Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Herr Präsident hat den Namen des Gesetzes schon vorgelesen – er ist sehr technokratisch –: Familienentlastungsgesetz und vieles mehr. Ich weiß, wenn das Finanzministerium hier ans Podium tritt, dann erwarten viele sehr technokratische Begriffe. Auch ich werde nicht umhinkommen, über kalte Progression, steuerliches Existenzminimum und Freibeträge zu sprechen. Aber noch viel wichtiger ist, dass das, was dahintersteht, bedeutet, dass ganz viele Menschen, nämlich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem kleinen, mit einem mittleren Einkommen, Menschen, die den Spagat zwischen Familie und Berufsleben zu meistern versuchen, durch dieses Gesetz deutlich mehr Geld in der Tasche haben werden. Ich glaube, das ist die Botschaft, die viel wichtiger ist als technokratische Begriffe, meine Damen und Herren.
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Aber ich weiß – das müssen Sie mir nachsehen –, ein paar konkretere Begriffe werde auch ich nennen müssen. Es geht in diesem Gesetz darum – das ist noch das Einfachste –, dass das Kindergeld erhöht wird, pro Kind um 10 Euro. Entsprechend wird dann auch der Kinderfreibetrag erhöht. Der Grundfreibetrag wird angehoben, und die kalte Progression wird ausgeglichen. Ich habe es schon gesagt: Das Kindergeld wird ab Juli 2019 um 10 Euro pro Kind und Monat erhöht, der Kinderfreibetrag dann entsprechend, und der Einkommensteuertarif für die Jahre 2019 und 2020 wird überarbeitet, um dann die steuerliche Freistellung des Existenzminimums der steuerpflichtigen Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen.
Darüber hinaus wird es darum gehen, Auswirkungen bei der kalten Progression auszugleichen. Was verbirgt sich dahinter? Dahinter verbirgt sich das, was viele Menschen ärgert, nämlich dass sie, wenn sie eine Lohnerhöhung bekommen, am Ende zu Recht das Gefühl haben, davon bleibt nichts übrig, sondern das wird aufgefressen durch die Inflation. Deswegen haben wir uns darauf verständigt, dass es einen Bericht über diese kalte Progression gibt – der wird vorgelegt –, genauso wie über das Existenzminimum. Das wollen wir dann ausgleichen, damit die Menschen, die sich einbringen, die Leistungen erbringen, die eine Lohnerhöhung bekommen, dann auch von dieser Lohnerhöhung tatsächlich etwas haben, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Diese angesprochenen Berichte zum steuerlichen Existenzminimum, aber auch zur kalten Progression sind momentan noch in der Endabstimmung; die liegen noch nicht vor. Wir haben uns dennoch entschlossen, diesen Gesetzentwurf jetzt schon einzubringen, diesen Gesetzentwurf jetzt schon vorzulegen. Denn so haben wir, wenn diese Berichte dann vorliegen werden, im parlamentarischen Verfahren die Möglichkeit, gegebenenfalls Anpassungen vorzunehmen. Es geht nämlich darum, den genannten Zeitpunkt zu erreichen, damit die Menschen sich auch darauf verlassen können, dass diese Veränderungen im Jahr 2019 auch greifen. Dafür stehen wir, und deswegen gehen wir jetzt schon in die parlamentarische Beratung.
Meine Damen und Herren, insgesamt wird es zu einer Entlastung von Familien mit Kindern und von kleinen und mittleren Einkommen – das habe ich schon beschrieben – in Höhe von round about 10 Milliarden Euro kommen. Jetzt höre ich viel Kritik an diesem Gesetzentwurf, den wir ja jetzt erst beraten: Das ist nicht weit genug, das ist nicht hoch genug gesprungen. – Ich kann nur alle Kolleginnen und Kollegen bitten, die diese Kritik – auch heute wahrscheinlich wieder – vortragen, nicht ihren Einkommenshorizont zum Maßstab zu nehmen,
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sondern sich einmal zu überlegen, was es für eine Familie mit einem Jahreseinkommen von 40 000 Euro und mit zwei Kindern bedeutet, wenn sie 500 Euro im Jahr mehr hat.
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Ich kann Ihnen sagen: Für diese Menschen ist das eine ganze Menge Geld, und man sollte das nicht als Kleinigkeit abtun, auch wenn die eigene Lebenssituation vielleicht eine andere ist.
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Deswegen freue ich mich auf die anstehenden parlamentarischen Beratungen.
Ich weiß: Mit einem solchen Gesetz können nicht alle Fragen und alle Probleme dieser Gesellschaft gelöst werden. Nein, das geht nicht. Aber es ist ein Baustein von mehreren und ist in einem Gesamtzusammenhang zu sehen. Wir werden heute noch darüber reden, dass wir dringend einen sozialen Arbeitsmarkt brauchen. Wir werden über ein Gute-Kita-Gesetz sprechen, das gerade die Qualität, aber auch die Gebührenfreiheit zum Thema hat. Aber lassen Sie uns dieses Gesetz nicht kleinreden. Es geht darum, dass Menschen, die sich einbringen, die Familie und Beruf unter einen Hut bekommen, am Ende des Tages besser dastehen. Dafür steht diese Koalition, und deswegen freue ich mich auf die parlamentarischen Beratungen zu diesem wichtigen und wesentlichen Gesetz.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Kay Gottschalk, AfD.
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Guten Morgen, meine Damen und Herren! Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Bürger auf den Rängen! Das hier als Entwurf vorgelegte und zur Diskussion stehende Familienentlastungsgesetz, Frau Lambrecht, verdient weder den Namen, noch stellt es eine Entlastung im wesentlichen Wortsinne dar, korrigiert es doch nur das, was das Verfassungsgericht Ihnen aufgrund Ihrer unermesslichen Steuergier ins Stammbuch geschrieben hat, nämlich die Freistellung des steuerfreien Existenzminimums und der damit verbundenen Anhebung des Kindergeldes.
Ich darf zitieren, und zwar sinngemäß, was das DIW dazu sagt, und auch einen kleinen Ausflug zum Kindergeld wagen: Aufgrund seiner relativ schwachen Effekte sollte von einer Erhöhung dieser Leistung des Kindergeldes abgesehen werden.
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Meine Damen und Herren, obwohl Sie vom Bundesfinanzministerium und vom Familienministerium eine 400 Seiten starke Evaluation in Auftrag gegeben haben,
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in der die namhaftesten Institute sagen, dass die meisten Maßnahmen sowohl der Ehepolitik als auch der Familienpolitik teuer und ineffizient sind, halten Sie an ihnen fest. Das ist ein Skandal und zeigt Ihre Reformunwilligkeit, meine Damen und Herren!
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Was Sie hier betreiben, ist keine Politik. Bei Ihnen verkommt Politik zu einem reinen Verwaltungsakt. Sie sind nicht nur reformunwillig, nein, Sie sind reformunfähig, meine Damen und Herren von der Regierung.
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Denn für eine nachhaltige Reform zur Förderung der Ehe und der Familie müssten Sie ein klares Ziel definieren, zum Beispiel die Fertilität, die hier erwähnt wird, also die Erfüllung von Kinderwünschen, und Maßnahmen benennen, wie Sie es umsetzen wollen. Sie müssten, meine Damen und Herren von der Regierung, also inhaltlich arbeiten – derzeit ein Unding für die SPD und für die CDU/CSU. Des Weiteren müssten Sie strukturiert arbeiten, wenn Sie ein Ziel hätten – eine derzeit komplette Überforderung der SPD –, damit Ihre Maßnahmen Ihr definiertes Ziel, das Sie verfolgen, auch tatsächlich erreichen. Zurzeit verfolgen Sie aber nur eine Politik des Gießkannenprinzips, der Augenwischerei und betreiben – besonders vor Landtagswahlen – Klientelpolitik; darauf werde ich heute Abend eingehen.
Wir schlagen hierzu aber schon heute konkrete und klare Maßnahmen vor, einen Mechanismus, der tatsächlich die kalte Progression beendet und Ihre Steuergier reduziert. Wir schlagen etwas Unbürokratisches, Faires und Transparentes vor, wie es vielleicht Herr Merz hier vorgetragen hätte; Frau Merkel ist nicht da, sie bekäme jetzt Pickel, aber vielleicht werden einige Kollegen der CDU in Melancholie schwelgen. Wir werden uns in unserem Antrag das Modell des Bundes der Steuerzahler zu eigen machen, das vorsieht, den Referenzwert in § 32a Einkommensteuergesetz im Veranlagungszeitraum t mit einem Referenzwert zu dynamisieren und zu indexieren. Diese Normierung erfolgt mit dem Ziel, die durchschnittliche Steuerbelastung für entsprechend der Inflation gestiegene Einkommen konstant zu halten, eben die kalte Progression, von der Sie hier immer reden, dynamisch, flexibel und verlässlich für die Menschen draußen abzuschaffen.
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Ausgangspunkt für die Prognose ist der Verbraucherpreisindex für das laufende Jahr, den die Bundesregierung im Rahmen der Herbstprojektion erstellt. Etwaige Prognosefehler sind im Folgejahr zu berücksichtigen. Dieses Indexierungsverfahren stellt sicher, dass die Entlastung der Steuerzahler und damit auch der Familien, meine Damen und Herren, mithilfe der aktuellen Verbraucherpreisdaten zeitnah und fair erfolgt. Die Formel werden wir in unserem Antrag vorstellen; sie ist vielleicht auch einigen von Ihnen bekannt. Im Übrigen, meine Damen und Herren, machen wir das bei den Abgeordnetendiäten doch schon so ähnlich. Wieso also nicht auch bei den Familien und Steuerzahlern? Gönnen wir ihnen das nicht? Haben wir besondere Rechte?
Meine Damen und Herren, fangen Sie mit der Umsetzung des konkreten Vorschlages, den wir als AfD einbringen, an, die Reformruine Deutschland ein Stück weit wieder aufzubauen. Kehren Sie von der Verwaltung wirklich zu aktiver Politik zurück. Wir legen einen konkreten Vorschlag vor, den wir nächste Woche als Antrag einbringen werden. Folgen Sie uns da und zeigen Sie, dass Sie die kalte Progression wirklich bekämpfen wollen und dass Sie nicht nur einen Flickenteppich, ein Stückwerk, eine Politik ohne Ziel und ohne Kompass hier abliefern wollen.
Ich bedanke mich.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Johannes Steiniger, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor wenigen Monaten bin ich Patenonkel von Ida geworden. Meine Freunde Jana und Stefan haben mit der Kleinen ihr erstes Kind, übrigens ein ganz tolles Mädchen, bekommen und eine Familie gegründet. Das war ein wunderbares Ereignis, aber seitdem hat sich auch ziemlich viel in ihrem Leben verändert.
Heute, meine sehr geehrten Damen und Herren, können wir den beiden, allen Eltern und allen Familien in Deutschland sagen: Diese Große Koalition steht an eurer Seite, und sie liefert.
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Denn wir setzen heute eine Milliardenentlastung für die Familien in Deutschland auf die Schiene und helfen damit ganz konkret. Gleichzeitig setzen wir als CDU und CSU eines unserer zentralen Wahlkampfversprechen um. Herr Gottschalk, wenn Sie sagen, wir machten Klientelpolitik, kann ich Ihnen nur entgegnen: Ja, das stimmt. Unser Klientel sind die Familien.
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Natürlich machen wir Politik für die Familien in Deutschland. Das ist doch ganz klar.
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Wir haben letztes Jahr vor der Wahl versprochen, das Kindergeld zu erhöhen – und heute machen wir es. Damit ist auch die Botschaft verbunden: Wir halten Wort! Ihr könnt euch auf uns verlassen! Wir kümmern uns um diejenigen, die unsere Gesellschaft am Laufen halten: Das sind die Eltern, die Kinder großziehen; das sind die Familien in Deutschland!
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieses Gesetzesvorhaben ist das zentrale Entlastungsprojekt dieser Koalition. Der Kern des Entwurfs ist die im Koalitionsvertrag vereinbarte Erhöhung des Kindergeldes und des Kinderfreibetrages. Im ersten Teilschritt wird das Kindergeld – das wurde schon gesagt – ab 1. Juli 2019 um 10 Euro pro Monat erhöht. Der steuerliche Kinderfreibetrag steigt entsprechend. Den nächsten Teilschritt werden wir dann mit einem neuen Gesetz zum 1. Januar 2021 vollziehen. Dann wird das Kindergeld noch einmal um 15 Euro erhöht. Zusammen macht das dann 25 Euro mehr Kindergeld pro Monat und Kind. Das bedeutet: 300 Euro pro Jahr und Kind mehr im Geldbeutel. Wenn man sich das einmal überlegt: Für 300 Euro bekommt man ein Jahresticket für den Berliner Zoo für die ganze Familie, ein kleines Fahrrad zu Weihnachten und 100 Kugeln Eis noch obendrauf. Ob für gemeinsame Ausflüge, leuchtende Kinderaugen an Weihnachten oder kiloweise Eis: Mit diesem Gesetz tun wir etwas Gutes für die Familien in Deutschland.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, ganz konkret entlasten wir mit diesem Gesetz die Bürgerinnen und Bürger in vier Punkten.
Wir verschieben erstens die Tarifeckwerte in der Einkommensteuer 2019 um 1,84 Prozent und 2020 um 1,95 Prozent. Das ergibt Kosten von über 4,3 Milliarden Euro. Das hört sich sehr technisch an, ist aber nichts anderes als die Vermeidung der berühmten kalten Progression in der Einkommensteuer. Damit entlasten wir alle Bürgerinnen und Bürger in diesem Land, die jeden Tag hart arbeiten und Steuern zahlen. Vor Jahren haben wir versprochen, dass wir regelmäßig alle zwei Jahre einen Bericht zur Entwicklung der kalten Progression vorlegen. Konkret heißt das, dass wir schauen, wie viel vom Geld dann noch übrig bleibt, nachdem die Inflation ihre Finger im Spiel hatte. Hart verdiente Gehaltserhöhungen sollen nicht durch die Inflation aufgefressen werden. Deswegen passen wir die Grenzen regelmäßig an. Genau das machen wir in diesem Jahr erneut. Die berechnete Inflation bilden wir steuerlich ab und sorgen so dafür, dass ein Mehr auf dem Gehaltszettel auch ein Mehr in der Geldbörse bedeutet.
Zweitens erhöhen wir zum 1. Januar 2019 den steuerlichen Grundfreibetrag um 168 Euro und zum 1. Januar 2020 um weitere 240 Euro. Das ist eine Entlastung von über 3 Milliarden Euro jährlich. Hiervon profitiert jeder Steuerzahler.
Drittens – das ist der Kern; das habe ich bereits erwähnt – erhöhen wir das Kindergeld zum 1. Juli 2019 um 10 Euro. Das ist uns über 1,5 Milliarden Euro im Jahr wert.
Viertens heben wir den Kinderfreibetrag zum 1. Januar 2019 und zum 1. Januar 2020 jeweils um 192 Euro an. Das ist uns insgesamt 750 Millionen Euro jährlich wert. Meine persönliche Meinung ist im Übrigen, dass wir das nur als erste Schritte sehen müssen, dass wir aber insgesamt beim Kinderfreibetrag in Richtung des Grundfreibetrags für Erwachsene gehen müssen.
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In diesem Zusammenhang will ich bei aller Freude über die vorgesehene Entlastung aber auch sagen, dass ich mich etwas darüber ärgere, dass wir diese erste Lesung erst jetzt im Oktober haben. Frau Staatssekretärin, Sie haben es angesprochen: Ich hatte Minister Scholz schon im Juni in einer Regierungsbefragung darauf hingewiesen, dass wir den Prozess zügig in Gang setzen müssen, damit die Entlastung auch pünktlich zum 1. Januar wirken kann. Er hatte mir damals in der Regierungsbefragung zugestimmt. Als Union hätten wir im Übrigen in den letzten Wochen an der Stelle gerne mehr Gas gegeben, aber leider stand unser Koalitionspartner aus unerfindlichen Gründen hier etwas auf der Bremse.
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Herr Kollege Steiniger, der Kollege Gottschalk würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Oh, ich bin gespannt. Gerne.
Das kann ich mir vorstellen. – Herr Kollege, vielen Dank, dass Sie meine Zwischenfrage zulassen. Sie sprechen hier – nochmals – immer wieder fälschlich von Entlastung. Das ist Etikettenschwindel. Wann sehen Sie von der Regierung, auch Sie von der CDU endlich ein, dass Sie damit nur das tun, was Sie tun müssen, damit kein Reallohnverlust durch die kalte Progression eintritt? Sie tun hier so, als wenn sie die Leute beschenkten. Nein, Sie stellen nur her, dass ihre Einkommen auf dem bisherigen Niveau bleiben, damit der Reallohn gesichert ist. Um nichts anderes geht es beim Ausgleich der kalten Progression. Sie feiern sich hier gerade dafür ab, dass sie den Leuten etwas schenken würden. Nein, Sie belassen den Stand. Täten Sie nichts, würden die Menschen jeden Tag und jedes Jahr ärmer, und das, obwohl sie arbeiten,
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während andere reicher werden. Das tun sie. Da ist das Reden von Entlastung – würden Sie mir das zugestehen? – doch wirklich ein Etikettenschwindel; denn Sie tun nur so viel, dass der Status quo der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land erhalten bleibt. Oder was sagen Sie dazu?
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Herzlichen Dank für die Frage. – Herr Gottschalk, Sie müssen doch auch zugeben, dass 10 Milliarden Euro eine Entlastung ist.
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Das muss Ihnen doch klar sein. Dass wir einen Bericht zur kalten Progression vorgelegt bekommen wollen und entsprechende Anpassungen vornehmen wollen, das ist doch ein Beschluss dieses Hauses, den wir vor Jahren gefasst haben. Deswegen kann ich Ihre Frage an dieser Stelle gar nicht verstehen. Im Übrigen geht es auch um die Frage der Familienentlastung und die Erhöhung von Kindergeld und Kinderfreibetrag. Das ist ja wohl eine Entlastung der Familien in Deutschland, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Sie haben mich gerade bei einem ganz anderen Thema unterbrochen, anscheinend haben Sie ein bisschen gebraucht, um Ihre Frage zu formulieren. Ich war gerade dabei, den Prozess ein Stück weit zu kritisieren, weil sich das Problem ergibt, wenn das Gesetz erst gegen Ende des Jahres beschlossen wird, dass die Zeit den meisten Arbeitgebern dann praktisch nicht mehr ausreicht, um die Lohnabrechnung an die veränderten Lohnsteuertabellen anzupassen. Das wird zusätzliche Bürokratie für Arbeitgeber und eine verspätete Entlastung der Arbeitnehmer bedeuten. Das finde ich schade. Ich appelliere an uns alle und insbesondere an die Regierung, beim nächsten Teilschritt in zwei Jahren den Existenzminimumbericht früher vorzulegen, damit wir dann schneller ein entsprechendes Gesetz machen können.
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Was ich hier als technische Aspekte aufgezählt habe, bedeutet eine Entlastung von 10 Milliarden Euro im Jahr. Wir beraten heute aber nicht nur über die Erhöhung des Kindergeldes und des Kinderfreibetrages. Wir beraten nicht nur über die Verschiebung der Tarifeckwerte. Wir beraten nicht nur über das technokratische Abhaken von Punkten aus dem Koalitionsvertrag. Heute geht es auch um den Zusammenhalt der Gesellschaft.
Ralph Brinkhaus hat auf dem Deutschlandtag der Jungen Union gesagt: Zusammenhalt der Gesellschaft heißt, die Gesellschaft von der Mitte her zu denken, also von den Familien, von den Bürgerinnen und Bürgern mit mittlerem Einkommen, von den Menschen, die jeden Tag zur Arbeit gehen und Steuern zahlen. Die haben wir mit unserer Politik im Blick. Hier haben wir mit dem Baukindergeld angesetzt, hier setzt der Wohngipfel an, und hier setzt auch dieses Familienentlastungsgesetz an. Die Leistungsträger unserer Gesellschaft haben es nämlich verdient, dass sich der Staat ihrer annimmt. Deswegen bedeutet ein solches Gesetz nicht nur irgendeine Änderung in der Steuertabelle. Von diesem Gesetz geht vielmehr das Signal aus, was uns in diesem Land wichtig ist, was uns in Deutschland ausmacht. Und das ist die Mitte der Gesellschaft: Familien, Kinder, hart arbeitende Bürgerinnen und Bürger, innovative Arbeitskräfte. An diese richten wir uns und sagen: Ihr seid uns etwas wert. Wir schätzen euch. Wir unterstützen euch.
Herzlichen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Christian Dürr, FDP.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Entlastung unserer Mitte ist für Angela Merkel seit 13 Jahren immer nur ein Wahlkampf-, aber kein Regierungsthema.
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Das ist die Wahrheit. Frau Staatssekretärin Lambrecht, Herr Kollege Steininger, Sie wollten uns heute Morgen wieder einmal weismachen – vorhin war die Rede von dem zentralen Entlastungsprojekt dieser Legislaturperiode –, dass es hier um die Entlastung von Familien in Deutschland geht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist Quatsch.
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Bei der kalten Progression oder beim Kindergeld tun Sie das – und ausschließlich das –, was verfassungsrechtlich geboten ist.
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Sie wollen sich heute dafür feiern lassen, dass Sie nicht gegen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verstoßen. Das, liebe Kollegen, ist bei der Entlastung der Mitte der Gesellschaft zu wenig, um das in aller Klarheit zu sagen.
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Sie schwimmen im Geld; Sie haben das ja vorhin nicht erwähnt. Der Gesamtstaat wird während Ihrer Regierungsverantwortung über 350 Milliarden Euro zusätzlich einnehmen im Vergleich zur vergangenen Legislaturperiode. Das, was Sie den Menschen hinwerfen – auch mit diesem Familienentlastungsgesetz –, sind allerhöchstens Brotkrumen. Statt einer echten Familienentlastung geben Sie, Frau Lambrecht, das Geld mit vollen Händen aus. Ein Beispiel wurde vorhin genannt: das Baukindergeld. Sie schaffen hier eine neue Subvention – diese hat übrigens eine schwarz-gelbe Bundesregierung in den 90er-Jahren unter Schmerzen abgeschafft –
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mit dem Geld, das Sie den Familien zuvor weggenommen haben, und wollen sich dann dafür feiern lassen.
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Ihre Rentenpolitik wird dazu führen, dass der Zuschuss an die gesetzliche Rentenversicherung während dieser Legislaturperiode die 100‑Milliarden-Euro-Marke übersteigen wird. Dann kommt zusätzlich – das sage ich gerade an Ihre Adresse als SPD-Politikerin, Frau Staatssekretärin – die Rentengarantie von Olaf Scholz bis zum Jahr 2040.
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Das wird weitere dreistellige Milliardenbeträge kosten, liebe Kollegen von der SPD.
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In Wahrheit lassen Sie die Menschen im Stich. Das ist doch keine Entlastung der Familien, Herr Kollege, sondern Sie belasten heute die Kinder der Familien, die später einmal das zahlen müssen, was Sie hier versprechen, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD.
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Wenn ich mir einmal die allgemeine politische Stimmungslage in Deutschland anschaue, dann habe ich den Eindruck: Für das Konzept der SPD in dieser Großen Koalition, sich durch Sozialleistungen bzw. durch zusätzliche soziale Versprechungen Wählerstimmen zu erkaufen, sind die Menschen in Deutschland schlicht und einfach zu schlau, um das an dieser Stelle auch einmal festzustellen.
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Dann will ich eine weitere Wählergruppe ansprechen, die Sie vermeintlich identifiziert haben, nämlich die alleinerziehenden Mütter und Väter in Deutschland. Auch diese sind beim Kindergeld angeblich angesprochen. Was hat eine alleinerziehende Mutter, die einen Unterhaltszuschuss bekommt, von Ihrer Kindergelderhöhung? Diese wird voll angerechnet. Für die Alleinerziehenden, die hart arbeiten und Kinder erziehen, tun Sie nichts in Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere der SPD.
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Dabei könnte man etwas tun. Man könnte jetzt über einen Tarif auf Rädern nachdenken, wie ihn die FDP vorschlägt. Man könnte über einen Chancentarif nachdenken, der gerade untere Lohngruppen animiert, mehr zu tun, mehr zu arbeiten, Leistung zu erbringen. Für die Mitte, für die hart arbeitenden Menschen, tun Sie nichts mit diesem Regierungsentwurf, um das klar zu sagen.
Man hätte übrigens am heutigen Tag für alle Menschen in der Mitte etwas machen können. Man hätte heute für alle Familien etwas machen können. Nach den regulären Abläufen dieses Hauses hätte heute ein Gesetzentwurf meiner Fraktion zur Abstimmung gestanden,
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der die Abschaffung des Solidaritätszuschlags zu dem Termin, an dem es verfassungsrechtlich geboten ist, nämlich nach Auslaufen des Solidarpaktes II, vorsah. Dieser Gesetzentwurf ist gestern im Finanzausschuss entgegen den regulären Abläufen dieses Hauses gestoppt worden, damit Sie vor den Landtagswahlen sich nicht einer Abstimmung stellen müssen. Das ist die Wahrheit, und das ist das, was gestern passiert ist, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich will Ihnen drei Sachen sagen. Kein Solizahler darf von der Senkung ausgeschlossen werden. Der Soli gehört in dieser Wahlperiode komplett abgeschafft. Der Soli gehört nicht in die Gehaltsabrechnung, er gehört in das Geschichtsbuch dieses Landes.
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Ich muss an dieser Stelle meine Rede kurz unterbrechen, weil ich, offen gestanden, wenig Verständnis habe, dass gerade meine Fraktion zu diesen drei Sätzen applaudiert hat. Wissen Sie, welche drei Leute diese drei Sätze in den letzten Wochen gesagt haben? Das war der Kollege Hans Michelbach von der Union, das war Alexander Dobrindt, und das war der bayerische CSU-Generalsekretär Markus Blume. Sie wollen die Menschen nicht entlasten, meine Damen und Herren. Es sind alles Wahlkampfversprechen. Aber die Entscheidung, das umzusetzen, was Sie im Wahlkampf ankündigen, Herr Dobrindt, hätten Sie heute treffen können. Aber Sie drücken sich vor dieser Entscheidung wenige Tage vor der bayerischen Landtagswahl. Das müssen auch die Menschen in Bayern wissen, Herr Dobrindt.
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Ich glaube, dass sich die Menschen nicht für dumm verkaufen lassen. Bei der Entlastung der Mitte unserer Gesellschaft, bei denen, die morgens früh aufstehen und hart arbeiten, haben Sie als Union mittlerweile kein Glaubwürdigkeitsproblem mehr. Sie haben bei diesen Menschen keine Glaubwürdigkeit mehr. Das ist die Wahrheit.
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Ich will ganz kurz zitieren, was am Tag der Deutschen Industrie die Bundeskanzlerin gesagt hat, nein, ich korrigiere mich: Die Parteivorsitzende der CDU hat zum Stichwort „Soliabschaffung“ gesagt, es sei einer der schwierigsten Kompromisse bei den Koalitionsverhandlungen gewesen, dass der Soli zwar für 90 Prozent der Zahler abgeschafft werde, aber für 10 Prozent nicht. Sie halte dies nicht für gerecht. Übrigens: Olaf Scholz lässt heute in einem Interview wissen, dass das großer Quatsch wäre, vielmehr habe man als SPD für die Abschaffung des Solis mehr getan als die Union. Wir haben das bei den Jamaika-Verhandlungen leidvoll erfahren müssen.
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Ein anderer Kollege hat etwas gesagt, was die Dinge, glaube ich, perfekt auf den Punkt bringt. Der Kollege Carsten Linnemann von der Mittelstands-Union hat am Montag Folgendes gesagt: Der Soli gehört abgeschafft. Sonst glaubt uns doch keiner mehr. – Recht hat er, meine Damen und Herren! Ihnen glaubt keiner mehr.
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Nach fünf Wahlkämpfen, in denen es jedes Mal Entlastungsversprechen gab, die aber nach der Wahl nicht erfüllt wurden, bleibt eines festzuhalten – ich habe das bereits am Anfang meiner Rede gesagt –: Die Entlastung der Mitte in Deutschland ist für Sie seit 13 Jahren immer nur ein Wahlkampfthema, aber nie ein Regierungsthema.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Fabio De Masi, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident Sehr geehrte Damen und Herren! Familie ist, wo Menschen durch dick und dünn gehen. Familie ist auch, wo Kinder sind. Beim Musiker Max Herre heißt es:
Und so zieht es aus, so stolz und so selbstbewusst, Stellt sich jedem neuen Tag entgegen mit geschwellter Brust, … Und wer wären wir dem Leben das zu verwehren Und die Welt, die ihre ist, mit unserer Last zu beschweren
Die beste Familienpolitik ist eine Politik, die Kinder nicht beschwert. 2,5 Millionen Kinder – oder jedes fünfte Kind – in Deutschland leben in Armut. Das ist ein Skandal und gefährdet die Zukunft dieses Landes.
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Das Familienentlastungsgesetz muss sich daher an dem Anspruch messen, ob es diese Kinder stärkt. Ein Gesetz, das mein Kind, das Kind eines Bundestagsabgeordneten, stärkt oder mich, einen Spitzenverdiener, entlastet, wird diesem Anspruch nicht gerecht.
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Der Maßstab für Glaubwürdigkeit ist doch, ob wir hier mal etwas beschließen, was die alleinerziehende Krankenschwester oder die Tochter eines Schichtarbeiters entlastet und nicht uns selbst.
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Das Verfassungsgericht verlangt, das Existenzminimum von Kindern zu gewährleisten. Dafür gibt es zwei Instrumente: Kindergeld oder einen Freibetrag bei der Steuer. Kindergeld hilft Familien mit kleinem Geldbeutel; denn wer wenig hat, für den machen ein paar Euro bereits den Unterschied. Und gleich viele Kinder sind dann auch gleich viel wert, egal wie viel die Eltern verdienen. Kinderfreibeträge aber nützen vor allem Besserverdienenden, weil sie dadurch besonders viel Steuern sparen. Deren Kinder sind dem Staat dann eben auch mehr wert.
Die Erhöhung des Kindergeldes um 10 Euro geht an armen Kindern völlig vorbei; denn die Kindergelderhöhung wird bei Hartz IV komplett angerechnet. Aber Spitzenverdiener profitieren durch die Anhebung des Kinderfreibetrags mit bis zu 182 Euro pro Kind und Jahr am stärksten. Das sind 50 Prozent mehr als bei Kindergeldfamilien. Beim Kinderfreibetrag gehen Sie sogar über die Vorgaben des Verfassungsgerichts hinaus.
Meine Fraktion fordert als erste Sofortmaßnahme, die Kindergelderhöhung nicht auf Hartz IV anzurechnen. Wir fordern ein Kindergeld von 328 Euro.
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Ein zweiter Aspekt Ihres Gesetzes betrifft die kalte Progression. Diese entsteht, wenn Einkommen, die nur mit der Inflation mitwachsen und von daher noch keine höhere Kaufkraft erzielen, in höhere Steuertarife rutschen. Auch hier entlasten Sie Spitzenverdiener – mit bis zu 676 Euro pro Jahr. Auf mittlere Einkommen entfällt nicht einmal die Hälfte der Entlastung. Aber es braucht keinen Ausgleich der kalten Progression für Spitzeneinkommen; denn laut dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung wurde in den letzten 20 Jahren die Steuerlast für die obersten 30 Prozent der Haushalte gesenkt und für die unteren 70 Prozent der Haushalte erhöht.
Die Entlastung von Spitzeneinkommen ist der Bundesregierung bis 2022 rund 15 Milliarden Euro an Mindereinnahmen wert. Das ist die Hälfte der gesamten Steuerentlastung. Zum Vergleich: Mit 15 Milliarden Euro jährlich könnte man die Qualität von Kitas verbessern und sie beitragsfrei stellen.
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Meine Fraktion will den Grundfreibetrag auf 12 600 Euro erhöhen und Bruttoeinkommen bis 7 000 Euro im Monat entlasten. Der Spitzensteuersatz, der übrigens erst ab 1 Euro über der Verdienstgrenze anfällt, würde später greifen, aber sollte mit 53 Prozent so hoch sein wie unter Helmut Kohl.
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Wie sähe also echte Familienentlastung aus? Erstens. Eine gute Familienpolitik sichert bezahlbare Mieten. Deckeln Sie Mieten statt Löhne! Familien brauchen mehr öffentlichen Wohnraum. Mieterhöhungen ohne Verbesserung des Wohnwertes müssen bei Bestandsmieten auf die Inflation begrenzt werden.
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Apropos Mieten: Der Söder Markus will für 700 Millionen Euro die Bavaria One ins All schicken, aber verhökerte mal eben so 32 000 öffentliche Wohnungen in München. Wir sagen: Wenn die Bayern den Söder auf den Mond schicken, ist das Raumfahrt, die sich wirklich lohnt.
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Zweitens. Gute Familienpolitik ermöglicht, das Leben zu planen. 4 Millionen Menschen oder 12 Prozent der Beschäftigten leben trotz Arbeit dauerhaft prekär. „Prekär“ heißt: Es gibt kein stabiles Leben, egal wie sehr man sich anstrengt. Die Mehrheit der Prekären in Deutschland sind Mütter und Väter.
41 Prozent aller neuen Jobs sind befristet. Bei der Hälfte der befristeten Jobs gibt es keinen sachlichen Grund. Die Einschränkung von Befristungen durch die GroKo greift nur in 4 Prozent der Betriebe, und auch dort können 2,5 Prozent der Arbeitsverträge weiterhin befristet sein. „Familien schützen“ heißt: Befristungen ohne sachlichen Grund verbieten.
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Über 1 Million Menschen sind Leiharbeiter. Leiharbeit drückt Löhne. Nach neun Monaten soll es die gleiche Bezahlung wie für Stammbeschäftigte geben. Aber mit Branchentarifen kann von Equal Pay 15 Monate abgewichen werden. Die Hälfte der Leiharbeiter ist aber nur drei Monate im selben Betrieb. Gute Familienpolitik stoppt ausufernde Leiharbeit und Werkverträge.
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Ich fasse zusammen: Die Bundesregierung behauptet, Deutschland gehe es gut. Aber Sie beantworten eine zentrale Frage nicht: Wer ist Deutschland? Sind die 2,5 Millionen Kinder in Armut etwa nicht Deutschland? Sind die Mütter und Väter in Leiharbeit, in Befristung, in Minijobs, die keine bezahlbare Wohnung mehr finden, etwa nicht Deutschland? Diese GroKo macht öffentliche Paartherapie, statt sich wirklich um die Familien zu kümmern. Unsere Kinder haben aber eine Regierung verdient, die ihnen die Zukunft nicht beschwert.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihr großartiges Familienentlastungsgesetz kann man wirklich nicht anders als einen großartigen Marketing-Gag bezeichnen: eine neue Verpackung für etwas, was wir hier als Bundestag seit 1996 in steter Regelmäßigkeit alle zwei Jahre tun. Normalerweise ist es diesem Hohen Hause noch nicht mal ein Extragesetz wert, sondern wir tun es in ein Jahressteuergesetz, wir verpacken es in andere Gesetze. Sie machen das jetzt als Extrageschichte. Dann, finde ich, braucht es aber auch den richtigen Titel. Es bräuchte eigentlich den Titel „Verfassungswidrige-Steuermehrbelastung-Verhinderungsgesetz“.
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Diese Art von Politik, diesen Politikstil, finde ich, ehrlich gesagt, nur zum Fremdschämen.
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Der Name ist auch deswegen falsch, weil das meiste Geld nach diesem Gesetz gar nicht an Familien geht, sondern an alle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Und vor allen Dingen: Arme Familien bekommen von diesem Gesetz nicht einen einzigen Euro. Gar nichts! Gar nichts! Millionen Kinder gehen bei diesem Gesetz leer aus. Kinder aus Hartz‑IV-Familien gehen leer aus. Es gibt keine Anpassung des Entlastungsbetrags für Alleinerziehende. Der bleibt unverändert. Die Familien, die arbeiten, ganz oft Alleinerziehende, bei denen es dann trotzdem nicht reicht, um sich und ihre Kinder zu finanzieren, und die deswegen Anspruch auf den Kinderzuschlag haben, gehen bei diesem Gesetz leer aus.
Aber: Die Mittelschicht bekommt in Zukunft 204 Euro pro Monat, und die Familien, die Reichensteuer zahlen, werden von diesem Gesetz in der Tat entlastet: pro Monat um 309 Euro. Deswegen wäre ein anderer richtiger Name für dieses Gesetz „Wohlhabende-Familien-am-meisten-Entlastungsgesetz“.
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Wir Grüne wollen stattdessen eine Kindergrundsicherung für alle Kinder, unabhängig vom Status der Eltern; denn wir finden: Kinderarmut, das ist wirklich die größte Ungerechtigkeit, die sich dieses reiche Land leistet, aber nicht mehr länger leisten darf, meine Damen und Herren.
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Dann steht in diesem Gesetz – das wurde mehrfach erwähnt – auch noch was zur kalten Progression. Die soll mit diesem Gesetz wieder mal abgeschafft werden: 4 Milliarden Euro – 4 Milliarden Euro, die wiederum dazu führen werden, dass wir die Schere zwischen Arm und Reich nicht schließen, sondern eher erweitern. Die Pflegekraft wird mit diesem Gesetz im Jahr, wenn sie Glück hat, um bis zu 90 Euro entlastet, der Chefarzt hingegen, wenn das Gesetz so beschlossen wird, wieder einmal um 670 Euro im Jahr. Wir finden, gerade in diesen Zeiten mit Pflegenotstand macht das überhaupt keinen Sinn.
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Wir wollen stattdessen, dass alle Menschen in diesem Land, die Steuern zahlen, um 135 Euro entlastet werden. Wir werden entsprechende Änderungsanträge in diesen Prozess einbringen. Wir fordern Sie auf, das auch zu tun; denn dieses Gesetz muss wirklich noch besser werden.
Danke schön.
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Nächster Redner ist der Kollege Michael Schrodi, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben als SPD im Jahr 2017 den Bürgerinnen und Bürgern gesagt: Wir wollen eine spürbare Stärkung der verfügbaren Einkommen von Familien durchsetzen. – Im Koalitionsvertrag haben sich alle Parteien zu diesem Schritt bekannt, und jetzt können wir mit unserem Bundesfinanzminister Olaf Scholz ein Familienentlastungsgesetz vorlegen, das dieses Vorhaben umsetzt und die verfügbaren Einkommen von Familien um insgesamt circa 10 Milliarden Euro stärkt. Das ist ein guter Tag für Familien in Deutschland.
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Ich hoffe übrigens, dass die Familien auch genau hinhören; denn wenn es nach der AfD geht – wie man feststellt, wenn man genau hingehört hat –, wird es keine Kindergelderhöhung geben. Das ist ein sozialpolitischer Skandal, meine Damen und Herren.
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– Ja, getroffene Hunde bellen an der Stelle.
Bemerkenswert ist die deutliche Erhöhung des Kindergeldes. Wir haben in den letzten Jahren oft Kritik an der niedrigen Erhöhung um 2 Euro pro Jahr gehört. Diese Erhöhung kam so zustande, dass wir anhand des Existenzminimumberichts zunächst den Kinderfreibetrag und im Anschluss prozentual das Kindergeld errechnet haben.
Wir setzen mit diesem Familienentlastungsgesetz ein deutliches familienpolitisches Zeichen, und zwar über das hinaus, was wir gesetzlich tun müssten. Wir heben das Kindergeld 2019 um 10 Euro an und sorgen damit für eine spürbare Erhöhung. Für 2021 ist eine weitere Steigerung um 15 Euro im Koalitionsvertrag vereinbart. Diese 25 Euro Entlastung sind ein wirklich gutes Zeichen und eine Stärkung der Familien, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({2})
In diesem Zusammenhang erhöhen wir im Vorgriff auf den Existenzminimumbericht den Kinderfreibetrag entsprechend dem Kindergeld, das wir in 2019 und 2021 erhöhen.
Übrigens, meine Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: Ich habe mir mal im Jamaika-Sondierungspapier Seite 12 genauer angesehen. Darin steht: „Neben dem Kindergeld wird auch der Kinderfreibetrag erhöht.“
({3})
Also, lieber Toni Hofreiter – jetzt ist er leider nicht mehr da –, unter uns Bayern hätte ich gesagt: Entweder habt ihr ganz schlecht verhandelt, oder ihr kritisiert etwas, was ihr selbst in den Jamaika-Sondierungen festgelegt habt – und dann ist es unredlich, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Auch der Grundfreibetrag wird angehoben. Mit der Verschiebung der Eckwerte des Einkommensteuertarifs um die Inflationsrate gleichen wir den Effekt der kalten Progression aus.
Dieses Familienentlastungsgesetz ist ein wichtiger Baustein bei unserem Vorhaben, Familien zu stärken, aber nicht der einzige. Natürlich bleiben die weiteren Bausteine von der Opposition völlig unerwähnt. Wir werden weiterhin mit dem Gute-Kita-Gesetz eine Qualitätsoffensive in den Kitas angehen und dafür sorgen, dass es Gebührensenkungen geben kann. Auch das entlastet Familien.
({5})
Wir werden mit dem Ende des Kooperationsverbotes dafür sorgen, dass es mehr Investitionen an Schulen gibt. Außerdem wollen wir die Bildungschancen stärken, damit Bildung nicht mehr so stark vom Geldbeutel der Eltern abhängt – gerade in Bayern ist das übrigens extrem ausgeprägt. Und wir werden mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen; gerade für Familien in den Ballungsräumen ist das wichtig.
Herr Kollege Schrodi, der Kollege Glaser möchte eine Zwischenfrage stellen.
Ich bin gleich am Ende. Danke schön.
Sie möchten keine Zwischenfrage zulassen?
So ist es.
({0})
Alles zusammen sind das wichtige Maßnahmen, um Familien spürbar und gezielt zu unterstützen. Insofern sehen wir den Beratungen weiter mit großer Freude entgegen.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Martin Reichardt, AfD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue mich insbesondere darüber, mit welchem Enthusiasmus die SPD versucht, in Bayern noch über 10 Prozent zu kommen.
({0})
Aber ich beginne jetzt erst mal mit den Fakten. „Mogelpackung“ nennt man allgemein Verpackungen, hinter denen sich weniger oder anderes verbirgt, als es den Anschein hat. Das Familienentlastungsgesetz ist eine solche Mogelpackung. Es wurde mit großen Worten wie „Stärkung“, „Entlastung“ und „großen Schritten“ angekündigt. Vielleicht ist die SPD mittlerweile so wählerfremd und verbonzt, dass sie in 50 Euro pro Monat tatsächlich große Schritte erkennt. Ich kann sie nicht sehen.
({1})
Wie sehr die Bundesregierung die Familien wertschätzt, hat sich schon in der sagenumwobenen Kindergelderhöhung 2017 gezeigt, als man eine Erhöhung um 2 Euro angeboten hat.
({2})
Wir von der AfD sind ja froh über jeden Cent, den Sie Familien geben,
({3})
doch eines muss Ihnen klar sein: Familien sind keine Bittsteller in diesem Hause.
({4})
Familien sind das, was unseren Staat trägt, meine Damen und Herren. Das sollten Sie von der SPD sich hinter die Ohren schreiben.
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Familien sind das höchste Gut, das wir in unserer Gesellschaft haben.
({6})
Und Familien vertreten Werte wie Ehrlichkeit und Vertrauen.
({7})
Genau diese Werte können Familien auch von einer Regierung verlangen.
({8})
– Ja, genau, das können sie auch von einer Regierung verlangen. Es ist auch ein hohes Gebot zwischen Eltern und Kindern, dass man nichts verspricht, was man hinterher nicht halten kann oder was man vielleicht gar nicht halten will.
({9})
Der Name „Familienentlastungsgesetz“ verspricht viel und hält im Endeffekt wenig. Das Gesetz enthält Maßnahmen – das haben wir hier von allen Oppositionsfraktionen schon gehört –, die ohnehin gesetzlich geboten sind und die gar nicht spezifisch familienpolitisch sind. Beispiele sind die Erhöhung des Grundfreibetrags, aber auch das Gerede von der kalten Progression. Tatsächlich ist hier ein Gesetzeswerk entstanden, das man vielleicht folgendermaßen bezeichnen könnte: ein Gesetz, das wir sowieso hätten machen müssen, mit einem kleinen Schuss „Familie“ als propagandistisches Sahnehäubchen, meine Damen und Herren.
({10})
Das Versprechen, Familien wirklich zu entlasten, wird wieder einmal nicht eingelöst. Eine Familie mit zwei Kindern entlasten Sie pro Monat um 50 Euro; das sind 600 Euro im Jahr. Alleine für 700 Euro müssen Familien Babywindeln kaufen. Diese Rechnung müssen wir hier ganz einfach mal aufstellen.
({11})
Wo die Prioritäten dieser Regierung liegen, sieht man an anderer Stelle: Auf Babywindeln haben wir 19 Prozent Mehrwertsteuer,
({12})
auf Trüffel und Hundefutter sind es 7 Prozent. Hier wäre vielleicht mal Änderungsbedarf angebracht.
({13})
England und Irland zum Beispiel haben sehr sinnvolle Modelle, indem sie für Kinderkleidung keine Mehrwertsteuer verlangen. Auch über derartige Dinge sollte man in Deutschland mal nachdenken; auch das könnte Familien entlasten.
Für arme Familien – das ist hier auch schon gesagt worden – tun Sie gar nichts. In der Regierungsbefragung hat Minister Scholz in Bezug auf arme Familien auf die Reform des Kinderzuschlags hingewiesen. Ich hoffe, dass Frau Giffey jetzt wenigstens beim Kinderzuschlag ein großer Wurf gelingt, sodass wir in einem Jahr nicht wieder hier stehen und dann erkennen müssen, dass auch der Kinderzuschlag eine Mogelpackung dieser Regierung geworden ist.
Denn eines ist sicher: Politiker und Parteien klagen über Vertrauensverlust in der Politik und die Abkehr von politischen Institutionen. Wer will es den Menschen verdenken vor dem Hintergrund von nicht gehaltenen Versprechen wie „Wir schaffen das“ bis zur Mogelpackung des heute versprochenen Familienentlastungsgesetzes?
Diese Regierung vertritt keine Werte für Kinder, Eltern und Familien. Sie vertritt nicht die Werte, die Kinder und Familien brauchen, nämlich Vertrauen, Ehrlichkeit und Verlässlichkeit.
Vielen Dank.
({14})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Nadine Schön, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Guten Morgen, liebe Kollegen und Kolleginnen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir wollen, dass Kinder in unserem guten Land – – in unserem Land gut aufwachsen können.
({0})
Damit sie das können, brauchen sie starke Familien. Deshalb legen wir in dieser Legislaturperiode einen Schwerpunkt auf die Unterstützung von Familien. Wenn ich hier Worte wie „Brotkrumen“ höre, dann muss ich sagen: Das ist eine unsägliche Bezeichnung; sie führt zu Verunsicherung, und sie hat mit der Realität überhaupt nichts zu tun.
({1})
Es gilt: Was wir versprochen haben, halten wir. Wir haben bereits in unserem Wahlkampf einen Schwerpunkt auf die Familien gelegt, wo viele gesagt haben: Die Maßnahmen könnt ihr doch unmöglich alle umsetzen. Das wird doch in den Koalitionsverhandlungen im Vergleich mit anderen Themen, die auch wichtig sind, am Schluss wieder zusammengedampft. – Aber ich kann Ihnen sagen: Die Familienpolitiker haben so hart verhandelt, dass wir alles umsetzen können.
Wir werden in den nächsten Jahren einen Schwerpunkt auf unsere Familien legen. Wir werden das Geld, das wir haben, ganz gezielt in Familien investieren, weil wir der Meinung sind, dass sie der Kern unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens sind. Deshalb ist es wichtig, dass wir Familien unterstützen, wie wir es schon in den letzten Jahren getan haben, aber noch mal eine deutliche Schippe drauflegen; und das tun wir.
Wir haben im Wahlprogramm versprochen, dass wir alle Kinder und alle Familien in den Blick nehmen.
Wir fangen bei den ganz Kleinen in den Krippen und Kindertageseinrichtungen an. Wir werden hier – das Stichwort wurde schon genannt – mit 5,5 Milliarden Euro Qualitätsverbesserungen in den Kindertageseinrichtungen durchsetzen, die das Leben der Menschen tatsächlich ändern. Denn es ist wichtig für junge Eltern, dass sie, wenn sie ihrem Kind morgens im Kindergarten einen Abschiedskuss geben, wissen, dass es gut betreut ist, dass es gut versorgt ist, dass es sich in einer kinderfreundlichen Umgebung aufhält, dass Zeit für das Kind da ist, dass es individuell gefördert werden kann. Deshalb sind diese 5,5 Milliarden Euro, die entweder für Qualitätsverbesserungen in den Kindergärten oder für Beitragsreduzierungen ausgegeben werden, eine ganz, ganz wichtige Maßnahme. 5,5 Milliarden Euro ist eine ganze Menge Kohle. Deshalb ist es wirklich unsäglich, wenn bei der Familienförderung von „Brotkrumen“ geredet wird.
({2})
Wir tun was für Eltern mit Kindern im Grundschulalter, nämlich durch den Rechtsanspruch auf die Nachmittagsbetreuung. Auch hier werden wir als Bund die Länder und Kommunen unterstützen. Dabei muss man auch mal sagen: Das sind ja alles keine Aufgaben, für die der Bund zuständig ist; aber wir tun es, weil uns Familien und deren Lebensbedingungen in diesem Land wichtig sind.
Wir tun was für Menschen mit geringem Einkommen – es wurde kritisiert, dass wir das nicht tun –: Wir werden den Kinderzuschlag verbessern und erhöhen. Der Kinderzuschlag ist eine der effektivsten Maßnahmen, weil er nämlich verhindert, dass Menschen in Hartz IV, in den Sozialhilfebezug fallen. Deshalb ist es eine wichtige Maßnahme. Wir werden mit der Erhöhung und der Entbürokratisierung des Kinderzuschlags auch Familien mit geringem Einkommen ganz entscheidend entlasten.
({3})
Um da mal den Ball den Grünen zuzuspielen: Das war auch ein Anliegen von Ihnen;
({4})
deshalb verstehe ich die Kritik an dieser Stelle überhaupt nicht.
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Wir werden Familien im Leistungsbezug entlasten, liebe Kollegen von den Linken. Wir werden die Fahrtkosten und den Eigenanteil von 1 Euro für das Mittagessen übernehmen. Als Union fordern wir auch, dass das Schulstarterpaket erhöht wird. Wir unterstützen die Familien, die sich den Traum vom Eigenheim erfüllen wollen, nämlich mit dem Baukindergeld. Allein diese Maßnahmen zeigen doch schon, dass wir die Familien wirklich in den Mittelpunkt stellen, und da bin ich noch gar nicht bei dem, was wir heute beschließen. Dazu komme ich jetzt.
Wir werden Kindergeld und Kinderfreibetrag erhöhen, und zwar höher, als es uns vom Verfassungsgericht vorgegeben ist. Auch das will ich noch mal deutlich sagen: Wir machen mehr, als wir müssten.
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Und auch das tun wir aus gutem Grund, nämlich weil gerade wir als Union gesagt haben: Wir wollen eben nicht nur die Familien mit kleinen Kindern entlasten, wir wollen nicht nur die Familien mit geringem Einkommen entlasten, sondern wir wollen alle Familien entlasten – all die Familien, die jeden Tag an einem Strang ziehen, die die Leistungsträger unserer Gesellschaft sind, die zum Zusammenhalt in unserer Gesellschaft beitragen, die eine tolle Erziehungsleistung vollbringen. Wir trauen diesen Familien sogar zu, dass sie wissen, wie sie ihr Geld gut anlegen, dass sie wissen, wie sie ihr Geld ausgeben für ihre Kinder. Deshalb war uns die Erhöhung des Kindergelds wichtig. Wir erhöhen das Kindergeld um 25 Euro; davon erfolgt der erste Schritt – eine Erhöhung um 10 Euro – Mitte nächsten Jahres. Insgesamt werden es 25 Euro pro Monat pro Kind. Das kann man bei zwei oder drei Kindern dann hochrechnen. Entsprechend wird natürlich der Kinderfreibetrag erhöht.
Zu Ihrer Kritik: Sie wissen, dass uns das vom Bundesverfassungsgericht vorgegeben ist und dass wir gar nicht anders können.
({7})
Wir wollen das auch. Es wird immer wieder kritisiert, dass die einen Kindergeld und die anderen den Kinderfreibetrag bekommen. Aber es ist schon ein gewisses Maß an Gerechtigkeit in unserem Land, dass wir dann eben beides gleichermaßen erhöhen.
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Zum Vorwurf „Gießkanne“, der ja auch immer wieder kommt: Ja, es ist eine Gießkanne. Aber jeder Hobbygärtner weiß: Wenn er nicht ab und zu mal mit der Gießkanne durchs Gemüsebeet geht, dann wird aus dem Gemüse nichts werden. Also, wir brauchen die Förderung und Unterstützung für alle und eben nicht nur für einzelne Gruppen.
({9})
Wir selbst erleben es oft, dass die ganz normalen Familien sagen, dass sie den Eindruck haben, dass sie in der normalen Politik nicht mehr wahrgenommen werden.
({10})
Deshalb ist das eine total wichtige Maßnahme, hinter der wir als Union stehen und die wir gefordert haben. Ich bin froh, dass wir den Koalitionspartner offensichtlich überzeugen konnten, das mit Verve und Engagement mit zu vertreten; das ist gut so.
({11})
Zu einer kinder- und familienfreundlichen Gesellschaft gehört aber nicht nur das, was wir in der Politik machen. Deshalb will ich zum Schluss noch mal daran appellieren, dass es unser aller Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass unsere Städte und Gemeinden kinder- und familienfreundlich sind. Dazu gehört nicht nur eine gute Familienpolitik. Dazu gehören auch familiengerechte Arbeitszeiten in den Unternehmen; aber dazu gehört eben auch ein familienfreundliches Umfeld: in den Restaurants, in den Einkaufszentren, in den Gemeinden. Dazu gehört, dass es Spielplätze gibt, dass es Orte gibt, wo Kinder sich wohlfühlen. Dazu gehört, dass es im Restaurant geduldet wird, wenn Kinder auch mal ein bisschen lauter sind, und dass auch ausgedrückt wird, dass Kinder willkommen sind, etwa dadurch, dass Malstifte und ein Malbuch angeboten werden.
Das sind Kleinigkeiten; aber wer Kinder hat – ich habe auch zwei kleine Kinder –, weiß, dass es einen Unterschied macht, ob man sich als Familie willkommen fühlt an einem Ort oder ob man den Eindruck hat: Da bin ich mit meinen Kindern jetzt nicht so willkommen. – Bei diesem letzten Punkt können wir alle mithelfen. Deshalb sollten wir auch gemeinsam für die Maßnahmen, die wir hier mit sehr, sehr viel Geld politisch vereinbaren, einstehen und sie mit Selbstbewusstsein vertreten, statt alles schlechtzureden. Da bitte ich um die Unterstützung vom ganzen Haus.
({12})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Annalena Baerbock, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Kollegin Lisa Paus hat ja schon darauf hingewiesen, dass dieses Gesetz eigentlich ein Gesetz zur kalten Progression ist. Da Sie, Frau Schön, jetzt so betont haben, dass wir doch gemeinsam im Sinne der Familien dazu beitragen sollen, Familienpolitik zu unterstützen, möchte ich gern auf diesen Punkt noch mal dezidiert eingehen; denn genau der treibt uns um.
Was haben wir denn gerade für eine Situation in unserem Land? Wir haben die Situation, dass das Vertrauen in Demokratie, das Vertrauen in Politik massiv angeschlagen ist. Deswegen sollte es in unser aller Sinne sein – als Demokraten dieses Landes –, dieses Vertrauen endlich wiederherzustellen.
({0})
Da hilft es eben nicht – das ist unsere tiefste Überzeugung –, wenn man den Menschen was verkauft, was erst mal toll klingt, aber wo am Ende dann ganz viele, die sich auf Politik verlassen haben, feststellen: Das kommt gar nicht bei ihnen an. – Das gefährdet Vertrauen in Politik und damit auch in unsere Demokratie.
({1})
– Jetzt schreien Sie da schon wieder „Quatsch“ rein. Lassen Sie uns doch bitte einmal sachlich miteinander in der Debatte reden.
({2})
– Ja, dann hören Sie mir doch einmal zu.
({3})
Dieses Gesetz entlastet Familien im Mittelstand und mit hohem Einkommen. Das ist gut; wir wollen eine Kinderförderungspolitik betreiben. Sie zitieren hier immer den Jamaika-Vertrag. Das freut uns ja, dass wir der Maßstab für Ihre Koalition sind.
({4})
Aber bitte lesen Sie dann nicht nur Seite 12, Herr Schrodi, sondern lesen Sie dann auch alle Seiten, die wir damals mitverhandelt haben.
({5})
– Jetzt hören Sie doch mal bitte auf, hier so rumzuschreien!
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Da steht nämlich: Wir brauchen eine Erhöhung des Kindergeldes und auch des Kinderfreibetrages. – Aber wir haben eben auch deutlich gemacht – mit Ihnen, Frau Schön –, dass dies auch bei Kindern aus armen Familien ankommen muss. Das geschieht mit diesem Gesetz eben nicht.
({7})
Wir müssen doch alle Kinder und alle Familien in den Mittelpunkt stellen, damit nicht ein Teil der Familien, die dieses Gesetz lesen, sagt: Oh Gott, bei mir kommt es gar nicht an. – Und das sind viele: Das sind 3 Millionen Kinder, die Sie mit diesem Gesetz außen vor lassen. Das ist der Punkt, den wir hier kritisieren.
({8})
Sie müssen gar nicht so rumschreien; Sie schreiben es in Ihrem eigenen Gesetzentwurf. Lesen Sie bitte Seite 2 Ihres eigenen Gesetzentwurfes. Dort steht:
Die Erhöhung des Kindergeldes hat Auswirkungen auf die Leistung der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Das erhöhte Kindergeld führt bei einer Anrechnung auf die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu Einsparungen im SGB II in Höhe von … 130 Millionen Euro …
Dann geht es so noch weiter. Da schreiben Sie schwarz auf weiß: Dieses Geld kommt bei Kindern im SGB-II-Bezug nicht an. – Das müssen Sie dringend ändern.
({9})
Es gibt eben, Herr Steininger, nicht nur die Ida, deren Eltern arbeiten, sondern es gibt auch Hunderttausende von Idas, deren Eltern derzeit leider nicht arbeiten, und die sind auf einen Kinderzuschlag angewiesen, wegen dem Sie, Herr Schrodi, hier die ganze Zeit rumschreien.
Aber leider ist die automatische Auszahlung des Kinderzuschlags eben nicht in diesem Gesetzentwurf mit drin; dafür haben wir in den Jamaika-Verhandlungen massiv gestritten.
({10})
Und warum haben wir dafür so massiv gestritten? Frau Schön, Sie haben es selber gesagt: Sie haben zwei kleine Kinder. Ich auch. Wir alle wissen, wie das ist, wenn die Kinder mit löchrigen Gummistiefeln in die Kita müssen. Wir alle wissen, wie das ist, wenn ein Kind nicht zum Kindergeburtstag kommt, weil die alleinerziehende Mutter sagt: Ich kann mir das am Ende des Monats nicht leisten.
Deswegen: Sie können hier keine Zeit vergeuden. In dieses Gesetz gehören die automatische Auszahlung des Kinderzuschlages und eine Erhöhung der Kinderregelsätze beim SGB-II-Bezug hinein; denn auch 15‑jährige Jungs im Teenageralter haben es verdient, zu diesem Land und zu dieser Familienpolitik dazuzugehören. Das ist im Sinne der Demokratie und im Sinne von uns allen.
Herzlichen Dank.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Wiebke Esdar, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Gerechtigkeit, darum – das haben wir immer gesagt – geht es uns als Sozialdemokratie. Darum wollen wir in dieser Wahlperiode die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit mittleren und kleinen Einkommen bei Steuern und Abgaben besserstellen und die Leistungen insbesondere für Familien und Alleinerziehende verbessern. Wir wollen das peu à peu, Stück für Stück, seriös gegenfinanziert machen; aber es soll im Ergebnis deutlich spürbar sein. Ich glaube, das, Frau Baerbock, ist unser Beitrag zur Sicherung der Demokratie; denn die Menschen werden es am Ende spüren.
({0})
Wir haben im Wahlkampf stets betont, dass starke Schultern mehr als schwache tragen können und auch müssen. Der heute hier vorgelegte Entwurf für ein Familienentlastungsgesetz spiegelt diesen Gerechtigkeitscharakter wider. Und damit haben wir uns als SPD durchgesetzt, und das ist gut für unser Land.
({1})
Meine Damen und Herren, spürbare und konkrete Besserstellung von Familien und Alleinerziehenden in Höhe von satten 10 Milliarden Euro jährlich sieht der Entwurf vor. Besonders werden diejenigen profitieren, die momentan weniger Geld haben.
Erstens werden wir nämlich das Kindergeld ab 2019 um 10 Euro pro Kind und Monat erhöhen. Entsprechend steigt natürlich der steuerliche Kinderfreibetrag. Zweitens stellen wir sicher, dass das Existenzminimum, also das, was jeder Mensch zum Leben braucht, auch weiterhin steuerfrei bleibt. Wir werden darum den Grundfreibetrag bei der Einkommensteuer in zwei Schritten um 168 Euro im Jahr 2019 und um weitere 240 Euro im Jahr 2020 anheben. Drittens sorgen wir dafür, dass Lohnsteigerungen eben auch im Portemonnaie der Beschäftigten ankommen. Wir werden für 2019 und 2020 den Effekt der sogenannten kalten Progression ausgleichen, indem wir die Eckwerte des Steuertarifs um den Wert der Inflationsrate nach rechts verschieben.
Meine Damen und Herren, wir wissen natürlich, dass der 12. Existenzminimumbericht und der diesjährige dritte Bericht zur Wirkung der kalten Progression noch nicht vorliegen. Aber wir wollen mit dem Gesetzentwurf so weit sein, dass die geplanten Steuersenkungen bereits im kommenden Jahr greifen; darum bringen wir ihn jetzt schon ein. Und wir werden natürlich in unseren Beratungen diese Berichte aufgreifen und berücksichtigen.
Meine Damen und Herren, als SPD haben wir in den Koalitionsverhandlungen das wichtige Ziel erstritten, dass denjenigen, die wirklich mehr benötigen, mehr Geld bleibt – und zwar netto. Das machen wir jetzt zum Ziel unserer Politik. Und darum ist das Familienentlastungsgesetz eben nur ein Teil in einem ganzen Paket von Maßnahmen, die wir entweder bereits beschlossen haben oder die zukünftig noch kommen werden.
Wir haben auch die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung – Arbeitnehmerinnen und Arbeitgeber sollen wieder den gleichen Beitrag zur Krankenversicherung zahlen – beschlossen, die voraussichtlich bereits zum 1. Januar 2019 kommen wird. Die Verlängerung der Gleitzone bei den Midijobs kommt, die Absenkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung werden wir anpacken. Und wir werden die Abschaffung des Solidaritätsbeitrags für 90 Prozent aller jetzt Zahlenden und damit eine erneute Entlastung in Höhe von 10 Milliarden Euro jährlich für 2021 beschließen.
({2})
Wir planen den Einstieg in die gebührenfreie Kita mit 5,5 Milliarden Euro Bundesförderung und dem Gute-Kita-Gesetz und werden mit dem Kinderzuschlag sowie dem Bildungs- und Teilhabepaket weitere Verbesserungen für Familien auf den Weg bringen.
Wenn man das zusammennimmt, meine Damen und Herren, zeigt sich: Jede der genannten Maßnahmen ist ein Baustein dafür, dass Familien, Alleinerziehende, aber eben auch Singles mehr von ihrem hart verdienten Lohn und Gehalt bleibt. Die Verbesserungen werden konkret spürbar sein. Das, Frau Baerbock, wird unser Beitrag zur Sicherung der Demokratie sein.
({3})
Das war uns, der SPD, wichtig. Wir halten das für ökonomisch vernünftig; aber wir halten das vor allem auch für finanzpolitisch gerecht.
Danke schön.
({4})
Jetzt erteile ich das Wort der Abgeordneten Dr. Frauke Petry.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 10 Euro mehr Kindergeld pro Kind und Monat ab 2019 soll es geben, in anderen Worten: zwei Kinderüberraschungen und Dreiviertel eines Kinobesuchs, aber ohne Begleitung, Popcorn und Getränk. Ein noch viel besserer Vergleich findet sich, wenn man das Kindergeld der Vorjahre betrachtet. Im Jahr 2011 erhielten Eltern pro Kind und Monat 184 Euro. Ihr Entwurf sieht nun mehr Geld vor, nämlich 204 Euro, also ein Plus von 20 Euro im Vergleich zu damals. Nicht schlecht? Doch, sehr schlecht.
Bereinigt man Ihren Vorschlag um die Inflation seit 2011, erhält man, wenn man rechnen kann: 183 Euro und 10 Cent. Der Vorschlag der Bundesregierung sieht also vor, Familien summa summarum nach heutiger Kaufkraft circa 1 Euro weniger zu geben, als diese bereits im Jahr 2011 zur Verfügung hatten – und das trotz – wie Sie immer wieder betonen – florierender Wirtschaft, einem Wachstum von zusammengerechnet über 15 Prozent seit 2011, Rekordsteuereinnahmen und bei all dem Selbstlob, mit dem Sie betonen, wie viel Einsatz Sie doch für die Menschen in diesem Lande zeigen.
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetzentwurf erhalten Familien exakt weniger als das, was sie in diesem Land bereits einmal hatten. Sie bereinigen maximal einen Fehler. Für die Familien ist zusätzlich noch nichts getan. Was fehlt, ist eine Kopplung des Kindergelds an die Inflationsrate und eine automatische Anpassung der Kinderfreibeträge und des Grundfreibetrags.
Hören Sie auf, den Wählern vor der Wahl immer wieder Sand in die Augen zu streuen und zu versprechen, was Sie im Grunde ohnehin tun müssten! Anstatt immer neue bürokratische Subventionen zu erfinden wie das Baukindergeld, das Sie so wortreich feiern, sollten Sie endlich den Mut zu einer großen Steuerreform und zur Einführung eines Familiensplittings finden. Aber dazu sind Sie leider zum Schaden der Familien in diesem Land nicht in der Lage.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Hans Michelbach, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Unsere Familien sind die Kernzellen unserer Gesellschaft. Sie sind Orte von Erziehung, von Wertevermittlung und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Sie sind uns, der CDU/CSU, wegen dieser überragenden Bedeutung besonders wichtig. Unsere Gesellschaft zu stärken, bedeutet deshalb auch für uns, insbesondere Familien zu entlasten und zu stärken.
Das war für uns ein zentrales Anliegen in den gemeinsamen Koalitionsverhandlungen. Das Ergebnis, meine Damen und Herren, kann sich – das gilt nicht nur für den steuerlichen Bereich – sehen lassen: 300 Euro mehr Kindergeld pro Jahr und Kind, steuerliche Entlastung der Familien, 1 200 Euro Baukindergeld pro Jahr und Kind für zehn Jahre, um Familien den Erwerb der eigenen vier Wände zu erleichtern. Ich kann nur sagen: Das ist ein Hit. In den ersten Wochen wurden schon 20 000 Anträge im Umfang von 415 Millionen Euro gestellt. Das kann man doch nicht kleinreden. Das ist Familienförderung, meine Damen und Herren.
({0})
Wir werden natürlich die Mobilisierung im Wohnungsbau im unteren und mittleren Preissegment, im Bereich des Sozialwohnungsbaus, mit privaten Investitionen ebenso weiter voranbringen, um für die Familien Mietkostenentlastung zu erreichen. Nicht zuletzt möchte ich die erweiterte Mütterrente nennen, und auch mehr Investitionen des Bundes in Bildung und Betreuung will ich nicht unerwähnt lassen – auch wenn dies natürlich zuallererst Aufgabe von Ländern und Kommunen ist und bleibt. Da steht Bayern mit dem bayerischen Familiengeld und dem Landespflegegeld vor allen anderen Bundesländern. Auch das gehört zur Wahrheit, meine Damen und Herren.
({1})
Das haben wir versprochen, und das haben wir auch gehalten. Und das zeigt, dass auf uns Verlass ist.
Das Familienentlastungsgesetz, über das wir heute in erster Lesung beraten, ist der Beleg dafür. Es wird eine erste Rate der Familienentlastung in dieser Legislaturperiode sicherstellen mit der Erhöhung des Kindergeldes, des Kinderfreibetrages und der Anhebung des steuerfreien Existenzminimums. Schließlich erhöhen wir auch den oberen Eckwert im Einkommensteuertarif und wirken damit der kalten Progression entgegen.
Meine Damen und Herren, es ist heute schon vielfach eingewandt worden, dass die Anhebung des Existenzminimums ohnehin verfassungsrechtlich geboten ist. Ja, das ist richtig. Doch der Einwand ist gleichzeitig auch falsch; denn mit diesem Gesetzentwurf geht die Koalition bewusst über das hinaus, was verfassungsrechtlich erforderlich wäre. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren.
({2})
Wir tun mehr, als die Verfassung vorschreibt, und das ist gut so. Auch das ist die Wahrheit. Der Versuch der Opposition, die Entlastung, die durch unser Familienentlastungsgesetz stattfindet, kleinzureden, ist geradezu ärmlich, meine Damen und Herren.
({3})
Noch ärmlicher ist der Versuch der FDP, das heutige Familienentlastungsgesetz mit der Soli-Frage zu verbinden. Meine Damen und Herren von der FDP, die Soli-Frage hätten Sie von der FDP mit uns schnell klären können,
({4})
wenn Sie nicht die Flucht aus der Verantwortung vorgezogen hätten. Das ist die Wahrheit, und die werden Sie erleben.
({5})
Sie treten hier vollmundig auf, und gleichzeitig machen Sie sich vom Acker, wenn es ernst wird. Das ist die Situation.
({6})
Herr Kollege Michelbach, der Kollege Dürr möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte, ja.
({0})
Danke, Herr Kollege Michelbach. – Ich gebe neidlos zu, dass Sie jedenfalls – ich habe ja noch andere Kollegen zitiert – einer derjenigen sind, die für die komplette Abschaffung des Solidaritätszuschlages sind.
({0})
– Zu der Frage, ob das wirklich alle so sehen, komme ich gleich. – Nun hat ja gestern, Herr Kollege Michelbach, der Finanzausschuss des Deutschen Bundestages – Sie gehören diesem Ausschuss an – mit den Stimmen der Großen Koalition in einer Abstimmung über die Frage entschieden, ob wir wirklich alle gemeinsam, wie Sie gerade behauptet haben, für die komplette Abschaffung des Solidaritätszuschlages nach Auslaufen der Hilfen für Ostdeutschland sind.
({1})
Da will ich einfach mal beratungsmäßig von Ihnen wissen, sozusagen als Insider und Kenner der Szene:
({2})
Könnte die Tatsache, dass Sie wissen, dass Sie einem Gesetzentwurf der FDP, wenn er heute zur Abstimmung gestanden hätte, nicht zugestimmt hätten, unter Umständen mit einem Wahltermin zusammenhängen, Herr Kollege Michelbach? Das ist meine Frage.
({3})
Ich hoffe, Sie haben auch eine Frage gestellt, Herr Kollege.
({0})
Ich kann Ihnen nur sagen: Warten Sie es ab.
({1})
Die Reduzierung und Abschaffung des Soli wird auf der Tagesordnung bleiben und ist ja auch Teil des Koalitionsvertrages. Warten Sie es einfach ab.
({2})
Hier gemeinsam mit der AfD Anträge zu stellen: Ein Hans-Dietrich Genscher würde sich im Grab herumdrehen, wenn er das erleben würde, was Sie hier vorführen, meine Damen und Herren. Das ist die Situation, in der Sie sich befinden.
({3})
Meine Damen und Herren, diese Legislaturperiode wird eine gute Legislaturperiode für Kinder und Familien. Wir stehen zu den Familien in unserem Land.
Herr Kollege Michelbach, der Kollege Gottschalk möchte auch eine Zwischenfrage stellen.
Ich glaube, es ist schon deutlich geworden: FDP und AfD haben gemeinsam diesen Antrag eingebracht.
({0})
Lassen Sie es zu oder nicht?
Lasse ich nicht zu, danke.
Sie lassen nicht zu.
({0})
Meine Damen und Herren, das ist eine gute Legislaturperiode für Kinder und Familien. Wir stehen zu den Familien in unserem Land, und deshalb stehen wir auch hinter diesem Gesetzentwurf. Das Gesetz bedeutet eine Entlastung, zunächst um 4 Milliarden Euro, dann um 9,4 Milliarden Euro im übernächsten Jahr. Die volle Jahreswirkung liegt in den Folgejahren bei mehr als 10 Milliarden Euro jährlicher Entlastung. Mehr Netto vom Brutto, das ist unser Ziel. Denn die Menschen wissen selbst am besten, was sie mit dem Geld, das sie mit ihrer eigenen Leistung erwirtschaftet haben, anfangen wollen.
({0})
Leistung muss sich lohnen, meine Damen und Herren. Dieses Prinzip setzen wir um. Das ist unsere Botschaft. Insofern ist es doch selbstverständlich, dass wir auch an dem Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit in den Steuergesetzen festhalten müssen. Ansonsten ist das nicht verfassungskonform.
Ich habe festgestellt, dass die Grünen die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit aushebeln wollen. Sie wollen verteilen, umverteilen, umverteilen, umverteilen, denken aber nicht daran, dass auch die Steuerzahler diese Umverteilung zunächst erwirtschaften müssen, meine Damen und Herren. Das ist die Situation.
({1})
Ich denke, dass wir gut daran tun, dieses Familienentlastungsgesetz als große Chance für unsere Familien anzusehen,
({2})
und wir werden weiter eine aktive Steuerpolitik zur Entlastung unserer Menschen betreiben, damit sie für ihre Leistung mehr Netto vom Brutto bekommen.
Herzlichen Dank.
({3})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 19/4723 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist offenbar nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich bitte die Kollegen, die kurzfristig den Plenarsaal verlassen wollen, das schnell zu tun.
Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Abgeordnete! Wir sehen religiös motiviertes Mobbing andersgläubiger Schüler durch muslimische Mitschüler. Wir sehen die herabsetzende Behandlung von Frauen bis hin zu Eifersuchts- und Ehrenmorden, Zwangs- und Kinderehen. Wir sehen muslimische Attentäter, die „Allahu akbar“ rufen. Wir sehen Verfolgung und Todesbedrohung von liberalen Muslimen – Ates, Abdel-Samad, Rushdie –, begründet von höchsten islamischen Autoritäten. Was ist der gemeinsame Hintergrund all dessen? Liegt eine quasi natürliche Gewaltneigung vor? Mitnichten. Dieser Hass, diese Respektlosigkeit, diese niedrige Schwelle zur Gewalt ist erlernt, diese Kriminalität ist ideologisch legitimiert, kulturell eingeübt, durch Anweisungen, Gebote, Aufrufe – Aufrufe aus dem Gründungsdokument einer Religion.
Wer den Islam aber allein als Religion versteht, der missversteht ihn. Er ist auch Gesellschaftsordnung und gewaltaffine Ideologie, die die Welt einteilt in höherwertige Gläubige und minderwertige Ungläubige, die zu bekämpfen sind. Etliche Weisungen im Koran rufen zu Straftaten auf. Wir hören da Kriegsaufrufe – „… kämpft, bis sämtliche Verehrung auf Allah allein gerichtet ist“, „Er ist es, der seinen Gesandten mit … der wahren Religion geschickt hat, damit er sie über alle anderen Religionen siegen lasse“, „… tötet sie, wo immer ihr sie findet“ – oder Aufrufe zur Gewalt gegen Frauen – „Wenn … Frauen sich auflehnen, … schlagt sie“ – bis hin zu ehelicher Vergewaltigung – „Eure Frauen sind für euch ein Saatfeld; geht zu eurem Saatfeld, wie ihr wollt“. Wir hören religiöse Diskriminierung –
({0})
„Allah hat die Ungläubigen verflucht und für sie die Flamme bereitet“ – bis hin zur Volksverhetzung –
({1})
„die Ungläubigen … sind die schlechtesten aller Geschöpfe“, „… schlimmer als das Vieh“.
({2})
Herr Kollege Curio, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. – Soweit solche Gebote – Sie haben gleich Gelegenheit, zu antworten; hören Sie sich erst mal den Antrag an – dem Grundgesetz und dem Strafgesetzbuch widersprechen, sind sie nicht einfach durch die Freiheit der Religionsausübung geschützt. Diese hebt mitnichten andere Rechtspflichten einfach auf, etwa die der Treue zum Recht. Auf die Strafbarkeit solcher Textstellen hinzuweisen, wäre ein erster Schritt. Oder soll solche Hetze jetzt Schulfach werden?
({0})
So würden vor unseren Augen neue Gefährder produziert. Erleben wir jetzt eine Vollverschleierung für unser Grundgesetz?
({1})
Herr Kollege Curio, Sie gestatten generell keine Zwischenfragen?
Ja. – Bei Millionen von Muslimen in Deutschland, bei Zigtausenden von Salafisten, islamistischen Gefährdern und schon im Kindesalter radikalisierten Muslimen, gefährden diese Texte den inneren Frieden, den viel berufenen Zusammenhalt. Zwei Drittel der europäischen Muslime finden die Vorschriften des Koran wichtiger als die Landesgesetze. Unsere Forderung, die Verbreitung solcher gesetzwidrigen Inhalte zu unterbinden, gibt der Bevölkerung die Rechtssicherheit, die für ein Zusammenleben unabdingbar ist.
({0})
In seiner uneingeschränkten Gestalt gehört der Islam – und die mit ihm untrennbar verbundene Scharia – nicht zum Rechtsstaat Deutschland.
({1})
Der Gedanke der Religionsfreiheit steht unserer Forderung nicht entgegen. Die Freiheit der Ausübung der Religion ist ja nicht Lizenz zum Bruch sonstiger Gesetze. Polygamie, Kinderehe, Zwangsheirat, Ehrenmord, Homophobie, Minderberechtigung und Züchtigung der Frau, Antisemitismus, Christenverfolgung, Steinigung, Enthauptung, heiliger Krieg finden ihre Rechtfertigung, ja ihren Grund in Weisungen des Islam.
({2})
Wer solche gesetzwidrigen Aufrufe aktuell propagiert, macht sich strafbar. Ihre religiöse Herkunft ändert daran nichts.
({3})
Ganz nebenbei: Polygamie ist nicht nur ungesetzlich, sie ist auch unsozial. Der Neubürger holt seine Zweit- und Drittfrau nach, der Altbürger darf sich zur Finanzierung einen Zweit- und Drittjob suchen.
({4})
Meine Damen und Herren, der einzelne Moslem mag sich von einem verfassungsfeindlichen Korsett emanzipieren können. Der Islam selbst aber, als gesellschaftliche Ordnung, steht in wesentlichen Inhalten unserer Verfassung wie auch der Menschenrechtscharta entgegen. Er ist in unsere Werteordnung nicht integrierbar. Etwa die Kairoer Erklärung muslimischer Staaten sagt:
Es gibt keine Verbrechen und Strafen außer den in der Scharia festgelegten.
Und das Demokratiedefizit islamischer Staaten ist kein Zufall, sondern zwingend angelegt. Die Türkei war eine Demokratie, solange sie nicht islamisch gesteuert wurde. Seit sie unter Erdogan reislamisiert wird, hört sie nicht zufällig auf, eine Demokratie zu sein.
({5})
Oder muss man das alles nur anders deuten? Nein, die Aufrufe im Koran sind unmittelbare Gottesworte, deshalb allgültig und im Wortlaut unveränderbar, nicht durch Interpretationen relativierbar. Der Koran sagt:
Es gibt keinen, der die Worte Allahs zu ändern vermag.
Und der einfache Moslem interpretiert nicht, er hört die Worte. Betrifft es vielleicht nur einen Islamismus? Nein, wie Erdogan sagt, es gibt keinen Unterschied zwischen Islam und Islamismus. Islamismus ist nur angewandter Islam. Der Islam gehört nicht zu Deutschland, weil er nicht zu unserem Rechtsstaat gehören kann. Ein toleranter Islam ist westliches Wunschdenken. Euroislam, deutscher Islam, demokratischer Islam sind leere Fantastereien von runden Quadraten und eckigen Kreisen.
({6})
Eine Studie unter muslimischen Schülern in Niedersachsen zeigt: 27 Prozent halten die Scharia für besser als deutsche Gesetze. 19 Prozent halten es für die Pflicht jedes Moslems, Ungläubige zu bekämpfen und den Islam auf der ganzen Welt zu verbreiten. 8 Prozent sind für die Ausbreitung des IS, 4 Prozent für Terroranschläge.
({7})
Die Verachtung Andersgläubiger ist genau die Einstellung, aus der Terrorismus entsteht; denn wer den Lebensstil einer Gesellschaft radikal ablehnt, sie als sündig empfindet, geht leichter gewalttätig gegen sie vor. Anis Amri handelte im Vollgefühl seiner Legitimation durch den Koran.
({8})
Der in der Schule gelehrte Koran und der von den Salafisten verteilte ist derselbe. Wäre etwa das jugendgefährdendste Medium heute dasjenige, wo ein reales Killerspiel geboten wird? Kein Moslem sollte sich mehr radikalisieren und für Gewaltverbrechen legitimiert fühlen können durch gesetzwidrige Lehren; deren Verbreitung sollte in Deutschland nicht länger erlaubt sein. Das ist jetzt Ihre Verantwortung. Wer gegen diesen Antrag stimmt, stimmt nicht etwa gegen die AfD,
({9})
er stimmt gegen das Grundgesetz und handelt gegen die Sicherheit unserer Bürger.
({10})
Es gibt Leute, die suggerieren wollen, Gewalt im Namen dieser Religion habe nichts mit dieser Religion zu tun. Aha, wer bei seinem Mord „Allahu akbar“ ruft, meint damit wohl gar nicht Allah? Die prägenden Ursachen zu verdrängen, ist denen wichtiger als die Opfer, wichtiger als bedrängte Homosexuelle, wichtiger als geschlagene Juden, wichtiger als mit Messerstichen ermordete Frauen. Diese Texte sind eben nicht harmlos, wie ihre Wirkung zeigt. Merkels Einladungspolitik hat hunderttausendfach Judenhass nach Deutschland importiert. Nach Holocaust und allen Nie-wieder-Schwüren ist solche Hofierung von Antisemitismus eine Schande, Frau Merkel.
({11})
Ist das also Merkels Motto: „Nach mir die Scharia!“?
({12})
Alltägliche Messergewalt, Angsträume für Frauen, für Juden, Mobbing deutscher Schüler, wachsende No-go-Areas: All das gab es vor Merkel nicht.
({13})
Wenn Merkel meint, der Islam gehöre zu Deutschland, gehöre zu unserem Rechtsstaat Deutschland, dann sagen wir: Der Islam gehört zu Merkel,
({14})
aber Merkel gehört nicht länger zu Deutschland.
Ich danke Ihnen.
({15})
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Patrick Sensburg, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer seriös über ernsthafte Themen diskutieren und debattieren will, der sollte erst einmal parlamentarische Gepflogenheiten einhalten,
({0})
sollte erst einmal Anträge so frühzeitig in den parlamentarischen Raum geben,
({1})
dass wir sie gemeinsam intensiv lesen können, debattieren können und dann auch diskutieren können.
({2})
Interessant ist ja, dass gestern Abend über Ihren Antrag, meine Damen und Herren von der AfD, „Focus“ schon berichtete – ich zitiere –:
AfD provoziert im Bundestag mit schlecht vorbereitetem Antrag gegen Muslime.
Es geht dann weiter – Zitat –:
Die AfD-Bundestagsfraktion will am Donnerstag eine Stunde lang über den Islam diskutieren. Die Parlamentarier der übrigen Fraktionen haben aber praktisch keine Chance, sich darauf vorzubereiten. Denn einen Tag vor der Debatte lag der Antrag immer noch nicht vor.
({3})
Das haben Sie wohl auch gelesen, als Sie dann Ihren Antrag noch einmal in der Nacht von gestern auf heute verändert haben. 8.50 Uhr war er dann in der aktuellen Form hochgeladen.
({4})
8.50 Uhr vor der aktuellen Debatte – da würde ich doch um ein bisschen parlamentarische Kollegialität bitten, wenn man über ernsthafte Themen reden möchte.
({5})
Herr Kollege Sensburg, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber sehr gerne. Anders als bei der AfD mögen wir die Debatte.
({0})
Werter Herr Dr. Sensburg, nun ist es so, dass CDU/CSU und SPD zu Punkt 9 der Tagesordnung einen Antrag zum europäischen Bildungsraum gesetzt haben, der erst gestern gegen 12 Uhr verschickt worden ist. Glauben Sie, dass der Ansatz einer späten Versendung von Anträgen zu wichtigen Themen – oder halten Sie den europäischen Bildungsraum nicht für ein wichtiges Thema? – bei der Union besser gerechtfertigt sei als bei der AfD? Glauben Sie, dass sich eine Fraktion an parlamentarische Gepflogenheiten halten muss, während im übrigen Haus – das ist eine große Kritik an alle – Fristen bzw. Gepflogenheiten existieren, die in jedem Kreistag besser geregelt sind? Was hier an Anträgen in letzter Minute hereinkommt, von allen möglichen Fraktionen, kann nicht mehr sinnvoll bearbeitet werden.
({0})
Deswegen meine Frage an Sie, die Sie hier schon länger sitzen: Wie bewerten Sie diese parlamentarischen Gepflogenheiten, die die Union selbst pflegt?
({1})
Der Unterschied ist – das sage ich Ihnen auch als Vorsitzender des Geschäftsführungsausschusses und als Mitglied des Ältestenrates –, dass wir den von Ihnen erwähnten Antrag in den Ausschüssen intensiv debattiert haben, während der Antrag, der von der AfD eingebracht worden ist, gestern im Rechtsausschuss noch nicht einmal den Mitgliedern Ihrer Fraktion bekannt war.
({0})
– Da brauchen Sie nicht den Kopf zu schütteln. Ich habe gestern im Rechtsausschuss die Frage gestellt, ob die Mitglieder der AfD im Rechtsausschuss den Antrag der AfD kennen, ob sie etwas dazu sagen können. Ich hätte ihn als Redner heute gerne gehabt.
({1})
Ihre Fraktionsmitglieder im Rechtsausschuss haben gesagt, dass sie ihn nicht kennen. Von daher ist der Unterschied schon sehr deutlich.
({2})
Im Ältestenrat diskutieren wir regelmäßig über die verspätet eingereichten Anträge der AfD. In der Presse können Sie inzwischen nachlesen, dass es anscheinend Methode hat. Vielleicht denken Sie einmal über Ihre Praxis nach. Wir alle denken über die Praxis nach und achten darauf, dass wir die Gepflogenheiten einhalten: 24 Stunden vor der Debatte. Aber 8.50 Uhr am heutigen Morgen sind nicht 24 Stunden. Dies dient auch nicht diesem ernsthaften Thema.
({3})
Herr Kollege Sensburg, der Kollege Nouripour möchte auch noch eine Zwischenfrage stellen.
Gerne. Ich bekomme halt so viele Zwischenfragen.
Bitte, Herr Kollege Nouripour.
Herzlichen Dank, Herr Kollege Sensburg, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Als einer, der sich von den Worten des Kollegen persönlich sehr betroffen fühlt und der das Gefühl hat – um es jetzt einmal in seinen Worten zu sagen –, es kann sein, dass einzelne AfD-Mitglieder so tun, als würden sie zum Grundgesetz stehen, aber die AfD an und für sich steht nicht zum Grundgesetz,
({0})
habe ich zwei Fragen, die wir ihm hier nicht stellen konnten.
Hier war die ganze Zeit von der Scharia die Rede. Es gibt aber ganz viele Arten von Scharia. Unser Job hier ist, dafür zu sorgen, dass die Teile, die mit dem Grundgesetz vereinbar sind, auch angewendet werden können, aber diejenigen nicht, die dies nicht sind. Meine erste Frage ist: Meint der Kollege die Reclam-Ausgabe, wenn er von der Scharia spricht? Wissen Sie, wovon er redet?
Die Geschichte des Islam ist eine ganz lange Geschichte von Interpretationsmöglichkeiten. Bis Ende des 19. Jahrhunderts gab es unter jedem Gutachten einen Satz, der lautete: Wie es aber wirklich ist, weiß nicht der Mensch, sondern nur der Gott der Gläubigen. – Jetzt gibt es zwei Gruppen, die ausschließlich eine einzige Art und Weise der Interpretation rekurrieren. Das sind die Islamisten und die AfD. Die zweite Frage ist: Glauben auch Sie, dass die AfD eigentlich das Spiel der Islamisten spielt und dass sie einander brauchen?
({1})
Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Zwischenfrage. – Auch ich habe mich, als ich den Antrag gelesen habe – erstmals gestern Abend und auch heute noch einmal –, gefragt: Was ist die Zielrichtung? Es wird weitgehend vermengt und durcheinandergeworfen. Es wird Angst geschürt. Auch werden die unterschiedlichen Formen des Islam – Sunniten, Schiiten, Aleviten – gar nicht differenziert. Das wäre so, als würde man bei der AfD sagen: Alle sind rechtsradikal, alle sind rechtsextrem. – Das ist ja nicht der Fall.
({0})
Auch bei Ihnen gibt es zahlreiche Vernünftige,
({1})
die wahrscheinlich mit den anderen gar nicht in einen Topf geworfen werden wollen. Wenn ich Ihre unterschiedlichen Debatten in der Fraktion erlebe, denke ich, dass mancher in der AfD sicherlich der Meinung ist: Mit dem einen oder anderen möchte ich nicht gleichgesetzt werden. Von daher ist es grundsätzlich falsch, alles zusammenzuwerfen, zu vermengen.
({2})
Wenn ich dann noch sehe, dass der Antrag der AfD – eigentlich der alten Partei; wenn ich Ihren Altersdurchschnitt und Ihre politische Erfahrung in früheren Parteien sehe, dann muss ich sagen, dass Sie politisch erfahren sind – völlig inhaltslos ist, formal zu spät kommt und Sie damit beantragen – ich zitiere aus Ihrem Antrag –, dass geeignete Maßnahmen ergriffen werden sollen, die Verbreitung von im Koran enthaltenen gesetzeswidrigen Inhalten und Aufrufen zu unterbinden, dann muss ich sagen: Wir reden von einem religiösen Schriftstück aus dem 6./7. Jahrhundert. Wie kann man etwas so undifferenziert beantragen. Ich habe vorhin einmal dazwischengerufen: Sollen jetzt hier Textpassagen geschwärzt werden, oder was stellen Sie sich vor? – Das zeigt schon, meine Damen und Herren, dass Ihr Antrag überhaupt nicht debattenfähig ist.
({3})
Danke also für die Zwischenfrage.
({4})
Die AfD hätte in den vergangenen Jahren Lösungsansätze bieten können. Aber da ist seit 2014 nicht viel gekommen. Ich habe mir einmal Ihre unterschiedlichen Anträge herausgesucht: zur Paralleljustiz, Hamburg 2016, zum islamischen Religionsunterricht, Berlin 2017. Der Antrag ist übrigens in weiten Teilen wortgleich mit diesem Antrag. Sie können das ja einmal vergleichen. Dann gibt es einen Antrag zum Islamischen Jugendzentrum, Berlin 2018, und einen zur Parallelgesellschaft in NRW aus dem Jahr 2018. Das war es. Mehr habe ich bei Ihnen nicht gefunden.
Sie selbst schreiben doch in Ihrem Antrag, was man machen könnte. Sie nennen die Paragrafen, die wir haben und die auch greifen: § 111 StGB steht in Ihrem Antrag: Öffentliche Aufforderung zu Straftaten, § 126 StGB steht in Ihrem Antrag: Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten, § 185 StGB: Beleidigung, § 130 StGB: Volksverhetzung, § 172 StGB: Doppelehe. Das alles steht in Ihrem Antrag. Das Instrumentarium, das, was wir haben, das greift, das funktioniert. Sie haben das selbst in Ihrem Antrag geschrieben; das ist ja das Schräge. Wenn der Kollege Dr. Curio von diesen Strafbarkeiten redet, dann hat er sie in dem eigenen Antrag auch gesehen. Er weiß aber auch: Wir haben das strafrechtliche Instrumentarium, um hier dagegenzuwirken.
Wir können auch über weitere Dinge reden. CDU und CSU gemeinsam haben dieses Thema schon viel länger auf dem Schirm als Sie.
({5})
– Hören Sie doch einmal zu! Sie verstehen das doch sonst gar nicht.
({6})
Das sind zum Beispiel Fragen der Abschöpfung bei Scharia-Richtern, wie wir die Geldzahlungen, die beispielsweise im Clanbereich gezahlt werden, abschöpfen können.
Es gab in den letzten Jahren eine Vielzahl von Vereinsverboten, gestützt auf die rechtlichen Grundlagen. Ich kann sie Ihnen gar nicht alle vorlesen, weil dafür meine Zeit zu kurz ist. Ich fange nur einmal 2012 an: Millatu Ibrahim: verboten; unanfechtbar geworden. Wir haben Dawa FFM einschließlich der Teilorganisation Internationaler Jugendverein Dar al-Schabab 2013 verboten; al-Nusra 2013; Dawa Team Islamische Audios 2013; Waisenkinderprojekt Libanon e. V. 2014, weil verfassungswidrig; „Islamistischer Staat“ 2014; Tauhid Germany 2015; Die wahre Religion, DWR, 2016. Also: Das Instrumentarium wirkt.
Wir könnten auch noch viel weiter gehen. Auch das machen wir, in NRW beispielsweise mit dem Projekt „Wegweiser“ – ich weiß nicht, ob Sie das kennen; vielleicht die Kollegen aus NRW –, mit dem wir versuchen, der Radikalisierung sehr frühzeitig entgegenzuwirken. Das sind Maßnahmen, die etwas bringen – nicht Spaltung, nicht Polarisierung, nicht blinder Populismus und gegen Religion wettern, sondern Maßnahmen bringen.
({7})
Was hat die CDU in den letzten Jahren gemacht? Einen Fraktionskongress im Jahre 2012 – da haben sich die meisten von Ihnen mit diesem Thema noch gar nicht beschäftigt – zum Thema „Islamistische Paralleljustiz in Deutschland? – Eine Herausforderung für den Rechtsstaat?“.
Wir hatten im Jahre 2012 eine eigene Stelle im Haushalt des Bundesministeriums der Justiz, die sich mit dem Phänomen Paralleljustiz beschäftigt hat. 2016 gab es einen weiteren Fraktionskongress. Im Koalitionsvertrag ist auf Seite 133 festgehalten, dass wir illegale Paralleljustiz nicht dulden werden.
({8})
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich informieren wollen – meine Redezeit ist jetzt zu Ende –: Lesen Sie Aufsätze von mir zu neuen Kriminalitätsphänomen im Zeichen der Parallelgesellschaft in der „Deutschen Richterzeitung“ 2/2016 nach, zur Parallelgesellschaft 2015. Meine Damen und Herren von der AfD, ein solcher Antrag geht nicht.
({9})
Arbeiten Sie im Parlament mit! Seien Sie seriös mit Ihren Anträgen, wenn es wirklich um ernste Themen geht! Spalten Sie nicht das Land, sondern arbeiten Sie gemeinsam an Lösungen mit, zumindest diejenigen von Ihnen, die das wollen!
Danke schön.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Martens, FDP.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben uns gefragt, warum dieser Antrag erst so spät eingebracht worden ist, in der Tat ungebührlich spät eingebracht worden ist. Da kommt man ins Überlegen: Wann ist dieser Antrag wohl formuliert worden? Ich will das nicht zeitlich, sondern inhaltlich eingrenzen: Dieser Antrag kommt aus finsterster Nacht.
({0})
Wir hören Aussagen: Der Koran als solches gefährdet den inneren Frieden. – Lassen Sie mich einmal etwas doch Antikeres entgegenhalten: Du sollst nichts Falsches gegen deinen Nächsten aussagen.
({1})
Der Antrag reißt willkürlich Zitate aus dem Koran und reiht sie nebeneinander, ohne irgendeine Erklärung, ohne Kontext, ohne Bezug und ohne historische Erläuterung, und das mit 1 500 Jahre alten Textteilen, die aus einem anderen kulturhistorischen Hintergrund kommen. Es ist schon gewagt, meine Damen und Herren, wenn man damit aktuell ernsthaft Politik betreiben möchte.
({2})
Das Ganze soll dann das Wesen des Islam und das Verhalten aller gläubigen Muslime belegen. Aber das hat mit den tatsächlichen Verhältnissen in diesem Land und auch in Europa nichts zu tun.
({3})
Jede Religion hat es verdient, nach ihrem tatsächlichen Erscheinen und Handeln, nicht nach irgendwelchen Zitaten aus ihren grundlegenden Schriften beurteilt zu werden.
({4})
Ansonsten können wir das auch mit dem Christentum machen. Das ist seit 1 500 Jahren reichlich gewalttätig gegen Andersgläubige unterwegs. Das wird sich nicht bestreiten lassen. Da gibt es Zitate zu Gewaltverherrlichung, Frauenfeindlichem und Homophobem en masse.
So spricht der Herr: Siehe, ich will Unglück über dich bringen in deinem eigenen Hause und will deine Weiber nehmen vor deinen Augen und will sie deinem Nächsten geben, dass er bei deinen Weibern schlafen soll an der lichten Sonne.
2. Samuel, Kapitel 12, Vers 12.
Oder etwas Homophobes:
Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Gräuel ist, und sollen beide des Todes sterben.
3. Buch Mose, Kapitel 20, Vers 13.
Meine Damen und Herren, wollen Sie deswegen vielleicht eine Inhaltsbereinigung der Bibel verlangen? Natürlich nicht, sondern Sie beschränkten sich hier auf den Koran. Sie betreiben islamophobe Demagogie, wenn etwa Herr Dr. Curio hier davon spricht, der Islam sei Hintergrund kulturell eingeübter Kriminalität.
Herr Kollege Martens, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen.
Wir müssen den Islam nicht nach dem Koran bewerten, sondern wir können auch danach gehen, wie er sich in der Welt zeigt. Es gibt 57 Staaten, die mehrheitlich muslimisch sind. In welchen davon würden Sie gerne leben, und in welchem davon ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau oder von Homosexuellen oder Heterosexuellen so hergestellt wie hier?
({0})
Es gibt in der Tat Länder, in denen erhebliche Fortschritte gemacht wurden, auch im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit und die Verfassungsmäßigkeit. Es gibt einige Länder, in denen ich bestimmt nicht leben wollte. Es gibt aber genügend christlich-abendländisch geprägte Länder, in denen ich auch nicht leben möchte.
({0})
Wir unterhalten uns heute über unser Land, über die Bundesrepublik, und die möchte ich so sehen, wie sie unser Rechtsstaat und unsere Verfassung gestaltet haben und nicht in dem Sinne verändert, wie Sie sich das vorstellen,
({1})
indem wir religiöse Schriften staatlicherseits eingrenzen, verändern oder am besten verbieten lassen.
({2})
Und noch eins – Herr Kollege, Sie müssen stehen bleiben, solange ich Ihnen antworte –: Der Rechtsstaat, von dem Sie hier gesprochen haben, muss sich, ja er darf sich nicht in der von Ihnen gewünschten Weise betätigen. Religionsfreiheit bedeutet, dass du glauben kannst, was du willst.
({3})
Aber handeln darfst du nur in den Grenzen des Rechts.
({4})
Es ist völlig egal, ob ein Moslem seine Ehefrau unter Berufung auf den Koran schlägt oder ob ein evangelikaler Christ seine Kinder unter Hinweis auf ein biblisches Züchtigungsrecht verprügelt. Beide bekommen es mit dem Rechtsstaat zu tun, und zwar in Gestalt des Staatsanwalts.
({5})
Und das wissen Sie. Deswegen kommt am Ende des Antrags nur die hilflose Forderung, die Bundesregierung solle geeignete Maßnahmen ergreifen, die Verbreitung von im Koran enthaltenen gesetzwidrigen Inhalten und Aufrufen zu unterbinden. Vulgo: Sie fordern ein Koranverbot, meine Damen und Herren. Aber das wäre so offenkundig verfassungswidrig, dass Sie sich gar nicht trauen, das auszusprechen. Sie vertrauen stattdessen darauf, dass das bei Ihrer Kundschaft als Metatext unausgesprochen ankommt.
({6})
Lassen Sie sich eines sagen: Angesichts der in Bayern kurz bevorstehenden Wahlen wollen Sie noch mal einen Kracher zünden – meinetwegen –, aber Sie zünden keinen Kracher, Sie werfen einen Brandsatz mitten in unsere Gesellschaft, und das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Sie lösen keine Probleme, Sie spalten, Sie diffamieren.
({7})
Meine Damen und Herren von der AfD, Sie haben eine Verantwortung als Abgeordnete, und zwar für das gesamte Volk.
({8})
Dieser Verantwortung – das zeigen Sie überdeutlich – werden Sie in keiner Weise gerecht.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich wollte ich mich mit dem Antrag der AfD inhaltlich überhaupt nicht auseinandersetzen, so schwachsinnig, so dumm und so plump, wie er ist. Aber nach den einführenden Worten des Herrn Curio, der in einer heuchlerischen, verhetzenden und völkischen Form versucht, diesen Antrag hier in diesem Hohen Hause zu platzieren, stelle ich fest: Diesem Geschwätz muss etwas entgegengesetzt werden.
({0})
Werte Kolleginnen und Kollegen, vielleicht ist dem einen oder anderen aufgefallen, dass auf den wunderschönen Stellwänden rechts und links hier im Saal als Überschrift zu diesem Tagesordnungspunkt – vermutlich ein Freud’scher Versprecher – „Islam“ steht, aber dieses Hohe Haus hat weder die Aufgabe noch die Zuständigkeit, eine religionspolitische Debatte zu führen oder sich gar als Religionspolizei, wie wir sie aus anderen Ländern kennen, zu gerieren.
({1})
Sie suggerieren mit Ihrem Antrag bewusst ganz subtil, dass in unserem Land Paralleljustizsysteme bestehen
({2})
und unser Rechtsstaat, auf den wir alle nicht nur setzen, sondern auf den wir vertrauen können, in unserem Land nicht gelte. Aber wir haben einen Rechtsstaat mit den dazugehörigen Regelungen, und die sind gut, die sind richtig, und die sind notwendig.
({3})
Ich sage ganz deutlich: Der vorliegende Antrag, den ich fast als Putzlappen bezeichnet hätte, beruht nur auf Vermutungen und auf diffusen Ängsten. Es liegen keine qualitativen Studien zugrunde. Der Autor der einzigen Studie, auf die sich bezogen wird, betont, dass nur eine Minderheit deutscher Muslime überhaupt fundamentalistische Einstellungen hat. Damit behaupten Sie in Ihrem Antrag bewusst die Unwahrheit, und das bezeichnet man in diesem Land als Lüge.
({4})
Sie bringen es tatsächlich fertig, innerhalb von zwei Wochen zum einen die Religionsfreiheit infrage zu stellen und zum anderen die Ehe für alle wieder aufheben zu wollen. Gleichzeitig führen Sie Homophobie in diesem Hause als Kronzeugen auf, was dazu herhalten soll, eine Religion in unserem Lande von der Religionsfreiheit auszuschließen. Das geht nicht, das darf nicht sein, und das dürfen wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
({5})
Meine Kolleginnen und Kollegen, wir haben in diesem Land Parallelgesellschaften. Das stellen wir heute fest.
Herr Kollege Brunner, der Kollege Hampel möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein, das will ich jetzt nicht.
Gut.
