir das mit der Abstimmung über die Ausschussüberweisung der beiden Vorlagen, über die unter dem letzten Tagesordnungspunkt verhandelt wurde. Was die Schriftführer betrifft: Wir brauchen an jeder Tür eine Schriftführerin oder einen Schriftführer aus einer Oppositionsfraktion und eine Schriftführerin oder einen Schriftführer aus einer die Koalition tragenden Fraktion. Ich bitte nochmals um ein Zeichen, ob inzwischen alle Schriftführerplätze besetzt sind. – Das ist offensichtlich nicht der Fall. Wenn ich das alles richtig deute, fehlt noch ein Oppositionsschriftführer oder eine Oppositionsschriftführerin. Ich bitte, jetzt die Türen zu schließen. – Die Abstimmung ist eröffnet. Das Präsidium hat einige Bitten: Erstens. Wir möchten uns bitte bis zum Schluss der Sitzung an unsere eigenen Regeln halten. ({5}) – Ja, liebe Kollegen. Zweitens. Das Präsidium kann gar nicht erkennen, ob Kolleginnen und Kollegen daran gehindert werden, den Saal zu betreten. ({6}) Daraus folgt, dass Sie bitte die Türen und auch den Gang frei machen müssen. Jeder Kollege und jede Kollegin, der oder die an dieser Abstimmung teilnimmt, muss die Möglichkeit haben, durch die Tür seiner oder ihrer Wahl zu kommen. Ich erläutere noch einmal: Wer der Ausschussüberweisung der Drucksachen vom vergangenen Tagesordnungspunkt zustimmt, kommt durch die mit „Ja“ gekennzeichnete Tür. Wer diese Ausschussüberweisung ablehnt, kommt durch die „Nein“-Tür. Wer sich enthalten will, kommt durch die „Enthaltung“-Tür. Die Abstimmung ist geschlossen. Ich gebe das Ergebnis der Abstimmung bekannt. Abgegebene Stimmen: 154. Mit Ja haben 154 Abgeordnete gestimmt, mit Nein kein Abgeordneter. Es hat sich auch kein Abgeordneter enthalten. Zur Beschlussfähigkeit sind jedoch 355 Stimmen erforderlich. Das Haus ist somit nicht beschlussfähig. Auch dafür haben wir Regeln in unserer Geschäftsordnung. Infolge der Beschlussunfähigkeit hebe ich die Sitzung gemäß § 45 Absatz 3 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages auf. Nach unserer Geschäftsordnung – § 20 Absatz 5 – ist es möglich, dass der Präsident des Deutschen Bundestages noch am gleichen Tag nach Aufhebung einer Bundestagssitzung wiederum eine Sitzung einberuft. Der Präsident des Bundestages, Dr. Wolfgang Schäuble, hat mir mitteilen lassen, dass er nicht beabsichtigt, für den heutigen Tag noch eine Sitzung einzuberufen. Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 17. Oktober 2018, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 16.41 Uhr)