Es gibt Parallelstrukturen. Es gibt nämlich diejenigen, die althergebrachte Traditionen für viel wichtiger halten als den Rechtsstaat, für wichtiger halten als unsere Verfassung. Es gibt Menschen in diesem Land, die angeblich ständig unter dem psychischen und sozialen Druck stehen, dass sie als Inländer ausgegrenzt seien. Die Kriminalstatistiken zeigen, dass der entsprechende Personenkreis immer größer wird. Wir wissen, dass ein solches Auftreten guten Manieren und erst recht unseren christlich-abendländischen Traditionen widerspricht. Ein Blick nach Chemnitz zeigt dies deutlich. Sie leben in ständiger Furcht vor anderen Minderheiten, vor Homosexuellen, vor Migranten, vor Juden, vor Frauen und, und, und; ich glaube auch vor uns Parlamentarierinnen und Parlamentariern. Und obwohl sie Angst und sogar in manchen Teilen Gewalt verbreiten, schauen in diesem Land noch viel zu viele Menschen schlichtweg weg. Diese armen Geschöpfe – so möchte ich sagen – bringen einiges durcheinander. Lassen Sie uns deshalb nicht wegschauen. Lassen Sie uns zusammenstehen gegen die wöchentliche Hetze in diesem Haus und in unserem Land. Hier rechts sitzt diese Hetze.
({0})
Wir haben es mit Anträgen zu tun, die aus meiner Sicht offen rassistisch und, was besonders wichtig ist, undemokratisch sind.
({1})
Sie werfen einer Gesellschaftsgruppe pauschal vor, Recht und Verfassung nicht zu achten. Sie unterstützen nicht, sondern Sie hintertreiben die Integrationsarbeit, die gute Arbeit unserer Polizei und unserer Justiz, die eigentlich unsere Unterstützung benötigen.
({2})
Sie zeigen Scheinlösungen auf, wie es Ihnen in den Kram passt. Sie wollen keine Religionsfreiheit, sondern eine Religionspolizei.
Ich sage ganz deutlich: Ich persönlich bin es leid, mich ständig mit diesem Mist zu befassen. Wir sollten nun, auch Sie, endlich zu dem kommen, wozu wir hier vom deutschen Volk entsandt sind, nämlich ordentliche Arbeit im Arbeitsparlament der Bundesrepublik Deutschland, im Deutschen Bundestag, zu tun.
Vielen Dank.
({3})
Jetzt erteile ich dem Abgeordneten Hampel, AfD, das Wort zu einer Kurzintervention.
Herr Dr. Brunner, um auf den Mist zurückzukommen, den Sie gerade angesprochen haben: Ich habe den Eindruck, dass in diesem Hause zu einem großen Teil eine Realitätsverweigerung stattfindet.
({0})
Um in Ihren Reihen und auch in den Reihen Ihrer Vorredner für etwas Aufhellung zu sorgen: Wären Sie bereit für ein gemeinsames Treffen mit den inzwischen Hunderten oder Tausenden Angehörigen der Opferfamilien, um ihnen Ihren Standpunkt, den Sie gerade dargestellt haben, auseinanderzusetzen? Ich glaube, dann hören Sie andere Töne als die gemäßigten Töne der AfD in diesem Hause.
({1})
Herr Kollege Brunner, möchten Sie antworten?
({0})
Dann erteile ich als nächstem Redner das Wort dem Kollegen Friedrich Straetmanns, Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Zur Beratung steht der Antrag der AfD-Fraktion zum Thema Islam und die angeblich untrennbar mit ihm verbundene Scharia. Es ist wieder ein Antrag, der spät kam und der dem Parlament am besten erspart geblieben wäre, ein Antrag, dessen Ziel unpräzise mäandert zwischen Religionspolitik und Berufung auf Rechtsstaatlichkeit.
Konzentrieren wir uns für die Analyse dieses Antrags einmal auf Letzteres. Dieser Antrag zeigt mal wieder: Die AfD hat tiefgreifende Probleme, unsere rechtsstaatliche Ordnung zu verstehen.
({0})
Dabei befassen sich Ihre Mitglieder doch nahezu täglich selbst mit dem Austesten der rechtlichen Grenzen und sollten Erfahrung damit haben, wie der Rechtsstaat verfährt. Deshalb sollten auch Sie inzwischen die Definition der demokratischen Grundprinzipien ebenso verstanden haben wie die Frage, was in diesem Land erlaubt und was verboten ist. Wenn die Initiatoren des Antrags das selbst nicht wussten, könnte eventuell Herr Brandner versuchen, eine kleine Vorlesung dazu zu halten – Herrn Brandners Name findet sich auf diesem juristisch mangelhaften Antrag nicht; warum?
({1})
Das, was Sie als Appell formulieren, ist schlicht überflüssig.
Angesprochen wurde: Durch das Bundesministerium des Innern wurden 20 Vereinsverbote in den letzten Jahren ausgesprochen. Sieht so fehlende Aktivität aus? Wohl nicht.
Wieder einmal belästigen Sie uns mit einem schlampigen Antrag, den Sie aus durchsichtigen, auf Ihrer Ideologie fußenden Gründen stellen. Vielleicht versuchen Sie es zur Abwechslung mal mit der Realität. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gibt da klare Hinweise. Artikel 4 des Grundgesetzes:
Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
Daraus folgt das staatliche Neutralitätsgebot. Eine Religionsgemeinschaft darf ihren Glauben nach innen leben, soweit dies ohne Zwang und im Einklang mit der Rechtsordnung geschieht. Mehr noch, es ist den staatlichen Stellen untersagt, Glaubensinhalte vor dem Hintergrund eines Verbots als richtig oder falsch zu bewerten, selbst wenn diese mit grundlegenden Verfassungsprinzipien in Widerspruch stehen. Aber sobald jemand aus seiner Religion Verhalten ableitet, das mit der Rechtsordnung des Grundgesetzes in Widerspruch steht, findet das Grundrecht der freien Religionsausübung eine unüberwindliche Schranke in der allgemeinen Rechtsordnung.
({2})
Ich darf hierzu meinen früheren Bielefelder Staatsrechtslehrer und ehemaligen Verfassungsrichter, Professor Dr. Grimm, in der „FAZ“ vom 22. April 2016, zitieren:
Kein Glaube muss mit dem Grundgesetz vereinbar sein, aber nicht alles, was ein Glaube fordert, darf unter dem Grundgesetz verwirklicht werden.
Mit dem hier Gesagten dürften doch die Mängel Ihres Antrags offensichtlich sein.
({3})
Sie hätten sich entscheiden müssen, rechtlich oder religionspolitisch zu argumentieren. Beides ist Ihnen misslungen. Es ist eine Frechheit, den Bundestag mit einem solchen wirren Antrag zu überziehen. Auch ein Eiferer wie Sie, Herr Curio, sollte sich zumindest die Mühe machen, anhand der existierenden Rechtsordnung zu argumentieren.
Vielen Dank.
({4}) – Zuruf von der LINKEN: Setzen, sechs!)
Nächste Rednerin ist die Kollegin Filiz Polat, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag der FDP, – äh, AfD
({0})
stellt eine ganze Glaubensgemeinschaft unter Generalverdacht.
({1})
Er stellt das Grundrecht auf Religionsfreiheit infrage. Solche Anträge, meine Damen und Herren – das haben wir auch in der Rede des Kollegen gehört –, sind voller Hetze und Rassismus und sind brandgefährlich.
({2})
Auf Worte folgen oft abscheuliche Taten, meine Damen und Herren.
Das Feindbild „Islam und Muslime“ ist seit geraumer Zeit eine wichtige Bindekraft der Rechtsradikalen und des Rechtspopulismus in ganz Europa geworden.
({3})
Die Folge: Viele Muslime werden zunehmend diskriminiert und ausgegrenzt, viele Muslime fühlen sich bedroht in unserem Land. Jeder Dritte, jede Dritte ist Opfer von Diskriminierung. Allein im Jahr 2017 gab es nach Angaben des Bundesministeriums des Innern 1 069 Angriffe auf Muslime oder muslimische Einrichtungen, Herr Gauland. Der Großteil aller politisch motivierten Delikte sind doch rechte Straftaten.
({4})
Von der Gesamtzahl von fast 40 000 Straftaten im Jahr 2017 wurden 20 520 Fälle Rechtsextremisten zugeordnet. Moscheen werden mit Schweineblut beschmiert oder angezündet.
Sie gehen in Ihrem Antrag genauso vor – das wurde auch schon gesagt – wie die, die Sie immer kritisieren, die Islamisten selbst. Ihr Islambild, Ihre Lesart und Ihre Zitierweise des Korans sind so schriftgläubig wie ein salafistischer Prediger.
({5})
Ich verweise nur auf Ihr Potpourri von Koranzitaten. Genau wie ein Salafist leugnen auch Sie die Notwendigkeit der historischen Exegese des Islam. Sie ignorieren die Vielfalt des islamischen Lebens und der islamischen Theologie nicht zuletzt auch in Deutschland. Sie sagen, islamistische Attentäter berufen sich zur Rechtfertigung ihrer Taten auf den Islam bzw. Gebote des Korans. Aber, meine Damen und Herren, Anders Breivik bezeichnete sich als hundertprozentigen Christen. Das allein ist also kein Argument für Ihre kruden Thesen.
({6})
Der Kulturkampf, den die AfD mit ihrem Antrag heraufbeschwört, ist kein Mittel des Rechtsstaates, sondern verstößt seinerseits diametral gegen unsere Grundwerte,
({7})
gegen die Menschenrechte, die Freiheits- und Gleichheitsrechte unseres Landes. Der inquisitorische Eifer Ihres Antrages ist mittelalterlich, Herr Gauland.
({8})
Ich frage mich deshalb, was der Antrag eigentlich – und das wurde auch schon gesagt – unter geeigneten Maßnahmen, die religiösen Inhalte „zu unterbinden“, verstehen mag, wozu die Bundesregierung aufgefordert werden soll. Glühende Kohlen und Daumenschrauben bis zum Abschwören vom Koran? Aber mal im Ernst, Ihre Forderung nach der Unterbindung der Verbreitung religiöser Inhalte auch innerhalb der Religionsgemeinschaft geht erkennbar und weit über die Regelungen in Artikel 140 des Grundgesetzes hinaus. Glaubensinhalte können nicht untersagt werden, sondern ausschließlich Handlungen von Religionsgemeinschaften. Hier ist der deutsche Rechtsstaat ganz klar – das haben die Kollegen, gerade erst der Kollege von der Linken, deutlich gemacht –: Wer im Namen von wem auch immer aggressiv-kämpferisch gegen die Rechtsordnung vorgeht, wer gegen Gesetze verstößt, wer sich strafbar macht, wird dafür mit rechtsstaatlichen Mitteln zur Verantwortung gezogen – da kann sich niemand hinter der Religionsfreiheit verstecken.
Meine Damen und Herren, Muslimas und Muslime, davon viele mit deutscher Staatsbürgerschaft, sind seit langer Zeit selbstverständlich Bestandteil des sozialen und kulturellen Miteinanders in Deutschland, auch in diesem Parlament im Übrigen.
({9})
Deutschland ist ein religiös und weltanschaulich vielfältiges Land, und das ist auch gut so. Das müssen wir schützen, – nicht vor dem Islam, sondern, ich glaube, vor der AfD.
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Wir müssen ethnischen und religiösen Minderheiten in unserem Land mit Anerkennung und Wertschätzung begegnen. Meine Damen und Herren, ich wünsche mir, unsere Fraktion wünscht sich mehr Austausch und die Bereitschaft zur gegenseitigen Akzeptanz, ein starkes Bekenntnis zu einer solidarischen Gesellschaft und ein gemeinsames Suchen nach Antworten auf die Herausforderungen einer multireligiösen, aber säkularen Gesellschaft.
Dafür werden wir im Übrigen in Berlin am Samstag wieder mit Tausenden Menschen auf die Straße gehen. Meine Damen und Herren, wir sind mehr, wir sind unteilbar.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner ist der Kollege Alexander Hoffmann, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In hitziger Debatte erleben wir heute einen typischen AfD-Antrag: mit heißer Nadel gestrickt, kurz vor knapp auf die Schreibtische gekommen.
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– Warum schlägt denn gleich der Puls so hoch? Ich habe ja noch gar nicht richtig angefangen.
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Weil das regelmäßig bei Ihren Anträgen passiert – es ist nämlich nicht so, dass das jetzt ein Mal passiert ist, sondern im Rechtsausschuss erleben wir das regelmäßig –,
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will ich grundsätzlich etwas dazu sagen. Es gibt eigentlich ja nur zwei Möglichkeiten: Entweder Sie machen das aus voller Absicht; dann muss man aber sagen, dann liegt Ihnen offensichtlich Sacharbeit nicht am Herzen. Der zweite Grund könnte allerdings sein, dass es Ihnen in Ihrer Fraktion schlichtweg an Leistungsfähigkeit mangelt. Am Ende des Tages ist es eigentlich egal, weil beides eine Erklärung dafür wäre, warum Sie hier bislang noch nicht durch qualitativ hochwertige Sacharbeit aufgefallen sind.
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Es gibt noch ein zweites Kennzeichen, woran man den AfD-Antrag erkennt: Es genügt ein Blick auf die Überschrift, eine Überschrift aus zwei Zeilen mit eigentlich schon zwei Falschbehauptungen. Ich will konkret werden. In der ersten Hälfte sagen Sie, die Scharia sei untrennbar mit dem Islam verbunden. Dazu muss ich ganz ehrlich sagen: Vielleicht haben Sie es nicht mitbekommen, aber wir haben über 4 Millionen Muslime in diesem Land, und ein Großteil von denen hat mit dem Scharia-Recht überhaupt nichts zu tun. Es ist ihnen nicht einmal bekannt. Im Übrigen ist es so, dass in der Scharia selbst davon ausgegangen wird, dass das ein Regelwerk ist, das dem Wandel unterworfen ist.
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Herr Curio, auch das haben Sie vergessen zu erwähnen.
Und dann kommt der Oberhammer: Sie haben Verse aus einer Sure vorgelesen. Da kann ich Sie nur fragen – der Kollege Martens hat das vorhin schon gemacht –: Kennen Sie eigentlich die Bibel? Wer die Bibel kennt, der weiß, dass zum Beispiel im 3. Buch Mose, Kapitel 20, steht:
Ein Mann, der mit der Frau seines Nächsten die Ehe bricht, wird mit dem Tod bestraft, der Ehebrecher samt der Ehebrecherin.
Und in Matthäus 15 steht:
Wer Vater oder Mutter verflucht, soll mit dem Tod bestraft werden.
Auch dort ist es so, dass Sie die Realität ausblenden oder lieber verschweigen; denn ich gehe davon aus, dass viele von Ihnen wissen, wie der Koran zu lesen ist, wie die Bibel zu lesen ist, wie zum Beispiel auch die Thora zu lesen ist, nämlich immer zu lesen und zu verstehen im Lichte ihrer Zeit. Stattdessen, Herr Curio, spalten Sie hier, hetzen Sie hier; Sie machen Stimmung, und am Ende haben Sie nicht einmal den Schneid, eine Zwischenfrage zuzulassen.
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Jetzt kommen wir zur zweiten Hälfte Ihrer Überschrift. Darin sagen Sie: Islam und Scharia haben im Rechtsstaat keinen Platz. Dazu sage ich: Wahnsinn! Sie formulieren eine Selbstverständlichkeit, für die ich die AfD nicht gebraucht hätte;
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denn – der Kollege Sensburg hat es vorhin ausgeführt – das beschäftigt uns in der deutschen Politik schon seit Jahren, gerade weil wir das nicht auf die leichte Schulter nehmen und das nicht kleinreden wollen. Auch ich habe Ihnen eine kleine Liste mitgebracht: Es gibt seit 2011 die Arbeitsgruppe „Paralleljustiz“. Das ist im Übrigen eine bayerische Initiative. Das Thema stand schon mehrfach auf der Agenda der Justizministerkonferenz. Es gibt ein Bayerisches Integrationsgesetz, in dem es in Artikel 14 um das Unterlaufen der verfassungsmäßigen Ordnung geht. Auch hier, in diesem Haus, haben wir uns massiv mit all diesen Fragen beschäftigt. Ich darf nur erinnern an die Diskussion über die Frage der Nichtigkeit von Kinderehen. Auch da konnten wir eine Lösung finden, ohne dass wir Sie dazu gebraucht hätten.
Wenn wir uns, gerade vor dem Hintergrund, das nicht kleinreden zu wollen, bestimmte Vorfälle anschauen, zum Beispiel den Vorfall mit der Scharia-Polizei in Wuppertal, dann erkennen wir, dass der Rechtsstaat höchstwahrscheinlich sehr gut funktioniert. Die Urteile des Landgerichts Wuppertal sind vom BGH aufgehoben worden. Wir werden sehr genau hinschauen, ob es noch Regelungslücken gibt.
Ich glaube, dass man diesem Thema sachlich begegnen sollte, weil wir, zugegebenermaßen, in schwierigen Zeiten leben. In diesen schwierigen Zeiten sollten wir alle hier eine gemeinsame Mission haben, nämlich, die Gesellschaft nicht zu spalten. Da haben Sie heute leider einen ganz anderen Eindruck hinterlassen.
Vielen Dank.
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Zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Baumann das Wort.
Um noch einmal eine Sache klarzustellen: Hier ist mehrfach die Mär verbreitet worden, der Antrag sei sehr spät eingegangen. Er ist am Dienstag an die Parlamentsdienste übermittelt worden. Das lässt sich über E‑Mails nachweisen. Und damit keine Erfindungen im Raum stehen bleiben: Gestern ist der Titel auf Intervention der Parlamentsdienste geändert worden. Aber der Antrag ist am Dienstag rumgegangen. Ich weiß nicht: Pennen Sie? Warum machen Sie solche Einwürfe hier? Oder haben Sie keine Argumente mehr, dass Sie mit solchen schiefen Darstellungen hier vorbeikommen?
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Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Der Kollege Sensburg hat vorhin sehr schön die Zeitschiene dieses Antrags skizziert. Es gibt nur zwei Möglichkeiten bei dem, was Sie hier machen. Die eine ist: Sie bezichtigen ihn hier offensichtlich der Lüge.
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Er hat das sogar mit Uhrzeit benannt.
Ich habe – das ist Ihnen vielleicht auch entgangen – nicht nur über diesen Antrag geredet, sondern gesagt, dass regelmäßig im Rechtsausschuss kurz vor knapp Anträge ohne irgendeine Chance auf Vorbereitung eingehen.
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Teilweise ist uns nur der Titel oder die Überschrift bekannt. Das ist ja auch kein kollegialer Umgang. Wenn Ihnen an Sacharbeit liegen würde, dann würden Sie die Anträge frühzeitig auf den Tisch legen und für Ihre Positionen werben, uns überzeugen und den Dialog mit uns führen.
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Aufgrund dieser Kurzfristigkeit kann ich eigentlich nur von einem Spielchen ausgehen.
Danke.
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Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat die Abgeordnete Linda Teuteberg für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Den ungebührlichen, kindischen Spielchen im Vorfeld dieses Antrags möchte ich gar nicht mehr Aufmerksamkeit und Redezeit in diesem Hohen Hause schenken. Es stellen sich wahrlich ernste Fragen rund um das Thema „Rechtsstaat“ und „Werte unseres Grundgesetzes in der Einwanderungsgesellschaft“: Wie steht es um das Gewaltmonopol des Staates, um die konsequente Durchsetzung von geltendem Recht gegenüber jedermann? Allein, zur Beantwortung dieser Fragen trägt Ihr Antrag herzlich wenig bei.
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Nun wird in diesem Zusammenhang oft und gern das Wort „Verfassungspatriotismus“ benutzt. Es ist beinahe zu schön, um wahr zu sein: Alle scheinen sich einig zu sein, und das ist für sich genommen schon ein Indiz dafür, dass es so einfach nicht sein kann. Ein Defizit der aktuellen Debatte um Werte besteht darin, dass darin der Verfassung oft ein unveränderlicher, zeitloser Gehalt unterstellt wird. Aber sie ist auch offen für Entwicklungen. Wir müssen uns immer wieder neu damit auseinandersetzen, um konkrete Fragen nach den Werten unseres Grundgesetzes zu beantworten.
Deshalb berufen sich nicht zufällig – auch immer wieder bei strittigen Fragen; die Ehe für alle ist ein Beispiel dafür – Befürworter und Gegner gleichermaßen auf widerstreitende Verfassungsgrundsätze, auf Grundrechte. Und dann ist eine Abwägung zu treffen; aber die ist nur bedingt juristisch vorstrukturiert. Das Grundgesetz ersetzt keine Debatten. Ein ernstgemeinter Verfassungspatriotismus ist viel anspruchsvoller, als es scheint: Er beruht nicht allein auf unverrückbaren Inhalten, sondern er fordert von uns allen auch die Bereitschaft zur inhaltlichen Auseinandersetzung.
Was wir brauchen, ist eine ernsthafte Debatte darüber, wie wir zusammenleben wollen und was wir unter Integration verstehen. Darüber, was wir von Menschen erwarten, die mit uns zusammenleben wollen. Diejenigen, die sich integrieren wollen, fragen übrigens auch danach. Da gibt es viele spannende Fragen, die wir beantworten müssen, die in Ihrem Antrag aber leider nicht angesprochen werden: Wie weit reicht eigentlich der Schutzbereich der Religionsfreiheit, und zwar individuell für den Einzelnen und kollektiv für die Religionsgemeinschaft? Wie finden wir Gesprächspartner, wenn Religionen anders verfasst sind als die christlichen Kirchen, mit denen es ein geübtes Religionsverfassungsrecht gibt? Es gibt noch viele weitere Fragen: Wo endet die Privatsphäre, in der jeder nach seiner Fasson selig wird und seinen individuellen Glauben auslebt? Wo beginnt die zivile oder gar öffentliche Sphäre, wo Recht und Gesetz das Verhalten bestimmen? Das alles ist spannend; aber diese Fragen beantworten Sie nicht.
Lassen Sie uns bei dieser wichtigen Debatte die Werte der europäischen Aufklärung konsequent und gegenüber jedermann anwenden. Religionen sind zu respektieren. Sie dürfen aber auch kritisiert werden, und nicht jede Islamkritik ist schon islamophob.
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Den Mut zu dieser wichtigen Auseinandersetzung wünsche ich mir übrigens auch von manchen auf der linken Seite. Den Mut, den sie gegenüber den christlichen Kirchen gezeigt haben, wünsche ich mir auch im Gespräch mit Muslimen.
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Denn Voraussetzung für das Zusammenleben in einer offenen Gesellschaft ist auch der Mut zum kritischen Dialog. Nur so kann Verständnis füreinander und für gemeinsame Werte und Regeln entstehen. Wir brauchen diese Debatte. Mit Selbstvertrauen, mit Gelassenheit und mit Zuversicht, nicht hasserfüllt und nicht hysterisch. Sondern mit Respekt vor dem anderen. Allerdings auch mit nicht weniger Respekt vor den eigenen Werten und Überzeugungen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Johannes Fechner für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauerinnen und Zuschauer auf den Tribünen! Einmal mehr zeigt die AfD mit diesem Antrag, dass es ihr tatsächlich nicht um die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger geht. Der AfD geht es nur darum, pauschal alle Muslime als Gewalttäter zu verunglimpfen. Einmal mehr geht es Ihnen von der AfD nur darum, gegen Flüchtlinge und Muslime zu hetzen. Und das lassen wir Ihnen auch heute nicht durchgehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Mit Ihrem Antrag wollen Sie glauben machen, die Scharia würde in Deutschland gelten und vor allem die Mehrheit der Muslime würde der Scharia folgen. Aber das ist völliger Unsinn. In Deutschland gilt das Grundgesetz; das ist auch gut so. In Deutschland gilt die freiheitlich-demokratische Grundordnung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Das zeigt sich etwa am Fall der sogenannten Sharia Police in Wuppertal. Dort, in Wuppertal, hatten sich einige Männer als „Sharia Police“ bezeichnet, und sie patrouillierten in den Straßen. Dann gab es in der Tat erst juristische Unklarheiten. Aber jetzt ist nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes klar: Wer sich in Deutschland als Scharia-Polizei bezeichnet und patrouilliert, der macht sich strafbar. Das zeigt ganz klar und deutlich, dass die Scharia als Rechtsgrundlage in Deutschland überhaupt keine Chance hat. Bei uns gilt der Rechtsstaat. Er wehrt sich, und er funktioniert.
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An diesem einfachen Beispiel zeigt sich: Es gelten bei uns die Werte unseres Grundgesetzes. Auch haben wir die Kinderehen verboten. Wir dulden keine Paralleljustiz. Vor allem Gewalttaten verfolgen wir, und zwar egal, ob sie von Islamisten, Rechtsradikalen oder Linksradikalen verübt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Besonders bemerkenswert finde ich, dass gerade die AfD unsere Sicherheit und unseren Rechtsstaat durch die Scharia bedroht sieht. Ich finde, die Sicherheit in unserem Land ist eher bedroht durch eine Partei, durch eine Fraktion, die in ihren Reihen einen Staatsanwalt duldet, dem wegen Hetze der Beamtenstatus aberkannt wurde,
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die in ihren Reihen einen verurteilten Gewalttäter duldet,
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die in Thüringen einen Landtagsabgeordneten duldet, der wegen Betruges verurteilt wurde, und in Brandenburg einen, der wegen Steuerhinterziehung verurteilt wurde.
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So etwas bedroht die freiheitlich-demokratische Grundordnung viel mehr als die Scharia, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Der Gipfel der Verlogenheit ist, dass Sie in diesem Antrag vor islamistischen Gewalttaten warnen – gerade Sie, die Sie Seit’ an Seit’ mit Neonazis und Rechtsradikalen in Chemnitz und anderswo marschieren. Klären Sie erst einmal Ihr Verhältnis zu rechtsradikalen Gewalttätern, bevor Sie Muslimen Gewalttaten vorwerfen, meine Damen und Herren von der AfD!
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Die größere Bedrohung für die Sicherheit sind mit Sicherheit Sie, ist nicht die Scharia in Deutschland.
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Wenn Ihnen dieses Thema tatsächlich wichtig wäre und wenn Sie es tatsächlich nicht nur auf Show ankommen lassen würden, dann würden Sie eigene Vorschläge bringen. Stattdessen betteln Sie nur kraftlos die Bundesregierung an, irgendwelche Maßnahmen, die aus Ihrer Sicht notwendig sein sollen, zu präsentieren.
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Sie bringen keine eigenen Vorschläge. Das liegt daran, dass auch Sie genau wissen: Es gibt keinen Grund, sich zu sorgen, dass die Scharia in Deutschland nennenswerten Einfluss hat. Wir haben einen starken Rechtsstaat, und das ist auch gut so, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir haben in der letzten Wahlperiode eine Menge Gesetze gemacht. Wir haben die Kinderehen verboten. Wir haben die Gesetze gegen islamistischen Terrorismus verschärft. Wir haben beim Generalbundesanwalt neue Stellen zur Bekämpfung von islamistischem Terror geschaffen. All das zeigt: Wir wehren uns gegen Terrorismus und Extremismus, und zwar egal von welcher politischen Seite.
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Deutschland ist eine wehrhafte Demokratie, von wo auch immer der Angriff kommt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Schließlich: Sie kritisieren in Ihrem Antrag, dass die Bundesregierung sich nicht klar genug zur Scharia und zum Islam äußern würde. Das ist völliger Unsinn. Ich möchte die Bundesjustizministerin Katarina Barley aus der „Zeit“ zitieren.
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Sie hat es dort im März dieses Jahres ganz klar auf den Punkt gebracht – ich zitiere:
Der Staat setzt das Recht. ... Darüber gibt es ... keine zwei Meinungen.
Klarer kann man es nicht auf den Punkt bringen. Deshalb ist Ihr Antrag auch in dieser Hinsicht vollkommen unnötig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der AfD-Antrag will Muslime pauschal als Scharia-gläubige Gewalttäter abstempeln, und er hat nur zum Ziel, Vorurteile gegen Muslime zu befeuern. Dem ist in aller Deutlichkeit zu widersprechen, auch wenn es in Deutschland islamistische Bedrohungen und Terrorismus gibt:
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Die große Mehrheit der Muslime lebt anständig bei uns. Deshalb: Hören Sie auf, das friedliche Zusammenleben der Menschen in Deutschland mit derart unsinnigen Anträgen zu stören und das Zusammenleben der Menschen zu behindern, indem Sie sie gegeneinander aufhetzen.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat die Abgeordnete Christine Buchholz für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im vorliegenden Antrag behauptet die AfD dreist, der Islam gehöre nicht zum Rechtsstaat. Die einzige Forderung des Antrags läuft praktisch auf ein Verbot des Koran hinaus. Sie sprechen damit Muslimen die Grundrechte ab. Ihr Antrag und die Rede von Herrn Curio sind nichts als Hetze.
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Im Schnitt gibt es jeden Tag zwei islamfeindliche Straftaten in Deutschland. Laut Experten liegt die Zahl aufgrund der hohen Dunkelziffer bis zu achtmal höher. Es ist der Hass, den die AfD sät, der zu dieser Gewalt führt. Ich sage Ihnen: Die Menschenrechte sind unteilbar. Die Linke verteidigt die Religionsfreiheit für alle Menschen in diesem Land.
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Nun führt die AfD Koranzitate an, um ihre Hetze mit Pseudoargumenten zu unterlegen. Tatsächlich finden sich in den Schriften vieler Religionen Passagen, die als Rechtfertigung von Unterdrückung und Gewalt auslegbar sind – so in der Bibel, im Alten wie im Neuen Testament. Im Buch Mose lesen wir Tötungsaufrufe. Die Offenbarung des Johannes sieht Ungläubige und andere in einem „Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt“. Aber niemand kommt hier auf die Idee, deshalb die Bibel verbieten zu wollen. Zu Recht!
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Die AfD verunglimpft den Islam nach derselben Methode, wie Antisemiten früher – und auch heute – das Judentum verleumdet haben: indem sie einzelne Zitate aus dem Kontext gerissen haben, um die gesamte Religion zu diffamieren. So behauptete unter anderem der katholische Theologe Konrad Martin Ende des 19. Jahrhunderts, der ganze Talmud sei ein Zeugnis des Hasses gegen Nichtjuden, insbesondere gegen Christen. Wohin solche Verunglimpfungen geführt haben, wissen wir. Und es ist kein Zufall, dass nicht nur die Reden und Artikel von Herrn Gauland denen eines Hitler immer ähnlicher werden.
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Mit allem, was die AfD hier von sich gibt, beweist sie im Übrigen nichts anderes als ihre Unkenntnis vom Islam. Es gibt nicht den einen Islam, und selbstverständlich verändert sich der Islam ständig.
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Auch die Scharia unterliegt dem Wandel und verschiedenen Interpretationen. Sie ist eine Sammlung von gottesdienstlichen, ethischen und normativen Aspekten und Bestimmungen und halt kein Strafgesetzbuch. Im Übrigen gibt es auch keine einzige relevante muslimische Organisation, die fordert, die Scharia in Deutschland einzuführen. Das ist eine Geisterdebatte.
Die AfD beschwört eine Bedrohung durch den Islam herauf. Aber die wirkliche Gefahr kommt von der AfD, die die faschistische Bewegung stärker macht.
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Die AfD ist in Chemnitz im Bündnis mit Pegida und bekennenden Nazis aufmarschiert. Sie und ihre Bündnispartner sind Stichwortgeber für Rechtsterroristen wie die „Revolution Chemnitz“.
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Die Gefahr für die Demokratie kommt nicht von den Muslimen, sondern sie kommt von rechts. Genau deswegen werden wir am Wochenende gemeinsam mit vielen Zehntausenden in Berlin unter dem Motto „#unteilbar“ demonstrieren; denn die Menschenrechte sind unteilbar.
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Das Wort hat der Abgeordnete Christoph de Vries für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eines zu Beginn feststellen: Der Antrag der AfD ist inhaltlich komplett wirr, er lässt jede konkrete politische Forderung vollständig vermissen, und er ist gesellschaftspolitisch destruktiv und feindselig. Das muss vorab erst einmal gesagt werden.
({0})
Eine grundsätzliche Bemerkung zum Verfahren – das wurde schon angesprochen –: Wir erleben es jetzt zum wiederholten Male, dass wichtige gesellschaftspolitische und verfassungsrelevante Themen einen Tag vor der Beratung eingebracht werden. Ich habe noch mal nachgeschaut: Ihre Mail ist am Dienstagabend angekommen, als kein Büro mehr besetzt war.
({1})
Faktisch haben wir es einen Tag vorher gehabt. Herr Baumann, das ist nicht nur höchst unprofessionell, sondern das ist auch ein Zeichen mangelnden Respekts dem Parlament gegenüber. Wer Parlamentsarbeit so dilettantisch betreibt, der darf sich auch nicht über kräftigen Gegenwind hier aus dem Parlament wundern.
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– Von uns können Sie noch eine Menge lernen; da haben Sie recht.
Nun könnte man ja denken: Sie haben lange gebraucht, also: Was lange währt, wird endlich gut. Aber weit gefehlt! Wenn wir auf Ihr dürftiges Petitum schauen, stellen wir fest: Es erschöpft sich allein in der Aufforderung an die Bundesregierung, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Verbreitung gesetzeswidriger Koraninhalte zu unterbinden. Da fragen wir uns wirklich: Ist das alles, was Ihnen als Antragsteller dazu einfällt? Ist das Ihre politische Alternative? Eines kann ich Ihnen jedenfalls versichern: Wir tun das schon lange, meine Damen und Herren.
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Die deutschen Bundesregierungen gehen seit vielen Jahren konsequent gegen islamistische Organisationen und Aktivitäten in Deutschland vor.
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Ich kann Ihnen nur empfehlen, einen Blick auf die Homepage des Bundesinnenministeriums zu werfen. Oder lesen Sie einmal den Verfassungsschutzbericht. In der Vergangenheit hat es 21 Verbote im Bereich des Islamismus und des Ausländerextremismus wegen Aktivitäten gegen unsere verfassungsmäßige Ordnung gegeben,
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zuletzt gegen die salafistische Organisation „Die wahre Religion“. Sie sehen also: Unsere Demokratie, unser Rechtsstaat ist wehrhaft. Das sollten Sie endlich auch einmal anerkennen, meine Damen und Herren.
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Es ist doch gar keine Frage. Die Scharia gehört nicht zu unserem Rechtsstaat, weil sie mit unserer demokratischen Grundordnung nicht vereinbar ist.
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Ein fundamentalistischer Islam, dessen Ziel es ist, unsere Gesellschaft in Richtung eines Gottesstaates zu verändern, kann nicht Teil Deutschlands sein; da sind wir doch einer Meinung.
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Damit sind wir beim politischen Islam. Dass es den politischen Islam gibt, ist kein Hirngespinst. Es gibt zum Beispiel die Ergebnisse einer empirischen Studie der Uni Münster mit interessanten Ergebnissen. Sie wurde durchgeführt unter türkischen Muslimen. Ich will nur drei Ergebnisse nennen: Demnach haben rund 20 Prozent der Befragten eine negative Einstellung gegenüber Juden, 50 Prozent sagten, dass die Befolgung der religiösen Gebote wichtiger sei als die der staatlichen Gesetze,
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und ein Drittel sprach sich dafür aus, dass Muslime die Rückkehr zu einer Gesellschaftsordnung wie zu Mohammeds Zeiten anstreben sollten.
Natürlich müssen uns solche Ergebnisse mit Sorge erfüllen im Hinblick auf das Zusammenleben und den gesellschaftlichen Frieden.
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Aber das ist ja nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist doch die: Wenn 20 Prozent der türkischstämmigen Muslime Vorbehalte gegen Juden haben, haben sie 80 Prozent nicht. Das sind vier Fünftel. Das ist doch die große Mehrheit.
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Und zwei Drittel wollen auch keine Gesellschaftsordnung wie zu Mohammeds Zeiten. Ich finde, das ist doch ermutigend, meine Damen und Herren, und darauf sollten wir aufbauen.
Ehrlich gesagt – nur eine Bemerkung am Rande –: Wenn man sich die Äußerungen führender AfD-Vertreter so anhört, dann könnte man im Übrigen meinen, dass der Anteil der Antisemiten in der AfD deutlich über 20 Prozent liegt. Aber das vielleicht nur am Rande.
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Zurück zum Thema. Es stimmt nicht, dass die Scharia untrennbar mit dem Islam verbunden ist, wie Sie behaupten. Diese Unterstellung ist böswillig, diskriminierend, und sie ist auch destruktiv. Ihnen geht es nicht um den gesellschaftlichen Frieden bei uns im Lande. Sie wollen den Islam und seine Gläubigen insgesamt diskreditieren, und da spielen wir nicht mit.
Für uns ist eine Frage entscheidend: Wie gehen wir mit diesen fundamentalistischen Strömungen um, die es gibt? Wie kann es gelingen, den gesellschaftlichen Frieden zu verbessern? Dieser konstruktive Ansatz muss doch handlungsleitend für uns als Politiker sein. Da sage ich Ihnen: Unser Ziel ist, dass wir die liberalen Muslime stärken, die sich zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen, die für einen säkularen Islam stehen und die sich unserem Land verbunden fühlen, und dass wir gleichzeitig den Einfluss der radikalen Kräfte unterbinden.
Wir als Bundesregierung, als Koalition verfolgen diese Ziele konsequent. Zuletzt haben wir im Übrigen die Mittel an DITIB ab dem Haushalt 2018 gestrichen. Wir werden das auch bei anderen Vereinen und Verbänden machen, wenn fundamentalistische Aktivitäten nachweisbar sind. Sie sehen also: Wir führen diese Debatten in aller Klarheit, aber mit einem Ziel: das friedliche Miteinander zu stärken, den gegenseitigen Respekt zwischen den Religionen zu stärken, und so machen wir Politik.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Abgeordnete Dr. Frauke Petry.
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Sehr geehrte Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Leider ist diese Debatte – mit wenigen Ausnahmen an Rednern – zum wiederholten Male ein eindrückliches Beispiel dafür, warum Bürger dieses Landes immer wieder den Eindruck haben, dass sich ihre Lebenswirklichkeit in diesem Hause nur unzureichend widerspiegelt.
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Man muss der Ansicht der AfD mitnichten folgen. Man muss sachlich mit den Anträgen umgehen und ansonsten Kinkerlitzchen-Spielchen über Sandförmchen unterlassen. Das müssen wir unbedingt.
Lassen Sie mich daher eine Frage stellen: Gehört die Scharia in all ihren Varianten, wenn Sie mögen, zu Deutschland? Die Antwort lautet: Leider ja. – Bereits 2011 warnten die Juristen Joachim Wagner und Seyran Ates, dass sich im Schatten des deutschen Rechtsstaates eine islamische Paralleljustiz etabliert hat – immerhin geben einige von Ihnen das sogar zu –, mit Friedensrichtern und sogar mit staatlicher Zusammenarbeit deutscher Behörden mit Imamen. Der Rechtsstaat hat sein Gewaltmonopol nicht nur in Stadtgebieten wie Neukölln, sondern heimlich, still und leise an vielen Orten unseres Landes abgegeben und vor der Scharia – egal in welcher Variante – kapituliert.
Um es ganz unmissverständlich zu sagen: Der Islam ist nicht deckungsgleich mit Kulturmuslimen, die säkularisiert sind, die unsere Rechtsprechung als maßgeblich ansehen. Aber wenn wir vor der Scharia einknicken – und da ist es egal, ob es ein Drittel sind oder 40 Prozent; da ist jeder einer zu viel –, dann verraten wir gerade jene Menschen, die sich von dieser religiösen Bevormundung befreit haben, und erweisen genau diesen aufgeklärten Menschen einen Bärendienst.
Und ja, fragen Sie doch die Experten, die Religionswissenschaftler: Die Utopie des Euroislam oder des deutschen Islam – das ist längst bewiesen, ist längst diskutiert –: Ihn gibt es nicht, und es wird ihn auf absehbare Zeit nicht geben. Selbst der Vordenker des Euroislams Bassam Tibi sieht diese Idee als gescheitert an. Das sollten wir als Politiker zur Kenntnis nehmen und nicht so tun, als wüssten wir es besser.
Im Übrigen: Schon Thomas Mann legte dem Jesuiten Naphta die Worte in den Mund: Ein liberalisierter Islam, das ist aufgeklärter Fanatismus. – Und wenn Sie ein aktuelles Beispiel bevorzugen: Ein Blick in die ehemalig laizistische Türkei genügt. Es sitzen genug Kollegen im Haus, die die Zustände in der Türkei sehr zutreffend kritisieren. Daraus folgt, dass es ebenso verkehrt ist, alle Muslime über einen Kamm zu scheren, wie den Islam und seine blutige Vergangenheit sowie Gegenwart zu verharmlosen und somit maßgeblich durch Wegschauen zum deutschen Antisemitismusproblem beizutragen.
Wenn es Ihnen also um ein friedliches rechtsstaatliches Zusammenleben in Deutschland geht, dann lassen Sie uns Behörden und Justiz in der konsequenten Anwendung unseres Rechtssystems bestärken. Sogenannte Kulturrabatte darf es dann nicht geben. Genau die sind aber Realität in Deutschland.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Lars Castellucci für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie gern würde ich einfach zum nächsten Tagesordnungspunkt springen. Es ist wieder eine Stunde verlorene Lebenszeit, was wir hier miteinander betreiben müssen auf der Grundlage dieses Antrags.
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Als ich Anfang 20 war, gab es das Wort zur gemeinsamen wirtschaftlichen und sozialen Lage der Kirchen in Deutschland. Da haben wir aufgetragen bekommen: Schaut doch mal in den Osten, was wir von da lernen können. Bildet runde Tische und schaut, ob wir nicht Probleme im Miteinander – im Miteinander! – lösen können in diesem Land. – Dann haben wir in meiner Heimatstadt einen runden Tisch für Arbeit gegründet. Daraus ist eine Beschäftigungsinitiative entstanden, die heute noch arbeitet und ein kleines Sozialunternehmen geworden ist, das Menschen Perspektiven bietet.
Dann gab es Grün-Rot in Baden-Württemberg, und wir haben mit Sozialministerin Altpeter den Passiv-Aktiv-Tausch erfunden, wieder Modellprojekte gemacht und gesagt: Wir wollen Arbeit finanzieren und nicht Arbeitslosigkeit. – Das hat wieder vielen Menschen geholfen. Aber wir hatten da nur die Möglichkeiten eines Bundeslandes. Und heute – endlich! – kommen wir einen Riesenschritt voran; das ist der nächste Tagesordnungspunkt. Ich freue mich darauf, dass wir endlich ein großes Programm haben, um Menschen, die am Arbeitsmarkt Schwierigkeiten haben, nach vorne zu bringen und ihnen zu helfen, ihnen Teilhabe zu ermöglichen. Das sind die Botschaften, die eigentlich ins Land müssen, und nicht das, was hier wieder vorgelegt wurde.
({1})
Wir hätten auch länger über den letzten Tagesordnungspunkt reden müssen: dass wir Familien entlasten müssen, dass wir das über den Solidaritätszuschlag machen, dass wir das mit dem Kindergeld machen, dass wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten dabei gar nicht stehen bleiben wollen, weil es natürlich darum geht, dass uns in diesem Land jedes Kind gleich viel wert sein muss, dass wir nicht dabei stehen bleiben wollen, dass Kinder von Eltern, die mehr verdienen, am Ende vom Staat mehr Geld bekommen als Kinder von Eltern, die nicht so viel verdienen.
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Wir haben noch viel vor, weil wir die Kinderarmut in diesem Land nicht akzeptieren wollen und zurückdrängen müssen. Die Debatte hätten wir noch locker eine Stunde länger führen können, anstatt diesen Antrag hier zu beraten.
({3})
Aber Sie fordern mich auf, zum Thema zu reden. Das können Sie jetzt gerne haben. Ich sage Ihnen: Dieser Antrag ist schlecht. Er ist ungenau. Er ist verleumderisch. Er ist unverschämt. Mehr ist dazu eigentlich gar nicht zu sagen.
({4})
Sie schüren hier den Islamhass aus politischem Kalkül. Sie haben sogar eine Debatte über Gelder für den Zentralrat der Juden in der letzten Sitzungswoche dazu missbraucht, hier die Religionsfreiheit anzugreifen und Islamhass zu schüren. Es ist zum Fremdschämen, was Sie hier jede Woche vorlegen.
({5})
Ihr Antrag ist eine einzige Falschmeldung zu dem Zweck, Muslime in diesem Land zu stigmatisieren. Aber die Mehrheit der Muslime in diesem Land steht zur Demokratie und ist loyal zu unserem Land, und sie haben es nicht verdient, von Ihnen pauschal in eine Ecke gestellt zu werden.
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Wissen Sie, was ich eigentlich am interessantesten finde? Sie deuten den gesamten Islam fundamentalistisch aus. Aha! Das machen aber die Fundamentalisten auch. Damit offenbaren Sie Ihre eigene Geisteshaltung. Zwischen dem, was die Fundamentalisten vortragen, und dem, was Sie hier über den Islam vortragen, passt nämlich kein Blatt Papier.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser Grundgesetz ist ein gutes Gesetz, und die Religionsfreiheit gilt für uns alle. Wir wollen unser Grundgesetz durchsetzen. Gesetz und Recht gelten für alle. Paralleljustiz lehnen wir ab; sie ist rechtswidrig. Wir gehen dagegen vor, sie wird nicht geduldet. Wir brauchen in diesem Land Debatten, die die Menschen zusammenführen. Wir müssen die Probleme benennen und lösen. Was wir nicht brauchen, sind Anträge, die nur neue Probleme schaffen.
Vielen Dank.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Abgeordnete Ingmar Jung das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist nicht so ganz einfach, nach einer Stunde Debatte über einen Antrag, zu dem es eigentlich nicht viel zu sagen gibt, etwas Neues zu sagen. Deswegen möchte ich einige Punkte aufnehmen, über die wir schon etwas gehört haben.
({0})
– Lassen Sie vielleicht auch einmal jemand anderen hier reden.
Ich war – das will ich zuallererst sagen – sehr gespannt auf diesen Antrag. Wir haben hier vor zwei Wochen schon einmal über Religionsfreiheit gesprochen. Damals lag uns ein Antrag auf Änderung von Artikel 18 Grundgesetz vor. Die AfD hatte hier nachhaltig behauptet, Artikel 4 des Grundgesetzes, zumindest die Religionsausübungsfreiheit, dürfe nicht eingeschränkt werden, sei vorbehaltlos gewährt, kollidiere nicht mit anderen Grundrechten und müsse daher in die Verwirkungsregelung aufgenommen werden. In Ihrem jetzt vorliegenden Antrag schreiben Sie etwas anderes, und zwar etwas, was stimmt, nämlich die Religionsfreiheit sei im Wortlaut vorbehaltlos gewährt, aber kollidiere natürlich immer mit anderen Grundrechten und könne nur so weit gewährt und ausgeübt werden, wie nicht Rechte anderer betroffen sind. Da haben Sie ein Stück weit dazugelernt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das fraktionsintern an die Rechtspolitiker weitergeben würden, damit sie denselben Erkenntnisstand haben. Von denen haben Sie heute niemanden hier reden lassen, obwohl es eigentlich ein rechtspolitisches Thema ist.
Wir haben mit Spannung auf diesen Antrag gewartet. Herr Baumann, ich verstehe ja, dass Sie ein Stück weit um Ihren Job kämpfen und sich in der eigenen Fraktion rechtfertigen müssen, aber Sie können noch hundertmal erzählen, dass Sie diesen Antrag früh genug eingereicht hätten. Am Mittwochmittag war er zumindest noch nicht hochgeladen, und alle Rechtspolitiker der AfD haben im Ausschuss unisono gesagt, dass sie keinen Antrag kennen.
({1})
Vielleicht schicken Sie ihn mal an Ihre eigene Fraktion. Wir können ihn weitergeben. Herr Kollege Sensburg hatte danach gefragt und keine Antwort bekommen.
Dann haben wir den Antrag bekommen. Ich frage mich bis heute: Was wollen Sie damit eigentlich erreichen? Einige Punkte darin stimmen: Gesetzwidrige Religionsausübung darf nicht gewährt werden. – Ja, stimmt. Hetze gegen andere darf nicht geduldet werden. – Ja, stimmt. Dann benennen Sie die repressiven Maßnahmen teilweise selbst – Herr Sensburg hat sie noch ergänzt –: § 111, § 186, § 130, § 185 StGB, das haben wir alles. Herr Sensburg hat auch die Vereinsverbote genannt. Sogar präventive Maßnahmen gibt es. Dazu hätten Sie vielleicht auch etwas vorschlagen können. Ich will sie nicht wiederholen; sie wurden ebenfalls von Herrn Sensburg und Herrn Hoffmann genannt.
Ich frage: Wo ist Ihr Vorschlag? Sechs Seiten Antrag sind einzig eine Bitte an die Bundesregierung, sie möge mal etwas vorschlagen. Wo ist denn Ihr Vorschlag? Sie machen einfach einen Antrag und schreiben auf sechs Seiten etwas zusammen.
Ich kann nur vermuten – das haben Herr Dr. Brunner und Herr Dr. Fechner schon angesprochen –, dass es Ihnen möglicherweise darum geht, den Koran zu verbieten. Ich weiß nicht, wie das gehen soll. Soll man ihn verbrennen? Im digitalen Zeitalter werden Sie eh keine Schriften mehr los. Deswegen haben Sie es wahrscheinlich bewusst auch nicht so geschrieben. Mir ist nicht klar, worauf Sie eigentlich hinauswollen, meine Damen und Herren von der AfD.
Eines möchte ich, damit hier kein falscher Zungenschlag reinkommt, für die CDU/CSU-Fraktion klarstellen: Wir wollen das Problem nicht verharmlosen. Deswegen arbeiten wir ja seit Jahren daran; das haben die Kollegen schon aufgezeigt. Natürlich gibt es innerhalb des Islams fundamentalistische Bestrebungen. Natürlich gibt es dort auch Menschen, die sich auf rechtswidrige Weise auf Schriften berufen. Aber das dulden wir eben nicht.
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An dieser Stelle möchte ich für meine Fraktion aber auch klarstellen: Die Vergleiche zum Christentum, die wir gehört haben, Herr Martens, Frau Buchholz, Frau Polat, mögen bezogen auf die Schrift richtig sein. Aber ich möchte festhalten, dass das Berufen auf die Heilige Schrift bei Straftaten seit der Aufklärung im Christentum doch etwas nachgelassen hat.
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Vielleicht sollten wir das auch mal sagen als christdemokratische Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, da wir gerade beim Thema Christentum sind und Sie hier immer das christliche Abendland verteidigen: Ich habe, weil ja eigentlich schon alles gesagt wurde, gerade im „Kürschner“ nachgeschaut. Die Statistik, die wir dort lesen können, wie viele Mitglieder Ihrer Fraktion sich überhaupt zu einer christlichen Konfession bekennen, ist recht interessant – mir war das gar nicht bewusst –: Bei der CDU/CSU sind es 205 von 246 Abgeordneten, das sind 83,3 Prozent. Bei der AfD sind es 16 von 92 Abgeordneten, das sind 17,4 Prozent, also dreieinhalb Prozentpunkte weniger als bei den Grünen. Das fand ich wirklich erstaunlich.
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Das sind also die Verteidiger des christlichen Abendlandes. Das, finde ich, ist schon eine starke Sache.
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Insgesamt, meine Damen und Herren, kann man zu Ihrem Antrag nur sagen: Sie machen keinen Vorschlag. Aber eines ist klar – und das teilen, glaube ich, alle Fraktionen hier im Parlament –: Wer glaubt, sich außerhalb unserer Rechtsordnung bewegen zu können – das gilt nicht nur für Islamisten, sondern für alle –, der bekommt es mit dem Rechtsstaat zu tun, völlig egal, worauf er sich beruft. Das wissen offenbar auch Sie, und deswegen machen Sie keinen neuen Vorschlag. Denken Sie über Ihren Antrag noch einmal nach!
Herzlichen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/4840 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Die Fraktion der AfD wünscht Federführung beim Ausschuss für Inneres und Heimat.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der AfD, Federführung beim Ausschuss für Inneres und Heimat. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der AfD-Fraktion abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Vorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist gegen die Stimmen der AfD-Fraktion angenommen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Arbeit ist für die meisten Menschen in Deutschland nach wie vor mehr als Broterwerb. Es geht nicht nur darum, Geld zu verdienen. Es geht darum, teilzuhaben am gesellschaftlichen Leben. Es geht darum, Kolleginnen und Kollegen zu haben. Es geht darum, seine eigene Leistung zu spüren und dafür einen ordentlichen Lohn zu bekommen. Deshalb ist es gut, dass wir es in den vergangenen 20 Jahren, seit 1998, mit großen Anstrengungen als Gesellschaft, als Staat, als Wirtschaft geschafft haben, die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland zu überwinden.
Wir haben im Moment eine ausgezeichnete Lage am Arbeitsmarkt, die zweitniedrigste Erwerbslosenquote in der Europäischen Union, den höchsten Beschäftigungsstand seit der deutschen Einheit. Das ist etwas, worauf unser Land, unsere Gesellschaft, auch unsere Wirtschaft und der Staat gemeinsam stolz sein können.
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Aber sosehr wir uns freuen können und sosehr ich mich als Arbeitsminister freue, dass wir die Massenarbeitslosigkeit überwunden haben, sosehr muss es uns umtreiben, dass wir Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland noch nicht überwunden haben. Das ist eine große Herausforderung. Wir dürfen uns damit nicht abfinden und resignieren, weil es um Menschen geht, weil es um Menschen geht, die zum Beispiel in ihrer Familie in der zweiten oder dritten Generation den Anschluss an Arbeit nicht bekommen haben, weil es um Menschen geht, die beispielsweise erlebt haben, dass sie – weil ihr Betrieb kaputtgegangen ist – trotz guter Ausbildung über viele Jahre den Anschluss an Arbeit nicht gefunden haben, und weil es um Menschen geht, denen die Erwerbsbiografie durch persönliche Schicksalsschläge oder Ereignisse einen Strich durch die Rechnung gemacht hat.
Besonders bedrückend ist, dass nach wie vor vor allen Dingen alleinerziehende Frauen in Deutschland – und damit auch ihre Kinder – eine Situation vorfinden, in der es für sie verdammt schwierig ist, in ordentliche Arbeit zu kommen, von der sie leben können.
Das ist die klare Ansage heute: Nachdem wir es geschafft haben, Massenarbeitslosigkeit zu überwinden und zurückzudrängen, machen wir uns jetzt mit diesem Gesetz auf den Weg, den verfestigten Sockel der Langzeitarbeitslosigkeit zu überwinden. Das liegt im Interesse der Menschen, die wir nicht aufgeben wollen.
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Wir wissen, dass die Betroffenen, von denen ich gerade gesprochen habe, den Weg zurück auf den Arbeitsmarkt bzw. in den Arbeitsmarkt nicht ohne gezielte Hilfen schaffen können. Wir alle haben in den letzten 30 Jahren Erfahrungen mit arbeitsmarktpolitischen Instrumenten gemacht, gute und schlechte. Aber in Bezug auf langzeitarbeitslose Menschen haben uns die Praktiker vor Ort in den Jobcentern immer eines ins Stammbuch geschrieben: Glaubt nicht, dass ihr mit kurzatmigen Maßnahmen oder mit Scheinbeschäftigung Menschen, die lange draußen sind, wirklich wieder in Arbeit bringt! – Deshalb bereiten wir mit diesem Gesetz den Weg in den sozialen Arbeitsmarkt. Es geht um Perspektiven auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Aber es geht auch um Perspektiven auf einem sozialen Arbeitsmarkt. Dabei geht es um längerfristige Perspektiven und nicht um kurzatmige Maßnahmen. Wer lange draußen ist, braucht Hilfe, wieder hereinzukommen. Deshalb nimmt diese Bundesregierung in den nächsten Jahren zusätzlich zu den vorhandenen Eingliederungsmitteln 4 Milliarden Euro in die Hand. Das ist gut investiertes Geld, um Menschen Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben zu eröffnen.
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Konkret schlagen wir vor, im Rahmen des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch nicht irgend ein neues Programm aufzulegen, sondern zwei Regelinstrumente zu schaffen, mit denen wir unter anderem Menschen helfen, die sehr arbeitsmarktfern sind, die lange draußen sind. Wir wollen Arbeitsverhältnisse in den ersten beiden Jahren mit Lohnkostenzuschüssen von 100 Prozent und begleitendem Coaching unterstützen. Dabei handelt es sich um sozialversicherungspflichtige Arbeit. Das ist der wesentliche Punkt. Es geht hier nicht um Arbeitsgelegenheiten oder 1‑Euro-Jobs – das sind Instrumente, mit denen wir so unsere Erfahrungen gemacht haben –, sondern um richtige Arbeit, um Arbeit in Unternehmen, bei Kommunen und Trägern. Es ist besonders wichtig, dass wir uns darum kümmern, dass die Menschen, die lange draußen sind, über das begleitende Coaching Chancen bekommen, die Hindernisse, die sie im Leben haben, Stück für Stück zu überwinden. Auch das ist ein wesentlicher Fortschritt.
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Nun wird im parlamentarischen Verfahren, das heute beginnt, über eine Frage sehr intensiv diskutiert werden, nämlich ab welcher Höhe der Zuschuss gewährt wird. Ich sage Ihnen, um Missverständnissen vorzubeugen – im Koalitionsvertrag steht: auf Mindestlohnbasis –: Es geht hier nicht um Sozialdumping oder den Ausbau des Niedriglohnsektors. Das wird an der einen oder anderen Stelle fälschlicherweise so gesehen. Tatsächlich geht es um die sehr praktische und nicht ideologische Frage, ob wir in ausreichender Zahl Tätigkeiten auch bei Unternehmen und Kommunen bekommen, die tarifgebunden sind. Diese werden in jedem Fall Tariflohn zahlen müssen. Diese bleiben dann in einer Förderlücke hängen, wenn wir dieses Problem nicht beheben. Deshalb lautet meine herzliche Bitte an die Parlamentarierinnen und Parlamentarier, in diesem Verfahren zu schauen, ob wir das, was der Deutsche Städtetag parteiübergreifend fordert, umsetzen können, nämlich statt des Mindestlohns den Tariflohn zugrunde zu legen.
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Ich will für eine weitere Aufklärung sorgen. Menschen müssen nicht sieben Jahre langzeitarbeitslos sein, um die angesprochene Unterstützung zu bekommen. Vielmehr geht es um sieben Jahre Leistungsbezug, um sehr arbeitsmarktferne Personen. Diese können durchaus eine kurzzeitige Beschäftigung aufgenommen oder an einer Maßnahme teilgenommen haben. Wir wollen jedenfalls Menschen, die lange draußen waren, eine Perspektive geben. Dass wir dieses Instrument für alle Unternehmen in Deutschland öffnen und nicht mehr nur nach den Kriterien „gemeinnützig“ und „wettbewerbsneutral“ verfahren, ist der richtige Weg.
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Zudem führen wir ein Instrument ein, um Menschen, die noch nicht so lange draußen sind, die mindestens zwei Jahre langzeitarbeitslos sind, mit Lohnkostenzuschüssen von 75 Prozent im ersten und 50 Prozent im zweiten Jahr des Arbeitsverhältnisses zu unterstützen.
Das alles hat ein Ziel: dafür zu sorgen, dass mehr Menschen in Deutschland die Chance haben, selbstbestimmt durch Arbeit sich und ihre Familien tatsächlich zu finanzieren. Das Gesetz ermöglicht Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Mein Appell lautet, nach vielen Jahren der Debatte nun den Weg des sozialen Arbeitsmarkts zu beschreiten und die gute wirtschaftliche Lage zu nutzen, um mehr Menschen Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben durch Arbeit in Deutschland zu eröffnen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete René Springer für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Minister Heil, alles, was Sie sagen, alles, was im Gesetzentwurf steht, und alles, was die Bundesregierung in den letzten 30 Jahren unternommen hat, um Langzeitarbeitslose zu integrieren, erinnert mich an ein Zitat von Kurt Tucholsky, der einmal sagte:
Erfahrung heißt gar nichts. Man kann seine Sache auch 35 Jahre lang schlecht machen.
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Seit Jahren strebt der Arbeitsmarkt von Rekord zu Rekord. Doch an vielen Langzeitarbeitslosen geht dieser Boom weiterhin völlig vorbei. Deswegen legt die Bundesregierung heute den Entwurf eines Gesetzes zur Schaffung eines sozialen Arbeitsmarkts vor. Langzeitarbeitslose sollen bei privaten oder öffentlichen Arbeitgebern sozialversicherungspflichtig beschäftigt werden. Diese Beschäftigung soll bis zu fünf Jahre mit Steuergeldern finanziert werden. Am Ende soll so die Integration von Langzeitarbeitslosen in den allgemeinen Arbeitsmarkt gelingen.
({1})
– Dann sollten Sie den Gesetzentwurf lesen. Dort steht nämlich etwas anderes drin.
Sozialminister Heil beruft sich in seinem Gesetzentwurf auf die Erfahrungen vergangener Beschäftigungsprogramme. In der Tat können wir auf eine Vielzahl von Programmen zur Integration von Langzeitarbeitslosen zurückschauen. Für all diese Programme gibt es Erfahrungsberichte, die im Auftrag der Bundesregierung erstellt wurden, im Auftrag Ihres Ministeriums, Herr Heil. Wenn ich mir aber den vorliegenden Gesetzentwurf anschaue, dann interessiert mich schon einmal, ob Sie, Herr Minister, überhaupt nur einen einzigen dieser Erfahrungsberichte gelesen haben.
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Denn keines dieser Programme brachte irgendeinen Nutzen, sondern verbrannte stattdessen Unsummen an Steuergeld.
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Ich will Ihnen drei Beispiele nennen. Nehmen wir als Beispiel das Bundesprogramm Kommunal-Kombi, ein Projekt Ihres SPD-Parteigenossen Franz Müntefering.
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Mit dem Kommunal-Kombi sollten seit 2008 bis zu 100 000 Langzeitarbeitslose eine öffentlich geförderte Beschäftigung erhalten, um im Anschluss auf dem regulären Arbeitsmarkt Fuß fassen zu können. Der abschließende Evaluationsbericht ist ein politischer Offenbarungseid. Darin heißt es, dass die Teilnehmer des Programms ihre Bemühungen um Arbeitsplatzsuche auf dem ersten Arbeitsmarkt einstellten. So kam es, dass sich die Integrationsquote bei den Programmteilnehmern, also bei denjenigen, die Sie fördern wollten, kaum entwickelte, während bei Nichtteilnehmern, die überhaupt nicht gefördert wurden, die Erfolgsaussicht zunahm, eine Stelle zu bekommen. Sie fanden also eher einen Job. Diese politische Glanzleistung kostete den Steuerzahler 632 Millionen Euro.
2010 versuchte sich dann Münteferings Nachfolgerin Ursula von der Leyen am Modellprojekt Bürgerarbeit. „Aktiv zu sein, ist besser, als zu Hause auf ein Jobangebot zu warten“, verkündete von der Leyen damals und stellte rund 50 000 staatlich finanzierte Bürgerarbeitsplätze für Langzeitarbeitslose zur Verfügung. Das Modellprojekt endete vier Jahre später mit dem nächsten politischen Offenbarungseid, diesmal nur noch drastischer. Obwohl 40 000, also 80 Prozent, dieser Teilnehmer vorher durch 1-Euro-Jobs oder andere Maßnahmen gefördert wurden, wies das Modellprojekt im Abschlussbericht erheblich negative Effekte auf. In Zahlen ausgedrückt: Langzeitarbeitslose, die nicht am Programm teilgenommen hatten, fanden zweimal häufiger einen regulären Job als diejenigen, die durch die Bürgerarbeit gefördert wurden.
({5})
Für diese politische Fehlleistung bezahlten die Steuerzahler 1,1 Milliarden Euro.
Aber 1,1 Milliarden Euro für erheblich negative Effekte schrecken bei den Altparteien niemanden ab, schon gar nicht Minister von der SPD. Und so startete Andrea Nahles als Nachfolgerin von Ursula von der Leyen einen weiteren Versuch zur Integration von Langzeitarbeitslosen. Mit dem Bundesprogramm „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ sollten ab 2015 deutschlandweit 20 000 Arbeitslose eine öffentlich geförderte Beschäftigung erhalten, um ihnen den Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu erleichtern.
({6})
Eine abschließende Evaluation gibt es bislang nicht. Aber es gibt zwei Zwischenberichte und eine Kleine Anfrage der AfD-Fraktion.
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Danach sind von den Teilnehmern, die das Programm im vergangenen Jahr verlassen haben, über 80 Prozent wieder in Hartz IV gelandet oder in der nächsten Fördermaßnahme oder, wenn sie Glück hatten, in der Rente. Das ist erneut eine vernichtende Bilanz, vor allem wenn man weiß, dass 70 Prozent der Programmteilnehmer zuvor schon in einer Fördermaßnahme waren.
({8})
Ende dieses Jahres wird das Programm „Soziale Teilhabe“ auslaufen. Die Kosten für die Steuerzahler belaufen sich dann auf 711 Millionen Euro.
Trotz all dieser dokumentierten Erfahrungen des Scheiterns stehen Sie, Herr Minister Heil, heute vor uns und der deutschen Öffentlichkeit und wollen uns erklären, dass Ihr Beschäftigungsprogramm nun aber die beste Idee aller Zeiten ist
({9})
und Langzeitarbeitslose auch ganz sicher eine Chance auf reguläre Beschäftigung haben. Da kommt mir unweigerlich Albert Einstein in den Sinn, der einmal feststellte:
Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.
({10})
Der festgestellte Wahnsinn der Bundesregierung ist steigerungsfähig; denn das Programm ist nun noch größer, läuft noch länger und soll noch teurer sein als alle bisherigen Programme:
({11})
4 Milliarden Euro für 150 000 staatlich finanzierte Arbeitsplätze.
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Das sind pro Arbeitsplatz 26 600 Euro. Um auch nur einen dieser Arbeitsplätze zu finanzieren, muss in meiner Heimat Brandenburg ein Durchschnittsverdiener sechs Jahre lang hart arbeiten und Lohnsteuer zahlen.
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Nach all den Erfahrungen mit den bisherigen Beschäftigungsprogrammen können wir eines schon heute sicher sagen: Mit dem hart erarbeiteten Steuergeld entstehen höchstens Förder- und Maßnahmekarrieren, aber keine Arbeitsmarktkarrieren. Was für ein sozialpolitischer Irrsinn!
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Meine Damen und Herren, Deutschland braucht dieses Gesetz nicht, Deutschland braucht die SPD nicht, und Deutschland braucht auch keine Bundesregierung,
({15})
die dauerhaft gegen Erfahrungen und ökonomische Zusammenhänge anregiert und am Ende auf Kosten der Steuerzahler einfach nur Förder- und Maßnahmekarrieren erzeugt.
({16})
Danke sehr.
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Das Wort hat der Kollege Hermann Gröhe für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Herr Minister! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zu der eben gehörten Rede nur so viel: Ich habe keine einzige Idee, keinen einzigen Vorschlag gehört.
({0})
Wenn Sie es mir erlauben, eine Bitte: Zitieren Sie am besten nicht Kurt Tucholsky und Einstein; sie haben es beide nicht verdient.
({1})
Jetzt aber zur Sache. Die Lage am Arbeitsmarkt im Herbst 2018, das heißt: eine robuste Entwicklung, Rekordbeschäftigung, steigende Reallöhne; das ist eine gute Nachricht für die Sozialkassen und für die Rentnerinnen und Rentner. Aber wahr ist auch: Diese gute Entwicklung in unserem insgesamt so wohlhabenden Land kommt nicht bei allen Menschen an. Die generelle Linie vieler Vorhaben dieser Regierung ist, dass wir wünschen, dass eine gute Entwicklung dieses Landes allen Menschen zugutekommt. Das bedeutet zweierlei, erstens sich auf die zu konzentrieren, denen es nicht gut geht, zweitens – das sage ich genauso klar – dafür zu sorgen, dass die gute wirtschaftliche Entwicklung anhält; denn nur dann kann sie allen zugutekommen. Insofern geht es immer um eine Einheit von kluger Wirtschafts- und Sozialpolitik, Entwicklung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung einerseits und andererseits gezielter Zuwendung denen gegenüber, die der besonderen Unterstützung bedürfen.
Wenn wir uns die letzten Jahre ansehen, dann ist es in Wahrheit so – die Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen es –: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist von 1,7 Millionen auf gut 800 000 gesunken. Es ist also keineswegs so, wie hier kritisiert wurde, dass die Entwicklung am Arbeitsmarkt den Langzeitarbeitslosen überhaupt nicht zugutegekommen wäre. Aber wir haben jetzt einen verfestigten Kern von Langzeitarbeitslosen, denen wir mit einem gemeinsamen Kraftakt – 4 Milliarden Euro in den nächsten Jahren – Chancen auf Arbeit geben wollen. Das Teilhabechancengesetz ist eine gute Nachricht für die vielen Menschen, die lange keine guten Nachrichten mehr vom Arbeitsmarkt erhalten haben, meine Damen, meine Herren.
({2})
Der entscheidende Gedanke wird sein, diesen Menschen individuell bestmögliche Unterstützung zukommen zu lassen. Eine vor wenigen Tagen veröffentlichte Studie des IAB über die Vermittlungschancen von Langzeitarbeitslosen weist noch einmal auf die unterschiedlichen Lebenslagen hin: Da ist die Alleinerziehende, die Kinderbetreuung sucht – der Minister hat darüber gesprochen –, da sind gesundheitliche, körperliche und psychische Beeinträchtigungen, Suchterkrankungen; da sind Qualifikationsdefizite. Individuell zu helfen, erhöht die Chancen. Deswegen differenzieren wir bei den zwei neuen Instrumenten im Gesetzentwurf bewusst zwischen unterschiedlichen Stärken der Arbeitslosen. Aber es geht bei dem Konzept auch darum, über das starke Element des Coachings, der Begleitung und auch der Vorbereitung – das wird eine wichtige Aufgabe der Jobcenter sein –, den konkreten Lebenslagen gerecht zu werden.
Wir möchten, dass dabei besonders die Lage von Familien in den Blick genommen wird. Minister Heil sprach über die Herausforderung, dass Arbeitsmarktferne nicht ein vererblicher Zustand wird. Teilhabechancen für Eltern bedeuten auch größere Chancen für Kinder, selbst den Weg in Ausbildung und Arbeit zu finden.
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Deswegen ist die Betrachtung der Lage von Familien so wichtig. Wir wollen auch, dass an den Schnittstellen von Jugendhilfe und Arbeitsmarktpolitik bestmöglich zusammengearbeitet wird. Auch darüber werden wir im Gesetzgebungsverfahren reden. Wir wollen, dass mit dem Coaching die individuelle Situation von Familien in besonders guter Weise in den Blick genommen wird.
„Passgenau“ bedeutet aber auch: passend für die regionale Arbeitsmarktsituation. Da ist im Gesetzgebungsverfahren schon einiges konkretisiert worden, zum Beispiel wenn es um die Beiräte geht. Aber wir nehmen auch sehr ernst, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber, also die Sozialpartner, gemeinsam gesagt haben, dass sie in Kenntnis des Arbeitsmarkts ein Mehr an Mitwirkung vor Ort haben möchten. Ich denke, darüber können wir im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens reden.
Ich will auch auf das Thema Lohnbezug eingehen; der Minister hat es angesprochen. Wir wissen, dass uns das im parlamentarischen Verfahren weiter beschäftigen wird. Wir nehmen die Argumente, die dazu vorgetragen worden sind, ernst, aber sagen gleichzeitig: Wir haben uns gemeinsam im Koalitionsvertrag in Kenntnis dieser Diskussion anders entschieden. – Aber es geht natürlich darum, Arbeitgeber zu gewinnen, die die Instrumente nutzen.
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Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist – das sage ich genauso offen –, ob wir bei einer über fünf Jahre angelegten sehr großzügigen Förderung eigentlich wirklich von einer Förderlücke reden dürfen, weil wir damit unterstellen, dass der Wertschöpfungsbeitrag der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Bereich gleich null ist. Mit Verlaub, eine Förderlücke beim Arbeitgeber besteht nur, wenn wir unterstellen, dass über den gesamten Förderzeitraum die Arbeitskraft dieses Arbeitnehmers keinerlei Beitrag zur Wertschöpfung erbringen kann. Ich glaube das nicht. Aber ich glaube, dass es sich lohnt, diese Argumente in einem Verfahren sachlich zu erörtern.
Insofern freue ich mich auf die Beratung über einen guten Gesetzentwurf, den wir gemeinsam sicher noch besser machen können. Das ist eine gute Nachricht für Langzeitarbeitslose in Deutschland.
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Das Wort hat der Abgeordnete Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter lieber Herr Bundesminister Hubertus Heil, wenn man sich Ihren Gesetzentwurf im Detail ansieht, dann ist leider erkennbar, dass das Teilhabechancengesetz mehr auf Effekt als auf nachhaltigen Erfolg zielt. Das ist schade, und das ist zu kritisieren. Schaut man sich die Regelungen im Detail an, dann sieht man, dass es Ihnen vor allen Dingen um eine rasche Beschönigung der Arbeitslosenstatistik geht und nicht um die nachhaltige Vermittlung und die nachhaltige Verankerung im Arbeitsmarkt.
Natürlich werden die hohen Lohnzuschüsse von 100 Prozent in den ersten beiden Jahren Menschen sehr schnell, voraussichtlich bei sozialen Trägern, in Beschäftigung bringen; gar keine Frage. Das ist besser als nichts. Fünf Jahre Teilhabe ist auch schon was. Aber fünf Jahre gewährte Teil habe ist etwas anderes als Befähigung zur selbstbestimmten Teil nahme im Arbeitsleben. Dazu müsste man neben der Beschäftigung auch Qualifizierung ermöglichen. Da springen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf eindeutig zu kurz.
({0})
Wichtig wäre, dass während der Beschäftigungsphase ausreichend Mittel zur Verfügung stehen würden, die eine berufliche Qualifikation oder zumindest eine Teilqualifikation ermöglichen. Wenn man das, was Sie hier an Mitteln zur Verfügung stellen, mit dem vergleicht, was gering qualifizierten Berufstätigen durch Programme wie beispielsweise WeGebAU zur Verfügung steht, dann sieht man, dass hier kein Schwerpunkt auf die tatsächliche Qualifikation und die nachhaltige Verankerung im Arbeitsmarkt gelegt ist. Das kritisieren wir sehr deutlich.
Nachhaltige Politik wäre es im Übrigen, wenn Sie einmal etwas gegen die chronische Unterfinanzierung der Hartz‑IV-Verwaltung tun würden. Jedes Jahr fehlen in der Verwaltung 1 Milliarde Euro, die Sie aus den Mitteln zur Qualifizierung von Langzeitarbeitslosen entnehmen. Diese 1 Milliarde Euro jedes Jahr füllen Sie jetzt im Grunde mit der 1 Milliarde Euro aus dem neuen Programm. Diese Lücke müssen wir aber alle gemeinsam eines Tages einmal wirklich angehen; denn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern ertrinken in Bürokratie. Sie haben Entlastung verdient. Wir wissen doch, dass mehr Zeit für die Menschen auch bessere Vermittlungschancen für die Menschen bedeutet. Deshalb müssen Sie sich auch diesem Problem stellen.
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Geradezu verantwortungslos ist es, dass Sie die Mittel des Bildungs- und Teilhabepakets für bessere Bildungschancen der Kinder aus Hartz‑IV-Haushalten seit dessen Einführung nicht mehr erhöht haben, obwohl Schulhefte und andere Lernmaterialien in den letzten Jahren natürlich teurer geworden sind. Trotzdem verschieben Sie die Lösung dieser Herausforderung in die Zukunft, obwohl Sie sie als Erstes hätten in Angriff nehmen müssen.
Jedes Jahr verlassen 50 000 Jugendliche die Schule ohne Schulabschluss. Das heißt: In den vier Jahren, in denen Sie mit diesem neuen Programm 150 000 Menschen fördern wollen, werden voraussichtlich 200 000 junge Menschen die Schule ohne Schulabschluss verlassen. Das sind die potenziellen Langzeitarbeitslosen von morgen. Wenn man nachhaltige Sozialpolitik machen würde, hätte man zunächst einmal hier angesetzt. Die Erhöhung der Mittel für das Bildungs- und Teilhabepaket wäre ein einfacher und leichter Schritt gewesen. Es ist unverständlich, es ist geradezu zynisch, dass Sie hier nicht gehandelt haben.
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Eine nachhaltige und vernünftige Sozialpolitik zeigt positive Ergebnisse in der Arbeitslosenstatistik vielleicht aber auch erst zu einem späteren Zeitpunkt. Deshalb ist mein Verdacht, dass es Ihnen um einen schnellen Effekt geht. 2019 werden Sie von der SPD Ihre Koalitionsergebnisse von Ihrer Mitgliederbasis evaluieren lassen und werden dort bestehen wollen. Aber Parteikalkül führt im Ergebnis noch nie zu guter Sozialpolitik. Deshalb glaube ich, lieber Hubertus Heil: Machen Sie sich endlich frei von der falschen Politik Ihrer SPD. Zeigen Sie, was Sie können – im Interesse der Chancen für Menschen in diesem Land.
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Das Wort hat die Abgeordnete Katja Kipping für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Den Menschen, die einen Arbeitsplatz suchen, muss die Politik dabei Unterstützung anbieten; denn erzwungene Erwerbslosigkeit belastet Menschen genauso wie der Zwang zur Erwerbsarbeit – beides entrechtet. Die Linke macht sich deswegen seit jeher stark für Sanktionsfreiheit und für öffentlich geförderte Beschäftigung.
({0})
Was uns aber heute unter dem Titel „Teilhabechancengesetz“ vorgelegt wird, hat mit garantierter Teilhabe wenig zu tun. Es bleibt beim gezielt kleingerechneten Existenzminimum für Hartz‑IV-Beziehende. Es bleibt bei den Sanktionen und bei der Anrechnung innerhalb der Bedarfsgemeinschaft.
({1})
Kurzum: Es bleibt bei Hartz IV als Ausdruck sozialer Kälte. Da machen wir Linke nicht mit.
({2})
Einer von vielen Kritikpunkten ist die fehlende Freiwilligkeit. Wer ein Jobangebot ablehnt, muss mit Sanktionen rechnen. Solange Angebote unter Sanktionsandrohung stehen, geht es eben nicht zuallererst um Chancen, sondern es geht um nackte Erpressung.
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– Das ist ja interessant, dass aus den Reihen der AfD besonders viel Zuspruch für die Hartz‑IV-Sanktionslogik kommt. Wir werden das früh morgens vorm Jobcenter weitererzählen.
({4})
Nun haben Sie, Hubertus Heil, auf dem Podium beim Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge noch mal sehr deutlich gesagt, dass Zwang dabei kontraproduktiv ist und dass diese Maßnahmen nur wirken, wenn sie von den Betroffenen auch wirklich gewollt sind. Aber wenn das Ihre Überzeugung ist, dann schreiben Sie das doch ins Gesetz. Schützen Sie die Menschen vor Sanktionsandrohungen! Setzen Sie gemeinsam mit uns auf Sanktionsfreiheit!
({5})
In Berlin haben SPD und Linke ein wirklich gutes Konzept für soziale Arbeitsmarktpolitik entwickelt: freiwillig, besser entlohnt, sozialversicherungspflichtig.
({6})
Um solche guten Ansätze zu befördern, bräuchten wir nun im Gesetz eine Öffnungsklausel. Diese bräuchten wir, damit die Bundesländer bessere Modellprojekte umsetzen und ausprobieren können. Aber just diese Öffnungsklausel fehlt im Gesetzentwurf, Herr Heil. Dazu muss ich nur sagen: An der Seite der Union kommt offensichtlich auch beim Thema „sozialer Arbeitsmarkt“ eher Murks raus.
({7})
So richtiger Unsinn ist zum Beispiel die Regelung, dass man erst nach sieben Jahren in Hartz IV eine Teilhabechance nach diesem Gesetz angeboten bekommt. Das heißt also, einem Erwerbslosen, der erst fünf Jahre Hartz IV bezieht, sagen Sie dann: Du hast noch nicht lange genug gelitten. Tut uns leid für dich, für dich haben wir heute kein Angebot. – Das ist doch absurd.
({8})
Wir wissen doch: Je länger man aus einem Job raus ist, umso schwerer ist der Wiedereinstieg.
Kurzum: Gute soziale Arbeitsmarktpolitik geht anders – freiwillig, voll sozialversicherungspflichtig, besser entlohnt und ohne eine absurde Sieben-Jahre-Barriere.
({9})
Doch offensichtlich brauchen wir dafür andere Mehrheiten und auch eine andere Regierung.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister; ich sehe Sie gar nicht richtig da hinten! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Wir Grünen wollen einen inklusiven Arbeitsmarkt, der nicht ausschließt, sondern die Würde der Menschen in den Mittelpunkt stellt. Dafür brauchen wir einen Perspektivwechsel von einem ersten, zweiten oder gar dritten Arbeitsmarkt hin zu einem Arbeitsmarkt für alle. Zentrales Ziel ist dabei die soziale Teilhabe von langzeitarbeitslosen Menschen. Wir Grüne streiten schon lange für einen sozialen Arbeitsmarkt; denn alle Menschen brauchen Chancen und Perspektiven.
({0})
Wir begrüßen, dass heute das Teilhabechancengesetz eingebracht wird. Aber: Die Idee vom sozialen Arbeitsmarkt funktioniert nur, wenn die Bedingungen tatsächlich stimmen. Aber genau das ist bei diesem Gesetz nicht der Fall. Das treibt uns wirklich um; denn der soziale Arbeitsmarkt darf nicht scheitern, nur weil das Gesetz schlecht ist und die Rahmenbedingungen nicht passen. Deshalb müssen Sie unbedingt nachbessern.
({1})
Fünf Punkte möchte ich ansprechen.
Erstens. Von dem Instrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ sollen nur die Menschen profitieren, die bereits sieben Jahre im Leistungsbezug sind. Warum ist es eigentlich so eng und so starr? Die Menschen sind doch unterschiedlich; sie haben unterschiedliche Voraussetzungen und Lebenslagen. Deshalb sind die einen früher und die anderen später auf einen sozialen Arbeitsmarkt angewiesen.
Und wie kommen Sie eigentlich auf sieben Jahre? Es macht doch keinen Sinn, einen 55-jährigen Mann, der bereits vier Jahre arbeitslos ist, der keinerlei Chancen auf dem Arbeitsmarkt hat, nochmals drei Jahre warten zu lassen. Er braucht doch jetzt soziale Teilhabe, Chancen und Perspektiven.
({2})
Das wird einem sozialen Arbeitsmarkt in keiner Weise gerecht. Sieben Jahre sind einfach zu lang.
({3})
Zweitens. Den Lohnkostenzuschuss gibt es nur in Höhe des Mindestlohns. Das bedeutet, dass tariftreue Betriebe die Differenz zwischen Tariflohn und Mindestlohn selber finanzieren müssen. Herr Gröhe, das ist die Förderlücke, die Sie angesprochen haben. Aber die Betriebe, die nicht tariflich bezahlen, die schlechter bezahlen, bekommen den Arbeitsplatz zu 100 Prozent gefördert. Die haben keine Förderlücke. Das ist doch absurd.
({4})
Unabhängig davon: Die Privatwirtschaft, die Kommunen und die Beschäftigungsträger sollen sich doch am sozialen Arbeitsmarkt beteiligen und Arbeitsplätze zur Verfügung stellen. Wenn aber tarifgebundene Betriebe und Kommunen bei der Förderung benachteiligt werden, dann passiert doch genau das Gegenteil: Dann wird es eben die notwendige Zahl an Arbeitsplätzen nicht geben. Mit dieser Regelung ist das Scheitern vorprogrammiert. Und deshalb muss sich der Zuschuss an den tatsächlichen Löhnen orientieren, also auch am Tariflohn. Hier unterstützen wir Sie, Herr Minister, aus vollem Herzen; denn das ist die zentrale Voraussetzung, damit der soziale Arbeitsmarkt tatsächlich gelingen kann.
({5})
Drittens. Der Zuschuss wird dann auch noch Schritt für Schritt auf 70 Prozent abgesenkt. Auch hier blenden Sie aus, dass die Menschen unterschiedlich sind: Die einen benötigen nach drei Jahren weniger Förderung, aber die anderen weiterhin mehr. Dieses finanzielle Risiko, das am Anfang einer Beschäftigung ja niemand abschätzen kann, gehen die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber einfach nicht ein. Das schaffen übrigens auch nicht die Beschäftigungsträger; denn sie erwirtschaften in der Regel entweder nur geringe oder gar keine Gewinne. Auch an dieser Stelle sind Korrekturen notwendig.
({6})
Viertens. Kritik haben wir auch bei der Weiterbildung. Die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber können Weiterbildung ermöglichen, sie müssen es aber nicht. Und wenn sie es machen, dann bekommen sie nur 50 Prozent der Kosten erstattet. Das ist zu wenig. Natürlich brauchen Menschen, die lange arbeitslos waren, neue Qualifikationen, damit sich die Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen. Und deshalb müssen Weiterbildungen in vollem Umfang finanziert werden.
({7})
Fünfter Punkt, der ist mir persönlich besonders wichtig. Die Arbeitsplätze werden fünf Jahre gefördert, Langzeitarbeitslose können nur einmal davon profitieren. Diese Regelung ist fatal, und ich frage Sie: Wie geht es für die Menschen weiter, die auch nach fünf Jahren keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben? Wollen Sie diese Menschen dann weiterhin nur alimentieren? Was ist mit den schönen Worten, dass nicht Arbeitslosigkeit, sondern Arbeit finanziert werden soll? Vor allem zeigt diese Regelung, dass Sie den sozialen Arbeitsmarkt anscheinend einfach nicht verstanden haben. Es geht in erster Linie um soziale Teilhabe;
({8})
denn Arbeit ist für die Menschen mehr als nur Einkommen: soziale Kontakte, Wertschätzung, Anerkennung. Arbeit bedeutet gesellschaftliche Teilhabe, und dabei geht es auch um die Würde der Menschen. Deshalb muss die geförderte Beschäftigung zu einem dauerhaften Angebot werden; denn wir dürfen niemanden alleine lassen, und wir dürfen auch niemanden aufgeben.
({9})
Sehr geehrte Regierungsfraktionen, die Idee vom sozialen Arbeitsmarkt ist gut, der Gesetzentwurf ist aber schlecht. Das sagen nicht nur wir Grünen, sondern dass ist auch die Bewertung im Bundesrat, von dort kommen ja viele und vor allem auch gute Anträge. Ich appelliere an Sie: Nehmen Sie das ernst; denn der soziale Arbeitsmarkt darf nicht scheitern. Es gibt nur diese eine Chance. Korrigieren Sie die gesetzlichen Regelungen, und dann werden wir das Gesetz auch aus vollem Herzen unterstützen.
Vielen Dank.
({10})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Abgeordnete Katja Mast das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren auf den Besuchertribünen und zu Hause an den Bildschirmen! An die FDP gerichtet: Ich hätte mich wirklich gefreut, wenn Sie einmal eigene Vorschläge gemacht hätten. Nachdem Sie, als Sie mit der CDU/CSU in der Regierung waren, den Eingliederungstitel zusammengespart haben und die Instrumente zur Unterstützung von Langzeitarbeitslosen reduziert haben, stellen Sie sich hierhin und geben keine einzige Antwort. Das ist wirklich schade an dieser Stelle.
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Zu meiner Vorrednerin: Viele Punkte werden wir im parlamentarischen Verfahren diskutieren, weil sie ein sehr gutes Gesetz noch besser machen würden. Deshalb: Schauen wir mal, was in zweiter und dritter Lesung herauskommt.
Ich will Ihnen zu Anfang etwas erzählen, was mir begegnet ist in meiner Tätigkeit als Bundestagsabgeordnete. Ich habe vor ungefähr zehn Jahren bei der städtischen Beschäftigungsgesellschaft in Pforzheim eine ungefähr so groß geratene Frau wie ich, etwas stämmig, etwa 55 Jahre alt, kennengelernt, die mir von ihrem Alltag als Langzeitarbeitslose erzählt hat.
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Kollegin Mast, ich unterbreche Sie jetzt ungern.
Nein, ich möchte das gerne fertig erzählen; denn diese Frau hat unsere ganze Aufmerksamkeit verdient. – Die Frau war in einer Arbeitsgelegenheit; diese war kurz davor, auszulaufen. Sie hat gesagt: Endlich habe ich wieder einen Grund, morgens aufzustehen. Ich will arbeiten. Diese Arbeit gibt mir Würde zurück. Frau Mast, was können Sie dafür tun, dass mein Vertrag verlängert wird? Ich will einen Arbeitsvertrag. – Diese Begegnung hat mich über die ganzen Jahre als Abgeordnete begleitet, sie hat mich bewegt, sie hat sich ganz tief in mein Herz eingegraben, weil ich finde: Politik muss dieser Frau eine Antwort geben.
Heute, hier von diesem Redepult, kann ich sagen: Den sozialen Arbeitsmarkt machen wir genau für diese Frau und für viele andere Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, damit sie endlich soziale Teilhabe bekommen.
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Deshalb will ich mich an dieser Stelle auch nicht unterbrechen lassen, wenn ich über Bürgerinnen und Bürger spreche. Ich will betonen, dass wir zum allerersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kein erneutes Beschäftigungsprojekt – immer und immer wieder – für diese Langzeitarbeitslosen machen, sondern wir machen endlich ein Gesetz. Wir organisieren Arbeit in Würde mit einem Arbeitsvertrag; auch das war der Frau wichtig. Keine Arbeitsgelegenheit, bei der man 1 oder 1,50 Euro obendrauf kriegt, sondern die Menschen bekommen einen Arbeitsvertrag. Und wir ermöglichen echte Teilhabe am richtigen Arbeitsmarkt, nicht durch irgendwelche Scheinbeschäftigungen und Projekte, sondern durch würdevolle Arbeit.
Deshalb ist es auch ein großer Paradigmenwechsel, den wir hier heute vornehmen. Es ist für mich eine große Zeitenwende in der Sozialpolitik, auch weil wir Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren, den Passiv-Aktiv-Transfer endlich Realität werden lassen; das finde ich einen ganz wichtigen Punkt. Deshalb finde ich es wichtig, hier von diesem Redepult den Menschen in der Bundesrepublik Deutschland auch zu sagen, dass wir da weitergehen.
Für uns in der SPD war es lange unverständlich, warum es so lange gedauert hat, unseren Koalitionspartner davon zu überzeugen, dass wir dieses Gesetz ändern müssen; denn es ist eine pragmatische Antwort auf echte Probleme in dieser Republik. Ich weiß, dass viele meiner Genossinnen und Genossen in der SPD diesem Koalitionsvertrag zugestimmt haben, weil der soziale Arbeitsmarkt drinsteht. Sie haben gesagt: Wir müssen uns den Menschen zuwenden und dafür sorgen, dass es ein Miteinander gibt. Wir dürfen sie nicht in der Isolation zu Hause sitzen lassen, alimentieren, aber sagen: Würdevolle Arbeit gibt es für dich – auch als Vorbild für deine Kinder – in dieser Republik nicht. Deshalb bin ich froh, dass ich dieses Gesetz heute hier im Deutschen Bundestag einbringen kann. Ich bin froh, dass unser Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil mit seinem Haus das ermöglicht hat.
Wir diskutieren in dieser Woche ja noch über vier weitere große Gesetzentwürfe aus seinem Haus, wo es um andere Punkte geht. Das ist eben genau das, was sozialdemokratische Politik für dieses Land ausmacht: uns den Menschen zuzuwenden und ein Miteinander zu organisieren. Ich bin froh, dass wir das heute auf den Weg bringen.
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Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Kober das Wort.
Frau Kollegin Mast, Sie haben in Ihrer Rede die Behauptung aufgestellt, dass in der Koalition aus CDU/CSU und FDP in den Jahren 2009 bis 2013 die Mittel für Langzeitarbeitslose, für Arbeitsmarktpolitik
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– Eingliederungstitel – gekürzt worden seien.
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Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie eine nicht korrekte Aussage getroffen haben; denn Sie verschweigen, dass wir im Jahr 2009 den Eingliederungstitel auf das historische Allzeithoch angehoben haben, um die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf unseren deutschen Arbeitsmarkt zu mildern. Wir haben dann mit Beginn wiederbelebender Konjunktur diese Mittel Schritt für Schritt wieder zurückgeführt. Das sollten Sie um der Wahrheit willen berücksichtigen.
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Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Lieber Pascal Kober, ich freue mich zuerst einmal, dass meine Aussage, dass es keine Antworten der FDP auf dieses Problem heute in den Ausführungen gab, unwidersprochen im Raum steht. Das will ich zuerst einmal festhalten.
Das Zweite ist: Sie wissen genauso wie ich, dass die Pro-Kopf-Ausgaben im Eingliederungstitel für Langzeitarbeitslose unter der Arbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen, die in einer Koalition mit der FDP war, massiv zurückgefahren worden sind und dass die Trendwende erst in der letzten Regierung wieder eingeläutet worden ist. Es geht da eben genau um die 55‑jährige Frau, über die ich gerade gesprochen habe.
Haben wir Mittel, haben wir genug Instrumente dafür, dass wir Menschen, die arbeiten wollen, Arbeit ermöglichen in dieser Republik? Es geht um Menschen, die ganz am Rand stehen, die viele, viele, viele Jahre langzeitarbeitslos sind und die gebraucht werden wollen in dieser Gesellschaft. Genau darauf geben wir hiermit in dieser Koalition eine Antwort.
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Das Wort hat der Abgeordnete Carl-Julius Cronenberg für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Zweifellos, der Zeitpunkt für die Einführung eines neuen Instruments zur besseren Teilhabe von Langzeitarbeitslosen am Arbeitsmarkt ist günstig. Tatsächlich sind viele regionale und sektorale Arbeitsmärkte in Deutschland leergefegt. Es herrscht nicht nur Fachkräftemangel, es herrscht vielerorts ganz allgemein Arbeitskräftemangel.
Allerdings darf der günstige Zeitpunkt nicht dazu verleiten, allein mit Statistiken zu glänzen. Es geht um Menschen in schwierigen Lebenssituationen und ganz nebenbei auch um viel Geld. Entscheidend ist also nicht, dass möglichst viele Menschen in die geförderten Jobs hineingehen, sondern dass möglichst wenige aus dem Job wieder herausgehen und in den Leistungsbezug zurückkehren. Dabei begrüßen wir Freien Demokraten ausdrücklich, dass die GroKo bewusst auch private Unternehmen in die Instrumente einbeziehen möchte.
Jetzt muss man natürlich fragen: Wie stellen sich die Erfolgsaussichten aus Sicht der Arbeitgeber dar? Zunächst ist die Vermittlung von hoher Bedeutung. Der Arbeitgeberservice im Jobcenter muss definitiv gestärkt werden. Vielleicht ist es auch sinnvoll, Betriebsakquisiteure einzustellen, die gezielt auf Unternehmen zugehen. Es geht um die richtigen Tätigkeiten für die richtigen Menschen – das, Herr Minister, hatten Sie gestern im Ausschuss gesagt –; es geht also um Treffsicherheit. Nur im Gesetz finden wir dazu leider nichts.
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Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die Lohnlücke. Gehen Sie davon aus, dass die meisten Unternehmen der Vermittlung von Langzeitarbeitslosen skeptisch gegenüberstehen. Sie werden eine genaue Kosten-Nutzen-Abwägung treffen. Dabei stehen auf der Kostenseite neben der Lohndifferenz selbst auch die darauf anfallenden SV-Beiträge, die Einarbeitungskosten und die Risikoprämie im Fall des Scheiterns. Mit der Förderung auf Mindestlohnniveau bevorzugen Sie indirekt Sozialunternehmen oder genau die privaten Unternehmen, die ohnehin nur Mindestlohn zahlen. Das kann ja eigentlich nicht in Ihrem Sinne sein, wie Sie ausgeführt haben. Generell gilt: Je geringer die Lohnlücke, desto höher die Wahrscheinlichkeit der nachhaltigen Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt.
Letzter und wichtigster Aspekt ist das Coaching. Die Unternehmen können das nicht leisten; hier sind die Jobcenter gefordert. Es ist aber zu befürchten, dass die BA aufgrund von § 16i Absatz 4 SGB II Betreuungsleistungen zentral und bürokratisch ausschreiben wird. Das lehnen wir ab. Vielmehr sprechen wir uns für dezentrale und unbürokratische Prozesse bei der Organisation des Coachings aus.
Fazit: Das Gesetz könnte in die richtige Richtung weisen, allerdings besteht das Risiko, dass das Ziel der nachhaltigen Vermittlung verfehlt wird. Wenn die Erfolgsquote niedrig bleibt, haben Sie ein gutes Instrument verbrannt. Unternehmen, die schlechte Erfahrungen gemacht haben, werden keinen zweiten Versuch wagen. Deshalb muss im weiteren Prozess die Devise lauten: Qualität der Vermittlung schlägt Quantität.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben in den letzten Wochen viel über Zuwanderung von Fachkräften gesprochen, und ich bin froh, dass wir heute auch einmal darüber sprechen, wie wir die Langzeitarbeitslosen besser fördern. Ich fände es seltsam, wenn wir nur den Blick ins Ausland wenden, aber die Potenziale vor Ort nicht erschließen. Deswegen ist der Gesetzentwurf richtig, und er kommt zur richtigen Zeit.
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Der Gesetzentwurf – auch das ist richtig – ist nicht vorrangig darauf angelegt, unser Fachkräfteproblem zu lösen. Der neu geschaffene § 16e SGB II kann dazu vielleicht einen kleinen Beitrag leisten; denn hier ist die Integration in den Arbeitsmarkt das Ziel. Und so mancher hatte – so beschrieb es mir jüngst ein Mitarbeiter eines Jobcenters – schon in einer Maßnahme ein ganz persönliches Erweckungserlebnis. Er fand Spaß an der Arbeit, war engagiert, bildete sich weiter, schöpfte wieder neue Lebensfreude. Genau das ist es, meine Damen und Herren: Arbeit integriert; sie gehört zum Leben in unserer Gesellschaft. Deswegen heißt das Gesetz auch völlig zu Recht Teilhabechancengesetz.
Der für mich wichtigste Teil ist das neue Instrument des § 16i SGB II. Hier steht die Integration in den Arbeitsmarkt nicht im Vordergrund, sondern die Möglichkeiten der Teilhabe durch Arbeit. Wer keine Arbeit hat, ist häufig auch gesellschaftlich und sozial isoliert. Arbeitslosigkeit macht keinen Spaß, sondern ist eine Belastung sowohl für den Arbeitslosen selbst als auch für seine Familie. Und gerade die Familien nehmen wir besonders in den Blick, oder – technischer ausgedrückt –: die Bedarfsgemeinschaften.
Wir sehen in dem neuen Instrument des § 16i SGB II eine Möglichkeit, diese Bedarfsgemeinschaften zu stabilisieren und vielleicht zu verhindern, dass sich Leistungsbezug vererbt. Wir investieren also gewissermaßen in die Zukunft. Über fünf Jahre gefördert zu werden,
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ist eine große Chance für die Bedarfsgemeinschaft, einen – verzeihen Sie mir den Ausdruck – Spurwechsel hinzubekommen in die Erwerbstätigkeit, einen geregelten Arbeitsalltag, in dem auch Schule und Bildung wieder zu ihrem Recht kommen. Über fünf Jahre gefördert zu werden, ist auch ein großer Vertrauensvorschuss seitens des Zuschussgebers und seitens der Betriebe, die eine solche Verpflichtung übernehmen; der Kollege Cronenberg hatte es erwähnt.
Deswegen sind aus meiner Sicht zwei Dinge ganz besonders wichtig: Erstens. Eine solch lange Verpflichtung kann ich nicht mit einem Langzeitarbeitslosen eingehen, der sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt. Der Erfolg muss gewollt sein – von allen Beteiligten. Deswegen erscheint mir persönlich Freiwilligkeit hierbei wichtig.
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Zweitens. Es ist gut, dass wir eine solche Maßnahme mit einem sehr engen Coaching begleiten, das alle Aspekte des Lebens umfasst. Ich fände es schön, wenn wir dies in andere Rechtskreise einbeziehen könnten, vor allen Dingen in die Kinder- und Jugendhilfe. Dafür müssten wir auch über Erleichterungen beim Datenschutz sprechen. Ich glaube aber, es lohnt sich, hier noch einmal nachzudenken und den Menschen eben nicht nur mit dem Blick auf den Arbeitsmarkt zu coachen, sondern auch mit Blick auf familiäre und sonstige Problemlagen. Es braucht gerade in Bedarfsgemeinschaften häufig einen ganzheitlichen Ansatz.
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Meine Damen und Herren, mit Blick auf die parlamentarischen Beratungen möchte ich festhalten: Wir sprechen hier über Instrumente; diese kann man so oder so ausgestalten.
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Ich kann die Zugangsvoraussetzungen so oder so definieren, würde sie vielleicht aber bei Bedarfsgemeinschaften anders fassen als bei Menschen, die nicht in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Ich kann mich über ein vorgelagertes und ein nachgelagertes Coaching unterhalten. Meine Grundhaltung dazu ist: Je mehr Freiräume wir vor Ort bei den Entscheidungsträgern und ihren Klienten schaffen, desto besser ist es.
Gute Gesetzgebung ermöglicht, aber reguliert nicht am wirklichen Leben vorbei. Das wäre zumindest mein Verständnis von Subsidiarität – ein Hilfestellungsgebot, kein Regulierungsexzess. Ich jedenfalls habe das Vertrauen in die Mitarbeiter vor Ort, dass sie damit verantwortungsbewusst umgehen.
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Meine Damen und Herren, Arbeit ist immer besser als voraussetzungslose Bezuschussungen der Lebensführung durch den Staat. Insofern zeigt sich mit diesem Gesetzentwurf auch eine Grundphilosophie der Großen Koalition. Wir wollen Menschen die Chance geben, sich selbst zu ermöglichen, durch Hilfestellungen, durch Unterstützung, durch Arbeit, durch Anerkennung. Wir wollen die Selbstverantwortung stärken, und wir trauen den Menschen etwas zu – auch den Langzeitarbeitslosen.
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Das Wort hat die Abgeordnete Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Mast, ich gebe Ihnen ja recht, was Ihr Beispiel angeht. Ich kenne ganz viele solcher Frauen und Männer. Unsere erwerbslosen Menschen wollen arbeiten, und da halten sie sich an jedem Strohhalm fest. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Deshalb haben auch unsere erwerbslosen Menschen endlich gute Arbeit verdient, sozialversicherungspflichtige Arbeit, und dafür kämpfen wir als Linke.
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Die Bundesregierung feiert seit Jahren die vermeintlichen Rekordzahlen am Arbeitsmarkt. Die Zeche dafür zahlen die Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Niedriglohnbereich. Langzeiterwerbslose, Ältere und auch Menschen mit Behinderung haben Sie in den letzten Jahren völlig im Stich gelassen. Über ein Drittel aller Erwerbslosen ist langzeiterwerbslos, also länger als zwölf Monate ohne Job. Herr Gröhe, ich muss Ihnen sagen: Nur ein Bruchteil davon findet den Weg in den ersten Arbeitsmarkt. Schauen Sie sich diese Statistik bitte einmal an.
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Wer einmal aussortiert wurde, für den ist es sehr schwer, wieder den Anschluss zu finden, manchmal auch unmöglich. Die Erwerbslosen wurden mit Hartz-IV-Reformen verarmt. Hartz IV ist Armut per Gesetz. Die Linke hat dies schon immer gesagt, und wir werden das nie hinnehmen.
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Weiterbildungsangebote, Potenzialanalyse oder Zusammenarbeit auf Augenhöhe, das findet doch in den Jobcentern überhaupt nicht statt. Ihre Arbeitsmarktpolitik ist ein Irrweg. Doch genau diesem Weg folgen Sie mit dem Teilhabechancengesetz. Sie haben nichts gelernt in den letzten Jahren. Aber immerhin haben Sie ja erkannt, dass Ihre Arbeitsmarktpolitik hinsichtlich der Vermittlung von Langzeiterwerbslosen erfolglos war. Nun wollen Sie einen sozialen Arbeitsmarkt. Aber doch nicht so, meine Damen und Herren. Ihr sozialer Arbeitsmarkt ist völlig unzureichend ausgestaltet. Sieben Jahre Hartz-IV-Bezug als Voraussetzung: Damit grenzen Sie doch den Großteil derer aus, die sich jetzt Hoffnungen machen. Diejenigen, die sich mit einem Minijob über Wasser halten, werden nicht berücksichtigt. Mit der Förderung nur nach Mindestlohn schaffen Sie Beschäftigte zweiter Klasse in den Betrieben, da Arbeitgeber mit Tariflohn oft nicht aufstocken bzw. gemeinnützige Arbeitgeber das überhaupt nicht können. Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung fehlen, damit keine Ansprüche auf Arbeitslosengeld erworben werden können. Zusätzlichkeit und öffentliches Interesse spielen bei Ihnen überhaupt keine Rolle. Damit wird Verdrängungseffekten Tür und Tor geöffnet. Kurzum: Dieses Gesetz hat nichts, aber auch gar nichts mit einem sozialen Arbeitsmarkt zu tun. Es ist ein Etikettenschwindel.
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Gute öffentlich geförderte Beschäftigung fordern wir hier regelmäßig, schon seit 20 Jahren. Leider haben Sie nie zugehört. Die Linke möchte gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten fördern, die im öffentlichen Interesse liegen, zusätzlich, damit keine regulären Arbeitsplätze verdrängt werden, freiwillig, nach Tarif entlohnt und voll versicherungspflichtig. Statt der Alibipolitik dieser Bundesregierung brauchen die Menschen endlich eine echte Perspektive.
Danke schön.
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Für die SPD-Fraktion hat nun der Abgeordnete Dr. Martin Rosemann das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem sozialen Arbeitsmarkt schaffen wir ein Regelinstrument für längerfristige öffentlich geförderte Beschäftigung mit viel Gestaltungsfreiraum vor Ort und eben kein zeitlich befristetes Programm mit viel Bürokratie, weil die Problemlagen in Tübingen anders sind als in Gelsenkirchen.
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Dabei geht es in erster Linie um Teilhabe durch Arbeit. Das steht im Vordergrund. Für uns, meine Damen und Herren, ist wichtig, dass es um sinnvolle Arbeit geht. Deshalb, Frau Zimmermann, schaffen wir die Kriterien Zusätzlichkeit, öffentliches Interesse und Wettbewerbsneutralität ab, damit es sinnvolle Tätigkeiten für die Beschäftigten sind und sie etwas davon haben.
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Für uns ist wichtig, dass die Beschäftigten und ihre Familien begleitet und unterstützt werden und dass wir tatsächlich diejenigen zielgenau erreichen, die gerade dieses Angebot brauchen, nämlich diejenigen, die trotz bestmöglicher anderweitiger Unterstützung keine Perspektive auf dem ersten Arbeitsmarkt haben. Uns geht es nämlich darum, in jedem Einzelfall die Unterstützung und Förderung zu geben, die notwendig ist. Das beschränkt sich eben nicht auf ein oder zwei Instrumente, sondern umfasst den ganzen Unterstützungskanon, den das SGB II und das SGB III anbieten.
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Individuelle Unterstützung ist unser Anspruch, und dafür wollen wir die Rahmenbedingungen verbessern. Die Leute sollen auch im Jobcenter die Solidarität der Gesellschaft erfahren, gerade die, die lange draußen sind.
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Zum Schluss, meine Damen und Herren: Die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland steht heute vor zwei zentralen Herausforderungen. Zum einen müssen wir die Beschäftigten bei der Bewältigung des digitalen Wandels unterstützen, um Arbeitslosigkeit erst gar nicht entstehen zu lassen. Zum anderen müssen wir die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit endlich anpacken. Gerade den Menschen, die lange draußen sind, müssen wir wieder Perspektiven geben. Auf beide Herausforderungen geben wir in diesem Herbst wichtige Antworten. Mit dem Qualifizierungschancengesetz unterstützen wir Beschäftigte durch Qualifizierung. Wir sorgen dafür, dass sie in Beschäftigung bleiben können und geben ihnen damit Sicherheit und Schutz im Wandel. Mit dem sozialen Arbeitsmarkt ermöglichen wir Teilhabe durch Arbeit für Menschen, die sonst keine Chance haben. Beides, meine Damen und Herren, ist ganz konkret erlebte Solidarität.
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Ich finde, es ist wichtig, dass wir als Gesellschaft diese Herausforderungen solidarisch lösen und eben nicht dem Einzelnen oder der Einzelnen überlassen und den Einzelnen oder die Einzelne damit alleinlassen. Das macht für mich eine solidarische Gesellschaft aus, mit dem Sozialstaat als verlässlichem Partner.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Abgeordnet Kai Whittaker für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Herr Kollege Springer hat am Anfang seiner Rede unseren Gesetzentwurf kritisiert, weil er Bürgerarbeit beinhaltet. Ich habe einmal im Wahlprogramm der AfD nachgeschaut und war ganz erstaunt. Da steht nämlich:
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Die AfD setzt sich ferner für die Schaffung eines Angebots zur Bürgerarbeit ein.
Unter Bürgerarbeit ist die Ausübung gemeinnütziger Arbeit durch Langzeitarbeitslose zu verstehen, die nicht in Konkurrenz zum Arbeitsmarkt steht. Bürgerarbeit soll ca. 30 Wochenstunden umfassen und sozialversicherungspflichtig entlohnt sein.
Herr Springer, Sie stellen sich hier hin und kritisieren genau das, was Sie in Ihrem Wahlprogramm fordern.
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Ich schlage vor: Wir machen als Große Koalition ein weiteres Beschäftigungsprogramm. Erster Tagesordnungspunkt: Sie beschäftigen sich einmal mit Ihrem Wahlprogramm. Ich glaube, das wäre eine gute Möglichkeit.
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Da können Sie sich, Frau Zimmermann, gerne anschließen, weil das, was bei der AfD im Wahlprogramm steht, schlicht und ergreifend nah an dem ist, was Sie als Linkspartei fordern. Das zeigt, dass Sie in Wahrheit gemeinsame Politik hier in diesem Haus und gemeinsame Sache in der Sozialpolitik machen.
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Im Übrigen, Frau Zimmermann: Laut dem BMAS sind potenziell 800 000 Langzeitarbeitslose berechtigt, an diesem Programm teilzunehmen. Ich weiß nicht, warum Sie sich hierhinstellen und sagen, das sei nur ein Programm für ganz wenige. Es stimmt schlicht und ergreifend nicht, Frau Kollegin.
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Was machen wir? Wir schaffen ein eigenes Instrument. Das ist ein starkes Signal an die Langzeitarbeitslosen; denn wir zeigen, dass wir sie nicht vergessen haben. Wir geben mehr Geld aus – 25 Prozent mehr im Eingliederungstitel; so viel wie noch nie –, und wir geben vor allem Zeit, Zeit für die Langzeitarbeitslosen, sich zu entwickeln und ihren Weg auf den ersten Arbeitsmarkt zu finden.
Warum machen wir das Ganze? Wir diskutieren in diesen Zeiten sehr häufig, auch von diesem Platz aus, das Thema Fachkräftemangel. Ja, wir wollen aus dem Ausland Fachkräfte nach Deutschland holen, weil wir sie dringend brauchen. Aber ich frage mich schon, wie das auf Langzeitarbeitslose wirkt, die seit Jahren hier in Deutschland keinen Arbeitsplatz kriegen. Uns als Union ist es wichtig, dass wir diese Gesellschaft zusammenhalten. Herr Minister Heil hat vor kurzem in einem Interview zu Recht gesagt: Wir dürfen auch die Leute hier in diesem Land nicht vergessen. – Die Antwort ist also, dass wir diese Menschen nicht aufgeben, sondern dass wir an sie glauben und sie in den ersten Arbeitsmarkt bringen wollen.
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Der erste Arbeitsmarkt brummt wie noch nie in diesem Land. Natürlich muss das auch für jemanden, der lange Zeit auf Arbeit wartet und sucht, deprimierend sein. Deshalb machen wir dieses Gesetz. Wir als Union haben immer gesagt: Wohlstand für alle. Heute heißt es vielleicht richtigerweise: Erfolg für alle. Das muss unsere Aufgabe sein, die dieses Gesetz erfüllt.
Allerdings, liebe Kollegen von der SPD, hoffe ich, dass wir in diesem parlamentarischen Verfahren zwei Punkte noch miteinander diskutieren und dabei zu einer Lösung kommen. Gerade heute war zu lesen, dass 469 000 SGB-II-Bezieher seit dem 1. Januar 2005 im System sind. Wir nennen sie manchmal etwas despektierlich „Gründungsmitglieder“. Ich muss sagen: SGB II war nie als Dauereinrichtung gedacht, sondern wir haben immer gesagt: Das ist nur eine Hilfe auf Zeit. – Wir müssen alles dafür tun, diese Menschen dort wieder herauszubekommen. Ich glaube, es wäre ein noch stärkeres Signal, wenn wir den Menschen sagen: Wir fangen exakt mit diesen Leuten an, die seit über zwölf Jahren im System Hartz IV sind, und nehmen sie zuerst in dieses Arbeitsmarktprogramm hinein. Ich glaube, das wäre ein noch stärkeres Signal. Ich finde, wir sollten das tun. Dass es möglich ist, zeigt unter anderem eine Arbeitsmarktintegrationsfirma in Stuttgart, Metis, die das genau so gemacht hat und die doppelt so hohe Integrationsquoten hat als im Bundesdurchschnitt. Das zeigt, dass wir da noch ganz viel Potenzial haben.
Der zweite Aspekt ist das Thema Betreuungsschlüssel. Im Gesetz steht, dass sich ein Jobcentermitarbeiter um 150 Arbeitslose kümmern soll. In der Realität sind es 131. Das bedeutet ganz konkret: Ein Mitarbeiter hat 80 Minuten im Monat Zeit, um sich um einen Arbeitslosen zu kümmern. Davon benötigt er die Hälfte der Zeit für die Bearbeitung des Auszahlungsbetrags. Ich glaube, es wäre eine gute Idee, wenn wir diesen Betreuungsschlüssel verbessern, das heißt doppelt so viele Mitarbeiter wie bei anderen. Ich glaube, wenn wir Coaching machen, wenn wir mehr Personal zur Verfügung stellen, dann muss der Fallmanager auch die Zeit haben, um sich mit diesen langzeitarbeitslosen Menschen auseinanderzusetzen und sie an die Hand zu nehmen, um sie in den ersten Arbeitsmarkt zu begleiten, sonst wird es scheitern. Das ist genau das, was uns das IAB letzte Woche noch einmal als die Empfehlung Nummer eins an die Hand gegeben hat.
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Deshalb bitte ich Sie, liebe Kollegen von der SPD: Lassen Sie uns das angehen; denn ich will mich nicht dafür feiern lassen, dass wir die Pro-Kopf-Ausgaben pro Arbeitslosen gesteigert haben. Ich möchte uns dafür feiern, dass wir die Zahl der Langzeitarbeitslosen gesenkt haben.
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Letzter Redner in dieser Debatte ist der Abgeordnete Stephan Stracke für die CDU/CSU-Fraktion.
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Grüß Gott, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Arbeitsmarkt in Deutschland steht blendend da. Wir wollen Vollbeschäftigung in ganz Deutschland. Das ist unser Ziel – ambitioniert, aber wir sind dabei gut unterwegs. Dabei wollen wir auch die Menschen, die schon länger arbeitslos sind, mitnehmen und ihnen wieder Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt geben. Wenn nicht jetzt, wann dann? Dabei sind wir schon erfolgreich. Seit der Regierungsübernahme der Union Ende 2005 waren wir bei der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit erfolgreich. Die Arbeitslosenzahl hat sich mehr als halbiert: von rund 1,8 Millionen Langzeitarbeitslosen im Jahr 2005 auf deutlich unter 800 000. Auch im letzten Jahr gab es einen Rückgang von über 10 Prozent. Das zeigt hinsichtlich des vielbeschworenen zementierten Sockels: Wenn man sich dieser Themen annimmt, dann kann man da auch viel tun.
Der Freistaat Bayern ist hier besonders erfolgreich. Die beste Arbeitsmarktsituation aller Bundesländer herrscht in Bayern. Viel mehr profitieren die Menschen, die seit längerem arbeitslos sind, verstärkt von dieser hervorragenden Arbeitslosensituation. Sie ist deutlich besser als im Bund. Der Anteil derer, die arbeitslos und langzeitarbeitslos sind, ist um 12,6 Prozent gesunken. Das ist das Ergebnis einer erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik in Bayern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Ausgaben des Bundes für die Grundsicherung für Arbeitsuchende liegen bei über 36 Milliarden Euro. Über 10 Milliarden Euro nehmen wir für aktive Arbeitsmarktförderung in die Hand. Unsere Philosophie dabei ist, keine neuen Sonderwelten zu schaffen, die sich parallel und dauerhaft zum allgemeinen Arbeitsmarkt entwickeln. Das führt – das zeigt die Vergangenheit – schnurstracks in die arbeitsmarktpolitische Sackgasse. Unser Ziel ist es, eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt zu bauen. Das zentrale Instrument hierfür ist der § 16e SGB II, den wir mit diesem Gesetzentwurf jetzt ein Stück weit gangfähiger machen. Ich glaube, das ist gut. Wir werden ihn auch noch mit besseren finanziellen Mitteln hinterlegen.
Auch wir als Union wollen Menschen natürlich unterstützen, die es auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer haben, die kaum Aussichten auf eine Eingliederung in die reguläre Erwerbsarbeit haben. Sie haben oftmals den Halt im Leben verloren. Deswegen müssen wir wieder Struktur schaffen. Arbeit schafft Struktur. Vor diesem Hintergrund begrüße ich es ausdrücklich, dass die vorgesehene beschäftigungsbegleitende Betreuung der Betroffenen jetzt auch im Gesetz so verankert ist. Wir nennen das Coaching. Das macht Sinn, weil wir damit die gesamte Bedarfsgemeinschaft in den Blick nehmen, die Lebenssituationen stabilisieren. Auch hier ist der Freistaat Bayern erfolgreich. Wir haben das bereits in vielfachen Ansätzen modellhaft erprobt. Das ist auch die Blaupause für das, was wir jetzt vereinbart haben. Wir wollen Schluss machen mit Hartz‑IV-Karrieren, die sich tatsächlich auch vererben.
Wichtig ist es uns weiterhin, dass die neuen Förderinstrumente nicht zu Wettbewerbsverzerrungen führen. Wir wollen arbeitslose Menschen in Arbeit bringen, nicht Beschäftigte in Arbeitslosigkeit. Wir wollen die Vertreter des örtlichen Arbeitsmarktes verstärkt in die Pflicht nehmen. Ein öffentlich geförderter Arbeitsmarkt bietet sicherlich Chancen, birgt aber auch Risiken. Wir sollten deshalb auf Sicht fahren, die neuen Förderinstrumente zeitlich befristen und entsprechend qualifiziert evaluieren, was den Menschen hilft, im Arbeitsleben Fuß zu fassen und in den ersten Arbeitsmarkt zu gelangen. Das kann dann auch weiterlaufen. Alles andere muss und darf nicht weiterlaufen.
Das zeigt: Bei dem Instrument, das wir uns vorgenommen haben, ist zentral, dass die Auswahl der Geförderten, die tatsächlich sehr arbeitsmarktfern sind, tatsächlich klappt und funktioniert. Der jetzt vorgesehene Mechanismus sieben aus acht hinsichtlich des Leistungsbezuges macht Sinn. Er ist praktikabel, er ist einfach. Aber hinzu kommt eine nicht schablonenhafte Anwendung durch die Prognose besonders niedriger Eingliederungschancen bei der Ansprache durch die Jobcenter.
Die Vorlage des Landes Berlin, das den Zugang in den öffentlichen Arbeitsmarkt bereits für Menschen eröffnet, die ein Jahr arbeitslos sind, gleicht einer arbeitsmarktpolitischen Geisterfahrt. Dieser Ansatz verbaut Chancen und schadet den Menschen mehr, weil der Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt tatsächlich erschwert ist. Wir dürfen nichts dafür tun, dass die Geförderten in dem Bereich der öffentlich geförderten Beschäftigung gehalten werden. Genau das ist die Intention des Landes Berlin. Das machen wir selbstverständlich nicht mit.
Uns eint das Ziel, langzeitarbeitslose Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Ich freue mich auf die Diskussion, was den vorliegenden Gesetzentwurf angeht.
Herzliches Dankeschön.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 19/4725 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Den Begriff des Skandals verwende ich ja sparsam, aber die doppelte Belastung von Direktversicherungen mit Krankenkassenbeiträgen, die ist nun wirklich ein dicker sozialpolitischer Skandal.
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Seit Jahren machen entrüstete Betriebsrentnerinnen und Betriebsrentner lautstark auf diesen Skandal aufmerksam. Zu kaum einem Thema erreichen uns mehr kopfschüttelnde, entsetzte oder wütende Protestbriefe, Anrufe oder E-Mails. Kaum eine Betroffenengruppe ist so gut organisiert wie der Verein der Direktversicherungsgeschädigten. Darum haben die Betroffenen und wir Linken Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, bei diesem Thema mit allen parlamentarischen Mitteln, mit Anträgen, Anfragen, zwei öffentlichen Anhörungen und mit Presse- und Fernsehberichten heftig unter Druck gesetzt.
Nur zur Erinnerung: Mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz von 2003 wurde in einer Nacht-und-Nebel-Aktion beschlossen, dass auf Bezüge aus der betrieblichen Altersvorsorge, wie zum Beispiel Direktversicherungen, von den betroffenen Rentnerinnen und Rentnern zweimal Krankenkassenbeiträge bezahlt werden müssen, nämlich die für den Betriebsrentner und die für seinen nicht mehr vorhandenen Arbeitgeber. Das heißt: Von zum Beispiel 597 Euro Direktversicherungsrente muss Reinhard M. aus Heilbronn jeden Monat 107,16 Euro, also 18 Prozent, an Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen bezahlen – eine Kürzung um fast ein Fünftel!
Und auf wessen Mist ist diese zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit gewachsen? Auf dem Mist des CSU-Parteivorsitzenden Horst Seehofer aus Bayern und der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, SPD.
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Im Unterschied zu dem sogenannten halben Beitragssatz, den Rentnerinnen und Rentner für ihre gesetzlichen Renten zahlen müssen, muss bei Betriebsrenten seitdem der sogenannte volle Beitragssatz gezahlt werden. Besonders skandalös: Diese Regelung traf rückwirkend auch Verträge, die bereits vor 2004 abgeschlossen worden waren. Das war eine kalte Enteignung über Nacht, und die darf es nicht geben.
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Dabei wurde seit der Jahrtausendwende immer wieder für das Drei-Säulen-Modell der Alterssicherung geworben. Da kann ich nur sagen: Erst angelockt, dann abgezockt. Das muss ein Ende haben!
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Aber nicht nur die Höhe der Krankenkassenbeiträge bringt viele Betroffene auf die Barrikaden, sondern auch, dass sie ihre Beiträge oft aus schon verbeitragtem Nettoeinkommen und mit nur geringer Arbeitgeberbeteiligung angespart hatten. Oft gilt übrigens auch: Die Chefin oder der Chef hat keinen Cent dazu bezahlt. – Was ist daran noch betriebliche Altersversorgung?
Dieser Skandal, lieber CSU-Kollege Max Straubinger – den sehe ich leider gerade nicht –, wurde 2004 direkt vom CSU-Parteivorsitzenden Horst Seehofer verursacht; man kann das gar nicht oft genug sagen. Bis heute ist es die CSU, die ein Ende dieses Skandals verhindert.
Darum, meine Damen und Herren in Bayern, die Sie uns jetzt zuschauen: Wenn Sie selbst Beiträge in eine Betriebsrente einzahlen, dann dürfen Sie am kommenden Sonntag bei der Landtagswahl auf gar keinen Fall, wirklich auf gar keinen Fall, CSU wählen. Die CSU will Ihnen nämlich weiterhin fast 20 Prozent von Ihrer Betriebsrente abknöpfen.
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Wir Linken sagen hingegen: Ein Arbeitnehmer- und ein Arbeitgeberbeitrag für die Krankenversicherung in der Ansparphase reichen völlig aus. In der Auszahlungsphase sollen dann gar keine Beiträge mehr fällig werden. Die Doppelverbeitragung muss abgeschafft werden. Also, liebe Bayern mit Betriebsrente: Wählen Sie am Sonntag am besten Die Linke!
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Liebe CSU, liebe SPD, wenn Sie schon nicht auf uns und die Unmengen von Betroffenen hören, dann hören Sie doch wenigstens, Herr Kollege Henke, auf den Verwaltungsausschuss des GKV-Spitzenverbands. Der forderte am 30. August den Gesetzgeber, also Sie und uns, auf, für pflicht- und freiwillig versicherte Empfänger von Versorgungsbezügen wieder den halben Beitragssatz anzuwenden. Also: Selbst die Krankenkassen wollen zum alten Gesetz zurückkehren, liebe CSU, und schlagen sogar konkret vor, dies im Rahmen des GKV-Versichertenentlastungsgesetzes zu tun, das wir aktuell im Bundestag beraten.
Ich frage Sie als CSU und als CDU: Warum setzen Sie das nicht sofort um?
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Oder wollen Sie etwa darauf warten, dass der Antrag Ihrer CDU-Mittelstandsvereinigung vom 6. Juli auf dem CDU-Parteitag im Dezember beschlossen wird? Denn der fordert klipp und klar: halber Beitragssatz und Umwandlung der bisherigen Bagatellgrenze von 152,25 Euro in einen echten Freibetrag für alle. Das wären echte erste Schritte zur Lösung des Problems, die auch wir Linken unterstützen würden.
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Meine Damen und Herren, das ist auch exakt der Tenor des Beschlusses der NRW-Landesgruppe vom 11. Juni – der CDU? Nein, der SPD. Eine Umfrage der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ bei allen Bundestagsparteien ergab, dass sich alle, wirklich alle Parteien außer der CSU für eine Abschaffung der Doppelverbeitragung oder zumindest für die Einführung eines echten Freibetrages für alle Betriebsrenten aussprachen. Also: Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen, die FDP, die SPD und auch die CDU wollen das Problem ganz oder teilweise lösen. Sind Ihnen die Argumente der vielen Tausenden von Betroffenen, der Krankenkassen, der Gewerkschaften, der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber egal?
Ich glaube, das reicht jetzt mit Argumenten. Es gibt keinen einzigen nachvollziehbaren Grund mehr, die ungerechte doppelte Verbeitragung aufrechtzuerhalten. Ich sage: CDU und SPD dürfen sich nicht weiter von der CSU in Geiselhaft nehmen lassen.
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Schaffen Sie die Doppelverbeitragung zum 1. Januar 2019 ab, und finden Sie eine Entschädigungslösung für die Altfälle, oder erklären Sie den Menschen hier und jetzt, warum Sie das alles nicht tun werden und was genau Sie daran noch hindert!
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Karin Maag für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Lieber Kollege Birkwald, gestatten Sie mir, dass ich mich an der Keilerei im bayerischen Wahlkampf nicht beteilige, sondern mit meiner Koalition nach seriösen Lösungsmöglichkeiten suche.
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Wir führen heute eine Geschäftsordnungsdebatte, um zu erläutern, warum eine Einigung bislang noch nicht stattfinden konnte. Da ist schon der Sachverhalt nicht ganz banal. Unter einer rot-grünen Regierung hatten sich 2003 Milliardendefizite in der gesetzlichen Krankenversicherung angesammelt. Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach Ungleichbehandlungen gerügt. Vor allem um diesem horrenden Defizit zu begegnen, wurde damals ein ganzes Maßnahmenpaket zulasten der Versicherten beschlossen, unter anderem Sterbegeld gestrichen, Sehhilfen- und Brillenzuschüsse gestrichen, Fahrtkosten zu ambulanten Behandlungen gestrichen, und eben auch von den Rentnern verlangt, die vollen Kassenbeiträge auf die Betriebsrenten zu zahlen. In den letzten 15 Jahren seither sind aus den unterschiedlichen Varianten dieser Betriebsrenten Beitragseinnahmen von jährlich 6 Milliarden Euro aufgewachsen.
Nun müssen wir entscheiden, ob und gegebenenfalls wie hier geholfen werden kann und vor allem wem im konkreten Einzelfall geholfen werden kann und wem möglicherweise nicht. Die Entscheidungsparameter haben wir erarbeitet; die liegen auf dem Tisch. Die Diskussion, was daraus folgt, ist aber bei weitem und lange noch nicht abgeschlossen, lieber Herr Birkwald, was Sie im Ausschuss übrigens dankenswerterweise eingeräumt haben. Deswegen finde ich es ausgesprochen unseriös, hier so aufzutreten, wie Sie auftreten.
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Bei einer Gesamteinschätzung müssen wir natürlich die finanziellen Auswirkungen, die Beitragsausfälle in der gesetzlichen Krankenversicherung, betrachten. Den Betroffenen geht es – als Maximalforderung selbstverständlich – um die Rückabwicklung des gesamten rot-grünen Modernisierungsgesetzes mit der Folge von Rückforderungen in der Höhe von einmalig 40 Milliarden Euro. Jährliche Beitragsausfälle in Höhe von 3 Milliarden Euro kämen hinzu.
Die mir bekannten Lösungsansätze sind nur auf die Zukunft hin gerichtet. Da geht es zum Beispiel um die Halbierung des Beitragssatzes für die Leistungen der betrieblichen Altersvorsorge: Einnahmeausfälle von rund 2,5 Milliarden Euro jährlich. Wir reden über die Umwandlung von der Freigrenze in einen Freibetrag: Mindereinnahmen 1,5 Milliarden Euro jährlich.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, daneben sind weitere Betrachtungen wichtig. Zum einen das Thema Generationengerechtigkeit: 1973 finanzierten die Rentner ihre Gesundheitskosten mit eigenen Beiträgen zu 70 Prozent selbst. 2003 deckten die Rentner nur noch knapp 43 Prozent ihrer eigenen Ausgaben ab.
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Jetzt steigen die Zahl der Rentner und die entsprechenden Ausgaben infolge des demografischen Wandels an, weshalb die Jungen heute einen deutlich höheren Solidarbeitrag für die Älteren zahlen als in den vergangenen Jahren.
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Zum anderen orientieren sich die Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung natürlich an der finanziellen Leistungsfähigkeit der Versicherten; sie werden nämlich nach erwerbsbezogenen Einkünften bemessen. Deshalb fällt übrigens für die kleinen Betriebsrenten mit einer Auszahlung unter 152 Euro die sogenannte Doppelverbeitragung nicht an.
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Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, auch ich kann den Zorn derjenigen, die seit den 80er-Jahren für ein auskömmliches Leben im Alter gespart haben und die von der rot-grünen Regierung damals um die Früchte ihrer Arbeit betrogen wurden,
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sehr gut nachvollziehen. Jeder von uns erhält die Briefe und E‑Mails, aus denen hervorgeht, dass die Menschen das Ganze als hart und ungerecht empfinden. Über jeden von uns bricht nach jeder öffentlichen Rede der obligatorische Shitstorm los. Hinzu kommt in diesem Fall, dass das Bundesverfassungsgericht den Betroffenen – natürlich zu Recht, aber für sie ist das nochmals eine eigenständige Belastung – keinen Vertrauensschutz zugesprochen hat.
Richtig und wichtig – das ist meiner Fraktion vor allem wichtig – ist, dass die Beitragszahler in der Rente nicht zu hoch belastet werden.
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Sinnstiftende Lösungsansätze liegen meines Erachtens aber immer noch nicht auf dem Tisch. Die Mindereinnahmen in der GKV – jetzt werden wir mal ganz konkret – lassen sich entweder durch das Absenken des Leistungsvolumens oder durch eine Erhöhung der Beitragssätze ausgleichen. Ich finde, da ist es für eine linke Partei schon bemerkenswert, dass sie zugunsten der Leistungsfähigeren in der Solidargemeinschaft jene, von denen viele deutlich weniger Einkommen zur Verfügung haben, belasten wollen.
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Ich will das jedenfalls nicht.
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Erschwerend kommt noch hinzu, dass damit zwangsläufig auch die künftigen Generationen zusätzlich belastet werden – sie müssen nämlich die Einnahmeausfälle tragen –, und das will ich auch nicht.
Andere gute Vorschläge, wie die Deckungslücke von jährlich 2,5 Milliarden Euro, wenn man die Halbierung zugrunde legt, in der GKV aufgefangen werden kann, habe ich noch nicht gehört. Steuerzuschüsse? – Der Finanzminister hat das meines Wissens bisher abgelehnt. Wir müssen uns da dann auch überlegen, wo wir Schwerpunkte setzen. Wir haben in anderen Bereichen einen deutlichen Ausgabenaufwuchs. Ich persönlich fände eine Regelung ausschließlich für die Zukunft – das ist mir jetzt ganz besonders wichtig –, so, wie es die aktuellen Vorschläge vorsehen, ausgesprochen ungerecht.
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Eine Befriedung kann ich mir so nicht vorstellen. Man würde diejenigen, die am meisten und am längsten bezahlt haben und die vor allem auch am längsten gekämpft haben, von der Regulierung ausnehmen und damit noch einmal vor den Kopf stoßen.
Lieber Herr Birkwald, die solidarische Gesundheitsversicherung ist sicher keine Lösung. Ich darf aus dem Internetauftritt der Linken zitieren. Bei der solidarischen Gesundheitsversicherung richtet sich die
… Höhe der jeweiligen Krankenversicherungsbeiträge … nach der individuellen Leistungsfähigkeit, also nach dem individuellen Einkommen. Zur Berechnung des Beitrags werden alle Einkommensarten herangezogen, inklusive Kapitalerträge und Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung.
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Wer viel Einkommen hat, zahlt viel. Wer wenig hat, zahlt wenig. Und wer keins hat, zahlt nichts.
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Aber genau diese Situation haben wir im Moment. Mit dem, was Sie hier machen, streuen Sie den Menschen doch Sand in die Augen.
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Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss?
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Vorschläge, die im Moment auf dem Tisch liegen, sind jedenfalls nicht geeignet, eine Befriedung herbeizuführen. Meine Fraktion, meine Partei wird sich auf dem Parteitag im Dezember nochmals mit den Themen beschäftigen. Wir werden seriöse Lösungsmöglichkeiten erörtern und vorlegen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Maag. – Als Nächstes spricht für die AfD-Fraktion der Kollege Detlev Spangenberg.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie hatten ja im Gesundheitsausschuss anscheinend Angst, über dieses Thema zu diskutieren, weshalb Sie die Diskussion abgebügelt haben. Gut, dann machen wir es eben hier. Es geht heute um einen Antrag mit dem Titel „Gerechte Krankenversicherungsbeiträge für Betriebsrenten – Doppelverbeitragung abschaffen“. Allein den Begriff „Doppelverbeitragung“ dürfte es gar nicht geben. Einmal zahle ich den Beitrag, und damit ist es doch gut. Wieso zweimal? Das dürfte es gar nicht geben, meine Damen und Herren. Hier fängt schon die Ungerechtigkeit an.
Wir sprechen hier von circa 7 Millionen Verträgen, 7 Millionen Menschen, die unzufrieden sind mit der Regelung, die Sie ihnen eingebrockt haben. Erst seit 1983 werden die Rentner für Krankenversicherungsbeiträge zur Kasse gebeten, und zwar nur mit dem halben Satz für die Altersvorsorge. Das Gesundheitsmodernisierungsgesetz, das 2004 in Kraft trat, wird mit folgenden Begriffen kritisiert: konkrete Entwertung der Altersvorsorge von Arbeitnehmern. Oder: Recht ist, was die öffentlichen Kassen füllt. – Und auch der eben genannte Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes wird kritisiert. Da wird das Solidaritätsprinzip angemahnt; dabei haben die Leute schon bezahlt. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wird angesprochen, spielt ja eigentlich gar keine Rolle, die Leute haben immerhin etwas aufgebracht. Also nicht Gerechtigkeit wird hier herangezogen, sondern: Wen man zur Kasse bitten kann, der muss zahlen. Das ist die Aussage dabei.
Meine Damen und Herren, auch der DGB hat sich in seiner Einlassung vom 19. April 2018 nicht mit Ruhm bekleckert. Dort heißt es:
… Vertrauen in den unbegrenzten Fortbestand einer bestimmten Rechtslage zu einem bestimmten Zeitpunkt kann es nicht geben.
Das mag ja sein, aber wir sind hier im Vertragsrecht. Die Leute haben vor 2004 einen Vertrag geschlossen. Auf den müssen sie bauen können. Der Grundsatz ist: Wenn ich einen Vertrag geschlossen habe, dann habe ich das Recht, so gestellt zu werden, wie es der Vertrag hergibt.
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Das Bundessozialgericht formulierte mit Recht die seit 1983 geltende Regelung der zehnjährigen Beitragszahlungen – diese 120 Monate –, wenn die Kapitalauszahlungen erst nach Renteneintritt verlangt wurden. Da war es richtig, dass ich zehn Jahre zahle. Aber wenn einer schon vorher gesagt hat: „Ich möchte das Geld in einer Summe haben“, dann hat er das Recht, das ausbezahlt zu bekommen, und zahlt nur im ersten Monat einen Beitrag gemäß Beitragsbemessungsgrenze. Wie gesagt, das war die Rechtsprechung bis 2004. Somit bestand bis 2004 noch die Möglichkeit, die Beitragspflicht zu umgehen, wenn die Kapitalauszahlung vor Rentenbezug – was ich eben sagte – vertraglich vereinbart worden war.
Durch den Einschub in § 229 Absatz 1 Satz 3 SGB V vom 1. Januar 2004 wird das ausgehebelt. Sie müssen das einmal lesen, es ist herrlich formuliert: umständlich, verwässert, es versteht kein Mensch. Sie könnten einfach schreiben: Egal ob man eingezahlt hat oder ausgezahlt bekommt: Man muss Beiträge zahlen, wenn ausgezahlt wird. So einfach hätte man es schreiben können. Das hätten die Leute dann auch verstanden. Aber das sollen die gar nicht verstehen. Deshalb hat man diese komische Formulierung reingebaut, die Sie sich alle durchlesen sollten.
Unverständlich ist auch der Begriff der sogenannten Einkommensersatzfunktion, auch so ein herrlicher Begriff. Das bedeutet, wenn der Arbeitgeber in irgendeiner Form beteiligt war – das heißt, er braucht gar kein Geld zugeschossen zu haben; es reicht zu, wenn der Arbeitgeber als Versicherungsnehmer für den Arbeitnehmer gezahlt hat –, dann haben wir eine Einkommensersatzfunktion. Und begründet wird das dann, dass er bei der Auszahlung noch einmal zahlen muss, auch wenn er schon bei der Einzahlung gezahlt hat. Das ist haftungsrechtlich begründet durch den § 1 Absatz 1 Satz 3 des Betriebsrentengesetzes. Das ist eine sehr wässrige und dünne Begründung. Nur wenn der Arbeitnehmer selbst in den Vertrag eintreten würde, dann wäre dieser Teil nicht beitragspflichtig. Nur, wer weiß denn so etwas? Auf so etwas Kompliziertes kommt doch kein Mensch. Eine Informationspflicht war auch nicht gegeben. Man könnte auch wieder denken, es war gar nicht gewollt, dass die Leute darüber informiert werden. Somit unterliegen alle wiederkehrenden Leistungen oder Kapitalauszahlungen der Beitragspflicht.
Nun komme ich zu dem interessanten Kapitel „Verträge“. Was ist mit den Verträgen von vor 2004?
Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Schluss.
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Es geht um den Vertrauensschutz, meine Damen und Herren. Aus meiner Sicht handelt es sich um ein echtes Rückwirkungsverbot und nicht um ein unechtes, wie es hier immer definiert wird.
Herr Kollege, ich meine das ernst. Sie kommen bitte zum Schluss.
Ja, noch ein Satz. – Das heißt, die Vertragspartner mussten nicht damit rechnen, dass entsprechende Änderungen vorgenommen werden. Sie haben ein Recht, auf die Gültigkeit ihres Vertrages bauen zu können. Deswegen: Dieses Geld ist unrechtmäßig eingenommen worden.
Danke sehr.
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Vielen Dank. – Als Nächstes für die SPD-Fraktion der Kollege Professor Karl Lauterbach.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Blicken wir zunächst einmal auf die Situation von damals, 2003/2004, zurück: Wir hatten damals Massenarbeitslosigkeit, fast 5 Millionen Arbeitslose. Die gesetzliche Krankenversicherung hatte sehr hohe Defizite. Es wurde darüber diskutiert, ganze Leistungsbereiche herauszunehmen, zum Beispiel den Zahnersatz. Und wir hatten ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes umzusetzen bezüglich der Ungleichbehandlung von freiwillig gesetzlich Versicherten und gesetzlich Pflichtversicherten. – Das war die Lage. In dieser Situation haben wir damals gemeinsam entschieden, dass die sogenannte Doppelverbeitragung passieren muss, also in Anbetracht dieser Situation.
Frau Maag, es war kein rot-grünes Gesetz, sondern wir haben das in der Landesvertretung Baden-Württemberg gemeinsam verhandelt. Ich stimme nicht Herrn Birkwald bei seiner, sagen wir mal, Wahlkampfrede in jedem Punkt zu; aber der Ehrlichkeit halber muss man sagen: Derjenige, der den Vorschlag damals gemacht hat, war Horst Seehofer. Von daher ist es kein rot-grünes Gesetz allein gewesen,
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sondern ein Gesetz, das wir alle mit vertreten haben.
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Daher ist es aus meiner Sicht richtig, jetzt darüber zu diskutieren; denn die Situation hat sich grundlegend geändert, und wir müssen das Gesetz jetzt revidieren.
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Ich will das auch begründen; das ist ganz simpel.
Erstens. Das war damals eine andere Situation. Wir haben heute keine, ich sage mal, hohen Defizite, sondern die Krankenversicherungen haben insgesamt ein Plus von, wenn ich Gesundheitsfonds und Kassen zusammenziehe, fast 30 Milliarden Euro. Es kann nicht angehen, dass wir darüber diskutieren, per Gesetz die Kassen dazu zu zwingen, für eine Gruppe von Versicherten die Beitragssätze zu senken – die derzeit höher anfallen, als sie anfallen müssten –, und gleichzeitig bei den Betriebsrentnern doppelt kassieren. Das ist eine Ungleichbehandlung, die wir nicht hinnehmen können.
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Zum Zweiten. Wir haben auch die strukturellen Probleme am Arbeitsmarkt weitgehend lösen können. In der Tat haben wir derzeit einen Mangel an Facharbeitern. Das heißt, die damalige Begründung fällt heute nicht mehr an. Wir haben ein anderes Problem: Wir haben heute sozusagen nicht mehr Massenarbeitslosigkeit, sondern wir haben Angst vor Altersarmut; und um die Altersarmut zu bekämpfen, brauchen wir eine starke Betriebsrente. Da kann es nicht sein, dass wir die Betriebsrente unattraktiver machen, indem wir sie doppelt verbeitragen.
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Im Kampf gegen die Altersarmut müssen wir jetzt tatsächlich dazu übergehen, die Doppelverbeitragung jetzt abzuschaffen.
Wir haben ein Unrecht hier; denn diejenigen, die durch die Doppelverbeitragung mit dazu beigetragen haben, dass sich die Situation der Krankenkassen so konsolidiert hat, dass sich die Lage am Arbeitsmarkt konsolidiert hat, die dürfen jetzt nicht nachträglich noch bestraft werden dafür, dass sie damals diesen Beitrag geleistet haben.
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Das heißt, die müssen jetzt auch entlastet werden, die haben das jetzt verdient. Sie haben einen Beitrag geleistet und haben jetzt als Erste unsere Entlastung verdient. Es ist von daher auch kein Geheimnis, dass wir als SPD uns dafür schon in den Koalitionsverhandlungen eingesetzt haben; ich habe die Koalitionsverhandlungen in diesem Bereich für die SPD geführt. Wir haben dieses nicht umsetzen können; die Details spielen hier keine Rolle.
Wir bleiben aber an dem Thema dran – das ist ganz klar –, und ich bin auch sicher, dass wir zu einer Lösung kommen werden. Ich halte es auch für richtig. Wir haben ja vonseiten der Landesgruppe NRW den Vorschlag gemacht – an dem war ich auch selbst beteiligt –, dass wir die Freigrenze in einen echten Freibetrag umwandeln – das heißt, die kleinen Betriebsrenten würden dann gar nicht herangezogen –
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und dass wir darüber hinaus dann die Doppelverbeitragung abschaffen. Das ist eine saubere Lösung, die wir uns auch leisten können. Das geht tatsächlich mit Mehrkosten einher; aber, Frau Maag, wenn Sie sich hier darüber beklagen, dass die Linkspartei – die ich hier ungern in Schutz nehme – bereit wäre, diejenigen zu belasten, die ein geringes Einkommen haben, um diejenigen zu entlasten, die ein etwas höheres Einkommen haben, nämlich die Betriebsrentner, dann sollten Sie mit der gleichen Logik auch einmal darüber nachdenken, wie sinnvoll es ist, dass wir diejenigen, die gut verdienen und privat versichert sind, gar nicht belasten. Dann müssten Sie den Vorschlag, eine Bürgerversicherung einzuführen, aufgreifen.
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Denn wenn wir einmal damit anfangen, dass wir die Gutverdiener ehrlich heranziehen, dann müssten Sie bei dem System ansetzen, das die Einkommensstärksten mit guter Rente und die Staatsdiener herausnimmt; wir Beamte brauchen ja keine Betriebsrente, weil wir hohe Pensionen haben. Dort müssten Sie ansetzen, damit wir zu einem gerechten System kommen.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Professor Lauterbach. – Als Nächste für die FDP-Fraktion die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Doppelverbeitragung von Betriebsrenten ist ja ein Dauerbrenner in der politischen Diskussion. Für die Ruheständler ist sie leider ein Dauerärgernis; das müssen wir hier einmal konstatieren.
Für uns als FDP ist die Doppelverbeitragung der Altersvorsorge einfach nur unfair, sie ist unsystematisch, und sie schafft Fehlanreize gegen die doch so wichtige Säule der betrieblichen privaten Altersvorsorge. Deswegen können wir das nicht hinnehmen, meine Damen und Herren.
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Ich muss schon noch mal darauf zurückkommen – es war ja schon eigentümlich, wie der Schwarze Peter hier immer von links nach rechts geschoben wurde –: Also, das GKV-Modernisierungsgesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen, das hat schon Rot-Grün unterschrieben, Sie haben Ihre Unterschriften daruntergesetzt. Natürlich war die Union auch beteiligt; das muss man auch sagen.
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Auf Herrn Seehofer komme ich auch gleich noch mal zu sprechen.
Das Gesetz an sich war schon schlimm genug, aber dass das auch noch rückwirkend galt, das ist der eigentliche Skandal. Damit hat die Politik in den letzten 14 Jahren – denn das Gesetz besteht ja immer noch – die Finanzplanung von Millionen Altersruheständlern einfach mal so vom Tisch gewischt. Das geht nicht, meine Damen und Herren!
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Das war mal wieder so typisch eine kurzsichtige Maßnahme nach Kassenlage. Eigentlich sind wir uns doch hier immer einig, dass nachhaltige Politik keine Politik nach Kassenlage sein darf.
Besonders schlimm an dieser Doppelverbeitragung, neben der mangelnden Fairness, finde ich, wie gesagt, dass sie das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen massiv beeinträchtigt; sie fühlen sich einfach unfair behandelt, und das ist für das Vertrauen in die Politik nicht gerade sehr gut.
Nun zu Herrn Seehofer: Wir können uns ja alle noch erinnern an die schönste Nacht in seinem bisherigen Leben, mit Ulla Schmidt.
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Von Ulla Schmidt weiß ich nicht, wie sie dazu steht. Ich werde sie demnächst mal fragen. Aber ich muss sagen: Für die Betriebsrentner war das keine schöne Nacht, für sie war es eher ein Albtraum. Das müssen wir hier jetzt mal feststellen.
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Bei aller Diskussion über schlaflose Nächte oder Albträume möchte ich eines feststellen: Die FDP-Fraktion war die einzige Fraktion, die dem Gesetz nicht zugestimmt hat,
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und das mit Recht, meine Damen und Herren, und aus gutem Grund; denn der Eingriff der Politik – hören Sie doch mal zu! – in bestehende Verträge zulasten der Versicherten – in bestehende Verträge! –, das war und ist ein Sündenfall. So etwas darf in der Zukunft nicht wieder passieren.
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Noch mal ganz konkret: Es gibt viele Versicherte, die allein aus eigenem Arbeitseinkommen, also ohne Arbeitgeberzuschüsse, und aus ihrem Nettogehalt die Beiträge entrichtet haben, und zwar im Vertrauen darauf, dass am Ende der Laufzeit, bei der Auszahlung, noch das gilt, was man ihnen am Anfang versprochen hat, nämlich dass nur einmal Beiträge fällig werden. Die Betroffenen müssen jetzt leider feststellen, dass ihnen am Ende ein Fünftel des Auszahlungsbetrages einfach weggenommen wird. Das schmerzt besonders, weil das gerade die Leute betrifft, die ihr wegfallendes Einkommen ersetzen wollen.
Es geht also um Vertrauen, um verlorengegangenes Vertrauen. Wie gesagt, Politik sollte eigentlich Vertrauen herstellen und nicht konterkarieren. Die Anhörung, die wir im April gemacht haben, hat gezeigt, dass wir dieses Vertrauen zurückgewinnen müssen. Das können wir aber nur erreichen, wenn wir die unfaire Doppelverbeitragung abschaffen, meine Damen und Herren.
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Denn Riester-Renten werden künftig ja nicht doppelt verbeitragt. Insofern sagen wir: Wir müssen alle Formen der betrieblichen Renten fair ausgestalten und auch gleich ausgestalten, und zwar nur mit einer einmaligen Auszahlung.
Ich komme zum Schluss. Es gebe Beratungsbedarf, sagen Sie. Es gibt namhafte CDUler, die sagen, sie sind gegen die Doppelverbeitragung. Die SPD ist dagegen. Nun machen Sie endlich mal was! Denn so, wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Frau Kollegin Aschenberg-Dugnus. – Als Nächste für Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Maria Klein-Schmeink.
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Sehr geehrter Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Insgesamt und vorweg: Es gibt in der Tat eine Gerechtigkeitslücke in der Behandlung der verschiedensten Formen der Altersvorsorge hier in der Bundesrepublik Deutschland, steuerrechtlich und beitragsrechtlich. Ganz besonders gibt es sie für die Gruppe, die tatsächlich schon vor 2004 Verträge abgeschlossen hatte in der Annahme, dass keine weiteren Beiträge fällig werden würden. Hier ist in bestehende Verträge eingegriffen worden. Ich finde, das muss man eindeutig und klar sagen und auch zugestehen.
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Wir können aber – das ist der nächste Punkt – das Heilen dieses Missstandes, dieser Gerechtigkeitslücke nicht daran festmachen, dass wir wesentliche Eckpfeiler unserer Krankenversicherung einfach infrage stellen und aushöhlen und wichtige Prinzipien elementar verletzen. Das hat damit zu tun, dass wir bei der Ermittlung der Beiträge zur Krankenversicherung ganz klar dem Prinzip folgen, dass das Einkommen, das man zu einer bestimmten Zeit hat, als Grundlage für die Entscheidung genommen wird, ob ich leistungsfähig bin bzw. wie hoch meine Belastung prozentual ausfällt.
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Und dann ist es natürlich so, dass derjenige, der mehr Einnahmen hat, mehr beiträgt als derjenige, der weniger Einnahmen hat. Das ist ganz klar.
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Ein zweites zentrales Prinzip ist, dass bei der Krankenversicherung der Rentnerinnen und Rentner der vollständige Beitragssatz fällig wird, aber – das haben wir als Gesetzgeber beschlossen – über Steuern die Hälfte des Beitrags im Wesentlichen refinanziert wird.
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Das heißt: Wenn Sie hier als Lösung vorschlagen, die Doppelverbeitragung aufzulösen, beschreiten Sie damit einen katastrophalen Irrweg. Sie irren sich grundsätzlich; denn wir haben keine Doppelverbeitragung oder den Ausschluss der Doppelverbeitragung als Prinzip in der Krankenversicherung der älteren Menschen im Bereich der Altersversorgung. Wir haben vielmehr das Prinzip, dass die Belastung durch Steuermittel reduziert und insofern sozial ausgestaltet wird.
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Das wäre jetzt die Aufgabe. Sie als Regierungsparteien haben also die Aufgabe, die Frage zu beantworten, wo wir die Mittel herholen, die für die Refinanzierung über Steuermittel notwendig sind, wenn wir alle Alterseinkünfte gleich behandeln wollen. Damit haben Sie jetzt eine Aufgabe. In der aktuellen Situation stehen Haushaltsmittel in einem Maße zur Verfügung, wie das früher nicht der Fall war.
Man muss aber als Nächstes auch sagen: Wir haben nicht nur eine Gerechtigkeitslücke im Bereich der Beitragsbemessung, sondern wir haben auch andere Formen der Mehrbelastung. Schauen Sie sich an, was bei den sonstigen freiwillig gesetzlich Versicherten passiert: Da wird grundsätzlich und immer jede Einkunftsart bis zur Beitragsbemessungsgrenze verbeitragt. Auch das wird in der Folge Gerechtigkeitsfragen aufwerfen. Diese Fragen werden an dieser Stelle nicht gelöst; das muss man ganz klar sagen. Insofern ist, auch wenn eine Seite dieses Hauses das nicht so gerne hört, die Bürgerversicherung die Lösung all dieser Probleme,
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weil wir dann tatsächlich alle Einkunftsarten zur Grundlage für die Bemessung der Beiträge zur Krankenversicherung heranziehen würden. Damit würde der Leistungsfähigere die Krankenversicherung für den Ärmeren solidarisch mitfinanzieren.
Ich will Ihnen von der Linken einmal sagen: In Ihrem Antrag steht nicht, dass Steuermittel zur Refinanzierung genutzt werden sollen, sondern Sie verweisen auf die Möglichkeit der Bürgerversicherung. Das heißt, die Versichertengemeinschaft würde diese Einzellösung finanzieren müssen. Das würde bedeuten, dass auch die Pflegehilfskraft, die einen Mindestlohn von – was habe ich gerade gesehen? – 10,55 Euro bezieht, das mitfinanzieren muss, obwohl es um Betriebsrentner geht, die wahrscheinlich ein erheblich höheres Einkommen haben als diese Pflegehilfskraft.
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Deshalb verbietet es sich aus meiner Sicht, aus unserer Sicht, diesen Weg zu wählen.
Wir müssen eine Lösung finden, und wir müssen vor allen Dingen für diejenigen eine Lösung finden, die rückwirkend belastet worden sind, weil das unfair und nicht nachvollziehbar ist. Aber wir müssen eine Lösung finden, die über das Steueraufkommen läuft und nicht über die Versichertengemeinschaft. Das wäre zutiefst unfair. Mit Verlaub, Herr Birkwald, ich verstehe nicht, dass Ihre Kolleginnen und Kollegen aus dem Gesundheitsbereich diesen Weg überhaupt akzeptieren können. Wenn wir von einer Doppelverbeitragung reden, dann haben wir das wesentliche Element, das heute die Krankenversicherung für die Rentner ausmacht, nicht wirklich begriffen.
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Wir würden das gefährden, und das kann auf keinen Fall der Weg sein.
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Ich bin froh, wenn wir in den Beratungen weiterkommen. Sie werden eine Lösung vorlegen müssen – das sehen auch wir so –, aber sie kann nicht so aussehen wie der Vorschlag in dem Antrag der Linken.
Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Erich Irlstorfer.
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Verehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Das Thema beschäftigt uns heute zum wiederholten Male. All das, was ich bisher hier gehört habe, war entweder der Versuch, das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 14. November 2003, das zum 1. Januar 2004 in Kraft getreten ist, historisch, sachlich, fachlich und rechtlich zu verteidigen und zu rechtfertigen, oder es wurde in extrem emotionaler Tonlage und mit einer entsprechenden Wortwahl versucht, die Situation zu beschreiben, aufzurütteln, bloßzustellen und zu verurteilen – egal aus welcher Motivation heraus.
Herr Birkwald, ich kann Ihnen nur sagen: Das war eine schöne Rede voller Emotionen. Etwas anderes habe ich nicht erwartet.
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Das war aber eher eine parteipolitisch motivierte Rede als ein sachlich begründeter Vortrag.
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Ich möchte Ihnen schon einmal Folgendes sagen: Indem Sie sich hierhinstellen, über Skandale, Seehofer und die Wahl reden, haben Sie heute den wahren Grund für Ihr Engagement genannt: Sie sind auf Stimmenfang und möchten mit den Sorgen und Nöten der Betroffenen hier Wahlkampf machen. – Was ich davon halte, können Sie sich vorstellen.
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Herr Kollege Birkwald, eines möchte ich schon auch noch korrigieren: Wir kämpfen natürlich um Mehrheiten und Lösungen – das ist vollkommen normal –; aber bis es dazu kommt, dass Sie uns treiben, muss noch viel mehr passieren, gell? Merken Sie sich das!
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, die verschiedenen Sichtweisen, die wir hier zu hören bekommen, haben natürlich alle ihre Berechtigung. Beiden Anschauungen kann ich etwas abgewinnen. Doch auch in einer so intensiven Debatte unter Einbeziehung sämtlicher Fakten müssen uns als aktuell politische Entscheider, glaube ich, drei Fragen leiten.
Die erste Frage ist: Wollen wir eine politische Entscheidung aus dem Jahr 2003 rückwirkend verändern, weil wir der Meinung sind, dass diese rechtlich vermutlich einwandfreie und machbare Entscheidung unserer Meinung nach 2018 korrigiert werden soll? Wir hätten die Möglichkeit gehabt, im Koalitionsvertrag die Weichen dafür zu stellen. Herr Kollege Lauterbach, wir haben uns damals nicht durchsetzen können; das stimmt, das ist so. Das wollten unsere Parteivorsitzenden nicht.
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Soll die Entscheidung also korrigiert werden, weil wir nach Abwägung der Situation der Meinung sind, dass die Entscheidung, die wir damals für notwendig und handwerklich durchführbar gehalten haben, jetzt aber generell unserem Verständnis von Beitragspolitik im Sozialversicherungswesen widerspricht?
Die zweite Frage lautet: Wie und in welchem Umfang gehen wir mit dem im Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2004 und dem Jahresende 2018 Geschehenen um, und wie bewerten wir die Situation ab dem 1. Januar 2019?
Die dritte Frage lautet: Wie können wir das Ganze finanzieren? Durch wen, in welcher Form und in welchem Zeitraum?
Diese drei Sachverhalte müssen wir in einem normalen parlamentarischen Verfahren sachlich erörtern und bewerten und dann hier im Parlament entscheiden. Mein Vorschlag ist, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass wir vor einer Entscheidung hier im Parlament auch die Länder mit in die Verantwortung nehmen, dass wir sie insofern mit einbinden, dass sie zumindest gehört werden. Wir von der CSU werden natürlich ebenso wie die Kollegen von der CDU entweder im Parteivorstand oder auf einem Parteitag diese Dinge noch einmal besprechen. Ich schlage aber auch vor, dass wir Parlamentarier eine weitere fraktionsübergreifende Informationsrunde durchführen. Dazu hatten wir schon einmal eingeladen; die Zahl der Anwesenden war aber überschaubar. Ich glaube, Ralph Brinkhaus und Alexander Dobrindt würden das sicher noch einmal machen.
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Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn wir auf diesem Weg zu dem Entschluss kommen, dass wir in diesem Bereich Veränderungen wollen, dann müssen wir den Menschen im Land natürlich auch sagen, wie das Ganze finanziert werden soll. Ich habe mitbekommen, dass die Kollegin von den Grünen immer wieder das Thema Bürgerversicherung angesprochen hat. Ich glaube nicht, dass das der richtige und vor allem gerechtere Weg ist.
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Ich glaube, die Folge wäre genau das Gegenteil.
Ich möchte hier auch mit meiner persönlichen Meinung nicht hinterm Berg halten: Ich bin der absoluten Überzeugung, dass wir eine Regelung für die Zukunft brauchen, das heißt ab Januar 2019. Ich bin aber auch – Stand heute – der Meinung, dass wir nicht alle finanziellen Situationen der Betroffenen rückwirkend ausgleichen können. Aber wir müssen ein deutliches finanzielles Signal in diese Richtung senden, weil es natürlich wichtig ist, dass wir die Zukunftsfähigkeit im Bereich der Rente im Hinblick auf die oft genannte dritte Säule weiterhin erhalten.
Eines, denke ich, ist noch viel wesentlicher als all das, worüber wir hier immer wieder nach vorne und nach hinten diskutieren: Wir als Deutscher Bundestag haben primär die Aufgabe, für Verlässlichkeit und Stabilität zu sorgen. Wenn sich ein Arbeitnehmer Gedanken um seine Zukunft macht, wenn er sich fragt, wie es weitergeht, wie er sich auch im Rentenalter versorgen kann, und wenn er im guten Glauben eine finanzielle Absicherung für seine Rente vornimmt und einen Vertrag unterschreibt, dann, glaube ich, muss er sich darauf verlassen können, dass die Konditionen dieses Vertragswerkes Gültigkeit haben,
({7})
egal wer dieses Land regiert
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und unabhängig von der wirtschaftlichen und finanziellen Situation der Sozialversicherungspartner.
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Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren, dürfen wir hier nicht Dinge vorgaukeln, die es gar nicht gibt. Ich höre immer wieder Schlagwörter wie „Skandal“, „Betrug“ und alles Mögliche, was dazugehört. Ich weiß, man hört das nicht gerne, aber das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 6. September 2010 ausdrücklich festgestellt, dass es im Beitragsrecht der gesetzlichen Krankenversicherungen kein Verbot gibt, Einkommen doppelt mit Beiträgen zu belasten. Das ist nicht unsere politische Meinung, und deshalb haben wir auch die politische Kraft, diese Dinge zu verändern. Aber von „Unrecht“ zu sprechen, ist, glaube ich, schon noch eine andere Nummer.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, zum Abschluss – das, glaube ich, kann uns einen –: Wir wissen, dass das nicht Sache nur einer Partei oder nur der Regierung ist, während die Opposition ausgeschlossen ist. Wir alle sind verpflichtet, hier eine Lösung zu finden.
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Ich glaube, dass alle Parteien in diesem Hause und auch in den Ländern bereit sind, gemeinsam zu einer Lösung beizutragen.
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Das eint uns, darüber werden wir reden, und wir werden auch darum ringen, welche Situation die bessere ist. Schließlich geht es bei diesem Thema um mehr als nur um Geld. Es geht um Glaubwürdigkeit. Wir werden die Situation entzerren, und wir werden sie verbessern. Aber wir werden nicht alles schaffen können. In diesem Sinne hoffe ich auf gute Beratungen und auf eine faire Zusammenarbeit.
Danke schön.
({13})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächstes die AfD-Fraktion mit dem Kollegen Jörg Schneider.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Menschen haben für das Alter vorgesorgt, sie haben dafür Geld genommen, für das sie schon Krankenversicherungsbeiträge gezahlt haben, dann kommt es zur Auszahlung, und sie müssen noch einmal Krankenversicherungsbeiträge zahlen. Das finden wir nicht richtig. Deswegen unterstützen wir den Antrag der Linken.
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Herr Birkwald, es wäre fair gewesen, wenn Sie uns eben bei der Aufzählung der Unterstützer Ihres Antrags nicht unterschlagen hätten.
Wir sprechen heute letztendlich über den Krankenversicherungsbeitrag. Das tun wir öfter. In der Regel läuft es darauf hinaus, dass die Menschen irgendwann – mit ein paar Monaten Vorlauf und einer Vorwarnzeit – 5 Euro mehr oder 10 Euro weniger in der Tasche haben. Der Fall, über den wir heute sprechen, ist deswegen vollkommen anders gelagert. Da geht es um einen relativ großen Betrag, und es geht darum, dass dieser Betrag von Menschen vollkommen unerwartet erhoben wird; sie kommen vollkommen unerwartet in diese Situation.
Jetzt könnte man natürlich sagen: Wenn jemand eine Lebensversicherung ausgezahlt bekommt, hat er einen Haufen Geld auf dem Wohnzimmertisch liegen; davon kann er doch solidarisch ein bisschen abgeben. – Das Problem ist nur: Diese Menschen befinden sich in einer besonderen Lebenssituation. Sie stehen gerade am Übergang vom Arbeitsleben ins Rentnerdasein. Das ist mit finanziellen Einbußen verbunden. Sie verdienen weniger Geld. Sie stellen sich darauf ein. Sie versuchen, Kosten zu reduzieren. Sie finanzieren zum Beispiel die Schlussrate ihrer eigenen Wohnung mit diesem Geld. Das heißt, dieses Geld ist eben nicht frei verfügbar; es ist verplant. Wir bringen diese Menschen dadurch, dass wir ihnen viel davon wegnehmen, in eine echte Notsituation.
Wir brauchen hier tatsächlich eine Lösung. Wenn es die 100-Prozent-Lösung der Linken werden sollte, die auch wir befürworten würden, wäre das schön. Aber vielleicht finden wir hier einen Kompromiss. Frau Maag, ich kann Ihnen da nicht zustimmen: Es lagen doch nun wirklich genügend Kompromissvorschläge auf dem Tisch. Zum Beispiel sprachen wir über die Freigrenze. Eine Freigrenze muss man sich so vorstellen: Wer bis zu – ungefähr – 18 000 Euro bekommt, zahlt nichts; wer – rein theoretisch – 1 Cent mehr bekommt, zahlt 3 100 Euro. Die Sache mit der Freigrenze ist vielleicht eine wirklich sinnvolle Angelegenheit, wenn es darum geht, irgendwelche Bagatellbeträge zu verhindern. Aber, meine Damen und Herren, hier sprechen wir über 3 000 Euro. Das ist ein Viertel des Jahreseinkommens eines Rentners. Das ist keine Bagatelle. Hier ist die Freigrenze definitiv das falsche Instrument. Hier brauchen wir einen Freibetrag, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Und – auch das klang eben schon an –: Normalerweise werden die Sozialversicherungsbeiträge zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber geteilt. Hier haben wir aber eine Situation, in der hinter dem Arbeitnehmer kein Arbeitgeber mehr steht, der die Hälfte übernimmt. Da wäre es eigentlich logisch, auch von ihm nur die Hälfte abzufordern. Das machen wir aber nicht. Er muss den vollen Betrag selber bezahlen. Da der halbe Beitragssatz und diese Regelung ja schon bestanden, denke ich, das wäre tatsächlich eine sinnvolle Vorgehensweise, um die Menschen hier zu entlasten.
Ich möchte noch einen Vorschlag machen. Wir sprechen ja darüber, dass dieser Krankenversicherungsbeitrag auf 120 Monate verteilt kassiert wird. Das sind also zehn Jahre. Wir haben ja mittlerweile erfreulicherweise eine wesentlich höhere Lebenserwartung. Man könnte diesen Beitrag – das würde gar nicht viel Geld kosten – auf 20 Jahre verteilen. Dann würden wir die monatliche Belastung schon einmal halbieren.
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Das würde nicht viel Geld kosten. Die anderen Vorschläge würden Geld kosten.
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Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, hier geht es nicht nur um Geld, sondern es geht hier auch um Vertrauen. Wir wollen, dass junge Menschen vorsorgen. Wie wollen wir das denn den jungen Menschen begreiflich machen, wenn sie sehen, dass ihren Großeltern und ihren Eltern, die vorgesorgt haben, ein großer Teil dieser Vorsorge einfach weggenommen wird?
Meine Damen und Herren, ich finde es erfreulich, dass ich jetzt doch ein paar Ansätze gehört habe, die darauf hindeuten, dass sich die Regierung in diese Richtung bewegt. Die Kompromisse liegen auf dem Tisch. Bitte bewegen Sie sich in diese Richtung! Schaffen Sie gerade bei den jungen Menschen in diesem Land das Vertrauen, das wir brauchen.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank. – Als Nächstes für die SPD-Fraktion der Kollege Ralf Kapschack.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauer! Gibt es irgendjemanden hier im Plenum, der keine Mail oder keinen Brief zum Thema „Krankenkassenbeiträge auf Betriebsrenten“ bekommen hat? – Alle; das habe ich mir gedacht.
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Das zeigt: Das ist ein Thema, das viele Menschen umtreibt. Sie erwarten zu Recht, dass wir endlich etwas tun. Auch wenn mittlerweile sämtliche Gerichte die Praxis der Beitragserhebung für rechtens erklärt haben, gilt hier wie anderswo: Nicht alles, was rechtens ist, ist auch politisch vernünftig.
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Es geht schließlich nicht nur um die Frage: „Wie viel Geld bekommen die Krankenkassen?“, sondern es geht auch um die Frage: Wie stellen wir die Altersversorgung der Zukunft auf? Für uns ist klar: Wir wollen die betriebliche Altersversorgung als Ergänzung zur gesetzlichen Rente stärken. Da spielt die Beitragsbelastung eine erhebliche Rolle.
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Wir wollen – wie bei der gesetzlichen Rente; Karl Lauterbach hat das schon gesagt – den halben Krankenkassenbeitrag auf Betriebsrenten. Das scheitert bislang leider an der Union. Ich denke, die Union sollte sich da endlich bewegen.
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Als wichtigen Schritt können wir uns einen echten Freibetrag vorstellen. Davon würden vor allem Bezieherinnen und Bezieher von kleineren Betriebsrenten profitieren. Die Kosten liegen bei ungefähr 1 Milliarde Euro. Natürlich muss man sagen, woher das Geld kommen soll; das ist klar. Nur: Wenn der Gesundheitsminister landauf, landab erklärt, die Krankenkassen seien finanziell wunderbar aufgestellt – heute fordert er die Absenkung des Zusatzbeitrags –, dann fällt es schwer, zu sagen, für die Reduzierung der Krankenkassenbeiträge auf Betriebsrenten sei kein Geld da.
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Außerdem erhalten Krankenversicherung und Pflegeversicherung durch die geplanten Verbesserungen bei den Renten, über die wir morgen debattieren werden, weitere ungeplante Finanzmittel von rund 600 Millionen Euro. Deshalb ist aus unserer Sicht die Finanzierung des halben Beitrags auch aus Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung auf absehbare Zeit möglich.
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Auch für die Zukunft wird man Wege finden, wenn man das wirklich will.
Aus der Union kommt gelegentlich der Hinweis, man könne die Situation vor allen Dingen für die Direktversicherten nicht befrieden; deshalb solle man am besten gar nichts tun.
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Wenn das eine Messlatte für politische Entscheidungen ist, dann könnten wir uns hier einiges sparen.
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Es geht zumindest darum, einen Schritt in die richtige Richtung zu machen, nicht mehr und nicht weniger. Wir möchten eine Regelung für die Zukunft, die die betriebliche Altersversorgung attraktiver macht, als beste Ergänzung zur gesetzlichen Rente.
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Es kann aus meiner Sicht nur darum gehen, für die Zukunft eine vernünftige, nachvollziehbare Regelung für die Rentenauszahlung zu finden. Denn je eher wir diese Regelung finden, desto besser, und desto mehr Betriebsrentnerinnen und -rentner auch mit alten Verträgen werden davon profitieren.
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Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte gerne im Zusammenhang vortragen. Wir können das ja gleich mit einer Kurzintervention regeln. – Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch. Wir wollen den halben Krankenkassenbeitrag auf Betriebsrenten.
Ich sage zum Schluss: Es kommt ja nicht so oft vor, dass ein Sozi die Mittelstandsvereinigung der Union lobt.
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Aber wenn es einen Vorschlag gibt, den wir richtig klasse finden, dann können wir das ruhig tun. Und den gibt es. Es gibt nämlich einen Antrag zum CDU-Bundesparteitag im Dezember.
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– Man kann es aber nicht oft genug sagen, wenn Sie mal was Vernünftiges machen.
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Es gibt einen Vorschlag, den ich richtig gut finde, weil er unsere Forderung eins zu eins aufnimmt. Ich hoffe sehr, dass es für diesen Antrag auch eine Mehrheit gibt und sich die Union endlich bewegt.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kapschack. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Klein-Schmeink.
Nach den Einlassungen von Herrn Kapschack werfen sich für mich doch Fragen auf, wie die SPD insgesamt mit der Bewertung von Altersbezügen und der Verbeitragung im Krankenversicherungsbereich umgeht. Wir haben ja heute bei der gesetzlichen Krankenversicherung durchaus das Prinzip, dass der Pflichtversicherte Krankenversicherungsbeiträge bis zur Bemessungsgrenze zahlt und es gleichzeitig eine Refinanzierung durch den Bundeshaushalt für die zweite Hälfte gibt. Es wird also sichergestellt, dass die Versichertengemeinschaften all derer, die in der gesetzlichen Krankenversicherung sind, nicht darüber belastet werden. Das ist ein Prinzip, das auch mit Ihren Stimmen einmal als Grundprinzip festgelegt worden ist.
Jetzt schlagen Sie ein Verfahren vor, bei dem Sie die günstige Situation, die wir derzeit im Gesundheitsbereich tatsächlich haben, weil es höhere Rücklagen gibt, nutzen wollen. Wir wissen aber, dass die Rücklagen durch die vielen, vielen Maßnahmen, die Sie jetzt beschließen wollen, insbesondere auch für die Pflege, sehr schnell aufgebraucht sein werden. Wollen Sie diese Lösung trotzdem zulasten der Krankenversicherten angehen? Das hieße ja in der Tat, dass auch die Pflegehelferin – das ist zwar berechnet auf 3 Milliarden Euro; aber es ist ja immerhin der Gegenwert von 0,3 Beitragspunkten; das muss man sich schon vergegenwärtigen – dann zu zahlen hat. Da wiederum stellt sich schon die Frage, ob das ein gerechtes Prinzip ist und ob Sie das in Zukunft mit anderen Ausgaben im sozialrechtlichen Bereich genauso weiterführen wollen, indem Sie einfach alles in die Versichertengemeinschaften der Krankenversicherten schieben. Das ist aus unserer Sicht nicht in Ordnung.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Herr Kollege Kapschack, wollen Sie antworten?
Liebe Kollegin, Sie haben mir aufmerksam zugehört, wie ich gesehen habe. Ich bin der Meinung – und Karl Lauterbach hat vorhin auch so argumentiert –, dass die Krankenkassen zurzeit sehr wohl in der Lage sind, eine entsprechende Lösung zu finanzieren.
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Das heißt, dass es im Moment überhaupt keine Mehrbelastung geben würde, und diese Regelung würde auch Zeit schaffen, um darüber nachzudenken, wie wir das in Zukunft regeln. Aber es geht erst einmal darum – ich glaube, das ist der Punkt, an dem wir heute sind –, dass wir etwas tun, damit auch die Menschen, die darauf angewiesen sind, mit einer Betriebsrente einen ordentlichen Lebensabend zu bestreiten, merken, dass wir dieses Problem endlich ernst nehmen und dass wir uns bewegen.
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Herzlichen Dank. – Als Nächstes für die FDP-Fraktion der Kollege Wieland Schinnenburg.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir erleben hier ein Trauerspiel – ein Trauerspiel in fünf Akten:
Erster Akt: Seit Jahrzehnten kennen wir das demografische Problem. Es gibt immer weniger Beitragszahler und immer mehr Leistungsempfänger.
Zweiter Akt: Alle Regierungen aller Couleur, auch die FDP, alle Experten empfehlen den Menschen: Ihr müsst selbst für euch vorsorgen. – Und das tun auch Leute.
Dritter Akt: Dann stellte die ganz große Koalition aus Union, SPD und Grünen fest: Ach, da ist ja Geld. Da können wir mal drauf zugreifen. Also belegen wir mal kurz die Beiträge und auch die Auszahlungen dieser Menschen, die sinnvollerweise für ihr eigenes Alter vorsorgen, mit Abgaben.
Vierter Akt: Wenn es im Gegenteil darum geht, Geld auszugeben, dann sind Sie ganz schnell dabei. Die Große Koalition aus Union und SPD ist munter dabei.
Fünfter Akt: Mittlerweile herrscht offenbar die einhellige Meinung, dass die Doppelverbeitragung ungerecht ist. Seit Jahren ist das kollektive Meinung. Reaktion darauf? Keine. Es gab zwei Anhörungen im Bundestag. Seit Anfang des Jahres ist der Antrag von der Linksfraktion, über den wir jetzt gerade hier reden, mehrfach auf der Tagesordnung des Gesundheitsausschusses gewesen. Jedes Mal wurde er von der Tagesordnung abgesetzt.
Meine Damen und Herren, dieses Trauerspiel muss beendet werden.
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Wie Sie wissen, bin ich Mediziner. Ich habe mir mal ein bisschen Gedanken über den Krankheitszustand der Großen Koalition gemacht. Hier haben wir eine doppelte Diagnose. Wenn es um das Ausgeben geht, leidet die Große Koalition am Hyperaktivitätssyndrom. Wenn es darum geht, ungerechte Belastungen der Bürger zu beseitigen, haben wir eine chronifizierte Lethargie. Meine Damen und Herren, das ist ein ganz grausames Krankheitsbild zulasten der Menschen. Auch das muss beendet werden.
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Meine Damen und Herren, wir müssen es belohnen und nicht bestrafen, dass Menschen für sich selber vorsorgen. Sie machen das genaue Gegenteil. Und wir müssen dafür sorgen, dass die Große Koalition nicht ständig Versichertengelder für ihre Wahlprojekte verprasst. Anders ausgedrückt: Dieser Koalition und dieser Regierung muss man mal kräftig in den Hintern treten. Das werden wir als FDP weiterhin machen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Herr Kollege Dr. Schinnenburg, herzlichen Dank. Ich gehe davon aus, dass Sie das sozusagen im übertragenen Sinne gemeint haben mit dem „in den Hintern treten“.
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Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Rudolf Henke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich hätte mir ja, offen gestanden, niemals träumen lassen, dass ich nach der letzten Rede, die ich zu dem Thema gehalten habe, einen derartigen Shitstorm auf Facebook ernten würde – für eine Maßnahme, die, jedenfalls als zuständige Ministerin, Ulla Schmidt eingebracht hat, die ich gut aus dem Wahlkreis kenne. Das hätte ich mir nicht träumen lassen, aber es war halt so.
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Ich finde, man muss einmal an die Gründe der damaligen Entscheidung erinnern. Herr Lauterbach hat ja die wirtschaftliche Situation, auch die Situation der Krankenkassen, dargestellt. Er hat auch daran erinnert, dass das Bundesverfassungsgericht damals für die Krankenversicherung der Rentner Aussagen gemacht hat, die umgesetzt und beachtet werden mussten. Insofern ist die damalige Situation eine gewesen, die auch einen Imperativ dargestellt hat. Aus diesem Grund finde ich das, ich sage mal, Ausschütten von Häme über die damals vielfältig Beteiligten – sicher nicht nur Ulla Schmidt und die SPD, aber eben auch Ulla Schmidt und die SPD – nicht in Ordnung. Deswegen, finde ich, haben die Kolleginnen und Kollegen, die damals gehandelt haben, auch Verteidigung verdient.
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Die steht ihnen zu, und jedenfalls ich möchte die auch darstellen.
Das Prinzip der gesetzlichen Krankenkasse ist: Beiträge nach Leistungsfähigkeit – Karin Maag hat darauf hingewiesen –, Leistungen nach Bedarf. Anders als in der Rentenkasse richtet sich die Leistung der gesetzlichen Krankenkasse auch nicht nach der Höhe der eingezahlten Beiträge. Auch anders als in der Betriebsrente richtet sie sich nicht nach der Höhe der eingezahlten Beiträge, sondern prinzipiell nach den Maßstäben des Sozialgesetzbuches: notwendig, zweckmäßig, ausreichend, wirtschaftlich. Darauf haben die Versicherten – und zwar alle Versicherten – ein einklagbares Recht, und die Höhe der Beiträge folgt dann der Leistungskraft.
Dass sie ein einklagbares Recht darauf haben, ist der Grund, weswegen eine Minderung dieser Rechte immer eine Entscheidung des Gesetzgebers verlangt, dass etwas aus dem Leistungskatalog ausgegliedert wird. Ich kann mich an keine Ausgliederung von Leistungen aus dem Leistungskatalog erinnern, der Die Linke, zum Teil auch in ihren Vorformen, nicht heftig widersprochen hätte.
Deswegen, finde ich, kann man über viele Lösungen diskutieren. Aber der springende Punkt für die Lösungen ist doch: Wird damit die Finanzkraft der gesetzlichen Krankenkassen geschwächt oder nicht und in welchem Umfang? Lieber Herr Kollege Kapschack, lieber Freund aus der Koalition,
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wir haben jetzt aktuell eine günstige Wirtschaftslage, erleben aber gerade, dass die Bundesregierung die Wirtschaftswachstumsprognosen nach unten korrigiert. Wir können also doch nicht sagen, diese gute Situation gelte jetzt für ewige Zeiten und deswegen könnten wir locker mal so eben auf – je nach Lösungsvorschlag – 2,5 Milliarden Euro oder 5 Milliarden Euro oder 1 Milliarde Euro im Jahr verzichten. Bei rückwirkender Abwicklung würde das sogar bedeuten, dass man auf Beträge eines Vielfachen davon verzichten müsste. Zu fordern, den Beitrag einfach auf null zu setzen, wie Sie das machen, lieber Herr Birkwald,
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und dann zu sagen: „Wir machen uns vom Acker, und der Rest ist uns völlig egal“, das ist eine Lösung, die sich verbietet.
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Das ist der Grund, weswegen es so schwierig ist. Deswegen stelle ich mich auch vor den Gesundheitsausschuss, wenn er sagt, an dieser Stelle bestehe weiterhin Beratungsbedarf.
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In der Tat, an Vorschlägen, was man technisch machen kann – Umwandlung von einer Freigrenze in einen Freibetrag, Halbierung des Beitrags, der an die gesetzliche Krankenkasse fließt –, ist kein Mangel. Jeder bekommt Briefe aus dem Kreis der betroffenen Direktversicherten, die diese und weitere Vorschläge enthalten. Bei uns in Aachen wird jetzt die Junge Union eine Bezirksversammlung zu diesem Thema mit Karl-Josef Laumann durchführen und lädt dazu ein, dort über Lösungen zu diskutieren und darüber zu reden, wie das funktionieren kann. Ich bin für sehr viele dieser Lösungen offen. Die haben ordnungspolitisch natürlich unterschiedliches Gewicht. Aber eins geht nicht, nämlich so zu tun, als hätten wir in der gesetzlichen Krankenkasse auf ewige Zeiten 2,5 Milliarden, 5 Milliarden oder 1 Milliarde Euro übrig, und einen neuen Rechtsanspruch zu schaffen, den wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, ja niemals zurücknehmen könnten.
Deswegen muss eine Lösung für die Refinanzierung her. Da finde ich es, lieber Herr Birkwald, nobel und gut von Ihnen, dass Sie eben daran erinnert haben, wie sich die gesetzliche Krankenkasse einlässt im Zusammenhang mit der Diskussion über die Frage der künftigen Beitragsbemessung. Für die Empfänger von Versorgungsbezügen hat sich der Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbandes positioniert. Er befürwortet mehrheitlich die Anwendung des halben allgemeinen Beitragssatzes für pflicht- und freiwillig versicherte Empfänger von Versorgungsbezügen. Dann findet man aber die Formulierung – die haben Sie eben verschwiegen –:
Darüber hinaus hat sich der Verwaltungsrat dafür ausgesprochen, in einer Protokollnotiz festzuhalten, dass er eine Kompensation der entgangenen Beiträge erwartet.
Das ist doch der Kernpunkt. Dafür haben wir noch keine Lösung.
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Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
Wenn wir die gefunden haben, dann werden wir die Beratung im Gesundheitsausschuss auch abschließen. Alles andere heißt, die Dinge übers Knie zu brechen – aus populistischen Wahlkampfgründen. Das machen wir nicht mit.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt erwarten wir die Kollegin Bärbel Bas, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, die Konfliktlinie ist gerade noch einmal deutlich geworden. In der Tat geht es darum, wie wir eine Lösung, die wir wollen, finanzieren.
Ich will noch einmal darstellen, welche Probleme in der Anhörung deutlich geworden sind. Wir haben immer noch Produkte für die betriebliche oder private Altersvorsorge, die unterschiedlich verbeitragt werden. Das ist übrigens ein Thema, das wir noch generell angehen müssen. Die Frage ist ja, ob wir Beiträge in der Ansparphase oder hinterher in der Auszahlungsphase erheben wollen. Dieser Punkt ist noch offen; das haben wir bei vielen Produkten noch nicht geklärt. Wir haben das nur beim Betriebsrentenstärkungsgesetz gemacht, indem wir das Produkt „Riester“ sowohl für die betriebliche als auch für die private Vorsorge hinterher beitragsfrei gestellt haben. Das trifft für andere Produkte aber nicht zu.
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Deshalb müssen wir uns das noch einmal anschauen. Ich finde, das rechtfertigt schon, dass wir sagen, wir haben noch Beratungsbedarf, auch zu diesem Punkt,
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übrigens zusammen mit den Kollegen aus dem Bereich Arbeit und Soziales, weil es um die Rente und die Förderung an sich geht.
Das Thema, um das es jetzt aber geht, ist, ob wir – das ist eine politische Frage –, wenn wir die Betriebsrenten für die Zukunft stärken wollen, das über das Steuersystem machen wollen oder ob wir wollen, dass die Menschen in der Auszahlungsphase am Ende nur den halben Beitrag statt wie jetzt den vollen Beitrag bezahlen. Rudolf Henke hat gerade erklärt, wir haben ein Leistungsprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung; eigentlich müssten wir alles heranziehen, was da ist. Die Frage ist: Machen wir das zu 50 Prozent oder zu 100 Prozent? Die SPD will das zu 50 Prozent machen, und zwar mit der politischen Argumentation, dass wir die Betriebsrenten stärken wollen.
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Wir können nämlich nicht einerseits den Menschen sagen, sie sollen vorsorgen, und das dann aber andererseits nicht fördern und es zudem so kompliziert machen, dass ein Arbeitgeber nicht mehr in der Lage ist, seinem Arbeitnehmer die verschiedenen Produkte und Verbeitragungen zu erklären.
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Deshalb haben wir auch hier eine Baustelle.
Trotzdem sagen wir, diese 50 Prozent, diese 2,6 Milliarden Euro, können wir jetzt finanzieren. Was langfristig in vielen Jahren sein wird, das weiß ich nicht; das ist wie das Schauen in eine Glaskugel. Dass die SPD aber auch in schwierigen Zeiten Verantwortung übernommen und Lösungen gefunden hat, wie wir das System nach wie vor stabil halten, haben wir bewiesen, auch wenn das für viele manchmal schmerzhaft war.
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Jetzt ist die finanzielle Situation so, dass wir uns diese 2,6 Milliarden Euro leisten können. Erstens gibt es Rücklagen, zweitens ist die wirtschaftliche Konjunktur immer noch so, dass die Einnahmen wachsen. Ob das in vielen Jahren noch so sein wird, das weiß hier niemand; aber man darf nicht sagen, wir machen es deshalb nicht, weil wir nicht wissen, was in zehn Jahren sein wird. Dann könnten wir, wie mein Kollege vorhin schon gesagt hat, die Arbeit einstellen.
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Deswegen sollten wir uns diese Lösung vorbehalten.
Es ist vorhin schon darüber gesprochen worden, ob es eine Freigrenze oder einen Freibetrag sein soll. Ich glaube, wenn wir die Altersvorsorge fördern wollen, macht es mehr Sinn, mit einem Freibetrag zu arbeiten, als über das Steuerrecht zu gehen.
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Da könnten wir kleine Zusatzrenten tatsächlich entlasten. Denn eine Rente, die 153 Euro hoch ist, wird im Monat voll verbeitragt. Da macht das natürlich einen Unterschied. Deswegen setzen wir auch auf diesen Freibetrag.
Diesen Vorschlag haben wir eingebracht. Ich freue mich, dass ich hören konnte, dass es bei der CDU/CSU zumindest Bewegung in der Diskussion gibt. Ich hätte mir gewünscht, wir hätten das schon in das Versichertenentlastungsgesetz einbringen können. Aber ich sehe zumindest Bewegung und hoffe, dass wir hier zu einer Lösung kommen werden, wie wir die Betriebsrenten stärken können. Das ist für die SPD ein ganz wichtiger Punkt. Ich hoffe, dass wir hier eine Lösung finden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Bas. – Mit diesen Worten schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 30 a bis 30 l sowie den Zusatzpunkten 2 a bis 2 f. Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Es ist sehr bequem, hier zu sitzen und über Fahrverbote zu philosophieren. Wir alle hier haben das Privileg, den Fahrdienst des Deutschen Bundestages nutzen zu können. Es gibt aber Menschen da draußen, die nicht so begünstigt sind. Diese Menschen sind auf ihr Auto, in vielen Fällen einen Diesel, angewiesen.
Haben Sie überhaupt schon einmal einen einzigen Gedanken darauf verschwendet, was es bedeutet, mit einer Frist von wenigen Monaten nicht mehr zur Arbeit zu kommen, nicht mehr das Kind von der Schule oder aus der Kita abholen zu können? Es gibt Menschen da draußen, die sich eine schicke Wohnlage mit günstiger Nahverkehrsverbindung eben nicht leisten können,
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und es gibt Menschen da draußen, deren berufliche und geschäftliche Existenz an einem preiswerten und sparsamen Dieselfahrzeug hängt, wie zum Beispiel die gestern in „Zeit Online“ zitierte fünfköpfige Familie:
Wir wohnen in einem kleinen Ort auf der Schwäbischen Alb. Mein Mann arbeitet in Stuttgart und pendelt. Mit dem Auto braucht er eine Stunde zwanzig Minuten, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zweieinhalb bis dreieinhalb Stunden. Wenn er mit dem Diesel nicht mehr nach Stuttgart darf, hat er ein echtes Problem. Warum schafft man nicht gute Alternativen, bevor man etwas verbietet?
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Eine wirklich gute Frage!
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Mit Fahrverboten treffen Sie sicherlich nicht den wohlhabenden Teil der Gesellschaft.
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Mit Fahrverboten treffen Sie Menschen, die jeden Tag hart arbeiten müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und von deren Steuern dieser Staat und auch Sie leben.
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Sie lassen die Menschen da draußen allein und nehmen ihnen schlicht das Auto weg.
Weshalb eigentlich das Ganze? Ich werde das hier im Deutschen Bundestag so lange wiederholen, bis es Ihnen zum Hals raushängt:
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Der Stickstoffdioxidgrenzwert von 40 Mikrogramm ist völlig willkürlich.
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Er stützt sich ausschließlich auf rein theoretische Hochrechnungen ohne jeden praktischen Bezug.
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Deshalb sind auch alle klinischen Studien der WHO, den Grenzwert von 40 Mikrogramm zu bestätigen, krachend gescheitert – krachend gescheitert! Selbst in Kalifornien mit den strengsten Umweltvorschriften der Welt gilt ein Wert von 100 Mikrogramm, also das Zweieinhalbfache des Werts in Deutschland.
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Zum Vergleich: Beim Rauchen einer einzigen Zigarette atmen Sie 50 000 Mikrogramm Stickstoffdioxid ein.
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Eine Schachtel entspricht also 1 Million Mikrogramm.
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Wenn das wahr wäre, was Sie hier behaupten, müssten alle Raucher innerhalb von ein bis zwei Monaten tot sein,
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und das ist ganz offensichtlich nicht der Fall, meine sehr geehrten Damen und Herren. Daran wird deutlich, dass Sie hier in rein ideologischer Verblendung mit den Ängsten der Menschen, krank zu werden, spielen.
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Zu allem Überfluss sind die reflexartigen Maßnahmen wie Fahrverbote auch völlig nutzlos. Beispielsweise führen die ab dem nächsten Jahr geplanten Fahrverbote in Stuttgart nur zu einer Absenkung der Stickstoffdioxidwerte um 4,6 Mikrogramm,
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bei dem Ausgangswert von 61 Mikrogramm gerade mal um lächerliche 7 Prozent.
Gleichzeitig fördern Sie aber Holzpelletheizungen, die noch mehr Stickstoffdioxid raushauen, mit Millionen Euro der Steuerzahler, denen Sie im gleichen Atemzug das Auto wegnehmen wollen.
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Absolut lachhaft, was Sie hier machen!
Das Verwaltungsgericht hat vorgestern entschieden, dass im nächsten Jahr Fahrverbote in Berlin verhängt werden müssen. Jetzt am Wochenende findet in Berlin die Pyronale, ein riesiges Feuerwerkfestival, statt. Welche Heuchelei! Da werden 12 bis 24 Tonnen Feuerwerkskörper verballert. Für das Stickstoffdioxid, das da freigesetzt wird, könnten die Berliner Dieselfahrer ziemlich lange Auto fahren.
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Die Diffamierung des Diesels ist ein Angriff auf uns alle.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Sie ziehen damit die Arbeit vieler Menschen in diesem Land in den Dreck und bringen sie international in Misskredit.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Hören Sie endlich damit auf, –
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
– die Arbeitsplätze von Millionen von Menschen in diesem Land zu zerstören.
Herzlichen Dank.
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Als Nächstes spricht für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Christoph Ploß.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Führt flächendeckende Fahrverbote für sämtliche Dieselfahrzeuge ein! Keine generelle Zulassung mehr für Diesel- und Benzinmotoren! Wenn dabei Arbeitsplätze verloren gehen, dann ist das eben so. – Diese und ähnliche Aussagen müssen wir uns in diesen Tagen von vielen Vertretern der politischen Linken anhören. In diesem Land bekommt man manchmal den Eindruck: Es geht der Linkspartei und auch den Grünen vor allem darum, das Auto zu verteufeln und abzuschaffen.
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Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist genau der Weg, den wir hier im Deutschen Bundestag nicht einschlagen dürfen. Für die CDU/CSU-Fraktion ist vollkommen klar:
Erstens. Fahrverbote müssen unter allen Umständen verhindert werden; denn sie treffen unschuldige Bürger, Handwerker, Pendler und viele andere, und sie schränken die Mobilität zahlreicher Bürger in unserem Land ein.
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Zweitens. Die Menschen dürfen im Falle von Nachrüstungen nicht zur Kasse gebeten werden.
Deswegen ist es auch so wichtig, dass wir die Standorte der Messstationen überprüfen; denn die Messwerte werden häufig durch den Standort oder das Wetter beeinflusst. Oft können nur wenige Meter darüber entscheiden, was für Messwerte am Ende herauskommen und ob die Grenzwerte eingehalten werden. Deswegen möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass in dieser Woche herauskam, dass eine Messstation in Aachen zum Beispiel falsch installiert wurde. Die Messwerte sind nicht korrekt; rechtswidrig ist die Grundlage und nicht objektiv.
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Wir können davon ausgehen, dass auch andere Messstellen einer Überprüfung nicht standhalten würden. Deswegen, meine Damen und Herren, müssen wir an diese Überprüfung ran.
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Ich möchte aber noch zwei Fakten in die Debatte hier einbringen; denn in dieser Debatte wird viel vermischt. Wir haben zwei unterschiedliche Gruppen von Dieselautos: einmal diejenigen, bei denen die Werte des Schadstoffausstoßes manipuliert wurden, die sogenannten Schummelautos, und zum anderen diejenigen Autos, die korrekt gebaut wurden und über eine europaweite rechtliche Zulassung verfügen, aber deren Stickoxidausstoß mittlerweile nicht mehr den geltenden Vorschriften entspricht.
Während wir bei der ersten Gruppe mit aller Härte des Rechtsstaates vorgehen müssen – ich weise darauf hin: Volkswagen musste zum Beispiel schon eine Strafe in Milliardenhöhe für die Verfehlung zahlen –,
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so haben wir bei der zweiten Gruppe gar keine rechtliche Handhabe, die Autohersteller zu zwingen, die Kosten beispielsweise für Hardwarenachrüstung oder auch eine Umrüstung der Flotte zu übernehmen. Das wird nur im Dialog gehen. Das ist politisch nicht ganz so einfach, wie es hier einige im Haus erscheinen lassen.
Aber wir werden die Luft in unseren Großstädten nicht alleine durch Hardwarenachrüstungen verbessern können,
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sondern vor allem, indem wir andere Maßnahmen einleiten. Wir brauchen einen attraktiven öffentlichen Nahverkehr. Wir brauchen attraktive Angebote für den Radverkehr. Ich möchte bei der Gelegenheit dem Kollegen Gero Storjohann gratulieren, der gestern den Vorsitz des neu gegründeten Parlamentskreises Radverkehr übernommen hat. Herzlichen Glückwunsch!
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Darüber hinaus gilt es, innovative, klimaschonende Antriebstechnologien zu entwickeln und in Kraftstoffe zu investieren: Elektrobatterien, Brennstoffzellen, synthetische Kraftstoffe bzw. E-Fuels. Wir müssen in dieser Legislaturperiode im Deutschen Bundestag die Grundlage für die Infrastruktur für diese Antriebstechnologien schaffen, damit die Verbraucher am Ende bereit sind, auf umweltfreundliche Autos umzusteigen. Das wird die große verkehrspolitische Aufgabe für uns alle hier im Hause sein.
Deswegen sind auch die Initiativen von Verkehrsminister Andreas Scheuer und der Bundesregierung richtig,
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Dieselbusse und kommunale Fahrzeuge nachzurüsten, sodass diese sauberer werden, die Anschaffung von Elektrobussen und Elektrotaxis zu fördern, gleichzeitig in den Ausbau von U-Bahnen und S-Bahnen, in alternative Antriebstechnologien, in die Förderung des Radverkehrs zu investieren. Wir werden mit diesem Verkehrshaushalt, den wir in diesem Jahr noch beschließen werden, so viel in die Mobilität in Deutschland investieren wie noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
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Und – lassen Sie mich das zum Abschluss noch sagen – wenn wir wollen, dass unsere deutschen Unternehmen auch in Zukunft mit sauberen, modernen Fahrzeugen weiter Exportschlager für die ganze Welt herstellen,
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wenn wir wollen, dass in Deutschland Arbeitsplätze gesichert werden, dass in Deutschland Steuern gezahlt werden,
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und wenn wir auch wollen, dass sich die Luft in unseren Städten weiter verbessert und Fahrverbote auch in Zukunft vermieden werden können, dann lassen Sie uns jetzt in Elektromobilität, synthetische Kraftstoffe und umweltfreundliche Technologien investieren. Das, meine Damen und Herren, ist die Mobilität der Zukunft.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Dr. Ploß. – Als Nächstes für die FDP-Fraktion der Kollege Oliver Luksic.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Millionen Dieselfahrer sind verunsichert wegen der Fahrverbote und der immensen Wertverluste. Ein riesiger volkswirtschaftlicher Schaden entsteht. In Brüssel wird jetzt noch planwirtschaftlich über CO 2 -Grenzwerte gesprochen. Wir erleben einen irrationalen grünen Kulturkampf gegen das Auto, und die Große Koalition tut nichts gegen Fahrverbote. Was auf dem Dieselgipfel beschlossen wurde, wurde schon vom ersten Gerichtsurteil in Berlin kassiert.
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Wer sich rechtmäßig ein Fahrzeug erworben hat, das eine Betriebserlaubnis hat, muss das auch frei nutzen können. Wir wollen eine Mobilitätsgarantie und keine Fahrverbote, die Sie leider zulassen.
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Das Berliner Urteil und auch die Reaktion des rot-rot-grünen Senats sind völlig realitätsfremd.
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Jetzt gibt es in Berlin streckenbezogene Fahrverbote wie in Hamburg: Auf der einen Straße darf man nicht fahren, sodass sich der Verkehr auf eine andere Straße verlagert. Wie wollen Sie das denn kontrollieren?
Jetzt wollen die Grünen mehr Polizisten dafür einsetzen.
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In Bezug auf die Kontrolle hilft eine blaue Plakette übrigens wenig, auch wenn die Bundesregierung die Frage offenlässt, wie das funktionieren soll. Hören Sie sich doch mal an, was die Polizei dazu gesagt hat.
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Die ist in Berlin chronisch unterbesetzt und sagt, sie haben wichtigere Sachen zu tun, als diesen Irrsinn zu kontrollieren. Das sollten sich auch die Grünen in Berlin mal merken.
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Außerdem muss man einfach feststellen, dass es in den Urteilen bisher um den Euro‑4-Diesel ging. Dann haben die Gerichte gesagt: Wenn die Maßnahmen nicht greifen, muss der Euro‑5-Diesel auch auf den Prüfstand. – Jetzt wird ohne Not von der Umweltsenatorin in Berlin von den Grünen auch noch der Euro‑6-Diesel an den Pranger gestellt.
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Was soll denn das? Ich glaube, die Grünen hören erst dann auf, wenn alle Dieselfahrzeuge stillgelegt sind.
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Es kann sich unser Land nicht leisten, dass Sie ohne Not auch noch den Euro‑6-Diesel an den Pranger stellen.
({8})
Wie gemessen wird, auch in Berlin, ist wirklich ein Witz. Es gibt eine Messung in der Nähe der Einflugschneise von Tegel. Die Messung an der mobilen Messstelle dort hat erst die erhöhten Grenzwerte ergeben. Die an der festen Messstelle dort gemessenen Werte, hätten gar nicht zu einem Fahrverbot geführt. Jetzt gibt es Fahrverbote wegen Messungen in der Einflugschneise von Tegel. In einer Einflugschneise zu messen, ist genauso irrsinnig, wie in Hamburg am Hafen zu messen. Diese Messidiotie, diesen Messwahnsinn kritisieren wir hier.
({9})
Es kann nicht sein, dass Sie, wenn es Ihnen nicht passt, so lange messen, bis es zum Fahrverbot kommt.
({10})
Das ist die falsche Politik.
({11})
Deswegen wollen wir in der Tat auch die Messstellen auf den Prüfstand stellen.
({12})
Der Kollege Ploß hat es ja gerade gesagt: Unsere Anfrage hat ergeben: Von sieben Messstellen, die bisher überprüft wurden, waren vier nicht korrekt!
({13})
Hinzu kommt: Der rechtliche Spielraum der EU-Richtlinie wird nicht ausgenutzt. Deswegen wollen wir die Bundes-Immissionsschutzverordnung dringend reformieren, damit der rechtliche Spielraum hinsichtlich Höhe und Abstand zu Gebäuden ausgenutzt wird. Der „Plusminus“-Beitrag dazu hat es ja gezeigt: Wir messen in Deutschland anders als im Rest Europas; das kann nicht sein. Die Umweltministerin muss die Reform endlich angehen. Wenn sie das nicht macht, ist sie auch die Ministerin für Messidiotie und Messwahnsinn in Deutschland.
({14})
Was auf dem Dieselgipfel diskutiert und verabredet wurde, reicht nicht aus – das zeigt nicht nur das Berliner Urteil. Es werden weitere Fahrverbote folgen. Das „Sofortprogramm Saubere Luft“ wirkt zu langsam, es ist zu bürokratisch. Man muss aber auch sagen: Einige Kommunen stellen sich besser an als andere.
({15})
In Hamburg wurden über 50 Millionen Euro für die vielen Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität abgerufen, in Frankfurt dagegen 45 000 Euro – weniger als 1 Prozent dessen, was Hamburg abgerufen hat. Das zeigt: Das, was die Grünen in Frankfurt und im Land Hessen machen, ist wirklich eine Nullnummer. Da muss man sich nicht wundern, wenn es in Frankfurt zu Fahrverboten kommen wird.
({16})
Hinzu kommt, dass die Bundesregierung die zentralen Fragen bei der Hardwarenachrüstung offenlässt: Weder der Rechtsrahmen noch die Frage der Finanzierung sind geklärt. Wir wollen, dass auch ausländische Hersteller einzahlen, deswegen schlagen wir die Fondslösung vor.
({17})
Die Umtauschprämien, die Sie jetzt vorschlagen, bringen nichts. Die haben den gleichen Effekt wie schon vor dem Dieselgipfel. Sie wollen die Menschen doch für dumm verkaufen, wenn Sie suggerieren, dass sie nicht draufzahlen müssen.
({18})
Das ist doch völlig klar. Diese Umtauschprämien bringen überhaupt nichts. Für die Dieselfahrer ist das eine kalte Enteignung, und sie müssen draufzahlen. Das ist Ihre Politik der Großen Koalition.
({19})
Wir wollen ein Moratorium der Grenzwerte. Das geht im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens. Wir wollen die Messwerte auf den Prüfstand stellen und bundesweit einheitlich regeln.
({20})
Und wir wollen den Fonds zur Nachrüstung, den die SPD nicht durchgesetzt hat. Das ist genau das Gegenteil von dem, was die Große Koalition macht.
Minister Scheuer wehrt sich gegen die Nachrüstung, ist der Fahrverbotsminister. Ihre Ministerin wehrt sich gegen die Überprüfung der Messstellen, sie ist die Ministerin für Messidiotie. Und jetzt kommt noch hinzu: Herr Altmaier gibt 800 000 Euro zusätzlich an die Deutsche Umwelthilfe. Er ist jetzt der DUH-Subventionsminister. Das ist die falsche Politik, die zu Fahrverboten führt.
({21})
Vielen Dank, Herr Kollege Luksic. – Als Nächstes spricht für die SPD-Fraktion die Kollegin Kirsten Lühmann.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegen und Kolleginnen! Liebe Anwesende! Ich begrüße Sie zur wöchentlichen Aktuellen Stunde zum Thema Diesel.
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Nicht, dass ich glaube, dass das Thema nicht so wichtig wäre, dass wir darüber reden sollten, aber ich frage mich, ob es uns weiterhilft, dass wir hier jede Woche, wie ich es bei einigen Kollegen erlebe, dieselben Reden vorlesen.
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Ist es nicht vielleicht sinnvoller, wir würden – das, was die Koalition auch tut – vernünftig arbeiten, damit die Luft sauberer wird und damit unsere Industrie nach vorne kommt?
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Was mich beunruhigt, sind allerdings die Rezepte dieser selbsternannten Rechtsstaatspartei, die nämlich zur Regelmissachtung aufruft, oder, noch schlimmer, die die Gefahren für die Bevölkerung nicht beseitigen will, sondern sie einfach ignoriert.
({3})
Zum Thema. Was sind die Gefahren?
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Dass Stickoxid für den Menschen giftig ist, das bestreitet außer Ihnen niemand, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Die Frage ist einfach nur: Bei welchen Werten wollen wir die Grenze ziehen? Und ja, es ist doch logisch, dass in einem überwachten Raum, in dem sich Menschen nur zeitweise aufhalten – wie bei einer Arbeitsstätte –, andere Grenzwerte gelten als im öffentlichen Raum, wo sich Kinder, ältere Menschen und kranke Menschen dauerhaft aufhalten.
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Die müssen wir schützen, und darum brauchen wir dort vernünftige, niedrige Grenzwerte.
({7})
Diese Grenzwerte sind auch nicht willkürlich, sie sind wissenschaftlich belegt.
Was machen wir jetzt, um den Menschen wieder saubere Luft zu geben? Im Jahr 2016 gab es in Deutschland 90 Städte, in denen die Luft nicht sauber genug war, um als relativ unbedenklich zu gelten. Im Jahr 2017, ein Jahr später, waren es nur noch 65 Städte. Das heißt, die Politik der Großen Koalition wirkt. Sie wirkt, und da müssen wir jetzt weitermachen.
({8})
Wir haben in der Koalition vereinbart, dass wir eine Grenze festlegen wollen, ab wann Fahrverbote verhältnismäßig sind. Das heißt, wir geben den Menschen Sicherheit.
({9})
Nur in den 14 höchstbelasteten Städten kann es Fahrverbote geben. Wir als SPD fordern seit Jahren, dort qualitative Messungen durchzuführen, damit wir genau wissen, was die Luftverschmutzung verursacht; denn es ist nicht überall das Gleiche: Mal sind es die Busse, woanders sind es die Lkw, und in Stuttgart sind es eben auch Diesel-Pkw. Nur wenn wir genau wissen, wer die Verschmutzung verursacht, können wir auch wirksame Konzepte dagegen entwickeln. Das ist das, was wir vorhaben.
({10})
Die Koalition hat sich auch da auf Antworten geeinigt. Diese Antworten umfassen Maßnahmen, die wir schon seit längerem ergreifen, weshalb sie ja auch die Wirkung entfalten, die ich eben geschildert habe: die Umrüstung von Bussen, die Umrüstung von Lkw, Prämien für Pkw. Ja, wir möchten das gerne noch optimieren, indem wir zum Beispiel Taxenflotten mit reinnehmen; das würde einen deutlichen Vorwärtsschub geben. Wir möchten auch bei Bussen und Pkw technologieoffener werden; die Bereiche „synthetische Kraftstoffe“ und „Erdgas“ sind uns da noch zu wenig mit einbezogen.
Für Regionen, die von Fahrverboten bedroht sind, ist uns wichtig: Auch für die Pkw-Fahrenden brauchen wir ein Konzept. Wir sagen deutlich: Entweder können sie ihr altes Fahrzeug gegen ein neues tauschen; wenn das zu teuer ist, dann können sie – das war uns als SPD ganz wichtig – ein gebrauchtes Fahrzeug gegen ein gebrauchtes tauschen. Es gibt tatsächlich Menschen, die auch dafür kein Geld haben. Das sind nämlich genau die Menschen, die in diesen höchstbelasteten, luftverschmutzten Gegenden leben. Das sind die Menschen, um die wir uns kümmern müssen, damit sie in sauberer Luft leben können. Sie haben nämlich kein Geld, um sich irgendwo draußen eine schöne Villa im Grünen zu kaufen. Für sie müssen wir Politik machen.
({11})
Diesen Leuten bieten wir eine Hardwarenachrüstung an.
Jetzt höre ich, dass Hardwarenachrüstung nicht ginge, das würde zu lange dauern. Liebe Kollegen und Kolleginnen, der Bundesrat hat in dieser Woche mit allen Fachausschüssen die Bundesregierung in ihrem Beschluss unterstützt, Hardwarenachrüstungen gemeinsam mit der Industrie zu entwickeln und voranzutreiben. Das ist unsere Aufgabe;
({12})
denn wenn wir das nicht tun, vernichten wir den Diesel und Arbeitsplätze.
({13})
Das ganz große Thema in der Industrie ist: Wir müssen einen Umbau machen. Wir sind noch Technologieführer im Automobilbereich – noch. Wenn wir den Umbau jetzt nicht hinkriegen, verlieren wir das. Dafür brauchen wir Zeit, und in dieser Zeit brauchen wir das Dieselfahrzeug. Wir brauchen Vertrauen in den Diesel, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({14})
Das Vertrauen kriegen wir nur durch eine Hardwarenachrüstung.
({15})
Unser Fazit: Wir haben als Große Koalition geliefert. Jetzt ist die Automobilindustrie dran. Sie haben diese Woche die Möglichkeit, sich zu entscheiden. –
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wollen Sie bremsen und unsere Industrie vernichten, oder wollen Sie mit uns gemeinsam für saubere Luft, vernünftige Mobilität und sichere Arbeitsplätze kämpfen?
Danke schön.
({0})
Vielen Dank. – Als Nächstes für die Fraktion Die Linke die Kollegin Ingrid Remmers.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Es ist ein Trauerspiel, dass wir uns jetzt Woche für Woche mit diesem Schwarze-Peter-Spielchen beschäftigen müssen. Dabei wäre es so wichtig, sich endlich mit der Frage der Zukunft unserer Mobilität zu beschäftigen. Auch deshalb brauchen wir endlich eine vernünftige und vor allem wirksame Lösung.
Aber das von Ihnen, Herr Scheuer, vorgelegte Papier ist ein schlechter Witz. Ihre Vorschläge taugen nicht zum Schutz der Gesundheit, und sie taugen nicht, um den betrogenen Dieselbesitzern zu helfen.
({0})
Sie meinten, bestimmen zu können, dass die getroffenen Maßnahmen ausreichen. Bereits eine Woche später bekommen Sie die Quittung vom Verwaltungsgericht Berlin. Nein, diese Maßnahmen reichen nicht aus, um Fahrverbote zu verhindern. Damit ist Ihr Konzept innerhalb von einer Woche krachend gescheitert; das ist wirklich rekordverdächtig.
({1})
Um das noch mal ganz klar zu sagen: Wir wollen keine Fahrverbote! Fahrverbote sind aber logische Folge des vollkommenen Versagens dieser Bundesregierung. Schauen wir uns die Umtauschprämien an: Sie, Herr Scheuer, machen sich hier zum Autohändler und blasen fröhlich auf allen sozialen Medien Umtauschprämien in die Welt. Diese Prämien sind doch eine reine Luftnummer. Jeder, der nur ein bisschen Verhandlungsgeschick hat, bekommt beim Kauf eines Autos fette Rabatte. Und gegen was sollen die schmutzigen Autos denn getauscht werden? Außer Autos mit Abgasnorm Euro 6d gibt es keine sauberen Autos; das ist längst nachgewiesen. Also sollen hier schmutzige Autos gegen schmutzige Autos getauscht werden. Außer Profite für die Autoindustrie bringen Umtauschprämien gar nichts. Das ist unverantwortlich. Die Gesundheit der Menschen bleibt auf der Strecke, und die betrogenen Dieselkäufer bleiben auf ihrem Schaden sitzen. Übrigens haben auch die Gerichte ein großes Problem mit einer Bundesregierung, die sich im Einklang mit der Autoindustrie einfach über Prinzipien des Rechtsstaats hinwegsetzt.
({2})
Und die technische Nachrüstung? Sie sagen: Ja, wir wollen technische Nachrüstung, aber nur freiwillig. Prompt sagt die Industrie – ganz überraschend – schon am nächsten Tag: Nein, da machen wir nicht mit. – Sie lassen sich doch von der Autoindustrie am Nasenring durch die Manege führen. Ich erkläre es Ihnen gern noch einmal.
({3})
Sie haben die rechtliche Möglichkeit, die Nachrüstung anzuordnen.
({4})
Die Autoindustrie hat bei den verwendeten Abschalteinrichtungen betrogen. Die Typengenehmigungen sind erschlichen worden, und damit sind sie rechtlich hinfällig.
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Was Sie jetzt hier machen wollen, Herr Scheuer, ist ein weiteres Konjunkturprogramm für die Autoindustrie.
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Selbst das gelingt Ihnen nicht; denn der Diesel ist inzwischen durch das gemeinsame Versagen von Autoindustrie und Bundesregierung zum Ladenhüter geworden. Die Hersteller brauchen endlich die klare Ansage: Ihr rüstet jetzt die Hardware nach! – Das wäre von Anfang an die richtige Antwort auf diesen Skandal gewesen.
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Die Linke fordert Sie erneut auf, hier endlich Ihren Job zu machen.
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Können Sie sich überhaupt vorstellen, was Ihre Vorschläge für Millionen von Menschen bedeuten, die mit ihrem Einkommen gerade so zurechtkommen? Nehmen wir als Beispiel eine kleine Familie mit ihrem drei Jahre alten Diesel, für den sie vielleicht 15 000 Euro hingeblättert hat. Erst erfährt sie, dass sie gar kein sauberes Auto gekauft hat – moralische Demoralisierung nennt man das –, dann erfährt sie, dass sie mit ihrem Auto bald nicht mehr zur Arbeit fahren darf, und zu guter Letzt muss sie erleben, dass sie ihr schmutziges Auto auch nicht mehr verkaufen kann, weil keiner dreckige Autos kauft. Und Sie, Herr Scheuer, kommen arrogant daher
({9})
und sagen diesen Leuten: Dann kauft euch doch ein neues Auto! – Sie sollten sich was schämen.
({10})
Jetzt hat auch die SPD nach drei Jahren erfreulicherweise entdeckt, dass es noch die Möglichkeit der Bußgelder gibt. Das ist gut. Um in den Umfragewerten nicht noch weiter mit der Union in den Keller zu rasseln, wollen Sie Bußgelder erheben, um damit die Nachrüstung zu bezahlen. Das ist schlecht. Jeder normale Bürger in diesem Land muss, wenn er betrogen hat, erstens den angerichteten Schaden bezahlen, und zweitens bekommt er zusätzlich eine Geld- oder gar Haftstrafe. Warum soll das für alle Menschen gelten, nur nicht für die Autobosse? Das ist völlig unverständlich.
({11})
Wir haben den Antrag gestellt, Bußgelder zu erheben. Sie müssen ihm also nur zustimmen. Denn wenn Sie den Schaden wiedergutmachen lassen und zusätzlich Bußgelder als Strafe erheben, haben Sie damit auch die Mittel, den Kommunen bei der Umstellung auf eine echte Mobilität der Zukunft zu helfen. Wenn Sie also das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen wollen, dann geht das nur, wenn Sie gegenüber der Autoindustrie endlich klare Kante zeigen. Tauschen Sie die Prämie gegen echte Hardware um, sonst müssen wir den Verkehrsminister umtauschen.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächstes für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Stephan Kühn.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass in dieser Debatte rechtsstaatliche Prinzipien infrage gestellt oder nicht verstanden werden, ist schon beschämend. Gerichte sind unabhängig, und das ist gut so.
({0})
In der gestrigen Sitzung des Verkehrsausschusses sprach Minister Scheuer von „messbaren Erfolgen“ seiner bisherigen Maßnahmen zur Reduktion der Luftschadstoffe in Städten. Das sah das Verwaltungsgericht in Berlin ganz offensichtlich anders; denn es hat streckenbezogene Fahrverbote für schmutzige Diesel verhängt. Meine Damen und Herren, die politische Verantwortung für dieses und alle anderen Fahrverbote trägt Verkehrsminister Scheuer; denn er verhindert seit drei Jahren notwendige und wirkungsvolle Hardwarenachrüstungen.
({1})
Das letzte Woche von der Bundesregierung präsentierte Dieselkonzept hilft jedenfalls nicht. Es ist wie ein Soufflé: Es sieht gut aus, aber piekst man hinein, fällt es in sich zusammen, und nichts anderes als heiße Luft kommt heraus. Der Bundesregierung ist es nicht gelungen, die Autohersteller zu Hardwarenachrüstungen zu verpflichten.
({2})
Kaum hatte die Koalition ihr Konzept vorgelegt, erklärten schon einige Hersteller, dass sie keine Hardwarenachrüstungen vornehmen werden, geschweige denn vorhaben, die Kosten dafür zu tragen. Mit anderen Worten: Diese Bundesregierung hat nichts in der Hand.
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Statt flächendeckender Lösungen für alle betroffenen Autofahrer schafft Verkehrsminister Scheuer einen Flickenteppich von Maßnahmen, die nur für wenige Städte gelten, aber nicht für alle, die von erhöhten, über dem zulässigen Grenzwert liegenden Stickoxidwerten betroffen sind. Was beim letzten Dieselgipfel noch Umstiegsprämie hieß, wird jetzt als Umtauschaktion wieder aufgewärmt. Der Verkehrsminister versteht sich offenbar als Verkaufsagent der Automobilindustrie.
Meine Damen und Herren, wenn Flottenerneuerung vor Hardwarenachrüstungen Priorität hat, werden am Ende die Verbraucherinnen und Verbraucher für die Betrügereien der Industrie draufzahlen. Viele Autofahrer können sich auch mit Prämien kein neues Auto kaufen. Einige der jetzt angebotenen Prämien werden zudem mit den bestehenden Rabatten verrechnet. Das Angebot gilt auch nur für circa 14 Städte. Alle anderen Dieselbesitzer werden mit dem Wertverlust ihrer Fahrzeuge alleingelassen. Für diese Menschen haben der Verkehrsminister und die Automobilindustrie kein Angebot.
Was bringt der Autotausch für die Verbesserung der Luftqualität? Jetzt musst du zuhören, lieber Oliver Luksic.
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Es ist noch nicht einmal sicher, dass die getauschten Autos bessere Abgaswerte haben werden als zurückgegebene Modelle; denn zahlreiche Modelle der Abgasnorm Euro 6 sind beim Stickoxidausstoß auf der Straße genauso mies wie die Euro‑5-Modelle. Wenn schon Umtausch, dann dürfte dieser nur gegen Fahrzeuge erfolgen, die die neueste Abgasnorm Euro‑6d-TEMP erfüllen.
({5})
Doch da haben viele Hersteller entweder kaum Angebote oder lange Wartezeiten. Und wenn es Angebote gibt, dann sind das schwere und teure SUV.
Was passiert nun mit den alten Autos? Wenn schmutzige Dieselautos künftig nicht mehr in Stuttgart, Düsseldorf oder München fahren, sondern in Großstädten Mittel- und Osteuropas, hat die Autoindustrie unter dem Strich zu keiner Verbesserung der Luftqualität beigetragen. Es kann doch nicht sein, dass die ausgemusterten Autos in anderen Städten Europas zum Problem werden, weil wir hier das Problem lösen wollen.
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Nach dem Konzept der Bundesregierung sollen künftig Euro‑5- und Euro‑4-Dieselautos durch eine Gesetzesänderung generell von Fahrverboten ausgenommen werden, wenn diese auf einen Stickoxidausstoß von unter 270 Milligramm pro Kilometer im Realbetrieb kommen. Für alle anderen Dieselfahrzeuge gelten dann Fahrverbote. Das heißt, die Bundesregierung schafft die Voraussetzungen für Fahrverbote, lässt aber die Verbraucherinnen und Verbraucher im Regen stehen, weil sie eben keine Hardwarenachrüstungen durchsetzt.
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Ohne Nachrüstungen werden eben nur wenige Diesel-Pkw diese Auflage erfüllen können. Die jetzt gefundene Lösung ist zudem bürokratisch und schwer kontrollierbar. Mein Eindruck ist, dass das bewusst so gemacht wird. Dabei liegt die einfachste Lösung schon längst auf dem Tisch, nämlich die blaue Plakette. Autos mit niedrigen Abgaswerten könnten dann leicht anhand der Plakette erkannt werden und in die betroffenen Städte einfahren.
Ich komme zurück zum Dreh- und Angelpunkt, nämlich zur Frage der Hardwarenachrüstung; denn nur mit dieser Lösung können wir saubere Luft in den Städten gewährleisten. Hardwarenachrüstungen sind in erster Linie eine Frage des politischen Willens. Das hat jetzt auch die SPD erkannt. Richtig ist, dass die Bundesregierung der Automobilindustrie mit Bußgeldern von bis zu 5 000 Euro pro Fahrzeug drohen könnte. Ohne wirklichen politischen Druck wird nämlich nichts weiter passieren.
Wirtschaftsminister Altmaier hält Bußgelder für rechtsstaatlich nicht vertretbar. Das ist falsch. Das Verkehrsministerium hat diesen Vorschlag selber erarbeitet. Da empfehle ich einfach, einen Blick in die Unterlagen des Abgas-Untersuchungsausschusses aus der letzten Legislaturperiode zu werfen. Dort steht das schwarz auf weiß.
({8})
Herr Kollege, auch Sie müssen leider zum Schluss kommen, bitte.
Ich komme zum Schluss. – Solange aber Verkehrsminister Scheuer weiterhin der Buddy der Automobilindustrie ist und die SPD sich leider nicht durchsetzen kann, werden Gerichte weiter Fahrverbote verhängen und die Verbraucher den Schaden haben. Diese Praxis muss endlich beendet werden.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege. Als Nächstes spricht zu uns Herr Bundesminister Andreas Scheuer.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sprechen wir einmal über die generellen Ziele: Die Ziele müssen doch sein, Fahrverbote mit konkreten Maßnahmen zu vermeiden, die Zukunft des Diesels zu sichern und damit auch Hunderttausende von Arbeitsplätzen zu erhalten, den Dieselbesitzern Lösungen anzubieten, die Luft in den Innenstädten noch sauberer zu machen und schließlich das Dieselbashing endlich durch Versachlichung zu beenden.
({0})
Natürlich sind die Autohersteller in der Pflicht. Sie haben jetzt die Verantwortung, Vertrauen zurückzugewinnen. Wir haben den Dieselskandal mit allem Engagement und aller Kraft abgearbeitet und werden ihn weiter abarbeiten. VW hat eine Abarbeitungsquote von 97 Prozent, und ich erwarte, dass 100 Prozent erreicht werden. Das ist der eine Teil. Es gibt außerdem Zusagen für Softwareupdates für 6,3 Millionen Fahrzeuge, die zu einer Schadstoffreduzierung von 30 Prozent führen werden.
Aber Sie – mein Vorredner, Kollege Kühn, ist darin ja Spezialist – versuchen auf Teufel komm raus, den Dieselskandal der Vergangenheit mit der gegenwärtigen Diskussion zur sauberen Luft in den Innenstädten einfach zu vermengen –
({1})
zum Schaden und auf dem Rücken von Millionen Beschäftigten in der deutschen Automobilindustrie.
({2})
Herr Kühn, wer dies macht, so wie Sie, ist damit der Aktivist für den Wertverlust der Fahrzeuge von vielen Millionen Dieselfahrern. Das ist der Punkt.
({3})
In Wirklichkeit wollen Sie den Diesel – egal welchen Diesel, vor allem aber auch den sauberen Diesel – und damit Hunderttausende von Arbeitsplätzen kaputtmachen. Und da macht diese Koalition nicht mit.
({4})
Ja, die deutsche Autoindustrie hat eine Riesenverantwortung; denn sie hat Vertrauen durch den Dieselskandal verspielt. Sie hat jetzt die einzigartige Möglichkeit, mit einer Strategie für saubere Luft in den Innenstädten dafür zu sorgen, das Vertrauen mit attraktiven Angeboten zurückzugewinnen. Das erwarte ich auch; da ist die Automobilindustrie gefordert.
Der Koalitionsausschuss will mit dem „Konzept für saubere Luft und die Sicherung der individuellen Mobilität in unseren Städten“ mehr erreichen als den aktuellen Verhandlungsstand. Wir wollen erreichen, dass sich die Automobilindustrie neben den Zusagen, die jetzt schon da sind, noch stärker finanziell beteiligt; da haben wir noch offene Fragen.
Aber wenn jetzt gesagt wird, Bußgelder sollen das Druckmittel sein,
({5})
dann muss ich Ihnen sagen: VW hat bei 2,5 Millionen Fahrzeugen getrickst und diese Tricksereien mit einer Abarbeitungsquote von 97 Prozent abgestellt; das wäre ein Bußgeldvolumen von 12,5 Milliarden Euro. Ich möchte keine Bußgelder für die Vergangenheit haben, sondern ich möchte, dass die deutsche Automobilindustrie diese 12,5 Milliarden Euro in die Zukunft investiert – zum Erhalt der Arbeitsplätze, meine Damen und Herren.
({6})
Unser Konzept sind nicht Strafen und Verbote. Unser Konzept sind Anreize und Förderung sowie Hilfe für Millionen von Dieselbesitzern, meine Damen und Herren.
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Ihre Sprüche, Frau Remmers, sind schon sehr interessant: Sie verknüpfen den Skandal mit den Urteilen zu Fahrverboten.
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Wer hat denn Verantwortung im Land Berlin? Wer ist denn dafür zuständig, dass die Luft in der Hauptstadt sauberer wird? Ihr seid daran beteiligt. Und jetzt führen Sie sich hier auf und sagen, das Berliner Urteil sei auf den Maßnahmenkatalog der Bundesregierung zurückzuführen. Nein, dieses Berliner Urteil ist auf Ihre Schlampigkeit bei alten Luftreinhalteplänen zurückzuführen. Das ist der Punkt.
({9})
Sie, Frau Remmers, täuschen die Menschen in unverantwortlicher Weise. Sie täuschen die Menschen,
({10})
wenn Sie behaupten, dass das Berliner Urteil die Folge davon sei, dass die Koalition im Koalitionsausschuss kein ausreichendes Konzept entwickelt habe.
({11})
Das ist falsch; denn mit unseren Geldern sorgen wir dafür, dass die Berliner Luft, also die Luft in Ihrem Verantwortungsbereich, besser wird. Das ist der Hintergrund. Sie müssen nur die Angebote nutzen. Solange hier noch ausrangierte BVG-Busse aus den 80er-Jahren Sightseeingtouren machen, bei denen man die Rußpartikel einzeln abzählen kann, wenn man hinterherfährt, ist die Zeit noch nicht gekommen, um die Bundesregierung zu kritisieren.
({12})
Was haben wir in der Koalition beschlossen?
({13})
Wir haben zum einen ein Riesenmaßnahmenpaket von über 1 Milliarde Euro beschlossen. Greifen Sie nur zu, liebe Kommunen. Greifen Sie zu, indem Sie Dieselbusse umrüsten und neue Elektrobusse bestellen. Greifen Sie zu bei der 80‑prozentigen Förderung für schwere Kommunalfahrzeuge, von Müllfahrzeugen angefangen bis zur Straßenreinigung.
({14})
Greifen Sie zu, wenn es um eine 80‑prozentige Förderung von Handwerker- und Lieferfahrzeugen geht, um die Fahrzeuge, die ausschließlich in der Stadt fahren, sauberer zu machen. Das ist unser Hintergrund. Dann wird sehr schnell eine Riesengruppe von Städten unter die Grenzwertbelastung von 40 Mikrogramm kommen.
({15})
Ja, wir haben sogar sehr kraftvoll und weitblickend ein Angebot für Millionen Dieselbesitzer mit interessanten Tauschprämien entwickelt.
({16})
Das heißt, für einen Umtausch gibt es bei BMW 6 000 Euro, bei VW 4 000 bis 8 000 Euro, im Durchschnitt 5 000 Euro, bei Daimler 5 000 Euro.
({17})
Es ist in der Verantwortung der Autohersteller, das jetzt zügig umzusetzen. Wir reden von 1,4 Millionen Fahrzeugen und einem Volumen von 7 Milliarden Euro.
({18})
Wenn das kein Angebot für die vielen Dieselbesitzer ist, meine Damen und Herren!
({19})
Weil es ja unglaublich viele Hardwarenachrüstungsfetischisten in diesem Hohen Haus gibt, frage ich:
({20})
Soll die Bundesregierung jetzt schon selber Teile entwickeln, die die Nachrüster entwickeln sollen? Soll die Politik dafür sorgen, dass es Teile gibt, die wir genehmigen können? Nein, natürlich nicht. Für Dieselbusse gibt es Hardwarenachrüstungssätze, es gibt sie für Lkws, bald hoffentlich auch für Handwerker- und Lieferfahrzeuge. Aber die Nachrüstungsindustrie hängt nach bei den Pkws. Das ist der Hintergrund. Ich kann vom KBA nicht einmal Teile genehmigen lassen, weil es keine gibt.
({21})
Kolleginnen und Kollegen der AfD-Fraktion, im Titel der Aktuellen Stunde haben Sie das Wort „Regierungshandeln“ gebraucht. Ja, die Regierung handelt mit einem ganz konkreten großen Paket, damit wir eines sichern, nämlich die Zukunft des Diesels und die Zukunft der Mobilität in der Innenstadt. Wir wollen, dass die Luft sauberer wird.
({22})
Deswegen werden wir in den Städten, in denen die Werte zwischen 40 und 50 Mikrogramm liegen, die Werte recht schnell unter den Grenzwert bringen. Aber es braucht auch die Verantwortung der Kommunen und Länder, dieses Paket zu nutzen. Für die 14 Städte, die am intensivsten betroffen sind, haben wir uns eine ganz besondere Form der Betreuung überlegt.
({23})
Ich werde die Vertreter der 14 betroffenen Städte zu mir ins Ministerium holen, um noch einmal nachzufragen, wer was abruft, damit wir passgenaue Lösungen finden. Dann geht es auch um Folgendes: Wenn wir, lieber Herr Kollege Kühn, wie Sie es versuchen, den Diesel kaputtmachen würden,
({24})
dann wäre plötzlich die ganze Debatte auf die CO 2 -Reduktion bezogen. Ich sage Ihnen: Bei der CO 2 -Reduktion hätte ich mir in dieser Woche bessere Ergebnisse gewünscht – so waren sie auch innerhalb der Bundesregierung vereinbart –, nämlich eine Reduktion um 30 Prozent.
({25})
Dann hätten wir das technisch Machbare verhandelt und nicht das Politisch-Ideologische.
({26})
Herzlichen Dank.
({27})
Vielen Dank, Herr Bundesminister. – Bevor ich dem Kollegen Dr. Dirk Spaniel das Wort erteile, möchte ich darauf hinweisen, dass die Kolleginnen und Kollegen des Hauses bei aller emotionalen Begeisterung in dieser Debatte wissen dürften, dass in einer Aktuellen Stunde Zwischenfragen nicht erlaubt sind und auch sehr wahrnehmbare Meldungen nicht dazu führen, dass ich diese zulassen könnte. Die Geschäftsordnung verbietet das.
Als Nächstes hat der Kollege Dr. Dirk Spaniel, AfD-Fraktion, das Wort.
({0})
Vielen Dank. – Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Seit fast einem Jahr prangert die AfD die unverantwortliche Politik der Fahrverbote der Regierung hier in diesem Haus an. Jetzt haben wir es geschafft: Die Politiker der anderen bürgerlichen Parteien haben hier eben Reden gehalten, in denen sie unsere AfD-Positionen fast identisch wiedergegeben haben.
({0})
Ich kann nur sagen: AfD wirkt. Ein besseres Beispiel für eine kompetente, überzeugende Sacharbeit der AfD kann es gar nicht geben.
({1})
– Ja, da lachen Sie.
({2})
Leider sind Sie von CSU und FDP aber unehrlich. Sie haben unsere entsprechenden Anträge zur Verhinderung der Fahrverbote hier in diesem Haus abgelehnt. Ich muss leider annehmen, Herr Scheuer, dass Sie hier nur wegen der Landtagswahl in Bayern so tun, als wollten Sie Fahrverbote tatsächlich effektiv verhindern.
({3})
Die Bürger in einigen und um einige unserer Metropolen wie Stuttgart, Hamburg und Frankfurt, neuerdings auch Berlin, sehen sich von realen Fahrverboten bedroht. Dass zukünftig viele unserer Bürger und nicht Sie ihr Auto stehen lassen müssen, ist ungerecht und zynisch. Herr Scheuer, Sie können sich offensichtlich gegen die Umweltministerin, Frau Schulze, hier überhaupt nicht durchsetzen.
({4})
Frau Schulze vertritt in der Regierung die Position der Grünen. Fatal für unser Land ist es, dass die CSU neuerdings ja sogar offen ist für Koalitionen mit den Grünen.
({5})
Sie können das hier gerne bestreiten.
Von Grünen, Linken und der SPD wird hier immer wieder ganz bewusst etwas sehr Entscheidendes vermischt: Verschiedene Untersuchungen von Umweltorganisationen und Kraftfahrt-Bundesamt haben gezeigt, dass die Abgasgrenzwerte, die für die Zulassung eines Fahrzeugs vorgeschrieben sind, im Realbetrieb nicht erreicht werden. Jeder, der auch nur einmal in seinem Leben in einem technischen Bereich gearbeitet hat, weiß, dass andere Testbedingungen zu einem anderen Ergebnis führen können. Die höheren Abgaswerte des Realbetriebs im Vergleich zum Laborbetrieb sind daher kein Betrug, sondern ein wissenschaftlicher Fakt. Diesen Zusammenhang wollen oder können Sie eben nicht verstehen.
({6})
Sie auf der linken Seite dieses Parlaments stellen es so dar, als handele es sich um Betrug. Damit schaffen Sie die emotionale Basis für Ihre Hetze gegen die Autohersteller.
({7})
Treffen wird das nicht irgendwelche abstrakten Unternehmen, sondern die dortigen Arbeitnehmer, zum Beispiel bei Audi, BMW und in der Zulieferindustrie in Süddeutschland. Wieso erzählen Sie den Menschen eigentlich nicht, dass es nur ein einziger deutscher Autohersteller, bei dem Sozialdemokraten im Aufsichtsrat sitzen, war, bei dem Fahrzeuge mit Schummelsoftware benutzt wurden?
({8})
Ja, ist so. Das hat der Untersuchungsausschuss dieses Bundestages zu diesem Thema eindeutig bestätigt.
Ja, es ist Position der AfD, dass diese betroffenen Kunden von dem entsprechenden Hersteller zu entschädigen sind, sofern das nicht bereits geschehen ist.
({9})
Alle anderen deutschen Automobilhersteller haben lediglich die schwammige Gesetzeslage ausgenutzt,
({10})
die Sie als Union, SPD und Grüne zu verantworten haben.
({11})
Die Abweichung zwischen Realbetrieb und Laborbetrieb bei Abgasmessungen ist kein Skandal. Der Skandal ist
({12})
die Anprangerung unserer Industrie mit völlig haltlosen Beschuldigungen.
({13})
Kommen wir noch einmal zu Ihrer Scheinlösung, mit der Sie angeblich Fahrverbote verhindern wollen. Herr Scheuer, Sie wissen selber durch Ihre Experten, dass Nachrüstungen nur in geringen Fallzahlen möglich sind. Nicht ein einziges System zur Nachrüstung hat bis heute eine entsprechende Zulassung. Aussagen von Experten aus Ihrem Verkehrsministerium und entsprechende Anhörungen haben ganz klar gezeigt: Nachrüstungen stellen keine geeignete Lösung dar. Dass die Union jetzt die absurden Vorschläge der SPD umsetzt, ist reiner Machterhalt und ein Zeichen politischer Orientierungslosigkeit und Schwäche.
({14})
Das Resultat: Die Fahrverbote belasten Millionen Fahrzeugnutzer. Machen Sie endlich ehrliche Politik, und sorgen Sie dafür, dass die völlig aberwitzigen Messstellen unserer Umwelthysteriker richtig positioniert werden.
({15})
Die Gesetze eines Landes sollen die Bürger nicht drangsalieren, sondern ihnen bessere Lebensbedingungen ermöglichen.
({16})
Es ist Ihre Pflicht, sicherzustellen, dass wir hier Hunderttausende Arbeitsplätze erhalten und dass Millionen Autofahrer ihre Fahrzeuge weiter nutzen können. Die Gesetze und Vorschriften in diesem Land sind diesem Zweck entsprechend anzupassen.
({17})
Und wenn Sie das mit der grünen SPD nicht mehr hinbekommen, –
Bitte kommen Sie zum Schluss.
– dann beenden Sie die Koalition! Machen Sie den Weg frei für eine kompetentere Bundesregierung!
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. – Als Nächste spricht zu uns die Parlamentarische Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Felix Schreiner [CDU/CSU]
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei so viel Wind meine ich: Man muss zur sachlichen Diskussion kommen. Ich will noch einmal erklären, warum wir das tun. Wir sind nicht gegen irgendjemanden, wir sind auch nicht gegen den Dieselfahrer, wir sind auch nicht gegen Autofahrer, wir sind auch nicht gegen die Automobilindustrie, sondern wir sind für saubere Luft,
({0})
und wir sind für Gesundheitsschutz der Menschen in den Städten. Es geht darum, dass auch die Anwohnerinnen und Anwohner an besonders belasteten Straßen eine gute Luft haben. Wir müssen sie schützen. Wir wissen ganz genau, dass Stickstoffdioxid die Atemwege reizt und negative Auswirkungen auf die Gesundheit hat. Die Grenzwerte basieren auf Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation. Im Übrigen ist das nicht seit gestern bekannt. Seit 2010 gelten diese Werte, und bis man die Schummeleien nachgewiesen hat, hat sich keiner über diese Grenzwerte oder Messstellen aufgeregt.
({1})
Zuständig für saubere Luft sind in erster Linie natürlich die Länder und die Kommunen. Wir als Bund unterstützen die Länder und die Kommunen nach Kräften. Auf allen staatlichen Ebenen heißt es: Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst.
Es gab in den vergangenen Jahren Fortschritte. Wir haben im letzten Jahr noch 65 Städte mit Grenzwertüberschreitungen gehabt. Aber gegenüber 2016 ist der Trend positiv. Wir hoffen, dass es so weitergeht, dass wir 2020 hoffentlich keine Überschreitungen mehr haben.
({2})
Die Hauptursache sind nun einmal Dieselfahrzeuge, vor allem die Diesel-Pkw. Das Problem löst man auch nicht dadurch, dass wir wieder eine Diskussion über Grenzwerte oder Messstellenstandorte anfangen. Ein Kind im Kinderwagen sitzt halt auf der Höhe des Auspuffs, und dann kann man nicht einfach sagen: Wir gehen darüber hinweg. – Natürlich wohnen arme Leute in den Ausfallstraßen oder in den Städten, die hauptsächlich belastet sind.
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Wir haben eine Verantwortung. Auch in Stuttgart wohnen Leute in der Innenstadt. Auch diese Kinder und Menschen haben den Schutz ihrer Gesundheit verdient.
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Herr Bernhard, wenn über Grenzwerte diskutiert wird und Sie es mit Zigaretten vergleichen, so hoffe ich nicht, dass Ihre Kinder in dem Alter Zigaretten rauchen.
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Herr Spaniel, Sie haben doch lange genug bei Daimler gearbeitet, von 2004 bis 2017. Sie waren dort leitender Autoingenieur. Führen Sie uns vielleicht hinter die Fichte? Sie haben doch Einblick gehabt.
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Sie hätten doch alles tun können, um die Grenzwerte einzuhalten.
Wir wollen auf jeden Fall Fahrverbote vermeiden. Ich kenne niemanden, der dieses Prinzip durchbricht. Noch einmal: Wir wollen Fahrverbote vermeiden.
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Sehr geehrte Damen und Herren, die Bundesregierung und die Spitzen der Koalitionsfraktionen haben sich am 1. Oktober über dieses große Paket im Sinne der Dieselfahrerinnen und Dieselfahrer und der besonders belasteten Kommunen verständigt. Von diesem Paket profitieren alle Einwohnerinnen und Einwohner, weil es nämlich dann auch bessere Luft in den Städten gibt.
Zweitens profitieren natürlich die Dieselfahrerinnen und Dieselfahrer, denen Fahrverbote drohen. Sie bekommen jetzt die Möglichkeit, sicherzustellen, dass sie von möglichen Fahrverboten nicht betroffen sein werden: durch Hardwarenachrüstungen auf Kosten der Hersteller oder durch Umtauschprämien. Die Bundesumweltministerin und das Bundesumweltministerium haben sich dafür eingesetzt, dass diese Möglichkeit auch denjenigen zur Verfügung steht, die sich nicht ein neues Auto leisten können. Wir haben uns von Anfang an ganz klar dafür eingesetzt – schon in der vergangenen Wahlperiode –, dass das Verursacherprinzip gilt. Und die Verursacher sitzen in der Automobilindustrie.
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Wer ein Auto verkauft und verspricht, dass man mit dem Auto überall hinfahren kann, der hat auch dafür zu sorgen, dass man mit dem Auto überall hinkommt. So einfach ist die Sache.
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Ich erinnere noch einmal an den ehrbaren Kaufmann. Wenn eine ganze Branche mit diesem Problem umzugehen hat, dann heißt es auch, dass man die Verantwortung entsprechend übernimmt.
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Soziale Marktwirtschaft heißt, nicht nur Verantwortung gegenüber den Aktionären zu haben, sondern vor allem auch gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Verbraucherinnen und Verbrauchern.
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Deshalb haben wir das „Sofortprogramm Saubere Luft“ aufgelegt. Und wir haben jetzt noch einmal nachgelegt und neu beschlossen, dass die Hardwarenachrüstung bei schweren Kommunalfahrzeugen – das macht natürlich auch Sinn –, wie bei Müllfahrzeugen, in Städten mit über 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid in der Luft mit einer Quote von 80 Prozent gefördert werden kann.
Ebenfalls neu ist die Entscheidung, dass auch die Hardwarenachrüstung mit einem SCR-System in Handwerker- und Lieferfahrzeugen mit 80 Prozent gefördert wird. Förderberechtigt sollen Fahrzeughalter mit gewerblich genutzten Fahrzeugen von 2,8 bis 7,5 Tonnen sein, die ihren Firmensitz in der durch Grenzwertüberschreitungen betroffenen Stadt oder den angrenzenden Landkreisen haben. Das gilt auch für andere gewerbliche Fahrzeughalter, deren Unternehmen nennenswerte Aufträge in der Stadt haben. Bei den übrigen 20 Prozent sind die Autohersteller in der Pflicht. Auch darüber verhandeln wir.
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Ich sage es an dieser Stelle noch einmal: Es gilt das Verursacherprinzip, und es gilt auch das Prinzip des ehrbaren Kaufmanns.
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Für alle nicht gewerblichen Dieselfahrzeuge der Eurostufen 4 und 5 in den besonders belasteten Städten – das sind die Städte, deren Stickstoffdioxidjahresmittelwert im Jahr 2017 bei über 50 Mikrogramm gelegen hat – sieht das Konzept zwei Optionen vor.
Möglichkeit eins ist die Umtauschaktion. Hier haben die Automobilhersteller dem Bund, dem Bundesverkehrsminister ein Tauschprogramm mit attraktiven Umstiegsprämien oder Rabatten zugesagt. Natürlich heißt das nicht, dass da irgendwie X mit Y verrechnet wird, sondern es muss attraktiv sein, und es muss entsprechend angeboten werden.
Möglichkeit zwei sieht für Euro-5-Fahrzeuge eine Hardwarenachrüstung mit einem SCR-System vor, soweit dies technisch machbar und verfügbar ist, um den Stickstoffoxidausstoß auf weniger als 270 Milligramm pro Kilometer im realen Betrieb auf der Straße zu reduzieren.
Der Bund, der Bundesverkehrsminister wird die genehmigungsrechtlichen Voraussetzungen für die Hardwarenachrüstungen zügig schaffen. Und wir erwarten, dass die Automobilhersteller die Kosten für die Hardware und den Einbau übernehmen.
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Das, was bislang von VW, BMW und Co dazu gesagt worden ist, kann sicher nicht das letzte Wort gewesen sein. Die Kanzlerin und der Vizekanzler haben sich dazu ganz eindeutig geäußert und sich gegenüber der Automobilindustrie positioniert.
Ich will etwas zum Beugen vor der mächtigen Automobilindustrie sagen: Wir haben sehr wohl gleich reagiert. Deswegen gibt es auch eine Musterfeststellungsklage. Das ist ein Punkt, auf den sich jetzt jeder Verbraucher bei VW entsprechend verlassen kann.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist davon auszugehen, dass mit den genannten Maßnahmen der Stickstoffdioxidgrenzwert in vielen Fällen eingehalten werden kann. Dadurch können auch Fahrverbote verhindert oder vermieden werden. Für den Fall, dass eine Kommune gezwungen ist, Fahrverbotszonen einzurichten, werden wir im Bundes-Immissionsschutzgesetz Folgendes machen: Wir werden Fahrzeuge der Eurostufen 4 und 5, die den Emissionswert von 270 Milligramm pro Kilometer Stickstoffdioxid im realen Betrieb auf der Straße einhalten, von Fahrverboten ausnehmen. Dazu werden wir sicherstellen, dass die Verkehrsüberwachungsbehörden auf Daten des Zentralen Fahrzeugregisters zurückgreifen können.
Die Automobilindustrie hat immer gesagt, dass sie nicht nur Autos verkauft, sondern Mobilität. Das müssen die Konzerne nun aber auch leisten
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und ihre Mobilitätsgarantie auch einlösen. Es ist wirklich höchste Eisenbahn.
Ich hoffe sehr, dass die Automobilindustrie diese Chance tatsächlich nutzen wird, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Dieses Vertrauen wird gebraucht, wenn Millionen Kundinnen und Kunden in den nächsten Jahren vor der Frage stehen, bei welchem Hersteller sie welches Fahrzeug kaufen.
Zusammen mit unseren Förderprogrammen können wir es schaffen, die Mobilität in Deutschland nachhaltiger zu machen. Wir können dafür sorgen, dass die Luft sauberer wird. Das ist gut für die Gesundheit, gut für den Klimaschutz, für die Lebensqualität und vor allem für die Arbeitsplätze auch in Deutschland. Ich will, dass wir auch in Zukunft „made in Germany“ bei unserer Automobilindustrie haben, aber auch Mobilität „made in Germany“. Das haben wir mit dem Paket gut vorangebracht.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Rita Schwarzelühr-Sutter. – Schönen Nachmittag, liebe Kolleginnen und Kollegen, von mir. Sonnig, nicht nur draußen, sondern auch im Herzen. – Der nächste Redner kommt aus dem schönen Bayern. Florian Oßner hat das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin, Sie haben sich ja schon selbst einmal von der Schönheit unseres Wahlkreises überzeugen dürfen. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wird Zeit, die Dieseldebatte endlich ein Stück weit zu versachlichen. Auch wenn meine Vorrednerin die Emotionen schon ein Stück weit heruntergefahren hat
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und wenn ich die weiteren Vorredner mit dazu nehme, kann man grundsätzlich sagen: Emotionen sind ja nichts Schlechtes. Aber wenn am Ende überhaupt keine faktenbasierte Diskussion mehr zugelassen wird, dann haben wir tatsächlich ein Stück weit ein Problem. Deshalb: Lassen Sie uns endlich zu einer vernünftigen Diskussion zurückkehren!
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Nun zu den Fakten. Fakt eins. Man muss unterscheiden zwischen denjenigen Autos, bei denen die Werte des Schadstoffausstoßes manipuliert wurden, und denjenigen Autos, die völlig korrekt hergestellt wurden und die über rechtlich völlig korrekte Zulassungen verfügen. Denn die von den Kommunen Berlin, Hamburg und Frankfurt verordneten Durchfahrverbote gelten auch für Dieselfahrzeuge, die über Jahre hinweg völlig rechtskonform nach einem EU-weit genormten Verfahren zugelassen wurden und die die EU-Emissionsgrenzwerte für Stickoxide einwandfrei eingehalten haben. Hier in der Debatte wird das leider immer wieder unrechtmäßigerweise vermischt. Das dürfen wir in Zukunft so nicht mehr zulassen.
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Hierbei unberücksichtigt bleiben dabei völlig – der eine oder andere Vorredner hat dies angesprochen – die Lage der Messstationen und der Umstand, welche Einflüsse zum Beispiel Kreuzfahrt- und Containerschiffe im Hamburger Hafen oder auch unterschiedliche Wetterlagen auf die Messwerte haben. Es wäre unbedingt angebracht, das richtige Augenmaß bei der Einschätzung des Risikos zu behalten.
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Fakt zwei. Wir hatten in unseren Städten seit der Industrialisierung noch nie so saubere Luft wie heute. Ich denke, das bestreitet keiner, nicht einmal der größte Dieselkritiker. Folgt man jedoch der Debatte in den letzten Jahren, dann hat man schier das Gefühl, als würden wir uns tagtäglich vergiften.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und den Linken, erkennen Sie bitte doch auch einmal an, dass die Entwicklungen in unserem Land zum Vorteil waren und dass die Menschen in unserem Land von Ihnen nicht immer wieder auf die Bäume getrieben werden wollen mit dieser Technologiefeindlichkeit und der Zukunftsangst, die Sie tagtäglich verbreiten.
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Dennoch ist uns allen natürlich klar: Wir wollen unsere Luftqualität noch weiter verbessern. Deshalb haben wir im letzten Jahr das Milliardenprogramm „Saubere Luft 2017 – 2020“ aufgesetzt, welches Maßnahmen wie etwa die Umrüstung von Bussen und Kommunalfahrzeugen fördert. Damit haben Bund, Länder und Kommunen ein Maßnahmenpaket geschnürt, um die europäischen Grenzwerte effizient einhalten zu können, und das – das betone ich bewusst – ohne Fahrverbote für Dieselfahrzeuge. Das möchte ich hier noch einmal in aller Deutlichkeit unterstreichen.
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Für die schnelle Umsetzung des Sofortprogramms möchte ich an dieser Stelle noch einmal ein großes Dankeschön an unseren verantwortlichen Verkehrsminister Andreas Scheuer und seinen Vorgänger Alexander Dobrindt aussprechen. Das waren die richtigen Schritte in die richtige Richtung.
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Mit dem am 2. Oktober vorgestellten Maßnahmenpaket – Umstiegsprämien; das ist heute von Herrn Bundesminister Scheuer schon angesprochen worden; Flottenerneuerungen und SCR-Hardwarenachrüstungen – geben wir den Dieselfahrern in unserem Land die notwendige Perspektive, langfristig freie Fahrt auch in unseren jetzt noch problematischen Innenstädten zu haben. Im Rest Deutschlands ist dies sowieso nicht ein derartiges Problem. Deshalb kann ich allen Dieselfahrern nur zurufen: Lassen Sie sich nicht komplett verrückt machen von dieser unsäglichen Debatte in der letzten Zeit!
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Abschließend möchte ich zusammenfassend festhalten: Wir stehen für eine weitere Verbesserung unserer Luftqualität, wir stehen für technische Erneuerungen, und wir stehen auch für freie Fahrt für die Individualmobilität ohne Fahrverbote.
Weder entlassen wir die Autoindustrie aus ihrer Verantwortung – vor allem auch da, wo betrogen wurde; es wird oft verschwiegen, dass bereits etliche Strafverfahren von den Gerichten eingeleitet worden sind –, noch lassen wir die Dieselfahrer, welche auf ihr Fahrzeug dringend angewiesen sind, im Regen stehen.
Was wir jedoch nicht zulassen dürfen, ist ein völlig ideologisch geführter Feldzug gegen hocheffiziente neue Verbrennungsmotoren. Sie sind ein genauso wichtiger Baustein für die Freiheit und Lebensqualität unserer Bürgerinnen und Bürger wie die Elektromobilität, der Wasserstoffantrieb und auch das Fahrrad. Es muss endlich aufhören, dass wir diese Antriebsformen ständig gegeneinander ausspielen.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
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Vielen Dank, Herr Kollege Oßner. – Jetzt kommt der nächste schöne Wahlkreis: Sören Bartol für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin, der schönste Wahlkreis – das ist natürlich Marburg-Biedenkopf. Wunderbar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! CDU, CSU und SPD sind sich einig: Wir wollen saubere Luft in den Städten und freie Fahrt für Autofahrerinnen und Autofahrer überall in Deutschland. Viele sind derzeit unsicher. Menschen in den Städten haben Angst, durch die Schadstoffe krank zu werden. Pendlerinnen und Pendler befürchten, mit ihren Autos nicht mehr zu ihren Arbeitsplätzen zu kommen. Handwerkerinnen und Handwerker haben die Sorge, nicht mehr zu ihren Auftraggebern fahren zu können. Die Beschäftigten bei VW, BMW und Daimler fürchten um ihre Arbeitsplätze. Und in dieser Situation zu behaupten, Stickoxide hätten keinen Einfluss auf die Gesundheit der Menschen oder die europäischen Grenzwerte seien willkürlich gesetzt und nur dazu da, den deutschen Automobilherstellern zu schaden, ist vor allen Dingen eines: Es ist unverantwortlich.
({0})
Wer das tut, spielt mit den Ängsten der Beschäftigten und der Autofahrer. Das gehört sich einfach nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt muss jeder seiner Verantwortung nachkommen. Das sind wir im Bund, das sind die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in den Städten, das sind die Vorstände der Automobilhersteller.
({1})
Derzeit überschreiten 65 Kommunen die gesetzlichen Grenzwerte bei Stickoxiden. CDU/CSU und SPD handeln im Bund entschlossen. Wir haben zwei weitreichende Maßnahmenpakete auf den Weg gebracht. Wir unterstützen seit einem Jahr die Kommunen bei der digitalen Verkehrssteuerung, beim Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs sowie bei der Beschaffung sauberer Busse und Straßenbahnen und fördern den Kauf von sauberen Taxis. Dafür haben wir das Sofortprogramm „Saubere Luft“ mit 1 Milliarde Euro, an deren Finanzierung sich auch die Industrie beteiligt. Hier sind die Kommunen in der Pflicht, die Mittel abzurufen und sie vor Ort für intelligente Maßnahmen zu nutzen.
({2})
Außerdem haben wir vereinbart, die technische Nachrüstung von Dieselbussen, Taxis wie auch Müll- und Handwerkerfahrzeugen zu fördern.
Ich bin mir sicher, dass Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer jetzt schnell die rechtlichen Vorgaben für die Nachrüstsets klären und das Förderprogramm des Bundes vorlegen wird.
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Ich sage das hier auch in aller Deutlichkeit, lieber Herr Minister Scheuer: Es gibt Dieselnachrüstsets für Fahrzeuge.
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Genau deswegen hat der Koalitionsausschuss sie auch beschlossen. Das hat nichts mit Nachrüstungsfetischismus zu tun, sondern das ist die logische Folge dessen, was wir hier in dieser Republik erleben.
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Im Gegenzug erwarte ich von den Vorständen der Automobilhersteller, dass sie ebenfalls ihrer Verantwortung nachkommen.
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Wo trotz unserer weitreichenden Maßnahmen Fahrverbote nicht verhindert werden können, müssen die Automobilkonzerne umgehend attraktive Umtauschprämien anbieten und die Kosten für die technische Nachrüstung von Diesel-Pkw übernehmen.
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Kurzfristig wird das Umtauschprogramm der Hersteller für Euro-4- und -5-Fahrzeuge, das sie in Kürze vorstellen werden, wirken. Klar ist: Das muss über die üblichen Rabattaktionen deutlich hinausgehen. Jeder Betroffene muss seinen Gebrauchtwagen gegen einen sauberen, jüngeren Gebrauchten eintauschen können, ganz einfach weil viele Autobesitzer überhaupt nicht über das Geld für einen Neuwagen verfügen.
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Mittelfristig wird die technische Nachrüstung von Diesel-Pkw helfen. Dabei geht es um viele Euro-5-Fahrzeuge, bei denen eben nicht manipuliert wurde, die jedoch auf der Straße ein Vielfaches mehr an Schadstoffen ausstoßen als auf dem Prüfstand. Zum Zeitpunkt der Zulassung war das legal. Daher haben diese Fahrzeuge eine gültige Typgenehmigung. Und deshalb können wir hier die Automobilbosse nicht zur Nachrüstung zwingen. Für Neufahrzeuge haben wir das inzwischen korrigiert. Die Autohersteller sind aber dafür zuständig, dass ihre bereits verkauften Fahrzeuge sinnvoll genutzt werden können. Denn ansonsten müssen sie befürchten, dass sie das Vertrauen ihrer Kundinnen und Kunden verlieren und das Vertrauen in ihre Produkte weiter sinkt. Damit wäre die Zukunft von Tausenden Beschäftigten in unserem Land bedroht.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich besitze gerne ein Auto der deutschen Automobilindustrie.
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Ich will, dass unsere deutschen Hersteller stark sind und viele gute, saubere Autos verkaufen. Dafür braucht es jetzt neues Vertrauen der Kundschaft. Daher erwarte ich, dass sich die Vorstände endlich zur technischen Nachrüstung bekennen.
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Sie müssen die Kosten in den Städten, in denen Fahrverbote drohen, übernehmen, ansonsten drohen die Zahlen der verkauften Dieselfahrzeuge weiter einzubrechen. Das ist schlecht für das Geschäft, das ist schlecht für die Arbeitsplätze, und das ist auch schlecht für die Umwelt.
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Und wenn sich, lieber Kollege Scheuer – nur dann –, die Spitzenmanager der Hersteller weiter weigern, dann müssen wir halt einfach noch mal über den Umgang mit ihren manipulierten Fahrzeugen sprechen.
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Kollege Scheuer, es gibt entsprechende Instrumente, die Ihrem Haus auch bekannt sind, aber bis jetzt nicht angewandt worden sind, weil wir eine andere Lösung haben wollen. Aber wenn die jetzt gefundene Lösung keinen Erfolg hat, dann werden wir im Notfall über die anderen Instrumente miteinander reden müssen.
Vielen Dank.
({14})
Vielen Dank, Sören Bartol. – Nächster Redner: Mario Mieruch.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Leben in der Bude, und irgendwo sitzt wahrscheinlich Jürgen Resch und amüsiert sich köstlich, wie er das ganze Haus vor sich hertreibt. Erst vor zwei Wochen stand ich hier an dieser Stelle und fragte das Plenum: Wer glaubt, dass das Ganze aufhören wird, wenn die Nachrüstungen erfolgen? Jetzt gab es die Entscheidung in Berlin. Erstmalig geht es um Autos mit Euro-6-Norm, und das in einer Stadt, in der in den letzten 30 Jahren die Stickoxide um 73 Prozent, Schwefeldioxid um 96 Prozent und Feinstaub um 86 Prozent reduziert wurden. Jetzt kriegen wir Straßensperren, und in zwei Jahren – das prognostiziere ich schon heute – stellen wir fest: Die Werte sind immer noch zu hoch, wir brauchen daher ein komplettes Verbot. Wir können diese Debatte in den nächsten Jahren noch endlos fortführen: über Fahrverbote, über die wissenschaftliche Rechtfertigung von Grenzwerten usw. Das hält uns alle prima auf Trab, bringt aber nichts, wenn am Ende die Feinheiten im Verwaltungsrecht liegen.
Wer das ernsthaft verstehen und hinterfragen will, welche Interessengruppen das Thema clever vorantreiben, dem möchte ich eine Lektüre empfehlen. Sie ist schon fast 50 Jahre alt und heißt „Disziplinierung der Wissenschaft“. Zu diesem Werk gab es ein Nachwort von Reiner Geulen. Wer Reiner Geulen nicht kennt, dem sage ich: Dessen Rechtsanwaltskanzlei dürfte mittlerweile fast mit der Deutschen Umwelthilfe verheiratet sein.
Wir haben eine Regierung, die nicht nur Einspruchsfristen gegenüber der Europäischen Union zu Grenzwerten einfach verstreichen lässt oder sich irgendwelche Vorgaben aus Brüssel diktieren lässt, um die Arme hochzureißen und zu sagen: Wir können ja nichts machen. – Nein, diese Regierung hat auch Ministerien und Ämter, die diese Vorgaben ohne jede Not zusätzlich verschärfen, mit denen die Industrie und letzten Endes auch die Verbraucher zurechtkommen müssen.
Versucht man als Parlamentarier, dieser Zusammenarbeit der Umwelthilfe und der verbundenen Organisationen mit Ministerien und Ämtern auf den Grund zu gehen, heißt es immer wieder: „Wissen wir nicht“ oder „Das ist Verschlusssache“, oder Frageteile werden gänzlich ignoriert. Trotz zweistelliger Millionenzahlungen an die Umwelthilfe hat man angeblich keine Ahnung, in wie vielen Verfahren derzeit Körperschaften des öffentlichen Rechtes von diesem Verein verklagt werden. Komisch, könnte man meinen, aber vielleicht könnte so was ja auch der ehemalige Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Rainer Baake, beantworten. Er war schließlich sechs Jahre Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe und engagiert bei der Agora. Ausgerechnet zu seiner Zeit erhielt die Deutsche Umwelthilfe den Zuschlag zum „Bürgerdialog Stromnetz“, dessen Mittel Minister Altmaier just diese Woche um weitere 800 000 Euro aufstockte. Oder nehmen wir den aktuellen Staatssekretär im Umweltministerium, Herrn Jochen Flasbarth. Er kennt Herrn Baake sicherlich richtig gut, eben aus jener Agora. Herr Flasbarth hat auch den Verkehrsclub Deutschland gegründet, einen Verein, der sehr oft als Nebenkläger im Zusammenhang mit Klagen der Deutschen Umwelthilfe auftaucht.
Viele fragen sich jetzt: Was ist eigentlich Agora? Dort treffen sich zentrale Teilhaber der energiepolitischen Debatte. Sie selbst beschreiben sich als Ort der offenen Diskussion. Sie sind so offen, dass die Sitzungen nichtöffentlich stattfinden und niemand namentlich zitiert werden darf. Das wirft letzten Endes die Frage auf: Wer sitzt eigentlich für welche Interessen in den hohen Regierungspositionen und entscheidet über Fördergelder? Dieser Frage sollten wir mal ganz intensiv nachgehen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Mieruch. – Nächster Redner: Felix Schreiner für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt also auch Berlin. Nach Hamburg, Stuttgart und Frankfurt ist Berlin damit die vierte deutsche Großstadt, für die Fahrverbote angeordnet wurden oder unmittelbar drohen. Mit jedem Verwaltungsgerichtsurteil steigt der politische Handlungsdruck auf Bund, Länder und Kommunen.
Das Thema treibt die Menschen in unserem Land um. Sie haben die berechtigte Sorge, wie es weitergeht, ob sie noch zu ihrem Arbeitsplatz fahren können. Handwerksbetriebe in unseren Wahlkreisen fragen: Wie geht es jetzt weiter mit unserer Dieselflotte? Es ist der Auftrag der Politik, dass wir uns diesem Thema widmen, aber vor allem ist es der Auftrag der Politik, dass wir die Luft in diesen Städten weiter verbessern; denn wir wollen Fahrverbote verhindern. Das ist unser Auftrag und unser Ziel, meine Damen und Herren.
({0})
Liebe Kollegen von der AfD, ich würde mich gerne mit Ihren Vorschlägen auseinandersetzen, aber von Ihnen kam kein einziger Lösungsansatz. Sie behaupten: Da wurde eine Diskussion plötzlich vom Zaun gebrochen; keiner weiß, woher sie kommt. – Es gibt Gerichtsurteile, mit denen wir umgehen müssen. Dafür brauchen wir Lösungen. Wir müssen darauf reagieren, meine Damen und Herren von der rechten Seite.
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Zu den positiven Entwicklungen gehört, dass die NO x -Belastung im Straßenverkehr seit 2000 um 60 Prozent gesunken ist und dass die Zahl der Städte, in denen der Grenzwert überschritten wird, auf 66 gesunken ist. In der politischen Diskussion höre ich das leider nicht so oft; es kommt eigentlich gar nicht vor.
Wahr ist außerdem, dass es auch ein kommunales Thema ist. Das ist nicht nur ein Thema der Bundesregierung, sondern wir müssen vor allem in den Kommunen vor Ort etwas machen. Bund, Länder und Kommunen sind gefordert, die Maßnahmen zur Verbesserung der Luft in den betroffenen Städten umzusetzen. Dazu gibt es jetzt konkrete Maßnahmen.
Liebe Kollegen von den Grünen, lieber Kollege Kühn, man kann nicht so tun, als wäre man an all dem nicht beteiligt. In Stuttgart regiert ein grüner Oberbürgermeister, in Baden-Württemberg regieren wir übrigens zusammen. Ihr habt also durchaus die Möglichkeit, euch vor Ort einzubringen.
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– Nein, ihr tut so, als hättet ihr mit all dem nichts zu tun, als wärt ihr in keiner Stadt an der Entscheidung beteiligt. Das lasse ich an dieser Stelle nicht durchgehen.
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Der Bund hat ein umfassendes Bündel von Maßnahmen auf den Weg gebracht, das fortlaufend ergänzt wird. Wir haben von Bundesverkehrsminister Scheuer ein Konzept vorgestellt bekommen, das zum Beispiel die Ausweitung des „Sofortprogramm Saubere Luft“ beinhaltet; es heißt übrigens deshalb Sofortprogramm, weil es bereits in der Umsetzung ist.
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Es wird zwei neue Förderrichtlinien für die Hardwarenachrüstung von schweren Kommunalfahrzeugen geben. Im Ergebnis gehen wir an die Dieselbusse, an die Straßenreinigung, die Müllabfuhr und auch an die Handwerker- und Lieferfahrzeuge. Wer unserem Bundesverkehrsminister heute genau zugehört hat, der hat gemerkt, dass das gerade in Berlin ein Thema ist, um das man sich eher schon gestern und nicht erst morgen hätte kümmern sollen.
Das alles macht Sinn; denn diese Fahrzeuge sind rund um die Uhr in den Städten unterwegs. In den 14 besonders belasteten Städten mit mehr als 50 Mikrogramm pro Kubikmeter und auch in weiteren Städten und den angrenzenden Landkreisen wird es Umtauschaktionen mit Prämien, Leasingangeboten und Rabatten geben. Es wird aber auch technische Lösungen in Form von Pkw-Hardwarenachrüstungen geben.
Das sind Maßnahmen, die helfen werden. Diese zusätzlichen Maßnahmen, von denen viele in den nächsten Wochen umgesetzt werden müssen, werden dazu beitragen, dass wir die Grenzwerte einhalten. Aber es müssen umsetzbare Lösungen sein. Es hilft nichts, leere und vor allem plumpe Versprechungen zum Besten zu geben. Das fällt uns allen gemeinsam auf die Füße.
Über das Thema diskutieren wir schon fast wöchentlich. Wir haben in der letzten Sitzungswoche bereits darüber debattiert. Wir sollten vor allem ehrlich miteinander diskutieren. Liebe Frau Kollegin Remmers, Sie rennen durchs Land und sagen – Sie haben es vorhin wiederholt –: Die Automobilindustrie hat betrogen, jetzt muss sie für den Schaden aufkommen. – Und vorher habe ich noch etwas viel Abstruseres gehört. Da haben Sie gesagt, dass der Minister daran schuld isch, dass wir jetzt verurteilt werden. Ja herzlichen Glückwunsch! Ich sage Ihnen eines: Mit dieser pauschalen Verurteilung, mit diesen plumpen Argumenten machen Sie es sich viel zu einfach. Vor allem sorgen Sie dafür, dass Tausende Arbeitsplätze in Deutschland gefährdet werden. Das werden wir nicht zulassen, sehr geehrte Damen und Herren.
Frau Remmers, ich sage Ihnen noch etwas: Ich habe schon langsam das Gefühl, dass Sie bewusst zwei Sachverhalte miteinander verknüpfen, die so nicht miteinander zu verknüpfen sind. Beim Abgasskandal geht es um die Schummeldiesel, Der damit verbundene Rückruf ist zu 97 Prozent abgearbeitet. Aber bei der Diskussion um die Luftqualität, um die Fahrverbote in den Städten geht es um Fahrzeuge, die rechtmäßig in Betrieb genommen wurden, wo es keine rechtliche Handhabe gibt. Deshalb brauchen wir dort Lösungen mit der Automobilindustrie. Ansonsten werden wir das nicht hinbekommen. Bitte nehmen Sie das an dieser Stelle einmal zur Kenntnis.
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass Ihre Redezeit schon deutlich abgelaufen ist?
Sie blinken an diesem Sommertag, Frau Präsidentin.
Ich blinke aber massiv.
Ich bitte Sie herzlich: Unterstützen Sie die Bundesregierung! Unterstützen Sie uns alle auf einem Weg, der nicht einfach ist, aber der vor allem zu einem führen muss, nämlich dazu, Vertrauen in eine Diskussion zu bringen, in der viel Vertrauen verloren gegangen ist.
Herzlichen Dank.
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Ich bin nur freundlich, weil Sie das „isch“ so nett ausgsproche hend. – Nächster Redner: Arno Klare für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Warum reden wir eigentlich ständig über Diesel? Das ist ein bisschen wie bei der „Lindenstraße“; wir haben jetzt die tausendste Folge oder so. Die Hälfte meiner Reden, die ich in diesem Hause von diesem Platz aus gehalten habe, waren zum Thema Diesel.
Wir reden nicht pausenlos über den Diesel, weil dieser ein Auslaufmodell wäre. Nein, aus meiner Sicht und aus der Sicht meiner Fraktion hat der Diesel eine Zukunft.
({0})
Wir reden auch nicht darüber, weil irgendeiner aus unserer Fraktion die Arbeitsplätze in diesem Bereich gefährden möchte. Nein, wir wollen sie erhalten und sichern.
({1})
Keiner ist so verrückt, zu sagen: Wir wollen den Individualverkehr mit dem Auto verbieten. Das hat noch nie einer von uns behauptet.
Wir reden über den Diesel, weil es Unternehmen gab, die – um es gelinde zu sagen – nicht ganz ehrlich waren. Ein Unternehmen hat zugegeben, dass es betrogen hat. Der Ex-CEO, muss man jetzt sagen, von Audi sitzt ja nicht wegen groben Unfugs in Untersuchungshaft; das muss man auch feststellen. Wir reden über den Diesel, weil Unternehmen aus Gewinngründen hinter ihren eigenen technischen Möglichkeiten zurückgeblieben sind,
({2})
und das ist ein Skandal.
({3})
Ein paar ganz einfache Fragen: Hat der Diesel eine Zukunft? Ja, hat er, und er muss auch eine haben. Gibt es einen sauberen Diesel? Auch den gibt es; Euro‑6d-TEMP beweist das. Kann man – und das ist jetzt die entscheidende Frage – auch einen Diesel unter Euro‑6d-TEMP sauber kriegen? Ja, auch das geht; Retrofit funktioniert. Hier steht jetzt einer, der in diesem Falle sozusagen das „ius primae noctis“ hat: Ich bin einer der Nachrüstfetischisten, und zwar einer der ersten Stunde.
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Ich habe in Autos gesessen, die so nachgerüstet wurden; das funktioniert. Zu behaupten, das gehe nicht, ist schlicht Unsinn.
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95 Prozent der Teile, die dort verbaut werden, sind aus den Regalen der OEMs, sind keine Entwicklungen aus irgendwelchen Schrauberlaboren. Das sind Teile, die da sind und verbaut werden können. Genauso ist es auch passiert. Deshalb muss es auch nicht schrecklich lange dauern, bis das kommen kann; es kann relativ zügig gehen.
Ist das aberwitzig teuer? Auch das stimmt nicht. Ein relativ großer Teil der Euro‑5-Fahrzeuge konnte fakultativ mit einem SCR-Kat bestellt werden. Die Aufpreise bewegten sich zwischen 1 300 und 1 950 Euro. Jetzt zu sagen, das koste 5 000 Euro, ist völlig absurd. Das ist jenseits der Preise, die seinerzeit aufgerufen worden sind.
Wir haben als Koalition sinnvollerweise ein Dreisäulenmodell für Diesel-Pkw aufs Tapet gebracht: Neukauf, Umtausch, Nachrüstung. Ich kann nur sagen: Machen wir das doch einfach, und zwar alle drei Säulen! Dann wären die Kunden zufrieden. Die OEMs, sprich: die Hersteller, würden Vertrauen zurückgewinnen; ihnen bliebe die Cash-Cow Diesel im Portfolio erhalten. Der Arbeitsplatz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wäre gesichert. Für die Umwelt wäre es gut, und ich hätte den Riesenvorteil, dass ich an diesem Platz nicht pausenlos zu diesem Thema reden müsste.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank, Arno Klare. – Letzter Redner in der Aktuellen Stunde: Thomas Jarzombek für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, dass ich heute auch einmal zum Diesel reden kann. Ich sage Compliance-mäßig dazu: Ich habe in meinem Leben noch nie einen Diesel gekauft und kann insofern locker darüber reden. Ich bin nicht von Umtauschprämien betroffen, ich hätte keinen Vorteil; deshalb sage ich das. Trotzdem werde ich aus Überzeugung Partei für die Dieselfahrer ergreifen. Ich glaube nämlich, dass hier zwei Diskussionsstränge komplett miteinander verwoben werden, was mich seit Wochen aufregt.
Der erste Diskussionsstrang ist die Frage: Haben Automobilhersteller betrogen? Die Antwort ist klar: Ja, Automobilhersteller haben betrogen, insbesondere ein Automobilhersteller. Dann höre ich immer, es gebe ja keine Konsequenzen. Meine Damen und Herren, ich habe in der Zeitung gelesen, dass Herr Winterkorn Deutschland nicht mehr verlassen darf, und Audi-Chef Stadler sitzt im Gefängnis, und das auch schon eine veritable Zeit; auch andere Manager sitzen im Gefängnis. Und das ist richtig. Wenn diese Vorwürfe zutreffend sind, müssen sie mit voller Härte geahndet werden. Wovon wir hier reden, das sind keine Kavaliersdelikte.
({0})
Bei den Fahrzeugen, um die es hier geht, wurde nicht an der Hardware geschummelt, sondern da wurde Schummelei in die Software eingebaut. Deshalb ist es auch richtig, dass wir durchgesetzt haben, dass bei diesen Fahrzeugen eine Software aufgespielt wird, die nicht manipuliert ist. Mein Kollege hat es schon gesagt: Bei 97 Prozent der Fahrzeuge ist dies mittlerweile korrigiert worden. Damit ist an diesem Strang, glaube ich, erst einmal das Notwendige getan.
Wir haben aber einen zweiten Strang – und das ist unser akutes Problem –, der darin besteht, dass wir oder der europäische Gesetzgeber bzw. beide in Kombination miteinander zwei Grenzwerte vorgegeben haben, die nicht zusammenpassen. Wir haben den Herstellern mit der Euro‑5-Norm Vorgaben gemacht, wie groß der Schadstoffausstoß eines Autos maximal sein darf. Gleichzeitig haben wir eine Richtlinie der Europäischen Union, dass maximal 40 Mikrogramm auf der Straße gemessen werden dürfen. Ganz offensichtlich ist es so, dass, wenn Fahrzeuge die Euro‑5-Norm einhalten, trotzdem die 40 Mikrogramm überschritten werden.
Wir haben hier jetzt einige Beiträge gehört. Bei aller Wertschätzung, Kollege Bartol, ich muss schon sagen: Drohgebärden gegenüber der Automobilindustrie? Wir leben in einem Rechtsstaat. Wenn Unternehmen Autos auf den Markt bringen, die nach Kriterien, die zu dem Zeitpunkt gültig waren und sie wirklich sauber erfüllen, ohne Schummeleien,
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zugelassen wurden, dann kann man doch Jahre später nicht noch alles Mögliche von diesen Unternehmen verlangen. Wie soll das denn gehen?
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– Wir können uns die Rede noch einmal anhören. – Deshalb mache ich dem Bundesverkehrsminister an der Stelle ein Kompliment dafür, dass er es geschafft hat, in dieser schwierigen Situation, in der wir kaum Rechtsansprüche an die Unternehmen haben, ein Programm auf die Beine zu stellen, das den Menschen hilft.
Wir haben ein großes Problem. In Frankfurt gibt es 500 000 Einpendler, in meiner Heimatstadt Düsseldorf 300 000. Die Leute, die morgens von Mönchengladbach nach Düsseldorf fahren, können nicht gut mit dem Fahrrad fahren, auch nicht über den Fahrradschnellweg, der geplant ist. Sie werden auch nicht mit dem Regionalexpress fahren können; denn der ist bis auf den letzten Platz voll. Das heißt, diese Leute brauchen ihr Auto, und wir müssen ihnen helfen. Stellen Sie sich vor, am 1. April tritt eine Regelung in Kraft und 100 000 Menschen kommen nicht mehr zu ihren Betrieben in Düsseldorf! Das ist für die Firmen schlecht, und das ist auch für die Mitarbeiter ein Problem. Und nicht jeder kann sich ein neues Auto leisten. Deshalb finde ich es ausdrücklich gut, dass wir hier jetzt die Lösung haben, dass man nicht nur ein – egal wie die Prämie ist – teureres neues Auto kaufen kann, sondern sein Auto auch gegen ein gebrauchtes Auto tauschen kann.
Liebe Kollegen von den Grünen, was die Kritik an der Stelle soll, verstehe ich, ehrlich gesagt, nicht. Was soll denn die Alternative sein? Wir brauchen Lösungen, die schnell funktionieren.
({3})
Wir können nicht sagen: Ihr müsst jetzt anderthalb Jahre in die Röhre gucken, wenn es ein Fahrverbot gibt; vielleicht gibt es irgendeinen anderen Lösungsweg. – Deshalb ist das, was jetzt vorliegt, gut.
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Wir müssen natürlich auch darüber nachdenken, was wir machen, wenn am Ende doch ein Rest übrig bleiben sollte, dessen Mobilitätsproblem wir mit all diesen Programmen nicht lösen können. Ich glaube, da sind wir gemeinsam in der Verantwortung. Wir tun gut daran, wenn wir jetzt gemeinsam überlegen, welche Grenzwerte wir beschließen wollen. Wer weiß schon, welche Folgen das vorgestern in Brüssel beschlossene Ziel – 35 Prozent weniger CO 2 -Ausstoß bis 2030 – für Menschen haben wird, die im Jahr 2030 mit Autos mit einem dann vielleicht unzeitgemäßen CO 2 -Ausstoß unterwegs sind? Wir reden hier über eine Regelung, die im Jahr 2008 der damalige Bundesumweltminister, Sigmar Gabriel, verhandelt hat und die das Europäische Parlament fast einstimmig beschlossen hat. Das muss man dazusagen. Dieses gegeneinander gerichtete Fingerpointing akzeptiere ich nicht.
Manchen Kollegen, zum Beispiel denen von den Grünen, die im letzten Jahr völlig entspannt im Düsseldorfer Stadtrat saßen und sich anschauten, wie sich alle Menschen neue Dieselautos kaufen mussten und nur die Rheinbahn noch mit alten Stinkerbussen durch die Stadt fuhr, kann ich nur sagen: Wir müssen gemeinsam arbeiten und eine Lösung für die Leute finden, damit wir alle Vertrauen zurückgewinnen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Jarzombek.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Wochen hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen über die Rolle des Multilateralismus in der kommenden Zeit diskutiert. Man kann vielleicht eher sagen: Sie hat darüber gestritten. Eine zentrale Frage war: Welche Verantwortung trägt die Weltgemeinschaft für die Stabilisierung der Krisen unserer Zeit? Wir wollen unserem Teil der Verantwortung gerecht werden. Das zeigen auch die aktuellen Zahlen: Allein in den letzten drei Jahren haben wir die deutschen Beiträge für Maßnahmen zur Stabilisierung und zur Krisenprävention weltweit verdreifacht.
Am Kampf gegen den sogenannten IS im Irak lässt sich besonders gut ablesen, wie funktionierender Multilateralismus zur Beilegung internationaler Krisen beitragen kann und welche Rolle Deutschland dabei gespielt hat, spielt und in Zukunft spielen kann. Den irakischen Sicherheits- und Streitkräften ist es mittlerweile gelungen, die territoriale Herrschaft des IS zu beenden. Das war nicht zuletzt möglich durch die Unterstützung einer sehr breiten internationalen Koalition im Kampf gegen den IS. Das militärische Engagement, auch das unserer Bundeswehr, hat dazu beigetragen, überhaupt erst die Voraussetzungen für einen Wiederaufbau und für Stabilisierung zu schaffen. Nur durch das gemeinsame Handeln ist es gelungen, dass über 4 Millionen Binnenvertriebene nach dem Schrecken der Terrorherrschaft in ihre Heimat zurückkehren konnten.
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Ich finde, wenn wir über Migration reden, ist das eine Größenordnung, die schon bemerkenswert ist. Deshalb ist es durchaus sinnvoll, darüber zu reden, wie das zustande kam und welche Rolle Deutschland dabei spielte.
Deutschland hat als Teil dieser multilateralen Allianz erheblich zur Stabilisierung des Landes beigetragen. Dies ist zentral für den gesamten Mittleren Osten. Es sollte unser Anspruch sein, diese Entwicklung auch in Zukunft mitzugestalten. Dafür ist nun einmal das Zusammenspiel von sowohl militärischem als auch zivilem Engagement weiter notwendig. Mit mehr als 1,4 Milliarden Euro seit 2014 sind wir mittlerweile der zweitgrößte Geber im Irak. Wir leisten einen Beitrag zur Wahrung der Einheit des Landes und helfen, das Gewaltmonopol des Staates im Land weiter zu stärken. Dennoch – das ist kein Geheimnis – ist der Weg zu einer nachhaltigen Stabilisierung des Irak sicherlich noch lang.
Es gibt durchaus Fortschritte, auch solche, die ermutigend sind und Hoffnung für die Zukunft machen. Die irakischen Parlamentswahlen in diesem Jahr sind überwiegend friedlich verlaufen, trotz allem, was prognostiziert worden ist. Das ist ein deutlicher Schritt nach vorne. Derzeit befindet sich der Irak in einem zwar langwierigen und schwierigen, aber letztlich doch demokratischen Regierungsbildungsprozess. Deshalb stehen wir bereits jetzt, obwohl die Regierung noch nicht gebildet ist, mit all denjenigen, die dafür in Betracht kommen, aber auch mit den anderen Kräften des Parlaments in Kontakt, aber, wie gesagt, vor allen Dingen mit denen, die die nächste Regierung tragen könnten. Sie alle betonen in den Gesprächen mit uns den Wunsch, dass Deutschland sich weiter im Irak engagiert.
An diesen neuen Realitäten im Irak haben, meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete, unsere Soldatinnen und Soldaten, die Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfer, die Diplomatinnen und Diplomaten großen Anteil. Sie haben unter wirklich schwierigsten Bedingungen in den letzten Jahren dazu einen wichtigen Beitrag geleistet. Ich finde, dafür gebührt ihnen der Dank der Bundesregierung, aber vor allen Dingen auch des deutschen Parlaments.
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Letztlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, dient das auch unserem ureigensten Interesse. Ein sicherer Irak, der Terroristen keinen Nährboden bietet, der den Menschen vor Ort Perspektiven bietet und der zur Stabilität der Region beiträgt, ist am Ende das wirksamste Mittel, um Ursachen von Flucht und illegaler Migration zu mindern. Die Iraker stellen nach den Syrern nach wie vor die zweitgrößte Gruppe der Asylbewerberinnen und Asylbewerber in Deutschland. Eine Fortsetzung unseres Engagements im Rahmen der internationalen Anti-IS-Koalition ist und bleibt gerade vor diesem Hintergrund mehr als sinnvoll.
Wir haben letztlich einen, wie ich finde, guten Kompromiss für die Ausgestaltung der Mandatsverlängerung gefunden, und zwar einen, der gerade den aktuellen Entwicklungen im Irak Rechnung trägt. Die Unterstützung der irakischen Regierung bleibt für uns dabei unerlässlich. Das werden wir auch in weiteren Gesprächen deutlich machen. Daher haben wir uns entschieden, unser Ausbildungsengagement in sechs Monaten einer Überprüfung zu unterziehen und die anhaltende Zustimmung der zukünftigen irakischen Regierung dabei sicherzustellen. Das ist, wie ich finde, ein mehr als berechtigtes Anliegen.
Meine Damen und Herren, ein ganz herausragender Schwerpunkt unseres Engagements liegt weiter auf dem zivilen Engagement. Wir wollen unseren Teil dazu beitragen, nachhaltig die Ursachen für Radikalisierung und Extremismus vor Ort zu bekämpfen. Daher beteiligen wir uns auch weiter an Stabilisierungsmaßnahmen, zum Beispiel bei der Minen- und Kampfmittelräumung oder durch die Unterstützung der lokalen Landwirtschaft. Unser Engagement vor Ort findet nicht nur große Zustimmung, sondern hat auch große Bedeutung. Es ist richtig, die Menschen nicht auf halber Strecke alleine zu lassen.
Mit dem Antrag der Bundesregierung zur Mandatsverlängerung wollen wir weiter Verantwortung in einer multilateralen Allianz zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus übernehmen. Dafür bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Minister Heiko Maas. – Nächster Redner: Rüdiger Lucassen für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Frau von der Leyen und wir Obleute des Verteidigungsausschusses waren vor vier Wochen gemeinsam im Irak. Dort analysierte die Ministerin – ich zitiere –: Der IS ist militärisch geschlagen, aber ideologisch nicht. – Das war eine richtige Beobachtung. Heute, einen Monat später, wirbt die Verteidigungsministerin hier im Parlament für die Ausdehnung des Bundeswehreinsatzes in diesem Land. Damit offenbart sie erneut, dass sie das System Bundeswehr – ja, das Konzept jeder Armee – nicht verstanden hat, und ihre Gefolgschaft aus Union und SPD schließt sich dieser Unkenntnis leider an.
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Denn sie stellt erst fest, dass der „Islamische Staat“ militärisch besiegt ist, will jetzt aber das Militär schicken, um den Kampf fortzuführen. Das ist paradox, und es steht exemplarisch für die totale Schieflage in der deutschen Politik im Hinblick auf Sinn und Zweck von Streitkräften.
Was können Streitkräfte? Mit Streitkräften wird Politik gewaltsam durchgesetzt. Das will man heute nicht mehr so sagen; dennoch ist es wahr. Streitkräfte wenden tödliche Gewalt an, um politischen Willen durchzusetzen. Streitkräfte können Räume freikämpfen und diese dann zeitlich begrenzt halten. Sie schaffen also mit Gewalt ein Zeitfenster in einem gewissen Gebiet. In diesem Gebiet können dann andere, nichtmilitärische – eben nichtmilitärische! – Mittel eingesetzt werden.
Die Bundesregierung macht es aber seit Jahrzehnten genau verkehrt herum: Immer wenn es darum geht, die Bundeswehr in ihrem Kernauftrag einzusetzen, dem Kampf, lässt sie den anderen den Vortritt und beschränkt sich auf politische, moralische und finanzielle Unterstützung. Ist die Schlacht dann aber geschlagen, schickt sie die Bundeswehr in die sogenannte Konfliktnachsorge. Das endet dann immer in Misserfolg. Das war in Afghanistan so, ist in Mali so und soll jetzt auch im Irak so geschehen.
Sie wollen dort eine Ideologie bekämpfen und schicken dafür das Militär? Das ist nicht nur dumm, weil Sie offenbar nichts aus dem eigenen Scheitern in Afghanistan, dem drohenden Scheitern in Mali und dem Scheitern der Amerikaner im Irak gelernt haben. Es ist sogar sehr gefährlich; denn der Einsatz von Militär gegen eine Ideologie endet immer in einer Abwärtsspirale von Verlusten, Truppenaufstockungen und Durchhalteparolen. Wie wollen Sie mit einer deutschen Institution, der Bundeswehr, eine Ideologie bekämpfen, die sich in einer islamischen Gesellschaft festgesetzt hat? Das schaffen Sie ja nicht einmal in der Salafistenszene hier in Deutschland.
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Am Ende – das prophezeie ich Ihnen – steht ein Rückzug in Scheitern und Frust,
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und Sie sind dann nur noch damit beschäftigt, das Scheitern zu verschleiern. Aber – um nicht missverstanden zu werden –
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das ist kein Aufruf, die Bundeswehr zum Kämpfen in die Welt zu schicken.
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Ganz im Gegenteil: Ihr Hauptauftrag ist die Landes- und Bündnisverteidigung, und diese findet eben nicht in Afrika und in Asien statt. Es ist ein Appell, die Bundeswehr nicht permanent für Aufgaben zu missbrauchen, die nicht in ihren Kernauftrag fallen.
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Denn durch diesen Missbrauch unserer Soldaten haben Sie in den letzten Jahrzehnten die Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr faktisch zerstört. Lassen Sie das endlich sein! Holen wir unsere Soldaten nach Hause!
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Danke schön, Herr Kollege Lucassen. – Nächster Redner: Jürgen Hardt für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Beitrag meines Vorredners war ziemlich absurd.
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Die Bundeswehr macht in zahllosen Kasernen, Schulen und Ausbildungseinrichtungen von morgens bis abends weitgehend Ausbildung, um sich zu befähigen, vielleicht nicht kämpfen zu müssen, sondern wehrhaft zu sein und damit ein Abschreckungspotenzial darzustellen. Wenn wir die Bundeswehr jetzt in den Irak schicken, um dort Ausbildungshilfe zu leisten, dann tun wir das genau deshalb: um nicht kämpfen zu müssen, sondern um sicherzustellen, dass andere gut gerüstet und vorbereitet sind, damit sie nicht kämpfen müssen. Wenn Herr Lucassen hier sagt, die Hauptaufgabe eines Soldaten sei das Kämpfen, dann beleidigt er damit die vielen Schulkommandeure und Schiffskommandanten, die von morgens bis abends erfolgreiche Ausbildung machen.
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Das bisherige Engagement Deutschlands und der Völkergemeinschaft gegen den IS war erfolgreich; wir reden ja immer über die Bilanz unserer Auslandseinsätze. Das, was wir im Irak an Ausbildungsunterstützung für die Peschmerga und für die irakische Regierung gemacht haben, ist erfolgreich gewesen. Damit wir diesen Erfolg wahren und für die Zukunft sichern, ist es gut, dass wir dies fortsetzen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird diesem Mandat – nach Beratung im Ausschuss in der nächsten Woche – voraussichtlich zustimmen, weil wir der Auffassung sind, dass diese Arbeit noch nicht beendet ist, sondern in leicht veränderter Form fortgesetzt werden muss.
Für mich hat das Mandat allerdings einige Schönheitsfehler, bzw. es gibt – ich möchte es einmal so sagen – Abzüge in der B-Note. Ich finde es voreilig, dass wir uns in diesem Mandat bereits heute darauf festlegen, dass wir in zwölf Monaten die Luftbildaufklärung durch die Tornados und die Luftbetankung durch unseren Airbus einstellen. Auch ich glaube zwar, dass wir in zwölf Monaten zu diesem Ergebnis kommen werden; aber ich halte es für nicht notwendig, dass wir das bereits in diesem Mandat so sagen. Wir haben ja mit voreiligen Terminierungen unsere Erfahrungen gemacht. Natürlich könnte das eine mögliche Gegenseite erst recht ermutigen, besondere Anstrengungen zu unternehmen, um uns den geplanten Ausstiegstermin zu vermiesen. Ich glaube zwar, dass es so kommen wird; aber ich hätte mir gewünscht, dass das nicht im Mandat drinsteht.
Es gibt einen zweiten Schönheitsfehler in diesem Mandat, den ich hier offen ansprechen möchte. Herr Bundesaußenminister, Sie selbst sind ein Verfechter des Multilateralismus. Wir haben Ihren „Handelsblatt“-Aufsatz gelesen, und wir haben Ihre Rede vor der Botschafterkonferenz gehört. Unsere multilaterale Verteidigungs- und Sicherheitsarchitektur ist die NATO. Deswegen war es klug, dass die Bundesregierung in der NATO mit dafür gesorgt hat, dass wir ein NATO-Ausbildungsmandat bzw. einen NATO-Ausbildungseinsatz für den Irak bekommen. Das ist ein Auftrag, ein Mandat der NATO, das die deutsche Handschrift trägt, das im Übrigen politisch gut kontrolliert ist und ganz klar definiert, was gemacht werden darf und was nicht. So gibt es etwa keine Begleitung bei Kampfeinsätzen, sondern es geht ganz konkret um das Prinzip „Train the Trainer“. Wir beraten und unterstützen die irakischen Streitkräfte im Einvernehmen mit der Zentralregierung. Dabei machen sogar Staaten wie Finnland, Schweden und Australien, die bekanntermaßen nicht zur NATO gehören, mit. Wir Deutsche haben dieses Mandat zwar mit auf den Weg gebracht. Aber wenn es jetzt darum geht, ob wir zwei, drei oder vier Dutzend deutsche Ausbilder zur Verfügung stellen, sagen wir: Nein, wir machen etwas Bilaterales mit dem Irak. – Das ist zwar auch eine Möglichkeit. Aber die bessere Lösung wäre eindeutig gewesen, im NATO-Rat klar zu sagen, dass Deutschland eine bestimmte Anzahl von Soldaten für diesen Einsatz meldet.
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Ich werde nicht aufgeben, dafür zu werben, dass es so kommt. Aber ich weiß, dass das zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich ist. Ich glaube, dass der Einsatz dennoch erfolgreich abgeschlossen werden kann. Es wäre effizienter und es wäre auch eine „low-hanging fruit“, also ein schöner, leicht zu erbringender Beweis unserer NATO-Verlässlichkeit, wenn wir in diesem Einsatz mitmachten.
Ich wünsche mir für die Soldaten, die in diesem zukünftigen Einsatz eingesetzt werden – zum Beispiel rund 800 in al-Asrak in Jordanien, aber auch in Konya in AWACS-Flugzeugen und dann eben auch in Bagdad –, dass sie jedes Glück und jede Unterstützung dafür haben, dass sie aus diesem Einsatz heil wieder nach Hause kommen. Ich möchte allen Soldaten ausdrücklich danken, die diesen Einsatz in hervorragender Weise leisten. Ich selbst bin im Frühsommer mit der Bundeskanzlerin in Jordanien gewesen. Wir haben auch die Motivation der Soldaten gespürt, die wissen, dass sie dort eine wichtige Aufgabe wahrnehmen. In diesem Sinne wird dieses Mandat sicherlich ein wichtiger Beitrag für die Zukunft des Irak und der ganzen Region sein.
Danke schön.
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Vielen Dank, Jürgen Hardt. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Alexander Graf Lambsdorff.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als wir im März hier zusammengekommen sind, um über dieses Mandat zu sprechen, um es bis Ende Oktober dieses Jahres zu verlängern, hatte meine Fraktion einen Kritikpunkt und vier Unklarheiten identifiziert. Der Kritikpunkt bezog sich auf die Zusammenlegung der Mandate Anti-IS, also der Mandate für den Kampf gegen den IS-Terrorismus, mit dem Mandat „Stabilisierung des Irak über Stabilisierung im Zentralirak“.
Die Unklarheiten, die wir in Bezug auf diesen zweiten Teil identifiziert haben, waren die innenpolitische Situation im Vorfeld der Wahl. Es war die Frage: Wie geht es weiter mit den Kurden? Es war die Frage der Popular Mobilization Forces der schiitischen Milizen im Irak, und es war die Frage der im Entstehen begriffenen NATO-Mission. Wir haben uns deswegen damals enthalten, weil das Ja meiner Fraktion zum Anti-IS-Einsatz unzweifelhaft bis auf den heutigen Tag da ist. Wir unterstützen den Kampf gegen diese Geißel der Menschheit nach wie vor ohne jeden Abstrich.
Trotzdem wird das Mandat erneut kombiniert vorgelegt. Es ist erneut ein Mandat, mit dem zwei völlig unterschiedliche Aufgabenbereiche zusammengeschmissen werden. Der zweite Teil enthält nach wie vor eine ganze Reihe von Unklarheiten.
Das Verhältnis der Bundesregierung zur irakischen Zentralregierung ist deswegen unklar, weil es noch keine irakische Regierung gibt. Die Regierungsbildung ist noch nicht abgeschlossen. Wie es in der Innenpolitik mit dem Verhältnis der Autonomieregion Kurdistan im Nordirak zur Zentralregierung weitergeht, weiß man auch nicht, obwohl wir da sagen, dass der Mandatstext im Prinzip in Ordnung ist.
Ein Punkt, der nach wie vor überhaupt nicht geklärt ist, ist die Frage: Was passiert eigentlich mit den Popular Mobilization Forces? Was ist mit den Schiiten? Immerhin haben die Schiiten die Wahl gewonnen. Das Mandat besagt: Wir bilden nur die regulären Streitkräfte aus. – Aber diese PMF sind ja in die regulären Streitkräfte integriert worden. Also auch hier ein großes Fragezeichen.
Der dritte Punkt – das ist im Moment eindeutig der wichtigste –: Im Juli dieses Jahres hat die NATO eine Mission aufs Gleis gesetzt, in der es darum geht, Ausbildung zu leisten, Capacity Building zu betreiben, die Stabilisierung voranzutreiben, der Regierung unter die Arme zu greifen – exakt das gleiche Mandat, das die Bundeswehr jetzt dort hat. Das ist eine wichtige Mission für die NATO.
Herr Maas, Sie haben in Ihrer Rede hier gesagt, Sie wollten den Multilateralismus stärken. Wir haben Ihre anderen Reden gehört. Da sagten Sie, Sie wollten unsere Bündnisse stärken, Sie wollten die internationalen Organisationen stärken. Dazu sagen wir Freien Demokraten Ja. Es macht uns fassungslos, dass die Bundesrepublik Deutschland hier nicht im Rahmen der NATO agiert. Kollege Hardt aus Ihrer eigenen Koalition hat es ja gerade gesagt. Das ist nicht nur ein Schönheitsfehler, lieber Kollege Hardt; das ist ein echtes Problem dieses Mandats.
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Wenn man sich mal klarmacht, dass die CDU-Bundestagsfraktion es im Rahmen der NATO machen will, dass das Bundesverteidigungsministerium es im Rahmen der NATO machen will, ja, dass Ihre eigenen Experten aus dem Auswärtigen Amt es im Rahmen der NATO machen wollen,
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dann frage ich mich wirklich: Warum machen wir es dann nicht in der NATO? Dabei schaue ich in die SPD-Bundestagsfraktion.
Wenn ich in die SPD-Bundestagsfraktion schaue, dann sehe ich da keine Hasardeure sitzen, dann wende ich mich direkt an die Kollegen Niels Annen, Rolf Mützenich, Siemtje Möller, Fritz Felgentreu: Was ist los? Warum widersprechen Sie der Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der NATO? Was ist das Problem? Sie sind doch keine Hasardeure.
Aber es reicht nicht, die Zerstörung der multilateralen Ordnung zu beklagen. Wir müssen für diese Ordnung kämpfen – gerade auch angesichts der Lage der transatlantischen Dinge.
Der Satz mag Ihnen bekannt vorkommen. Er stammt aus einem Artikel des Bundesaußenministers. Sie als SPD-Bundestagsfraktion lassen Ihren eigenen Bundesaußenminister im Regen stehen, wenn Sie der Beteiligung der Bundesrepublik an diesem Mandat im Rahmen der NATO nicht zustimmen.
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Meine Damen und Herren, es zählt jetzt: Jetzt ist die internationale Ordnung in Schwierigkeiten. Jetzt müssen wir unsere Bündnisse stärken. Jetzt geht es darum, dem Multilateralismus unter die Arme zu greifen. Stimmen Sie dafür, dass unsere Soldatinnen und Soldaten ihren Auftrag im Irak im Rahmen der NATO erledigen können. Lassen Sie Deutschland da nicht alleine handeln, wie wir es sonst den Amerikanern vorwerfen. Ich bin wirklich enttäuscht von Ihrem Verhalten. Ich bin das von Ihnen nicht gewohnt. Bitte kommen Sie zu Sinnen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Graf Lambsdorff. – Nächste Rednerin: Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke.
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Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung möchte die Bundeswehr weiter an der nachhaltigen Bekämpfung des IS-Terrors und an der Stabilisierung des Irak beteiligen. Dabei kann Ihr Antrag jedoch, Herr Maas, zumindest was den Einsatz in Syrien angeht, nicht einmal die notwendige völkerrechtliche Grundlage vorweisen. Ein Mandat des UN-Sicherheitsrats, Gewalt anzuwenden, liegt nicht vor, genauso wenig die Einwilligung der syrischen Regierung.
Die Bundesregierung ist sich dieser Tatsache ja wohl bewusst und bemüht deshalb auch eine Hilfskonstruktion, indem sie behauptet, Syrien könne seine Souveränität nicht vollständig ausüben, damit man frei nach dem Motto „Die Not kennt kein Gebot“ in diese Souveränitätslücke reinstoßen kann. Ich finde das wirklich nicht nur abenteuerlich; ich finde, das ist wirklich auch eine ganz gefährliche Entwicklung.
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Sie reiht sich nämlich leider in die zahlreichen Fälle der Missachtung des Völkerrechtes durch die Bundesregierung ein, und Sie tragen damit auch zur Erosion des Völkerrechts bei, weil Sie sich unglaubwürdig machen, wenn Sie auf die Einhaltung des Völkerrechts bei Dritten drängen, aber selbst nicht dazu bereit sind.
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Sie weisen in Ihrem Antrag zu Recht darauf hin, dass die bewaffneten Angriffe durch den IS andauern. Dies erfordere es, dass die Bekämpfung des IS mit militärischen Mitteln fortgesetzt werden müsse. Aber schauen wir uns an, wo das in Syrien der Fall ist. In der südsyrischen Wüste werden Reste des „Islamischen Staats“ von der syrischen Armee bekämpft, und im Euphrat-Tal an der Grenze zum Irak werden sie von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten und Frauenbataillonen der YPG bekämpft.
Mit beidem aber hat diese Bundeswehr nichts zu tun. Wenn ich mich irre, dann klären Sie uns doch bitte schön auf. Wo genau in Syrien bekämpft die Bundeswehr den „Islamischen Staat“? Und wie kommen Sie dazu – wenn Sie in Ihrem Mandatstext schon nicht klare Ziele benennen, keine klaren Zwischenschritte benennen, keine klaren Benchmarks, keine Kriterien dafür benennen, wie Sie diesen Einsatz überhaupt evaluieren wollen –, in Ihrem Mandat zu behaupten, dass Sie es spätestens am 31. Oktober 2019 beenden wollen? Das würde ich gerne wissen. Was ist das Ziel, und warum glauben Sie, dass Sie spätestens am 31. Oktober 2019 dieses Ziel erreicht haben?
Die Wahrheit ist: Das können Sie nicht sagen, weil die Bundeswehr-Tornados und auch AWACS mit Bundeswehrbeteiligung in der Türkei offenbar ganz andere Aufgaben haben. Es war deshalb immer ein schlechter Witz, den Luftraum mit der Maßgabe des IS überwachen zu wollen. Ich frage Sie: Welche IS-Luftwaffe haben Sie mit den Bundeswehr-AWACS in den letzten Jahren bekämpft?
Es geht Ihnen offenbar um etwas anderes. Experten sagen, dass es hier eigentlich um die militärische Absicherung geopolitischer Interessen Dritter geht. Deshalb gibt es, vermute ich, diese Drohungen der Verteidigungsministerin von der Leyen, dass man gegebenenfalls in Syrien an der Seite von US-Präsident Trump intervenieren wird. Aber ich sage Ihnen: Das hat nichts, rein gar nichts mit dem Mandat zu tun, das Sie hier vorgelegt haben. Es sind abenteuerliche Kriegsfantasien, an denen sich Deutschland meiner Meinung nach nicht beteiligen sollte.
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Hinzu kommt, dass Sie die Bundeswehr weiterhin in den Irak schicken wollen. Ich frage mich wirklich: Glauben Sie, dass die Bundeswehr im Irak gut aufgehoben ist? Ist es nicht so, dass sie vielleicht im sich verschärfenden innerirakischen Machtkampf instrumentalisiert werden könnte?
Kurzum: Ihr Antrag ist nicht ehrlich, er ist völkerrechtlich problematisch, und er ist sicherheitspolitisch abenteuerlich. Deshalb lehnt Die Linke dieses Mandat ab.
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Vielen Dank, Sevim Dağdelen. – Nächster Redner: Omid Nouripour für Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung legt ein Mandat vor, das alter Wein in neuen Schläuchen ist, und wir werden ihm nicht zustimmen. Es gibt dafür sehr klare Gründe.
Die grundgesetzliche Grundlage fehlt. Es ist gerade vom Kollegen Hardt minutiös beschrieben worden: Das ist eine Koalition der Willigen und kein System kollektiver Sicherheit. – Deshalb gehe ich davon aus, dass auch die CDU/CSU dem Mandat nicht zustimmen kann. Denn es gibt sehr klare Vorgaben aus Karlsruhe, dass Auslandseinsätze der Bundeswehr ein System kollektiver Sicherheit voraussetzen. Das gibt es hier nicht. Allein deswegen können wir schon nicht zustimmen.
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Eine völkerrechtliche Grundlage gibt es zumindest für den Syrien-Teil unzweifelhaft auch nicht. Wenn dann gesagt wird: „Aber wir wollen doch in einem halben Jahr evaluieren, und im Übrigen ziehen wir Ende 2019 die Tornados ab“, dann antworte ich: Wir stimmen über den jetzigen Einsatz ab, nicht über den Einsatz ab Ende 2019, und bei dem, was hier vorliegt, fehlt für die Zeit davor die völkerrechtliche Grundlage.
Im Irak ist ISIS massiv zurückgedrängt worden. Das hatte sehr viel mit der Anwendung militärischer Mittel zu tun – das ist zweifelsohne so. Deshalb muss man all denen, die dort geholfen haben, dafür danken. Der Dank gilt in erster Linie auch den kurdischen Kämpferinnen und Kämpfern, die da unter widrigsten Umständen einiges geleistet haben. Im Übrigen waren es gerade in den ersten Wochen und Monaten nicht Peschmerga, die dort gekämpft haben; aber auch die Peschmerga haben vieles geleistet – das muss man einfach sagen. Aber es ist offenkundig, dass der militärische Teil abnehmen muss, und es ist offenkundig, dass der politische Teil zunehmen muss.
Gerade, wenn man bedenkt, dass eine starke zentrale Regierung im Irak auch andere militärische Mittel und Fähigkeiten bräuchte, wäre es ja nicht per se falsch, darüber zu reden, ob man dort beispielsweise bei der Ausbildung hilft – aber nicht so, wie es hier steht, und vor allem nicht mit einer politischen Flankierung, die extrem schwach ist. Dafür gibt es zwei zentrale Gründe: Erstens mutet es merkwürdig an – das ist eine schwache Botschaft –, wenn es Parallelmissionen gibt, die immer nebeneinander herlaufen. Zweitens braucht es, wenn wir dort tatsächlich politisch helfen wollen, einen Unterbau, also institutionelle Möglichkeiten, um es zu leisten. Mit der – mit Verlaub – Minibotschaft, die wir vor Ort haben, ist es eigentlich kaum möglich, den Ansprüchen, die wieder formuliert werden – wie wichtig Deutschland da sein will, wie viel man dort einsetzen will –, tatsächlich gerecht zu werden. Ich bin sehr dankbar für das, was unsere Diplomatinnen und Diplomaten vor Ort unter widrigsten Umständen leisten; aber die Möglichkeiten und Ressourcen, die sie haben, sind einfach zu wenig. Wenn bei den Haushaltsberatungen tatsächlich herauskommt, dass weiterhin nicht mehr Leute dorthin kommen werden, dass weiterhin mehr Leute in der Zentrale, im Auswärtigen Amt, sitzen werden und nicht draußen, dann wird es auch deswegen nicht besser.
Ein letzter Punkt, den ich erwähnen will und bei dem wir kein Vertrauen in die Arbeit dieser Bundesregierung haben. Sie haben einen Abschlussbericht zu der Arbeit vorgelegt, die bei der Ausbildung der Peschmerga im Norden des Iraks geleistet worden ist. Darin steht, dass die Ausrüstung so unglaublich zielgerichtet eingesetzt wird. Da wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Wenn man bedenkt, dass die Friktionen zwischen den Kurden – gerade bei Abnahme des militärischen Drucks von ISIS – massiv zunehmen, wenn man sich anschaut, wie KDP und PUK zum ersten Mal sogar bei der Präsidentschaftswahl versucht haben, sich gegenseitig zu blockieren, obwohl das immer ein Konsensthema bei den Kurden war, weil es ja auch ein Stück weit darum ging, sich gegen die arabischen Parteien in Bagdad zu behaupten, dann sieht man, wie unglaublich groß die Friktionen sind und wie fragil die Lage gerade im Norden ist. Wenn man sieht, wie viele Vorwürfe von Korruption und Wahlfälschung es gibt – und vieles andere mehr –, dann sieht man: Die Lage ist hochdramatisch. Wenn in dieser Situation die vielen Tausend deutsche Sturmgewehre zum Einsatz kommen sollten, dann bin ich sehr gespannt, ob die Behauptung, dass Deutschland zielgerichtete Hilfe geleistet hat, weiterhin aufrechterhalten werden kann. Ich kann nur wünschen und hoffen, dass diese Waffen nicht in einem innerkurdischen Konflikt eingesetzt werden. Da werden wir sehr genau hinschauen.
Wir sind sehr dafür, die irakische Zentralregierung zu unterstützen. Wir sind sehr dafür, den Kurdinnen und Kurden beizustehen. Wir sind sehr dafür, dass der neue Präsident und hoffentlich der neue Premierminister zum Erfolg kommen können.
Und ich bin sehr dafür, dass Sie zum Ende kommen.
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Aber dieses Mandat ist kein Beitrag dazu.
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Gut. Danke schön, Herr Nouripour. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Henning Otte.
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Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute bringen wir ein Mandat in die parlamentarischen Beratungen ein, das – erstens – die Bekämpfung des IS-Terrors in Syrien weiterverfolgt und – zweitens – die Ausbildungsmission für die irakischen Streitkräfte stärkt. Beides dient der Sicherheit Deutschlands.
Das Mandat hat zwei Säulen. Erstens: die Fortsetzung der Bekämpfung des IS-Terrors. Dies ist ein unverzichtbarer Beitrag dazu, Frieden herzustellen und die Anti-IS-Koalition zu stärken. Dieser Einsatz ist erfolgreich, weil die quasistaatlichen Strukturen des IS-Terrors – auf einer Fläche mit der Größe Großbritanniens, mit einer unterjochten Bevölkerung von 8 Millionen Menschen – zerschlagen werden konnten. Es geht beispielsweise auch darum, dass das, was die Nobelpreisträgerin Nadia Murad selbst erfahren hat, verhindert werden muss.
Da wundert es mich schon sehr, wenn sich die Vertreterin der Linken hier in einem Ablenkungsmanöver verfängt, bei dem ich mich frage, wo die parteiliche Ausbildung stattgefunden hat. Sie suchen immer wieder Ausreden, anstatt den Kern zu sehen, nämlich dass Männer ermordet werden, dass Frauen vergewaltigt werden, dass Kinder verschleppt werden.
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Dieses Elend muss ein Ende haben. Dafür stehen wir ein und Sie nicht, meine Damen und Herren.
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Die IS-Strukturen sind zerschlagen, aber der IS ist noch nicht besiegt. Er wirkt im Untergrund fort. Er betreibt von dort aus Terror – vor Ort, weltweit und auch bei uns in Deutschland. Jetzt geht es darum, die leistungsfähige Aufklärung mit Unterstützung Deutschlands weiterzuführen. Da geht die Kritik, die hier von der AfD kommt, völlig fehl. Sie zeugt weder von militärischem Verstand noch von politischem Verständnis. Sie versuchen, sozusagen eine Brandbeschleunigung durchzuführen. Wir stehen dafür ein, dass Brände gelöscht werden und dass wir eine Nachsorge durchführen, dass wir dafür Sorge tragen, dass die IS-Strukturen nicht wieder aufflammen, meine Damen und Herren. Deswegen machen wir mit der Luftbetankung der AWACS weiter. Dies ist ein Beitrag zur nachhaltigen Sicherung und zu mehr Stabilität. Deswegen nehmen wir die Verantwortung wahr und danken den Soldaten für ihren Einsatz.
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Die zweite Säule ist die Ausbildung der irakischen Streitkräfte, damit sie selbst in die Lage kommen, für Stabilität und Sicherheit zu sorgen. Wir haben die kurdischen Kämpfer im Norden des Iraks erfolgreich ausgebildet und ausgerüstet. Jetzt geht es darum, den zentralen Ansatz für den Irak zu suchen. Diese Mission ist im besten Sinne nachhaltig, weil sie akut dazu beigetragen hat, die IS-Strukturen zu zerstören, und jetzt dauerhaft für Stabilität sorgt.
Es ist im Sinne von Capacity Building notwendig, dass die irakischen Streitkräfte in der Ausbildung gestärkt werden – bei der medizinischen Versorgung, bei der ABC-Abwehr, bei der Beseitigung von Kampfmitteln. Das leisten wir auch durch mobile Trainingseinheiten. Denn heute ist es so, dass Familien, die – beispielsweise bei Mosul – in ihre angestammten Häuser und Dörfer zurückkehren wollen, in die Luft fliegen, weil dort Minen vergraben sind. Deshalb wollen wir einen Beitrag zur Beseitigung von Kampfmitteln leisten – im Sinne der Humanität und der Sicherheit.
Es ist wahr, dass wir, die verteidigungspolitischen Sprecher, die Möglichkeit hatten, mit unserer Verteidigungsministerin vor Ort einen eigenen Überblick zu gewinnen. Leider hat Herr Lucassen die Hälfte von dem, was wir dort erfahren haben, vergessen: Die deutschen Soldaten haben Sie gefragt, warum Sie als AfD kein Vertrauen in die Soldaten haben, dieses Mandat weiterzuführen, warum Sie diesen Soldaten nicht für das, was sie tun, danken. Meine Damen und Herren, die Soldaten leisten eine sehr verantwortungsvolle Arbeit für Humanität, für Frieden, für die Verhinderung von Flucht und für die Sicherheit unseres Landes. Deswegen sagen wir als Große Koalition: Wir stehen zu unserer Bundeswehr. Wir stehen zu diesem Mandat. Wir sind überzeugt, dass dies notwendig ist und der Sicherheit unseres Landes dient.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Henning Otte. – Letzter Redner in dieser Debatte: Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich habe vor zwei Wochen an der bereits vielfach angesprochenen Reise teilgenommen. Gemeinsam mit Ministerin von der Leyen haben wir uns vor Ort ein Bild in Jordanien und im Irak gemacht. Mir ist dabei eines aufgefallen – ich war schon, glaube ich, in allen Einsatzgebieten der Bundeswehr –: Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Soldaten selbst von einem Einsatz so überzeugt waren wie im Irak und in Jordanien und uns explizit aufgefordert haben, das, was sie dort leisten, mit diesem Mandat weiterhin zu unterstützen.
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Herr Lucassen, Sie haben gesagt, der IS sei zwar ideologisch noch nicht besiegt, aber es mache keinen Sinn, gegen Ideologie zu kämpfen. Sie haben etwas grundsätzlich nicht verstanden.
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Der Punkt ist: Der IS hat zwar keine Landstriche mehr unter Kontrolle. Es gibt aber noch immer Widerstandsnester des IS und IS-Sympathisanten, die bewaffnet sind, Materialdepots unterhalten und sich im Irak bewegen. Die Bundeswehr überwacht mit der Aufklärung durch die Tornado-Flugzeuge solche Bewegungen und schaut, wohin Material gebracht wird. Sie bekämpft indirekt die erneute Landnahme durch den IS, indem sie der Allianz die notwendigen Daten zur Verfügung stellt. Was das konkret bedeutet, hat uns der Einsatzkontingentführer vor Ort präsentiert; ich habe die entsprechende Unterlage mitgebracht. Die Tornados wurden bis zum 13. September 2018 insgesamt 442 Mal angefordert. Erfüllen konnten sie die Aufträge in 436 Fällen. Das ist eine Erfüllungsquote von 98,6 Prozent. Sie sehen also: Bedarf besteht weiterhin. Die Bilder, die wir schießen, werden von der Allianz dringend gebraucht. Man sieht aber auch: Wenn die Bundeswehr in einem Einsatz tatsächlich gefragt wird, ist ihre Einsatzbereitschaft richtig hoch. Wir können stolz darauf sein, was unsere Soldatinnen und Soldaten dort leisten.
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Herr Lucassen, Sie möchten eine Zwischenfrage stellen. Ich lasse die Zwischenfrage zu. Ich habe sowieso wenig Redezeit.
Wollen Sie meinen Job übernehmen?
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Herr Lucassen, bitte.
Danke, Herr Kollege Brandl. – Auch Ihren Vorredner betreffend, möchte ich zwei Dinge klarstellen, da sie anscheinend ein bisschen aus Ihrem Blickwinkel geraten sind. Sie sind – genauso wie wir alle – verantwortlicher Angehöriger dieses Bundestags und gehören als Abgeordneter der Legislative an. Das andere sind unsere Streitkräfte. Diese haben Sie vor Ort gesehen. Unsere Streitkräfte leisten einen tollen Beitrag. Dazu müssen wir hier nicht dauernd ein Kerzchen anzünden und ihnen danken. Das ist selbstverständlich. Das machen die Soldaten gerne und gut.
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Es schadet aber auch nicht, wenn man den Soldaten einmal Danke sagt.
Des Weiteren haben Sie über dieses politische Instrument zu entscheiden. Als die Soldaten vor Ort gefragt haben, wie die Fraktionen entscheiden werden, gab es nur einen Abgeordneten – Sie sind dabei gewesen und werden das mitbekommen haben –, der den Soldaten eine klare Antwort gegeben hat. Das war ich.
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Alle anderen haben sich vor einer Antwort gedrückt und gesagt: vorbehaltlich der Fraktion. – Ich habe den Soldaten gesagt:
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Klar, die AfD-Fraktion wird dem Einsatz nicht weiter zustimmen. – Nehmen Sie das einfach zur Kenntnis. Das verstehen Soldaten, unabhängig davon, ob sie ihren Auftrag gut durchführen oder nicht.
Danke.
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Herr Dr. Brandl, bitte.
Herr Lucassen, ich nehme es zur Kenntnis. Ich vermute, es war eine andere Reise, an der Sie teilgenommen haben. Als die Soldaten mich gefragt haben, habe ich gesagt: Die CDU/CSU-Fraktion steht unmissverständlich zu diesem Mandat, und wir wollen es fortsetzen. – Danke.
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Ich werde auf die zweite Säule des Mandats noch kurz eingehen. Wir haben im Irak auch die Ausbildungsmission besucht. Unsere Soldatinnen und Soldaten machen dort eine ABC-Ausbildung. Das heißt, sie schulen Soldaten der irakischen Streitkräfte im Umgang mit Chemiewaffenbedrohungen. Das wird plötzlich vor Ort real. Wir haben irakische Soldaten getroffen, die uns erzählt haben, dass sie, als sie nach der Rückeroberung Mossuls in der Stadt unterwegs waren, immer wieder auf irgendwelche Kanister gestoßen sind, die in ehemaligen IS-Unterkünften standen. Sie wussten aber nicht, wie sie damit umgehen sollten. Die Amerikaner haben ihnen zwar Detektionsgeräte geschenkt, das Stück kostet 80 000 Euro. Aber keiner hat ihnen gezeigt, wie man damit richtig umgeht. Unsere Soldatinnen und Soldaten bilden nun die Iraker im Umgang mit solchen Geräten und ABC-Waffen, insbesondere im Schutz gegen chemische Waffen, aus. Das hat einen hohen Wert. Es wäre fatal, das zurückzufahren. Deswegen freue ich mich, dass die Bundesregierung zu dem Schluss gekommen ist, dieses Mandat fortzuführen. Ich kann für meine Fraktion sagen, dass wir in der nächste Woche im Ausschuss und dann im Plenum zustimmen werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Danke schön, Dr. Brandl. – Damit schließe ich die Aussprache.
Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/4719, 19/3694 und 19/4070 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 7 d. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/4842 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Auswärtigen Ausschuss. Die Fraktion der AfD wünscht Federführung beim Verteidigungsausschuss.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der AfD, also über den Wunsch nach Federführung beim Verteidigungsausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt. Zugestimmt hat die AfD-Fraktion. Alle anderen Fraktionen haben dagegengestimmt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Federführung beim Auswärtigen Ausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist angenommen. Zugestimmt haben FDP, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen, SPD und die Fraktion Die Linke. Dagegen war die AfD-Fraktion. Der Überweisungsvorschlag ist damit angenommen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Deutschland ist faktisch ein Einwanderungsland. Es hat aber nicht die Regeln eines Einwanderungslandes – es hat nicht das Regelwerk dafür –, und die Bundesregierung tastet und taumelt bei der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik vor sich hin. Unser Ausländer-, Aufenthalts- und Asylrecht ist hyperkomplex, in sich nicht ohne Widersprüche. Es gibt keine ordnende Hand. Die Planlosigkeit – das ist das Schlimme – hat aber auch Methode, weil sich die Union lange Zeit verweigert hat, ein Einwanderungsrecht in Angriff zu nehmen, weil sie dem alten Irrglauben anhing, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Linke, SPD und Grüne haben ebenfalls Diskussionen gescheut, weil sie sich in einem Multikulti-Rausch befanden und keine Regelung dieser Materie wollten.
Nun hat der Koalitionsgipfel dieser Tage ein Eckpunktepapier für ein Fachkräftezuwanderungsgesetz beschlossen, dem deutlich anzumerken ist, welchen Widerwillen die Union dabei an den Tag gelegt hat. Man wundert sich ein bisschen über die Leichtgläubigkeit, die Vertrauensseligkeit der SPD, die dahintersteckt. Wenige Tage nach dem Koalitionsgipfel und der Verkündung des Ergebnisses hat ein Kollege aus der Unionsfraktion schon öffentlich gesagt, er wisse nicht, was ein verlässlicher Status Geduldeter eigentlich sein soll, wie das aussehen soll. Ich muss sagen: Ich weiß es auch nicht. Ministerpräsident Daniel Günther kann es gar nicht weit genug gehen. Der Fraktionsvorsitzende der Union will diese Regelung nach fünf Jahren auslaufen lassen. Die Kanzlerin äußert sich gar nicht dazu. Ich bin gespannt, wie nach den Landtagswahlen in Bayern und in Hessen das Thema weitergehen wird. Es ist zu vermuten, dass dann der Koalitionsstreit über dieses Thema neu ausbrechen wird.
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Die FDP will deswegen diese ordnende Hand anlegen und hat ein Gesamtkonzept, ein Eckpunktepapier für ein Gesamtkonzept vorgelegt, das unter dem Motto „Weltoffen, aber mit klaren Regeln“ steht. Ich kann in der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit nicht die gesamten Punkte entfalten und will nur fünf zentrale Punkte daraus vortragen, die auch neue Punkte darstellen.
Wir wollen zum Ersten einen neuen Schutzstatus einführen für Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention, also für Menschen, die vor Krieg und Bürgerkrieg in ihrer Heimat geflohen sind. Wir bewegen uns da in einem – so nennen wir das – Vier-Türen-Modell. Die klassischen Asylbewerber kommen durch die erste Tür. Wer vor Krieg und Bürgerkrieg flüchtet, kommt durch eine zweite Tür. Dieser Status soll unbürokratisch verliehen werden, nicht durch das komplizierte Verfahren des Asylrechts gehen müssen, aber eben zeitlich begrenzt für die Dauer des Krieges oder Bürgerkrieges in der Heimat dieser Menschen.
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Wir wollen zum Zweiten neben diesen beiden ersten Türen – Asyl und Flüchtlingskonvention – eine dritte Tür eröffnen, die Einwanderung in unseren Arbeitsmarkt, und dort ein Zwei-Säulen-Modell etablieren, neben der schon bestehenden Bluecard, die verbessert werden muss, eine zweite Säule errichten, ein klassisches Punktesystem, wie es die Kanadier, die Australier, aber auch Neuseeland kennen, mit einem klaren Kriterienkatalog, um den Wettbewerb um die klügsten Köpfe dieser Welt aufnehmen zu können.
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Zum Dritten bekennen wir uns zum Spurwechsel, damit nicht länger die Falschen abgeschoben werden, nämlich gut integrierte Familien, die sprachlich, rechtlich, wirtschaftlich bei uns im Land angekommen sind, statt derjenigen, die wir abschieben wollen, verurteilte Straftäter und Gefährder, die wir nicht loswerden.
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Wir wollen zum Vierten die Abschiebepraxis neu ordnen, die zurzeit in der Zuständigkeit der Länder liegt, dort aber föderal zersplittert ist, von den Ländern höchst uneinheitlich gehandhabt wird. Wir wollen, dass die Abschiebung beim Bund gebündelt wird, damit diese komplexen, auch internationalen Sachverhalte beachtet werden können.
Wir wollen zum Letzten ein integrationspolitisches Leitbild in die Welt setzen, damit diejenigen, die sich gut integrieren – sprachlich, wirtschaftlich, rechtlich –, die Chance haben, bei uns zu bleiben. Wir wollen ihnen auch die doppelte Staatsangehörigkeit zugestehen, jedenfalls in den ersten beiden nachfolgenden Generationen.
Deswegen – damit komme ich zum Schluss, Frau Präsidentin – sind wir der Meinung, dass wir ein Einwanderungsrecht aus einem Guss benötigen: weltoffen, pragmatisch, mit klaren Regeln. Dann werden auch diejenigen an Zustimmung verlieren, deren politisches Erfolgsmodell momentan darauf beruht, dass wir solche Regeln nicht haben oder sie nicht konsequent durchsetzen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Stephan Thomae. – Nächster Redner: Dr. Stephan Harbarth für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Thomae, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze. Sie wissen, dass ich Sie außerhalb des Rechts der Fachkräftezuwanderung insbesondere als einen faktensicheren Politiker schätze. Aber als Sie in Ihrer Rede über die Komplexität des deutschen Zuwanderungsrechts klagten – Sie verwandten den Begriff „hyperkomplex“ –, habe ich mehrfach an einen anderen liberalen Politiker denken müssen.
Der britische Premierminister Palmerston hatte es im 19. Jahrhundert auch mit einer sehr komplexen Rechtslage zu tun, und zwar mit der Frage der rechtlichen Zugehörigkeit des Herzogtums Schleswig. Als man ihn bat, dieses komplizierte Problem zu erläutern und eine Lösung vorzuschlagen, sagte er, es gebe auf der ganzen Welt überhaupt nur drei Menschen, die das tun könnten: erstens der von ihm beargwöhnte Prinzgemahl Albert – der sei leider tot –, zweitens ein deutscher Professor – der sei über das Problem verrückt geworden – und drittens er selbst; er habe aber alle Fakten vergessen. – Ein klein wenig fühlte ich mich heute an diese Faktenvergessenheit erinnert.
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Herr Thomae, Sie sprachen von der Notwendigkeit der radikalen Vereinfachung des Zuwanderungsrechts und gingen ganz schnell über die Tatsache hinweg, dass zentrale Teile dieses Rechts dem deutschen Gesetzgeber entzogen sind und auf europäischen Rechtsakten gründen. Auch im Bereich der Arbeitsmigration aus Drittstaaten müssen wir inzwischen rund 100 eng beschriebene Seiten europäischer Vorgaben berücksichtigen.
Deshalb vergessen Sie, deutlich auszusprechen: Das Herzstück Ihres Konzepts, das Punktesystem, kann unser bestehendes Recht gar nicht ablösen, sondern es kann allenfalls neben dieses Recht treten. Dieses Punktesystem würde deshalb die bestehende Rechtslage nicht vereinfachen; es würde die bestehende Rechtslage verkomplizieren. Das Punktesystem ist deshalb nicht Teil der Lösung, es ist Teil des Problems. Es ist ein bürokratisches Monster,
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und bürokratische Monster lehnt die Union ab.
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Sie vergessen auch: Das klassische Punktesystem, ein System der reinen Potenzialzuwanderung, wird selbst in seinem Ursprungsland nicht mehr wirklich praktiziert. Kanada hat inzwischen den Nachweis eines konkreten Arbeitsvertrags zu einem zentralen Zuwanderungskriterium erhoben.
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Mit anderen Worten: In dem Augenblick, in dem Kanada das unpassend gewordene Kleid „Punktesystem“ abstreift, entdecken Sie es für Deutschland.
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Wenn man es positiv formulieren möchte: Man kann Ihrem Einwanderungsmodell zumindest nicht den Vorwurf machen, mit der Mode zu gehen.
Sie vergessen zuletzt: Ihr Punktesystem wird nicht einmal mehr von der deutschen Wirtschaft gefordert. Ich darf aus dem aktuellen Positionspapier der BDA zitieren:
Für einen generellen Systemwechsel hin zu einem Punktesystem ... besteht ... keine Notwendigkeit.
Mit dieser Feststellung haben die deutschen Arbeitgeber recht.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, Deutschland braucht die Zuwanderung von Fachkräften. Die Große Koalition wird das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das wir jetzt mit den Eckpunkten angestoßen haben, zum Erfolg führen. Ich will die drei Leitplanken für dieses Gesetz nennen.
Erstens sollten wir uns bewusst machen, dass wir bereits in vielen Teilen über einen für die Zuwanderung von Fachkräften offenen und als solchen auch von Experten anerkannten Rechtsrahmen verfügen. Eine erfolgreiche Fachkräftezuwanderung bedarf deshalb nicht allein der Rechtsänderung; sie bedarf insbesondere einer Verbesserung der administrativen Verfahren. Worauf wir hinarbeiten müssen, ist eine Art Einwanderungsbehörde oder zumindest eine spezialisierte Ausländerbehörde für jedes einzelne Bundesland,
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mit der im In- und Ausland für Wirtschaft und Fachkräfte endlich eine zentrale Anlaufstelle geschaffen wird, die die entsprechenden Kompetenzen bündelt, die heute zwischen 270 Visastellen, mehr als 550 Ausländerbehörden und der Bundesagentur für Arbeit aufgeteilt sind.
Zweitens sollten wir darauf achten, dass die Diskussion um das Fachkräfteeinwanderungsgesetz nicht eine falsche Richtung einschlägt, bevor sie begonnen hat. Anstatt sorgfältig zu klären, welche Anforderungen eine Zuwanderung erfüllen soll, die uns nutzt, wurde in den vergangenen Wochen primär über ein neues Bleiberecht für abgelehnte Asylbewerber und ausreisepflichtige Ausländer diskutiert. Wir sagen sehr klar: Dies wäre ein Verlust an Steuerung.
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Dies würde unsere Bemühungen um eine Begrenzung der Zahl der Asylantragsteller konterkarieren. Davon ginge das Signal aus: Man muss es nur über unsere Grenze schaffen, dann wird sich schon eine Arbeit finden und ein Bleiberecht ergattern lassen. – Das ist das Gegenteil von dem, was CDU und CSU erreichen wollen.
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Wir wollen Zuwanderung nicht dem Zufall überlassen, wir wollen sie steuern. Wir werden ganz gewiss nicht den Aufenthalt derjenigen legalisieren, die sich mit Täuschung und Tricks ihrer Ausreise aus Deutschland widersetzen möchten.
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Drittens sollten wir uns bewusst machen, dass die gesellschaftliche Akzeptanz der Fachkräftezuwanderung nur dann dauerhaft erhalten werden kann, wenn Zuwanderung nicht zu einem verschärften Druck auf Arbeitsuchende oder Arbeitnehmer führt, zumal jener, die sich aufgrund ihrer fehlenden oder geringen Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt ohnehin schwertun. Mit jeder Fachkräftegewinnung aus dem Ausland muss deshalb eine Strategie zur Aktivierung des inländischen Potenzials und der anerkannten Flüchtlinge verbunden sein, die mit ihrem Asylbescheid zugleich einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten haben.
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Es kann deshalb keine Zuwanderung von unqualifizierten oder gering qualifizierten Drittstaatsangehörigen nach Deutschland geben.
Dies gilt umso mehr, als wir uns bei jeder Reform des Zuwanderungsrechts klarmachen müssen: Die gegenwärtige Phase der Hochkonjunktur wird nicht ewig anhalten. Wir müssen deshalb Vorsorge und Vorkehrungen für den Fall einer nachlassenden wirtschaftlichen Dynamik treffen. Das heißt, dass wir von Anfang an sehr genau auswählen müssen, wer zu uns kommt, um mittel- und langfristig keine Einwanderung in den Sozialstaat zu organisieren.
Wir werden keine Regelung schaffen, die es Unternehmen möglich macht, Menschen nach Deutschland einwandern zu lassen, und die Unternehmen in die Lage versetzt, diese Menschen der Gemeinschaft zu überantworten, wenn sich herausstellt, dass sie den Anforderungen nicht genügen oder aber nach kurzer Zeit nicht mehr gebraucht werden. Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren, das läuft auch bei der Zuwanderung nicht.
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Ergänzende Rechtsetzung und Verbesserung der administrativen Verfahren, klare Trennung von Asyl- und Erwerbsmigration, keine Einwanderung in unser Sozialsystem durch klare Anforderungen an die Qualifikation: Ich bin der Überzeugung, wenn wir diese drei Leitplanken beachten, werden wir das Fachkräfteeinwanderungsgesetz zu einem Erfolg machen. Genau dafür werden wir in den kommenden Monaten arbeiten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Harbarth. – Nächster Redner: Dr. Bernd Baumann für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Alle Parteien hier im Bundestag – außer der AfD – sind sich wieder einmal einig: Deutschlands Tore sollen weiter geöffnet werden für Migranten außerhalb der EU, also auch aus Orient, Afrika oder sonst woher.
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Heißen soll das Ganze „Einwanderungsgesetz“. Auch die FDP will so wieder Fachkräfte anlocken, heute mit eigener Initiative.
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Wir erinnern uns hier alle: FDP-Chef Christian Lindner hatte schon 2015 überall für offene Grenzen geworben, indem er mit großen „Refugees Welcome“-Plakaten durch die Republik gesaust ist.
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Damals kamen angeblich auch viele Fachkräfte ins Land, besonders Syrer. Das war natürlich Unsinn, meine Damen und Herren – das wissen wir heute –, ja, eine bewusste Täuschung der Bevölkerung; das muss hier noch mal ganz deutlich gesagt werden.
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Vor ein paar Jahren hätten wir von der AfD einem klugen Einwanderungsgesetz ja zugestimmt, das gut qualifizierte Kräfte kontrolliert ins Land lässt – kontrolliert!
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Doch solche Kontrolle kann nur ein Staat haben, der seine Grenzen sichert. Nur der kann sich Fachkräfte aussuchen.
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Doch die FDP will jetzt, wie Frau Merkel, keinerlei systematische Grenzkontrollen – wörtlich: keinerlei systematische Grenzkontrollen.
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Damit kommt jeder über Deutschlands Grenzen. Man muss nur „Asyl“ sagen, dann kommt man herein, mit oder ohne Ausbildung. Sie können gar nicht aussuchen, meine Damen und Herren.
Deutschland braucht deshalb kein neues Einwanderungsgesetz. Wir müssen erst mal bestehendes Recht anwenden, vor allen Dingen an den Grenzen.
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Vorher macht ein neues Gesetz, ein neues Recht doch überhaupt keinen Sinn. Das ist doch absurd, meine Damen und Herren.
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Schlimmer noch: Ihr neues Gesetz lädt die ganze Welt in unseren Sozialstaat ein. Sie erfinden einen neuen Schutzstatus. Flüchtlingsmassen aus allen Konfliktgebieten der Erde können sich darauf berufen.
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Sie wollen, dass auch endgültig abgelehnte Asylbewerber dauerhaft bleiben können. Sie machen aus Illegalität Legalität. Sie nennen das verharmlosend „Spurwechsel“, wir nennen das die „endgültige Kapitulation des Rechtsstaats“.
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Die Krönung von all dem: Laut FDP sollen Deutschlands Botschaften in aller Welt künftig – wörtlich – „Welcome Center“ werden. Hier wird die deutsche Willkommenskultur ad absurdum geführt, um auch das noch mal zu sagen.
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Jetzt noch einmal zu den Fachkräften: Früher mal kamen doch die besten Fachkräfte der Welt aus Deutschland. Wir galten immer als Land mit der besten Berufsausbildung. Und jetzt? 2,1 Millionen Menschen zwischen 20 und 34 Jahren haben keinerlei abgeschlossene Ausbildung, sehr viele davon schon mit Migrationshintergrund. Wollen Sie den Millionen junger Leute jetzt sagen: Wir kippen euch in den Sozialstaat und holen uns aus Orient und Afrika neue? Wie kalt und zynisch ist diese Politik denn, meine Damen und Herren?
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Ihr Einwanderungsgesetz ist aber auch überflüssig. Für Mangelberufe gibt es ja längst spezielle Programme. Die Zahl ausländischer Pflegekräfte ist in den letzten fünf Jahren auf 128 000 gestiegen, hat sich verdoppelt; das läuft doch längst.
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Vor allem aber: Deutschland hat doch schon einmal in großem Umfang fremde Arbeitskräfte angeworben: in den 60er-Jahren Millionen aus der Türkei. Wie gut sind die in den Arbeitsmarkt integriert? 47 Prozent aller Türkischstämmigen sind ohne Erwerbseinkommen, 65 Prozent haben keinerlei Berufsabschluss.
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So viel zu Ihrer Fähigkeit, Arbeitskräfte aus fremden Kulturkreisen dauerhaft zu integrieren. Nicht mal in der zweiten und dritten Generation schaffen Sie das.
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Dabei geht es auch ganz anders. Schauen Sie mal nach Japan; dort gab es keine Einwanderung. Die haben ihre eigenen Leute besser ausgebildet, haben massiv in arbeitssparende Technologie investiert. Jeder zweite Industrieroboter kommt heute aus Japan. Das war der richtige Weg, meine Damen und Herren.
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Heute haben die Japaner dieselben Probleme mit dem Geburtenrückgang wie wir selbst. Aber wieder denken sie nicht an Einwanderung, weil sie klar sehen: Gerade jetzt beginnt die neue technologische Revolution, die Arbeit und unzählige Arbeitskräfte einspart, die sogenannte Industrie 4.0.
Natürlich lässt sich auch Deutschlands Mangel an Fachkräften durch bessere Ausbildung und Technik ausgleichen. Aber das verstehen scheinbar nicht alle, am wenigsten die Grünen. Kein Wunder, da hat noch nicht mal die Fraktionsvorsitzende einen Abschluss geschafft. Nicht wahr, Frau Göring-Eckardt?
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Vielen Dank, Dr. Baumann. – Nächster Redner: Dr. Lars Castellucci für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eben haben wir gemerkt, dass die Automatisierung auch schon im Bundestag angekommen ist; es wird einfach immer die gleiche Rede gehalten.
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Es wird einfach immer die gleiche Rede gehalten, egal bei welchem Thema.
Aber jetzt schauen wir uns doch einfach mal die Realität an. Ich war direkt nach dem Sommer bei einer Firma bei mir im Wahlkreis. Mein Ansprechpartner dort hat gesagt: Da sind jetzt einige Geflüchtete beschäftigt. Gleich der Erste hat gar keine Ausbildung, aber der macht einen guten Job. Er ist der Erste, der die Maschine bedienen muss. Wenn er das nicht richtig macht, geht hinterher alles kaputt. Er muss pünktlich sein, er muss zuverlässig sein; das klappt eigentlich wunderbar. Wir haben Sorge, dass der abgeschoben werden muss.
Wir sind dann durch den Betrieb gelaufen. Hinterher im Zimmer habe ich gedacht, denen zu sagen: Wissen Sie, ich soll jetzt rausgehen und Sie dabei unterstützen. Sie rennen bei mir offene Türen ein, dass wir da etwas tun müssen. – Aber ich würde den Menschen so gerne auch sagen: Es geht aber nicht immer nur um Flüchtlinge, sondern es geht um alle Menschen in diesem Lande.
Ich habe meinen Ansprechpartner in der Firma dann gefragt: Können Sie noch was an den Arbeitszeitmodellen machen, um jemandem zu ermöglichen, seine Kinder zu betreuen oder sich um die Eltern zu kümmern? Können Sie mit Werkstätten für Behinderte zusammenarbeiten? Arbeiten Sie eigentlich mit der Bundesagentur für Arbeit zusammen? Usw. usf.
Nachdem er mich in dem Gespräch doch eher müde angelächelt hat, hat er mir eine Mail geschickt. Die Mail lautet wie folgt: Sehr geehrter Herr Castellucci, alle unsere Stellen sind bei der Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht. Des Weiteren suchen wir Fahrer, zum Beispiel über die hiesigen Zeitungen und auch über Zeitarbeitsunternehmen. Die Resonanz ist derzeit gleich null. Wir haben für unser Personal unterschiedliche Arbeitszeitregelungen – angepasst an die Bedürfnisse, sofern es uns möglich ist –, so beispielsweise für alleinerziehende Mütter oder für Mitarbeiter, die an Sprachkursen teilnehmen. Darüber hinaus arbeiten wir seit Jahren mit einer Werkstatt für Behinderte zusammen. Dort werden für uns Handschuhe genäht. Diese Zusammenarbeit würden wir gern intensivieren, sie scheitert aber gerade an der hohen Auslastung dieser Werkstatt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht darum, dass in diesem Land alle dazu beitragen können, dass die Teilhabe von allen Menschen gesichert wird, dass wir alle Potenziale heben, die uns zur Verfügung stehen. Die Firmen machen das bereits, und trotzdem gibt es Bedarf. Deswegen ist es gut, wenn es endlich ein Einwanderungsgesetz gibt in diesem Land.
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Jetzt mache ich einfach so weiter, weil dieses Thema mit der Frage „Was ist denn mit denen, die schon da sind?“ immer so schnell verhetzt werden kann. Können wir nicht einfach pragmatisch Lösungen bieten, dort wo Lösungen gefragt sind? Ich zitiere weiter: Das Maler- und Lackiererhandwerk ist leider bei unseren jungen Menschen nicht mehr so beliebt. Deswegen haben wir Herrn X als Praktikanten eingestellt. Er ist pünktlich, sehr lernwillig, sehr lernfähig, handwerklich fit und sehr zuverlässig. – Das klingt ziemlich deutsch. Ich zitiere weiter: Wir sind ein Kleinunternehmen. Gerne würden wir unser Unternehmen vergrößern, können jedoch keine arbeitswilligen Mitarbeiter finden. Sollte er nicht anerkannt werden, müssen wir unseren Betrieb wieder verkleinern bzw. früher oder später ganz aufgeben. – Jetzt frage ich hier mal alle, die bei Verstand sind: Wollen wir das? Ich glaube, das sollten wir nicht wollen.
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Eine andere Firma – Zitat –: Wir betreiben Handel und Konfektionierung von Kaschierfolien, derzeit mit 19 Mitarbeitern; 3 von ihnen sind Flüchtlinge – Ursprungsland: Nigeria – und generell gefährdet, abgeschoben zu werden. Alle drei glänzen durch Pünktlichkeit, Fleiß und einen ausgeprägten Willen, zu lernen. Falls Sie weitere Informationen benötigen, liefern wir sie gerne.
Eine Klinik schreibt: Seit nunmehr fast drei Jahren ist jemand bei uns in der Küche angestellt, hat seit Anfang des Jahres aber einen Abschiebebescheid. Wir können nicht verstehen – da bitte ich, jetzt wirklich zuzuhören –, warum Menschen wie er, die gut integriert sind, ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten etc., abgeschoben werden sollen, besonders da es uns immer schwieriger fällt, gute Arbeitskräfte zu gewinnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist doch einfach nur pragmatisch und logisch, dass wir hier handeln müssen.
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Wir müssen diese Firmen dabei unterstützen, ihren Arbeitskräftebedarf zu sichern. Wir müssen aufhören, die Falschen abzuschieben. Wir müssen uns auf diejenigen konzentrieren, die hier als Gefährder leben oder Verbrechen begehen. Deswegen danke ich der FDP-Fraktion für ihren Antrag; da sind viele vernünftige Sachen drin. Ich würde das sogar gern mit Ihnen verhandeln anstatt mit – Sie wissen, mit wem.
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Aber Sie haben sich ja entschieden, nicht regieren zu wollen; also bleibt uns nichts anderes übrig. Wir werden miteinander etwas Gutes hinbekommen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Castellucci. – Nächste Rednerin: Gökay Akbulut für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP möchte mit ihrem Antrag „Deutschland braucht ein Einwanderungsrecht aus einem Guss“ die Regierungsparteien im Grunde genommen von rechts überholen.
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Anders kann man diesen Antrag nicht bewerten.
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Sie fordert unter anderem die Einführung eines weiteren Schutzstatus, der vorübergehend den humanitären Schutz für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge gewährleisten soll. Der Status soll unbürokratisch und nach Identitätsfeststellung innerhalb von drei Monaten erteilt werden. Darunter würde nach derzeitigem Stand ein Großteil der Schutzsuchenden fallen. Damit würde das derzeitige Asylverfahren abgewertet, indem Massenentscheidungen ohne Einzelfallprüfungen ergehen.
Es gibt bereits den subsidiären Schutz. Jetzt noch einen weiteren Schutzstatus einzuführen, würde nicht mehr Rechtssicherheit, sondern nur mehr Unsicherheit schaffen.
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Statt weitere Aufenthaltsformen einzuführen, fordern wir ein klares Bekenntnis zu der Verpflichtung, schutzsuchenden Menschen ihre Rechte zu gewähren, wie zum Beispiel das Recht auf uneingeschränkte Familienzusammenführung.
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Außerdem spricht sich die FDP in ihrem Antrag für zentrale Unterbringungseinrichtungen aus. Das klingt für mich ganz klar nach dem bekannten Konzept der AnKER-Zentren; das lehnen wir ganz klar ab.
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Wir als Linke sind für eine dezentrale Unterbringung an Orten, an denen die Menschen soziale oder familiäre Anknüpfungspunkte haben.
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Die FDP zieht sogar Zurückweisungen an der EU-Binnengrenze in Betracht – keine Freizügigkeit für die Menschen innerhalb der EU, aber grenzenloser Waren- und Kapitalhandel. Es ist nicht nur europarechtswidrig, sondern auch zum Fremdschämen, diese Forderung hier erneut aufzustellen, und das von einer Partei, die Rechtsstaatlichkeit einmal sehr hoch gehalten hat.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt verschiedene Formen der Zuwanderung nach Deutschland; darüber sind wir uns ja alle einig. Die FDP befasst sich in diesem Antrag auch mit dem Thema der Arbeitsmigration. Alle Vorschläge, die das Einwanderungsrecht betreffen, egal ob es das Eckpunktepapier der Bundesregierung ist oder dieser Antrag der FDP, haben eine Gemeinsamkeit: Sie folgen dem Gedanken einer Verwertungslogik, bei der es um die Nützlichkeit von Menschen geht. Dabei stehen die Interessen von Unternehmen und Wirtschaft im Vordergrund. Eine Gesellschaft braucht aber mehr als Menschen, die den Kapitalinteressen dienen. Sie braucht Vielfalt. Alle Menschen sollen im Leben die gleichen Möglichkeiten haben, wie zum Beispiel das Recht auf gute Bildung, den Zugang zum Gesundheitssystem und auch zu Arbeitsplätzen.
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Wir unterstützen die Schaffung von legalen Wegen und auch die Erleichterung der Einwanderung durch unbürokratischere Verfahren. Schon aus Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ergibt sich, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind. Mit den Gesetzen, über die wir hier diskutieren, gerät dieser Grundsatz aber immer weiter in den Hintergrund. Ich habe diese Woche mit der UN-Sonderbeauftragten für Internationale Migration, Louise Arbour, über den globalen Migrationspakt diskutiert. Dieser Pakt ist zwar kein verpflichtendes Instrument für die Mitgliedstaaten, aber es ist sicherlich richtig, dass die heutigen Fragen zur Migration ohne eine internationale Perspektive nicht gelöst werden können, eine Perspektive, die die Gründe für die Entscheidung, zu migrieren, auch global in Betracht zieht.
Wir brauchen kein weiteres Regelwerk, das die Interessen der Menschen, die es betrifft, nicht in Betracht zieht. Es ist im Grunde genommen der falsche Ansatz, ein Regelwerk zu schaffen, um die potenziellen Rechtsaußenwählerinnen und -wähler hier zu beruhigen. Wir müssen in die Zukunft schauen und uns die Frage stellen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Ich setze mich für eine offene und solidarische Gesellschaft ein
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und werde deshalb auch am Wochenende gemeinsam mit vielen Tausend Menschen hier in Berlin auf die Straße gehen und an der Demonstration unter dem Motto „#unteilbar – Für eine offene und solidarische Gesellschaft“ teilnehmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Gökay Akbulut. – Nächste Rednerin: Filiz Polat für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal: Glückwunsch an die FDP-Fraktion, dass Sie sich endlich zu einem Eckpunktepapier durchgerungen haben. Das begrüßen wir;
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auch wenn ein fertiger Gesetzentwurf natürlich etwas stichhaltiger gewesen wäre. Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen hat bereits im April 2017 ein Einwanderungsgesetz vorgelegt.
({1})
Und tatsächlich: In Ihren Vorschlägen zur Gestaltung der Arbeitsmigration erkennen wir uns sogar teilweise wieder. Unsere grüne „Talentkarte“ hat die FDP umgetauft in „Chancenkarte“, fast Copy-and-paste. Auch mit neuem Namen ist das ein wichtiger Schritt in die von uns gewollte angebotsorientierte Einwanderung.
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Wir begrüßen auch sehr, dass die FDP sowohl einen Spurwechsel – verbesserte Möglichkeiten der Aufenthaltsverfestigung – als auch die Schaffung von mehr Einwanderungswegen fordert. So weit, so gut, Herr Thomae. Aber während des Asylstreits im Juni sagte Christian Lindner auch, die FDP wäre in den Migrations- und Asylfragen näher bei der CSU als bei Bundeskanzlerin Angela Merkel.
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Das merkt man diesem Antrag leider auch an – Frau Akbulut hat einige Punkte angesprochen –, sowohl im Duktus als auch in vielen Forderungen. So beginnen Sie Ihren Antrag mit der verzerrten, undifferenzierten Darstellung von Einwandernden: die gut integrierte Familie auf der einen Seite und der islamistische Terrorist auf der anderen Seite. Dazwischen gibt es für die FDP anscheinend niemanden. Ich erinnere nur an Herrn Lindners Erfahrung beim Bäcker: Solange Einwandernde immer nur mit Stereotypen bedacht werden, können jegliche Versuche – auch Ihre – eine Einwanderungsgesellschaft zu gestalten, nur ins Leere laufen.
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Ihre Forderungen im Bereich der Asylpolitik haben mit einer Bürgerinnenrechtspartei wirklich gar nichts mehr zu tun. Die Einführung eines neuen Schutzstatus für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge – das wurde bereits erwähnt – ist, gelinde gesagt, befremdlich.
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Dass diesen Menschen die Verfestigungsperspektive weitgehend genommen wird, ist aus integrations-, aber insbesondere aus sozialpolitischer Sicht nicht zu verantworten.
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Wollen Sie die Menschen wieder abschieben?
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Auch durch den Ausschluss des Familiennachzugs für diese Gruppe und das Festhalten an dem unwürdigen Asylbewerberleistungsgesetz verstärken Sie Desintegration und Isolation, statt den Menschen den Weg in unsere Gesellschaft zu erleichtern und das Ankommen zu ermöglichen, meine Damen und Herren.
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Dass Sie dann auch noch die unsäglichen AnKER-Lager unterstützen, obwohl die meisten Bundesländer diese ablehnen, sagt schon viel. Sie schaffen damit die Gefahr verlorener Integrationschancen und ‑möglichkeiten bei weiteren Generationen.
Sehr geehrte Damen und Herren, wir leben in Zeiten der Globalisierung. Es ist notwendig, die zunehmende internationale Mobilität so auszugestalten, dass die darin liegenden Chancen zum Tragen kommen, und zwar für alle Beteiligten: für die Herkunftsstaaten, die Aufnahmestaaten und im Übrigen die Zuwandernden selbst. Auch die Wirtschaft verlangt das von uns; denn unsere alternde Gesellschaft und der Arbeitskräftemangel lassen keinen Zweifel mehr: Deutschland ist auf Einwanderung angewiesen.
Die Zahlen sprechen hier eine ganz klare Sprache: Jenseits der innereuropäischen Freizügigkeit und der humanitären Zuwanderung liegt das Wanderungssaldo aus Drittstaaten zu Erwerbszwecken im einstelligen Bereich; wir sprechen hier ungefähr von 4 Prozent. Wenn man die Zahlen nimmt, verhält es sich so, dass wir eigentlich kein Einwanderungsland sind.
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So zeigen auch viele Studien, dass Deutschland im nordeuropäischen Vergleich bisher ein wenig attraktives Land für motivierte und gut qualifizierte Arbeitskräfte ist. Im Übrigen, meine Damen und Herren auf der Seite rechts außen: Der zunehmende sichtbare Rassismus wird auch außerhalb Deutschlands sehr wohl wahrgenommen.
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Meine Damen und Herren, nach jahrelangen Diskussionen, all den Positionspapieren, Eckpunkten und Vorschlägen haben wir jedoch eines immer noch nicht: ein Einwanderungsgesetz. Und das, was ich von Herrn Dr. Harbarth gehört habe,
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hört sich für mich auch nicht so an, als wenn Sie motiviert wären, ein transparentes und modernes Einwanderungsrecht zu schaffen. Wir können Sie, Herr Krings, liebe Bundesregierung, nur auffordern: Kommen Sie bitte endlich in die Pötte, und legen Sie ein gutes Einwanderungsgesetz vor! Die Zeit ist reif, und das Zeitfenster dafür ist gut.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat die Abgeordnete Andrea Lindholz für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP fordert in ihrem Antrag ein Einwanderungsgesetzbuch. Ich muss sagen: Grundsätzlich halte ich die Idee eines einheitlichen Werkes für sinnvoll, weil es in der Tat helfen kann, unser Ausländerrecht übersichtlicher und transparenter zu gestalten. Auch für manchen Anwalt ist es manchmal schwierig, den Überblick über die ganzen Regelwerke zu behalten.
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Wir sollten aber damit keine unerfüllbaren Erwartungen wecken. Einfach wird ein solches Werk nicht, und einfach, lieber Herr Thomae, wird auch das ganze Einwanderungs- und Asylrecht nie sein; aber trotzdem sollten wir nach wie vor an Verbesserungen arbeiten.
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Die Frage der Migration von EU-Bürgern, die Frage der Asylbewerber und auch die Frage des Familiennachzugs sind in vielen Fällen im Europarecht so geregelt, dass unser Handlungsspielraum hierbei begrenzt ist. Wir haben das zuletzt beim Familiennachzug zu subsidiär Geschützten bereits weitestgehend ausgeschöpft. Wir arbeiten dennoch an einem Fachkräfteeinwanderungsgesetz, weil wir gerade im Bereich der Fachkräfte weiteren Regelungsbedarf sehen.
Ihr Antrag weicht in vielen Fällen überhaupt nicht so sehr von unseren Überlegungen ab. Wenn wir uns die Situation am Arbeitsmarkt in Deutschland anschauen, sind wir uns doch sicher einig: Zunächst einmal suchen wir Arbeitskräfte in Deutschland, dann in Europa und dann im Rest der Welt. Wir haben in Deutschland rund 2,4 Millionen Arbeitslose. Die Jugendarbeitslosigkeit in einigen europäischen Ländern liegt nach wie vor bei über 30 Prozent. Viele Europäer könnten im Rahmen der europäischen Freizügigkeit bereits zu uns kommen. Aber gerade bei den Auszubildenden hat sich in der Vergangenheit doch gezeigt, dass es da oft an den Sprachbarrieren hapert. Deshalb sage ich: Es wird nicht automatisch durch Einwanderung aus Drittstaaten besser klappen.
Wir haben bei der Asyl- und Arbeitsmigration den klaren Ansatz – das sage ich heute noch mal –, dass diese getrennt bleiben müssen, damit wir keine falschen Signale in die Welt senden und Hoffnungen wecken, die wir nicht erfüllen können.
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Sie haben in Ihrem Antrag den Spurwechsel drin. Ich sage Ihnen noch mal ganz klar: Ich persönlich lehne diesen Spurwechsel vom Grundsatz her ab. Ich glaube, Herr Castellucci, wir brauchen ihn nicht; denn wir können trotzdem in den von Ihnen beschriebenen besonderen Fällen für die abgelehnten Asylbewerber, um die es hier geht, die sich besonders integriert haben, anhand des Eckpunktepapiers der Koalition, das wir jetzt haben, eine Lösung finden. Die FDP fordert genauso wie wir in unserem Eckpunktepapier bezüglich der Drei-plus-zwei-Regelung, dass es bundeseinheitlich gleichermaßen gut läuft.
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Deswegen sage ich: Wir sind alle gar nicht so weit voneinander entfernt – zumindest in Teilen.
Auch bei der Arbeitsmigration sind wir uns, wenn ich Ihren Antrag richtig lese, einig. Diese soll es ja in Arbeitsplätze und nicht in unsere Sozialsysteme geben. Zum Punktesystem sagen wir klar: Wir wollen das Punktesystem nicht. Ich glaube aber, man käme auch ohne Punktesystem zusammen, wenn man sich nämlich die Frage stellt: Was erwarten wir denn von den betreffenden Personen in Deutschland? Sie müssen die Sprache können. Damit meine ich die deutsche Sprache; darauf müssen wir achten. Sie müssen ihren Lebensunterhalt selbst sichern können. Sie müssen gute Qualifikationen mitbringen. Und es muss auch klar sein, was mit jemandem passiert, der im Rahmen der Arbeitsmigration zu uns kommt, aber nur kurz beschäftigt ist, um Missbrauch oder Ähnliches zu vermeiden. Aber auch das kann man – da bin ich mir sicher – gut regeln.
Mit nationalem Recht alleine können wir unseren Fachkräftemangel nicht beheben – da bin ich ebenfalls bei Ihnen –, auch nicht mit sämtlicher bisheriger Gesetzgebung, weil es einfach praktische Dinge gibt, die wir noch zu lösen haben. Auch da sind wir uns in vielen Bereichen einig. Wir brauchen schnellere Verfahren zur Anerkennung von ausländischen Abschlüssen und eine Marketingstrategie von Staat und Wirtschaft, um ausländische Fachkräfte gezielt anzusprechen; denn nicht nur Deutschland muss heute um IT-Experten und Pflegekräfte werben. Es geht auch um die vorhin schon von mir angesprochene Sprachförderung im Ausland, um Sprachbarrieren abzubauen, also nicht erst, wenn die Menschen bei uns sind.
Wir dürfen bei all dem nicht vergessen: Welchen Ländern wollen wir ihre gut ausgebildeten und für sie selber auch wertvollen Arbeitskräfte denn abwerben? Auch darüber muss man sich unterhalten, wenn man über den Zuzug von Fachkräften spricht.
Verwaltungsverfahren müssen einfacher werden. Auch darauf haben wir uns verständigt. Es kann nicht sein, dass eine Fachkraft monatelang auf einen Termin bei einer Visastelle warten muss. Auch hier haben wir also noch einiges zu tun und haben vor, das anzugehen.
Ich möchte noch mal sagen: Eigentlich haben wir ein Einwanderungsgesetz; es heißt Aufenthaltsgesetz. Die OECD hat schon 2013 gesagt: Deutschland hat ein modernes Einwanderungssystem. – Wir sind dafür gelobt worden. Bei allem Verständnis für den Wunsch nach Verbesserungen bitte ich auch darum, unsere bestehenden guten Systeme nicht schlechtzureden. Uns mangelt es nicht an Regelungen, sondern uns mangelt es an der Durchsetzung der Regelungen.
Einen Punkt möchte ich noch anreißen. Sie haben zu Recht das Thema Ausreisepflicht angesprochen. Da müssen wir besser werden. Ich halte allerdings nichts davon, diese Aufgaben vollständig auf den Bund zu übertragen. AnKER-Zentren heißen bei Ihnen anders; aber Sie stimmen dem vom Grundsatz her zu. Zu Ihrer Gesundheitskarte würde ich wiederum Nein sagen.
Wenn ich mir den Antrag aber insgesamt anschaue, muss ich sagen: Ich freue mich auf die Diskussion bei uns im Ausschuss. Ich glaube, es wird niemals vollständige Deckungsgleichheit geben; aber ich meine, dass wir in der einen oder anderen Zielrichtung gar nicht mal so weit voneinander entfernt sind. Insofern wünsche ich uns einfach eine gute und konstruktive Zusammenarbeit bei einem für Deutschland wirklich wichtigen Thema.
Danke schön.
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Das Wort hat die Abgeordnete Dr. Frauke Petry.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Einwanderungsrecht aus einem Guss – das klingt gut, liebe FDP. Leider ist Ihr Vier-Türen-Modell neben einigen guten Ideen im Wesentlichen Flickschusterei.
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Sie vergrößern das gesetzliche Chaos noch weiter; denn Sie gehen in einem Punkt fehl, Herr Thomae: Sie geben am Ende nicht zu, dass es nicht hilft, den bestehenden Regelungen einfach einige weitere hinzuzufügen, und dass geregelte Einwanderung nur Hand in Hand mit einer Beendigung des bestehenden Asylmissbrauchs funktionieren kann. Sie wissen das; aber Sie sind zu fein, es zuzugeben.
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Noch schlimmer ist Ihr Vorschlag bezüglich des neu zu schaffenden Status eines Kriegsflüchtlings. Das ist, mit Verlaub, eine sehr einfache Lösung. Sie geben doch so viel auf Ihre außenpolitische Kompetenz. Seit dem Zusammenbruch des bipolaren Systems haben wir es überall mit regionalen und globalen Konflikten zu tun, die überhaupt nicht mehr enden. Friedenskongresse und Friedensschlüsse sind die Ausnahme in einer Welt geworden, in der Partisanen und Terroristen mit Guerillataktik am Ende ein kleines Gebiet oder auch ein großes Gebiet grenzüberschreitend beherrschen. Kurz gesagt: Für die Krisenregionen in Afrika und Asien, aus denen zukünftig Migrationsströme zu erwarten sind, kann gar nicht mehr eingegrenzt werden, ob es dort Krieg oder Frieden gibt. Damit ist der Status, den Sie vorschlagen, null und nichtig, weil er ja im Grunde für jeden und für niemanden gelten kann.
Auch das Jahr 2015 scheint leider an Ihnen weitgehend spurlos vorübergegangen zu sein, wenn Sie fordern, dass Asylanten bei der Identitätsfeststellung mitwirken sollen. Dies löst aber nicht das Problem tausendfachen Identitätsmissbrauchs, mit dessen Hilfe Migranten illegal unsere Grenzen überquert haben.
Dann kommt der Spurwechsel. Ich weiß nicht, warum Sie es nicht einfach lassen, sich immer wieder mit diesen Vorschlägen einer Klientel in diesem Haus anzubiedern, deren Unterstützung Sie gar nicht nötig haben. Bleiben wir doch klar. Sagen wir: Wir brauchen eine Trennung von Asyl und Einwanderung. Wir brauchen eine Beendigung des Missbrauchs. Damit bekommen wir ein vernünftiges Einwanderungsrecht hin. Aber das braucht keine auf modern getrimmte FDP, das braucht einfach nur klaren Menschenverstand.
Danke.
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Das Wort hat die Abgeordnete Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Danke schön an die FDP, dass wir heute hier im Bundestag über die Eckpunkte, auch die der Bundesregierung, zum Thema Fachkräftezuwanderung reden können. Sie von der FDP haben sich ja sehr bewusst dafür entschieden, selber kein Zuwanderungsgesetz durch den Bundestag zu bringen, sondern in die Opposition zu gehen. Man merkt Ihnen aber schon an, dass Sie an der Stelle sehr gerne gestalten würden.
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– Ja. – Aber so ist das nun mal mit so einer Entscheidung: Die wirkt nach. Aber glücklicherweise haben wir in diesem Haus die SPD, die an dieser Stelle das Thema vorantreibt und auch tatsächlich in ein Gesetz formen wird.
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Ich danke Ihnen jedenfalls für die Impulse zu dem Thema. Ich habe das Papier gern gelesen. Ich finde manches durchaus bedenkenswert, und anderes lehne ich rundweg ab. Was mir bei Ihrem Papier aufgefallen ist, ist, dass Sie auf den mehr als zehn Seiten eigentlich ausschließlich den Blick richten auf Menschen, die als Flüchtlinge oder Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten zu uns kommen, und auf die deutsche Wirtschaft, aber nicht so sehr auf die Menschen, die in Deutschland leben. Da setzen wir als SPD einen deutlich anderen Akzent. Für uns als SPD ist klar: Deutschland ist ein Zuwanderungsland, und wir wollen Zuwanderung gestalten. Aber wir tun das mit einem ganz klaren Blick auf die Menschen, die hier in Deutschland leben.
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Deshalb finden Sie in unserem Eckpunktepapier einen Fokus darauf, die Potenziale hier in Deutschland zu heben, was die Arbeitskräfte angeht. Sie finden aber auch dezidiert das Thema „Gleichwertigkeitsprüfung durch die Bundesagentur für Arbeit“, damit qualifizierte Zuwanderer, die wir wollen und brauchen, nicht als Billigheimer missbraucht werden können, sondern nach den hier bei uns geltenden tariflichen Standards entlohnt werden.
Klar ist für uns auch – Lars Castellucci hat das eindrucksvoll durch Beispiele belegt –, dass die Arbeitsplätze in Deutschland nur dann sicher sind, wenn es ausreichend Fachkräfte gibt und sich damit auch die Unternehmen gut entwickeln können. Ich füge an: Ein Leben in Deutschland ist nur dann gut möglich, wenn zum Beispiel die Pflege funktioniert und wenn man einen Handwerker nicht nur anruft, sondern er dann auch Zeit hat und kommen kann, weil er ausreichend Fachkräfte hat.
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Deshalb ist für uns klar: Wir brauchen dringend qualifizierte Zuwanderung und sollten uns nicht darauf verlassen, dass auch in Zukunft aus der Europäischen Union so viele Migrantinnen und Migranten zu uns kommen, wie das in den letzten Jahren passiert ist. Ich glaube, vielen ist gar nicht bewusst, wie stark wir derzeit von einer EU-Binnenmigration profitieren und wie viel unsere prosperierende Wirtschaft den Menschen verdankt, die aus anderen EU-Staaten zu uns kommen, um hier zu arbeiten.
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Kollegin Kolbe, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung?
Eigentlich nicht, danke. – Deshalb ist unser Weg klar, und Sie können ihn auch im Eckpunktepapier nachlesen. Wir wollen, dass Menschen mit Hochschulabschluss oder anerkannter Berufsausbildung, die Deutsch reden können und die einen Arbeitsvertrag haben, zu uns kommen können. Das sind drei ziemlich harte Bedingungen. Es wird nicht sofort die Masse an Menschen geben, die alle diese drei Kriterien erfüllen. Aber es öffnet eine Tür für Menschen, die bewusst nach Deutschland gehen wollen, eine Berufsausbildung zu machen, die in Deutschland anerkannt ist, Deutsch zu lernen und sich hier einen Arbeitsplatz zu suchen.
Wenn jemand noch keinen Arbeitsvertrag hat – das ist ein SPD-Akzent –, dann soll er trotzdem nach Deutschland kommen können und hier für sechs Monate einen Arbeitsplatz suchen können. Allerdings soll er seinen Lebensunterhalt selbst sichern können und keinen Zugang zu den deutschen Sozialsystemen haben. Ich denke, das ist eine ganz vernünftige Regelung.
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Zum inländischen Potenzial zählen – das ist hier angeklungen – aber für uns auch die bei uns lebenden Migrantinnen und Migranten, auch diejenigen mit unsicherem Aufenthaltsstatus. Ich bin froh, dass es endlich eine Verständigung, die offensichtlich manchem im Haus Schmerzen bereitet, darüber gibt, dass Menschen, die in Arbeit sind, einen sicheren Aufenthalt bekommen sollen.
Ich kann abschließend nur sagen: Es wäre doch geradezu gaga, wenn wir einerseits Menschen aufwendig in Drittstaaten anwerben und andererseits Menschen, die in Lohn und Brot stehen, die hier gebraucht werden, in die wir investiert haben, die Deutsch gelernt haben, die sich hier integriert haben, abschieben. Deutschland muss Schluss damit machen, die Falschen abzuschieben.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/4832 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frage, die wir heute hier diskutieren, ist, wenn wir sie runterbrechen, doch: Wie kann die Europäische Union einen echten Mehrwert für die Menschen in diesem Land entwickeln, und wie kann dieser Mehrwert für die Menschen auch spürbar und greifbar werden? Ich habe vor kurzem ein Gespräch zu diesem Thema in meinem Büro gehabt. Ich habe die Frage gestellt: Wo habt ihr in eurem Leben schon einmal einen echten Mehrwert, eine echte Auswirkung durch Europa bemerkt? Von allen drei Mitarbeiterinnen in meinem Büro kam wie aus der Pistole geschossen: Ich habe Erasmus gemacht. – Eine Mitarbeiterin war zum Austausch in Schweden, eine in Litauen, und eine gebürtige Rumänin war zum Austausch in Deutschland. Das Ergebnis daraus? Ich kann heute in meinem Büro von den Erfahrungen, die meine Mitarbeiter in dieser Zeit gemacht haben, profitieren. Für unsere Arbeit hier in Berlin hat Europa also einen konkreten Mehrwert ergeben.
Wenn ich hier in den Saal schaue, sehe ich am Nicken oder am wohlwollenden Schauen der Kolleginnen und Kollegen, dass offensichtlich ganz viele von Ihnen auch schon solche Erfahrungen gemacht haben, wobei – wenn ich so nach rechts schaue – sich die Erkenntnis aber offensichtlich noch nicht überall durchgesetzt hat. Ich kann an der Stelle jedoch verraten: Ich bin sehr gespannt, was Ihnen heute zu diesem Thema einfällt; denn ich habe bislang noch keinen einzigen konkreten Grund gehört, der für mich nachvollziehbar war, warum eine gemeinsame europäische Bildungspolitik schlecht für die Menschen in Europa sein sollte. Wir können gespannt sein.
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Mir hingegen fallen eine ganze Reihe von Gründen ein, warum gerade im Bereich der Bildung die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene sehr wohl sinnvoll ist. Die Herausforderungen, vor denen die einzelnen EU-Mitgliedstaaten in diesen Tagen stehen, sind komplex. Natürlich bereiten sie den Bürgerinnen und Bürgern in Europa Sorgen hinsichtlich ihrer Zukunft. Und die meisten Themen, die ich hier anspreche, kann ein einzelner Mitgliedstaat kaum oder schwer alleine lösen. Ein Teil der Antwort auf die drängenden Herausforderungen kann und muss aus meiner Sicht sein, dass wir die Menschen fit für den internationalen Wettbewerb machen und ihnen die besten Chancen für ihre persönliche Entwicklung geben. Dabei spielen zum Beispiel die allgemeine und natürlich auch die berufliche Bildung eine zentrale Rolle, weil Bildung aus meiner Sicht der zentrale Schlüssel für die Zukunft jedes Einzelnen in Europa ist.
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Natürlich haben wir im Bereich der Bildung zuerst die Hausaufgaben in den einzelnen Staaten zu machen. Es gibt aber aus meiner Sicht sehr wohl Bereiche, in denen wir nur durch die Zusammenarbeit der einzelnen Länder auf europäischer Ebene einen echten Schritt vorankommen können. Aus dem Grund haben sich die Mitgliedstaaten im vergangenen Jahr dazu bereit erklärt, einen europäischen Bildungsraum einzurichten. Dass jeder Europäer überall in der EU lernen, studieren oder forschen kann, ohne dass er von Grenzen behindert wird, das sollte doch nicht nur ein schöner Traum bleiben, sondern wir sollten gemeinsam daran arbeiten, dass dieser Traum Realität für alle wird. Wie machen wir das möglich?
Ich sehe übergreifend drei Themenbereiche, bei denen es durchaus sinnvoll und aus meiner Sicht notwendig ist, dass wir auf europäischer Ebene zusammenarbeiten: erstens das Thema „Mobilität im Bildungsbereich innerhalb der EU“, zweitens das Thema „Vernetzung der Bildungseinrichtungen“ und drittens: Wir müssen auch hier die Chancen der Digitalisierung nutzen. Im vorliegenden Antrag haben wir Maßnahmen definiert, die wichtige Impulse geben können, damit wir diese drei Ziele erreichen können. Ich möchte ein paar konkrete Punkte herausgreifen.
Zum Thema Mobilität. Wir haben mit dem Bologna-Prozess die Mobilität in der Hochschulbildung erfolgreich erhöht. Diese Kooperation wollen wir jetzt vertiefen. Deshalb fordern wir in unserem Antrag, den Austausch über den DAAD und die Alexander von Humboldt-Stiftung deutlich auszubauen. Ich komme nun zum Programm Erasmus: Es ermöglicht seit über 30 Jahren Studierenden und inzwischen auch Schülern, Auszubildenden, Berufseinsteigern, Lehrern und Dozenten Auslandsaufenthalte. Ich glaube, man kann mit Fug und Recht behaupten, dass das Programm Erasmus dabei sehr erfolgreich gewesen ist. Von der EU-Kommission gibt es jetzt einen Vorschlag, wie wir ein neues Erasmus-Programm einrichten können. Mit Bezug auf diese Vorschläge fordern wir jetzt Verbesserungen in dem Programm, damit es flexibler wird und die Antragsverfahren einfacher gestaltet werden. Ein Punkt ist uns dabei besonders wichtig, dass nämlich auch die Bereiche „lebenslanges Lernen“, „Erwachsenenbildung“ und „berufliche Bildung“ stärker finanziell Niederschlag finden.
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Die stärkere Vernetzung der Hochschulen innerhalb der EU – der zweite Punkt – ist für uns auch von großer Bedeutung. Durch die stärkere Zusammenarbeit können wir die Wettbewerbsfähigkeit in der Wissenschaft und Forschung erhöhen. Vor diesem Hintergrund wollen wir uns weiterhin stark an der Umsetzung von europäischen Hochschulen beteiligen. Das BMBF hat hier aus meiner Sicht schon gute Vorarbeit geleistet. Im Haushaltsentwurf für das Jahr 2019 haben wir 7 Millionen Euro eingestellt, die wir dafür verwenden wollen, dass wir Modelle entwerfen, wie diese europäischen Hochschulen umgesetzt werden können. Die Zusammenarbeit im Hochschulbereich – das will ich an dieser Stelle auch noch einmal ganz deutlich sagen – darf und soll nicht vor den EU-Außengrenzen haltmachen. Wir stehen kurz vor dem Brexit. Wir wissen es alle. Es ist uns und auch mir persönlich ein echtes Anliegen, dass das Vereinigte Königreich auch nach dem Ausscheiden aus der Europäischen Union Teil des akademischen und forschenden Europas bleibt. Deswegen setzen wir uns dafür ein, dass wir die Zusammenarbeit der Hochschulen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich auch nach einem möglichen Brexit weiterführen.
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Der dritte und letzte Punkt ist das Thema Digitalisierung. Natürlich macht Digitalisierung auch nicht vor den Schulen und Hochschulen halt. Wir müssen die Chancen der digitalen Technologien nutzen, damit wir neue Ansätze für Lernen und Lehren eröffnen können. Ich möchte exemplarisch nur ein Beispiel herausgreifen – auch hier bin ich wieder beim Thema Erasmus –: Es gibt eine ganze Reihe von IT-Produkten und Tools, die wir stetig weiter verbessern müssen. Als Beispiel nenne ich den Ausbau des Onlinesprachkursportals ErasmusplusOLS.eu. Ich glaube, auch hier können wir einen Mehrwert für die Studenten schaffen.
Zusammenfassend ist zu sagen: Wir brauchen mehr Mut zur europäischen Zusammenarbeit im Bereich der Bildung. Die Schaffung des europäischen Bildungsraums wird die Qualität und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Bildungssysteme steigern. Deswegen: Lassen Sie uns an der Stelle geeint und in Vielfalt den europäischen Bildungsraum für die jungen Menschen in Europa realisieren. Ich bitte Sie um Zustimmung zu dem vorliegenden Antrag.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Marc Jongen für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Abgeordnete! Liebe Gäste! Beim Lesen dieses Antrags habe ich mich gefragt: Hat die deutsche Regierungskoalition ihn verfasst oder der französische Staatspräsident Macron? Denn alle Forderungen des sogenannten Sorbonne-Prozesses zur Vereinheitlichung des europäischen Bildungsraumes, den Macron bekanntlich anstoßen will, werden in diesem Antrag pflichtschuldigst erfüllt.
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Bis 2024 sollen 20 Universitäten mit europäischen Abschlüssen entstehen. Die Bildung in den weiterführenden Schulen will Macron europaweit harmonisieren, sprich: Das Niveau soll nach unten hin abgeeicht werden.
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Steht alles sinngemäß auch in Ihrem Antrag.
Was aber leider fehlt, ist die Erwähnung, dass dieser Plan für Macron nur der bildungspolitische Teilaspekt der „ever closer Union“, der immer engeren Union, ist. Das heißt, ins größere Bild des Plans gehören auch die Vereinheitlichung der Sozial- und Rentensysteme in Europa, die Einrichtung eines europäischen Verteidigungssystems und vieles andere, was de facto die Aufgabe der Souveränität Deutschlands bedeutet. Es mag ja im Interesse Frankreichs sein, dass Deutschland endgültig zur wehrlosen Melkkuh der EU wird. Von der deutschen Regierung erwarten wir aber die Wahrung deutscher Interessen, und daher lehnen wir diese Pläne entschieden ab, Frau Staffler.
({2})
Aber auch unter dem rein bildungspolitischen Aspekt sind Ihre Absichten in vielfacher Hinsicht problematisch. Zu Beginn Ihres Antrags wird stolz verkündet: Vor 20 Jahren wurde der Bologna-Prozess in Gang gesetzt. Zitat:
Heute studieren in inzwischen 48 Ländern nahezu alle europäischen Studierenden in einem gestuften Studiensystem mit Bachelor- und Masterstudiengängen.
Ja, so schönfärberisch kann man es auch ausdrücken. Im Klartext will das aber heißen: Vor 20 Jahren haben wir damit begonnen, die gewachsenen europäischen Bildungstraditionen plattzumachen und ein bürokratisches, verschultes Einheitssystem einzuführen, und heute ist unser Zerstörungswerk so gut wie abgeschlossen. So wäre es ehrlicher gewesen, meine Damen und Herren.
({3})
Dann brüsten Sie sich damit, eine „umfassende Qualitätssicherung für eine qualitativ hochwertige Hochschulbildung“ implementiert zu haben; so steht es in Ihrem Antrag. In Wahrheit haben Sie eine Kaste von üppig alimentierten Wissenschaftsbürokraten herangezüchtet, die dem eigentlich wertschöpfenden Teil, nämlich den Lehrenden und Forschenden, parasitär aufsitzt und ohne die es nicht weniger, sondern mehr Qualität in Forschung und Lehre gäbe. Das ist die Realität.
({4})
Und dann heben Sie den Wert der Mobilität hervor, durchaus zu Recht. Sie wollen diese Mobilität steigern und behaupten, diese habe noch zugenommen durch den Bologna-Prozess. Abgesehen davon, dass das so gar nicht stimmt: Warum soll ein Student, eine Studentin denn ins Ausland gehen? Doch wohl, um eine andere Mentalität, eine andere Kultur, auch ein anderes Bildungssystem kennenzulernen.
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Aber wie der Tourist heute in allen Metropolen der Welt die gleichen Hotelstandards und die gleichen Ladenketten vorfindet, so trifft der Erasmus-Student bald überall nur noch auf dieselben standardisierten Kurse und Strukturen. Sein Lernfortschritt ist so normiert wie die EU-Gurkenkrümmung.
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Statt akademischer Freiheit gibt es ECTS-Punkte, die sich praxisferne Bürokraten und Kleingeister ausgedacht haben, meine Damen und Herren.
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Überall, wohin der EU-Krake seine Arme ausstreckt, zerstört er gewachsene Traditionen, begradigt, bürokratisiert und reglementiert. Daher ist die EU zutiefst uneuropäisch, um nicht zu sagen: antieuropäisch.
({8})
Wenn Sie jetzt in Ihrem Antrag schreiben, Europa teile gewisse Werte und diese seien durch Entwicklungen in bestimmten europäischen Ländern gefährdet, dann werden wir hellhörig. Und zwar nicht, weil wir glauben, dass es solche Werte nicht brauchte, dass wir sie nicht alle teilen müssten – das sollten wir sehr wohl –, sondern weil uns schwant, was Sie unter diesen Werten verstehen, nämlich gewisse Dogmen wie den Segen der multikulturellen Gesellschaft, den menschengemachten Klimawandel und das Genderdogma, die nicht angetastet werden dürfen. Wenn wir dann noch lesen, dass Sie die Geistes- und Sozialwissenschaften stärken wollen, dann ist uns endgültig klar, worum es geht, nämlich um die Implementierung von Ideologie in das Bildungssystem, was in diesen Disziplinen eben am leichtesten zu bewerkstelligen ist.
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Bevor Sie andere Nationen bevormunden, werte Kollegen, die aus diesem latent schon totalitären EU-Konsens ausscheren, rate ich Ihnen: Sorgen Sie bitte für Wissenschaftsfreiheit und die Durchsetzung von Meinungsfreiheit im eigenen Land! Ein persönliches Beispiel: Ich wurde an der Universität Siegen von einem Professor dort zu einem Vortrag über Meinungsfreiheit eingeladen. Der AStA und der Prorektor sind der Meinung, dieser Vortrag dürfe nicht stattfinden.
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Vielleicht glaubt man ja, die Meinungsfreiheit sei in Deutschland schon so weit gewährleistet, dass das durch den Vortrag böser Rechtspopulisten nicht auch noch untermauert werden müsste.
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Ich weiß es nicht. Aber jedenfalls ist das ein Beispiel dafür, wie tief die akademische Kultur in diesem Land bereits gesunken ist, nicht zuletzt dank Ihrer Politik, werte Kollegen.
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Ich komme zum Schluss. Wir brauchen keinen vereinheitlichten europäischen Bildungsraum. Wir brauchen echte Autonomie für die Universitäten, damit sich Wissenschaft und Forschung nach ihrer Eigengesetzlichkeit frei von den Vorgaben einer ideologisierten Politik entfalten können. Das gilt selbstverständlich auch für den europäischen Austausch, den wir befürworten.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Wiebke Esdar für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Nach Wissen zu streben, Chancen zu verwirklichen und für die Freiheit von Wissenschaft einzutreten: Das ist unsere Vision von einem starken vereinigten Bildungsraum in Europa. Das ist auch der Geist, mit dem wir den vorliegenden Antrag geschrieben haben: Europa als eine Werteunion, die Bildung und Forschung gemeinsam verbindet. Das ist das Pfund, mit dem wir in Europa wuchern können.
({0})
An dieser Stelle – das muss ich offen sagen – verstehe ich die Bundeskanzlerin und in dieser Angelegenheit auch die Bundesbildungsministerin Frau Karliczek nicht, wie sie zögerlich oder, ich würde behaupten, fast schon unterkühlt den Vorschlag von Emmanuel Macron aufgegriffen haben. Der französische Staatspräsident versucht, der europäischen Idee neues Leben einzuhauchen, indem er die Gründung von 20 europäischen Hochschulen bis zum Jahr 2024 vorschlägt. Und was sagt die deutsche Bundesregierung dazu? Erst einmal nichts. Es gibt lange Gesichter und wenig Gestaltungswillen.
Darum ist dieser Antrag, den die CDU/CSU-Fraktion gemeinsam mit der SPD-Fraktion einbringt, auch eine Antwort auf die Zurückhaltung der Bundesregierung und eine Antwort an Frankreich und alle europäischen Nachbarländer mit dem klaren Signal, dass unser Land auch in der Bildungs- und Forschungspolitik zu den europäischen Werten steht und dass wir auch da bereit sind, die europäische Einigung voranzutreiben.
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Darum fordern wir mit dem Antrag die Bundesregierung auf, dass sie die Initiative für die europäischen Hochschulen aufgreift. Wir schlagen vor, das mit einer Bottom-up-Strategie zu machen. Dafür braucht es die bestehenden Hochschulen, die schon ihre Profile in der europäischen Zusammenarbeit und Kooperationen haben. Sie sollen die Grundlage für ein europäisches Hochschulnetzwerk bilden.
Wir senden auch – Frau Staffler ist bereits darauf eingegangen – ein Signal an die vom Brexit betroffenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Denn völlig unabhängig davon, ob es einen Deal gibt oder nicht, muss klar sein, dass die enge Kooperation zwischen den Hochschulen im Vereinigten Königreich und denen in Europa fortgesetzt werden muss und dass wir eng zusammenarbeiten. Aber wir müssen ihnen bereits jetzt zeigen, dass wir zusammenarbeiten wollen. Darum muss die Bundesregierung gewährleisten, dass den Betroffenen beispielsweise in Fragen von Aufenthaltsrecht und Arbeitserlaubnissen geholfen wird.
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Ein weiterer Punkt des Antrags, den ich hervorheben möchte, ist, dass wir fordern, die Mittel für das Nachfolgeprogramm von Erasmus+, mit dem die EU den Austausch finanziell unterstützt und fördert, zu verdoppeln. Denn in anderen Ländern zu lernen, zu forschen, zu arbeiten und einen Austausch zu haben, erleichtern wir damit Schülerinnen und Schülern, Auszubildenden, Studierenden, Promovierenden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Hochschulen, in der Wissenschaft, aber auch denjenigen, die an der Erwachsenenbildung und an Jugendbildung teilhaben. Für uns muss klar sein: Wer Bildungsinstitutionen in Europa besucht, dort arbeitet, wer sich bildet, muss auch die Möglichkeit zum Austausch bekommen.
({3})
Uns als SPD-Fraktion war an dieser Stelle ein Punkt noch sehr wichtig, nämlich dass wir auch die Maßnahmen und Projekte für politische Bildung im Erasmus-Programm stärken; denn wir erleben heutzutage doch fast täglich, dass Rechtsextreme unsere europäische Idee attackieren. Wir erleben das auch hier im Raum, hier im Haus. Ich bin der Überzeugung, dass wir dazu als große Mehrheit nicht schweigen dürfen, sondern wir müssen unseren Feinden entgegentreten. Die politische Bildung auch in der Europäischen Union zu verstärken, ist eine wirksame Möglichkeit.
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Ich sage den Kolleginnen und Kollegen von der AfD-Fraktion klar: Sie können Ihre politische Stiftung benennen, wie Sie möchten. Aber der Name Erasmus wird immer mit Völkerverständigung, mit interkulturellem Austausch und mit dem größten und erfolgreichsten Austauschprogramm in der Geschichte der Europäischen Union verbunden sein. Und das ist auch gut so, weil das nämlich zu Erasmus passt.
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Meine Damen und Herren, wir müssen die europäische Idee für die Bürgerinnen und Bürger erfahrbar und erlebbar machen. Frei zu lernen, frei zu forschen, egal mit welchem ökonomischen Hintergrund, diese Chance bietet nur ein vereintes Europa. Wenn es Europa gelingt – übrigens auch jenseits der Grenzen der Europäischen Union –, diese Werte zu verkörpern und zu verteidigen, dann ist das ein starkes Signal an die internationale Wissensgesellschaft. Wenn uns das gelingt, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann können wir erreichen, dass dieser Kontinent nicht nur ein kleiner Fixpunkt im Koordinatensystem der internationalen Bildungspolitik ist, sondern dass Europa ein Versprechen an die klügsten Köpfe unserer Welt ist, und da wollen wir hin.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jens Brandenburg für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 800 Meter von der belgischen Grenze entfernt bin ich als junger Europäer aufgewachsen, auf einem wiedervereinigten Kontinent mit offenen Grenzen und Freizügigkeit. Meine Generation hat auch an den Hochschulen die Vorteile des vielzitierten Bologna-Prozesses direkt erlebt und davon profitiert: von Bildungsfreizügigkeit, von Masterstudiengängen im Ausland, von internationalen Studiengängen auch bei uns und auch von einzelnen Austauschsemestern. Dieses Europa wollen wir gegen den Hass und den Populismus dieser Tage verteidigen.
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Der bisherige Bologna-Prozess kann dafür nur ein erster Schritt sein. Es braucht eine neue Dynamik, auch zur Weiterentwicklung des europäischen Bildungsraums.
Wir wollen besser werden, und wir müssen besser werden: bei der Angleichung der Semesterzeiten, bei der gegenseitigen Anerkennung von Studien- und Berufsabschlüssen und auch beim Abbau von Bürokratie und sprachlichen Barrieren. Vor allem aber müssen wir viel mehr Menschen als bisher für europäische Bildung erreichen. In gewohnter Manier als Serviceopposition bereiten wir Ihnen dafür drei konkrete Vorschläge vor:
Erstens: die europäische digitale Universität. Herr Staatssekretär – richten Sie das gerne auch der Ministerin aus –, es ist gut, aber längst überfällig, dass die Bundesregierung nun endlich auf die Vorschläge von Herrn Macron reagiert und die 20 europäischen Hochschulnetzwerke dabei unterstützen will, ländergrenzenüberschreitende Studiengänge aufzubauen. Die SPD hat zu Recht kritisiert, dass das viel zu langsam und viel zu träge vorangeht; das sagt auch einiges über die Zerrissenheit dieser Koalition aus.
({1})
Und sie hat recht: Es reicht nicht, was Sie tun. Nicht jeder bringt die nötige Mobilität mit, von Semester zu Semester zwischen europäischen Staaten hin und her zu jetten. Das hat nicht unbedingt immer finanzielle Gründe. Das kann an beruflichen Verpflichtungen liegen, an dauerhaftem Ehrenamt, an Familiengründung, an zu pflegenden Angehörigen, möglicherweise auch am eigenen hohen Alter oder am gesundheitlichen Zustand. Jeder dritte Studierende studiert de facto schon heute in Teilzeit. Deshalb wollen wir die europäische digitale Universität, um allen Europäern einen Zugang zur besten Lehre in Europa zu ermöglichen.
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Zweite Forderung. Wir dürfen den Bildungsaustausch mit den Briten jetzt nicht abreißen lassen. Zwei Drittel der jungen Briten haben gegen den Brexit gestimmt. Auch für die deutschen Erasmus-Studierenden bleibt Großbritannien das drittwichtigste Gastgeberland. Viel zu zögerlich und zu vage erwähnen Sie, liebe sogenannte Große Koalition, in Ihrem Antrag den Brexit; er ist leicht versteckt in einem Absatz. Wir dürfen die junge Generation jetzt aber nicht im Stich lassen. Wir brauchen die klare Ansage: Ja, wir wollen, dass Großbritannien Programmland im Erasmus-Programm bleibt.
({3})
Dritter Vorschlag: eine europäische Austauschagentur in der beruflichen Bildung. Bis 2020 sollen 10 Prozent der Azubis, mindestens in einem Teil ihrer Lehre, Auslandserfahrungen in Europa sammeln – sagt der Deutsche Bundestag. Von diesem Ziel sind wir meilenweit entfernt. Das liegt an zu engen Lehrplänen an den Berufsschulen und auch an zu hohen bürokratischen Hürden für die Unternehmen. Erasmus-Studierende bekommen vom DAAD eine Art Rundum-sorglos-Paket für den Auslandsaufenthalt. Das brauchen wir auch für die berufliche Bildung.
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Was für die Studierenden funktioniert, darf für Auszubildende nicht unmöglich sein.
Wir Freie Demokraten wollen weltbeste Bildung für alle Europäer. Überlassen wir also die Debatte über die Zukunft der europäischen Bildung nicht allein Emmanuel Macron. Es wird Zeit, dass Deutschland vom Mitläufer zum Vorreiter wird.
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Das Wort hat die Abgeordnete Nicole Gohlke für die Fraktion Die Linke.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich sollten wir heute über die erfolgreiche Europäisierung des Hochschulstudiums sprechen. Viele Menschen hatten darauf als Teil der europäischen Einigung gehofft: dass junge Menschen und Forschende europaweit Erfahrungen sammeln und einen Teil ihres Lebens so verbringen können.
Wir reden heute auch über den Bologna-Prozess. Er hat den Studierenden und den Beschäftigten an den Hochschulen – da muss man sich doch mal ehrlich machen – leider mehr Nachteile als Vorteile gebracht; denn die Bologna-Reform war von jeher von oben gedacht. Im Zentrum standen vor allem wirtschaftliche Überlegungen: die Verwertbarkeit akademischer Ausbildung zum Beispiel und die Beschleunigung des Studiums, um Kosten zu sparen. Die Menschen, die am Bildungsprozess beteiligt sind, die Lehrenden wie die Lernenden, standen bei Ihnen nie im Fokus. Das war und ist das große Problem.
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Was die Anliegen und Belange der Studierenden und der Lehrkräfte sein könnten, kam in der Bologna-Erklärung gar nicht erst vor. Deshalb stand die Bologna-Reform von Anfang an in der Kritik, und es war richtig, dass damals so viele dagegen protestiert haben.
Und die Probleme existieren immer noch. Das wird aus dem ziemlich lustlosen Bericht der Bundesregierung mehr als deutlich. Das zweistufige Studium hat sich nicht bewährt und wird in der Praxis langsam, aber sicher entsorgt. Hier müsste wirklich viel getan werden, um gute Studienbedingungen für alle Masterstudierenden zu ermöglichen.
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Die Mobilität der Studierenden bleibt weit hinter den Erwartungen zurück. Das ist auch kein Wunder; denn Mobilität ist vor allem auch eine Geldfrage. Es kostet natürlich viel Geld, ins Ausland zu gehen oder in eine andere Stadt zu ziehen. Es kostet im Übrigen auch Geld, überhaupt zu studieren. In Ihrem Bericht und in wirklich allem, was die Bundesregierung zu diesem Thema verlautbart, fehlt jeder, aber auch jeder Hinweis darauf, dass sie diese finanzielle und diese soziale Dimension überhaupt wahrnimmt. Das kann doch wirklich nicht wahr sein.
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An den Studierenden lässt sich ein allgemeiner Trend in unserer Gesellschaft beobachten: Die Mitte bricht weg. Mehr als zwei Drittel der Studierenden müssen neben ihrem Studium arbeiten, um Geld zu verdienen. Das Ergebnis ist eine dramatische Zunahme von Stress und Belastung. Ein Sechstel aller Studierenden leidet mittlerweile an mindestens einer psychischen Krankheit, fast ein Drittel bricht das Studium ab. Psychologinnen und Psychologen sowie Expertinnen und Experten führen das maßgeblich auf den Leistungsdruck, der seit dem Bologna-Prozess entstanden ist, zurück. So weit ist es dank des neoliberalen Umbaus der Hochschulen also gekommen, dass das Studieren regelrecht zu einem Gesundheitsrisiko geworden ist. Das ist aus meiner Sicht unfassbar.
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Das gilt übrigens auch für die Beschäftigten an den Hochschulen. Die Forschenden und Lehrenden, die keine Professur ergattern konnten, hangeln sich von einem Projektantrag zum nächsten, verbringen ihr Leben in Unsicherheit und Befristung. Und ehrlich gesagt: Internationalisierung spielt in diesem Bereich doch nur insofern eine Rolle, als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versuchen, im Ausland eine unbefristete Stelle zu ergattern. Das kann doch so nicht bleiben.
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Kolleginnen und Kollegen, eine gemeinsame europäische Hochschullandschaft, wo Menschen im Austausch über Ländergrenzen hinweg lernen und forschen können, das wäre ein wirklicher Fortschritt hin zu einem geeinten Kontinent und hin zu multikultureller Verständigung. Dafür müssen aber – davon bin ich fest überzeugt – die realen Menschen mitmachen können. Wir brauchen die Europäisierung, aber eben nicht als einen Eliteprozess von oben, sondern als eine Bewegung von unten. Das müssen wir politisch befördern.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Kai Gehring für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gehöre zu der Generation, die die Vorzüge eines gemeinsamen Europas von Anfang an erleben durfte. Dass sich unsere Eltern und Großeltern auf den mühsamen Weg heraus aus den Schützengräben hin zu Verständigung und Austausch gemacht haben, dafür bin ich unendlich dankbar, und ich denke sogar, wir alle.
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Aber das gemeinsame Europa ist bedroht. Die zerstörerische Kraft des Nationalismus rührt sich wieder, auch in Deutschland. Wir sind gefragt, unsere europäischen demokratischen Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität zu verteidigen, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Beste Bildung für alle zu ermöglichen, ist dafür ein ganz entscheidender Faktor. Unser Ziel ist, Europa zum Kontinent der Chancen für alle zu machen.
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Was bedeutet das für die Hochschulen? Das steht ja im Zentrum dieser Debatte. Drei große Themen möchte ich ansprechen.
Das erste Thema ist der europäische Hochschulraum. Vor 20 Jahren haben 30 Staaten den Bologna-Prozess gestartet, inzwischen machen 48 Staaten mit. Der europäische Hochschulraum grenzt mittlerweile an China. Für meine Fraktion ist klar: Wir wollen Austausch und Mobilität für alle verstärken und erleichtern. Ich sage auch klar: Wer gegen den Bachelor und den Master wettert, tritt die Leistungen der Absolventinnen und Absolventen dieser Studiengänge mit Füßen.
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Statt einer Rolle rückwärts wollen wir Bologna besser machen, zum Beispiel mit einer Anerkennungsgarantie für Studienleistungen aus dem europäischen Ausland und einer weiteren sozialen Öffnung der Hochschulen. Dafür muss die Bundesregierung viel mehr machen, und zwar ganz konkret.
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Ermutigend ist, dass den Neonationalisten Kontra gegeben wird. Die Bekenntnisse zu Wissenschaftsfreiheit und demokratischem Aufbau der Hochschulen sind ermutigende Signale vom Bologna-Treffen in Paris und auch im Antrag von Union und SPD, den wir heute debattieren.
Es ist richtig, bedrohten Wissenschaftlern und Studierenden aus dem Ausland zu helfen. Wichtig ist auch, jeden, auch hierzulande, zu schützen, der sich für demokratische Hochschulen einsetzt: den verfolgten türkischen Professor, die deutsche AStA-Vorsitzende oder die Genderforscherin, die von rechten Nationalisten eingeschüchtert werden soll. Das lassen wir nicht zu. Hochschulen müssen in ganz Europa Orte der Aufklärung bleiben.
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Das zweite große Thema sind die europäischen Mobilitätsprogramme. Erasmus ist das EU-Erfolgsprogramm schlechthin. Erasmus organisiert den Austausch über Grenzen hinweg und eröffnet wertvolle Lebens- und Bildungserfahrungen, neue Sprachen und Kulturen. Es ermöglicht, europäische Gemeinschaft konkret zu erleben: im Hörsaal, am Schreibtisch oder am Küchentisch der Erasmus-WG. Davon sollten auch mehr Jugendliche aus finanzschwächeren Elternhäusern profitieren, die immer noch seltener ins Ausland gehen. Ein besseres BAföG, mehr Stipendien und auch eine Erhöhung der Fördersummen im Erasmus-Programm helfen dabei. Mobilität soll vom Grips abhängen und nicht vom Geldbeutel der Eltern.
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Das dritte Thema sind die europäischen Hochschulnetzwerke. Uns ist wichtig, dass die 20 geplanten Pilothochschulen ein Mehr an Qualität bringen und auch in ganz Europa verteilt sind. Gerade mit Blick auf die bedrohte akademische Freiheit in einigen osteuropäischen Ländern wäre ich froh, wenn bestehende Leuchttürme freien Denkens wie zum Beispiel die CEU in Budapest einbezogen werden. Ich meine auch, in ganz Deutschland muss jede Universität und jede Hochschule für angewandte Wissenschaft Europa und Internationalisierung im Blick haben.
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Deutschland ist ein beliebtes Zielland für internationale Studierende und Wissenschaftler; das ist ein Pfund, mit dem wir wuchern können.
Sehr geehrte Damen und Herren, mehr Austausch ist ein Baustein für ein zusammenwachsendes Europa und eine konkrete Antwort auf Schwarzmalerei und Neonationalisten. Ich sehe dazu sehr viel Einigkeit hier im Haus. Leider haben Union und SPD die Chance für eine fraktionsübergreifende Initiative mit den europafreundlichen Fraktionen dieses Hauses erneut verpasst. Aber unsere grüne Hand bleibt ausgestreckt. Wir tun gut daran, die Begeisterung der Generation Erasmus für Europa gemeinsam zu stärken.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Rachel.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa wirkt oft im Stillen. Viele Errungenschaften der Europäischen Union sind für uns quasi selbstverständlich, obwohl sie vor 60, 70 Jahren undenkbar waren: freies Reisen, eine gefestigte Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Würde eines jeden Menschen – und nicht nur von einigen –, aber auch die Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder ein bereicherndes Studium in einem anderen Land. Das sind alles die kleinen und die ganz großen Dinge, die wir der europäischen Einigung verdanken und die erlebbar machen, was Europa ist. Diese Idee von Europa wollen wir im europäischen Bildungsraum in den Mittelpunkt stellen.
Leider erleben wir in vielen Ländern Europas populistische Strömungen, die sich oftmals Vorurteile zunutze machen. Im Einzelfall geht es natürlich darum, dass auch Kritik geäußert werden kann, wenn sie sachlich und fachlich berechtigt ist; aber wir brauchen eine sachliche Auseinandersetzung.
Was uns alarmiert, ist, dass die Wissenschaftsfreiheit in vielen Ländern unter Druck gerät. Ich finde es richtig, dass auf der Bologna-Ministerkonferenz im Mai angesichts der Situation in einigen Bologna-Staaten die Themen „Wissenschaftsfreiheit“, aber auch „demokratisch verfasste Hochschulen“ in den Debatten der Minister eine ganz große Rolle gespielt haben. Wir werden in der Europäischen Union auch zukünftig größten Wert auf die Wissenschaftsfreiheit legen.
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Glücklicherweise haben die Staats- und Regierungschefs und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel in Göteborg sehr positiv auf die Sorbonne-Rede des französischen Staatspräsidenten Macron reagiert. Das Ganze hat natürlich auch einen tollen Effekt gehabt, weil es letztlich eine politische Aufwertung der europäischen Bildungspolitik bedeutet.
Wir unterstützen, dass die Europäische Union die stärkere Kooperation und die Vernetzung der europäischen Hochschulen fördern wird, weil wir damit einen Beitrag für den europäischen Hochschul- und Forschungsraum, aber auch für unsere europäische Identität und die Wettbewerbsfähigkeit Europas leisten können. Wir wollen, dass die europäischen Hochschulen ein Erfolg werden. Das BMBF plant daher ab nächstem Jahr eine ergänzende Förderung von nationaler Seite. Wir wollen nicht nur bei der Antragstellung unterstützen, sondern auch die ausgewählten Netze ergänzend fördern, an denen deutsche Hochschulen beteiligt sind.
Der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen würdigt, wie ich finde, mit Recht die Rolle von Erasmus+, der Erfolgsgeschichte der europäischen Bildungsprogramme. Fast 10 Millionen Menschen haben von 1987 bis Ende 2017 mit Erasmus+ und seinen Vorgängerprogrammen Auslandserfahrung gesammelt. Quasi als Kulturbotschafter sind junge Menschen aus Deutschland in ein europäisches Nachbarland gegangen, haben ihr Heimatland vorgestellt und haben gleichzeitig früh Erfahrungen mit anderen Kulturen, Personen und Nationen gesammelt. Neugier und Offenheit für andere Kulturen und europäische Lebensweise wurden und werden hier geweckt.
Dennoch gilt: Nur 35 Prozent der Studierenden sammeln Auslandserfahrung; bei den Auszubildenden sind es sogar nur 6 Prozent. Ich sage ganz klar: Das ist zu wenig.
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Wir brauchen mehr Auslandserfahrung, für die Studierenden und auch für die Auszubildenden. Um auch mehr Auszubildenden eine Teilnahme am Programm Erasmus+ zu ermöglichen, fördern wir als Bundesregierung sogenannte Poolprojekte, wo wir KMUs administrativ entlasten, und auch Einzelbewerbern, die sonst keine Möglichkeit hätten, aus dem gesamten Bundesgebiet den Zugang zu Erasmus+ erleichtern. Ich möchte, dass in Zukunft viel mehr Auszubildende in den europäischen Nachbarländern praktische Erfahrungen im Betrieb, mit Arbeitskollegen sammeln.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, die Europäische Kommission hat zu Recht festgestellt, dass das derzeitige Erasmus+-Programm finanziell nicht ausreicht. Deshalb sind wir für eine Stärkung von Erasmus+, und wir freuen uns, dass dieser Gedanke – so sind die Signale – aus vielen europäischen Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament unterstützt wird.
Mobilität in Europa ist aber nicht nur ein Mittel zur Verbesserung der persönlichen Qualifikation – obwohl sie natürlich extrem wichtig ist. Nein, persönliche Begegnungen, interkulturelle Erfahrungen und gelebtes Miteinander über Ländergrenzen hinweg bereichern. Aber sie bereichern auch nicht nur, sie stärken auch unser europäisches Selbstverständnis oder – lassen Sie es mich anders formulieren – unsere europäische Identität. Diese europäische Identität, sie zeichnet sich eben durch eine gefestigte Demokratie, durch Rechtsstaatlichkeit, durch Gewaltenteilung, durch die Menschenwürde für jeden Menschen aus, und sie schätzt gleichzeitig die kulturelle Vielfalt in Europa und respektiert auch Unterschiedlichkeit. Für diese Erfahrung, diese Lernerfahrung haben die Nationen in Europa Jahrhunderte, um nicht zu sagen, zwei Jahrtausende gebraucht, und es hat viele Kriege, Verletzte und Tote gebraucht, bis wir erkannt haben, welcher Wert in der Europäischen Union steckt, und diesen gilt es herauszustellen.
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Da es eine Fraktion im Deutschen Bundestag gibt, die im Forschungsausschuss gesagt hat, Bildung dürfe gar nicht eine europäische Idee unterstützen,
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will ich an dieser Stelle ausdrücklich genau das Gegenteil formulieren: Diese europäische Idee ist eine Riesenchance für die heranwachsende Generation. Sie gibt uns Frieden, sie gibt uns Entwicklungschancen als Individuen, sie gibt uns ein soziales Miteinander, sie gibt uns ein rechtsstaatliches Miteinander. Diesen Schatz gilt es auch im europäischen Bildungsraum herauszustellen. Das wollen wir tun.
Ich will ausdrücklich sagen: Der Antrag der Koalitionsfraktionen kommt zum richtigen Zeitpunkt und ist für die Arbeit der Bundesregierung eine wertvolle Unterstützung.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Mario Mieruch.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Von Anfang an war der Bologna-Prozess für Deutschland leider kein wirkliches Erfolgsmodell. Er brachte eine starke Verschulung sowie die Bürokratisierung des Studiums. Als besonderer Malus bleiben dabei die Akkreditierungsverfahren, die der Deutsche Hochschulverband bereits 2009 als teuer, bürokratisch, langsam, ineffizient, rechtlich zweifelhaft und autonomiefeindlich kritisierte.
Das selbstgesetzte Ziel eines zweistufigen Abschlusses, bei dem der Bachelor berufsqualifizierend ist und der Master den Besten des Jahrgangs vorbehalten bleibt, wurde leider grandios verfehlt. Der Master ist heute für viele Hochschulabsolventen in vielen Branchen eine zwingende Voraussetzung, um überhaupt eine Arbeit zu finden. Dann ist es eben nicht, lieber Herr Gehring, so, dass man über diese Abschlüsse herzieht, sondern das ist leider eine schlichte Rückmeldung des Marktes, der Wirtschaft, des Bedarfes, wie viel mit den entsprechenden Abschlüssen tatsächlich anzufangen ist.
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So ist es auch nicht verwunderlich, dass immer mehr Technische Universitäten eigentlich ganz gerne zum alten Diplom zurückkehren möchten.
Ebenfalls schon 2009 berichtete der Deutsche Akademische Austauschdienst, dass nur 50 Prozent der im Ausland erbrachten Studienleistungen vollständig anerkannt würden. Die gewünschte internationale Vergleichbarkeit der Abschlüsse ist leider nach wie vor nicht gewährleistet.
Man muss es in der Tat hinterfragen, wenn wir versuchen, auf europäischer Ebene im akademischen Bereich das zu lösen, was wir auf schulischer Ebene im eigenen Land unter dem Stichwort „Bildungsföderalismus“ seit Jahren nicht hinbekommen. Anstatt sich auf die ursprünglichen Ziele zu konzentrieren und selbstkritisch die überfälligen Korrekturen in diesem Prozess vorzunehmen, soll jetzt überall noch eine Schippe draufgepackt werden. Das Ganze wird kombiniert mit einer fortwährenden Senkung von Ansprüchen und Anforderungen und droht dabei zu einem Sargnagel unserer globalen Wettbewerbsfähigkeit zu werden. Das verbaut unserer Jugend die Zukunft. Das sollten wir verhindern, wenn wir diese Zukunft für unseren Nachwuchs erhalten wollen.
Danke schön.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Abgeordnete Dr. Ernst Dieter Rossmann für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Ausgangspunkt für diese Debatte ist – das ist richtig – die Rede von Macron. Der Grundgedanke seiner epochalen Rede ist: Es geht um Souveränität und Freiheit, um Souveränität im politischen Gestaltungsprozess, aber auch um die Souveränität der einzelnen Menschen, und es geht um die Freiheit der Länder im Zusammenwirken und auch um persönliche Freiheit. Diese Rede von Macron war so wichtig, weil sie das als Aufgabe ins Zentrum gestellt hat.
Andere haben dazu gesagt: Ja, man kann Europa als Idee begreifen, aber man muss es auch fühlen können. Deshalb brauchen wir dieses Gefühl, weil nur, wenn Europa gefühlt, erfahren, begriffen und verstanden wird, kann man Europa politisch, ökonomisch und umweltpolitisch gestalten, nur dann kann man Europa in Souveränität miteinander gestalten.
Manche haben das, was in Deutschland zu der Rede von Macron gesagt worden ist, als „schwach bis tonlos“ bezeichnet, wie Jürgen Habermas. Ich finde, zumindest dieser Parlamentsantrag setzt starke operative Akzente. Der erste, ganz wichtige Akzent ist, dass es um die Aufwertung von Erasmus geht. Weil Erasmus von vielen auf zynische Weise in den Mund genommen wird, sei hier daran erinnert, dass Erasmus im 15. Jahrhundert im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation in ganz vielen verschiedenen Ländern seine Bildung erworben hat, in Holland, in Italien, in England, in Frankreich. Und er hat auch als Gelehrter in ganz vielen Ländern gearbeitet. Deshalb ist er als Person, als Geistesgröße ein Vorbild für das, was wir jetzt, in der Neuzeit, transportieren wollen: sich in Freiheit und in Souveränität gemeinsam entwickeln können. – Es ist ein ungeheurer Zynismus gegenüber Erasmus, ihm dies so zu nehmen. Ich will mir härtere Worte gegenüber „Vogelschiss“-Historikern ersparen.
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Der zweite wichtige Akzent: Wenn ganz viele junge Menschen das im Studium und in der Ausbildung erleben können, dann tragen sie diese Erfahrung in ihr berufliches und gesellschaftliches Leben zurück. Ich will ausdrücklich das unterstreichen, was der Staatssekretär gesagt hat: Es ist gut, dass das Prinzip der Gleichwertigkeit der allgemeinen, der hochschulischen und der beruflichen Bildung endlich in das europäische Programm hineingetragen wird. Schon allein aus diesem Grunde, weil das Freiheit für alle und nicht nur für bestimmte Eliten ermöglicht, muss das Programm von uns nachdrücklich unterstützt werden.
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Ein letzter Gedanke. Ja, mit dem, was Macron in Berlin zu den europäischen Universitäten gesagt hat, nahm er auf, was Weltkulturerbe ist. Die Universitäten sind europäisches Weltkulturerbe und nicht nationales und schon gar nicht deutsches Weltkulturerbe. Bologna, Sorbonne, Prag, Heidelberg, Erfurt – das alles sind seit Jahrhunderten wichtige Institutionen. Wenn man sagt, dass man über dieses Netzwerk – ich sage bewusst: auch über einzelne besondere Leuchttürme –, über das Verständnis für diese besondere historische Entwicklung eine inhaltliche Identität neu bündeln kann, dann ergreift man damit eine ganz wichtige europäische Initiative.
Um zum Schluss zu kommen: Macron hat eine Sorbonne-Rede gehalten. 2020 wird Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft innehaben. Das ist unmittelbar vor der nächsten Periode des Erasmus-Programms. Ich sage es ehrlich: Wir wünschen uns, dass dann eine deutsche Kanzlerin – ich bin optimistisch – eine Heidelberg-Rede hält, eine Heidelberg-Rede, die das, was dann auf den Weg gebracht sein wird, aufnimmt. Dann werden wir erste Ansätze für Netzwerke haben, und erste europäische Hochschulen werden sich bilden. Das werden wir begleiten als Beitrag zu einer souveränen Entwicklung in Europa.
Danke schön.
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Ich schließe die Aussprache.
Mit Blick auf die nächsten Tagesordnungspunkte erlaube ich mir den Hinweis: Die Ankündigung des Abschlusses der Rede ersetzt nicht den Schlusspunkt. Ich werde bei den nächsten Tagesordnungspunkten darauf achten, dass dieser Ankündigung dann auch der Schluss folgt.
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Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 19/4846 mit dem Titel „Mobilität, Hochschulnetzwerke und Digitalisierung – Die Zukunft eines innovativen, qualitativ hochwertigen europäischen Bildungsraums“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Mehrheit der AfD-Fraktion bei zwei Enthaltungen in der AfD-Fraktion
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und bei Enthaltung der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 9 b. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1445 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die heutige Tagesordnung soll um die Beratung einer Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Drucksache 19/4935 – Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens –, erweitert und dieser jetzt gleich als Zusatzpunkt 9 aufgerufen werden. Dieses Verfahren entspricht der langjährigen Praxis des Deutschen Bundestages. Erhebt sich dagegen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss)
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens
Drucksache 19/4935
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.
Der Ausschuss empfiehlt, die Genehmigung zu erteilen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher! Im Oktober 2017 hat das Bundesverfassungsgericht einen teilweisen Verstoß des Personenstandsgesetzes gegen grundgesetzliche Schutzvorschriften festgestellt und uns ins Stammbuch geschrieben, der Gesetzgeber müsse bei der Geburt eines Kindes neben der Eintragung „männlich“, „weiblich“ sowie „Eintragung des Personenstandsfalls ohne eine solche Angabe“ auch die Option eines positiven Geschlechtseintrag außerhalb dieser drei Varianten anbieten, wenn der Gesetzgeber auf die Pflicht zur Angabe des Geschlechts im Geburtenregister generell bestehen will. Zur Umsetzung der Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht eine Frist bis zum 31. Dezember dieses Jahres gesetzt. Mit dem eingebrachten Gesetzentwurf der Bundesregierung setzen wir die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts um.
Für uns als Union ist unstreitig, dass wir die Angabe des Geschlechts nicht abschaffen wollen, da wir zum Beispiel insbesondere in Bereichen wie der Frauenförderung eine notwendige Differenzierung brauchen.
Das vorgelegte Gesetz regelt zwei Fälle.
Kollege Henrichmann – ich habe die Uhr angehalten –, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Schauws?
Vielen Dank, nein. Das machen wir im Nachgang in den Ausschussberatungen.
Das Gesetz regelt, wie gesagt, zwei Fälle: als Erstes die Geburt eines Neugeborenen, wo neben der Angabe „weiblich“ oder „männlich“ und dem Eintrag „ohne Angabe“ zukünftig die Bezeichnung „divers“ gewählt werden kann, und als Zweites, wenn die weitere Geschlechtsentwicklung eines Menschen nicht zu einer Zuordnung zu den beiden Geschlechtern führen kann oder unrichtig erfolgte, die Möglichkeit, durch Erklärung gegenüber dem Standesamt die Zuordnung ändern zu lassen. In § 45b Absatz 3 ist dann die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung angesprochen, die zum Nachweis erforderlich ist.
Ich selber habe im Vorfeld der Beratungen mit vielen Betroffenen und Betroffenengruppen gesprochen. Ich gebe zu, auch einiges gelernt zu haben. Oft wurde gerade die Pflicht zur Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung kritisiert.
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Es gibt meines Erachtens gute Gründe, an der Beweispflicht festzuhalten. Denn das Personenstandsregister hat Beweiskraft. Aus diesem Eintrag erwachsen eben auch Rechte und Pflichten für die Betroffenen. Wir brauchen im Bereich der Frauenförderung, beim Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz und in vielen anderen Lebensbereichen einen ernsthaften, validen und auf objektiven Kriterien beruhenden Geschlechtereintrag mit Beweiskraft.
Viele Betroffenenverbände führen aus, dass es keines Attestes bedarf, um die Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit zu belegen; ein Beratungsgespräch würde hier genügen. Ich selber sehe die reine Beratungslösung hier allerdings kritisch, auch weil ganz viele wichtige Fragen noch gar nicht geklärt sind. Und: Wenn wir eingreifen und deutschlandweit eine flächendeckende Beratung einführen, kann das in die Zuständigkeit der Länder eingreifen und eine Zustimmung des Bundesrates erforderlich machen. Das hieße dann unter dem Strich, dass wir die Frist, die uns das Bundesverfassungsgericht gesetzt hat, nicht würden einhalten können.
Der Anwendungsbereich des Gesetzes beschränkt sich also auf die sogenannte kleine Lösung, auf Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. Das ist der Terminus, der der Konsensuskonferenz 2005 in Chicago entstammt, wo objektivierbare Entscheidungen zusammengetragen wurden, aufgrund derer eine entsprechende Beurteilung erfolgen kann. Ein Beratungsgespräch kann diese Objektivierbarkeit eben nicht erreichen.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich auf zweierlei Art und Weise lesen. Wir haben im zweiten Leitsatz den Beschluss, dass der Artikel 3 Grundgesetz auch Menschen schützt, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen. „Zuordnen lassen“ lese ich so, dass eine Zuordnung anhand objektivierbarer medizinischer Kriterien erfolgen kann und in dem ersten gesetzlichen Schritt, über den wir hier befinden – mit den engen zeitlichen Vorgaben –, auch erfolgen muss. Denn wenn wir jetzt die Beratungslösung verfolgen, dann machen wir damit im gleichen Zuge das Transsexuellengesetz obsolet.
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An dessen Reformbedürftigkeit besteht sicherlich kein Zweifel. Aber was ist mit Schutzregeln wie beispielsweise dem Offenbarungsverbot, die sich im Personenstandsrecht gar nicht finden, die aber im Transsexuellenrecht vorhanden sind? Diese Frage werden wir klären. Wir haben neben der Frage der rein rechtlichen Zulässigkeit auch die Frage zu klären: Was macht denn der Standesbeamte, der dann zwei gleichartige Rechtsrahmen hat und entscheiden muss, welches Gesetz er anwendet? Das führt zu Problemen. All das werden wir bis zum 31. Dezember dieses Jahres nicht klären können.
Wenn teilweise angemerkt wird, dass das Attest schwer zu beschaffen sei, dann sei der deutliche Hinweis erlaubt, dass es in ganz vielen Fällen des Anwendungsbereiches, den ich gerade skizziert habe, so ist, dass die Atteste ja schon vorliegen, dass es also kein neues sein muss, dass der reine Nachweis reicht und dass auch keine Diagnose enthalten sein muss. Insofern wäre die Beratungslösung, die derzeit von vielen Verbänden gefordert wird, teilweise sogar aufwendiger als diese Vorgehensweise.
Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf setzen wir die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts um. Ich begrüße ausdrücklich, dass BMI und BMJV im Gespräch sind, was die Reform des Transsexuellengesetzes angeht. Wir werden das in dieser Legislaturperiode wie verabredet angehen. Allerdings sollten wir Schnellschüsse und einfache Lösungen vermeiden. Denn dieses Thema ist komplexer, als man denkt, und mit Blick auf die gesetzte Frist sind die alternativen Vorschläge nicht umsetzbar. Deswegen werbe ich für diesen Gesetzentwurf und freue mich auf die Ausschussberatungen.
Danke.
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Zu einer Kurzintervention hat die Abgeordnete Ulle Schauws das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Henrichmann, Sie haben eine Zwischenfrage ja nicht zugelassen. Aber ich muss das jetzt doch einmal sagen: Was wir hier beraten, ist ja ein Gesetzentwurf, der die Umsetzung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betrifft. Sie haben als Vertreter Ihrer Fraktion gesprochen. Wir haben aber niemanden von der Regierung, der sich zu diesem Tagesordnungspunkt zu Wort gemeldet hat. Der Parlamentarische Staatssekretär sitzt zwar hier, aber von der Bundesregierung ist niemand da, der zu diesem Gesetzentwurf – zu einem Gesetzentwurf der Bundesregierung bzw. des Innenministeriums – redet. Ich kann dazu nur sagen: Diesen Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht und vor den Menschen, die das betrifft, muss man, finde ich, schon haben, wenn man so einen Gesetzentwurf einbringt, zumindest jemanden von der Regierung hier reden zu lassen.
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Sie verzichten auf die Erwiderung?
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Dann hat jetzt die Abgeordnete Beatrix von Storch für die AfD-Fraktion das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt Menschen, die mit Chromosomenanomalien geboren werden, zum Beispiel mit dem Turner-Syndrom. Diese Menschen sind biologisch intersexuell. Sie suchen sich das nicht aus. Sie brauchen Hilfe, mit allen Möglichkeiten der modernen Medizin, zum Beispiel mit Hormontherapien gegen körperliche Leiden. Das Schäbige ist, dass die Genderideologen deren Schicksal nun instrumentalisieren. Sie wollen ihren ideologischen Irrsinn durch die Hintertür einführen, und sie wollen uns weismachen, dass man das Geschlecht letztlich frei wählen kann: morgens Mann, abends Frau und bei Vollmond noch ganz anders.
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Die Existenz biologisch intersexueller Menschen beweist aber genau das Gegenteil: Geschlecht ist ein angeborenes biologisches Schicksal. Das ist keine Lifestyleentscheidung verwirrter Akademiker.
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Das Bundesverfassungsgericht hat im Oktober 2017 entschieden: Intersexuelle Menschen müssen einen positiven Geschlechtseintrag im Personenstandsregister bekommen können. Die Genderideologen – allen voran Bundesverfassungsrichterin Baer als bekennende Queer-Aktivistin der ersten Stunde – haben auf dieses Urteil sehr lange hingearbeitet.
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Sie hatten und haben nur ein Ziel: Sie wollen die Zweigeschlechtlichkeit grundsätzlich abschaffen, und ihre ideologischen Verbündeten von links bis in das Herz der Union hinein werden das jetzt umsetzen.
Im Grundgesetz gibt es aber nur Männer und Frauen. Es werden zum Teil sogar unterschiedliche Rechtsfolgen daran geknüpft. Die ausgesetzte Wehrpflicht galt nur für Männer, und die Fürsorgepflicht für Frauen als Mütter aus Artikel 6 Grundgesetz gilt nur für Frauen. Das Grundgesetz kennt zwei Geschlechter und nicht viele, und das ist auch gut so.
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Das Urteil ließe sich dennoch schnell, problemlos und vor allem unideologisch umsetzen. Sie benutzen ja die Bezeichnung „divers“ anstatt „inter“. Sie müssten „intersexuell“ sagen; das wäre korrekt. Aber Sie benutzen eben ganz bewusst den Begriff „divers“. Sie öffnen mit diesem Begriff ganz entschieden die Tore für den ganzen genderideologischen Stuss, der da dranhängt. Es geht Ihnen um einen Kreuzzug gegen die Zweigeschlechtlichkeit, um einen Kreuzzug gegen die Biologie und gegen die Natur des Menschen schlechthin.
({4})
Wohin das führt, zeigen die Äußerungen der Regierungsvertreter: Horst Seehofer will Kinder mit 14 Jahren entscheiden lassen, wie sie im Personenstandsregister geführt werden wollen: ob als „Junge“, als „Mädchen“ oder als „divers“. Die sind zu unreif für den Führerschein und dürfen sich kein Bier kaufen, aber sie sollen ihr Geschlecht neu definieren können. Nach Justizministerin Barley geht das natürlich auch schon unter 14 Jahren und auch gegen den Willen der Eltern – klar. Meine Damen und Herren, Geschlecht ist nicht frei wählbar; Herr Barley und Frau Seehofer sind leider gerade nicht da.
({5})
Familienministerin Giffey geht natürlich noch weiter. Sie will ein eigenes Gesetz zur Anerkennung und Stärkung von geschlechtlicher Vielfalt. So einen Gesetzentwurf gab es im letzten Jahr schon von den Grünen. Darin stand: Es lässt sich gar nicht feststellen, ob jemand ein Mann oder eine Frau ist. Deswegen soll es – kein Witz – flächendeckend und wohnortnah bundesweit Geschlechtsidentitätsberatungsstellen geben – natürlich steuerfinanziert.
({6})
Dort können Sie sich dann beraten lassen, was für ein Geschlecht Sie haben wollen – nach dem Motto: Was bin ich, und, wenn ja, wie viele? – Was für ein Irrsinn das alles!
({7})
Hinter der Genderideologie steht ein großer linker Irrweg. Sie setzen den Menschen gegenüber der Schöpfung absolut. Sie wollen Gott spielen.
({8})
Sie halten alles für machbar, formbar und veränderbar. Natürliche Grenzen akzeptieren Sie nicht, natürliche Unterschiede leugnen Sie.
({9})
Ihrem Wahn von Machbarkeit opfern Sie alles. Was Ihnen dabei im Wege ist, wollen Sie zerstören: die angeborene Geschlechtsidentität des Menschen, die Familie, die Tradition, die Kultur.
Wir treten an, um diese Zerstörung gegen Sie alle hier im Haus zu verteidigen.
({10})
Deswegen ist die AfD die einzige konservative Kraft in Deutschland.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Kaiser für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte heute besonders die Menschen begrüßen, die sich für geschlechtliche Selbstbestimmung und Vielfalt in unserem Land einsetzen.
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Unsere Aufgabe als Bundestagsabgeordnete ist es, gute Gesetze zu machen und bestehende Regelungen zu überprüfen und an gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen anzupassen. Beim Thema „geschlechtliche Selbstbestimmung“ sind eine Modernisierung und Liberalisierung seit langem nötig.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits in der vergangenen Legislaturperiode einen Reformentwurf vorgelegt, konnte eine Reform aber nicht durchsetzen. Dass uns nun das Bundesverfassungsgericht auf die Sprünge hilft, sehen wir auch als Auftrag.
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Es ist gut, dass mit dem Gesetzentwurf die Beschränkung von Geschlechtseinträgen im Geburtenregister auf „männlich“ und „weiblich“ beendet und nun ein dritter positiver Eintrag möglich wird. Bei diesem Schritt können wir es aber nicht belassen; denn die Änderungen im Personenstandsrecht müssen im Zusammenhang mit weiteren Gesetzesreformen gesehen werden, um zu wirklicher Selbstbestimmung zu kommen.
Unsere Orientierungspunkte bei dieser Gesetzgebung müssen die Selbstbestimmung und Selbstwahrnehmung der Menschen sein, die sich eben nicht in das Schema „männlich oder weiblich“ pressen lassen. Die SPD-Fraktion möchte diesen Menschen eine Stimme geben. Deshalb prüfen wir die Vorschläge, die aus den Communities kommen, sehr ernsthaft, und wir sind natürlich auch bestrebt, diese umzusetzen.
Für mich ist es schon diskussionswürdig, ob wir nicht gänzlich auf eine Geschlechtseintragung im Personenstandsregister verzichten können. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist dies nicht ausgeschlossen. Wir haben uns neben den Gesprächen zwischen den Berichterstattern der Bundestagsfraktionen jedenfalls vorgenommen, auch viele Betroffene zu hören.
Meine Kolleginnen und Kollegen haben mit dem Konsultationsverfahren schon seit längerem begonnen. Für uns ist jetzt schon klar, dass der Gesetzentwurf noch verbesserungsfähig ist. Vom federführenden Innenministerium hätten wir uns heute einen konstruktiveren Vorschlag und ein umfassenderes Mantelgesetz erwartet.
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Umso mehr möchte ich der Bundesvereinigung Trans*, aber auch den vielen anderen Verbänden und Initiativen für die vielen ausgewogenen und sehr konstruktiven Vorschläge danken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, an zwei Punkten möchte ich kurz aufzeigen, wo wir den Gesetzentwurf verbessern können; denn wie das Verfassungsgericht sehen auch wir Sozialdemokraten, dass die Geschlechtsidentität nicht allein an biologischen Merkmalen festzumachen ist.
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Das führt mich zum ersten Punkt: Die geschlechtliche Identität ergibt sich eben nicht durch eine ärztliche Begutachtung. Sie basiert auf der individuellen Selbstwahrnehmung einer Person. Deshalb ist es dringend erforderlich, eine Alternative zur verpflichtenden Vorlage eines ärztlichen Attestes zu suchen; denn dies an sich ist diskriminierend.
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Die Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung gegenüber dem Standesamt oder eine Fristenregelung halten wir von der SPD aber für praktikabel, juristisch beständig und finanziell deutlich günstiger sowie vor allen Dingen für angemessen. Es wäre absurd, zu glauben, die betroffenen Menschen würden Missbrauch mit einer niedrigschwelligen gesetzlichen Regelung treiben, nachdem sie seit Jahren erhebliche formale Probleme mit Ämtern, Formularen und Beamten hatten.
Erst vor zwei Wochen bekam ich beim CSD in meiner Heimatstadt Gera in persönlichen Gesprächen geschildert, auf welche Schwierigkeiten die Betroffenen in der Gesellschaft überall stoßen. Ein freigewählter Geschlechtseintrag ist für diese Menschen keine Beliebigkeit, sondern endlich Ausdruck von Akzeptanz und Gleichberechtigung.
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Zweitens möchte ich abschließend eine gendergerechte oder einfach respektvollere Sprache anmahnen. Im Gesetzentwurf ist oft von „Geschlechtsentwicklung“ die Rede. Um von der biologischen Betrachtung wegzukommen, schlage ich vor, diesen Begriff gänzlich durch „geschlechtliche Identität“ zu ersetzen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind nur einige wenige, nach meiner Auffassung aber sehr dringende Änderungsvorschläge. Wir haben für den parlamentarischen Diskussionsprozess jetzt sechs Wochen Zeit. Lassen Sie uns interfraktionell und in Konsultation mit den Betroffenen
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eine gute und angemessene gesetzliche Lösung finden.
Herzlichen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat der Abgeordnete Dr. Jens Brandenburg das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man wundert sich bei manchen Äußerungen hier darüber, was für große Probleme manche Abgeordnete mit dem Geschlecht anderer Leute haben.
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Auch die Hasstiraden verstehe ich nicht wirklich. Vielleicht sollte man hier mal ein bisschen Sachlichkeit reinbringen und einfach klarmachen: All das, was wir heute diskutieren, wird für die allermeisten Menschen in diesem Land keine direkte Auswirkung haben,
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es sei denn, sie sind selbst intergeschlechtlich, transsexuell oder Standesbeamte.
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Wir sprechen heute über das Geburtenregister. Dort gibt es die Geschlechtseinträge „männlich“ und „weiblich“, und auf Initiative der FDP damals gibt es seit 2013 auch die Möglichkeit, diesen Geschlechtseintrag offen zu lassen.
Ein Problem ist das weiterhin vor allen Dingen für – vereinfacht gesagt – zwei Personengruppen:
Die erste sind transsexuelle Menschen, also Menschen, deren körperliche Geschlechtsmerkmale mit ihrer geschlechtlichen Identität nicht übereinstimmen. Wissenschaft und höchstrichterliche Rechtsprechung sind sich auch hier einig, dass die Bestimmung der geschlechtlichen Identität etwas ist, was mehr zwischen den Ohren als zwischen den Beinen stattfindet.
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Für diese transsexuellen Menschen gibt es nach dem Transsexuellengesetz ein Verfahren zur Korrektur des Geschlechtseintrags im Geburtenregister. Das ist ein sehr aufwendiges und demütigendes Verfahren. Sie brauchen dafür zwei unabhängige Gutachten, laufen dann gewissermaßen durch eine Art psychologisches Screening und müssen ihre geschlechtliche Identität am Ende vor dem Amtsrichter rechtfertigen.
Die zweite Personengruppe sind – vereinfacht gesagt – intergeschlechtliche Menschen, also Menschen, deren körperliche Geschlechtsmerkmale – das können innere oder äußere Geschlechtsmerkmale, Chromosomen oder beispielsweise auch Hormone sein – nicht eindeutig den beiden Hauptkategorien „männlich“ oder „weiblich“ zuzuordnen sind. Und um auch das klar zu sagen: Das ist an dieser Stelle nicht zwangsläufig eine Krankheit.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns als Parlament ausdrücklich den Auftrag gegeben, wieder einen grundgesetzkonformen Rechtszustand herzustellen, indem es gesagt hat: Solange dieser Geschlechtseintrag erhoben wird, muss eine positive dritte Option für diese Menschen möglich sein.
Das, was Sie – da der Minister Seehofer gerade Besseres zu tun hat, spreche ich mal den Staatssekretär an – seitens des Innenministeriums hier vorlegen, ist nichts anderes als eine Schmalspurlösung dessen, was rechtlich ohnehin notwendig ist. Sie hatten genug Zeit – auch mit Blick auf die Union –, im Ministerium etwas Umfangreicheres vorzubereiten.
Sie handeln hier nicht aus Überzeugung, sondern als Getriebene des Bundesverfassungsgerichts.
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Sie versäumen die große Chance auf eine umfassende Reform, die die Korrektur des Geschlechtseintrags nicht allein auf medizinisch anerkannte intergeschlechtliche Menschen reduziert, und Sie wiederholen die Fehler des Transsexuellengesetzes, indem Sie an dieser Stelle erneut auf externe Begutachtungen und Atteste verweisen. Das ist kein Respekt vor geschlechtlicher Vielfalt, sondern das ist eine Gängelung trans- und intersexueller Menschen.
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Mit Blick auf die SPD muss ich sagen: Frau Giffey – Frau Giffey ist ebenso wie Frau Barley jetzt nicht hier – hat in der CSD-Saison mehrfach unter Applaus versprochen, dass sie einen solchen Regierungsentwurf nicht mittragen würde. Sie hat nicht nur die Bezeichnung kritisiert, sondern ausdrücklich auch die Gutachtenfrage. Jetzt steht sie im Gesetzentwurf, und die SPD trägt diesen zumindest in der Regierung mit und hat somit die inter- und transgeschlechtlichen Menschen in diesem Land im Stich gelassen.
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Jetzt wird eine große Reform des Transsexuellengesetzes hier angekündigt. Ich habe die herzliche Bitte an die SPD: Machen Sie spätestens in der Ausschussberatung der Union Dampf in der Sache, und lassen Sie sich nicht erneut über den Tisch ziehen!
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Wir brauchen jetzt fraktionsübergreifend eine umfassende Lösung, die geschlechtliche Vielfalt respektiert und geschlechtliche Selbstbestimmung für alle Menschen schafft.
Mit Blick auf den nicht anwesenden Herrn Seehofer sage ich an der Stelle: Es ist höchste Zeit, dass geschlechtliche Vielfalt, trans- und intergeschlechtliche Menschen auch in Ihrem Ministerium eine Heimat finden.
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Das Wort hat die Abgeordnete Doris Achelwilm für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Anwesende! Vor einem Jahr hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass ein Personenstandsrecht, das nur die zwei Geschlechter – männlich und weiblich – kennt, nicht verfassungsgemäß ist. Was bedeutet das? Einerseits eine Formalie, die für die meisten keinen Aufwand oder Unterschied macht – wir haben es gerade gehört – und andererseits eben eine Menge.
Die dritte Option ist tatsächlich eine kleine Revolution – da kann man sich schon mal aufregen, wenn man nicht dafür ist – und ein phänomenaler Erfolg für alle Menschen und Verbände, die sehr lange und ausdauernd gegen die zweigeschlechtliche Gesellschaftsnorm argumentiert, geklagt und Öffentlichkeit organisiert haben. Ich danke allen Beteiligten für diesen durchaus historischen Moment, dass wir heute erstmals im Bundestag darüber reden, wie dieser geschlechterrechtliche Meilenstein denn jetzt umgesetzt werden soll.
Es geht um Menschenrechte, um Vielfalt und um die überfällige Selbstbestimmung für alle. Umso bedauerlicher ist, dass die Bundesregierung die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes sehr eng auslegt und dabei alte Fehler neu kombiniert. Medizinische Diagnosen und Attestvorschriften sind weiter vorgesehen, während Fragen der Selbstaussage keine Rolle spielen – leider. Es wird weiter vorausgesetzt, dass Körperlichkeit und Selbstwahrnehmung des persönlichen Geschlechtes identisch sind oder sein sollen. Diese Logiken, die dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zugrunde liegen, entsprechen nicht der Realität und entsprechen auch nicht den Logiken des Bundesverfassungsgerichtes. Das zählt ausdrücklich auch Geschlechtsidentitäten zum Regelungsrahmen. Es ist eine durchaus gute Sache, wenn man noch weitergehen will, als es der kleine Vorschlag zur dritten Option beinhaltet.
Ein auf Selbstbestimmung basierendes Konzept ist der verfassungs- und menschenrechtskonforme Weg. Die leidvolle Geschichte medizinisch-psychiatrischer Zwangsgutachten und Gerichtsverfahren muss hingegen aufhören. Wir zählen 2018 und nicht Neunzehnhundertirgendwas. Dass Menschen, die ihr Geschlecht anders leben wollen, als es ihnen von außen zugestanden wird, sich durch Dritte pedantisch überprüfen und pathologisieren lassen müssen, ist einfach nicht zumutbar.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben durch die Frist bis zum Jahresende nicht viel Zeit. Aber wir haben Zeit genug, um das schikanöse Verfahren zur Personenstandsänderung zu einem einfachen Verwaltungsvorgang zu machen. Die Selbstauskunft der Bürgerinnen und Bürger bei der Antragstellung im Standesamt genügt. Das zu beschließen, sollte drin sein, zumal es kaum etwas kostet, sondern – im Gegenteil – viel Zeit, Geld und Unannehmlichkeiten spart.
Aufseiten der Bundesregierung wurde das schon erkannt – etwa in den Berichten der Interministeriellen Arbeitsgruppe „Inter- und Transsexualität“, die von 2014 bis 2017 unter Federführung des Bundesfamilienministeriums eingesetzt war. Dass diese Ergebnisse sich nun so wenig im Gesetzentwurf des Innenministeriums wiederfinden, ist aus unserer Sicht ein großes Versäumnis.
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Als Fraktion Die Linke fordern wir, dass Geschlechter nicht länger zwischen den Polen normal und behandlungsbedürftig abgestuft werden. Wir fordern, dass Operation und Hormonbehandlung an intergeschlechtlichen Kindern nicht länger von Medizinern oder Eltern verfügt werden können, wenn es nicht existenziell nötig ist.
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Solch ein OP-Verbot steht übrigens auch im Koalitionsvertrag. Da fragt man sich schon, warum es in diesem Kontext nicht eingebracht wird.
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Was uns noch wichtig ist, haben wir als Linksfraktion in unseren Antrag hineingeschrieben. Einen Punkt will ich zum Schluss noch herausstellen. Gleichbehandlung im Kontext geschlechtlicher Selbstbestimmung heißt eben auch – das ist hier schon mehrfach angesprochen worden –, dass wir mit der Änderung des Personenstandsgesetzes das sogenannte Transsexuellengesetz, das TSG, streichen müssen, und das nicht irgendwann, sondern am besten jetzt gleich.
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Es pathologisiert und es ist nach etlichen Gerichtsurteilen – auch das muss man sagen – ohnehin nur noch eine Ruine. Das Offenbarungsverbot aus dem alten TSG wollen wir zum Schutz vor Diskriminierung ins Personenstandsrecht übernehmen und auch ausbauen.
In diesem Sinne lade ich Sie herzlich ein, unseren Antrag auf geschlechtliche Selbstbestimmung zu unterstützen. Ich hoffe sehr, dass es gelingt, einen substanziell geänderten Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Abgeordnete Sven Lehmann das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Abgeordnete! Da Minister Seehofer es leider nicht für nötig hält, an dieser Debatte teilzunehmen – vielleicht ist ihm das Gesetz peinlich, man weiß es nicht; dieses Gesetz kann einem auch peinlich sein –, möchte ich mich direkt an Sie als Abgeordnete der Koalitionsfraktionen wenden. Haben Sie schon einmal in Ihrem Leben mit einem ärztlichen Attest nachgewiesen, dass Sie wirklich Mann oder Frau sind? Haben Sie dazu einen Nachweis über Ihren Hormonspiegel vorlegen müssen oder vielleicht ein psychologisches Gutachten? Was für absurde Fragen, mögen Sie jetzt denken. Aber das ist genau das, was Menschen in diesem Land passiert und was die Bundesregierung in ihrem heutigen Gesetzentwurf festschreibt. Damit muss endlich Schluss sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Das Bundesverfassungsgericht hat heute vor einem Jahr ein wegweisendes Urteil gesprochen. Sie erfüllen den Auftrag dieses Urteils aber nicht, Sie schaffen neue Probleme. Das oberste Gericht hat klar zum Ausdruck gebracht: Die Spezies Mensch besteht aus mehr als aus Mann und Frau. – Es ist übrigens schnurzpiepe, wie das Frau von Storch sieht; das ist die Realität.
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Die Realität besteht aus geschlechtlicher Vielfalt. Jeder Mensch hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und auf Schutz seiner Würde und seiner Grundrechte. Geschlechtliche Identität ist dabei ein zentraler Aspekt der eigenen Persönlichkeit. Dieses Urteil ist ein Verdienst von Vanja und dem Team der „Dritten Option“. Ihnen möchte ich an dieser Stelle von Herzen zu diesem großen Erfolg für unsere Grundrechte danken.
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Was macht jetzt die Bundesregierung daraus? Sie legt einen Gesetzentwurf vor. Die Enttäuschung bei allen, die große Hoffnung in dieses Urteil gesetzt haben, ist groß. Für den neuen Geschlechtseintrag „divers“ legt die Regierung Bedingungen fest, unter anderem die Bedingung, ein ärztliches Attest vorzulegen. Und sie beschränkt ihr Gesetz auf Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. Wissen Sie eigentlich, was das in der Praxis bedeutet? Das bedeutet, dass Menschen künftig ihren Körper, ihre Geschlechtsorgane, ihren Hormonspiegel von Ärztinnen und Ärzten begutachten lassen müssen, bloß um eine Urkunde zu ändern. Damit pathologisieren und bevormunden Sie intersexuelle Menschen.
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In Deutschland werden sogar an gesunden Säuglingen und Kindern unumkehrbare geschlechtszuweisende Operationen vorgenommen. Diese Operationen gehören verboten.
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Intersexuelle sind nicht krank. Krank ist ein System, das Menschen in zwei Schubladen pressen will, wo sie einfach nicht hingehören.
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Deutschland ist bei der Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt leider ein Entwicklungsland. Wie bei so vielen Themen sind viele Länder in Europa da weiter. Jetzt bestünde die große Chance, im Zuge des Urteils auch das entwürdigende und bevormundende Transsexuellengesetz endlich zu überwinden. Es bestünde die Chance, ein Gesetz zur Anerkennung der Geschlechtervielfalt auf den Weg zu bringen, so wie es das Deutsche Institut für Menschrechte, viele Juristinnen und Juristen, Ärztinnen und Ärzte und quasi alle Verbände fordern.
Kollege Lehmann, ich habe die Uhr angehalten, damit Sie Ihre übrige Redezeit noch ausschöpfen können. Ich bitte Sie, unseren Regeln entsprechend auf eine Demonstration in Gestalt eines T-Shirts zu verzichten und Ihre Jacke zu schließen.
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Ich kann die Jacke gerne schließen. Aber das ist kein politisches Symbol, sondern es ist das Symbol für geschlechtliche Vielfalt. Und darum geht es in dieser Debatte.
Ich weiß das. Wir haben aber Regeln, was das Zeigen von Symbolen betrifft.
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Ich bitte Sie, Ihre Rede nun fortzusetzen.
Ich kann die Jacke nicht vollständig schließen. Man sieht das Symbol zum Teil trotzdem noch. Ich setze die Rede daher so fort.
Die Welt gerät nicht aus den Fugen, wenn wir als Gesetzgeber endlich anerkennen, dass Menschen selber über ihren Geschlechtseintrag entscheiden können. Im Gegenteil: Wir würden damit den Druck von Eltern nehmen, ihr Kind in ein Rosa-Blau-Schema zu pressen, in das es nicht passt und in dem es auch nicht glücklich werden kann.
Am Samstag endet vor dem Kanzleramt die Aktion „Standesamt 2018“, bei der Hunderte Menschen in den letzten Wochen einen selbstbestimmten Geschlechtseintrag in Standesämtern beantragt haben. Ich selber war in dieser Woche in Köln dabei. Das war ein sehr emotionaler Moment nicht nur für mich, sondern für sehr viele Menschen. Diese Menschen fordern das ein, was ihr gutes Recht ist, nämlich das Recht, über ihr Geschlecht selber zu bestimmen.
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Dieses Recht wird ihnen bis heute vorenthalten. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ändert daran leider gar nichts. Wir Grüne werden uns im parlamentarischen Verfahren sehr dafür einsetzen, dass der Gesetzentwurf an den entscheidenden Stellen geändert wird. Ich nehme die SPD ernst und gehe davon aus, dass es Veränderungen geben wird; das finde ich sehr gut. Wir setzen auf konstruktive Beratungen.
Letzter Satz. Über seinen Körper, seine Sexualität und sein Geschlecht kann es nur einen geben, der darüber bestimmt, nämlich jeder Mensch selber.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat die Abgeordnete Bettina M. Wiesmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gern zur Sache zurückkommen und vorab sagen: Wir spielen hier nicht Gott. Es geht auch nicht um Rosa-Blau-Schemata, sondern um eine ernsthaft zu diskutierende Angelegenheit. Vor knapp fünf Jahren beantragte eine Person namens Vanja die Berichtigung ihres Geburtseintrags, nach dem sie weiblichen Geschlechts war. Bei der vorgelegten Chromosomenanalyse hatte sich herausgestellt, dass sie, die Person, keinen eindeutig weiblichen Chromosomensatz besitzt. Sie wollte deshalb als Geschlechtsangabe „inter/divers“, ersatzweise nur „divers“ in das Geburtsregister eintragen lassen. Das Standesamt lehnte diese Eintragung ab, da nach Rechtslage nur „männlich“, „weiblich“ oder nichts eingetragen werden konnte. Dieser Zustand ist nicht gut. Ein Mensch wie du und ich, aber ohne Geschlecht – weil die Merkmale, die vorgesehen sind, nicht richtig sind –, das geht nicht. Jeder Mensch hat ein Geschlecht, auch wenn sich der Chromosomensatz von 99 Prozent der Bevölkerung unterscheidet. So vielfältig ist die Natur, und so ist es gut.
So hat auch das Bundesverfassungsgericht vor einem Jahr geurteilt und dem Bundestag aufgetragen – darauf haben schon viele hingewiesen –, das Personenstandsgesetz bis Ende dieses Jahres zu ändern. Das tun wir jetzt. Mit dem Gesetz, dessen Entwurf eingebracht wurde, können alle Menschen – auch diejenigen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung – einen positiven Eintrag erhalten. Sie können den Eintrag ändern lassen, wenn sich ihre Variante erst im Laufe des Lebens herausstellt. Sie können auch ihren Namen ändern lassen. Die gewählte Bezeichnung „divers“ grenzt nicht ab und nicht aus, sondern beschreibt wertfrei die Vielfalt. So weit, so gut.
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Was sind die Kritikpunkte? Als Erstes wird kritisiert, dass der Nachweis der Geschlechtlichkeit durch Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung erfolgen soll. In der Begründung des Gesetzentwurfs wird präzisiert, dass es hier nicht um eine genaue Diagnose geht. In der Regel ist Intersexualität – anders als Transsexualität – tatsächlich durch eine einfache Blutuntersuchung feststellbar. Dennoch ist dieser Punkt für Menschen, die möglicherweise häufig und unangenehme Kontakte mit Ärzten hatten, schwer hinzunehmen; das ist schon zur Sprache gekommen. Dafür habe ich auch Verständnis. Ich sehe hier einen Punkt, über den noch gesprochen werden sollte,
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und zwar differenziert nach den Situationen, in denen ein Eintrag vorgenommen oder geändert werden soll.
Zweiter Kritikpunkt sind die geschlechtsangleichenden Operationen, die von manchen Eltern an intersexuellen Kindern veranlasst oder geduldet werden. Dies schafft Tatsachen, ohne dass das Kind sein Empfinden äußern konnte, und zieht häufig enormes Leid der Betroffenen nach sich. Hier muss etwas geschehen. Deshalb steht die entsprechende Änderung im Koalitionsvertrag und auf der aktuellen Agenda dieser Koalition.
Drittens. Es gibt Vorhaltungen seitens transsexueller Menschen und ihrer Vertreter, dass die Regelung ihrer Anliegen, vor allem die Beendigung doppelter psychiatrischer Gutachten, in diesem Gesetzentwurf gar nicht vorgesehen sei. Dazu muss gesagt werden: Es geht um einen formell-rechtlichen Auftrag des Bundesverfassungsgerichts, den wir zeitnah erfüllen müssen und so auch erfüllen können. Das materiell-rechtliche Gesetzesvorhaben, um Diskriminierungen von Homo‑, Inter- und Transsexuellen entgegenzuwirken – genauso wie es im Koalitionsvertrag steht –, ist ein größeres Projekt, an dem die Bundesregierung bereits arbeitet. Der heute von den Linken eingebrachte Antrag erledigt sich damit vom Verfahren her. Die Bundesregierung ist dran, und Sie – genauso wie wir – werden das Verfahren begleiten.
Für die unmittelbar vor uns liegenden Beratungen bin ich mir in einem Punkt sicher: Den Geschlechtseintrag in das Geburtenregister brauchen wir – das wurde schon gesagt –, weil eine Vielzahl von Regelungen und Ansprüchen darauf basiert. Über die weiterreichenden Fragen sollte bald diskutiert werden. Ich will besonders die Fragen im Zusammenhang mit der Operation am Geschlecht des Kindes hervorheben: Was ist zulässig? Was ist medizinisch notwendig? Wie werden Bevormundungen sowohl der Kinder bzw. der Heranwachsenden als auch der Eltern durch Ärzte vermieden?
Letzter Punkt. Wie kann Geschlechtlichkeit bestimmt werden? Vielleicht ist auch eine professionelle Beratung, welche über Möglichkeiten und Konsequenzen einer veränderten Geschlechtszuordnung informiert, eine gute Lösung.
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Zum Schluss. Nachdem wir heute Morgen ausführlich über Familienentlastungen in der Breite gesprochen haben, bin ich froh, dass wir uns genauso der Anliegen derjenigen annehmen, die ein spezielleres Schicksal haben, die nicht sehr zahlreich, aber genauso wichtig sind und die selbstverständlich und respektiert in der Mitte unserer Gesellschaft leben wollen und leben sollen. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Susann Rüthrich für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Speziell liebe Kolleginnen! Sind Sie Mutter? Dann kennen Sie bestimmt die Frage: Na, was wird es denn? „Ein Kind“ ist nicht die Antwort, die die Fragenden zufriedenstellt. Denn sobald ein Mensch entsteht, wird er einsortiert: Junge oder Mädchen? Es werden aber Kinder geboren, die nicht in diese Schublade passen. In Übereinstimmung mit sich und der Gesellschaft zu leben, ermöglichen wir den Betreffenden dadurch, dass das Geschlecht mit „divers“ zu benennen ist oder dass sie ändern können, was einmal in das Geburtenregister eingetragen wurde. Was jetzt vorliegt, ist der Mindeststandard, auf den uns das Urteil des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet. Das setzen wir jetzt um. Wir fordern aber Korrekturen.
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Warum sollen Menschen für den Eintrag „divers“ ärztliche Atteste einreichen? Muss das jemand, die oder der als Mädchen oder Junge geboren und aufgewachsen ist? Nein, nur die Intermenschen sollen sich einer ärztlichen Prozedur unterziehen, genauso wie die Transmenschen psychologische Gutachten vorweisen müssen. Sie sind aber nicht krank.
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Eine eidesstattliche Versicherung oder meinetwegen eine Beratungslösung wären stigmatisierungsfrei und selbstbestimmt; denn die Menschen suchen sich nicht aus, ob sie inter oder trans sind. Sie wissen, dass sie es sind. Das müssen ihnen keine Ärztin und kein Arzt erst attestieren.
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Das räumt ein weiteres Problem aus dem Weg. Das Urteil bezieht sich auf den Schutz der geschlechtlichen Identität. Der Gesetzentwurf zielt aber auf die körperlichen Merkmale. Geschlechtsidentität ist aber mehr als die Frage, wie genau die Geschlechtsorgane ausgeprägt sind. Wir sollten also im Gesetz geschlechtliche Identität benennen. Wichtig ist außerdem, dass durch unser Gesetz kein Zwang zur Offenbarung entsteht. Heißen sollte es: Es kann der Geschlechtseintrag „divers“ gewählt werden.
War es das dann, was wir zu tun haben? Nein, bei weitem nicht. Jahr für Jahr werden Neugeborene operiert, um ihr äußeres Erscheinungsbild einem der beiden Geschlechter, männlich oder weiblich, anzupassen. Ein solcher Eingriff lässt sich nicht rückgängig machen. Die Babys können nicht gefragt werden, wie sie selbst leben wollen. Sie müssen aber dann ihr Leben lang mit der Entscheidung der Eltern sowie der Ärztinnen und Ärzte leben. Deswegen brauchen wir umgehend ein Operationsverbot für diese Kinder.
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Sie sollen dann, wenn sie es können und wenn sie bereit dazu sind, selbst über ihren Körper entscheiden. Die Eltern sind aber vor der Geburt ihres Kindes auf Junge oder Mädchen geprägt. Wir können sie damit nicht alleine lassen. Das Bundesfamilienministerium gibt deshalb einen Flyer heraus, in dem steht: Sie haben ein Kind bekommen? Herzlichen Glückwunsch! – Das ist im Übrigen die einzig angemessene Reaktion auf die Geburt eines jeden Kindes.
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Weiter heißt es: Es ist inter, und hier können Sie sich beraten lassen. – Dafür muss es aber auch Beratung überall in Deutschland geben,
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auch für Menschen wie die Mutter, die bei uns in der Kinderkommission berichtete, dass ihrem Kind schon mit drei, vier Jahren ganz klar war: Mama, warum nennst du mich denn einen Jungen? Das bin ich doch gar nicht. Ich bin ein Mädchen. – Transmenschen wissen zumeist von sich selbst sehr genau, wer sie sind. Lassen Sie uns deshalb das Transsexuellengesetz durch ein selbstbestimmtes Personenstandsrecht ersetzen.
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Und: An dem transfeindlichen Übergriff in Leipzig haben wir beispielhaft gesehen, dass ein solcher Übergriff, obwohl das Tatmotiv eindeutig war, nur als Körperverletzung aufgenommen wurde und nicht strafverschärfend als Hassverbrechen. Das kann nicht so bleiben, wenn wir die Bedrohung abbauen wollen, der die Betroffenen ausgesetzt sind.
Und, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir müssen auch die gesellschaftliche Wahrnehmung und Akzeptanz erhöhen: in den Medien, in den Büchern, in der Bildung.
Wir als SPD wollen, dass alle Menschen in unserer Gesellschaft ihren Platz finden und sich frei entfalten können. Dieses Gesetz ist ein Schritt in diese Richtung.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über 150 000 Menschen in Deutschland leben mit einer Variante der Geschlechtsidentität, und für alle diese Menschen ist heute ein wichtiger Tag, weil sie wertgeschätzt werden in ihrer Identität und weil wir durch den Gesetzentwurf Akzeptanz für ihre Selbstbestimmung zum Ausdruck bringen.
({0})
Es geht nicht um Genderideologie, sondern es geht um die Verwirklichung von Grundrechten, und es geht um den Schutz vor Diskriminierung in unserem Land.
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Es ist viel davon gesprochen worden, dass es um das sogenannte dritte Geschlecht gehe. Das ist eigentlich ein falscher Begriff. Der Gesetzentwurf erschöpft sich nicht in einem dritten Geschlecht, sondern es geht um die Anerkennung von Vielfalt und darum, dass Menschen sich im Personenstandsregister nicht diskriminieren lassen müssen. Es geht um die Verwirklichung von Grundrechten.
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Wenn man das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ansieht, werden zwei Dinge augenfällig: Zum Ersten sagt das Gericht ganz klar, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch dann die geschlechtliche Identität schützt, wenn sich jemand nicht eindeutig zuordnen kann oder möchte. Zum Zweiten sagt das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes, dass jeder Mensch, gerade auch dann, wenn er sich nicht eindeutig zuordnen kann, einen Anspruch auf einen positiven Eintrag im Personenstandsregister hat, weil jeder Mensch aus seiner Würde heraus das Recht hat, sich benennen zu lassen. Er muss sich nicht als Mann oder Frau bezeichnen lassen oder muss die Angabe einfach weglassen, wenn er das anders fühlt. Das müssen wir ganz deutlich zum Ausdruck bringen.
({3})
Jetzt sagt das Urteil des Verfassungsgerichts natürlich nicht, dass jeder die Möglichkeit hat, sich so zu bezeichnen, wie er das gern hätte. Das Personenstandsregister hat eine gewisse Ordnungsfunktion. Vor dem Hintergrund ist es richtig, dass wir uns auf den Begriff „divers“ verständigt haben. Ich glaube, der Begriff „anders“ wäre nicht erschöpfend gewesen.
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Bei „anders“ schwingt immer mit: Das sind die einen, und das sind die anderen. – Bei „inter“ ist das einfach irgendwie dazwischen.
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Nein, wir sollten Menschen in ihrer Vielfältigkeit anerkennen, und gerade weil es diese Vielfalt gibt, muss das auch im Personenstandsregister zum Ausdruck kommen. Deswegen ist der Begriff „divers“ der richtige, und wir sollten daran festhalten.
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Und, ja, wir müssen auch über die Frage des Nachweises sprechen. Der Gesetzentwurf sieht die Pflicht zur Beibringung eines ärztlichen Attests vor. Ich glaube, dass wir darüber noch mal sprechen müssen.
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Ich glaube, dass wir darüber sprechen müssen, ob die Beibringung eines Attests nicht irgendwie auch belastend sein kann in Situationen, wo Menschen gerade ihre eigene Identität irgendwie untersuchen müssen. Vielleicht ist die Beratungslösung oder die Glaubhaftmachung, wie in vielen anderen Bereichen des Personenstandswesens übrigens auch, eine Lösung, die zu einer befriedenden Situation beitragen kann. Darüber sollten wir reden.
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Kollege Ullrich, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung von Frau von Storch?
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Wir haben, glaube ich, gerade schon gehört, wohin es in den Beratungen geht: Die medizinische Indikation wird möglicherweise kassiert. Wenn am Ende nach einer Beratung ein biologischer Mann sich als Frau eintragen lässt, darf er dann an Sportwettbewerben als Frau teilnehmen?
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Frau von Storch, das ist eine Frage, die der Ernsthaftigkeit des Themas nicht gerecht wird.
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Es geht darum, dass Menschen ihren Platz in der Gesellschaft suchen,
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gerade weil sie eine verschiedene Geschlechtsidentität haben. Es geht hier um Wertschätzung, Akzeptanz und Würde und nicht um eine herablassende Frage.
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Damit bin ich auch bei meiner abschließenden Bewertung. Wir müssen über weitere Punkte diskutieren – jenseits dieses Gesetzentwurfs. Wir müssen sprechen über Varianten im Abstammungsrecht. Wir müssen sprechen über die Frage des Operationsverbots. Aber diese Gesellschaft muss sich insgesamt auch klar darüber sein, dass wir nicht dulden, dass Menschen angefeindet werden, weil sie trans- oder intersexuell sind.
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Wir müssen klar und deutlich sagen, dass diese Gesellschaft in Würde zu den Menschen steht, die eine andere Identität haben. Ich glaube, das ist auch der Kern, um den es bei dieser Frage geht.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/4669 und 19/4828 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Frau Präsidentin! Werte Kollegen und Kolleginnen! In Kamerun ist seit zwei Jahren eine Gewaltspirale in Gang, die inzwischen zu einer Bürgerkriegssituation geführt hat. Ich muss hier nicht erklären, was „Bürgerkrieg“ für die Menschen dort bedeutet.
Ursachen hierfür sind völlig irrationale Entscheidungen der kamerunischen Regierung, die darauf abzielten, das Schul- und Rechtssystem, das Ausbildungssystem englischer Prägung aufzulösen. Es wurden nur noch Professoren, Lehrer und Juristen neu zugelassen, die nach dem frankofonen System ausgebildet worden waren, und das Ergebnis war ein völliger Stillstand in Schulen, Universitäten und Gerichten. Viele Kinder gehen jetzt seit über zwei Jahren nicht mehr zur Schule.
Es folgten friedliche Proteste, die von Polizeieinheiten brutal niedergeknüppelt wurden; es wurde aber auch geschossen. Dadurch wurde der friedliche Protest merkwürdigerweise stärker. Dann griff das Militär ein und richtete ein Blutbad nach dem anderen an. Dörfer wurden niedergebrannt; Vergewaltigungen, willkürliche Verhaftungen folgten, Folter, öffentliche Hinrichtungen. Ich nenne das „Staatsterrorismus“.
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Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Es bildeten sich bewaffnete Milizen zur Verteidigung, die aber auch Angriffe auf Militär- und Polizeistationen ausführten und zum Teil auch die eigene Bevölkerung bedrohten. Inzwischen sind mehr als 4 000 Menschen ums Leben gekommen. Mehr als 340 000 Menschen sind auf der Flucht. Sie verstecken sich in Wäldern, versuchen, über die Grenze ins Nachbarland zu kommen. Die Agrarproduktion ist zum Erliegen gekommen, und damit ist der Hunger auf dem Vormarsch. Eine medizinische Versorgung gibt es auch nicht. Und – was für uns wichtig ist –: Die Krise war absehbar. Die Warnsignale waren zahlreich und deutlich. In den Medien konnte man die Verschlechterung der Lage in Kamerun quasi live miterleben.
Das Beispiel Kamerun zeigt, dass die von der Kanzlerin beschworene neue deutsche globale Verantwortung hier offensichtlich keine Rolle spielte, sondern sich tatsächlich nur auf militärisches Engagement reduziert. Einem solchen verstümmelten Verantwortungsbegriff verweigern wir die Zustimmung.
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Verantwortungsübernahme bedeutet, rechtzeitig mit zivilen, diplomatischen, ökonomischen Mitteln einzugreifen, anstatt ein Land wie Kamerun sehenden Auges in den Abgrund stürzen zu lassen.
Genau für solche Fälle hat Rot-Grün 2004 den Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“ auf den Weg gebracht. Seitdem reden die Nachfolgeregierungen viel davon, allerdings tun sie nichts Konkretes. Seit langem machen wir die Bundesregierung auf die Entwicklung in Kamerun aufmerksam. Die Antworten auf unsere Fragen waren schon ernüchternd; sie waren verharmlosend: „kein Problem in Sicht“, „unbedeutende Konflikte“, während wir tagtäglich Katastrophenmeldungen aus Kamerun erhielten. Das nenne ich ein Versagen der Regierung.
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Aber das Versagen geht über diese politische Ignoranz noch hinaus. Die Bundesregierung plant, mit dem Regime Waffenlieferungen zu vereinbaren und Militärausbildungen voranzubringen. Das halten wir für völlig indiskutabel.
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– Das ist geplant, das stimmt schon.
Die Passivität der Bundesregierung ist schier nicht zu ertragen. Deshalb haben wir diesen Antrag eingebracht. Ich fordere Sie auf: Setzen Sie sich endlich für ein Ende der Gewalt in Kamerun ein! Überzeugen Sie Präsident Macron und andere europäische Partner davon, gemeinsam im Konflikt zu vermitteln. Machen Sie dem Biya-Regime deutlich, dass die deutschen Entwicklungsgelder in Zukunft nur noch in die Zivilgesellschaft fließen werden. Und sehen Sie davon ab, die Streitkräfte auszurüsten und auszubilden.
Der Point of no Return, also der Punkt, an dem der Krieg nicht mehr zu beeinflussen ist, ist noch nicht erreicht. Aber: Damit er auch nicht erreicht wird, ist es absolut notwendig, dass die Bundesregierung und Europa heute handeln. Tun Sie es endlich!
Danke schön.
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Der Kollege Thorsten Frei ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
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Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An der Situation in Kamerun ist in der Tat nichts zu beschönigen. Man kann im Grunde genommen sagen, dass dort drei Konflikte und Herausforderungen übereinanderliegen: zum einen der islamistische Terrorismus von Boko Haram im extremen Norden, zum anderen – darüber hatte Herr Kekeritz gesprochen – die Sezessionsbestrebungen im Westen, im anglofonen Teil des Landes. Und ich will eine dritte Ebene hinzufügen: Das ist etwas, was man vielleicht unter „schlechte Regierungsführung“ zusammenfassen kann.
Wir haben hier die Situation, dass sich ein greiser Präsident am vergangenen Sonntag zum siebten Mal um die Präsidentschaft beworben hat und diese nach den Erfahrungen der Vergangenheit wahrscheinlich auch gewinnen wird. Er hat seit 1982 das Land mit Nepotismus, Vetternwirtschaft, Korruption fest im Griff und letztlich dafür gesorgt, dass die Spaltung zwischen anglofoner Minderheit und frankofoner Mehrheit immer weiter vorangetrieben wurde.
Dieser Komplex aus drei sich überlagernden Schwierigkeiten und Herausforderungen macht die Situation in Kamerun so schwierig und so anspruchsvoll.
Die Folgen, die daraus entstehen, treffen uns natürlich unmittelbar. Denken Sie etwa an die Migrationsströme, die daraus folgen: allein in Kamerun etwa 300 000 Binnenflüchtlinge, etwa 30 000 Flüchtlinge im Nachbarland Nigeria. All das führt letztlich auch zur Destabilisierung im Land. Und eine Destabilisierung in Kamerun bedeutet immer gleich auch Destabilisierung in der Region.
Kamerun hat sechs Nachbarländer. Es ist sozusagen ein politisches Scharnier zwischen Süd- und Nordafrika. Deshalb sind die Auswirkungen, die wir dort erleben, so markant. Im Übrigen kann man in Kamerun auch sehen, dass sich ein solches Land sehr schnell von einem Stabilitätsanker – immerhin ist es gelungen, die Arbeitslosigkeit in zwölf Jahren von 30 auf 5 Prozent zu reduzieren und eine verhältnismäßig stabile Wirtschaft zu etablieren – hin zu einem Problemfall entwickeln kann. Deshalb ist es in der Tat richtig, mit Präventionsmaßnahmen darauf zu reagieren. Das würde ich auch sagen; das ist der richtige Ansatz. Prävention ist richtig, zivile Krisenprävention ist genauso wichtig.
Aber, lieber Herr Kekeritz, ich will Ihnen zwei Dinge sagen. Erstens sind Ihre Ausführungen über die Ausstattungshilfe für die Streitkräfte dort falsch, weil Sie zum einen ganz genau wissen, dass dort keine Hilfe mit Waffen und Munition geleistet wird. Zum Zweiten ist jede weitere Tranche dieser Sicherheitspartnerschaft bis zu einer Überprüfung der Situation ausgesetzt. Das bedeutet im Klartext: Derzeit gibt es keine Ausstattungshilfe für die kamerunischen Streitkräfte.
Ich will noch ein Weiteres ansprechen: Ja, es stimmt: 2004 ist der Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“ aufs Gleis gesetzt worden; das ist richtig. Aber seit 2005 haben wir CDU-geführte Bundesregierungen, haben wir eine Bundeskanzlerin Angela Merkel. Und dann gehört zur Wahrheit eben auch dazu, dass die Mittel für zivile Krisenprävention seit dem Jahr 2005 um das 25-Fache gestiegen sind. Also, in diesem Augenblick davon zu sprechen, dass nachfolgende Regierungen in diesem Bereich nichts mehr gemacht hätten, ist schlichtweg absurd.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde, in den Ansätzen, die in den Anträgen von FDP und Grünen formuliert sind, ist sehr viel Kluges, beispielsweise dass man schaut: „Wohin gehen denn die Gelder der Entwicklungspolitik?“, dass man eine Konditionierung schafft, dass man versucht, inklusive Prozesse zu befördern, und auch, dass feindliche Parteien miteinander in den Dialog treten.
Aber Tatsache ist eben auch: Vieles in diesem Bereich passiert schon. Der Afrika-Beauftragte der Bundesregierung war Anfang des Jahres dort.
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Wir haben versucht, im UN-Menschenrechtsrat mittels einer Rüge entsprechend tätig zu werden. Die Botschaft in Kamerun ist tätig. Wir versuchen vor allen Dingen, auch die afrikanischen Regionalorganisationen mit ins Boot zu holen, allen voran die Afrikanische Union. Das ist der richtige Ansprechpartner an dieser Stelle. Diese Bemühungen müssen weitergehen; das ist überhaupt keine Frage.
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Ich gebe im Übrigen gerne zu: Zivile Krisenprävention ist wichtig, und der Fall Kamerun lehrt uns vielleicht auch etwas für die Zukunft: dass es nämlich nicht nur um Geld geht – darüber habe ich mit Blick auf die zivile Krisenprävention gesprochen –, sondern vor allen Dingen um den richtigen Zeitpunkt. Dass das alles in Kamerun vor einem Jahr einfacher gewesen wäre als heute, ist unbestritten.
Deswegen – ich komme zum Ende – müssen wir dafür sorgen, dass wir schneller von „early warning“ zu „early action“ kommen. Das ist in der Tat eine Aufgabe, die für die Zukunft bleibt.
Herzlichen Dank.
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Zu seiner ersten Rede erteile ich das Wort dem Kollegen Waldemar Herdt von der AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Appell an die Vernunft – so könnte man bei sehr positiver Betrachtung den Antrag von den Grünen einstufen. Aber Appelle an die Vernunft sind nur dann von Erfolg gekrönt, wenn sie nicht auf taube Ohren stoßen. Solange sich aber für die herrschende Elite in Kamerun nichts ändert, finden Sie auch kein Gehör.
Wenn wir etwas erreichen wollen, das wir noch nicht erreicht haben, sollten wir vielleicht das tun, was wir noch nicht getan haben. Ist doch logisch, oder?
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Wir können dem Antrag der Grünen nicht zustimmen, weil er einem Schema folgt, das zuvor noch nirgendwo zu dem gewünschten Resultat geführt hat. So holen wir die Kuh nicht vom Eis.
Im Augenblick fließt das Geld aus Europas Entwicklungstöpfen unvermindert weiter und hält das verrückte Regime an der Macht. Damit gießen wir noch mehr Öl ins Feuer. 25-mal haben sich die Hilfsleistungen erhöht, und das hat nicht geholfen. Die Korruption blüht auf, und die Armen werden zu Opfern von Gewalt und Verbrechen. Deutschland hatte Kamerun für den Zeitraum 2017 bis 2019 Entwicklungshilfeleistungen in Höhe von 100 Millionen Euro zugesagt. Vor dem Hintergrund, dass das Land Platz 135 von 180 Ländern auf dem Korruptionsindex belegt, können wir nur mutmaßen, wie viel von unseren Steuergeldern in die Taschen der herrschenden Kaste abgezweigt wird.
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Sobald jedoch der bequeme Geldfluss versiegt, werden auch die Entscheider in Kamerun hellhörig und wach.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich eins klarstellen: Genau wie alle anderen Parteien hier ist auch die AfD humanitären Idealen verpflichtet.
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Auch wir möchten, dass Kamerun in seine Rolle als Stabilitätsanker in der Region zurückkehrt. Genau wie die Grünen wollen auch wir keinen Bürgerkrieg in Kamerun. Um jedoch einer weiteren Destabilisierung entgegenzuwirken, ist ein schnelles und präventives Handeln gefragt. Es ist das gute Recht der Bundesregierung, von dem Empfänger deutscher Entwicklungsgelder Rechtsstaatlichkeit zu fordern.
Seit 1996 schreibt die Verfassung Kameruns die Dezentralisierung des Staates vor und damit auch eine Gleichbehandlung der unterschiedlichen Sprachgruppen. Umgesetzt wird das bis jetzt nicht. Präsident Biya kann ein andauernder Verfassungsbruch vorgehalten werden. Rechtsstaatlichkeit ist in diesem Land nicht vorhanden. Die deutsche Entwicklungsarbeit in Kamerun sollte daher mit sofortiger Wirkung ausgesetzt werden.
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Aber sobald die Führung Kameruns konkrete Schritte unternimmt, um die inneren Probleme nachhaltig zu lösen, können natürlich auch die Hilfezahlungen wieder aufgenommen werden. Obwohl der Bundesregierung seit langem schon alle Missstände in Kamerun bekannt sind, bleibt der Geldfluss davon unberührt und wächst sogar. Das muss sich ändern. Das sollte auch zum Gegenstand von Gesprächen mit Frankreich und England werden. Als ehemalige Kolonialherren Kameruns haben unsere Nachbarn viel mehr Einfluss auf die Regierung als wir.
Meine Damen und Herren, noch mal: Alles wie gehabt zu lassen, ist einfach und bequem. Doch Hilfezahlungen fortzusetzen, heißt, Öl ins Feuer zu gießen. Hier ist ein alternatives Denken gefragt.
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Nur indem wir jetzt tun, was wir bislang noch nicht getan haben, könnten wir eine Veränderung bewirken. Es ist die Zeit gekommen für ein alternatives Denken und alternatives Handeln. Das erfordert Mut und ein beherztes Auftreten seitens der Bundesregierung. Nur so werden wir langfristig auch der Zivilbevölkerung Kameruns helfen können.
Liebe Kollegen, damit schließe ich meine Rede und danke Ihnen.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Dr. Bärbel Kofler.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin den antragstellenden Fraktionen dankbar für die Anträge, weil es uns die Gelegenheit gibt, über die Situation in Kamerun zu sprechen. Ich glaube, es ist dringend nötig, dass wir das jetzt, zu diesem Zeitpunkt, hier im Bundestag machen.
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Es ist von einigen Vorrednern angesprochen worden: Die Situation – ich möchte insbesondere auf die humanitäre und menschenrechtliche Situation in Kamerun eingehen – verschlechtert sich permanent und ist in manchen Regionen des Landes katastrophal. Die Krise im Norden ist angesprochen worden. Wenn man den Zahlen von Amnesty International folgt, stellt man fest: Es sind im Jahr 2017 150 Angriffe dort erfolgt, 48 Selbstmordanschläge mit Folgen für die Zivilbevölkerung – zig Tote, Leid, unerträgliche Zustände, die zu einer Flucht von 240 000 Menschen aus der Region Extrême-Nord geführt haben. Gleichzeitig – das muss man auch deutlich erwähnen – haben Streitkräfte der kamerunischen Regierung mit willkürlichen Festnahmen, auch mit Folterungen und Tötungen, auf diese Situation in einer Art und Weise reagiert, die die Lage der Menschenrechte und die Situation der Bevölkerung nicht verbessert, sondern verschlechtert hat.
Die verschärfte Gesetzeslage in Kamerun seit 2014 aufgrund des Antiterrorgesetzes unterbindet die Möglichkeiten von Journalisten in der Region, sich über diese Tatsachen und über diese Vorgänge auszutauschen und das zu veröffentlichen. Dass Journalisten sich selbst zensieren, ist in Kamerun leider eine weitverbreitete Tatsache. Dazu kommt der Konflikt, der seit zwei Jahren aufgebrochen ist, zwischen dem englischsprachigen und dem französischsprachigen Teil des Landes. Von der französischsprachigen Zentralregierung wurden Dinge eingefordert, die eigentlich, finde ich, ganz normal sind: Gleichberechtigung, gleiche Behandlung im Bildungs- und Justizsystem, die Möglichkeit, sich im Land gut vertreten zu fühlen und seine Rechte wahrzunehmen, auch als Sprecher der anderen Sprache, also nicht der Sprache der Zentralregierung.
Protestaktionen der Bevölkerung, die auch nach wie vor andauern, wurden mit einem militärischen Vorgehen beantwortet, das nicht zu einer Deeskalation und nicht zu einer friedlichen Lösung, sondern zu einer Verschärfung des Konflikts beigetragen und auch hier wieder zu einer Situation geführt hat, die zu sehr, sehr vielen Toten – Amnesty International spricht von blutigen Auseinandersetzungen seit Herbst 2014 mit 400 getöteten Zivilisten, 170 toten Sicherheitskräften – und zu einer großen Fluchtbewegung aus den beiden betroffenen Regionen, Southwest und Northwest, geführt hat. UNOCHA, also der Koordinator für humanitäre Angelegenheiten, spricht mittlerweile von 160 000 Binnenvertriebenen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Die Zahl derer, die vertrieben worden sind, ist weit höher: ungefähr 250 000 Binnenvertriebene, und man geht von 30 000 Vertriebenen nach Nigeria, in die Nachbarländer aus.
Es ist also hohe Zeit, dass wir uns hier intensiv mit diesem Konflikt und diesen katastrophalen humanitären, menschenrechtlichen Folgen, insbesondere für die Zivilbevölkerung in Kamerun, beschäftigen. Was kann man tun? Was kann die Bundesregierung tun? Man kann die Situation immer wieder ansprechen. Und da, lieber Herr Kekeritz, muss ich Ihnen widersprechen: Das wird gemacht. Sie haben es ja so dargestellt, als würde die Bundesregierung nichts machen. Es wird immer wieder angesprochen und bei Vertretern der kamerunischen Regierung thematisiert, dass der Einsatz von Militär keine Lösung dieses Konflikts ist, dass es nur in einem Dialogformat eine Lösung des Konfliktes geben kann.
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Dafür gibt es auch konkrete Beispiele vor Ort.
Würden Sie bitte zum Ende kommen.
Ja, mache ich. Schade, ich hätte die Frage gern zugelassen.
Jetzt gibt es keine Fragen mehr.
Bei der Frage „Was können wir konkret noch tun?“ ist das Thema Dezentralisierung ganz wichtig. Ich komme leider nicht mehr dazu, aber das wird sicher die Kollegin Vogt noch ansprechen.
Bestimmt.
Die Förderung von Konfliktprävention, Dezentralisierungsmaßnahmen und Mediationsmaßnahmen für die Zivilbevölkerung ist ein ganz wichtiger Punkt.
Danke.
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Gerne. – Jetzt kommt aber erst mal für die FDP-Fraktion der Kollege Dr. Christoph Hoffmann.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im anglofonen Teil Kameruns herrscht inzwischen ein Bürgerkrieg. Es ist die letzte Station eines langen Versagens der Regierung in Yaoundé, die seit 20 Jahren die versprochene und in der Verfassung verankerte Regionalisierung nicht geschafft oder auch nicht gewollt hat.
Im anglofonen Teil sind die Schulen jetzt seit zwei Jahren geschlossen. Kinder werden von Militärs erschossen. Alte Menschen verbrennen in von der Armee angezündeten Häusern. 300 000 Menschen sind auf der Flucht im eigenen Land; 30 000 sind schon nach Nigeria geflohen. Und die Felder einer sehr fruchtbaren Gegend werden nicht mehr bestellt; der Hunger wird folgen. Sie sehen: Kamerun driftet in eine humanitäre Katastrophe.
Deutschland leistet seit 50 Jahren Entwicklungszusammenarbeit in Kamerun, und trotz aller Gelder – nicht nur von Deutschland, sondern auch multilateral – ist es nicht gelungen, das Land entscheidend zu stabilisieren. Die Bundesregierung – da muss ich Ihnen ein bisschen widersprechen, Herr Frei – bemüht sich zu wenig und vor allem viel zu spät um die Prävention von Konflikten in Afrika insgesamt.
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Diese Konflikte sind absehbar; aber es wird, wie gesagt, viel zu langsam reagiert – wenn überhaupt. So auch in der Kamerun-Krise: Wir hatten unseren Antrag ja schon im Juni eingebracht und sind jetzt froh, dass wir ihn endlich debattieren können.
Warum wird der Werkzeugkasten zur Krisenprävention nicht rechtzeitig ausgepackt? Wo waren die Bemühungen oder Erfolge der Bundesregierung, eine EU-Initiative auf den Weg zu bringen? Wo sind die Bemühungen Deutschlands im Sicherheitsrat, um diese humanitäre Katastrophe noch zu verhindern oder zumindest zu mildern? Wo ist der multilaterale Druck?
Der Konflikt im anglofonen Teil Kameruns ist ein völlig überflüssiger, grausamer und blutiger Konflikt und das Allerletzte, was die arme Bevölkerung dort brauchen kann; aber es ist kein Ende in Sicht.
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Dabei sind die Anliegen der anglofonen Bevölkerung durchaus berechtigt; die Vorrednerin hat das durchaus richtig erwähnt. Die Lösung kann aber nur in einer Regionalisierung oder im föderalen Prinzip liegen. Deutschland hat ganz gute Erfahrungen mit dem Föderalismus und mit regionaler Selbstverwaltung gemacht. Deshalb kann sich Deutschland deutlich besser als andere als Vermittler anbieten, was bisher gar nicht passiert ist.
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Am letzten Sonntag haben die Kameruner einen neuen Präsidenten gewählt, und es wird noch 14 Tage dauern, bis die Stimmen ausgezählt sind. Dann wird der 85-jährige Anführer, der es vorzieht, mehrere Monate außer Landes in ganzen Stockwerken von Fünf-Sterne-Hotels zu wohnen, wieder zum Präsidenten erklärt werden. Von den 24 Millionen Kamerunern waren nur 6,5 Millionen für die Wahl registriert; im anglofonen Teil fand die Wahl eigentlich nicht statt. Und eine Wahl, die keine faire Wahl ist, in einem Rechtsstaat, der keiner ist, kann man eigentlich nicht akzeptieren.
Daher muss die internationale Gemeinschaft eine Übergangsphase nach der Wahl aushandeln, in der die nationale Versöhnung ermöglicht und vielleicht auch ein Rückzug des Präsidenten möglich wird. Sie, Herr Maas und Frau Merkel, müssen hier Führung übernehmen. Handeln Sie endlich, statt später wieder Steuergelder für Nothilfen in Anspruch nehmen zu müssen!
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Eine Untätigkeit kann nicht in unserem Interesse sein; denn sonst hat der amerikanisch-nigerianische Schriftsteller Cole wieder einmal recht mit seinem Ausspruch, den ich mit der Genehmigung des Präsidenten zitiere:
Der weiße Retter duldet morgens brutale Politik, gründet nachmittags eine Hilfsorganisation und bekommt abends dafür eine Auszeichnung.
Setzen wir dem endlich ein Ende! Wachen Sie auf, Herr Maas!
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Die Kollegin Kathrin Vogler hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kamerun, das lange Zeit als Stabilitätsanker in Westafrika galt, steht heute an der Schwelle eines langen und tragischen Bürgerkriegs. Vielleicht ist diese Schwelle sogar überschritten. Den Eindruck konnte man bekommen, als wir gestern Abend die Gelegenheit hatten, mit Friedensaktivisten aus Kamerun zu sprechen.
Die Wurzeln dieses Konflikts reichen tief zurück in die koloniale Vergangenheit, als das heutige Kamerun in einen britischen und einen französischen Teil gespalten wurde. Von der Zentralregierung in Yaoundé wurde der englischsprachige Teil systematisch vernachlässigt und wurden die Bedürfnisse der Bevölkerung ignoriert. Als dann auch noch immer mehr französischsprechende Lehrer und Justizbeamte eingesetzt wurden, kam es vor zwei Jahren zu massiven, aber zunächst friedlichen Streiks und Demonstrationen. Und nachdem diese dann von der Armee blutig niedergeschlagen wurden, formierte sich eine Bewegung, die die Unabhängigkeit des englischsprachigen Landesteils forderte. Der Versuch, diese wiederum gewaltsam niederzuschlagen, führte nicht nur dazu, dass Hunderttausende Menschen vertrieben und Hunderte oder sogar Tausende Menschen getötet wurden, sondern dass sich auch die Separatisten bewaffneten.
Was hat jetzt die Bundesregierung getan, zum Beispiel in den letzten zwei Jahren? Würde sie ihren eigenen Leitlinien zur Krisenbewältigung folgen, so wäre sie schon längst im Sinne einer politischen Konfliktlösung aktiv geworden. Da heißt es nämlich:
Das deutsche Engagement in Krisen und Konflikten folgt dem Primat der Politik und dem Vorrang der Prävention. Dabei nutzt die Bundesregierung das breite Instrumentarium ziviler Maßnahmen.
Welche zivilen Maßnahmen? Das frage ich Sie. Welche zivilen Maßnahmen die Bundesregierung in Kamerun so frühzeitig angewandt hat, dass man sie noch als Prävention bezeichnen könnte, ist ihr gut gehütetes Geheimnis. Kein Geheimnis ist aber, dass die Bundesregierung die kamerunischen Streitkräfte im Rahmen der sogenannten Ertüchtigung ausrüsten und ausbilden will. Und das, meine Damen und Herren, ist wirklich nicht zu fassen.
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Statt sich frühzeitig um eine politische Konfliktlösung zu bemühen, wartet die Bundesregierung erst mal ab, bis der Konflikt richtig blutig geworden ist, und rüstet dann eine der Konfliktparteien auf, und zwar eine, die schon massenhaft Verbrechen an der Zivilbevölkerung begangen hat. Das geht nun wirklich gar nicht!
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Auf mich wirkt es da etwas blauäugig, wenn die Grünen in ihrem Antrag nur fordern,„die Ausstattung und Ausbildung der kamerunischen Streitkräfte … strikt an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien und den Schutz der Menschenrechte zu knüpfen“.
Meine Fraktion, Die Linke, lehnt diese Ausbildungs- und Ausstattungshilfe grundsätzlich ab; denn wir haben bisher noch kein Beispiel gefunden, bei dem diese Art von Waffenbrüderschaft wirklich dem Frieden genutzt hätte.
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Das Beispiel Kameruns zeigt leider, wie ideenlos diese Bundesregierung ist, wenn es um Gewaltprävention und Konfliktbearbeitung geht. Dabei könnte sie viel tun. Warum nutzen Sie nicht die traditionell guten Beziehungen zu Kamerun, um in dem Konflikt politisch zu vermitteln? Warum setzen Sie sich nicht innerhalb der Vereinten Nationen zum Beispiel für einen Sondergesandten ein, der politische Lösungsmöglichkeiten sondieren und verschüttete Gesprächskanäle öffnen könnte? Oder wie wäre es, einfach mal die Mittel für den Zivilen Friedensdienst in Kamerun zu verdoppeln – kurzfristig, damit dieser auch unter erschwerten Bedingungen seinen wichtigen Beitrag zur Friedensförderung leisten kann?
Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, ob Sie auch nur ein einziges deutsches Projekt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in den letzten zwei Jahren daraufhin überprüft haben, ob es vielleicht den vorhandenen Konflikt doch noch verschärft. Warum zum Teufel haben Sie sich nicht einmal darauf verständigen können oder darauf drängen können, dass die EU Wahlbeobachter nach Kamerun schickt? All das hätten Sie tun können und könnten es noch tun. Es ist nicht unmöglich; es ist nicht einmal teuer. Was fehlt, ist der politische Wille.
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Ich will noch einen Punkt ansprechen, der mich in den letzten Tagen wirklich bewegt: Ein Afrika-Beauftragter, der in Kamerun zwar mit dem korrupten Regime, aber nicht mal mit der Zivilgesellschaft spricht, dafür aber dann in deutschen Medien den Kolonialismus schönredet und seinen Ressentiments gegenüber afrikanischen Menschen freien Lauf lässt, der ist aus unserer Sicht wirklich untragbar, und ich sage: Frau Merkel, berufen Sie Herrn Nooke ab!
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Der nächste Redner: der Kollege Matern von Marschall, CDU/CSU-Fraktion.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß ganz genau, Kollegin Vogler von den Linken, dass der Beauftragte der Bundeskanzlerin Günter Nooke ein hervorragender Afrika-Kenner ist
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und dass er sich mit allergrößtem Engagement für eine Stabilisierung in vielen Teilen Afrikas einsetzt. Ich habe das selber auf einer Reise mit ihm nach Togo unmittelbar erleben können. Deswegen sind Ihre Vorwürfe aufs Schärfste zurückzuweisen.
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Der Konflikt – das ist gesagt worden – ist das Resultat der Teilung durch den Völkerbund in ein französisches und ein britisches Mandat, nachdem Kamerun keine deutsche Kolonie mehr war. Nachdem der kleinere britische Teil und der größere französische Teil dann 1961 zu einem Land zusammengefasst wurden, ist – darauf ist hingewiesen worden – lange Zeit eine Diskriminierung dieses englischsprachigen Teils Wirklichkeit geworden. Das ist umso bedauerlicher, als in diesem Teil des Landes gut ausgebildete Menschen leben, von denen übrigens nicht ganz wenige hier in Deutschland studiert haben. Diese kehren dann in ihr Land zurück und sind dort erfolgreich unternehmerisch tätig. Das wollen wir – das ist übrigens Teil unserer Entwicklungszusammenarbeit – natürlich gerade jetzt stärken. Dazu muss aber eine Befriedung in dem englischsprachigen Teil des Landes erfolgen. Wie das geschehen kann, darauf hat es einige Hinweise gegeben.
Es ist gesagt worden, wir sollten hier die Entwicklungshilfe ganz aussetzen. Ich meine, wir sollten unbedingt daran festhalten. Das gilt nicht nur für die Initiativen des BMZ, zum Beispiel die Grünen Innovationszentren. Das sind Projekte, bei denen die Menschen zum Beispiel ertüchtigt werden, werthaltige Kakaoerzeugnisse herzustellen, die auf den Weltmärkten zu guten Preisen verkauft werden können. Das gilt auch – das ist mir ganz wichtig – für die große Unterstützung aus den Reihen der Kirchen, die dazu beitragen wollen, zu moderieren. Ich glaube, die mögliche friedensstiftende Wirkung der Kirchen ist nicht gering zu schätzen; ich habe mit einer Dame aus Kamerun gesprochen, die Misereor mir hierher vermittelt hatte. Ich halte das für ganz wichtig, auch wenn ich sehe, dass selbst innerhalb der Kirchen einstweilen ganz unterschiedliche Auffassungen existieren.
Was ich zum Abschluss sagen, aber gleichzeitig ins Zentrum rücken will, ist Folgendes: Dieser Konflikt muss europäisch gelöst werden. Wenn wir sukzessive eine gemeinsame europäische Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs-, aber eben auch Entwicklungspolitik auf den Weg bringen wollen – die FDP ist ja auch sehr stark dieser Auffassung –, dann wird das natürlich ein Lackmustest sein, wie wir in einem solchen Konflikt, wie er in Kamerun existiert, wirklich gemeinsam arbeiten können. Deutschland und Frankreich sind diejenigen, die hier zusammenarbeiten müssen.
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Das ist sicher ein Weg, über den wir miteinander noch intensiver sprechen müssen; denn Frankreich geht durch die langen Beziehungen und auch durch die Interessen, die es dort verfolgt, häufig einen eigenständigen Weg.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, ich lasse die Zwischenfrage zu.
Herr Kollege von Marschall, sind Sie nicht auch der Meinung, dass wir als Allererstes die Nachfolgestaaten der deutschen Kolonialzeit in Kamerun, nämlich Großbritannien und Frankreich, auffordern müssten, dort ihre Verantwortung wahrzunehmen und friedensstiftend zu wirken, bevor wir uns engagieren?
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Kollege Hampel, ich habe es gerade ausgeführt: Ich finde, wir sollten das gemeinsam europäisch machen. Ich weiß, dass Deutschland in Kamerun einen guten Ruf genießt, dass Deutschland dort sehr geschätzt wird, dass auch unser entwicklungspolitisches Engagement geschätzt wird. Insofern denke ich – das ist mir wichtig –, dass wir das am besten gemeinsam auf den Weg bringen. Das sollten wir gerade mit Blick auf den notwendigen Dialog, den wir mit Frankreich auf den Weg bringen müssen, jetzt machen.
Ich weiß, dass Günter Nooke mit seinem Kollegen, seinem Pendant in Frankreich, in intensiven Gesprächen ist. Aber es ist natürlich auch ein Weg für Frankreich, sich von einer stark bilateralen Beziehung zu diesen Ländern zu lösen und diesen Weg gemeinsam mit uns, mit Deutschland, zu beschreiten, um ihn schließlich in einen europäischen Weg einmünden zu lassen. Das ist mein Wunsch, den ich formulieren will an diesem Tag, und das ist auch mein Wunsch für die Zukunft einer gemeinsamen europäischen Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik.
Vielen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Ute Vogt.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ja schon viel gesagt worden über die Bedeutung dieser Debatte. Ich will mich den Worten von Bärbel Kofler anschließen; denn es ist nötig, das hier zu besprechen: Es darf kein vergessener Konflikt werden. – Insofern will ich dem Eindruck entgegentreten, der in diese Debatte in Teilen vermittelt wurde, dass die Bundesregierung hier untätig wäre.
Es ist manchmal richtiger und notwendiger und effektiver, Gespräche in solchen Konflikten nicht auf dem Marktplatz auszutragen und nicht jeden Tag eine Schlagzeile zu produzieren. Natürlich ist die deutsche Bundesregierung im Verbund mit anderen Ländern dabei, jedes Mal, auf allen Ebenen, bei allen Kontakten das Thema Rechtsstaatlichkeit, das Thema Gewaltfreiheit, aber auch das Thema „notwendiger Dialog der Konfliktparteien“ anzusprechen. Fakt ist allerdings, dass im vorliegenden Fall sowohl der Präsident, von dem ja schon häufiger die Rede war, als auch der Außenminister – er hat das erst kürzlich, im Sommer, wieder erklärt – keinen Wert darauf legen, dass es in irgendeiner Form eine Mediation gibt, wie sie von uns angestrebt und angeregt worden ist.
Nun wundere ich mich, dass wir hier immer noch darüber reden, was wir alles tun, nicht aber darüber, dass es ja auch den Grundsatz „African Ownership“ gibt, zu dem wir uns fast alle hier im Haus verpflichtet haben. Es geht nicht immer nur darum, dass wir eingreifen und intervenieren, sondern es geht darum, dass wir zum Beispiel die Afrikanische Union stark machen, um diese zu befähigen, die Konflikte selbst zu lösen. Dieser Stärkung dient zum Beispiel das Thema „ziviler Friedensdienst“, und dieser Stärkung dient auch die Ausrüstung der Kräfte, die an zivilen Missionen innerhalb der Afrikanischen Union teilnehmen sollen. Das ist etwas anderes, als Sie behaupten, wenn Sie von Waffenlieferungen sprechen.
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Es geht um ein konkretes Problem mit so vielschichtigen Ansätzen, dass wir das nicht von Deutschland aus und, ich muss sagen, auch nicht allein von der EU aus gelöst bekommen. Was wir auch brauchen, ist eine breite Stärkung der dezentralen Regionen; die Kollegin Kofler hat das angesprochen. Wenn Sie sich unsere Projekte anschauen, dann werden Sie natürlich sehen, dass ein großer Teil der Projekte auf die zivile Krisenprävention und die Stärkung der Regionen zielt. Es muss der Ansatz sein, die Gesellschaft zu stärken, damit eben nicht von außen interveniert wird, sondern damit auch die eigenen Kräfte in der Lage sind, ihre eigenen Staaten in Ordnung zu bringen. Vor allem muss die Afrikanische Union die Stärke haben, ihre Konflikte selbst zu lösen. Ich finde, alles andere ist ein Ansatz, den wir eigentlich schon vor vielen Jahren beiseitegelegt haben, weil wir bewusst gesagt haben: Es geht nicht immer nur darum, von außen zu diktieren.
Die Situation ist dramatisch. Sie können sich darauf verlassen, dass wir dranbleiben, auch als Bundesregierung, und weiterhin bei jedem Kontakt diese Missstände und die Gewalt und die Brutalität, mit der das Regime vorgeht, anprangern. Aber wir werden nicht mit einem Antrag das Problem lösen, sondern nur mit dauerhafter, mühseliger Arbeit im Kleinen. Nur so wird man Fortschritte erreichen, mit den Betroffenen vor Ort und vor allem unter Einbeziehung aller Beteiligten, nicht durch ein Diktat von außen.
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Der letzte Redner zu diesem Punkt ist der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ja viel gesagt worden zu der aktuellen Situation in Kamerun. Sie ist wahrlich besorgniserregend. Es droht durch die ganzen Konflikte im Land eine Eskalation, durch die Gewalt der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram im Norden, durch die Konflikte in den anglofonen Regionen im Westen und natürlich durch die schlechte Regierung des derzeitigen Präsidenten, der wohl wiedergewählt wird. Insofern ist es notwendig, dass wir hier zu einer Stabilisierung kommen. Ansonsten wird der gesamte westliche Raum in Afrika destabilisiert werden. Kamerun ist immer noch ein Stabilitätsanker im westlichen Afrika. Wenn man die umliegenden Länder anschaut, dann sieht man, dass es da noch schlimmer ist.
Insofern ärgert mich – das muss ich schon sagen –, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und der FDP, dass Sie der Bundesregierung hier unterstellen, sie tue nichts. Es ist faktisch falsch, und es ist für meine Begriffe auch fahrlässig, von einem Versagen der Kanzlerin zu sprechen. Das weisen wir auf das Entschiedenste zurück.
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Unser gesamtes Handeln in Afrika baut auf unserem Marshallplan für Afrika und seinen drei Säulen auf: Stärkung der Wirtschaft, Förderung von Frieden und Stabilität, Einsatz für Demokratie und natürlich auch für Menschenrechte.
Übrigens werden im ganzen Land Menschenrechtsverletzungen begangen, von beiden Seiten; keine ist besser oder schlechter. Die Bundesregierung hat mit ihrer Ausstattungshilfe dazu beigetragen, dass es im Norden der Region zu einer Stabilisierung kommt, insbesondere beim Kampf gegen Boko Haram. Ich finde es fahrlässig, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, in Ihrem Antrag unterstellen, es gebe Waffen- oder Munitionslieferungen in dieses Land.
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Das ist einfach falsch; es erfolgen keine Waffen- und Munitionslieferungen. Das schließt die deutsche Hilfe aus. Die Ausstattungshilfe in Kamerun umfasst logistische und medizinische Versorgung, die Reparatur von Kfz und anderen Dingen zur regionalen Krisenprävention und im Norden vor allem zum Zurückdrängen von Boko Haram.
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Das ist zum Teil gelungen. Deswegen ist es wichtig, dass wir jetzt versuchen, auch die Konflikte in den anglofonen Gebieten im Westen friedlich zu lösen. Ansonsten entstünde für ganz Afrika eine ganz schwierige und destabilisierende Situation.
Wenn man das Nachbarland Zentralafrika anschaut, so werden dort nur noch 20 Prozent von der Regierung überwacht. Alles andere ist schon destabilisiert. Wenn Kamerun folgt, dann gibt es eine dramatische Flüchtlingswelle, und andere Probleme werden folgen. Übrigens: Im Jahr 2030 werden in Afrika 750 Millionen Menschen unter 18 Jahre sein. Auch diese Herausforderung wird auf uns zukommen. Deswegen ist es wichtig, dass wir hier stabilisieren.
Der Afrika-Beauftragte hat schon viel gemacht; das ist erwähnt worden. Günter Nooke hat gute Arbeit geleistet. Er hat natürlich direkten Kontakt zu den Regierungsorganisationen. Auch der Botschafter hat einen direkten Kontakt zum Außenministerium. Wir pflegen selbstverständlich auch zu den Nichtregierungsorganisationen, insbesondere zu den Kirchen und anderen Organisationen der Zivilgesellschaft, Kontakte. Übrigens macht das Bistum Limburg in Deutschland gute Arbeit im Zusammenhang mit den Kirchen vor Ort. Gerade die Kirchen sind diejenigen, die man jetzt unterstützen muss. Deswegen wollen wir diesen Prozess befördern.
In beiden Anträgen sind wichtige Dinge genannt. Aber wir sollten uns gemeinsam im Ausschuss mit Ruhe und Konzentration mit den wesentlichen Problemen im Land befassen. Deswegen lade ich Sie ein, die Anträge in den Ausschuss zu überweisen, sie miteinander zu besprechen und dann eine gute Lösung für Kamerun zu suchen. Jede Menschenrechtsverletzung in Kamerun ist eine Menschenrechtsverletzung zu viel. Deswegen lassen Sie uns gemeinsam die entsprechenden Fragestellungen miteinander klären.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Zu Tagesordnungspunkt 11 a wird interfraktionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/4555 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Zu Tagesordnungspunkt 11 b liegt eine Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Prävention ernst nehmen – Die Krise in Kamerun eindämmen“ vor. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/4918, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/2997 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die AfD, die CDU/CSU und die SPD. Wer stimmt dagegen? – Die FDP. Enthaltungen? – Grüne und Linke. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen und der Antrag abgelehnt.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wer gewerbsmäßig Leben oder Eigentum von fremden Personen bewachen will, bedarf der Erlaubnis der zuständigen Behörde. Das ist seit 1927 in unserer Gewerbeordnung abgebildet. Doch wer schützt eigentlich Schutzsuchende vor zweifelhaften Schutzdiensten oder deren Personal? Diese Frage bewegte die Öffentlichkeit im Jahr 2014 nach dem Skandal in einer Flüchtlingsunterkunft im siegerländischen Burbach, wo Sicherheitspersonal Flüchtlinge in der Unterkunft misshandelt, gedemütigt und drangsaliert hat. Ähnliche Fälle sind in Berlin, Essen, Villingen-Schwenningen und anderen Orten in Deutschland bekannt geworden. Wir haben darauf bereits 2016 mit dem Gesetz zur Änderung bewachungsrechtlicher Vorschriften reagiert.
Sie erinnern sich: Damals, nach dem Fall Burbach, setzten sich Parteien und auch der Bundesverband der Sicherheitswirtschaft für eine stärkere Regulierung der Branche ein. Denn alles, was man zu einer Tätigkeit im Sicherheitsgewerbe zu dieser Zeit brauchte, waren die Bestätigung der Teilnahme an einer einwöchigen IHK-Schulung und ein sauberes Führungszeugnis, es sei denn, man arbeitete bei einer Flughafensicherung oder bewachte Militäranlagen. Die geringen Qualifikationen führten dazu, dass mancherorts jedwedes Personal eine Anstellung fand. Gerade in der Hochphase der Flüchtlingskrise gab es einen großen Bedarf an Sicherheitspersonal. Viele Sicherheitsfirmen gingen bei der Auswahl der Bewerber offenbar nachlässig vor, um möglichst schnell die hohe Nachfrage bedienen zu können. Dabei blieb insbesondere eine gewissenhafte Überprüfung der Zuverlässigkeit der Bewerber auf der Strecke. Selbst der obligatorische Blick in das Führungszeugnis unterblieb teilweise. Das geringe Bildungsniveau, eine von Fremdenfeindlichkeit getragene Weltanschauung, private Probleme und sicherlich oft auch Frust über die geringe Bezahlung ließen Situationen wie damals in Burbach entstehen. Kein Wunder also, dass der Ruf der Sicherheitswirtschaft nach Regulierung lauter wurde; denn die genannten Vorfälle beschädigen eine große und wichtige Branche, die weit mehr als die Bewachung von Flüchtlingsheimen umfasst.
Über 260 000 Beschäftigte sind im Sicherheitsgewerbe in Deutschland tätig. Die Branche erwirtschaftet einen Umsatz von ungefähr 15 Milliarden Euro im Jahr. Sie umfasst nicht nur das klassische Bild des Personen- und Objektschützers, sondern auch den Gepäckkontrolleur am Flughafen. Selbst der Türsteher in der Diskothek, Geldtransporteure, Citystreifen, Industrie- und Veranstaltungsschutz, Fahrkartenkontrolleure im öffentlichen Nahverkehr und auch die Sicherung von Jobcentern und anderen öffentlichen Stellen spielen eine Rolle. Längst gehen die Tätigkeiten weit über das bloße Überwachen hinaus, sodass der Bundesverband der Sicherheitswirtschaft meines Erachtens zu Recht fordert, in der Gewerbeordnung den Begriff „Bewachungsgewerbe“ durch „Sicherheitsgewerbe“ zu ersetzen. Die privaten Dienste leisten einen enormen Beitrag zur Verbesserung der Sicherheit. Umso wichtiger ist es, für eine gute Qualität zu sorgen und die Zuverlässigkeit der Branche, der so wichtige Rechtsgüter wie Leib, Leben und Eigentum anvertraut werden, sicherzustellen.
Einen ersten Schritt hatten wir mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Änderung bewachungsrechtlicher Vorschriften im Jahr 2016 unternommen. Im Zuge dessen wurden Qualifikationsanforderungen für Gewerbetreibende und deren Personal verschärft. Es war auch die Geburtsstunde des Bewachungsregisters. Ein solches sollte nun bis Ende 2018 eingerichtet werden, um Identifikation, Qualifikation und Zuverlässigkeit des Personals besser zu kontrollieren. Dieses Überwachungsregister ist wesentlicher Gegenstand des Gesetzes, über das wir heute Abend sprechen. Es legt zunächst die Registrierungsbehörde fest. Es stellt eine Ermächtigungsgrundlage für das Speichern und Verwerten der Informationen dar. Es regelt Personaldaten, Daten zum Stand der Gewerbeerlaubnis, Ergebnis und Stand der Zuverlässigkeitsprüfung und unter anderem auch Meldungen des Verfassungsschutzes. Für besonders sensible Bereiche, wie die Bewachung von Flüchtlingsunterkünften, wird eine Regelabfrage beim jeweils zuständigen Landesamt für Verfassungsschutz durchgeführt, deren Ergebnis ebenfalls im Register vermerkt wird.
Eine wesentliche Neuerung ist unter anderem, dass die Wohnsitzbehörde des Bewerbers für die Prüfung zuständig ist. Das war früher die Behörde am Sitz des Gewerbebetriebes. Das ist eine deutliche Vereinfachung, wiewohl das ganze Gesetz zu mehr Übersicht, zu mehr Rechtsklarheit und zur Beschleunigung des Verwaltungsverfahrens beitragen wird.
Der Aufbau eines solchen Registers ist auch eine große technische Herausforderung. Die Inbetriebnahme musste deshalb auf den 1. Juni 1990 verschoben werden. Die Erstbefüllung des Registers erfolgt in drei Stufen. Die erste ist bereits abgeschlossen: die Registrierung aller Behörden. Mehr als 2 000 Behörden in Deutschland wirken daran mit. In einem zweiten Schritt werden jetzt die Daten der Gewerbetreibenden und dann in einem dritten Schritt die Daten des Personals nachgepflegt.
Meine Damen und Herren, die Umsetzung eines solchen elektronischen Registers ist bei der Vielzahl der heute im Deutschen Bundestag debattierten Gesetzesvorhaben als bloße Randnotiz des parlamentarischen Geschehens wahrzunehmen – meines Erachtens zu Unrecht; denn mit dem Bewacherregister machen wir in Deutschland einen weiteren Schritt in Richtung einer digitalen Verwaltung, die wir uns als Koalition auf die Fahne geschrieben haben. Ich würde mir wünschen, dass wir auch in anderen Verwaltungsbereichen, die mit Zulassungsverfahren zu tun haben, zu einem solchen Schritt der Beschleunigung kommen.
Zugleich ist das Register ein Schritt zur Qualitätssicherung in der betreffenden Branche, die in den letzten Jahren einen enormen Zuwachs erfahren hat. Ein breites Angebot hochwertiger Sicherheitsdienstleistungen kann durch eine effektive Prävention im Zulassungsverfahren die Polizeieinsätze und die Arbeit von Polizei und Ordnungsbehörden verringern.
Das Bewachungsgewerbe wird uns im Parlament noch weiter beschäftigen. Wir haben uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, das in ein eigenständiges Gesetz für das Sicherheitsgewerbe umzugießen. Darüber wird noch zu sprechen sein. Wir werden uns in Kürze mit den Vertretern der zuständigen Ressorts im Bundesinnenministerium und im Bundeswirtschaftsministerium zusammensetzen, um über die Fragen zu beraten.
Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass wir mit der Umsetzung des Bewachungsregisters heute bessere Rahmenbedingungen für eine qualitativ hochwertige und seriöse Sicherheitswirtschaft schaffen und auch ein Modell der digitalen Verwaltung voranbringen. Ein scharfer Blick auf die Anforderungen des Sicherheitsgewerbes ist trotzdem geboten. Im Interesse des Rechtsstaates, seiner Bürgerinnen und Bürger, der Unternehmen, aber vor allen Dingen im Interesse der Schutzsuchenden müssen wir diesen scharfen Blick haben.
Ich bitte um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf und danke Ihnen für die Aufmerksamkeit an dieser Stelle.
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Vielen Dank. – Der nächste Redner ist der Kollege Enrico Komning für die AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren und Kollegen! Liebe Bundesregierung, wissen Sie, was mir bei der Lektüre Ihres Gesetzentwurfs als Erstes aufgefallen ist? Das Wort „Entbürokratisierung“, und zwar gleich auf der ersten Seite. Dann lese ich die Latte von Daten, die für das neue Bewacherregister gemeldet werden müssen, eine Aufzählung über drei DIN-A4-Seiten. Es geht los mit Familienname, Geburtsname, Vornamen, Geschlecht. Wieso eigentlich Geschlecht? Seit vorhin wissen wir doch, dass man sich das neuerdings täglich neu aussuchen kann.
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Dann folgen Geburtsdatum, Geburtsort, Geburtsland, Staatsangehörigkeit. Das verstehe ich auch nicht; denn die Staatsangehörigkeit spielt bei Ihnen offensichtlich auch keine Rolle mehr. Weiter werden verlangt die vollständige Meldeanschrift mit Land, Staat und Regionalschlüssel, Art des Ausweisdokuments mit ausstellender Behörde, ausstellendem Staat, Datum der Ausstellung, Ausweisnummer, Ablaufdatum, soweit vorhanden maschinenlesbarem Namen sowie Inhalt der maschinenlesbaren Zone usw. usf. Ich könnte so weitermachen; das würde aber meine Redezeit sprengen.
Sie fordern nicht nur von den Unternehmern, sondern auch von jedem einzelnen Wachmann die Übermittlung privatester Daten. Sie wollen Angaben bekommen, die ein Arbeitgeber noch nicht einmal im Rahmen eines Bewerbungsgesprächs abfragen darf. Mich wundert, dass Sie noch nicht einmal die Pflicht zur Angabe der Lieblingszahnpasta in den Gesetzentwurf aufgenommen haben.
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Zum Thema Entbürokratisierung. Was Sie mit dem Bewachungsgewerbe machen, welche Meldepflichten Sie diesem aufbürden, ist schlicht unverhältnismäßig. In Wahrheit ist es ein Bürokratiemonster, und zwar ein sehr teures. Die Unternehmen müssen neue Stellen schaffen, und zwar solche, die sich um die Datenummeldungen kümmern, und das ohne Wertschöpfung. Den Steuerzahler kostet die Einrichtung des Registers 3 Millionen Euro und der jährliche Betrieb zusätzlich 500 000 Euro. Ein Schelm, wer hier an gut dotierte Versorgungsposten denkt.
Ich sage Ihnen, was die eigentliche Ratio legis ist: Sie wollen die fatalen Auswirkungen der Migrationskrise verschleiern.
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Sie hätten sich vielleicht vorher überlegen sollen, wie Sie die Unterkünfte bewachen, bevor Sie 1,5 Millionen Flüchtlinge unbesehen in unser Land gelassen haben.
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Sie werden der Gewalt nicht mehr Herr und müssen nun für eigentlich hoheitliche Aufgaben auf private Sicherheitsfirmen zurückgreifen. Sie wollen aus privaten Wachleuten Hilfspolizisten machen, und denen trauen Sie in Wahrheit noch nicht einmal über den Weg. Das ist doch der eigentliche Grund, warum sich nicht nur die Unternehmern, sondern auch die Wachleute nackig machen müssen.
Meine Damen und Herren, das Gesetz ist schlecht: schlecht für die Sicherheitsbranche, schlecht für die Wirtschaft, schlecht für Deutschland. Deshalb werden wir diesen Gesetzentwurf ablehnen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner: der Kollege Andreas Rimkus, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Worüber reden wir? Wir reden über Wachpersonal, über Menschen, die uns beschützen sollen, die unser Eigentum bewachen sollen, die in einem Kernbereich unseres Lebens arbeiten. Ich finde, dass wir von diesen Menschen erwarten können, dass sie uns sagen, wer sie sind und warum sie das machen; denn das ist eine Vertrauensfrage. Das gilt insbesondere für den großen Bereich der privaten Sicherheitswirtschaft; denn sie ist kein Gewerbe wie jedes andere. Wir müssen den Unternehmen und den Personen vor Ort absolut vertrauen können.
Es gibt unseriöse Anbieter. Die haben in diesem Gewerbe überhaupt nichts zu suchen. Deswegen ist es gut, dass wir mit den Anforderungen an Unternehmen und Personal bereits in der letzten Legislaturperiode begonnen und auch hier die Sicherheit erhöht haben. Die Standards für Eignung, Zuverlässigkeit und Sachkunde wurden angehoben, auch die für die Kontrollmechanismen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf knüpfen wir daran an und setzen das beschlossene Bewacherregister um; denn es ermöglicht zum ersten Mal, bundesweit Daten abzugleichen und Personen überprüfen zu lassen. Schließlich müssen wir ja wissen, wer wo im Einsatz ist. Zudem wird mir aus der Branche berichtet, dass Wachpersonal mit gefälschten Papieren unterwegs ist. Das darf natürlich nicht vorkommen, wie das auch in anderen Bereichen nicht vorkommen soll, aber insbesondere eben nicht in den sensiblen Bereichen, wenn wir beispielsweise an die schon zitierten Flüchtlingsunterkünfte denken, an die Vorfälle aus den Vorjahren, aber auch an Großereignisse wie Fußballabende oder auch sensible Sicherheitsinfrastrukturen wie Flughäfen und Bahnhöfe. Da ist vollkommen klar, dass wir das brauchen. Wir müssen diese Probleme angehen, und das machen wir mit dem Register.
Die Industrie- und Handelskammern werden die Nachweise der Beschäftigten digital einstellen. Insofern sind die Strukturen vor Ort intensiv eingebunden. So ist eine schnelle Abfrage möglich. Zeitgleich werden die Daten auf Echtheit überprüft. Damit ist deutlich mehr für Transparenz und Sicherheit gesorgt.
Da die Gewerbeämter und Unternehmen mehr Zeit für die Befüllung des Registers haben, weil wir es ein halbes Jahr später scharfsetzen, ist die volle Funktionsfähigkeit unserer Anpassungen gewährleistet. Damit können wir leben. So wird gewährleistet, dass die Daten korrekt eingespeist werden; denn es geht darum, die Branche und die Behörden nicht zu überfordern.
Wir haben die vielen Anliegen, die uns zugetragen wurden, berücksichtigt und Anpassungen vorgenommen. So bekommt die Branche beispielsweise mehr Zeit bei der Abmeldung von Wachpersonal. Die Behörden werden entlastet, indem die Dauer der Speicherung von Daten verlängert wird. So sparen sie sich in vielen Fälle die erneuten Eingaben; denn in dieser Branche kommt es zu starken Fluktuationen und häufigen Arbeitgeberwechseln. Das können wir an Flughäfen in diesen Tagen sehr gut beobachten, wenn wir über Überwachungspersonal reden, das beliehen wurde.
Grundsätzlich ist der vorliegende Gesetzentwurf gut ausbalanciert. Natürlich sorgt das Register insbesondere in der Anfangsphase für einen höheren bürokratischen Aufwand. Das ist völlig klar, weil die Daten erst einmal erfasst werden müssen. Langfristig geht die Rechnung allerdings auf. Die Branche profitiert von einem besseren Image. Die schwarzen Schafe – oder wie eben gesagt wurde: die armen Hells Angels – fallen dann möglicherweise auf, und das wollen wir auch.
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Ja, das ist doch das Wesen unserer Bemühungen an dieser Stelle.
Die Zuverlässigkeitsprüfung wird mit der Regelabfrage beim Verfassungsschutz ein elementarer Baustein. 2021 wird das Gesetz dann evaluiert. Wir stellen es auf den Prüfstand, damit wir wissen, was sich in der Praxis bewährt und was sich nicht bewährt hat und was wir machen können.
Zum Schluss. Seriöse Sicherheitsunternehmen leisten eine wichtige Arbeit. Sie unterstützen unsere Polizei angesichts der immer neuen Herausforderungen. Aber ich möchte deutlich machen: Es ist und bleibt die hoheitliche Aufgabe der Polizei, für Sicherheit zu sorgen. Nur dort, wo wir nach entsprechender Abwägung feststellen, dass die Aufgabe von einem Sicherheitsunternehmen übernommen werden könnte, dürfen wir diese auch zum Einsatz kommen lassen. Wir dürfen das nicht zur Regel machen, nach dem Motto „Der Staat zieht sich zurück, die Sicherheitsunternehmen übernehmen das“. Nein, Polizeiarbeit können und sollen die Sicherheitsunternehmen nicht ersetzen, aber sie sind natürlich ein ergänzender Teil unserer Sicherheitsarchitektur.
Da die Branche immer weiter wächst, nimmt sie an Bedeutung zu. Wir haben eben eindrucksvolle Zahlen gehört. Deswegen ist es wichtig, dass wir ihre Entwicklung im Blick behalten. Gleiches gilt aber auch für unsere Polizei. Es ist gut, dass wir den Sparkurs endlich beenden und in neue Stellen sowie in bessere Ausstattung investieren. Dies ist nötig angesichts sich immer wieder ändernder Herausforderungen. Schon mit Blick auf das nächste Großereignis in Deutschland, nämlich die Europameisterschaft 2024, wird das klar. Bei der WM 2006 hat Deutschland das aus sicherheitstechnischer Perspektive mit Bravour gelöst. Das wird uns sicherlich Vorbild genug sein, um auch 2024 eine gute Performance zu liefern.
Es ist gut, dass wir mit dem vorliegenden Gesetz einen weiteren Beitrag für mehr Zuverlässigkeit und Qualität im Sicherheitsgewerbe leisten. Ich bitte, wie mein Kollege von der CDU/CSU-Fraktion, um Zustimmung.
Vielen Dank.
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Nächster Redner für die FDP-Fraktion ist der Kollege Manfred Todtenhausen.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe zwei vernünftige Reden gehört. Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen, aber nicht, weil die Regierung hervorragende Arbeit geleistet hat, sondern aus anderen Gründen, die ich Ihnen vortragen möchte.
Erstens. Bessere Qualifizierung und Zuverlässigkeitsnachweise können im Bereich privater Wach- und Sicherheitsdienste mehr Vertrauen und Sicherheit schaffen. Davon profitieren Kunden wie Anbieter; denn das Bewachungsgewerbe mit 250 000 Mitarbeitern und über 12 000 offenen Stellen lebt von seinem Image. Und da ist viel Handlungsdruck. Wir alle kennen Skandale, etwa bei der Bewachung von Flüchtlingsheimen, von Großveranstaltungen; verschiedene Beispiele wurden bereits genannt. Wenn die betroffene Branche, wenn Überwachungsgewerbe und DIHK ein solches Vorhaben unterstützen, dann muss Politik auch handeln.
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Zweitens. Wir bringen endlich die digitale Vernetzung auf allen staatlichen Ebenen voran. Mit dem bundesweiten Register werden Schnittstellen bei Ordnungsämtern, Sicherheitsbehörden, den IHKs und dem BAFA eingerichtet. Kommunen, Kammern, Länder und der Bund arbeiten digital zusammen, und wir verkürzen die Zeit der Erstüberprüfung deutlich.
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Drittens. Das Ganze bedeutet mittelfristig auch Bürokratieabbau.
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– Ja, ist gesagt worden. – Durch die Einführung des Wohnortprinzips werden Doppelabfragen überflüssig, und Behörden-Hopping wird gestoppt.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns aber nicht nur hier mehr Digitalisierung wagen. Wir alle wissen: Im Jahr 2018 sieht es in diesem Bereich immer noch nicht gut aus. Der aktuelle Jahresbericht des Normenkontrollrates wurde heute vorgestellt, und er macht die Probleme deutlich. Länder, etwa im Baltikum, sind uns um Jahre voraus.
Auch das Bewacherregister hat eine viel zu lange Geschichte. Seit zwei Jahren weiß die Bundesregierung, dass es bis Jahresende eingeführt werden sollte. Und was machen Sie? Vorgestern bekommen wir den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen in den Ausschuss. Darin werden zwar wichtige Fragen zum Datenschutz geklärt, aber auch eine Fristverlängerung bis Mitte 2019 eingeräumt; Dinge, die Sie längst hätten klären können. Das ist traurig; denn Beteiligte wie der DIHK stehen pünktlich bereit. Auch die Unternehmen stehen bereit, können es machen.
Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu, und zwar trotz der Bedenken, die wir hinsichtlich der Regelabfragen haben. Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bei der Umsetzung von Digitalisierung und Bürokratieabbau müssen Sie noch einen Gang höher schalten. Wenn Sie das machen, werden wir wahrscheinlich viel öfter zustimmen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke der Kollege Thomas Lutze.
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! 2016 zwang eine lange Liste von Vorfällen in Flüchtlingsunterkünften die Bundesregierung dazu, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter privater Sicherheitsdienste an neuen Standards zu messen. Die oft neuen Beschäftigten im privaten Bewachungsgewerbe stellten, wie man festgestellt hat, zum Teil selbst ein Sicherheitsproblem dar. Nun ist das gesetzlich geregelt worden, indem die Gewerbetreibenden und die Personalstandards in Bezug auf Zuverlässigkeit und Sachkunde geprüft werden müssen. Hierfür wurde die rechtliche Grundlage für ein elektronisches Melderegister gelegt.
Der heute zu verhandelnde Gesetzentwurf sieht nun die Umsetzung dieses Vorhabens vor. Im Melderegister werden alle Daten zur Identifizierung und Überprüfung festgehalten, die unter anderem von den Landespolizeibehörden oder vom Landesverfassungsschutz stammen. Die Zuverlässigkeitsprüfung dagegen wird von den Kreisordnungsbehörden übernommen, die aufgrund des elektronischen Melderegisters nun auch vor Ort Kontrollen durchführen können. Diese erhöhten Standards begrüßen wir, sehen jedoch andere Punkte durchaus kritisch.
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Der versprochene Bürokratieabbau durch die Einführung des elektronischen Melderegisters findet maximal auf Personalebene statt. Wenn man auf der einen Seite liest, dass 500 000 Euro eingespart werden sollen, aber auf der anderen Seite durch die Instandhaltung des Registers etwa 1 Million Euro an zusätzlichen Kosten anfallen, muss man sich fragen, ob diejenigen, die das zu verantworten haben, rechnen können, zumal ein Teil der Mehrkosten auch noch den Ländern auferlegt werden soll. Das geht für meine Begriffe nicht.
Warum werden Daten von Personen, zum Beispiel die Wohnortdaten, im Rahmen einer einmaligen Zuverlässigkeitsprüfung kurzfristig gespeichert? Entweder diese Daten sind relevant, dann muss man sie langfristig speichern, oder man lässt das Speichern ganz bleiben. Was ein kurzfristiges Speichern bringen soll, konnte mir bis jetzt keiner erklären.
Grundsätzlich bleibt festzustellen, dass dieser Gesetzentwurf den Abbau des staatlichen Gewaltmonopols weiter begleitet. Stellen im Streifen- und Schutzdienst bei der Polizei vor Ort wurden flächendeckend abgebaut und zum Teil durch private Sicherheitsunternehmen ersetzt. Zwar werden die Kontrolle und die Transparenz dieser privaten Sicherheitsunternehmen durch die neuen Regelungen verbessert, jedoch ändert dies nichts an der Tatsache, dass wir es mit einem bedenklichen Ausverkauf der öffentlichen Sicherheit an privatwirtschaftliche Interessen zu tun haben. Sicherheit entsteht aber durch eine intensive Polizeiausbildung und umfassende Rechtskenntnisse.
Vielen Dank. Glück auf!
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Die nächste Rednerin: die Kollegin Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schaffen wir die Rechtsgrundlagen für die Errichtung eines Registers, das allerdings schon mit der letzten Gesetzesänderung vom 22. September 2016 beschlossen worden ist. Spätestens seit diesem Tag war klar, dass ein Register nötig ist, um eine Überprüfung von eingesetzten privaten Sicherheitskräften vor Ort zu ermöglichen. Klar war aber auch, dass es die Koalition nicht eilig hatte, ihren Worten Taten folgen zu lassen. So kommt es also, dass wir jetzt heute, zwei Jahre später, beschließen, was bereits im September 2016 hätte beschlossen werden können, nämlich wie dieses Register aufgebaut sein soll.
Dafür, dass wir hier im Deutschen Bundestag bereits seit 2011 eine stärkere Regulierung des privaten Sicherheitssektors fordern, ist der jetzige Schritt wirklich keine revolutionäre Neuheit,
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sondern eher eine Minimallösung. Nicht erst seit 2014, als Geflüchtete in staatlichen Einrichtungen Opfer von privaten Sicherheitsmitarbeitern wurden, weisen seriöse Anbieter der Branche darauf hin, dass Qualität nur mit mehr Regulierung zu erreichen ist.
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Es ist unerträglich – das genannte Beispiel –, dass die Hells Angels weniger Probleme haben, ein Sicherheitsunternehmen zur Kontrolle des Rotlichtviertels anzumelden, als jemand, der eine Pommesbude eröffnen möchte. Dieser Zustand ist, auch für die seriösen Anbieter der Branche, einfach nicht länger hinnehmbar.
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Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat bereits – nehmen wir den Antrag vom Dezember 2014 – dargelegt, was getan werden könnte, damit private Sicherheitsunternehmen die Rahmenbedingungen bekommen, die sie aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten haben sollten und in denen sich ein produktiver Wettbewerb entwickeln könnte. So tief wollte sich allerdings schon die letzte Große Koalition nicht mit der Materie befassen. Daher fehlen bis heute weiter gehende inhaltliche Vorgaben für die Lehrgänge und die Prüfungen, die eigentlich vorgeschrieben sind. Wir Grüne wollen nicht nur eine Registrierung, sondern auch ein gesetzliches Zulassungsverfahren mit klaren Anforderungen an die persönliche Zuverlässigkeit und Qualitätsstandards für die Ausbildung.
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Dennoch hätten wir diesem Gesetzentwurf fast noch unsere Zustimmung gegeben, nach dem Motto: besser ein Schritt in die richtige Richtung als gar keine Verbesserung. Die kritische Stellungnahme der Bundesdatenschutzbeauftragten zeigt jedoch, dass der Entwurf wieder einmal nicht wirklich zu Ende gedacht worden ist. Ihr Änderungsantrag, mit dem Sie versuchen, diesen Bedenken im letzten Moment noch Rechnung zu tragen, überzeugt uns nicht. Aufgrund dieser datenschutzrechtlichen Bedenken werden wir uns hier heute nur enthalten, auch wenn das Register zweifelsohne notwendig ist.
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Am besten wäre es, Sie würden das Gesetz noch einmal vertagen, um in Ruhe die Fehler zu beheben, und dann noch inhaltliche Vorgaben für die Aus-, Weiter- und Fortbildung ergänzen.
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So könnten Sie nicht nur unsere Zustimmung erhalten, sondern auch der Branche endlich eine praktikable Grundlage an die Hand geben, auf die sie schon so lange wartet. Aber was soll ich sagen? Von dieser Koalition sind wir ja leider nichts anderes mehr gewöhnt als halbgare Minimalkonsense – schade eigentlich!
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Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung bewachungsrechtlicher Vorschriften. Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/4876, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/3829 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind die FDP-, die CDU/CSU- und die SPD-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Die AfD-Fraktion. Enthaltungen? – Linke und Grüne. Damit ist der Gesetzentwurf in der zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind wiederum SPD-, CDU/CSU- und FDP-Fraktion. Wer dagegenstimmt, den bitte ich, sich zu erheben. – Das ist die AfD-Fraktion. Wer sich enthält, den bitte ich, sich zu erheben. – Das sind die Grünen und die Linken. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Meine Damen und Herren! Die AfD hält Wort. Wie von mir bereits in den frühen Morgenstunden des 15. Juni 2018 angekündigt – es war so etwa 2 Uhr; der eine oder andere von Ihnen wird sich erinnern –, reden wir nun wieder einmal über einen AfD-Antrag, der die Wiederherstellung rechtsstaatlicher Zustände in Deutschland zum Inhalt hat.
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Diesmal geht es um das Familienrecht, das im vergangenen Jahr auf verfassungswidrige Abwege geraten ist. Wir erinnern uns: Hals über Kopf und von peinlichem rot-grün-buntem Klamauk begleitet – ich sage nur: irres Herumgetanze und Konfettikanonen hier im Bundestag –, wurde am 30. Juni 2017 das Gesetz zur sogenannten Ehe für alle beschlossen. Dafür stimmten alle Rot-Grünen. Gespalten war die CDU/CSU-Fraktion – nachdem Frau Merkel huldvoll, aber wohl versehentlich den ja eigentlich gar nicht existierenden Fraktionszwang aufgehoben hatte. Etwa 75 Prozent – Sie erinnern sich vielleicht – der CDU/CSU-Abgeordneten insgesamt, darunter nahezu alle CSU-Abgeordneten, sprachen sich gegen dieses rot-grüne Ideologieprojekt aus,
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gegen ein Projekt, mit dem das verfassungsrechtlich geschützte Institut der Ehe als dauerhafte Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau auf dem Altar der bunten Beliebigkeit geopfert wurde,
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als erster Schritt übrigens – ich vermute das – in Richtung gänzliche Beliebigkeit. Demnächst wird es wahrscheinlich möglich sein, dass mehr als zwei Personen heiraten. Wahrscheinlich wird es dann möglich sein, auch die anderen Geschlechter einzubeziehen – es soll ja so um die 60 Stück geben –, sodass die untereinander, jeder mit jedem, heiraten können. Das sind gruselige Vorstellungen für uns, dass die absolute Beliebigkeit der Ehe
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von Ihnen hier angedacht und wahrscheinlich auch durchgesetzt werden soll.
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Das hat uns auf den Plan gerufen; denn diese Vorstellungen sind nicht nur gruselig – Sie sind auch gruselig mit Ihrem Rumgebrülle –, sie sind auch in der jetzigen Situation, wo die Ehe noch auf zwei Personen und auf zwei Geschlechter beschränkt ist, schlicht und ergreifend verfassungswidrig.
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Genau darum geht es hier und heute: Es geht nicht – und jetzt hören Sie genau zu! – darum, jemandem vorschreiben zu wollen, mit wem oder mit wie vielen er/sie/es – oder wie auch sonst die Bezeichnung sein soll – sein Leben gestalten will. Da mischen wir uns nicht ein.
Allerdings mischen wir uns ein, wenn verfassungswidrige Gesetze gemacht werden oder gemacht wurden, und genau das ist hier geschehen. Ausgangspunkt ist, wie Sie alle wissen, Artikel 6 Absatz 1 unseres Grundgesetzes, in dem ausdrücklich Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung gestellt werden.
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Dazu war immer allen klar, auch den Vätern und Müttern unseres Grundgesetzes, dass die Geschlechterverschiedenheit ein wesentliches Merkmal dieser Ehe ist. Das war so glasklar, dass es auch im Parlamentarischen Rat, der ja das Grundgesetz vorformuliert hat, keinerlei Debatte zu Homo-Ehe gab. So glasklar war das jahrzehntelang.
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Dieses Gesetz „Ehe für alle“ ist daher ein greifbar verfassungswidriges Gesetz, das beseitigt werden muss; deshalb unser Antrag, meine Damen und Herren.
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Es gibt keine einzige ernstzunehmende Stimme, die unsere Auffassung nicht teilen würde,
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insbesondere nicht die Gutachten, die Sie erwähnt haben. – Die lächerlichen Stimmen kommen dann nach mir hier; Sie werden keine ernstzunehmende Stimme von diesem Rednerpult aus hören; das verspreche ich Ihnen.
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Dagegen sprechen übrigens auch nicht die beiden Gutachten aus dem Januar 2018, von Frau Coester-Waltjen oder von Herrn Wollenschläger; sie wägen ab, kommen aber auch zu dem Ergebnis, dass wir eigentlich recht haben.
Ich lade Sie übrigens gerne ein – im Namen der AfD-Fraktion –, sich an einem Normenkontrollverfahren, einer abstrakten Normenkontrolle zu beteiligen, um das 25-Prozent-Quorum, das wir als AfD ja leider nicht erfüllen, zu erfüllen. Sie sollten sich daran beteiligen; denn über 200 CDU/CSUler waren ja dagegen. Die anderen waren alle dafür. Aber sind Sie überzeugt davon, dass Ihr Gesetz richtig ist?
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– Warum legen Sie es dann dem Bundesverfassungsgericht nicht vor und schaffen so Rechtsfrieden? Wir laufen demnächst mit einer Unterschriftensammlung durch die Reihen. Ich bin gespannt, wer sich traut, zu sagen: Ja, wir lassen es drauf ankommen beim Bundesverfassungsgericht. Ich lade Sie dazu ein, meine Damen und Herren.
Es gibt eine Möglichkeit, auf den Pfad der Tugend zurückzukehren: Sie können natürlich das Grundgesetz ändern und den Ehebegriff dann beliebig definieren.
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Aber genau das machen Sie nicht – weil Sie wissen, dafür fehlen Ihnen die gesellschaftlichen Mehrheiten. Sie sind schlicht zu feige, eine offene Debatte darüber zu führen, was die Ehe sein soll.
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Sie versuchen, es einfachgesetzlich zu regeln, und das geht schief. Die Konsequenz müsste dann auch sein, dieses Projekt schnellstens aufzugeben und rechtsstaatliche Zustände zu schaffen.
Ich greife der Debatte voraus – den wenig ernstzunehmenden Stimmen, die hier nach mir gleich kommen werden –:
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Sie werden es nicht tun. Aus ideologischen Gründen werden Sie auf dem rechtswidrigen Zustand, der derzeit herrscht, beharren. Damit werden Sie wieder einmal verdeutlichen, meine Damen und Herren von den Altparteien, was Sie vom Grundgesetz halten. Sie halten sich nur dann an das Grundgesetz, wenn es Ihnen politisch in den Kram passt, und das unterscheidet Sie ganz gewaltig von uns, von der AfD.
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Meine Damen und Herren, Ihr Verhalten wäre, wenn es so käme, schlecht, schäbig.
Ich komme zum Ende. Nutzen Sie die 38 Minuten, die wir für die Debatte haben. Nutzen Sie sie, gehen Sie in sich; denn auch hier gilt das, was der Kollege Curio heute Morgen zum Tagesordnungspunkt 4 gesagt hat:
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Wenn Sie gegen unseren Antrag stimmen, stimmen Sie nicht nur gegen die AfD, meine Damen und Herren von den Altparteien, sondern auch gegen unsere Verfassung; und das wiederum. Das sollten Sie nicht noch einmal tun.
Ich bedanke mich für die ungeteilte Aufmerksamkeit und bin gespannt auf die Stimmen derer, die jetzt nach mir reden.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Rede beginnen mit einer Gratulation, und zwar möchte ich den 20 000 Menschen in Deutschland gratulieren, die seit der Öffnung der Ehe vor gut einem Jahr in unserem Land geheiratet haben,
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die vor den Traualtar getreten sind, die Ja gesagt haben, in guten wie in schlechten Zeiten füreinander einzustehen, bis dass der Tod sie scheidet. Diese Menschen haben Ja gesagt, Verantwortung füreinander zu übernehmen, einander treu zu sein. Und darüber freue ich mich. Ich freue mich auch und gerade als Christdemokrat darüber, weil diese Menschen zutiefst bürgerliche, zutiefst konservative Werte leben. Ich finde, das verdient Anerkennung und Respekt, meine Damen und Herren.
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Der Weg dahin war auch und gerade bei uns in Deutschland kein leichter. Auch in meiner eigenen Partei und in meiner Fraktion haben sich viele Kollegen damit schwergetan,
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und manche konnten am Ende der Öffnung der Ehe auch nicht zustimmen. Aber am Ende hat der Deutsche Bundestag mit einer überwältigenden Mehrheit das Gesetz beschlossen. Die Abgeordneten hier im Hohen Haus haben aufgrund ihrer ureigensten Überzeugung frei nach ihrem Gewissen entschieden. Die Debatten, die wir hier im Deutschen Bundestag mit einer Gewissensentscheidung abschließen, sind oftmals die schwierigsten. Sie sind oftmals aber auch die besten. Sie werden als Sternstunden des Parlaments bezeichnet, weil allein die Kraft des Argumentes zählt. Sie berühren oft fundamentale Fragen von Staat und Gesellschaft, von Leben und Tod, von Moral und Ethik. Durch Gewissensentscheidungen werden gesellschaftliche Kontroversen befriedet. Daher sind diese Entscheidungen, sind diese Gewissensentscheidungen von besonderer Bestandsfestigkeit und oftmals auch durch eine besondere Akzeptanz gefestigt.
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Ich finde, es ist ein guter und auch ein notwendiger parlamentarischer Brauch, dass, selbst wenn sich nach einer Wahl die Mehrheiten hier im Hohen Hause ändern sollten, solche Entscheidungen nicht geschleift und nicht rückgängig gemacht werden. Das gebietet der Respekt vor der Institution Bundestag, das gebietet der Respekt vor der Gewissensentscheidung der Abgeordneten, und das gebietet auch der Respekt vor der gesellschaftlichen Befriedung, die damit erreicht wurde.
({4})
Trotzdem will nun die AfD alles zurückabwickeln. Ich akzeptiere, dass Sie diese Entscheidung ablehnen. Aber als Demokraten hätten Sie die verdammte Pflicht, diese Entscheidung zu akzeptieren. Dass Sie nun dagegen vorgehen, zeigt nur einmal mehr, dass Sie mit Demokratie nichts am Hut haben, dass Sie keinen Respekt haben vor der Gewissensentscheidung, die hier im Hohen Haus getroffen wurde.
({5})
Sie wollen einen gesellschaftlichen Rollback. Sie wollen die Gesellschaft spalten. Sie wollen sich auf Kosten von Schwulen und Lesben in unserem Land profilieren. Das ist verantwortungslos, und das ist reaktionär, meine lieben Damen und Herren von der AfD.
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Und jetzt versuchen Sie auch noch, Ihre reaktionäre Politik verfassungsrechtlich zu bemänteln. Sie sagen, Sie wollen verfassungsgemäße Zustände wiederherstellen.
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Die Ehe sei durch das Bundesverfassungsgericht klar als Bund von Mann und Frau definiert. So schreiben Sie es in Ihrem Antrag. Das ist jetzt entweder vorgeschoben,
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oder Sie haben eine sehr mäßige staatsrechtliche Ausbildung erhalten und im ersten Semester Jura nicht richtig aufgepasst; denn wenn wir uns den verfassungsrechtlichen Ehebegriff in Artikel 6 unseres Grundgesetzes anschauen, dann stellen wir fest, dass dieser Begriff – und zwar in der Diktion der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, auf das Sie sich beziehen – offen ist. Er muss in den jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext eingebettet werden. Er muss mit Blick auf einfachgesetzliche Regelungen und mit Blick auf die gesellschaftlichen Anschauungen interpretiert werden.
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Unsere Verfassung lebt, sie atmet, sie verändert sich genauso, wie unsere Gesellschaft sich verändert.
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Das Verständnis von der Ehe hat sich in den letzten Jahren fundamental gewandelt, meine Damen und Herren. Früher durfte es keine Ehe zwischen Adligen und Bürgerlichen geben. Früher durfte es auch keine Ehe zwischen Katholiken und Protestanten geben.
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Nein. Ich möchte hier im Zusammenhang vortragen. – Früher konnte sogar ein Ehemann seiner Ehefrau das Arbeitsverhältnis kündigen, ohne diese zu fragen. Heute ist all das von gestern. Heute sind diese diskriminierenden Regelungen abgeschafft. Heute sind gleichgeschlechtliche Paare selbstverständlicher Teil unserer gesellschaftlichen Realität. Heute wird auch sprachlich nicht mehr differenziert, ob jemand verpartnert oder verheiratet ist. Heute dürfen gleichgeschlechtliche Paare heiraten. Und wir hier im Bundestag als einfacher Gesetzgeber haben durch unsere Entscheidung selbst dazu beigetragen,
({0})
dem verfassungsrechtlichen Ehebegriff eine andere Bedeutung zukommen zu lassen.
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Das Bundesverfassungsgericht betont, dass wir als Gesetzgeber Gestaltungsfreiheit haben, und wir haben diese Gestaltungsfreiheit genutzt, um die Öffnung der Ehe zuzulassen.
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Deswegen bin ich überzeugt: Dass gleichgeschlechtliche Paare heute heiraten dürfen, steht in bestem Einklang mit unserem Grundgesetz, mit unserer Verfassung.
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Weil Herr Brandner gesagt hat, es gibt hier keine ernstzunehmenden Stimmen neben ihm – das ist ja schon eine bemerkenswerte Selbstüberschätzung, was wir da gehört haben –, sage ich:
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Nicht nur die Anhörung im Rechtsausschuss, sondern auch verschiedene Gutachten von Staatsrechtsprofessoren haben gezeigt, dass die Verschiedengeschlechtlichkeit heute kein exklusives und damit kein prägendes Strukturmerkmal der Ehe ist. Sie beziehen sich in Ihrem Antrag ja nun auf den Wortlaut von Artikel 6. Ich weiß nicht, ob Sie eine andere Ausgabe des Grundgesetzes haben als ich; aber ich habe darin nichts von Mann und Frau gelesen, sondern von Ehe und Familie.
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Wenn Sie sich die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts einmal genau anschauten und diese Rechtsprechung vielleicht auch noch verstünden, dann wüssten Sie, dass laut Verfassungsgericht auch gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern unter den grundgesetzlichen Schutz von Artikel 6, also unter den Familienbegriff fallen. Wenn aber jetzt der Familienbegriff auch gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern umfasst, dann hat das natürlich Auswirkungen auf die Auslegung des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs. Das nennt man systematische Auslegung. Das lernt man eigentlich im ersten Semester Jura. Da haben Sie wahrscheinlich gefehlt.
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All das, was Sie hier vorlegen, ist keine überzeugende verfassungsrechtliche Argumentation. Der Antrag, den Sie uns hier vorlegen, ist Murks, liebe Damen von der AfD.
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Ihr Antrag ist demokratietheoretisch verfehlt. Sie versuchen, damit die Gesellschaft zu spalten. Ihr Antrag steht verfassungsrechtlich auf tönernen Füßen. Man kann nur eines machen: diesen Antrag ablehnen.
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Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Jens Brandenburg.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Brandner,
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Sie haben es eben erwähnt: In den frühen Morgenstunden des 15. Juni haben Sie tatsächlich in diesem Hause eine bemerkenswerte Rede gehalten. Sie haben zum falschen Thema gesprochen, Sie sind nach Ihrer Rede direkt abgehauen und schlafen gegangen, anstatt dem Rest der Debatte zuzuhören, und Sie haben angekündigt, einen „ausgefeilten Gesetzentwurf“ zur Abschaffung der Ehe für alle vorzulegen. Das beschämende Ergebnis dieses Versprechens haben wir heute vor uns.
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Dieser Versuch eines Gesetzentwurfs ist inhaltlich falsch und handwerklich grottenschlecht gemacht.
({2})
Als Ihr AfD-Kollege Baumann im Frühjahr davon gesprochen hat, wir Abgeordnete hätten „neun Sommerwochen Urlaub“, habe ich das für einen schlechten Scherz gehalten. Sie beweisen heute, dass Sie tatsächlich neun Wochen nicht gearbeitet haben.
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Als Rechtsanwalt sollten Sie sich für dieses Papier schämen. Ich erkläre Ihnen gerne an drei Beispielen, warum.
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Erstens. Sie haben völlig vergessen, in diesem Gesetzentwurf zu regeln, was mit den über 10 000 bestehenden gleichgeschlechtlichen Ehen in Deutschland passieren soll.
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Zweitens. Im Transsexuellengesetz würden Sie mit diesem Gesetzentwurf eine Passage wieder einführen, die das Bundesverfassungsgericht bereits eindeutig als grundgesetzwidrig erkannt hat.
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Für Sie als Vorsitzenden des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und erst recht nach dem Geschwafel, das wir eben von Ihnen gehört haben, ist das eine große Blamage.
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Drittens – er ist ja so schlecht gemacht; lesen Sie Ihren Gesetzentwurf mal –: Sie drehen damit viele, viele andere Gesetze um ein Jahr zurück in die Vergangenheit; es ist ja gut, dass es nur ein Jahr ist.
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Das betrifft all die Änderungen in diesen Gesetzen, die seitdem vorgenommen worden sind. Beispiele aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch: Sie berühren damit seitdem vorgenommene Änderungen an rechtlichen Vorschriften zu Pauschalreisen, zu Bezahldiensten, zum Bauvertragsrecht und auch zur Nichtvaterschaft bei Samenspenden, und im Personenstandsgesetz berühren Sie sogar eine Regelung zur Fristverlängerung für das Sonderstandesamt Bad Arolsen.
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Jetzt schmunzeln Sie ein wenig. Aber dieses Sonderstandesamt ist deshalb so besonders, weil es die Sterbefälle von KZ-Opfern beurkundet. Diese Frist wurde auf 80 Jahre verlängert, damit das Sterberegister fortgeführt werden darf, um neue Erkenntnisse zur Identität dieser Personen nachhalten zu können.
({10})
Ein sorgfältiger Umgang mit den Daten dieser Menschen ist auch eine Frage des Respekts vor den Opfern des Nationalsozialismus. Mit Ihrem Gesetzentwurf drehen Sie diese Regelung zurück.
({11})
Und all das, weil Sie nicht in der Lage sind, einen ordentlichen Gesetzentwurf zur Abschaffung der Ehe für alle vorzulegen!
({12})
Sie sind entweder stinkfaul, oder Sie können es einfach nicht.
({13})
In beiden Fällen hätten Sie als Abgeordneter versagt.
({14})
Ihr Gesetzentwurf ist auch inhaltlich falsch. Sie verstecken sich hinter irgendwelchen Paragrafen, die es so gar nicht gibt. Aber eigentlich geht es Ihnen um etwas anderes: Sie glauben, dass Familien wie die Ihrer nicht anwesenden Fraktionsvorsitzenden in Wahrheit – angeblich – Familien zweiter Klasse seien. Seit über einem Jahr hören wir von Ihnen eine homophobe Hasstirade nach der anderen.
({15})
Die Ehe für alle ist nicht verfassungswidrig, und sie hat auch niemandem etwas weggenommen. Heute, in dieser Diskussion, geht es nicht nur um die 10 000 geschlossenen gleichgeschlechtlichen Ehen in Deutschland, sondern es geht auch um alle Menschen, die in einer freien Gesellschaft leben wollen.
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Sie führen hier einen billigen Wahlkampf auf Kosten der freien Gesellschaft. Dafür sollten Sie sich schämen!
Erlauben Sie mir eine letzte persönliche Bemerkung. Seit 15 Jahren lebe ich in einer sehr glücklichen Partnerschaft mit meinem Mann,
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und keine einzige Sekunde davon möchte ich missen. Dieses Glück, diese Liebe und auch diese Lebensfreude werden wir uns durch Ihren Hass und Ihre Kaltherzigkeit nicht nehmen lassen. Die Ehe für alle bleibt!
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Als Nächstes erteile ich das Wort dem Kollegen Johannes Kahrs von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich bei den beiden direkt vor mir redenden Kollegen ganz herzlich für ihre Ausführungen bedanken. Es ist ja selten so, dass sich das Haus so einig ist
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und dass wir uns in dieser Frage, die wir hier mit großer Mehrheit beschlossen haben, wieder gemeinsam dafür aussprechen, damit das, was diese rechtsradikale Truppe rechts von mir zum Besten gibt, nicht wahr wird. Man merkt: Wählen kann entscheiden. Wer diese Herrschaften am äußerst rechten Rand wählt, der weiß, was er kriegt.
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Wir hatten heute eine Sitzung des Haushaltsausschusses. Im Haushaltsausschuss hat mir Herr Boehringer zu meiner Ehe gratuliert;
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Herr Boehringer gehört ja Ihrer Fraktion an. Ich bin vor zehn Tagen mit meinem Mann verheiratet worden. Wir haben das in der Hauptkirche Sankt Katharinen in Hamburg gemacht. Die Pröpstin und Hauptpastorin hat die Rede gehalten. Sie hat davor gewarnt, dass dieses Land nicht weiter nach rechts rücken darf.
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Den einzigen Konflikt, den ich mit meiner Hauptpastorin und meinem Mann hatte, war, ob wir von „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ alle 15 Strophen singen oder nur sechs. Ich habe nur sechs zugebilligt bekommen. Ich habe verloren.
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Ansonsten habe ich durch diese Ehe gewonnen. Ich bin darüber sehr glücklich.
Ich habe keine wirkliche Lust, mich ernsthaft mit dem Unsinn, den Sie hier heute vortragen, zu beschäftigen,
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weil das in der Sache etwas ist, was niemandem etwas wegnimmt, was inzwischen mehrtausendfach in dieser Republik geschlossen worden ist und was zum gesellschaftlichen Frieden in diesem Lande beigetragen hat. Ihre Bemerkungen, die gerade zwischendurch bei der Rede des Kollegen von der FDP gekommen sind, waren hinreichend dümmlich.
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Ich glaube, dass man sehr aufpassen muss, nicht mit den Gefühlen von Menschen zu spielen. Die Ehe für alle ist ein gesellschaftliches Konsensthema.
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Es gibt in der Bevölkerung Zustimmungswerte zwischen 70 und 80 Prozent.
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Dass Sie da nicht dazugehören, weiß ich; das ist auch in Ordnung. Verfassungsrechtler sind inzwischen einhellig der Meinung, dass der Ehebegriff in Artikel 6 des Grundgesetzes ein entwicklungsoffener Begriff ist. Und ein von der CSU-Regierung in Bayern in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten hat bestätigt, dass das, was wir hier im Deutschen Bundestag gemacht haben, rechtens ist. Wenn das schon die CSU bestätigt, dann kann das ja selbst die AfD vielleicht irgendwann einmal glauben.
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Ihre Fixierung auf diese Themen ist am Ende immer peinlich. Sie machen hier im Bundestag immer wieder Themen stark,
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die – das muss man ehrlicherweise sagen – mit der Lebensrealität vieler Menschen gar nichts zu tun haben.
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Sie kommen mit Gender-Mainstreaming an. Sie kommen mit irgendwelchen Meldeportalen an, wo sich Schüler über Lehrer beschweren können. Sie reden über das Thema Coming-out, indem Sie den ganzen Kirchentag damit in Verruf bringen. Herr Höcke redet über gewollte und ungewollte Sexualpraktiken; das alles möchte ich mir bei Herrn Höcke gar nicht vorstellen.
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Da weiß man doch, dass das nicht das ist, was die Menschen interessiert. Das hat weder mit dem Wohnungsbau noch mit einer sicheren Rente noch mit einer vernünftigen Versorgung im Gesundheitsbereich zu tun.
Ich finde, auch als Fraktion kann man ein bisschen loyaler der eigenen Fraktionsvorsitzenden gegenüber sein.
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So kann man doch mit seiner eigenen Fraktionsvorsitzenden nicht umgehen. Frau Weidel lebt mit ihrer Frau in einer eingetragenen Partnerschaft und hat die Kinder adoptiert. Wenn Sie als Fraktion Ihrer Fraktionsvorsitzenden hier ihr eigenes Leben vorwerfen und so ihren Lebensentwurf kritisieren, dann ist das unanständig. Aber diskutieren Sie das doch bitte lieber in Ihrer Fraktion, und behelligen Sie weder die anständigen Bürger in diesem Land noch uns damit!
Vielen Dank.
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Die Kollegin Doris Achelwilm ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich selbst bin nicht verheiratet, kann aber natürlich nachvollziehen, dass es gute Gründe gibt, eine Ehe schließen zu wollen.
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Viele dieser Gründe haben mit dem Bedürfnis nach Ausdruck von Liebe zu tun – wir haben das gehört –, die nicht nur zwischen heterosexuellen Paaren bestehen und die deswegen natürlich auch nicht auf sie beschränkt sein sollten. Andere Beweggründe, zu heiraten, sind eher pragmatisch als romantisch oder beides. Sie haben mit Rahmenbedingungen zwischen Steuern, Sorge- und Besuchsrechten zu tun, für die aus meiner Sicht das Gleiche gilt: Wenn schon, dann sollten alle Zugang zu diesen gesonderten Ansprüchen haben.
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Ein grundsätzliches Problem aus linker Sicht rührt eher daher, dass es nach wie vor das Steuerprivileg aus dem Ehegattensplitting gibt, das jährlich etwa 22 Milliarden Euro ausmacht. Wir finden, diese staatlichen Zuschüsse sollten nicht länger an die Ehe, sondern an ein armutsfestes Auskommen für Kinder gebunden sein.
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Bei allen Ehebeweggründen, die es zwischen Liebe und anderen Faktoren gibt, verdient es Respekt, wenn Menschen gleichberechtigt Verantwortung füreinander übernehmen. Es gibt Ehen, die begeistern, darunter die, die gegen klassenpolitische, rassistische oder geschlechtertraditionelle Widerstände geschlossen wurden. Deswegen auch von uns an dieser Stelle noch einmal herzlichen Glückwunsch allen, die sich mit ihrer Eheschließung über falsche Grenzziehungen hinweggesetzt haben. Ihr seid viele, und irgendwelche AfDler nehmen euch das nicht weg.
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Ihre Gesetzesinitiative zur Aufhebung der Ehe für alle ist ein schlechter Witz. Das 2017 beschlossene Eheöffnungsgesetz war überfällig. Es wurde in Deutschland – an europaweit 14. Stelle – nach 25 Jahren des Abwägens und des Aussitzens im Sommer 2017 verabschiedet, als die große Mehrheit der Bevölkerung längst dafür war. Seitdem gab es über 10 000 Eheschließungen, die vorher so nicht möglich waren. Gleichzeitig befinden wir uns aber auch an dem Punkt, dass die sogenannte Ehe für alle an vielen Stellen noch einer konsequenten Umsetzung bedarf. Es ist längst an der Zeit, Regenbogenfamilien und Patchworkfamilien zu stärken. Gleichzeitig müssen Familien, insbesondere Alleinerziehende, unabhängig davon gefördert werden, ob die Familie auf einer Eheschließung beruht oder eben nicht.
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Wir als Linke wollen, dass lesbischen Elternpaaren die gleichberechtigte Co-Mutterschaft eingeräumt wird und nicht länger ein Elternteil die stressige und langwierige Prozedur der Stiefkindadoption durchlaufen muss.
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Auch das ist an der Zeit. Von daher haben wir da noch viel zu tun.
In Rumänien hat die Regierung kürzlich versucht, mit einem Referendum Stimmung für eine homophobe Einschränkung der Ehe zu machen.
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Sie sind also mit Ihren Ideen nicht alleine. Aber es scheiterte in Rumänien bereits an der erforderlichen Mindestbeteiligung. Das hat nichts gebracht.
Auch die Menschen in Irland haben in einem Volksentscheid ähnlich abgestimmt. Egal was hasserfüllte Kräfte im Schilde führen: Rechtsradikalismus und Homophobie werden nicht gewinnen.
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Ich will noch sagen, dass die Ehe für alle politisch nicht nur ein Happy End und schon gar kein Schlusspunkt ist;
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sie ist der Ausgangspunkt einer neuen Debatte um Familienbilder und deren rechtliche Anerkennung, um Verantwortungsgemeinschaften, die mehr als die Vater-Mutter-Kernfamilie umfassen und um queerpolitische Kämpfe dies- und jenseits etablierter Institutionen.
Die Lebensentwürfe, für die wir uns heute entscheiden, sind längst nicht alle geschützt und gleichgestellt. Teilweise werden sie aktiv und verstärkt unter Druck gesetzt. Das werden wir nicht zulassen.
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Solange es die Ehe gibt, sollen alle, die das wollen und die im heiratsfähigen Alter sind, einander heiraten dürfen. Die Geschlechterkonstellation spielt dabei keine Rolle. Wir haben das eben schon im Zuge der dritten Option diskutiert.
Die AfD kann mit ihrem Hassantrag nur scheitern. Liebe ist stärker als Hass.
Vielen Dank.
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Ulle Schauws das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt bereits schöne Geschichten gehört, alleine von den Kollegen hier im Bundestag seit der Einführung der Ehe für Lesben und Schwule. Das finde ich wunderbar.
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Wenn wir uns anschauen, was seit der Einführung des Gesetzes zur Eheschließung von Menschen gleichen Geschlechts passiert ist, dann sehen wir: Der zentrale Begriff und das Phänomen, über das wir hier reden, ist: Glück! Es ist ein großes Glück, dass Menschen, die das wollen, heiraten können: hetero, lesbische und schwule Paare. Laut dpa haben sich in diesem Jahr nahezu 10 000 lesbische und schwule Paare diese Freiheit genommen.
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Sehr viele Menschen freuen sich mit ihnen. Das ist ja das Phänomen des Glücks: Es ist ansteckend.
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Die Solidarität, die Paare gleichen Geschlechts in Deutschland vor einem Jahr und seither immer noch erfahren, ist überwältigend. Das Bild vom Konfettiregen hier im Hause ist um die ganze Welt gegangen.
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– Genau, wunderbar war das.
Klar ist längst, dass die Öffnung der Ehe niemandem etwas wegnimmt. Im Gegenteil: Sie ist ein großer Gewinn für unsere offene Gesellschaft insgesamt. Und unabhängig von der sexuellen Orientierung ist es für die große Mehrzahl der Menschen ein wunderbares Gefühl, in einer offenen Gesellschaft zu leben, in der Diskriminierung abgebaut und nicht befeuert wird,
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in der Bürgerrechte gestärkt und nicht beschnitten werden.
Die Ehe für alle hat zu diesem positiven Empfinden erheblich beigetragen. Sie wird als echte Errungenschaft quer durch die ganze Gesellschaft wahrgenommen. Das hat dieses Gesetz eben auch bewirkt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Denn wenn Leute die Freiheit haben, nach ihrer Fasson zu leben – dafür steht die Ehe für alle sinnbildlich –, wenn Leute leben können, ohne in ihren Rechten beschnitten zu werden, ohne vorgeschrieben zu bekommen, wie sie zu leben haben, dann haben Menschen ganz einfach Luft zum Atmen. Das macht eine freie Gesellschaft aus.
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Sie von der AfD machen aber genau das Gegenteil. Sie sind rückwärtsgewandt, sie wollen Menschen diesen Rollback aufzwingen, und sie wollen Lesben und Schwulen die Ehe wieder verbieten. Ihre Forderungen sind der Inbegriff von Diskriminierung. Sie arbeiten systematisch an der Entrechtung von Menschen, die Ihnen nicht gefallen. Das ist erbärmlich,
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und das wird Ihnen die große Mehrheit nicht durchgehen lassen. Unser Motto lautet nicht nur am Samstag: unteilbar. Und das ist gut so.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir merken auch, dass von den Skeptikern der Ehe für alle kaum mehr kritische Töne zu hören sind.
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Selbst die CSU hat von einer Verfassungsklage abgesehen – da sollten Sie sehr genau hinhören –, und zwar aus gutem Grund: weil nämlich die Gutachten davon abgeraten haben.
Noch etwas fällt mir auf. Wenn ich in Schulklassen regelmäßig nachfrage, welche politischen Entscheidungen die Schülerinnen und Schüler mit am wichtigsten fanden, dann lautet die Antwort ganz oft: gleiche Rechte für gleiche Liebe. – Die Schülerinnen und Schüler haben das mit der Freiheit und Gleichheit eben verstanden.
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Ich habe mir den Gesetzentwurf der AfD natürlich auch genau angesehen, und auch ich muss leider feststellen: Das, was Sie hier vorgelegt haben, ist wirklich Murks. Mit diesem Gesetzentwurf sollen das Bürgerliche Gesetzbuch, das Lebenspartnerschaftsgesetz, das Personenstandsgesetz und das Transsexuellengesetz jeweils die bis zum 30. September 2017 geltende Fassung wieder erhalten.
Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Nein, ich lasse keine Zwischenfrage zu. Den Irrsinn lasse ich nicht noch weiter zu. Der Gesetzentwurf, den Sie hier vorgelegt haben, ist auch völliger Irrsinn. Damit würden nicht nur die Ehe für alle, sondern zahlreiche andere Novellierungen rückgängig gemacht – der Kollege hat es gerade schon gesagt –: die Änderung reiserechtlicher Vorschriften, die Reform des Bauvertragsrechts und die Musterfeststellungsklage. Das alles haben Sie mit dem Bade ausgeschüttet.
Im Ernst: Wollten Sie die Reform des Bauvertragsrechts rückgängig machen, oder haben Sie es bis eben noch gar nicht gemerkt?
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Ganz ehrlich, dem Vorsitzenden des Rechtsausschusses hätte man so ein dilettantisches Arbeiten nicht zugetraut.
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– Ich war jetzt einmal positiv eingestellt. – Aber das zeigt: Die AfD und Herr Brandner, Sie sind nicht nur moralisch, sondern auch gesetzgeberisch Analphabeten. Aber das nur nebenbei bemerkt.
Für uns Grüne geht Gleichstellung nach vorne, und zwar nur nach vorne. Wir wollen freie, selbstbestimmte Menschen und vielfältige Familien stärken.
Schwarz-weiß war gestern. Die Zukunft ist bunt.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor gut einem Jahr hat der Deutsche Bundestag die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare nach einer langen und intensiven Debatte zugelassen. Und ja, diese Entscheidung war als Gewissensentscheidung zwischen den Kollegen und Fraktionen umstritten. Aber eines muss nach diesem Jahr festgehalten werden: Die Fraktionen, die damals daran beteiligt waren – ich beziehe jetzt die FDP ausdrücklich mit ein –,
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sind mit dieser Entscheidung respektvoll umgegangen. Die Mehrheit hat akzeptiert, dass die Ehe für alle eingeführt worden ist. Diejenigen, die in dieser Abstimmung nicht obsiegen konnten, haben dieses Ergebnis ebenfalls mit Respekt zur Kenntnis genommen und diese neue gesellschaftliche Realität akzeptiert.
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Das ist der Unterschied zu diesem Gesetzentwurf. Allein die Art und Weise, wie er vorgetragen wurde und wie er formuliert ist, lässt diesen notwendigen Respekt für demokratische Entscheidungen vermissen.
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Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
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Und ja, nach einem Jahr gleichgeschlechtlicher Ehe und vielen Tausend glücklichen Paaren muss man sagen, dass sich vielleicht auch der eine oder andere Kollegen anders entscheiden wird. Aber der entscheidende Punkt ist, dass Sie auch verfassungsrechtlich danebenliegen. Ich will es Ihnen noch einmal deutlich vor Augen führen.
Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in seiner langjährigen Rechtsprechung einerseits auf die Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehe als Kernelement des Ehebegriffs hingewiesen, aber wer davon spricht, erzählt die Geschichte nur zur Hälfte. Denn Sie müssen nämlich bei der Betrachtung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung auch beachten, dass die Sonderstellung der verschiedengeschlechtlichen Ehe gegenüber der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft in den letzten 15 Jahren Stück für Stück eingeebnet worden ist, und zwar aus guten Gründen, unter Berufung auf den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes. Wir haben das in den Entscheidungen über die Adoption, insbesondere die Sukzessivadoption, zu beobachten. Ich erwähne das Urteil zur steuerlichen Gleichstellung und übrigens auch das Urteil vom 10. Oktober letzten Jahres zur geschlechtlichen Identität, wo das Verfassungsgericht ganz deutlich auf ein Diskriminierungsverbot hinwirkt.
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Deswegen lässt sich im Kern sagen: Erstens. Die Garantie des Instituts der Ehe verbietet nicht die Schaffung eines inhaltsgleichen Rechtes, und gleichzeitig gibt es keine Gründe, dass die Lebenspartnerschaft direkt in eine Ehe überführt werden könnte. Worin besteht nämlich der Unterschied?
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin von Storch zu?
Ja.
Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Wenn die Ehe auch aus zwei Menschen gleichen Geschlechts bestehen kann, wie Sie es jetzt gesagt haben – unabhängig davon, wie Sie damals abgestimmt haben –, ist es dann auch denkbar, dass die Ehe auch aus drei Personen bestehen könnte, und, wenn ja, warum, und, wenn nein, warum nicht?
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Frau Kollegin von Storch, Sie haben vorhin, in der Debatte zur Geschlechtsidentität, eine unwürdige Frage gestellt. Wenn Sie jetzt wieder mit einer ähnlich strukturierten Frage versuchen, eine der Debatte unwürdige Haltung an den Tag zu legen, dann kann ich Ihnen nicht helfen.
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Sie können die Debatte heute nicht entwerten, indem Sie hier von drei Personen reden. Ehe ist die lebenslange Verbindung und Verantwortungsgemeinschaft zweier Personen gleich welchen Geschlechts, gleich welcher Identität,
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aber eben nicht von drei Personen. Dass Sie hier so fragen, zeigt eigentlich, wes Geistes Kind Sie sind.
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Noch einmal zurück zum Verfassungsrecht. Worin besteht denn jetzt eigentlich noch der Unterschied zwischen einer Lebenspartnerschaft und einer Ehe? Ausschließlich in der Bezeichnung; denn alle anderen Unterscheidungsmerkmale sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eingeebnet. Und wenn es nur um die Bezeichnung geht, dann, glaube ich, spricht sehr viel dafür, dass bereits der einfache Gesetzgeber eine Änderung des Ehebegriffs vornehmen konnte und deswegen keine verfassungsändernde Mehrheit notwendig war. Deswegen sage ich: Ja, der Bundestag hat am letzten Sitzungstag der vorvergangenen Wahlperiode die Änderung der Ehe beschlossen, und dabei wird und muss es auch bleiben.
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Im Übrigen hat sich auch die Lebenswirklichkeit verändert. Wenn man es sich rechtsvergleichend anschaut, dann sieht man, dass in vielen Staaten der Europäischen Union, aber auch im Geltungsbereich der Europäischen Menschenrechtskonvention, übrigens auch in den Vereinigten Staaten, die gleichgeschlechtliche Ehe zulässig ist, und dann erkennt man auch, dass sich in der westlichen Hemisphäre insgesamt ein Kulturwandel ergeben hat. Diesen Kulturwandel muss der verfassungsgebende Gesetzgeber natürlich auch berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund muss man einfach sagen: Die Debatte war langwierig, und ja, es gibt verschiedene Meinungen, die man auch zu respektieren hat; aber wir haben das Ergebnis, und dabei wird es auch bleiben.
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Ich gehe sogar einen Schritt weiter: Gerade vor dem Hintergrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes und des Diskriminierungsverbotes müsste man sich fragen, ob es nicht mittlerweile eine Pflicht gäbe, dass der Gesetzgeber auch die Ehe für gleichgeschlechtliche Personen zulässt, weil nämlich, wenn dies nicht der Fall wäre, gegebenenfalls eine Diskriminierung vorläge.
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Im Übrigen liegen Sie auch falsch, wenn Sie einen Gesetzentwurf ohne eine Übergangsfrist vorlegen, weil Sie damit die 10 000 im letzten Jahr geschlossenen gleichgeschlechtlichen Ehen und damit die Schicksale der Eheschließenden schlichtweg unerwähnt lassen. Damit greifen Sie tief in Persönlichkeitsrechte ein, ohne Rechtfertigung und ohne gesetzliche Grundlage. Auch das diskriminiert die Menschen.
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Es geht Ihnen bei diesem Gesetzentwurf nicht um das Verfassungsrecht – Sie wollen spalten,
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und Sie wollen mangelnden Respekt vor demokratischen Entscheidungen und vor unseren Institutionen zum Ausdruck bringen. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Dieses Gesetz bleibt. Wir werden daran festhalten.
Vielen Dank.
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Die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Dr. Barbara Hendricks, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Ihr Gesetzentwurf wird mit Artikel 6 des Grundgesetzes begründet. Ja, darin heißt es natürlich: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“ Und ja klar, die Väter und Mütter des Grundgesetzes konnten das vor ungefähr 70 Jahren nicht wissen. Zu der Zeit waren zum Beispiel homosexuelle Handlungen unter Männern strafrechtlich verboten. Selbstverständlich konnte man vor 70 Jahren nicht annehmen, dass diese Menschen, denen man gleichsam die Bürgerlichkeit absprach, das bürgerliche Institut der Ehe eingehen könnten. Das war zeitgebunden so, und das konnte auch nicht anders sein. Aber selbstverständlich entwickeln sich Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit und auch die Verfassungsrechtsprechung. Darauf haben die Kolleginnen und Kollegen ja wirklich eindrücklich hingewiesen.
Ehe ist also nicht als Voraussetzung für Familie geschützt, sondern Ehe ist für sich selbst geschützt, und der Ehebegriff ist offen. Wir können es auch im Umkehrschluss sehen: Es gibt ja ganz viele Paare, die nicht verheiratet zusammenleben und gemeinsame Kinder haben. Stehen denn jetzt diese Familien nicht unter Schutz, weil das Institut der Ehe nicht eingegangen worden ist? Das ist doch widersinnig.
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Es wird Ihnen doch vollkommen klar sein, dass Ehe und Familie sowohl gemeinsam als auch je einzeln unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen.
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Und noch einmal: Der Ehebegriff ist offen, und er hat sich in den vergangenen Jahrzehnten anders entwickelt.
Ich möchte Ihnen aber eine Frage stellen, die mir eigentlich noch wichtiger ist: Wieso erdreisten Sie sich eigentlich, sich auf das Grundgesetz zu berufen?
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Artikel 1 des Grundgesetzes, das unser Zusammenleben normiert, beruht letztlich auch auf dem christlichen Menschenbild und besagt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Dieser Artikel 1 des Grundgesetzes wird von Ihnen im Reden und Handeln ständig gebrochen.
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Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner zu?
Nein.
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Noch vor wenigen Tagen hat ein Redner aus Ihrer Fraktion hier, bezogen auf einen Menschen, von „Abschaum“ gesprochen. Das ist doch ein Bruch des Artikels 1, das ist doch vollkommen eindeutig.
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Das, was in diesem Haus geschieht, überhöhen Sie ja ständig in den sogenannten sozialen Medien, die nicht zuletzt von Ihnen befeuert werden und wo in der Tat der bürgerliche Anstand in weiten Teilen längst verloren gegangen ist.
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Auch die Rede, die Sie heute hier gehalten haben, Herr Brandner,
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und alles, was Sie hier unternehmen, dient ja letztlich eigentlich nur dazu, Inhalte für Social Media zu produzieren. Nichts anderes machen Sie ja.
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Das war heute auch wieder so.
Diejenigen von der AfD, die sich hier zu Wort gemeldet haben, also der Abgeordnete Brandner mit seiner Rede und die Abgeordnete von Storch mit ihrer Zwischenfrage, haben wieder eines deutlich gemacht: Ungute Gedanken und schlechte Fantasien entstehen immer in einem selbst, und für die ist man selbst verantwortlich.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/4810 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge dazu? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach dieser zweifelsohne sehr leidenschaftlich geführten Debatte folgt jetzt der Übergang zu einem sehr technischen Thema, das aber ohne Frage sehr wichtig für die deutsche Wirtschaft und auch für die Verbraucherinnen und Verbraucher in unserem Land ist. Es geht um das Akkreditierungsstellengesetz und somit um das Akkreditierungssystem in Deutschland.
Grundlage für ein funktionierendes Akkreditierungssystem ist letztlich Klarheit. Ich habe es bereits im Wirtschafts- und Energieausschuss ausgeführt: Mir ist in den letzten Wochen, in denen wir die gesamtheitliche Debatte in unterschiedlichen Foren geführt haben, sehr aufgefallen, dass die einzelnen Ebenen, um die es in diesem Zusammenhang geht, mehrheitlich immer wieder durcheinandergeraten sind.
Es geht heute Abend um die Ebene der Akkreditierung und nicht um die der Zertifizierung, liebe Kolleginnen und Kollegen. Vor diesem Hintergrund möchte ich einen Blick darauf werfen, wie sich unser Akkreditierungssystem eigentlich strukturiert: Wir haben die Akkreditierungsstelle, die die Zertifizierungsstelle darunter erst in die Lage versetzt, ihre Zertifizierung auszusprechen. Darunter befinden sich die Unternehmerinnen und Unternehmer, die letztlich diese Prüfstellen in Anspruch nehmen.
Die vorliegende Gesetzesänderung bezieht sich ausschließlich auf die Ebene der Akkreditierung. Das Ganze geht zurück auf das Akkreditierungsstellengesetz aus dem Jahr 2009 und auf eine EU-Verordnung aus dem Jahr zuvor. Warum müssen wir jetzt reagieren? Warum brauchen wir eine Änderung? Weil das Akkreditierungsstellengesetz damals eines nicht einbezogen hat, und zwar die Tatsache, dass sich neben der Akkreditierungsstelle auch sogenannte Schattenakkreditierungsstellen bilden können. Diese Lücke schließen wir am heutigen Abend, wenn der Gesetzentwurf die entsprechende Zustimmung findet. Damit wird eines klar und deutlich: Dieses Gesetz schließt eine Lücke.
Zweitens. Diese Gesetzesänderung beeinträchtigt in keiner Weise Nachhaltigkeitszertifikate, Gütezeichen oder Gütezeichensysteme der Selbstverwaltung der Wirtschaft.
Drittens. Die Tatsache, dass eine Akkreditierungsstelle hoheitlich ist, schließt nicht aus, dass wir uns auch mit den Prozessen und Arbeitsabläufen – letztlich auch mit denen der DAkkS, die vom Bund beauftragt ist, diese Aufgabe zu erfüllen – auseinanderzusetzen haben. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, halte ich es für wichtig, dass wir im Wirtschafts- und Energieausschuss zusätzlich den Beschluss gefasst haben, uns mit der DAkkS im Nachgang inhaltsreich auseinanderzusetzen und dann gegebenenfalls den einen oder anderen Punkt auf den Prüfstand zu stellen. Ohne Frage, wir sollten hier ein im Sinne der Wirtschaft sowie der Verbraucherinnen und Verbraucher funktionierendes System haben, das allen gerecht wird.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal Folgendes zum Gegenstand der Betrachtung machen: Es ist, glaube ich, nicht zielführend, wenn man die einzelnen Ebenen zum Gegenstand einer Gesamtbetrachtung macht und in der Diskussion miteinander vermischt. Es ist wichtig, dass wir ein funktionierendes Akkreditierungssystem haben, und es ist wichtig, dass wir die Lücke, die sich im Jahr 2009 nachhaltig ergeben hat, am heutigen Abend endgültig schließen. Insofern stärken wir so am Ende des Tages das Vertrauen aufseiten der Verbraucherinnen und Verbraucher in unsere Wirtschaft und in unser Akkreditierungsstellensystem.
Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank, Jan Metzler. – Schönen guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nächster Redner: Tino Chrupalla.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stimmen heute über den Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierung ab, das die Monopolisierung auf dem Gebiet des Akkreditierungswesens verschärfen und verfestigen soll. Die Deutsche Akkreditierungsstelle hat seit 2010 ein Monopol inne. Sie alleine darf untergeordneten Stellen bescheinigen, dass sie kompetent sind, bestimmte Zertifikate auszustellen oder auch zu überprüfen, ob bestimmte Normen eingehalten werden.
Heute soll die Akkreditierungsstelle außerdem dazu ermächtigt werden, anderen Anbietern selbstständig zu untersagen, auf dem Gebiet der Akkreditierung tätig zu sein. Aber nicht nur das: Die Deutsche Akkreditierungsstelle soll ab sofort sogar selbstständig prüfen und darüber entscheiden dürfen, wer ihren Vorbehaltsbereichs beschneidet. Sie darf also selber festlegen, wer ihr Konkurrent ist und wem sie folglich die Tätigkeit untersagen darf. Laut Gesetz kann die Akkreditierungsstelle dabei sogar gegen solche Dienstleister vorgehen, die nur den Anschein erwecken, Akkreditierungen durchzuführen.
Nennen Sie mich jetzt ruhig naiv, aber bisher bin ich davon ausgegangen, dass Monopolbildungen in Deutschland kritisch gesehen werden und dass es daher keinesfalls sinnvoll sein kann, Monopole auch noch dazu zu ermächtigen, ihre eigene Monopolstellung durchzusetzen.
({0})
Deswegen habe ich gestern im Ausschuss den Parlamentarischen Staatssekretär – er ist anwesend – gefragt, welche Probleme überhaupt aufgetreten seien, als es noch keine monopolisierte Akkreditierung gab. Seine lapidare Antwort lautete, ihm seien keine Probleme bekannt. Mal ehrlich, als normaler und vernünftig denkender Bürger ist man hier doch mit seinem Latein am Ende.
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Wie kommt die Bundesregierung dazu, ein Gesetz erlassen zu wollen, das offensichtlich überhaupt nicht nötig ist und außerdem gegen alle marktwirtschaftlichen Grundsätze verstößt?
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Aber natürlich gibt es auch dafür eine Erklärung. Jeder und jedem, die bzw. der sich im derzeitigen politischen Betrieb ein bisschen auskennt, kommt nur ein Wort in den Sinn, wenn von derart unnützen Maßnahmen die Rede ist: Brüssel. Vor 2010 gab es rund 20 Akkreditierungsstellen in Deutschland. Aber dann kam die EU auf die glorreiche Idee, die Akkreditierung zu einer hoheitlichen Aufgabe zu machen. Was wir in dem heute debattierten Gesetzentwurf vor uns sehen, ist wieder einmal eine Umsetzung einer EU-Verordnung.
Sehr geehrte Damen und Herren, der Gesetzentwurf liegt Ihnen vor. Aber keiner von Ihnen weiß, wozu die Monopolisierung der Akkreditierung überhaupt gut sein soll. Trotzdem wird der Deutsche Bundestag diesen Gesetzentwurf auf Geheiß von Brüssel durchwinken, genauso wie schon unzählige zuvor.
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Ich weiß: Die Bundesregierung hält dieses Vorgehen für alternativlos, handelt es sich doch um eine Vorgabe aus Brüssel. Gut, meinetwegen halten Sie dieses Durchwinken ruhig für alternativlos. Eines Tages wird Ihnen vielleicht aufgehen, dass es das Wesen von Diktaturen ist, den Bürgern vorzugaukeln, es gebe keine Alternative. Vielleicht ist es dann aber schon zu spät. In der Demokratie haben die Bürger immer eine Alternative. Hier drüben sitzt sie.
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Die AfD-Bundestagsfraktion lehnt den Gesetzentwurf der Bundesregierung ab.
Danke.
({5})
Danke schön. – Nächster Redner: Andreas Rimkus für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Was bedeutet „akkreditieren“? Weiß das jemand? Ich habe es nachgeschaut, weil ich es auch nicht so genau wusste. Es bedeutet „Glauben schenken“. Das ist im Kern das Wesentliche. Die eine Akkreditierungsstelle, die wir demnächst haben werden – die DAkkS GmbH –, wird dafür zuständig sein, dass den Zertifikaten, die die vielen vorhandenen Zertifizierungsstellen ausstellen, Glauben geschenkt werden kann. Das sind beispielsweise die Label in der Wirtschaft; das bekannteste will ich mal nennen, das TÜV-Siegel. Weitere Siegel, die wir aus der Lebensmittelwirtschaft kennen, kommen beispielsweise noch hinzu.
Es ist vollkommen klar: Es muss eine Stelle geben, die überprüft, dass diejenigen, die ein entsprechendes Zertifikat ausstellen, nach bestimmten Normierungen und Grundsätzen arbeiten. Insofern ist es folgerichtig, dass wir eine einzige Stelle haben, die DAkkS. Man hätte das auch – wir haben im Ausschuss schon darüber gesprochen – anders organisieren können; das hätte keine GmbH sein müssen. Das hätte durchaus eine klassische Behörde sein können. Man hat sich aber nun entschieden, das in GmbH-Form zu führen. Dafür gibt es viele andere Beispiele. So glaube ich, dass das, was wir tun, richtig ist.
Es geht also um hoheitliche Aufgaben und darum, dass Qualitätssiegel ihren Qualitätsanspruch gegenüber den Verbraucherinnen und Verbrauchern tatsächlich aufrechterhalten können. Das ist in der Tat ein großes Thema des Verbraucherschutzes. Deswegen ist es notwendig, die Lücke, die zu Schattenakkreditierungen geführt hat, zu schließen. Wir wollen nicht, dass sich ein Unternehmen, das Zertifikate ausstellt und damit Geld verdient, gleichzeitig selber akkreditiert und sich damit sozusagen die Freiheit gibt, entsprechend zu arbeiten. Nein, das brauchen wir nicht. Wir brauchen auch an der Theke im Supermarkt Klarheit bei den vielen Labels, die es dort gibt. Auf diese muss man sich verlassen können; das ist notwendig und richtig. Insofern ist die europäische Verordnung, die jedem Mitgliedsland vorschreibt, eine einzige Akkreditierungsstelle einzurichten, genau richtig. Wir wissen, dass wir nun der Wirtschaft Glauben schenken können. Die Verbraucher tun das auch.
Ich bitte um Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf und schenke dem Parlament jetzt 3 Minuten und 25 Sekunden.
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Guter Mann. – Nächster Redner: Thomas Kemmerich für die FDP-Fraktion.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Zuhörer und Zuschauer! Wir Freien Demokraten glauben an die Eigenverantwortung von Menschen, Unternehmen, Organisationen. Dort, wo verantwortungsvolle und freiwillige Selbstorganisation Vertrauen zwischen Wirtschaft und Verbrauchern schafft, wollen wir sie fördern statt reglementieren. Das ist unser Verständnis der sozialen Marktwirtschaft nach den Grundsätzen von Ludwig Erhard.
Ich muss meinen beiden Vorrednern, Herrn Metzler und Herrn Rimkus, leider widersprechen. Akkreditierung und Zertifizierung ist an dem Punkt etwas Unterschiedliches, wo es darum geht, Standards, die die Europäische Gemeinschaft gesetzt hat, zu überschreiten. Berechtigt ist das Interesse der EU, sie nicht zu unterschreiten, weil das der Normierung in Europa dient, und das ist im Gegensatz zur Auffassung des Vorredners zu meiner Rechten mehr als sinnvoll. Aber die Zertifizierungsstellen, die in Deutschland einen hohen Stellenwert haben, wie das Vertrauen von Verbrauchern und Unternehmen unterstreicht, werden hier tangiert. Deshalb: Diesen Gesetzentwurf hätte es gar nicht gebraucht. Alle Maßnahmen, um Schattenakkreditierungsstellen zu regulieren, können getroffen werden. Deshalb geht Ihr Gesetzentwurf zu weit, greift insofern in die Eigenverantwortung der deutschen Wirtschaft ein und ist deshalb von Schaden für die Verbraucher, von Schaden für die Unternehmen und nicht von Nutzen.
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Im Verfahren hier im Deutschen Bundestag hat ausschließlich die FDP auf die Bedenken hingewiesen, die sämtliche Verbände, die die Bundesregierung angehört hat, geäußert haben. Im Einzelnen: Durch dieses Gesetz besteht die Gefahr, dass die bisherige Zertifizierung unter den Begriff „Akkreditierung“ subsumiert wird und dann von dieser einen Stelle, von der DAkkS, mit den neuen Genehmigungsmöglichkeiten sanktioniert wird. Noch schlimmer wird dieser Tatbestand dadurch gemacht, dass das auch passieren kann, wenn nur der Anschein erweckt wird, dass eine Akkreditierung stattfinden soll. Was ist „Anschein“? Ein unbestimmter Rechtsbegriff! Das verunsichert Verbraucher und Unternehmen nochmals.
Auf die Spitze treiben Sie es mit dem Gesetz, indem Sie derjenigen Behörde, die die Akkreditierung vornehmen kann, gleichzeitig das Recht zur Sanktionierung geben. Das ist eine unzulässige Vermischung von Exekutive und Legislative – in höchstem Maße verfassungsbedenklich. Insofern: Auch hier ein großes Bedenken gegenüber diesem Gesetzentwurf!
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Es sind gerade die Kriterien, die von der Wirtschaft freiwillig eingehalten werden, die das hohe Maß an Verbrauchervertrauen in die Unternehmen und die Produkte begründet haben. Insofern ist es skandalös, dass wir von den Eingaben der Unternehmen keine Kenntnis haben, dass wir nicht merken, dass im Gesetzentwurf darauf eingegangen wird, und letztlich auch, dass sich die Mehrheit im Ausschuss einer Anhörung verschlossen hat.
Die Bundesregierung geht über das Ziel hinaus. Es gibt mehr Fragen durch unbestimmte Rechtsbegriffe. Deshalb: Nehmen Sie den Gesetzentwurf zurück! Haben Sie mehr Vertrauen in Unternehmen, mehr Vertrauen in die Mündigkeit der Verbraucher! Insofern werden wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Thomas Kemmerich. – Nächster Redner: Thomas Lutze für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist die Aufgabe der Deutschen Akkreditierungsstelle, hierzulande die Prüfer zu prüfen. Alle Laboratorien, Inspektions- und Zertifizierungsstellen müssen ihr gegenüber ihre jeweilige Befähigung nachweisen, um ihrer Arbeit nachgehen zu dürfen. Um sicherzustellen, dass sich entsprechende Institutionen nicht gegenseitig für alles Mögliche akkreditieren, ist das EU-Recht, von dem gerade gesprochen wurde, absolut sinnvoll. Das besagt im Prinzip, dass es in jedem Land der Europäischen Union nur eine Akkreditierungsstelle geben darf. Das schafft für Produktionsstandards, Produktstandards und Prüfsiegel wenigstens die minimal notwendige Vergleichbarkeit im europäischen Binnenmarkt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die Alleinstellung der Deutschen Akkreditierungsstelle bestätigt und ihre Durchsetzung gestärkt. Das ist auch richtig so.
Unsere Kritik an der Akkreditierungsstelle ist eine grundsätzlichere. Sie übt eine hoheitliche Aufgabe aus, und das in einer Monopolstellung, die sich logischerweise ergibt. Sie arbeitet nicht gewinnorientiert. Sie soll auch unabhängig von Wirtschaftsinteressen arbeiten. Da stellt sich aber die Frage, warum für die Deutsche Akkreditierungsstelle eine privatrechtliche Organisationsform gewählt wurde. Dass zu allem Überfluss auch noch der Bundesverband der Deutschen Industrie als Gesellschafter zu einem Drittel an der Deutschen Akkreditierungsstelle beteiligt ist, geht für meine Begriffe und aus Sicht der Linksfraktion überhaupt nicht.
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Wir haben also in Deutschland die etwas absurde Situation geschaffen, in der die deutsche Wirtschaft an einer Institution beteiligt ist, die die Prüfer ihrer eigenen Produkte überwachen soll. Die Linke findet, Unabhängigkeit, Überparteilichkeit und Objektivität sichert man eher durch eine öffentlich-rechtliche Organisationsform.
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Und dass wir ohnehin bei unseren Prüfstellen, egal ob privatrechtlich oder Behörde, zukünftig etwas genauer hinsehen sollten, haben wir zuletzt beim Dieselskandal zumindest deutlich spüren können.
Auch wenn es bei unserer grundsätzlichen Kritik bleibt: Wir erkennen die Verbesserungen, die aktuell im Verfahren hier im Deutschen Bundestag vorgesehen wurden, durchaus an und stimmen nicht dagegen. Wir begrüßen es auch ausdrücklich, dass wir im Ausschuss vereinbart haben, trotz des Abschlusses heute dieses Thema weiterzudiskutieren.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Lutze. – Nächste Rednerin: Claudia Müller für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir können heute nicht über diesen Gesetzentwurf sprechen, ohne auch über die Deutsche Akkreditierungsstelle GmbH, kurz: DAkkS, zu sprechen, also die Prüfstelle der Prüflabore. Die Prüflabore können nichts prüfen oder zertifizieren, ohne selbst geprüft worden zu sein. Die Akkreditierung ist also ihre Existenzvoraussetzung. Umso wichtiger ist es dann, dass genau diese Prüfstelle selbst transparent, verlässlich, zügig und zu fairen Kosten arbeitet, und da häufen sich, und zwar leider seit der Einführung der neuen Gebührenverordnung im Juli, die Beschwerden: zu lange Verfahren, schwierige Kommunikation und keine Kostenvoranschläge. Das ist übrigens besonders heikel, weil die neue Gebührenverordnung vorsieht, dass der zeitliche Aufwand abgerechnet wird. Dass das zu Misstrauen führen kann, ist verständlich. Hier ist das Wirtschaftsministerium in der Pflicht; denn es hat die Aufsicht über die DAkkS.
Wir haben das Thema gestern im Wirtschaftsausschuss, ich sage mal, kurz erörtert. Wir hatten einige kritische Anmerkungen dazu. Auf eine der Fragen, wann Sie bestimmte Probleme angehen, haben Sie gesagt, Herr Hirte, dass Sie erst noch eine Kundenumfrage abwarten. Es liegt aber doch alles vor. Seit Mai 2016 liegt die Studie zur Evaluierung der deutschen Akkreditierungsstruktur vor – eine Studie, die Ihr Haus selbst in Auftrag gegeben hat. In ihr werden unter anderem die Gremienstruktur, die mangelnde Unabhängigkeit und die fehlende Prozessoptimierung kritisiert. Es liegt noch eine weitere vor: vom Deutschen Verband Unabhängiger Prüflaboratorien. Auch da: Unzufriedenheit mit dem zeitlichen Umfang, mit der Rechnungslegung, mit der Transparenz. Also, was brauchen Sie denn noch, um genau diese Probleme bei der DAkkS anzugehen?
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Um dieses Gesetz und das Verfahren herum gibt es, ehrlich gesagt, einige Seltsamkeiten. Hauptanlass für das Vertragsverletzungsverfahren in der EU war wohl die ASI. Das ist eine Tochtergesellschaft von Nachhaltigkeitssiegeln wie dem FSC oder MSC, die Zertifizierer im Ausland akkreditiert. Diese wiederum vergeben dann die Siegel an die lokalen Produzenten. Das heißt, die ASI überwacht die Zertifizierer, zum Beispiel den indonesischen TÜV, die dann wiederum Siegel vergeben. Hier geht es uns übrigens nicht darum, diese Siegel oder die ASI zu verteidigen – wir sehen auch da ganz klar Defizite –, aber einfach ein Gesetz zu machen, das Unternehmen in erheblichem Umfang betrifft, ohne diese einzubeziehen, ohne sie überhaupt anzuhören, das geht schlicht und ergreifend nicht, meine Damen und Herren.
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Es ist auch vollkommen offen, was passiert, wenn die DAkkS der ASI diese Zertifizierungen verbietet. Wer soll das dann vornehmen? Sie haben gesagt, das könnten dann andere Behörden machen. Aber, ganz ehrlich: Das ist doch Schwachsinn. Denn genau in den Ländern, die das betrifft, die für die Nachhaltigkeitssiegel wichtig sind, gibt es gar keine Prüf- oder Akkreditierungsstrukturen.
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Wer soll das dann bitte machen? Wir stehen hier vor einem Problem, das nicht gelöst ist, und Sie stecken einfach den Kopf in den Sand.
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Als Allerletztes nur ganz kurz: Wir werden uns bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten; denn grundsätzlich finden wir es richtig, dass es in Deutschland eine Stelle zur Zertifizierung gibt und das EU-Recht auch rechtskonform umgesetzt wird. Aber bitte nicht so!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Claudia Müller. – Nächster und letzter Redner in dieser Debatte: Dr. Matthias Heider für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Unterscheidung zwischen Akkreditierung und Zertifizierung haben wir hier schon häufiger vorgenommen. Sie ist aber wesentlich, um zu verstehen, dass das Änderungsgesetz zum Akkreditierungsstellengesetz keine Beschränkung der Vergabe von Gütesiegeln bedeutet. Zertifizierungsstellen, die Gütesiegel für die Einhaltung bestimmter Standards vergeben, können dies weiter tun. Deswegen ist durch die Gesetzesänderung auch das gerade genannte FSC-Siegel für nachhaltige Forstwirtschaft ebenso wenig in Gefahr wie die Tätigkeit von Zertifizierungsstellen, die Gütezeichen vergeben.
Vom Änderungsgesetz betroffen ist vielmehr die darüber liegende Ebene der Anerkennung und Listung dieser Zertifizierungsstellen. Meine Damen und Herren, es geht doch nicht an, dass jeder in diesem Land hingeht und sich eine Anerkennung für etwas besorgt, was er wirtschaftlich für geboten hält. Deshalb gibt es seit vielen Jahren eine EU-Verordnung, die das regelt. Aus diesem Grund ist die ASI, also die Accreditation Services International, schon dem Namen nach in Verdacht, etwas zu tun, was sie eigentlich nicht tun darf, weil sie eben keine Stelle ist, die diese hoheitliche Befugnis hat.
Meine Damen und Herren, Deutschland ist der einzige Staat, der eine Umsetzungslücke im Gesetz aufweist. Diese Umsetzungslücke müssen wir heute Abend durch das Gesetzgebungsverfahren schließen. Wir machen das, indem wir das Vertragsverletzungsverfahren, das gegen Deutschland von der EU-Kommission eingeleitet worden ist, zu einer Erledigung bringen. Wir in der Union halten es nach den vielen Vorgesprächen, die es mit den betroffenen Verbänden und dem Ministerium gegeben hat, für richtig, dass es jetzt zu einer eindeutigen und rechtsklaren Regelung kommt. Bestehende Strukturen werden durch dieses Gesetz nicht zerschlagen. Für die Vermeidung des Anscheins reicht beispielsweise alleine eine rechtliche Umfirmierung.
Eines muss jedoch klar gesagt werden: Die Deutsche Akkreditierungsstelle, DAkkS, hat durch die alleinige Akkreditierungsbefugnis eine verantwortungsvolle Position. Es besteht also ein großes Interesse an einer schnellen, an einer effizienten, an einer qualitativ hochwertigen Arbeitsweise.
Uns Abgeordnete haben im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens eine Vielzahl von Hinweisen aus der Praxis erreicht: zur Verwendung der Gebühren, zur Verfahrenslänge, zur technischen Mittelausstattung. Das deutet darauf hin, dass es da deutlichen Verbesserungsbedarf gibt. Ich habe als stellvertretender Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses angeregt, dass wir uns mit diesen Gegenständen, die nicht Bestandteil dieses Gesetzgebungsverfahrens gewesen sind, noch einmal befassen. Der Wirtschaftsausschuss wird das in einer seiner nächsten Sitzungen tun.
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Noch ein kurzes Wort zur Änderung der Gewerbeordnung, die auch in diesem Gesetzentwurf in Artikel 2 enthalten ist. Im Gesetzentwurf war für die Finanzanlagenvermittler die Pflicht vorgesehen, eigenständig einen Zielmarkt für die Produkte zu bestimmen. Es war eine völlig überflüssige Regelung, da sie nicht einer Eins-zu-eins-Umsetzung der Vorschriften aus dem Gesetzgebungsverfahren entsprach. Sie war nicht in der Finanzmarktrichtlinie, in der MiFID II, vorgesehen. Meine Damen und Herren, wir wollen Bürokratie vermeiden. Deshalb haben wir diese Vorschrift aus dem Gesetzentwurf wieder herausgenommen. Ich glaube, das ist eine gute Nachricht für all diejenigen, die mit Dienstleistungen im Finanzmarkt tätig sind.
Ich bitte um Zustimmung zu diesem Gesetz.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Dr. Matthias Heider.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Akkreditierungsstellengesetzes und der Gewerbeordnung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/4881, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/3373 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD. Dagegengestimmt haben die FDP und die AfD. Enthalten haben sich die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt hat die CDU/CSU-Fraktion mit der SPD-Fraktion. Dagegen waren die FDP und die AfD. Enthalten haben sich die Fraktion Die Linke und die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor genau einem Monat stand hier Finanzminister Olaf Scholz und hat den Haushalt der Großen Koalition für 2019 eingebracht. Man feiert die schwarze Null. Was aber in dem Zusammenhang nicht gesagt wird, ist, dass die schwarze Null keine Leistung der Regierung ist.
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Der Erfolg dieser schwarzen Null basiert auf zwei Dingen, nämlich den Rekordsteuereinnahmen und den niedrigen Zinsen, also all dem, was die Menschen in unserem Land zusätzlich zu schultern haben. Eine massive Umverteilung von den Bürgern zum Staat.
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Gleichzeitig kämpfen genau diese Menschen mit steigenden Mieten und hohen Energiekosten. Sie wissen, dass sie für ihr Alter vorsorgen müssen. In Frankfurt und anderswo dürfen sie sich aufgrund des Nichtstuns der Bundes- und Landesregierung jetzt auch noch ein neues Auto kaufen.
Wenn wir Menschen zukunftsfit machen wollen, dann brauchen wir keine teuren bürokratischen Programme. Wir müssen eines tun: Wir müssen den Menschen etwas mehr von ihrem Lohn lassen. Ich kann Ihnen sagen: Überraschen Sie die Menschen mal! Fangen Sie heute damit an! Fangen Sie an mit dem Einstieg in den Ausstieg vom Solidaritätszuschlag!
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Ich zitiere einmal aus der Begründung für die Einführung des Solidaritätszuschlags:
Ein geringer, kurz befristeter Zuschlag zur Lohn-/Einkommen- und Körperschaftsteuer ist zur Lösung vorübergehender dringender Finanzprobleme besonders geeignet …
Schon lange übersteigen die Einnahmen des Solis die Ausgaben für den Aufbau Ost. Folgerichtig muss der Soli mit dem Ende des Solidarpaktes II vollständig auslaufen.
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Bei Rekordsteuereinnahmen gibt es nicht eine einzige plausible Begründung für vorübergehende dringende Finanzprobleme.
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Der Soli ist schlicht verfassungswidrig. Handeln Sie doch bitte einmal, bevor es die Gerichte in diesem Land für Sie tun.
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Er muss auch vollständig abgeschafft werden und nicht nur zu 90 Prozent; denn in Zeiten, in denen das Vertrauen der Menschen in die Politik zerrinnt, in denen den Volksparteien die Wähler davonlaufen, geht es nicht nur um Geld, es geht um die Glaubwürdigkeit politischer Aussagen.
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Ich weiß, es hat keine Konjunktur in diesem Land, sich mal um das Normale, um die Mitte, über Worthülsen hinaus zu engagieren.
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Zu den 10 Prozent, die Sie nämlich nicht entlasten wollen, gehören auch die Facharbeiter, die nun wirklich nicht reich sind, und dazu gehören auch die Unternehmen, die den Mittelstand in unserem Land ausmachen –
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diejenigen, die in den Sonntagsreden erwähnt werden und montags schon wieder vergessen sind, meine Damen und Herren.
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Carsten Linnemann, Alexander Dobrindt, Hans Michelbach, Markus Blume, Angela Merkel und heute sogar Minister Altmaier – sie alle sagen, der Soli muss komplett abgeschafft werden.
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Im Finanzausschuss haben Sie zweimal unsere Gesetzesinitiative verschoben – über den Wahltag in Bayern und in Hessen hinaus.
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Meine Damen und Herren, das ist schwach. Das ist nicht handlungsfähig. Es ist jetzt nicht die Zeit für taktische Spielchen. Es ist die Zeit, Versprechen zu halten und den Menschen den Respekt für ihre Leistung zu zeigen. Stehen Sie einfach zu sich selbst!
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Zum Schluss eines: Die CDU-Generalsekretärin wurde in einer Zeitung zitiert, die Mitte fühle sich zu kurz gekommen in diesem Land und man müsse ihr nun etwas zurückgeben. Nein, entgegen dem Glauben einiger oder vielleicht vieler hier im Haus, ist es nicht der Staat, der das Geld erwirtschaftet. Es sind die Menschen draußen, die arbeiten gehen und ihre Steuern zahlen.
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Nicht die Regierung gibt ihnen etwas zurück. Vielmehr hat die Regierung die Aufgabe, sorgfältig mit dem Geld der Menschen umzugehen. So wird ein Schuh daraus.
Deswegen: Schluss mit der Ankündigungslyrik, Schluss mit Lippenbekenntnissen: Der Solidaritätszuschlag gehört spätestens zum 1. Januar 2020 vollständig abgeschafft. Wir bieten Ihnen heute hier an, dass Sie zu Ihrem Wort stehen können, und werden eine namentliche Abstimmung beantragen. Tun Sie sich einen Gefallen, stimmen Sie uns zu.
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Zu den Abstimmungen und zu der Prozedur kommen wir nach Ende der Redebeiträge, dann schauen wir weiter. Wenn Sie so etwas planen, wäre es fair gewesen, das, wie es in der Regel unter Kolleginnen und Kollegen üblich ist, im Ältestenrat anzukündigen.
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– Ich sage ja nur, was fair gewesen wäre. – Der nächste Redner ist Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit den heute Abend aufgesetzten Beratungspunkten zum Solidaritätszuschlag versucht ein Teil der Opposition dem nachzukommen, wozu sie sich wohl verpflichtet fühlt: die Regierung so ein bisschen zu quälen. Sie versuchen es zumindest.
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Die AfD und die FDP versuchen heute in ganz ungewohnter Eintracht, das schärfste Schwert der Schwachen zu nutzen: Das ist die Öffentlichkeit.
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Aber die Öffentlichkeit soll heute Abend hier hinters Licht geführt werden.
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Ihnen, Kolleginnen und Kollegen von AfD und FDP, geht es ja heute nicht um die Sache.
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Es geht Ihnen heute nicht um fachlich-politische Auseinandersetzungen zu diesem Thema. Ihnen geht es darum, die Redezeit im Plenum zum wiederholten Mal zu nutzen, um Ihre bekannten Vorschläge zur sofortigen Abschaffung des Solidaritätszuschlags zu präsentieren.
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Das ist dem Wahlkampf geschuldet, das wissen wir nun alle.
Dass dieses Thema heute auf der Tagesordnung steht, ist einem Geschäftsordnungskniff geschuldet. Sie haben § 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Bundestages herangezogen, um heute diese Debatte überhaupt führen zu können. Dieser Paragraf besagt ja sinngemäß, dass eine Fraktion verlangen kann,
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dass der Ausschuss dem Bundestag einen Bericht zum Stand der Beratungen erstattet und dieser Bericht dann auch auf die Tagesordnung gesetzt wird, wenn eine Vorlage zehn Wochen nach der Überweisung an den Ausschuss nicht erledigt ist. Ja, eine Beschlussfassung über einen Gesetzentwurf im Ausschuss darf tatsächlich nicht ohne irgendeinen Grund verhindert werden;
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das ist völlig richtig. Aber wir sind doch mittendrin. Wir sind mitten in einem noch nicht abgeschlossenen politischen Meinungsbildungsprozess,
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in einem politischen Abstimmungsprozess.
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Das ist der Grund, warum wir das im Ausschuss beraten und nicht hier.
Jetzt muss man natürlich aufpassen, dass das Vehikel der Geschäftsordnung nicht vom eigentlichen Thema ablenkt, vor allem nicht Sie, geehrte Zuschauerinnen und Zuschauer.
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Tatsächlich geht es um den Gesetzentwurf bzw. die Anträge zur Abschaffung des Solidaritätszuschlags von Ihnen, der FDP und der AfD. Den Gesetzentwurf hat die Koalition bereits in der ersten Lesung völlig zu Recht abgelehnt. Während die FDP die Auswirkungen ihres Gesetzentwurfs auf den Haushalt wenigstens noch beziffert – nämlich gerade mal knapp 20 Milliarden Euro im Jahr 2020 –,
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macht die AfD vorsichtshalber gar keine Angaben zu den haushalterischen Auswirkungen; nach dem Motto: Ist mir egal, der Haushalt interessiert mich nicht. – Aber ich will Ihnen auch sagen: Diese Mentalität bei der FDP und vor allem bei der AfD zieht sich wie ein roter Faden durch Ihre Politik. Gerade bei Ihnen von der AfD: Sie haben ja schon Schwierigkeiten, den Haushalt Ihrer Fraktion – das sind ja auch Steuergelder – ordentlich zu gestalten.
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Handeln Sie bitte politisch verantwortungsvoll, und überhäufen Sie uns nicht mit Anträgen und Gesetzentwürfen, die in keiner Form haushalterisch hinterlegt sind.
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Auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, handeln hier nicht viel besser.
Ich will Ihre Politik zwar nicht mit der von der AfD gleichsetzen, aber Sie müssen dann schon auch mal erläutern, wo denn das ganze Geld zur Entlastung der Wirtschaft und darüber hinaus noch der Bürgerinnen und Bürger herkommen soll.
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Ich wiederhole meine Worte aus der ersten Lesung zum Gesetzentwurf der FDP, den wir hier ja schon beraten haben: Während man sich als Opposition ganz offensichtlich nicht um den Haushalt scheren muss,
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hat die Regierung den Auftrag, verantwortungsvoll zu handeln, und das tun wir.
Entschuldigen Sie, Herr Kollege, ich habe es nicht ganz verstanden: Lassen Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von der FDP zu?
Nein, also bitte,
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Sie können beim besten Willen nicht erwarten, dass wir diesen von Ihnen heute Abend hier aufgesetzten Klamauk um diese Uhrzeit noch länger behandeln.
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Moment, dann sagen Sie einfach nein, dann ist das klar. – Entschuldigen Sie, ich habe gedacht, Sie winken mir freundlich zu aus der FDP. Ich habe es nicht so ganz verstanden.
Ich winke dann freundlich zurück, aber ich werde das hier nicht unnötig verlängern.
Gut. – Herr Gutting, es geht weiter.
Wir in der Union machen eine ausgeglichene, seriöse Haushaltspolitik. Und aus diesem Grund haben wir auch im Koalitionsvertrag einen haushaltsverträglichen Beginn des Abbaus des Solidaritätszuschlags zum Jahr 2021 vereinbart.
({0})
Es ist doch völlig klar, und das ist doch auch kein Geheimnis, dass die Union auch den zweiten Abbauschritt ganz klar festlegen will.
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Wir sind doch davon überzeugt, dass wir den Menschen in diesem Land einen klaren, verlässlichen Abbaupfad für den gesamten Soli vorlegen müssen und nicht nur einen ersten Schritt.
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In diesen Verhandlungen und in diesen Gesprächen befinden wir uns.
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Das müssen Sie doch mal zur Kenntnis nehmen
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Wir werden deshalb die Diskussion zu Ihren Gesetzentwürfen im Finanzausschuss wiederaufnehmen. Wir werden den politischen Meinungsbildungs- und Abstimmungsprozess zu gegebener Zeit zu einem guten Ende führen. Und wir werden Sie auch davon überzeugen, dass wir ein ausgewogenes, mit dem Haushalt vereinbartes Gesetz zu einer schrittweisen, nachhaltigen, vollständigen Abschaffung des Solidaritätszuschlags verabschieden werden.
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Wir werden das tun – mit oder ohne Ihre Stimmen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Olav Gutting. – Nächster Redner in der Debatte: Kay Gottschalk für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Bürgerinnen da draußen! Zunächst: Herr Gutting, ich bin total enttäuscht, aber ich gebe Ihnen gerne Nachhilfe, und ich danke für diese ausgesprochen exzellente Wahlkampfhilfe in Bayern.
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Soli oder eine Geschichte voller Missverständnisse, insbesondere – das muss ich heute mal feststellen – wenn man die Grenzsteuersatzdebilität der CSU betrachtet. Diese Debilität ist in ihrer Progression allerdings nicht auf den Stichtag der Landtagswahlen am kommenden Sonntag begrenzt.
Aber der Reihe nach:
Sprudelnde Steuereinnahmen verpflichten den Staat, das Geld bei den Bürgerinnen und Bürgern zu belassen
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und sie endlich bei der Steuer zu entlasten. Die Menschen wissen selbst am besten, die Mittel wirksam zu verwenden. Die Zeit zum Handeln ist da.
Meine Damen und Herren, dies sind nicht etwa die Worte des populistischen finanzpolitischen Sprechers der AfD. Nein, ich zitiere hier nur die Worte des bayerischen Finanzministers Füracker, der, glaube ich, für die CSU tätig ist.
Neben Debilität ist der CSU aufgrund des Abstimmverhaltens im Finanzausschuss auch akute Schizophrenie in höchster Ausprägung zu diagnostizieren.
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Aber da kann der Wähler am nächsten Sonntag vielleicht mit einer kalten Dusche in Bayern nachhelfen. Warum? Zweimal, meine Damen und Herren, hat die Regierungskoalition unseren Antrag, den Soli abzuschaffen, von der Tagesordnung genommen. Wir gehen da etwas weiter, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP;
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denn das Geld ist da. Herr Gutting, kurze Nachhilfe: 18,7 Milliarden Euro kostet es etwa; das sind Effekte, die sind drin im Haushalt. Zweimal haben Sie also aus wahltaktischen Gründen und vielleicht, um einen Zwist in Ihrer werten Großen Koalition zu verhindern, diesen Antrag von der Tagesordnung genommen. Liebe Wählerinnen und Wähler in Bayern, wie lange wollen Sie sich denn die Pinocchio-Fraktion der CSU mit Ihrer Stimme noch aufhalsen? Erteilen Sie der Verlogenheit der CSU am Sonntag eine blaue Karte, indem Sie dann die AfD wählen und damit auch für die Abschaffung des Solis stimmen!
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Nun aber zu den Fakten, meine Damen und Herren. Die Abschaffung des Solis erscheint zurzeit erstens verfassungsrechtlich geboten. Dies hat in jüngster Zeit, zum Beispiel beim Fachgespräch am 27. Juni, kein Geringerer als der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Professor Dr. Hans-Jürgen Papier formuliert.
Es ist zweitens eine Frage der politischen Glaubwürdigkeit, meine Damen und Herren. Zwar ist die Steuer nie zweckgebunden – das wissen wir –; dennoch wurde zur Begründung der Einführung des Solis 1993 im Gesetz formuliert – ich zitiere –:
Zur Finanzierung der Vollendung der Einheit Deutschlands ist ein solidarisches finanzielles Opfer aller Bevölkerungsgruppen unausweichlich.
Meine Damen und Herren, wenn Sie eine Steuer so begründen, dann ist es nun wirklich an der Zeit, sie zum 1. Januar 2019 abzuschaffen.
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Es ist drittens ein Gebot des Bürgerwillens. Schauen Sie sich einfach mal die Umfrage von YouGov an: 63 Prozent der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes halten den Soli für überholt.
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Meine Damen und Herren, Sie wundern sich, dass die AfD zur Volkspartei wird. Das ist ein Grund dafür: Sie missachten den Willen des Volkes permanent in diesem Hause. Tun Sie endlich das, was die Menschen da draußen berechtigterweise erwarten: Schaffen Sie den Soli ab!
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Die Abschaffung ist zudem viertens parlamentarisch leicht umsetzbar, da es sich um eine Bundessteuer handelt.
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Meine Damen und Herren, wir können mit einfacher Mehrheit heute dieser Steuer zum 1. Januar ein Ende setzen. Warum tun Sie es nicht?
Fünftens ist sie fiskalisch geboten, und sie ist auch machbar. Der Solizuschlag sollte auch deshalb abgeschafft werden, um haushaltspolitisch wieder zu lernen, ohne ungerechtfertigte Sondereinnahmen auszukommen. Die Haushaltsgeschichte unseres Landes zeigt nämlich, dass zusätzliche Einnahmen und freiwerdende Mittel so gut wie nie zur Schuldentilgung eingesetzt werden. Der Solidaritätszuschlag sollte eigentlich Bedarfsspitzen abdecken, die es schon lange nicht mehr gibt, meine Damen und Herren.
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Leider aber hat sich die Bundesrepublik unter dem schlechten Einfluss der Altparteien daran gewöhnt, Sondereinnahmen, wie zum Beispiel die aus dem Solidaritätszuschlag, als gegeben anzunehmen. Nein, meine Damen und Herren, gehen Sie heute mit uns den Weg zurück zur sozialen Marktwirtschaft!
Sechstens. Der Soli trägt auch zum Abbau der kalten Progression bei; denn Lohnerhöhungen, die nur die Inflation ausgleichen, werden mit steigenden Lohnsteuerdurchschnittssätzen bestraft. Auf diese erhebt der Staat dann zur Strafe auch noch den Solidaritätszuschlag, womit sich die eingangs genannte Grenzsteuersatzdebilität der CSU erklärt.
Also, meine Damen und Herren von der CSU, geben Sie sich heute einen Ruck! Fassen Sie sich ein Herz, und machen Sie sich auf zurück zur sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard. Realisieren Sie endlich, dass es in Zukunft bürgerliche Mehrheiten nur mit und nicht gegen die AfD geben wird. Folgen Sie daher bitte unserem Antrag, den Soli sofort, zum 1. Januar 2019, abzuschaffen. Geben Sie den Menschen endlich mehr Netto vom Brutto!
Danke schön.
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Vielen Dank, Kay Gottschalk. – Nächste Rednerin: Dr. Wiebke Esdar.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich will mal daran erinnern, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP: Damals, als Sie noch Regierungsverantwortung übernommen haben,
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damals, als Sie Ihre Steuergeschenke für die Hoteliers verteilt haben, hat Ihnen „Der Spiegel“ ein Herz für Reiche zugeschrieben. Und mit dem jetzt vorgelegten Gesetzentwurf bleiben Sie dieser Linie treu; Sie bleiben die Klientelpartei für die Reichen und Vermögenden.
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Dies trifft im Übrigen auch auf den Antrag der AfD zu – und leider auch auf die Position von Teilen unseres Koalitionspartners: auf die CSU im bayerischen Wahlkampf, auf den Wirtschaftsflügel der CDU und – so hört man aus der Presse – wohl auch auf Sie, Herr Brinkhaus. Ich freue mich, dass Sie da sind, wenn wir das hier diskutieren. Nach Aussagen, die wir im „Focus“ nachlesen können, sind wohl auch Sie für eine vollständige Abschaffung des Solis schon jetzt. Sie halten das für geboten.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung des werten Kollegen Kubicki?
Nein, da halte ich es wie mein Kollege von der CSU: Wir wollen dem Klamauk an dieser Stelle nicht noch mehr Bühne bieten.
({0})
Um das noch einmal klar zu sagen: Wenn Sie das fordern, dann widersprechen Sie an der Stelle dem Koalitionsvertrag. Ich gehe davon aus, dass dieser Koalitionsvertrag gilt.
({1})
Aber mit dem vorliegenden Vorschlag und mit dieser Position zeigen Sie, dass es Ihnen bei Ihrer Politik ganz offensichtlich nicht um die Geringverdienenden und auch nicht um die Mitte der Gesellschaft geht; denn das, was Sie hier formuliert haben und fordern, ist ein neues dickes, fettes Geschenk, einzig und allein für die reichsten 10 Prozent in unserem Land. Wer hat, dem wird gegeben. Das aber – das sage ich ganz klar – ist mit der SPD nicht zu machen. Darum ist es an dieser Stelle gut, dass wir Teil der Bundesregierung sind.
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Wir haben nämlich vereinbart, den Solidaritätszuschlag ab dem Jahr 2021 für 90 Prozent derer, die ihn heute zahlen, mithilfe einer Freigrenze abzuschaffen. Das sind Steuererleichterungen im Gegenwert von rund 10 Milliarden Euro jährlich. Für die oberen 10 Prozent, für die Einkommensspitzenverdienerinnen und -verdiener, hingegen fällt der Soli noch an, und für diese 10 Prozent soll er später abgebaut werden. Aber bis dahin möchten wir von der SPD mit dem Koalitionspartner noch über eine insgesamt gerechtere Besteuerung in diesem Land diskutieren – im Sinne des Grundsatzes, dass starke Schultern mehr tragen können als schwächere.
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Das wollen wir noch umsetzen. Das ist dann nicht nur folgerichtig, sondern am Ende auch sozial gerecht – im Gegensatz zu dem, was Sie fordern.
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Warten Sie mal bitte! – Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist eine unglaubliche Geräuschkulisse hier. Hören Sie bitte zu!
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Führen Sie Ihre Gespräche woanders! Oder organisieren Sie bestimmte Dinge woanders! Jetzt hören wir der Kollegin bitte zu.
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– Doch! Auch Sie hören jetzt zu, auch Sie.
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Bitte.
Danke schön. – Reden sollten wir auch über die riesigen Ausfälle, die Ihr Vorschlag bedeutet. Zusätzliche 8 Milliarden Euro würde das kosten, wenn der Soli auch für die oberen 10 Prozent abgeschafft würde. 8 Milliarden Euro, die dem Staat dann fehlen für Investitionen in unsere Zukunft, für Bildung, Digitalisierung, gegen Kinderarmut, für neue Straßen. Das würde dann fehlen, nur damit das Bankkonto der Reichen noch voller wird.
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Das gibt es mit uns nicht, liebe FDP und auch AfD, liebe Neoliberalen der Union. Wenn Sie das fordern, dann sagen Sie bitte auch mal, wo das Geld herkommen soll.
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Als Große Koalition haben wir dazu eine feste Vereinbarung. Herr Brinkhaus ist ja glücklicherweise da und kann das dann stellvertretend für den Koalitionspartner entgegennehmen. Ich sage Ihnen: Wenn Sie ernsthaft an einer sofortigen und vollständigen Abschaffung des Solis interessiert sind, wenn Sie den Koalitionsvertrag an der Stelle ändern möchten, dann lassen Sie uns über gerechtere Steuern reden; denn wir können uns eine Neugestaltung,
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wenn sie zu mehr Gerechtigkeit führt, immer vorstellen. Wie wäre es zum Beispiel mit einer Anpassung des Spitzensteuersatzes nach oben?
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Liebe Opposition, ich denke, Sie sehen an dieser Stelle sehr deutlich, dass es da unter den Koalitionären noch Meinungsverschiedenheiten gibt.
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Darum gibt es auch Beratungsbedarf; das haben wir im Ausschuss dargelegt.
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Unsere Position an der Stelle ist aber auch klar: Wir wollen Entlastungen für die, die dadurch spürbar mehr Geld im Portemonnaie haben; aber wir brauchen die Einnahmen zur Finanzierung des Gemeinwohls von denen, die das locker leisten können.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Wiebke Esdar. – Nächster Redner: Jörg Cezanne für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Durch einen Geschäftsordnungstrick – das ist ja schon gesagt worden – reden wir jetzt noch mal über einen Gesetzentwurf und einen Antrag, die wir im Ausschuss schon beraten haben und die sogar in einer Anhörung von Sachverständigen schon beraten worden sind. Ein Gutes hat das natürlich: Man kann hier noch mal zeigen, dass die AfD zwar auf Protestpartei für die kleinen Leute macht, im Kern aber genauso eine Partei für Besserverdienende ist wie die FDP.
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Wobei ich der FDP noch zugutehalten würde, dass sie da ja mit sich im Reinen ist und das auch tatsächlich so sieht.
Jetzt also noch einmal zum Soli: Die beiden Parteien, die den Soli entweder früher als die Koalition oder am besten sofort abschaffen wollen, begründen dies damit, er sei nicht mehr verfassungsgemäß und die Abschaffung sei zur Entlastung der Bürgerinnen und Bürger notwendig. Der Haken bei dem Argument der Entlastung ist, dass 40 Prozent der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Deutschland gar keinen Soli leisten. Da sind die 90 Prozent, von denen die Koalition spricht, einfach Schmu.
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Diese Menschen hätten durch eine Abschaffung des Soli überhaupt keinen Vorteil. Seien Sie also ehrlich, und sagen Sie, wen Sie mit der Abschaffung des Soli wirklich entlasten wollen. Von den 18 Milliarden Euro Steuereinnahmen, die der Soli jedes Jahr bringt, werden 11 Milliarden Euro von den reichsten 10 Prozent der Einkommensbezieher in Deutschland erbracht.
({2})
Das sind nicht die Durchschnittsfamilien. Das ist nicht die Mitte der Gesellschaft. Das sind nicht die Facharbeiter bei VW oder Daimler-Benz. Das sind Menschen, die diese Entlastung nicht brauchen und deren Leistung für die Gemeinschaft sinnvoller eingesetzt werden könnte.
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Im Gegenteil träfen deren Entlastung und der Einnahmeausfall ja gerade jene Menschen, die aufgrund ihrer sozialen Lage auf gute staatliche Leistungen – den Ausbau der sozialen Infrastruktur, kostenloses Schulessen, gebührenfreie Kitas oder eine vernünftige Schülerbeförderung – angewiesen sind. Für die wäre der Soli nach wie vor sinnvoll.
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Der Soli ist eigentlich eines der letzten verbliebenen Instrumente nach der allgemeinen Steuersenkungsorgie, die von den Bundesregierungen aller farblichen Zusammensetzung seit Ende der 1990er-Jahre durchgeführt worden ist. Nur ein Beispiel – zugegeben keines für die Mitte der Gesellschaft –, damit man es noch einmal belegen kann: Ein Spitzenverdiener, der 1 Million Euro im Jahr versteuern muss, zahlt heute trotz Solidaritätszuschlag 12 Prozent weniger Einkommensteuer oder 53 000 Euro weniger, als derselbe Steuerzahler 1990 gezahlt hätte. Es gibt überhaupt keinen Grund, hier für Entlastung zu sorgen.
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Und zu guter Letzt: Dass der Soli nach dem Ende des Solidarpakts nicht mehr verfassungsgemäß sei, wurde in der Anhörung unterschiedlich beurteilt. Einig waren sich die Sachverständigen aber, dass durch eine entsprechend begründete Neuauflage eines dritten Solidarpakts, zum Beispiel zur Sanierung und zum Ausbau der maroden Infrastruktur, dieser Makel leicht gelöst werden könnte. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach die Verfassungsgemäßheit des Solidaritätszuschlags unterstrichen. Verfassungsbeschwerden und Normenkontrollanträge wurden in den letzten Jahren stets zurückgewiesen. Wir werden diese beiden Anträge ablehnen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Jörg Cezanne. – Nächste Rednerin in der Debatte: Lisa Paus für Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Und täglich grüßt das Murmeltier: Ich schwanke so ein bisschen zwischen Fasziniertsein und Erschrecktsein, wie erbittert hier in diesem Hause FDP, CDU/CSU und AfD darum ringen, wer die Vorherrschaft beim Thema Soli hat. Das ganze Verfahren ist bisher wirklich ein einziges Lehrstück an Geschäftsordnungstricks – bis in die nächsten Minuten hinein.
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Aber wenn man es einmal zusammenfasst, dann heißt es eigentlich nur eines: Die FDP unterstreicht erneut, dass sie eine Single-Issue-Partei ist,
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die Steuersenkungspartei, und dass sie die Partei der Besserverdienenden ist. Wenn der Soli, so wie Sie es wollen, ersatzlos abgeschafft wird, dann bedeutet das, dass 80 Prozent der bisherigen Steuereinnahmen bei den Top-20-Prozent der Steuerzahlerinnen ankommen.
Aber die Debatte zeigt eben auch: Es ist nicht nur die FDP, die eine Partei der Besserverdienenden ist. Nein, auch die AfD ist eben nicht die Partei der kleinen Leute, und die CSU hat das ja auch noch einmal deutlich unter Beweis gestellt, insbesondere im Zusammenhang mit der Erbschaftsteuerreform. Um das einmal für normale Menschen an einem Beispiel zu verdeutlichen: Die Abschaffung des Soli bedeutet für eine Familie mit zwei Kindern und einem Jahreseinkommen von 50 000 Euro, dass sie genau 0 Euro mehr hat. Sie spürt also gar nichts davon, wird null entlastet, wohingegen eine Familie mit zwei Kindern und einem Jahreseinkommen von 2 Millionen Euro um 50 000 Euro entlastet wird, also genau dieses Einkommen dann nicht mehr an Steuern zahlen muss. Das ist Steuergerechtigkeit à la FDP, AfD und Union.
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Richtig ist: FDP und Union stehen bei der Bevölkerung tatsächlich im Wort; denn sie hatten ja unter Helmut Kohl das Versprechen abgegeben, dass der Soli nur zeitlich befristet kommen soll. Aber genauso richtig ist eben, dass nach zwölf Jahren Regierung Merkel die unteren 40 Prozent der Bevölkerung nach Abzug der Inflation heute weniger Geld haben als damals, und das muss bei so einer Reform eben auch berücksichtigt werden. Dank der FDP und der AfD hatten wir ein Fachgespräch zu dem Thema. Dazu hatten wir auch Wissenschaftler geladen. Ich zitiere jetzt einmal das DIW, das sagt: Ja, Jahrzehnte nach der Transformation in den neuen Ländern ist der Soli nicht mehr zu rechtfertigen. Aber das DIW sagt auch: die ersatzlose Streichung genauso wenig.
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Denn angesichts der Belastungswirkung des Soli im Gesamtsteuersystem der Bundesrepublik Deutschland stellt das DIW fest: Der Solidaritätszuschlag wurde in den letzten 20 Jahren bei den Spitzenverdienern in Deutschland bereits doppelt abgeschafft,
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und deswegen sollte man das eben nicht einfach tun. Der Punkt ist nämlich, dass Studien zeigen, dass die gesamte Steuerbelastung in Deutschland eben nur schwach progressiv ist.
Ja, es stimmt: Einkommensteuer und Unternehmensteuer, auf die sich der Solidaritätszuschlag bezieht, haben eine ausgeprägt progressive Steuerlastverteilung. Aber diese Steuern machen eben nur weniger als die Hälfte des Gesamtsteueraufkommens in Deutschland aus. Die andere Hälfte entfällt auf die Mehrwertsteuer, auf Verbrauchsteuern, auf andere indirekte Steuern, und die haben allesamt eine regressive Belastungswirkung. Da zahlen eben die armen Haushalte relativ zu ihrem Einkommen deutlich mehr an Steuern. Deswegen ergibt sich in der Gesamtsumme, dass Spitzenverdiener seit den 1990er-Jahren nicht nur beim Spitzensteuersatz entlastet wurden, weil die Unternehmensteuer gesenkt wurde, die Abgeltungsteuer eingeführt wurde, die Vermögensteuer abgeschafft wurde, die Erbschaftsteuer auf Unternehmensübertragung praktisch beseitigt wurde und die Topeinkommen in diesem Zeitraum deutlich stärker als die Durchschnittseinkommen gestiegen sind. Das heißt: Geringverdiener und die Mittelschicht, deren Einkommen häufig kaum gestiegen ist, wurden stärker belastet.
Die Quintessenz ist, dass die Steuerbelastung im untersten Einkommensdezil in den letzten 20 Jahren um 5,4 Prozent gestiegen ist. Auch bei den mittleren Einkommen ist die Steuerbelastung um 2 Prozent gestiegen. Aber in den letzten 20 Jahren wurden vor allem die oberen Einkommen entlastet, das oberste Einkommensdezil um 2,3 Prozent, die reichsten 1 Prozent der Bevölkerung um 4,8 Prozent. Der Soli ist also von den Reichen längst nicht mehr bezahlt worden, und deswegen brauchen wir keine ersatzlose Streichung. Was wir brauchen, ist hingegen ein Gesamtpaket mit einer fairen Reform der Einkommensteuer, tatsächlicher Entlastung von Abgaben und Steuern zugunsten der Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen und einem höheren Spitzensteuersatz ab 100 000 Euro statt wie bisher ab 50 000 Euro.
Danke schön.
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Vielen Dank, liebe Lisa Paus. – Dann kommt als nächster Redner, dem Sie jetzt zuhören können oder nicht – es liegt ganz an Ihnen –, Alois Rainer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, es ist kein Geheimnis, dass die Union und die SPD in dieser Koalition beim Soli etwas unterschiedliche Meinungen haben.
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Um das zu wissen, braucht man eigentlich nur in die jeweiligen Wahlprogramme zu schauen. Dort sieht man: Die Union ist viel offener für eine rasche und vollständige Abschaffung des Solis als die SPD. Für uns ist eines klar: Der Soli muss weg, und zwar ganz.
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– Vielen Dank, aber ich habe dann zu wenig Redezeit.
Fast 30 Jahre, meine sehr verehrten Damen und Herren, nach der Wiedervereinigung erfüllt er nicht mehr seinen Zweck.
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Wir haben auch versprochen, dass der Soli befristet ist. „Befristet“ bedeutet für mich: für alle Steuerzahler.
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Eines steht aber auch fest: Es gibt einen Koalitionsvertrag,
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und wir werden vertragstreu sein. Aber dieser Koalitionsvertrag verbietet im Übrigen nicht, dass jede Partei sagt, was sie machen würde, wenn sie alleine oder in einer anderen Koalition regieren würde.
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Herr Rainer, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung vom werten Kollegen Kubicki?
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Nein.
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Der Koalitionsvertrag verbietet ferner auch nicht, dass man in einer Koalition über Themen spricht, die man im Koalitionsvertrag bereits bis zu einem gewissen Grad geregelt hat. Geänderte Umstände können selbstverständlich zu einer geänderten Politik führen,
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wenn beide Koalitionspartner dies einvernehmlich vereinbaren.
Es ist in der Opposition natürlich leichter, Forderungen zu stellen. Hier hat man keine Regierungsverantwortung, hier muss man sich auch nicht um den Gesamtetat kümmern. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erinnere nur an die Forderungen von der rechten Seite dieses Parlaments: eine Senkung der Einkommensteuer, eine grundgesetzlich verankerte Belastungsgrenze für alle direkten Steuern und Sozialabgaben, eine geringere Erbschaftsteuer,
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einen Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer, eine Absenkung der allgemeinen Mehrwertsteuer um 7 Prozentpunkte, eine Senkung der Grund- und Grunderwerbsteuer.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin in diesem Bundestag und habe großes Glück, dass ich Mitglied im Haushaltsausschuss sein darf. Seit 2013 werden keine neuen Schulden gemacht,
({3})
und wir übergeben keine neuen Belastungen an die junge Generation. Mit Ihren Vorschlägen würden wir unsere zukünftigen Generationen belasten. Das lassen wir so nicht zu.
({4})
Ich habe eingangs gesagt: Wir werden uns ausführlich mit dem Thema beschäftigen. Demnächst kommt die neue Steuerschätzung. Da werden sich eventuell neue finanzielle Möglichkeiten ergeben.
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Ich kann heute sagen: Wir werden eindringlich, genau und auch hart, aber fair mit unserem Koalitionspartner über dieses Thema diskutieren.
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Wir sind uns der Wichtigkeit des Soli sehr bewusst. Aber ich durchschaue natürlich das heutige Manöver. Die Neupartei sagt, die Bayern-CSU wäre schizophren. Herr Gottschalk, wissen Sie, was Schizophrenie bedeutet?
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Realitätsverlust, Wahnvorstellungen und Störungen des Denkens. –
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Das, denke ich, haben Sie heute gehabt.
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Haben Sie noch nicht geschaut, wo Bayern im Vergleich der Bundesländer steht?
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– Nein, da haben Sie noch nicht hingeschaut, sonst wüssten Sie, dass Bayern seit Jahren an der Spitze der Bundesländer steht.
Herr Rainer, erlauben Sie eine Bemerkung oder Frage von Herrn Gottschalk?
Also, wenn ich es bei Herrn Kubicki nicht erlaubt habe, dann erlaube ich es bestimmt nicht bei der AfD.
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Also, wie gesagt: Wenn die finanziellen Mittel vorhanden sind, dann werden wir uns eindringlich und mit Nachdruck um den Abbau des Soli kümmern. Wir werden auch die Diskussion nicht scheuen. Ich weiß, die Diskussion wird hart, kann auch langwierig werden. Aber der Soli muss abgebaut werden. Wir wollen auch die weiteren Schritte des Soliabbaus festlegen. Ich denke, in dieser Koalition ist die Kompromissbereitschaft da. Den heutigen Antrag sehe ich eher als ein Sperrfeuer. Deshalb ist er abzulehnen.
Danke schön.
({1})
Vielen Dank, Alois Rainer. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat Wolfgang Kubicki.
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Herr Kollege Rainer, bei Ihrer in Teilen bemerkenswerten Rede habe ich vermisst, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass die Umsetzung der Äußerungen des Bundeswirtschaftsminister Altmaier, die heute veröffentlicht wurden, wonach es sehr sinnvoll und im Interesse des Wirtschaftsministeriums ist, den Soli bis 2021 vollständig abzuschaffen, auch nicht realistisch sind auf der Grundlage des vereinbarten Koalitionsvertrages. Das gilt übrigens auch für die Aussage der Kanzlerin, die auf dem Deutschlandtag der Jungen Union erklärt hat, es sei sinnvoll, den Soli bis 2021 abzuschaffen. Aber das ist nicht meine Frage.
Die Frage bezieht sich darauf, dass Sie gesagt haben, Sie hätten sich bedauerlicherweise in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD nicht durchsetzen können. Haben Sie nicht darauf hingewiesen, dass der damalige Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, der auch an den Koalitionsverhandlungen teilgenommen hat, vor der Wahl öffentlich versprochen hat, dass die SPD noch in dieser Legislaturperiode den Soli komplett abschaffen will?
({0})
Haben Sie sich nicht durchgesetzt, oder hat sich die SPD möglicherweise Ihnen gegenüber nicht durchgesetzt? Wir gehen davon aus, dass die Zusagen der SPD vor der Wahl auch nach der Wahl gegolten haben.
({1})
Herr Rainer, Sie haben die Möglichkeit, zu antworten.
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Geschätzter Herr Kollege Kubicki, Sie hätten jetzt die SPD fragen müssen, nicht mich. Ich habe meine Meinung ganz klar und deutlich gesagt. Wir stehen zum Soliabbau, aber wir sind auch vertragstreu.
({0})
Jetzt ist Herr Rainer dran. Bitte, Herr Rainer.
Wenn in den Verhandlungen zum Koalitionsvertrag keine Einigung gefunden werden konnte oder nur eine Einigung gefunden worden wäre – –
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So, jetzt ist Kollege Rainer dran, und jetzt hören Sie sich bitte die Antwort an.
Wenn es nur eine Einigung gegeben hätte auf Kosten einer Steuererhöhung auf der anderen Seite, dann weiß ich nicht, ob das am Ende des Tages besser gewesen wäre.
Herr Kubicki, wenn Sie mich schon so fragen, dann muss ich – ich wollte es vermeiden –
({0})
Ihnen sagen: Sie hätten beste Chancen gehabt,
({1})
in dieser Regierung mitzumachen.
Danke schön.
({2})
Vielen Dank.
({0})
– Ich weiß nicht, ob das gerade Koalitionsnachverhandlungen sind, aber darum geht es jetzt nicht.
Der nächste und letzte Redner in dieser sehr lebendigen Debatte ist Michael Schrodi für die SPD-Fraktion.
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Die vorliegenden Anträge zeigen deutlich: auf der einen Seite eine Partei, die FDP, die lieber davonläuft, als Verantwortung zu übernehmen,
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und auf der anderen Seite eine andere Partei, die AfD, die einkommensstarke Spitzenverdiener um 8 Milliarden Euro entlasten will. Wir werden den Soli für 90 Prozent der Zahler – das haben wir übrigens auch schon im Wahlkampf versprochen –,
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somit die Bezieher der unteren und mittleren Einkommen, um 10 Milliarden Euro entlasten.
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Das ist unsere Politik, die sozial und gerecht ist, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Beide Anträge schieben formaljuristische Einwände vor. Man sieht die Hybris von FDP und AfD. Aber über die Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht und nicht Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Das Ziel dieser Anträge ist etwas ganz anderes; denn die komplette Abschaffung des Solis nutzt vor allem Topverdienern. Wir hingegen haben im Koalitionsvertrag vereinbart, den Soli ab 2021 durch Einführung einer Freigrenze abzuschaffen.
In diesem Zusammenhang müssen wir auch einmal die völlig unseriösen steuerpolitischen Vorstellungen der AfD erwähnen. Neben dem Solidaritätszuschlag will man andere Dinge wie die Grundsteuer, die Gewerbesteuer und die Erbschaftsteuer abschaffen,
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ohne aber ein einziges Wort darüber zu verlieren und sich die Frage zu stellen und zu beantworten: Woher kommt dann das Geld für Schulen, für Kitas, für Rente, für Pflege, für Straßen und Schiene? Sie geben keine Antwort. Das ist unseriös und unsozial.
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Herr Kollege – –
Herr Gottschalk hat einen großen Redebedarf. Aber es ist auch einmal gut, wenn Sie zuhören.
Also ist das ein Nein?
Genau.
Gut. Danke schön.
Wobei: Herr Gottschalk, einen entlarvenden Vorschlag gab es ja von Ihrer Fraktion am 15. März in der ersten Debatte zum Soli. Damals hatte Frau Weidel nämlich auf diese Frage gesagt, man könne bei Arbeit und Soziales sparen.
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Deutlicher hätte man es nicht sagen können. Sie haben ein großes Herz für Spitzenverdiener. Sie möchten aber bei der Rente, dem Kindergeld oder der Qualifizierung von Langzeitarbeitslosen streichen. Sie wollen von unten nach oben umverteilen. Aber das ist mit uns Sozialdemokraten nicht zu machen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, Sie machen da natürlich Verrenkungen und müssen einen Spagat zwischen der bayerischen Landtagswahl und dem Regieren hier in Berlin hinbekommen.
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Der bayerische CSU-Finanzminister und Söder-Intimus Albert Füracker will die vollständige Abschaffung des Solis, während Sie hier natürlich Probleme haben, das nach draußen zu verkaufen.
Um es aber deutlich mit den Worten eines etwas erfolgreicheren bayerischen Ministerpräsidenten, mit Franz Josef Strauß, auszudrücken: Pacta sunt servanda – Verträge sind einzuhalten.
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Wir haben einen klaren Fahrplan vereinbart: bis 2021 Entlastung für 90 Prozent der Solizahler, und das muss gelten, auch für Herrn Dobrindt, auch für Herrn Brinkhaus, auch für Frau Merkel und für Herrn Altmaier, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Herr Rainer, auch in Bayern werden die Gelder aus dem Soli für Investitionen gebraucht; denn auf Anfrage unserer bayerischen SPD-Spitzenkandidatin Natascha Kohnen musste die CSU zugeben: 1 300 Brücken und 5 000 Kilometer Staatsstraßen in Bayern sind zum Teil dringend sanierungsbedürftig.
({5})
Und der BR titelt: „Augsburgs Schulen verrotten“.
Wir wollen – auch mithilfe der Mittel aus dem Soli für Spitzenverdiener – mehr in Schulen, in Kitas, in Schiene, in Straße und in Brücken investieren. Das ist sozial gerecht und ökonomisch sinnvoll, und dabei bleiben wir auch.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Vielen Dank, Michael Schrodi. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Kay Gottschalk.
Sehr verehrter Kollege Schrodi, ich muss mich schon wundern – ich hatte es ja schon einmal gesagt –: Sie meinen also, dass Menschen, die in Ihrer berühmten Gleitzone von 60 000 bis 66 000 Euro sind – hören Sie da draußen genau zu! –, schon zu den Spitzenverdienern gehören. Sie finden es legitim, dass den Menschen in diesem Land von 1 Euro am Ende 45,7 Eurocent übrig bleiben.
Woher kann das Geld kommen? Eine kleine Anregung vielleicht: Die SPD, die ja so sozial ist, hat es zugelassen, dass in dieser schönen EU, die Sie alle hier so abfeiern, Unternehmen wie Apple in Irland auf 1 Million Umsatz 50 Euro Gewinnsteuern zahlen. Das ist Ihr soziales Gesicht, werte Kollegen von der SPD.
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Was ich Ihnen noch an den Kopf werfen möchte, ist: 18,7 Milliarden – wie viel Geld haben Sie eigentlich versickern lassen in unsinnigen Vorhaben und in einer Flüchtlingspolitik, die nach unserer Rechtsprechung für mich noch immer verfassungswidrig ist?
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Sie reden von der Verfassung und vom Bundesverfassungsgericht. Was ist mit Maastricht II? Pacta sunt servanda – Verträge, meine Damen und Herren von der SPD, haben für Sie schon lange keine Gültigkeit mehr.
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Und das spüren die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Lande. Gott sei Dank! Deswegen werden sie auch bei der Bayernwahl die AfD wählen. Vielleicht rutschen Sie dann endlich einmal unter 9 Prozent, damit Sie sehen, wie realitätsnah Sie mit Ihrer Politik sind.
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Herr Gottschalk, würden Sie bitte stehen bleiben? – Aufstehen, Herr Gottschalk! Wenn Sie eine Antwort wollen, wäre es nett, wenn Sie stehen bleiben würden. – Herr Schrodi.
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– Seit ich das leite, wird das so gemacht. Herr Gottschalk hat keine Probleme damit, stehen zu bleiben, wenn Herr Schrodi antwortet. – Herr Schrodi, bitte.
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Sehr geehrter Herr Gottschalk, wie Ihre Fraktion mit Geld umgeht, konnte man heute der Zeitung entnehmen:
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„Sorgloser Umgang“ mit dem Geld der AfD-Fraktion. – Räumen Sie erst einmal bei sich auf, Herr Gottschalk, bevor Sie über die Finanzen dieses Staates sprechen!
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Im Übrigen kann man schon darauf warten, dass für alles Schlechte in dieser Welt und vor allen Dingen in diesem Staat zwei Dinge verantwortlich sind – während die FDP ein Thema hat, haben Sie immer zwei –: der Euro oder die Flüchtlinge.
In diesem Fall, Herr Gottschalk, haben Sie gerade in keiner Weise auf das eine Antwort gefunden, was ich vorher angesprochen habe: Wie wollen Sie das, was Sie an Steuern abschaffen wollen, eigentlich gegenfinanzieren?
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Fangen Sie erst einmal an, für sich in der AfD-Fraktion eine seriöse Finanzpolitik zu machen. Dann können Sie mir Fragen stellen.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.
Jetzt kommen wir zur Abstimmungsprozedur.
Wir kommen zum Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/4854 zur Aufhebung des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 zum 1. Januar 2020. Die Fraktion der FDP wünscht Abstimmung in der Sache in namentlicher Abstimmung; das haben Sie beantragt. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen Überweisung, und zwar federführend an den Finanzausschuss und mitberatend an den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz sowie an den Haushaltsausschuss.
Wir stimmen jetzt nach ständiger Übung zuerst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Deswegen frage ich: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Wir alle hier oben sind der Meinung, dass die Überweisung die deutliche Mehrheit bekommen hat. Es haben zugestimmt die Fraktion Die Linke, die Fraktion der SPD, die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion der CDU/CSU. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Damit stimmen wir heute über den Antrag auf Drucksache 19/4854 nicht in der Sache ab.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Moment wird Deutschland auf die Einhaltung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte vor dem Sozialausschuss der Vereinten Nationen überprüft. Die Bundesregierung hat sich mit der Unterzeichnung des Sozialpaktes dazu verpflichtet, allen Menschen alle sozialen Rechte zu garantieren: das Recht auf Arbeit, bezahlbaren Wohnraum, ein umfassendes Diskriminierungsverbot, das Recht auf Bildung, Streikrecht und eine Gesundheitsversorgung für alle.
Die Bundesregierung tut so, als seien Menschenrechte hierzulande eine Selbstverständlichkeit, ein altdeutsches Mobiliar. Aber seit Jahren haben Sie Angst davor, das Zusatzprotokoll zum Sozialpakt zu ratifizieren, weil danach soziale Rechte zukünftig einklagbar würden. Die Verpflichtung des Staates, für ein menschenwürdiges Existenz- und Teilhabeminimum zu sorgen, leitet sich aus den Artikeln 1 und 20 unseres Grundgesetzes ab. In Artikel 1 heißt es:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
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Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten …
Auf Grundlage dieses Grundgesetzes wurden Frau Merkel und ihr Kabinett vereidigt. Also ratifizieren Sie das Zusatzprotokoll endlich!
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Wie sieht die Lebenswirklichkeit in Deutschland aus? Klar, die Geschwister Quandt und Klatten von BMW können sich ihre Menschenrechte kaufen, allein mit einer Dividende von 1,1 Milliarden Euro im Mai 2017 fürs Nichtstun, nur fürs Spekulieren, und das, während gleichzeitig 6 Millionen Menschen in Deutschland von Armut bedroht sind, 8 Millionen auf unzureichende Sozialleistungen angewiesen sind und fast 1 Million Menschen wohnungslos sind. 1,1 Milliarden in nur einem Monat! Dafür könnten 50 000 Sozialwohnungen gebaut oder über 36 000 Pflegekräfte eingestellt werden.
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In keinem anderen Land Europas sind die Vermögen so ungleich verteilt. Es ist ein sozialer Schwelbrand, dass einige nicht wissen, wohin mit ihrer Kohle, während Rentnerinnen und Rentner im Mülleimer nach Flaschen wühlen und bei der Tafel anstehen müssen. 30 Prozent der Erwerbslosen können sich nicht einmal mehr jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit leisten. Die gesamte politische Kaste, die dafür verantwortlich ist, müsste sich in Grund und Boden schämen, dass in einem der reichsten Länder der Welt Menschen hungern müssen.
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Seit 100 Jahren regt sich die sogenannte Mitte darüber auf, wenn rechte Demagogen auf der roten Flamme der Empörung ihre braune Suppe kochen, aber diese Empörung haben Sie mit zubereitet. Wer die extremen Rechten schwächer oder überflüssig machen will, muss soziale Rechte stärken.
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Werfen Sie Hartz IV auf den Müll, erhöhen Sie die Renten – Österreich zeigt, wie es geht –, und erhöhen Sie den Mindestlohn auf 12 Euro! Wir Linken wollen uns als demokratische Revolutionärinnen und Revolutionäre nie an die ekelerregende Eigentumsordnung gewöhnen, die tagtäglich Arbeitskraftverkäuferinnen enteignet und kleine Handwerksbetriebe in die Insolvenz zwingt.
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Wir können uns die Superreichen nicht mehr leisten. Wir brauchen endlich eine Vermögensteuer. Nur so kann Ungerechtigkeit beseitigt und können soziale Rechte durchgesetzt werden.
Die Linke wird Frau Merkel nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Wo Sie soziale Sicherheit verweigern, werden die Menschen bald aufstehen und sie sich nehmen. Denn jedes Kind hat das Recht auf Chancengleichheit. Niemand soll künftig mehr aufgrund seiner Herkunft, seines Alters, seines Geschlechts oder aufgrund einer Behinderung benachteiligt werden. Auch wir Migrantinnen und Migranten sind nicht Bittsteller, sondern Mitkämpferinnen und Mitkämpfer in dieser Gesellschaft.
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Für uns Linke sind Menschenrechte unteilbar. Stimmen Sie unserem Antrag zu.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Nastic. – Darf ich Sie noch einmal um Ruhe bitten? – Es ist ein unglaublicher Geräuschpegel hier im Raum. Das ist wirklich unangenehm. Wir würden gerne zuhören.
({0})
– Bitte was? Was passt Ihnen nicht?
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– Nein, ich meine grundsätzlich. Sie können mit aller Emotion reagieren, aber wenn so eine Grundstimmung vorhanden ist, sodass man nicht einmal mehr hört, was die Kollegen sagen, dann ist das gerade zu dieser Tageszeit einfach nicht fair.
Es lohnt sich wahrscheinlich, Dr. Matthias Zimmer zuzuhören. Er redet jetzt für die CDU/CSU-Fraktion.
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– Ja, das habe ich auch gesagt, Herr Dr. Dehm.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass man zu dieser späten Stunde über einen solchen Antrag redet und dass man sich genötigt sieht, zunächst mit drei Vorbemerkungen anzufangen, passiert mir auch nicht jeden Tag.
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Frau Nastic, Sie haben erstens behauptet, die Bundesregierung tue, als ob die Menschenrechte eine Selbstverständlichkeit seien. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis: Die Menschenrechte sind seit 1949 in unserem Land eine Selbstverständlichkeit.
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Frau Nastic, Sie haben zweitens darüber hinaus behauptet, die Menschenrechte seien käuflich. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis: Die Menschenrechte sind in der Bundesrepublik Deutschland nicht käuflich.
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Der dritte Punkt: Sie haben sich selbst als deutsche Revolutionärin bezeichnet.
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– Als demokratische Revolutionärin? Das ist so etwas wie eine vegane Wurst, nicht?
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Ich glaube nicht, dass es dem Selbstverständnis eines deutschen Parlamentariers entsprechen würde, von diesem Pult aus die Revolution zu predigen, auch wenn Diether Dehm das vielleicht etwas anders sieht.
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Wir sind Parlamentarier und keine Revolutionäre; wir lehnen Gewalt ab.
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Ich weiß, lieber Kollege Dehm: Es ist spät und vielleicht ist das ein oder andere Glas Wein auch schon getrunken und sorgt dann für zusätzliche Stimmung; aber ich finde, wir sollten bei dem Thema wirklich ernst bleiben.
Der erste Punkt. Die Behauptung, der Staat tue zu wenig gegen die Armut, ist grundfalsch. Unsere Ausgleichssysteme sorgen für eine erhebliche Reduktion der Ungleichheit, und dort, wo sich in den letzten Jahren Verwerfungen und Probleme gezeigt haben, sind wir als Gesetzgeber tätig geworden: Wir haben den Mindestlohn eingeführt, um Ordnung in den Markt zu bringen, wir haben die Tarifbindung gestärkt, den Missbrauch von Werkverträgen bekämpft, die Arbeitnehmerüberlassung wieder auf ihre Kernfunktion hin orientiert, die Erwerbsminderungsrente erhöht, weitere Entgeltpunkte in den Erziehungsleistungen eingeführt, das Wohngeld erhöht, den Unterhaltsvorschuss reformiert, Alleinerziehende steuerlich entlastet und auch Kinderbetreuung ausgebaut. Diese Maßnahmen kommen insbesondere den unteren Einkommensgruppen zugute. Das Bild der Bundesrepublik Deutschland, das Sie hier zeichnen, ist falsch.
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Dann eine grundsätzliche Bemerkung zur Armutsdebatte: Die Armutsrisikoquote ist nicht mit Bedürftigkeit oder Armut gleichzusetzen. Die Armutsrisikogrenze ist eine Relation, keine absolute Zahl und keine absolute Armut; sie ist lediglich eine statistische Größe und sagt über die Lebenslage der Menschen nichts aus. Sie ist zudem weitgehend unsinnig: Wenn in einer Gesellschaft wie Nordkorea alle Menschen hungern, ist statistisch betrachtet niemand armutsgefährdet; denn es hungern ja alle gleich. Man könnte aus Mangel an Geld verhungern; aber arm ist man nicht. – Aber vermutlich ist für Teile der Linken Nordkorea eben ein sozialistisches Disneyland;
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das würde vieles erklären, auch Ihren Antrag.
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Wir als Union wollen Armut nachhaltig bekämpfen, indem wir Menschen befähigen, ihnen Möglichkeiten eröffnen und ihnen Chancen bieten, sich selbst zu helfen. Armut ist ein Mangel an fundamentalen Verwirklichungschancen. Nur dort, wo der Mensch und seine Fähigkeiten ertüchtigt werden, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, hat das Soziale eine Chance. Deshalb wollen wir, dass der Staat den Menschen Hilfe zur Selbsthilfe gibt und Chancengerechtigkeit schafft. Wir machen Sozialpolitik entlang des Subsidiaritätsprinzips, weil wir den Menschen zutrauen, ihr Leben selbst zu gestalten. Das Teilhabechancengesetz, das sich derzeit im parlamentarischen Verfahren befindet – wir haben heute Morgen die erste Lesung dazu gehabt –, ist auch Ausdruck gelebter Subsidiarität. Mit diesem Gesetz wollen wir Langzeitarbeitslosen neue Chancen geben und ihnen zu besserer gesellschaftlicher Teilhabe verhelfen.
Der zweite Punkt betrifft Ihre Forderung nach Erhöhung des Mindestlohns. Sie machen das ja schon seit einigen Jahren: Zuerst sollte der Mindestlohn bei 10 Euro, dann bei 11 Euro, dann bei 12 Euro liegen.
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Es wird durch die ständigen Wiederholungen erstens nicht besser,
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und zweitens wird es ordnungspolitisch falsch. Wir hatten nämlich gute Gründe, den Mindestlohn nicht vom Staat festlegen zu lassen, sondern von einer Mindestlohnkommission, die paritätisch von Tarifparteien besetzt ist. Die Festsetzung der Höhe folgt bestimmten Kriterien und keinem politischen Überbietungswettbewerb vor Wahlen. Zudem könnte ein politischer Mindestlohn niedrigere Tarifabschlüsse verdrängen und damit auch Gewerkschaften infrage stellen. Genau das wollen wir nicht. Wir wollen, dass starke Tarifpartner weiterhin die Tariflöhne aushandeln. Genau das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns: Sie sehen den Mindestlohn als ein sozialpolitisches Instrument, das er aber nicht ist; wir sehen den Mindestlohn als ein ordnungspolitisches Instrument, das Ordnung in den Markt bringt und verhindert, dass Wettbewerb über Lohndrückereien erfolgt.
Mein dritter Punkt betrifft Ihre Forderung nach einer bedingungslosen Grundsicherung. In einer Solidargemeinschaft gibt es Rechte und Pflichten. Auch das Prinzip der Menschenwürde kann Pflichten gegenüber der Gemeinschaft nicht außer Kraft setzen. Solidarität ist wechselseitig, sie ist Hilfe zur Selbsthilfe und kann nicht bedingungslos sein; nur so werden solidarische Leistungen des Gemeinwesens als legitim empfunden. Warum sollte ein Familienvater, der mit seiner Arbeit sich und seine Familie ernährt, mit seinen Steuerzahlungen einen anderen arbeitsfähigen, aber arbeitslosen Familienvater unterstützen, wenn dieser nichts dafür tut, um seine Lage zu ändern?
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Da Diether Dehm eben die Französische Revolution angeführt hat: Das Solidaritätsprinzip in der Französischen Revolution besagt genau das: Es gibt keine bedingungslose Solidarität; denn Solidarität lebt eben auch von bestimmten Voraussetzungen.
Die Menschenwürde ist der Geltungsgrund der Menschenrechte. Diese Grundrechte stehen nicht nur in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander, sondern sind ohne die damit einhergehenden Pflichten weder zu verstehen noch zu begründen. Deshalb lehnen wir eine bedingungslose Grundsicherung ab.
Vierter Punkt. Sie haben die Forderung nach einer Ratifikation des Fakultativprotokolls aufgebracht. Hier kann ich nur ganz kurz und klar sagen: Wir haben im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass wir die Ratifikation noch in dieser Legislaturperiode anstreben,
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und ich bin zuversichtlich, dass wir dies auch tun.
Der Antrag der Linken entwirft ein völlig einseitiges, ein depressives, ein Nachtbild der Bundesrepublik Deutschland, das so nicht existiert. Es macht keinen Mut zur Zukunft, es führt lediglich in sinnlose Verzweiflung, in Depressionen. Ich habe Ihnen zugehört. Als ich mit dem Zuhören dann fertig war, habe ich mir überlegt, ob man sich angesichts einer solchen Message, die Sie hier verbreiten, wirklich wundern muss, dass die Radikalen von allen Ecken mittlerweile zur AfD überlaufen – Sie leisten dem Vorschub!
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Vielen Dank, Matthias Zimmer. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat Dr. Dehm.
Herr Professor Dr. Zimmer, lieber Matthias, ich habe dich im Niveau – aber du hast ja selbst entschuldigend die späte Stunde angeführt – schon weit höher erlebt als da, wo du uns mit Nordkorea und Kim Jong Un gleichgesetzt hast. Da will ich nur sagen: Im Moment unterhalten Donald Trump und Kim Jong Un eine Liebesbeziehung. Wir wollen uns da nicht als Linke dazwischendrängen.
In der Frage des Mindestlohns sollte man sich erinnern, dass die Erstinitiative zum Mindestlohn – damals übrigens teilweise auch argwöhnisch angeschaut von Gewerkschaften – von der Linken kam. Ohne Die Linke gäbe es den Mindestlohn nicht; das sollte man bei der Gelegenheit auch mal sagen.
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An einen Widerspruch möchte ich den Professor, der ja auch Studierende in seinen Bann zieht, dann doch erinnern: Auf der einen Seite sagen Sie, ein demokratischer Revolutionär sei so etwas wie eine vegane Fleischwurst, sei sozusagen ein Widerspruch in sich. Auf der anderen Seite sagen Sie, der Sozialstaat entstamme der Französischen Revolution – wenn auch nicht mit einer Art des bedingungslosen Grundeinkommens. – Die Kollegin hat übrigens für ein Existenzminimum, nicht für ein Grundeinkommen gesprochen. – Das widerspricht sich. Wenn der Code civil dem durchaus gewaltsamen Sturm auf die Bastille zu Beginn der Französischen Revolution zu verdanken ist – und so steht es in den Schulbüchern; mich würde sehr interessieren, ob der Herr Professor etwas anderes lehrt –, wenn der Sozialstaat, wie Sie selber sagen, entstanden ist mit der Novemberrevolution, die sich in diesem November zum hundertsten Mal jährt, und mit der Französischen Revolution, dann gibt es demokratische Revolutionäre und dann sind alle aufgerufen, bei dieser Frage der demokratischen Revolution, also der Veränderung der Verhältnisse mit demokratischen, grundgesetzlichen Mitteln dort anzuknüpfen, wo Artikel 15 des Grundgesetzes ausdrücklich erlaubt, dass man Verbrecherorganisationen – wie die Deutsche Bank – in Gemeineigentum überführen kann, also zu Sparkassen machen kann.
Vielen Dank, das waren zwei Minuten. – Stehen bleiben!
({0})
– Doch!
({1})
– Bei mir schon.
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– Bei mir ja! – Dr. Zimmer bitte.
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Herzlichen Dank. Ich finde es schön, wenn wir Auge in Auge sprechen können und der Kollege Dehm tatsächlich stehen bleibt, auch wenn es ihm an dieser Stelle schwerfällt.
Es tut mir leid, sollte ich die hohen Erwartungen an eine Rede heute enttäuscht haben. Aber zwei Bemerkungen inhaltlicher Art will ich dann doch machen.
Erstens. Bei der Frage des Mindestlohns waren teilweise die Gewerkschaften ausgesprochen gespalten. Denn die haben gesagt: Das ist ein schwieriges Thema, und nur dort, wo wir Tarifbindung verlieren, macht ein Mindestlohn letztendlich Sinn. – Deswegen waren es zum Teil auch die großen Gewerkschaften, die lange gegen einen gesetzlichen Mindestlohn eingetreten sind; das gehört zur historischen Wahrheit auch dazu.
Der zweite Punkt bezieht sich auf die demokratischen Revolutionäre. Dazu will ich zwei Bemerkungen machen. Erstens hatte die demokratische Revolution in Frankreich auch zum Terreur geführt, zum Terror, zur Verfolgung, und das hat mit Demokratie nun überhaupt nichts zu tun.
Der zweite Punkt ist: Die Solidaritätsidee, die in der Französischen Revolution aufgegriffen worden ist, ist eine Umdeutung der alten römischen Rechtsidee der Solidarität, ist also keine Erfindung der Revolutionäre der Französischen Revolution, sondern eine kreative Umdeutung eines Inhaltes, der aus römischen Rechtsquellen längst bekannt gewesen ist.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. – Nächster Redner: Jürgen Braun für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen!
({0})
Danke für die Vorlesung zwischendrin. Der Begriff „Menschenrechte“ ist aber auch so klar definiert.
Was Die Linke hier einfordert, was Sie hier einfordern, liebe Menschinnen und Menschen von der Linken, ist ein Schlaraffenland. Wer hätte das alles nicht gern? Reichtum für alle haben Sie in Ihren Wahlkämpfen propagiert. In Wirklichkeit werden Sie mal wieder Armut für alle schaffen, wenn man Sie denn lässt.
({1})
Ausgenommen von der Armut ist natürlich die Kaste der Nomenklatura. So ist das in kommunistischen Diktaturen. Sie wollen Gleichheit. Sie beklagen die Ungleichheit. Die Gleichheit ist perfekt verwirklicht in Nordkorea. Nirgendwo sind so viele Menschen in Gleichheit vereint, in Armut und Unterdrückung, ausgenommen natürlich die herrschende Familie; die verfügt über Milliardenbeträge. Kein kommunistisches Regime war je anders. Kommunistische Terrorherrscher, das sind Ihre Vorbilder. Denen eifern Sie nach.
({2})
Die kommunistischen Regime der letzten hundert Jahre sind ausnahmslos Schreckensherrschaften gewesen.
({3})
Ihre Genossen haben Jahrzehnte und Jahrzehnte abgelenkt von Todesautomaten, von Minen und von Stacheldraht mitten in Deutschland auf fast 1 000 Kilometern.
({4})
Massenmorde und massenhafte Entrechtung wurden durch scheinbare Sozialwohltaten kaschiert.
Und Sie machen mit diesem Antrag so weiter.
({5})
Was Sie in Wirklichkeit wollen, ist doch etwas ganz anderes. Ihnen geht es letztendlich einmal mehr und schon wieder um die Dekonstruktion des freiheitlichen Staates, weil Sie diesen Staat nicht wirklich anerkennen. Es ist ja auch gar nicht Ihr Staat. Die DDR ist ja untergegangen.
({6})
Durch scheinbare Menschenrechte, durch eine heillose Überfrachtung wollen Sie das Staatsschiff zum Kentern bringen. Dieses Ansinnen wollen Sie verstecken und vertuschen, ganz wie Ihre kommunistischen Genossen seit Lenin und Stalin. Das ist die uralte Kamelle, angebliche Menschenrechte im Bereich des Sozialen zu verankern. Damit haben kommunistische Diktaturen seit hundert Jahren die Menschen abgelenkt von ihrem eigentlichen Geschäft: dem Völkermord und der Entrechtung.
({7})
Die soziale Frage ist für jeden Staat zentral; daran besteht gar kein Zweifel. Sie ist jedoch von einer prosperierenden Wirtschaft abhängig; denn es kann nur verteilt werden, was vorher verdient wurde.
({8})
Das ist gute ordoliberale Tradition in Deutschland. Die sollten wir ehren und hochhalten.
({9})
Was dagegen passiert, wenn die soziale Frage als alleiniger Mittelpunkt angesehen wird, kann in Venezuela besichtigt werden. Dort hat Staatschef Maduro, Ihr großer Freund, den Sozialismus reinster Prägung ausgerufen, jawohl, Sozialismus. In dieser Woche erst hat der Internationale Währungsfonds bekannt gegeben, dass die Inflation in Venezuela in diesem Jahr über 1,3 Millionen Prozent beträgt. 1,3 Millionen Prozent! Und das in nur einem Jahr. Und für 2019 prognostiziert der IWF 10 Millionen Prozent. Das ist Sozialismus. Das passiert, wenn die soziale Frage missverstanden, überfrachtet und zu einem Menschenrecht erhoben wird. Natürlich hat auch Herr Maduro etwas zu verbergen: Er hat das Land mit den größten Erdölreserven der Welt – jawohl, mehr als Saudi-Arabien – komplett vor die Wand gefahren. Das wird jetzt mit sozialistischen Märchen zugekleistert. Schwebt Ihnen das so ähnlich auch für Deutschland vor? Sie würden es sogar schaffen, dass in Saudi-Arabien der Sand knapp wird.
({10})
Wenn die Arbeitslöhne durch wirtschaftliche Prosperität steigen, gibt es durch die Statistik automatisch mehr Arme in der Bevölkerung; denn mit wirtschaftlichem Erfolg steigt der Durchschnittslohn, und wer ein gutes Drittel darunterliegt, den definieren Sie und manche andere als arm.
({11})
Die Zahl dieser Armen möchten Sie doch gar nicht verkleinern. Sie drehen viel lieber den Erfolg, den viele Menschen sich hart erarbeiten, in einen Neidfaktor. Sie stacheln den Neid derjenigen an, die der Hilfe bedürfen.
({12})
Neid und Missgunst, das sind Ihre Instrumente, auch die des „roten Millionärs“, Herr Dehm. Das ist linke Politik.
Bringen wir es auf Punkt: Ein neues Nordkorea in Deutschland, das ist Ihr Wunschtraum.
({13})
Nicht mit uns!
({14})
Danke, Herr Braun.
({0})
– Calm down!
({1})
Nächste Rednerin: Aydan Özoğuz für die SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vielleicht nur ein Satz zum Vorredner: Warum menschenrechtliche Verfehlungen im Ausland automatisch bedeuten sollen, dass wir uns nicht stärker für Menschenrechte in Deutschland und auch in anderen Ländern einsetzen können und sollen, ist eine Logik, die mir wirklich nicht einleuchtet. Das ist eine AfD-Logik.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es ist schon ein besonderer Antrag, der hier vorgelegt wird; denn kaum ein Thema findet darin nicht Erwähnung: Mindestlohn, Hartz IV, Kindergeld, Rentenniveau, Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention, Behindertenrechtskonvention, besserer Zugang zu Beschäftigung und Ausbildung, Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen, Zwangsarbeit usw. usw. Ich glaube, man kann schon sagen: Das sind alles wichtige Themen. Aber ich habe ungefähr 40 gezählt. Wenn man die alle in einem Generalantrag zusammenfasst, wenn man alles in einen Topf wirft und nicht weiter erläutert, wie das im Einzelnen wirklich gehen soll, dann wird man damit meines Erachtens den Herausforderungen nicht gerecht. Ich kann in ganz wenigen Minuten nur einige Aspekte herausgreifen.
Ich fange an mit einer guten Nachricht – denn auch darauf beziehen Sie sich in Ihrem Antrag –: Das Übereinkommen über die Menschenrechte indigener Völker, ILO 169, das auch bei uns im Menschenrechtsausschuss schon ein Thema gewesen ist, und das zweite Zusatzprotokoll zum WSK-Pakt wurden bereits im Staatenüberprüfungsverfahren in Genf zugesagt. Da waren wir, die Mitglieder des Menschenrechtsausschusses, übrigens dabei. Ich meine auch, dass der Staatssekretär das hier schon zugesagt hat. Da sind wir also auf einem recht guten Weg.
Eine der großen sozialen Fragen ist, wie Wohnraum für alle bezahlbar bleibt bzw. werden soll; da stimme ich Ihnen vollkommen zu. Das Bundeskabinett hat inzwischen mit einer Verschärfung der Mietpreisbremse sowie dem Mieterschutzgesetz reagiert, welches die Rechte von Mietern stärkt, ihre Verdrängung verhindert und sie auch bei Modernisierungen finanziell entlastet. Der Wohngipfel vor ein paar Wochen hat weitere Maßnahmen wie die noch stärkere Förderung von sozialem Wohnungsbau hervorgebracht. Ich möchte daran erinnern, dass Olaf Scholz noch als Erster Bürgermeister in Hamburg bereits 2011 das wichtige und wirklich erfolgreiche Wohnungsbauprogramm geschaffen hat, mit dem inzwischen jährlich in einer Stadt wie Hamburg 10 000 neue Wohnungen entstehen, davon 3 000 gefördert für Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen, was im Übrigen auch hilft, den Mietspiegel zu senken. Auch das sollte man, finde ich, zur Kenntnis nehmen.
({0})
Natürlich brauchen wir weiterhin verschärfte Anforderungen bei Eigenbedarfskündigungen, eine weitere Absenkung der Modernisierungsumlage oder auch die Eindämmung von Spekulationen mit Grundstücken und Immobilien.
Zur Rente wird mein Kollege gleich noch etwas sagen. Deswegen möchte ich nur noch ein Thema nennen, das mir besonders am Herzen liegt, nämlich die Situation der Kinder. Wir haben in der letzten Legislaturperiode schon einiges erreicht, von hohen Investitionen in den Kitaausbau bis zur Reform des Unterhaltsvorschusses. In dieser Legislaturperiode arbeiten wir weiter daran, die Armutsrisiken zu minimieren und Kinder in einkommensschwachen Familien zu unterstützen. Wir haben heute Morgen hier eine lange Debatte über den Gesetzentwurf geführt, mit dem wir vor allem Familien mit kleinen und mittleren Einkommen um insgesamt etwa 10 Milliarden Euro entlasten werden. Das im Koalitionsvertrag vorgesehene Maßnahmenpaket gegen Kinderarmut umfasst neben einer weiteren Erhöhung des Kinderzuschlags auch die Verbesserung von Leistungen im Bereich Bildung und Teilhabe. Wir müssen das natürlich vor allen Dingen entbürokratisieren, damit der Zugang leichter wird.
Mein letzter Satz: Wir haben ja gerade auch noch das Gute-Kita-Gesetz beschlossen und 5,5 Milliarden Euro für die kommenden vier Jahre bereitgestellt. Ich glaube, wir tun schon einiges. Aber wir können immer noch mehr tun. Da bin ich absolut solidarisch, und da sind wir uns auch einig. Dafür sitzen wir ja auch gemeinsam im Menschenrechtsausschuss.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Aydan Özoğuz. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Gyde Jensen.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke möchte mit ihrem Antrag soziale Ungleichheit weltweit überwinden.
({0})
Das kann man von einer Partei, die sich „sozialistisch“ nennt, natürlich auch erwarten. Wenn man Ihren Antrag aber liest, dann kommt man zu dem Ergebnis: Sie wollen eigentlich kein einziges Problem der Globalisierung lösen. Wenn man die Überschrift des Antrags liest, erwartet man, dass jetzt die Vorstellungen der linken Internationale kommen. Das wäre natürlich legitim und in einer globalisierten Welt auch angebracht. Stattdessen beschäftigen Sie sich von 194 Ländern auf der Welt mit nur einem einzigen Land, mit einem Land, das wirtschaftlich so gut dasteht wie nie, dessen Arbeitslosigkeit so niedrig ist wie nie und in dem auch die Kriminalitätsrate niedriger denn je ist. Sie beschäftigen sich ausgerechnet mit einem der Länder, denen es weltweit am besten geht: mit Deutschland.
({1})
Die Zustände in diesem Land reden Sie mit Ihrem Antrag schlecht. Das ist doch ein Offenbarungseid und zeigt, dass Sie eigentlich keine Vorstellung davon haben, wie eine vernetzte Welt aussehen soll. Es ist auch ein Offenbarungseid, dass Sie in Ihrem Antrag das Wort „EU“ nur ein einziges Mal nennen. Das zeigt, dass Sie sich gar nicht wirklich mit Europa auseinandergesetzt haben. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Sie in einer globalen Welt irgendetwas verändern und erreichen können, wenn Sie den Menschen mit Ihrem Antrag vorgaukeln, dass sie auf einer einsamen Insel leben.
({2})
Wenn wir angesichts einer Weltbevölkerung, die bald über 9 Milliarden Menschen fasst, und eines Bevölkerungsanteils der EU von knapp 5 Prozent ernsthaft unsere Interessen wahrnehmen wollen, dann müssen wir doch daran arbeiten, wie wir als Europäer zusammenstehen. Dann müssen wir uns doch zwingend darüber Gedanken machen, wie wir als Europäer bei wichtigen Verhandlungen wie denen zum bevorstehenden UN-Rahmenabkommen zu Wirtschaft und Menschenrechten mit einer Stimme sprechen können. Nur dann werden wir in der Lage sein, globale Menschenrechte und die entsprechenden Standards mitzugestalten. Darüber hätten Sie reden können – das wäre eine wertvolle Debatte gewesen –, statt einfach nur Ihr ganzes Parteiprogramm aufzuschreiben.
({3})
Wir brauchen vielmehr einen konstruktiven Streit über die Verwirklichung sozialer Menschenrechte, aber keine nationale Empörungsspirale wie in diesem Antrag. Die eigentlichen Themen im Hinblick auf soziale Menschenrechte sind doch die, die Entwicklung und Vernetzung weltweit verhindern.
({4})
Es geht um den Aufbau von Staatlichkeit, und es geht darum, eine funktionierende Demokratie und einen funktionierenden Rechtsstaat aufzubauen, um es überhaupt möglich zu machen, weltweit ein soziales Schutzniveau zu garantieren.
Dann gibt es Staaten wie beispielsweise Venezuela, wo die Lebensverhältnisse der Menschen komplett gegen die Wand gefahren wurden, inklusive Planwirtschaft, Hyperinflation und Bankencrash.
({5})
Da könnten Sie doch Ihre Kontakte nutzen und tatsächlich einmal Gutes bewegen.
Wenn wir im Hinblick auf das Gelingen der Globalisierung wirklich etwas erreichen wollen, müssen wir auch Unternehmen dabei unterstützen, dass sie menschenrechtliche Verantwortung übernehmen; denn die Achtung der Menschenrechte ist gelebte unternehmerische Verantwortung.
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Deutsche und europäische Unternehmen können hier ein Vorbild sein. Die Vereinbarungen des UN-Sozialpaktes geben hier eine Orientierung, die Globalisierung so zu bauen, dass sie für jeden funktionieren kann.
({7})
Genau dafür sollten wir alle jeden Tag arbeiten.
Herzlichen Dank.
({8})
Frau Jensen, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung? – Gut.
Danke schön, Frau Jensen. – Nächste Rednerin: Margarete Bause für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! „Wir streben die Ratifikation des Zusatzprotokolls zum Sozialpakt der Vereinten Nationen … an.“ So haben Sie, die Regierungsfraktionen, es in Ihrem Koalitionsvertrag vereinbart; Sie, Herr Zimmer, haben gerade schon darauf hingewiesen.
({0})
– Und Frau Özoğuz. – Seit neun Jahren steht genau diese Aufgabe auf der Tagesordnung der Bundesregierung. Die verschiedensten Koalitionen – zuerst war es Schwarz-Gelb, dann zweimal Schwarz-Rot – haben genau diese Aufgabe bis heute nicht erfüllt. Heute streben Sie es wieder an. Wer immer strebend sich bemüht, möchte man mit Goethe sagen, den können wir erlösen.
({1})
Aber es braucht dazu gar keine Engel. Es braucht dazu einfach nur politischen Willen.
({2})
Diesen politischen Willen sollten Sie endlich unter Beweis stellen, wenn Sie die weltweite Reputation der deutschen Menschenrechtspolitik nicht beschädigen wollen. Denn zur vollen Anerkennung der Menschenrechte gehört eben auch die volle Anerkennung der Kontrollverfahren.
({3})
Noch Ende September dieses Jahres – Frau Özoğuz, Sie haben gesagt, das alles ist auf einem guten Weg – hat der Staatssekretär im Arbeitsministerium, Herr Böhning, anlässlich des Überprüfungsverfahrens in Genf langatmig über Probleme und Herausforderungen referiert. Er sprach davon, dass die Umsetzung des UN-Sozialpakts eine Daueraufgabe sei. Er nannte kein Datum für die Ratifikation. Es mag ja sein, dass die Umsetzung des Sozialpakts eine Daueraufgabe ist. Aber die Ratifizierung des Zusatzprotokolls sollte, bitte schön, keine sein.
({4})
Seit neun Jahren drückt sich die Bundesregierung darum herum und handelt sich damit den Vorwurf doppelter Standards ein: beim innerstaatlichen Umgang mit Menschenrechten einerseits und beim außenpolitischen andererseits. Es sollte doch eine Selbstverständlichkeit sein, dass Einzelne oder Personengruppen auf UN-Ebene Beschwerde einlegen können, wenn sie ihre Rechte aus dem Sozialpakt verletzt sehen. Das ist ja in vielen Bereichen auch schon der Fall. Diese Möglichkeit gibt es. Warum dann bitte nicht beim Sozialpakt?
({5})
Warum ist das wichtig? Das ist zum Beispiel für die Bewohner eines Dorfes in der Demokratischen Republik Kongo wichtig, wenn sie Opfer gewaltsamer Übergriffe durch Sicherheitsleute einer Tochterfirma eines deutschen Holzproduzenten werden, oder für die Angehörigen jener 43 mexikanischen Studenten, die mit Gewehren der Firma Heckler & Koch erschossen wurden, welche niemals in diese Region hätten geliefert werden dürfen. Oder wo können die Arbeiter in den von deutschen Exportbürgschaften geförderten Kohleminen Kusile und Medupi in Südafrika ihre Rechte, bitte schön, einklagen, wenn sie unter Schwefeldioxidvergiftungen leiden? Was für ein Problem haben Sie denn mit der Ratifizierung? Dass das in Deutschland geltende Streikverbot für Beamte von den UN zu Fall gebracht werden könnte? Das kann doch, bitte schön, nicht Ihr Ernst sein.
({6})
Zum Antrag der Linken. Verpackung und Inhalt passen hier nicht zusammen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie blenden die internationale Dimension des UN-Pakts praktisch völlig aus und legen einen ellenlangen Katalog unterschiedlichster sozialpolitischer Forderungen vor. Auch das ist nicht hilfreich, wenn es darum geht, dass wir in Deutschland endlich unsere Hausaufgaben in der Menschenrechtspolitik machen.
({7})
Am 10. Dezember dieses Jahres, liebe Kolleginnen und Kollegen, feiern wir den 70. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Ich finde, das ist ein guter Anlass, endlich zu handeln. Ratifizieren Sie endlich das Fakultativprotokoll zum Sozialpakt!
Danke schön.
({8})
Vielen Dank, Margarete Bause. – Nächster Redner ist Sebastian Brehm für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Nastic, wenn man den Antrag der Fraktion Die Linke liest und Ihre heutige Rede zum Soli verfolgt hat, dann kann man nur hoffen, dass Sie niemals die politische Führung in diesem Land übernehmen. Sie vergleichen Deutschland in diesem Antrag mit einem Entwicklungsland und unterstellen, dass die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte bei uns nur unzureichend geschützt sind.
({0})
Sie suggerieren, dass die Menschenrechte nicht eingehalten werden, und zeichnen ein ganz düsteres Bild von Deutschland.
Was wollen Sie damit erreichen? Wollen Sie noch mehr Frust gegenüber der Politik? Wollen Sie eine noch größere Schwächung der Demokratie?
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Was Sie durch dieses Schlechtmachen schaffen, ist, dass Sie links und rechts stärken. Hinten schließt sich der Kreis, und alle singen wieder die Internationale.
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Das ist Ihr Ziel; Sie werden es aber nicht erreichen. Wir werden es nicht zulassen, dass Sie unser Land schlechtreden. Wir werden es auch nicht zulassen, dass Sie uns vorwerfen, wir würden uns nicht um die Menschen in unserem Land kümmern. Das Gegenteil ist der Fall.
({3})
Der sechste Staatenbericht zur Umsetzung des Sozialpakts der Vereinten Nationen unterstreicht gerade für Deutschland, dass wir einen hohen Implementierungsgrad erreicht haben. Sie übertreiben mit Ihrem Antrag maßlos. Ihr Grundfehler, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ist, dass Sie immer nur fragen: „Was kann der Bürger vom Staat erwarten?“, anstatt zu beleuchten, welche Chancen in unserem Land sind, welche Chancen der Einzelne in unserem Staat hat.
Unsere Bürgerinnen und Bürger haben nach den schrecklichen Ereignissen des Zweiten Weltkrieges angepackt und unser Land aufgebaut, ohne zu fragen, was sie vom Staat bekommen – mit Fleiß, mit Liebe, mit Zuversicht, mit Mut und mit der politisch klugen Ausrichtung der sozialen Marktwirtschaft nach Ludwig Erhard.
({4})
Dieses System der sozialen Marktwirtschaft findet auch heute noch breite Zustimmung – übrigens auch im Staatsvertrag von 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, nachdem Ihr Konzept der Planwirtschaft kläglich gescheitert war. In der DDR – daran darf man nach fast 30 Jahren deutsche Einheit auch erinnern – war mit diesem System keine Teilhabe an kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Menschenrechten gegeben. Dieses System ist gescheitert.
({5})
Die soziale Marktwirtschaft ermöglicht eben eine Teilhabe der Gesamtgesellschaft. Jeder, der Leistung bringt, kann von dieser Leistung auch leben, und jeder, der das nicht schafft, wird durch die soziale Marktwirtschaft aufgefangen und bekommt das Existenzminimum. Die soziale Marktwirtschaft schafft eben Menschenrechte und politische, kulturelle, wirtschaftliche sowie soziale Teilhabe in unserem Land.
Gerade in den letzten Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs konnten wir viel erreichen: nahezu Vollbeschäftigung, wirtschaftliche Stabilität, Reduzierung der Staatsverschuldung, Verminderung der Armut und viele Dinge mehr. Ich darf aus dem Fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2017 zitieren:
Zehn Jahre nach Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise steht Deutschland heute – insbesondere auch im internationalen Vergleich – sehr solide da. Kontinuierliches Wirtschaftswachstum, die höchste Beschäftigtenzahl und die niedrigste Arbeitslosigkeit seit der deutschen Einheit sowie steigende Reallöhne, zuletzt vor allem für Geringverdienende, sind ein weiterer Ausdruck dieser ökonomischen Stabilität.
Das ist die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Realität in unserem Land. Das verdanken wir vielen fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, und das verdanken wir auch vielen innovativen und mutigen Unternehmerinnen und Unternehmern. Sie stellen Leute ein, sie übernehmen Verantwortung in unserem Land, und der deutsche Mittelstand und die deutsche Industrie sind das Rückgrat unseres Landes. Wir lassen das in unserem Land nicht schlechtreden – und schon gar nicht von Ihnen.
({6})
Mit der Umsetzung Ihres Antrags, vielleicht ergänzt durch die Umsetzung Ihres Wahlprogramms, würden Sie die soziale Marktwirtschaft in unserem Land zerstören.
({7})
Sie fordern die deutsche Staatsbürgerschaft für alle, ein Überführen der Leistungen aus dem Asylbewerberleistungsgesetz in das allgemeine System der sozialen Sicherung, die Abschaffung des Hartz-IV-Systems ohne Ersatz
({8})
und ein sanktionsfreies Mindesteinkommen. Sie fordern in Ihrem Wahlprogramm einen Spitzensteuersatz von 75 Prozent plus Solidaritätszuschlag plus Kirchensteuer,
({9})
und Sie fordern die Wiedereinführung der Vermögensteuer, die Sie Reichensteuer nennen.
Wenn Sie diese Politik in unserem Land durchsetzen würden, dann wären wir in kurzer Zeit am Ende, und das werden wir nicht zulassen.
({10})
Wir wollen kein System der Planwirtschaft, wir wollen keine Umverteilung in unserem Land. Wir wollen die soziale Marktwirtschaft ganz nach Ludwig Erhard. Dann ist nämlich auch gewährleistet, dass wir die Menschenrechte in unserem Land einhalten können und dass jeder eine soziale, wirtschaftliche und kulturelle Teilhabe hat.
Herzlichen Dank.
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Jetzt kommt der letzte Redner in dieser Debatte, und das ist Bernd Rützel von der SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Thema, das heute im Antrag der Linken behandelt wird, ist wichtig. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sind wichtige und ganz feste Bestandteile des Völkerrechts. Ob der Zugang zu menschenwürdiger Arbeit und eine angemessene Gesundheitsversorgung gewährleistet oder nicht gewährleistet werden, ist wichtig. Millionen Menschen auf dieser Welt bleiben diese Rechte verwehrt. Wie Sie in Ihrem Antrag schreiben, ist dies ein weltweites Thema; aber auch bei uns in Deutschland können wir die Augen davor nicht verschließen.
Natürlich hat mein Vorredner recht, dass wir glänzende Rahmenbedingungen haben – wirtschaftliche, am Arbeitsmarkt, steuerliche, in allen Bereichen –; aber es kommt nicht bei jedem an. Es gibt Menschen, denen es nicht so gut geht, und um die müssen wir uns kümmern. Die Frage, was wir die ganze Zeit dafür getan haben, dass diese soziale Kluft nicht größer wird, darf und kann ich gerne beantworten.
Die Einführung des Mindestlohns war die größte Reform, die wir in der letzten Legislaturperiode durchgeführt haben. 4 Millionen Menschen profitieren davon;
({0})
weniger Menschen müssen zum Amt gehen oder aufstocken. Natürlich gibt es noch einen Niedriglohnbereich; aber das war ein Meilenstein in der Sozialpolitik.
Wir wollen die Tarifverträge leichter allgemeinverbindlich machen. Nur jeder Zweite in Deutschland fällt unter den Schutz eines Tarifvertrages, und den Menschen, für die ein Tarifvertrag gilt, geht es besser als denjenigen, auf die das nicht zutrifft.
Wir sind die Leiharbeit, die Werkverträge und eine Reform der Rente angegangen. Nach 45 Versicherungsjahren kann man nun abschlagsfrei früher in Rente gehen.
({1})
Außerdem nenne ich die Mütterrente, Betriebsrenten und Erwerbsminderungsrenten.
In dieser Legislaturperiode geht es weiter mit unserem Rentenpaket. Ich denke an die Rentenanpassungsformel. Es wird keine zwölf Stunden mehr dauern, dann stehen wir wieder hier und diskutieren an dieser Stelle in erster Lesung darüber. Wir werden dafür sorgen, dass die Renten wieder so steigen, wie die Löhne steigen,
({2})
und dass ein Mindestrentenniveau von 48 Prozent gesichert wird. Gleichzeitig sagen wir den Jungen: Mehr als einen Beitragssatz von 20 Prozent müsst ihr nicht zahlen.
Ja, das kostet viel Geld, nämlich 100 Milliarden Euro. Ich sage aber: Jeder Cent davon ist gut angelegtes Geld; denn es ist kein Geschenk, sondern es ist für diejenigen, die hart gearbeitet haben und sich am Ende ihres Berufslebens, wenn sie in Rente gehen, darauf verlassen können müssen, von ihrer Rente ordentlich leben zu können.
({3})
Wir werden im nächsten Jahr eine Grundrente einführen, und wir werden die Rentenversicherung für Selbstständige verbessern.
Wir reden an dieser Stelle immer wieder vom Ehrenamt, von der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, von Kindererziehungszeiten, von der Pflege der Eltern. Dafür muss man aber auch Flexibilität im Arbeitsmarkt haben. Das erreichen wir mit unserer Brückenteilzeit, liebe Gabi, die wir auf den Weg gebracht haben;
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denn wir wollen nicht, dass die Menschen betteln müssen, wenn sie ihre Arbeitszeit wieder erhöhen wollen, sondern dass sie einen Anspruch darauf haben.
Für viele, die schon länger arbeitslos sind, führen wir den sozialen Arbeitsmarkt ein. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Dafür geben wir 4 Milliarden Euro aus. Außerdem werden wir die Arbeitslosenversicherung verbessern; denn wenn Sie zum Beispiel Lehrer sind, dann kann es passieren, dass Sie im Juli „ausgestellt“ werden, und dann sind Sie arbeitslos. Im September können Sie dann vielleicht hoffen, dass Sie wieder genommen werden.
Das war ein Schnitt in vier Minuten, in denen ich aufgeführt habe, was wir alles an Sozialpolitik gemacht haben und noch machen werden. Manche werden sagen, das sei alles immer noch viel zu wenig. Vielleicht stimmt das. Aber das alles macht sich nicht von selber; das muss man anpacken und dann tun.
Die SPD hat das gemacht; die SPD wird das auch weiterhin machen. Damit werden wir sicherlich auch dazu beitragen können, dass die Kluft zwischen Arm und Reich wieder etwas geringer wird.
({5})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb schließe ich jetzt die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/4561 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über viele Jahre wurde im Bundesrat, hier im Deutschen Bundestag und in der Öffentlichkeit über die Ehe für alle diskutiert. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hatte sich in der letzten Wahlperiode noch unter der Leitung von Minister Maas ganz besonders für die Eheöffnung und gegen die Diskriminierung von Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung eingesetzt – und dies mit Erfolg.
Vor etwas mehr als einem Jahr, am 1. Oktober 2017, ist das Eheöffnungsgesetz endlich in Kraft getreten, und damit ist die Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren mit heterosexuellen Paaren in unserem Land Realität geworden. Gleichgeschlechtliche Paare können jetzt auch in Deutschland die Ehe miteinander eingehen. Jeder Mensch kann damit unabhängig von Geschlecht und sexueller Orientierung Glück, Geborgenheit, Fürsorge und Liebe in einer auf Dauer angelegten Bindung finden, und zwar auch im zivilrechtlichen Rahmen einer Ehe und mit öffentlichem Bekenntnis. Viele Paare haben davon bereits Gebrauch gemacht, und das ist auch gut so.
({0})
Die Ehe für alle erfasst auch Personen, deren Geburtsregistereintrag keine Angabe zum Geschlecht enthält, da auch diese Personen in Bezug auf den Ehegatten entweder gleichen oder verschiedenen Geschlechts sind.
Mit dem Ihnen nun vorliegenden Entwurf des Eheöffnungsbegleitgesetzes der Bundesregierung gehen wir jetzt den nächsten Schritt auf diesem Weg. Der Gesetzentwurf enthält die notwendigen konzeptionellen Angleichungen im Ehe- und Lebenspartnerschaftsrecht. Darüber hinaus werden ergänzende Regelungen in das Personenstandsrecht sowie das internationale Privatrecht aufgenommen. Der Entwurf gewährleistet damit eine einheitliche Umsetzung des Eheöffnungsgesetzes, sodass auch die Umwandlung einer Lebenspartnerschaft in eine Ehe von Flensburg bis Garmisch-Partenkirchen nach gleichen gesetzlichen Rahmenbedingungen erfolgt.
({1})
Meine Damen und Herren, ich hoffe sehr, dass Sie nach dem Gesetz zur Ehe für alle nun auch den Entwurf des Eheöffnungsbegleitgesetzes in gleicher Weise unterstützen werden. Mit diesem Entwurf ist die erforderliche Anpassung unserer Rechtsordnung an die gesellschaftliche Realität freilich noch nicht vollständig abgeschlossen. Die noch anstehende Reform des Abstammungsrechts wurde heute schon von verschiedenen Seiten angesprochen. Wegen der Komplexität dieser Materie werden wir diese Reform in einem gesonderten Gesetz umsetzen. Ich kann Ihnen versichern, dass unser Haus mit Hochdruck an einem entsprechenden Gesetzentwurf arbeitet. Heute Abend bitte ich aber um Unterstützung für das Eheöffnungsbegleitgesetz.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist Thomas Ehrhorn für die AfD.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Thema „Umsetzung der gleichgeschlechtlichen Ehe“ möchte ich den Ausführungen des Kollegen Brandner Folgendes hinzufügen:
({0})
Wenn es eine elementare Voraussetzung für den Erhalt menschlichen Lebens gibt, so ist es der Wille zum Selbsterhalt, und dies gilt nicht nur für ein einzelnes Individuum, sondern es gilt auch für eine Gesellschaft. So strebt auch jede gesunde Gesellschaft, jedes Volk dieser Erde zunächst einmal den eigenen Fortbestand an. Die Hoffnung auf den eigenen Volkstod, der Wunsch „Deutschland verrecke!“, ist jedenfalls weltweit einmalig. Vielleicht müssen wir uns einmal fragen, ob wir es hier nicht mit den Vorboten einer degenerativen Geisteskrankheit zu tun haben.
({1})
– Bleiben Sie ganz ruhig! Sie können was lernen.
Fragen wir uns aber, was die Voraussetzung für den Fortbestand unserer Nation ist, so erkennen wir sehr schnell: Es ist eine ausreichende Zahl von Nachkommen,
({2})
und genau deshalb haben sich die Väter des Grundgesetzes entschlossen, der Ehe zwischen Mann und Frau eine besondere Bedeutung beizumessen, sie herauszuheben und zu fördern.
Ja, selbstverständlich tolerieren und akzeptieren wir heute auch andere Lebensmodelle.
({3})
– Sie brauchen sich nicht aufzuregen. – Auch in unseren Reihen gibt es Menschen, die ein anderes Lebensmodell bevorzugen, und ob Sie es mir nun glauben oder nicht: Es stört sich wirklich niemand daran, Herr Kahrs – wirklich niemand. Deswegen: Verschonen Sie uns bitte jetzt und auch in Zukunft mit diesem wirklich stupiden Vorwurf von Homophobie;
({4})
denn Sie machen sich damit wirklich nur lächerlich.
({5})
Herr Ehrhorn, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, danke; das tue ich nicht.
({0})
– Sie können sich diese Art von Zwischenrufen ersparen.
Ich sage Ihnen: Dennoch werden die Menschen, von denen wir hier reden, immer eine Minderheit bleiben, eine Minderheit, die anders lebt, die aber deshalb nicht besonders ist. Besonders ist aber die Entstehung neuen Lebens durch die Vereinigung von Mann und Frau.
({1})
Dies ist nämlich nicht nur einzigartig; vielmehr ist die Lebensgemeinschaft von Mann und Frau noch immer das von der Natur bevorzugte Modell für das sichere Aufwachsen unserer Kinder.
({2})
In einer Gesellschaft, in der wir anerkennen, dass gleichgeschlechtliche Partnerschaft zur Normalität gehört, dürfen wir vielleicht auch anerkennen, dass die Ehe zwischen Mann und Frau nach wie vor etwas Besonderes ist.
({3})
Deshalb ist die Forderung nach der totalen Gleichbehandlung zwar vielleicht nachvollziehbar, aber gleichwohl unangemessen. Aus diesem Grund sollte sich der eine oder andere auch noch einmal überlegen, wie lange er sich noch vor den Karren links-grüner Ideologie spannen lassen will.
({4})
Wir jedenfalls werden auch weiterhin diese und andere Wahrheiten respektvoll, aber ehrlich aussprechen;
({5})
denn wir stehen im Gegensatz zu den Damen und Herren von der CDU/CSU zu unseren Werten.
({6})
Ich las es letztens an einer Hauswand: „FCK AfD“.
Sie müssen zum Schluss kommen, Herr Kollege.
({0})
Die Schmierfinken wissen gar nicht, wie recht sie haben: Die ersten drei Buchstaben stehen nämlich für „Freiheitlich“, „Christlich“, „Konservativ“.
Vielen Dank.
({0})
Der Kollege Straetmanns erhält Gelegenheit für eine Kurzintervention.
Ich will Sie eigentlich was fragen. – Ich habe das akustisch nicht ganz vernehmen können. Sie haben eben von „degenerativer Geisteskrankheit“ gesprochen, und ich hätte jetzt gern mal den Zusammenhang von Ihnen hergestellt bekommen, wen oder was Sie damit als Generalbezeichnung gemeint haben.
({0})
Lieber Herr Kollege, es handelt sich hier nicht um eine Generalbezeichnung. Ich habe mir erlaubt, festzustellen, dass eine Nation immer bestrebt ist, sich selbst zu erhalten und bestehen zu bleiben.
({0})
Wenn dieser Wunsch bei einem einzelnen Individuum oder in einer Familie oder im größeren Rahmen innerhalb einer Nation nicht mehr vorhanden ist, sondern ersetzt wird durch den Wunsch nach dem eigenen Volkstod,
({1})
dann bezeichne ich das in der Tat als degenerativ. Aussprüche wie „Deutschland verrecke!“ sind für diese Geisteshaltung bezeichnend. – Vielen Dank, Herr Kollege!
({2})
Wir fahren fort in der Debatte. Als Nächster hat das Wort der Kollege Axel Müller von der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn es nur noch ein oder zwei gibt: Liebe Zuschauer! Zunächst mal zur Erheiterung – vielleicht hat man keinen anderen gefunden –: Ich rede hier als Lediger zu Ihnen.
Jetzt zur Sache. – Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die notwendigen Anpassungen vorgenommen – ausschließlich redaktioneller Art –, die aus dem Beschluss des Bundestages zur Einführung der sogenannten Ehe für alle folgen. Das Gesetz zur Einführung der Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts, das zum 1. Oktober 2017 in Kraft getreten ist, ermöglicht es heterosexuellen wie auch gleichgeschlechtlichen Paaren – darum geht es ja –, die Ehe miteinander einzugehen. Die Betonung dabei liegt auf Zivil ehe; es geht also um die staatlich geregelte, nicht um die kirchlich geschlossene Ehe.
Es geht heute also nicht mehr darum, ob man für oder gegen die Ehe für alle ist, sondern es geht darum, welche Konsequenzen aus dieser Entscheidung dieses Parlaments in den nachfolgenden Gesetzen gezogen werden müssen. Daran, ob die Grundentscheidung verfassungskonform war, mag man durchaus Zweifel haben. Aber das wird auch nicht heute und nicht hier in diesem Hause geklärt, sondern gegebenenfalls an anderer Stelle, in Karlsruhe vor dem Bundesverfassungsgericht.
Das ganze Fass, Herr Kollege Ehrhorn, das Sie gerade aufgemacht haben, ist heute überhaupt nicht mehr Gegenstand der Debatte; das ist nicht Verfahrensgegenstand, und für völkische Gedanken – das möchte ich an dieser Stelle auch noch hinzufügen – ist deshalb auch gar kein Raum.
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Zwei Zielrichtungen verfolgt dieser Gesetzentwurf: Erstens will er Rechtsklarheit schaffen, und zweitens geht es ihm um Rechtssicherheit.
Beide Ziele werden erreicht:
Erstens. Es wird klargestellt, dass sich die bisherige eingetragene Lebensgemeinschaft insoweit überholt hat, als dass es nunmehr das Eheinstitut auch für die homosexuellen Paare gibt, und dass dieses Eheinstitut das einzige und auf Dauer angelegte Rechtsinstitut ist, dass also nicht mehr mehrere Rechtsinstitute – die Ehe auf der einen Seite und die eingetragene Lebenspartnerschaft auf der anderen Seite – nebeneinander herlaufen.
Folgerichtig gilt es daher, die einzelnen Gesetze, die nun nachfolgen, diesen Erkenntnissen anzupassen und Formulierungen wie „die Ehegatten“ beispielsweise an den Stellen zu finden, wo von „Mann und Frau“ die Rede ist; darum und um nicht mehr und nicht weniger geht es. Es geht darum, Unklarheiten zu beseitigen, um Missverständnisse zu vermeiden und den Adressatenkreis der gesetzlichen Vorschriften tatsächlich klar abzugrenzen. Dies erreicht der Gesetzentwurf mit der von mir genannten Formulierung „die Ehegatten“, und damit wird dann auch die angestrebte Rechtssicherheit erreicht.
Zum Zweiten wird in diesem Gesetzentwurf eine ganz wichtige zeitliche Regelung getroffen, indem klargestellt wird, dass die Umwandlung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft in eine Ehe nicht nur Wirkungen ab dem Zeitpunkt der Eheschließung – der Jurist sagt „ex nunc“, „ab jetzt“ – entfaltet, sondern auch ab einem Zeitpunkt in der Vergangenheit, nämlich ab dem Zeitpunkt, zu dem die Lebenspartnerschaft eingetragen wurde; Juristen nennen das „ex tunc“.
Das ist deshalb so wichtig, weil beispielsweise bereits zum Zeitpunkt des Abschlusses der eingetragenen Lebenspartnerschaft auch Vertragswerke entworfen und vereinbart worden sein können, sei es güterrechtlicher Art oder unterhaltsrechtlicher Art. Diese vertraglichen Ausgestaltungen entfalten weiterhin ihre Wirkung; sie verlieren sie nicht, auch wenn sie in der Vergangenheit vereinbart worden sind.
Zu guter Letzt – das hat Herr Staatssekretär Lange auch ausgeführt –: Der vorgelegte Gesetzentwurf schlägt auch eine Brücke zum internationalen Privatrecht, zu einer entsprechenden EU-Verordnung, womit auch sichergestellt wird, dass in Fällen der Trennung und der Scheidung eine Zusammenarbeit auf EU-Ebene und damit auch hier eine Harmonisierung der Rechtsfolgen angestrebt wird. Das sorgt für die Erreichung des zweiten Ziels, der angestrebten Rechtssicherheit.
Fazit: Der vorgelegte Gesetzentwurf erreicht seine selbstgesteckten Ziele. Er ist die logische und notwendige Konsequenz aus einer Entscheidung dieses Hauses in der vergangenen Legislaturperiode, und es ist zum heutigen Zeitpunkt völlig gleich, wie man sich damals in der Abstimmung verhalten hat. Ich füge hinzu: Gute Demokraten akzeptieren es, wenn sie von der Mehrheit überstimmt werden, und sie ziehen dann auch die notwendigen Konsequenzen und arbeiten in der Sache weiter gemeinsam.
Ich bedanke mich.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Helling-Plahr für die Fraktion der FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich etwas tun, was Sie von einer Oppositionspolitikerin vielleicht nicht erwarten: Ich möchte der Bundeskanzlerin danken. Dafür, dass sie die Öffnung der Ehe vor der letzten Bundestagswahl, nachdem diese von allen potenziellen Koalitionspartnern zur Koalitionsbedingung erklärt worden war, in einem beispiellosen Wendehalsmanöver zur Gewissensentscheidung erklärt hat und dafür, dass ihr der Machterhalt wie so oft wichtiger war als ihre inhaltliche Überzeugung.
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Aber freuen wir uns mit den Paaren, die seit Inkrafttreten des Eheöffnungsgesetzes endlich die Ehe eingehen konnten, freuen wir uns, dass endlich das möglich wurde, wofür auch wir Freie Demokraten lange gekämpft haben.
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Nun stehen wir heute, ein Jahr, drei Monate und elf Tage nach Verabschiedung des Eheöffnungsgesetzes, hier, um über ein Umsetzungsgesetz des Eheöffnungsgesetzes zu beraten, das dazu dienen soll – ich zitiere –, „die einheitliche Umsetzung der Umwandlung von Lebenspartnerschaften in Ehen zu gewährleisten“ und „Unklarheiten zu beseitigen ...“. Ein Jahr, drei Monate und elf Tage, liebe Große Koalition: Wäre es nicht zu erwarten gewesen, dass Unklarheiten unmittelbar im Zuge der Öffnung der Ehe beseitigt werden?
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Nun ja, man könnte nun meinen: Was lange währt, wird endlich gut. Aber weit gefehlt. Die Krux liegt in juristischen Details. Darin, dass für ein Paar, das eine eingetragene Lebenspartnerschaft in eine Ehe umwandeln lassen will, die ehebedingten Rechte und Pflichten nicht ab dem Zeitpunkt der Umwandlung, sondern rückwirkend gelten sollen. So richtig das rein emotional ist, so rechtlich nachteilig ist das für die Paare.
Ein Beispiel. Denken wir an ein Paar, das 2004 eine Lebenspartnerschaft begründet hat. Damals gab es den Anspruch auf einen Versorgungsausgleich, auf Teilung der Rentenanrechte, bei einer Scheidung für gleichgeschlechtliche Paare noch nicht. Das Paar hat also, als es sich Gedanken um seine Altersvorsorge gemacht hat, entsprechend geplant. Nun gehen Sie her und wollen diesem Paar für den Zeitraum, für den es seit Jahren anders disponiert hat, eine Teilung der Renten aufdrücken, wenn es nun eine Ehe möchte? Dann sagen Sie, das Paar könnte ja zum Beispiel notariell andere Regelungen treffen. Sie wissen so gut wie ich, dass solche Regelungen mitunter gar nicht zulässig, zum Beispiel sittenwidrig sind.
Was steckt dahinter? Wollen Sie Umwandlungen in Ehen verhindern, oder wollen Sie die Sozialkassen durch die Hintertür zulasten der selbstbestimmten Altersvorsorge der Paare entlasten? Beides kann nicht sein.
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In diesem Sinne freue ich mich auf die weitere Beratung im Rechtsausschuss.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Simone Barrientos von der Fraktion der Linken.
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Sehr geehrter Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die wunderbare Street-Art-Künstlerin Barbara sagte einst: „Hass ist krass. Liebe ist krasser.“ Dass das so ist, haben wir heute hier auch gesehen, weil nämlich Liebe über Hass gesiegt hat. Der Versuch, dieses Gesetz wieder abzuschaffen, ist gescheitert, und dafür bin ich wirklich dankbar.
Wenn man Gleichstellung will, wenn man es damit ernst meint, dann muss man natürlich auch in den Bezeichnungen die eigene Differenzierung vermeiden und sie nicht wiederherstellen und weiterleben lassen – gerade weil es so lange gedauert hat, bis dieses Gesetz kam. Gerade weil die Verfolgung gleichgeschlechtlich liebender Menschen alles andere als aufgearbeitet ist, gerade weil die Verfemten und Verfolgten so lange dafür kämpfen mussten, überhaupt als Opfer anerkannt zu werden, und auch und gerade weil wir ein neues Erstarken von Homophobie, von reaktionären Weltsichten, von völkischen Reden und all diesem Scheiß haben,
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ist Präzision an dieser Stelle in diesem Gesetzentwurf so wichtig; denn sie ist ein Ausdruck von Respekt den Menschen gegenüber, die so lange darauf gewartet haben, ihr Recht auf Liebe leben zu dürfen.
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Deshalb wollen wir nicht die im Gesetzentwurf angelegte Unterscheidung zwischen verschiedengeschlechtlichen und gleichgeschlechtlichen Ehen im internationalen Rechtsverkehr.
Wir wollen, um es ganz deutlich zu sagen, dass es keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern und ihren Kombinationen gibt. Die Liebe zwischen erwachsenen Menschen ist Liebe. Das Geschlecht der Liebenden ist völlig nachrangig. Der Staat hat keinerlei Recht, über die Liebe zwischen den Menschen zu bestimmen, und das gilt auch für die Verbindung, die viele als höchste Verbindung der Liebe ansehen, nämlich die Ehe.
Es gilt aber auch für die Bezeichnung der Eltern. In Artikel 5 des vorliegenden Gesetzentwurfes wird die Eintragung der Kinder vorgegeben, und wieder werden dort „Vater“ und „Mutter“ genannt. Das geht doch nicht. Es muss einem doch der gesunde Menschenverstand sagen, dass das nicht geht. Nicht jedes Paar, das sich für eine Elternschaft entscheidet, besteht aus Vater und Mutter. Aber jeder Mensch kann Elternteil sein.
Wir schlagen deshalb vor, die Bezeichnungen „Vater“ und „Mutter“ durch „Elternteil 1“ und „Elternteil 2“ zu ersetzen, um Diskriminierung keinen Vorschub zu leisten.
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– Da müssen sich die Eltern dann einigen, wer die Nummer 1 ist. Meinetwegen beide.
Ich bin guter Dinge, dass die Kolleginnen und Kollegen in den Ausschüssen an den entsprechenden Stellen nachbessern. Dann können wir diesem Gesetzentwurf auch vorbehaltlos zustimmen.
Dass Hass krass ist, haben wir heute hier wieder erlebt. Dass Liebe krasser ist, sehen wir am Wochenende bei „#Unteilbar“. Ich bin dabei. Sie auch?
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Und nicht zuletzt: Schwangerschaftsabbrüche haben im Strafgesetzbuch nichts zu suchen.
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Frau Kollegin Barrientos, es ist Ihr gutes Recht, sich in Ihrer Rede über Sachverhalte zu empören. Aber das Wort „Scheiße“ gehört nicht zum parlamentarischen Sprachgebrauch.
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– Nein, das kommentieren Sie bitte nicht.
Wir fahren fort in der Debatte. Sven Lehmann ist der nächste Redner für Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich habe mich angesichts dieser Debatten, die die AfD hier führt, heute schon zum zweiten Mal gefragt, wie viel Selbstbetrug und Selbstverleugnung man eigentlich als eine Frau wie Alice Weidel an den Tag legen muss, um Vorsitzende dieser Fraktion zu sein.
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Seit einem Jahr ist Deutschland glücklicher geworden.
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Denn endlich können alle Menschen genau den Menschen lieben und heiraten, den sie möchten.
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Und das wird auch genau so bleiben. Da können Sie noch so viele Gesetzentwürfe schreiben. Das wird genau so bleiben.
Ein Jahr nach der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare haben wir also nun einen Gesetzentwurf zur Umsetzung dieses Gesetzes. Das begrüßen wir als Grüne ausdrücklich. Denn es ist ein weiterer Schritt zur Gleichstellung im deutschen Recht.
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Allerdings ist dann doch nicht alles Gold, was auf den ersten Blick glänzt. Denn fast nebenbei, in der Begründung des Gesetzentwurfes, wird fälschlicherweise behauptet, dass das Eheöffnungsgesetz keine Rückwirkung auf den Tag der Begründung der Lebenspartnerschaft für in der Vergangenheit bereits abgeschlossene Sachverhalte entfalte.
Ziel des Gesetzes zur Ehe für alle im letzten Jahr war aber – ich zitiere – „die europa- und verfassungswidrige Diskriminierung rückwirkend zu beseitigen“. Deshalb sollten nach dem Willen des Bundestages aus dem letzten Jahr soziale und steuerrechtliche Entscheidungen neu getroffen werden.
Das Bundesfinanzministerium blockiert aber leider in der Praxis die rückwirkende Gleichstellung im Steuerrecht. Nun versucht die Koalition, den Gesetzeswillen von 2017 mit dem vorliegenden Gesetzentwurf umzudeuten.
Was heißt das in der Praxis? In der Praxis heißt das, dass die Diskriminierung von lesbischen und schwulen Paaren im Steuerrecht, die bis 2013 bestand, nicht geheilt wird. Offenbar ist es so, dass die rückwirkende Beseitigung der Diskriminierung da endet, wo sie Geld kostet. Das ist nicht akzeptabel, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wenn dieser Gesetzentwurf so beschlossen wird, dann werden lesbische und schwule Paare ihr Recht nicht mehr auf dem Klageweg erstreiten können.
Es gibt eine weitere große Leerstelle. Denn obwohl anders angekündigt, tut die Große Koalition auch für Regenbogenfamilien mit diesem Gesetzentwurf nichts. Zu den erforderlichen Anpassungen im Abstammungsrecht, die in erster Linie den Kindern zugutekommen würden, hat eine Meinungsbildung der Bundesregierung noch nicht einmal stattgefunden.
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Die aktuelle Rechtslage stellt Kinder, die in gleichgeschlechtliche Ehen oder Lebenspartnerschaften hineingeboren wurden, immer noch schlechter als Kinder, die in eine heterosexuelle Ehe hineingeboren werden. Diese Diskriminierung muss endlich beseitigt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Denn diesen Kindern fehlt die Rechtssicherheit durch zwei Elternteile. Ihnen fehlt die doppelte Absicherung auch bei Trennung oder Tod eines Elternteils. Diese Regelung widerspricht dem Kindeswohl. Sie widerspricht übrigens auch dem Gleichbehandlungsgrundsatz aus Artikel 3 des Grundgesetzes.
Wenn die Bundesregierung es mit der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Ehen und Familien ernst meint, dann geht sie dieses Thema endlich an. Ich empfehle sehr nachdrücklich den von uns Grünen eingebrachten Gesetzentwurf, der jetzt in den Ausschüssen beraten wird.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Danke. – Als Nächster spricht Dr. Volker Ullrich für die Fraktion der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Debatte jetzt ist nicht die Zeit, um generell über die Ehe für alle zu sprechen. Dafür hatten wir die Debatte am früheren Abend. Es geht heute nicht um die Frage, ob der Bundestag dieses Gesetz auf den Weg bringen durfte oder nicht, sondern darum, welche Verpflichtung wir haben, um nach und aufgrund dieses Gesetzes im bürgerlichen Recht und in weiteren Rechtsgebieten auch Änderungen vorzunehmen, die geboten sind.
Warum mussten wir das machen? Weil es zum einen um Rechtsklarheit, aber auch um Rechtssicherheit geht. Wir könnten natürlich sagen, dass all das und all die Vorschriften, in denen Lebenspartner benannt werden, gleichermaßen wie die bürgerlichen Rechte, in denen von Vater und Mutter oder von zwei Eheleuten gesprochen wird, der Rechtsprechung obliegt. Das wäre aber weder ein mutiger noch ein rechtstechnisch eleganter Schritt. Der Gesetzgeber ist vielmehr aufgerufen, nach der Grundsatzentscheidung von letztem Jahr auch im bürgerlichen Recht und in weiteren Rechtsgebieten die entsprechenden Änderungen vorzunehmen.
Im Übrigen – das ist zumindest der Kritikpunkt, den man der Entscheidung vom Juni letzten Jahres angedeihen lassen kann – sind diese Fragen seinerzeit in der Debatte nicht diskutiert worden. Deswegen müssen wir sie jetzt nachholen, und zwar im Interesse einer rechtssicheren Regelung und auch im Interesse der Paare, die darauf bauen, dass der Staat ihnen die Ehe für alle ebnet.
Vor diesem Hintergrund bleibt zunächst einmal eine Regelung im Mittelpunkt, nämlich dafür Sorge zu tragen, dass die Vorschriften einer Ehe auch auf die Lebenspartnerschaft anzuwenden sind, dass nämlich dann auch für diejenigen Paare, die ein Wahlrecht haben und die eingetragene Lebenspartnerschaft nicht in eine Ehe umwandeln möchten, sichergestellt wird, dass auch zukünftig alle Änderungen im Bereich der Ehe für sie anwendbar bleiben.
Wir brauchen auch zukünftig einen Gleichklang zwischen den Eheleuten und den Paaren, die sich bewusst dafür entscheiden, nicht die Ehe einzugehen, sondern die alte begründete Lebenspartnerschaft weiterzuführen. Diese Rechtsgleichheit ist uns ein wichtiges Anliegen, und wir stellen sie mit diesem Gesetz her.
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Wir müssen auch über die Rückwirkungsproblematik sprechen. Ich glaube, Herr Kollege Lehmann, die steuerrechtliche Rückwirkungsproblematik ergibt sich aus meiner Sicht nicht aus diesem Gesetz, sondern unmittelbar aus der Gesetzeskraft des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, sodass ich diese Problematik hier in dem Punkt nicht sehe.
Aber – das haben einige Redner angesprochen – wir haben in der Tat einen Regelungsbedarf beim Abstammungsrecht. Denn zurzeit trägt das bürgerliche Recht dem mit einer Frau verheirateten Vater die Elternschaft per Gesetz an, während das aufgrund der Formulierung für gleichgeschlechtliche Paare nicht der Fall ist. Natürlich gibt es Differenzen in der Frage, inwieweit eine Elternschaft begründet werden kann. Aber ich glaube, dass vor dem Hintergrund des Kindeswohls – und einzig allein darum geht es – eine Änderungsnotwendigkeit auch beim Abstammungsrecht besteht. Aber ich bitte auch, dass wir, gerade weil es im Abstammungsrecht auch um sehr sensible Fragen geht, mit Gutachten und Anhörungen nichts überstürzen, sondern dass wir uns das sehr sorgfältig ansehen.
Deswegen ist heute der erste Schritt Rechtssicherheit und Rechtsklarheit durch die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, und der zweite Schritt ist dann die sorgsame Abwägung im Bereich des Abstammungsrechts. Lassen Sie uns diesen Weg gehen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner für die Fraktion der SPD.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen seit Wochen und Monaten in vielen Runden immer wieder von Politikverdrossenheit. Heute haben die demokratischen Fraktionen dieses Parlaments, des Deutschen Bundestags, gezeigt, dass die Frauen und Männer, die seit dem 1. Oktober 2017 auch gleichgeschlechtliche Ehen eingehen können, sich auf ihren Bundestag, auf ihr Parlament, verlassen können, und damit, glaube ich, ein deutliches Zeichen gegen Politikverdrossenheit gesetzt.
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Danke sage ich all den demokratischen Fraktionen, die diese Entscheidung heute getroffen haben. In den Ausschussberatungen werden wir zu keinen wesentlich anderen Ergebnissen kommen und können uns nun dem Gesetz zur Angleichung und zum Abbau von Unklarheiten, dem Gesetzentwurf zur Umsetzung des Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts, widmen.
Die Kolleginnen und Kollegen haben viele der Inhalte dieses Gesetzentwurfs bereits beleuchtet. Sie haben insbesondere beleuchtet, dass es sich um kleinere technische und rechtliche Änderungen handelt. Deshalb möchte ich an dieser Stelle nicht die guten Regelungen dieses Gesetzwurfs in den Mittelpunkt stellen, sondern das Augenmerk auf die Schwachstellen richten.
Kollege Lehmann hat es bereits angesprochen, und der Kollege Volker Ullrich hat es sehr gut ausgeführt: Wir haben mit der Ehe für alle immer noch die Schwachstelle, die manchen marginal erscheinen mag, aber für andere Ausdruck staatlicher Diskriminierung ist. Ein vollständiger Abbau von Ungleichbehandlung ist nämlich nur dann möglich, wenn wir auch eine Form der Mutterschaftsvermutung einführen, die erforderlich ist, damit die Ehepartnerin – wie Ehepartner in der heterosexuellen Ehe – automatisch als Mutter eines in der Ehe geborenen Kindes gilt.
Es ist nicht verständlich und kann nicht verständlich sein, dass der Vater, der Ehemann einer Frau, auch dann, wenn er nachweislich nicht der Erzeuger des Kindes ist, qua Gesetz der Vater des Kindes ist, dass dies aber in gleichgeschlechtlichen Ehen nicht der Fall ist.
Ich stimme mit Kollegen Ullrich darin überein, dass dies sorgsam, sauber und ordentlich auf den Weg gebracht werden kann. Denn die bisherige Rechtslage für Kinder lesbischer Ehepaare, die aktuell nur über den Umweg der Stiefkindadoption beide zur Elternschaft kommen können, ist doppelzüngig und falsch und muss beseitigt werden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns deshalb offen über das Thema im Ausschuss diskutieren und die Diskriminierung beseitigen – wenn nicht mit diesem Gesetz, dann mit einer Novellierung des Abstammungsrechts. Hierzu hat Staatssekretär Lange bereits seine Anmerkungen gemacht. Ich sage Ihnen und Ministerin Katarina Barley dazu herzlichen Dank.
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir die Diskriminierung von Homo- und Transsexuellen ausnahmslos bekämpfen wollen. Und wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen zu unserem Wort und wollen der Politikverdrossenheit mit Verlässlichkeit entgegenwirken.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und einen schönen Abend.
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Keine weiteren Redner. Deshalb schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/4670 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Andere Vorschläge sehe ich nicht. Deshalb ist die Überweisung so beschlossen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns heute Abend in erster Lesung mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung. Dieses Vorhaben knüpft an die Gesetze zur Stärkung der Beschuldigtenrechte an, die wir in der vergangenen Legislaturperiode beraten und beschlossen haben, um das deutsche Recht an die Vorgaben der Europäischen Union zur Stärkung der Rechte des Beschuldigten anzupassen. Wie damals besteht auch jetzt nur ein geringfügiger Umsetzungsbedarf, weil das deutsche Strafverfahrensrecht die Beschuldigtenrechte umfassend in den Blick nimmt und bereits heute in hohem Maße schützt.
Deutschland hat sich vor diesem Hintergrund immer besonders engagiert, sich für einen hohen europäischen Standard der Beschuldigtenrechte im Strafverfahren eingesetzt und die europäische Roadmap für Beschuldigtenrechte massiv vorangetrieben. Die aktuellen internationalen Entwicklungen, aber leider auch Tendenzen innerhalb der Europäischen Union zeigen uns, dass wir weiterhin für hohe Mindeststandards im Strafverfahren eintreten müssen. Dass wir dabei auch die Effektivierung und Modernisierung des Strafverfahrens nicht aus den Augen verlieren, zeigt ein Blick in den Koalitionsvertrag. Darin haben wir bekanntlich zahlreiche Maßnahmen vereinbart, die wir in einem eigenständigen Gesetzgebungsverfahren umsetzen werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung konzentriert sich demgegenüber darauf, die wenigen Maßnahmen zu treffen, die erforderlich sind, um den Strafprozess auch im Bereich der Anwesenheitsrechte des Angeklagten europafest auszugestalten.
Die Richtlinienvorgaben erfordern zunächst einige punktuelle Anpassungen bei den Belehrungen des Angeklagten in den seltenen Fällen von Abwesenheitsentscheidungen. Sie machen aber vor allem eine Änderung im Bereich des Revisionsverfahrens erforderlich, weil die Strafprozessordnung dem inhaftierten Angeklagten derzeit ein Recht auf Anwesenheit in der Revisionshauptverhandlung ausdrücklich abspricht. Diese so nicht richtlinienkonforme Regelung soll durch eine Ermessensvorschrift abgelöst werden, die sicherstellt, dass der Angeklagte immer dann ein Recht hat, aus der Haft zur Hauptverhandlung vorgeführt zu werden, wenn die europäischen Vorgaben dies erfordern.
Meine Damen und Herren, ich bin zuversichtlich, dass wir das Gesetzgebungsvorhaben, das ja auch im Bundesrat auf einhellige Zustimmung gestoßen ist, jetzt zügig abschließen können, damit wir uns den weiteren Vorhaben im Bereich des Strafverfahrens zuwenden können. Darum bitte ich Sie herzlich.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist Thomas Seitz, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen! Der Gesetzentwurf enthält als Annex Bestimmungen zur Beseitigung kleiner Fehler, die sich im Zuge der Regelung der elektronischen Akte in verschiedene Gesetze eingeschlichen haben. Dieser kleine Teil des Entwurfs ist notwendig und bedarf keiner Erörterung.
Hauptzweck der Vorlage ist aber die Umsetzung einer EU-Richtlinie zur Unschuldsvermutung und zum Anwesenheitsrecht des Angeklagten. Dieser Regelungsgehalt ist zu kritisieren. Denn an der rechtlichen Stellung des Angeklagten und an der Rechtspraxis wird sich faktisch kaum etwas ändern. Dann aber lohnt der ganze Aufwand nicht; das Ganze ist im Grunde so unnötig wie ein Kropf. Aber wenn von Brüssel aus von Deutschland etwas verlangt wird, werden gerne Unmengen an Papier und auch andere Ressourcen verschwendet. Zum Teufel mit Klimaschutz und Nachhaltigkeit!
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Den ganzen Unsinn zeige ich an zwei Beispielen auf. Erstes Beispiel: Natürlich kann man die StPO mit einer ausdrücklichen Belehrungspflicht weiter aufblähen. Aber warum denn? Der Angeklagte wird doch jetzt schon mit der Zustellung des Verwerfungsurteils wegen seines Ausbleibens über die Möglichkeit der Wiedereinsetzung belehrt. Dies ist Ausfluss eines fairen Verfahrens und rechtsstaatliches Selbstverständnis und reicht auch völlig aus.
Zweites Beispiel: Künftig muss im Falle einer notwendigen Verteidigung im Sinne von § 140 Absatz 1 StPO der Verteidiger geladen werden. Unstreitig besteht aber auch bei einer notwendigen Verteidigung nur ein Anwesenheitsrecht und keine Anwesenheitspflicht. Offensichtlich soll auch die Umsetzung der Richtlinie hieran nichts ändern. Aber warum einen Verteidiger laden, der doch gar nicht erscheinen muss?
Es wird noch ein weiterer systematischer Widerspruch geschaffen. Während der notwendige Verteidiger, der gerade nicht erscheinen muss, künftig geladen wird, sieht der Gesetzentwurf bei dem nach § 140 Absatz 2 StPO beigeordneten Verteidiger wie auch bisher nur eine Benachrichtigung vor, obwohl in diesen Fällen eine Teilnahmepflicht besteht. Das ist, mit Verlaub, schlichtweg Blödsinn.
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Die Regelungen bewirken insgesamt keinen höheren rechtsstaatlichen Standard, und damit sind wir bei der Sinnhaftigkeit dieser Richtlinie oder richtigerweise bei der fehlenden Sinnhaftigkeit. Da braucht man auf die EU-typische ausufernde Regelungswut noch gar nicht einzugehen.
Zum Ende eine Bitte: Verzichten Sie auf das peinliche Pseudoargument, dass diese Richtlinie notwendig sei, weil Länder wie Ungarn oder Polen keine so vorbildlichen Standards wie wir hätten. Denn zum einen besteht das Rechtsstaatsprinzip in Deutschland vielfach nur noch auf dem Papier, und zum anderen unterliegen Ungarn und Polen so wie alle EU-Staaten als Mitglieder des Europarates den Bindungen der Europäischen Menschenrechtskonvention, deren Einhaltung der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte überwacht. Auch für die Menschen in anderen EU-Ländern bringt die Richtlinie also keine substanzielle rechtsstaatliche Verbesserung.
Fazit: Der Brüsseler Amtsschimmel darf fröhlich weiterwiehern, solange der deutsche Michel nur brav dafür bezahlt.
Danke.
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Nächster Redner ist Axel Müller für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch hier geht es darum, wieder etwas mehr Sachlichkeit in die Debatte hineinzubringen. Herr Kollege Seitz, von Ihnen als ehemaligem Staatsanwalt, einem Vertreter der objektivsten Behörde der Welt, hätte ich das eigentlich erwartet.
Das Gesetz zur Stärkung der Rechte des Angeklagten in der Verhandlung als, wie bereits gesagt wurde, Umsetzung einer EU-Richtlinie ist nicht mehr und nicht weniger als das Tüpfelchen auf dem i. Warum sage ich das? Weil im deutschen Strafprozess von Anfang an seit Einführung der Strafprozessordnung im Jahre 1879 der sogenannte Unmittelbarkeitsgrundsatz gilt. Dieser besagt eben, dass alle entscheidungsrelevanten Tatsachen, alle Beweise unmittelbar in ein Urteil des Gerichts einfließen müssen. Zeugen müssen – gleich ob von der Polizei befragt –, Sachverständige müssen – gleich ob sie ein Gutachten zu den Akten eingereicht haben – in einer Hauptverhandlung vernommen und gehört werden. Das trifft in ganz besonderem Maße für den Angeklagten zu. Seine Anwesenheit ist von essenzieller Bedeutung. Das ist die beste Möglichkeit der eigenen Verteidigung, wenn man anwesend ist.
Deshalb sind Verstöße gegen dieses Anwesenheitsrecht des Angeklagten in unserer Strafprozessordnung auch mit einem scharfen Schwert bewehrt, nämlich mit der absoluten Revision. Dies führt unmittelbar zur Aufhebung eines Urteils. Nur in ganz begrenzten Ausnahmefällen geht es überhaupt, dass in Deutschland ohne den Angeklagten verhandelt wird. Dies gilt beispielsweise, wenn er sich nach einer Unterbrechung der Hauptverhandlung eigenmächtig entfernt oder wenn er die Hauptverhandlung derart stört, dass man ihn zur Aufrechterhaltung der Ordnungsmäßigkeit des Sitzungsverlaufs entfernen muss, oder wenn mit seinem Einverständnis vereinbart wurde, dass er fernbleiben kann, weil eine bestimmte Strafe in einer bestimmten Höhe nicht überschritten wird.
Zusätzlich gibt die Strafprozessordnung noch die Möglichkeit, den Angeklagten für eine bestimmte Zeit der Hauptverhandlung zu entfernen, wenn beispielsweise die Konfrontation zwischen ihm und einem Opferzeugen – das ist häufig ein kindlicher Opferzeuge – zu einer Einschüchterung des Zeugen führen könnte. Aber auch in diesen Fällen ist er nach seiner Wiedereinbringung in die Hauptverhandlung über den Gang des zwischenzeitlichen Verfahrens zu informieren.
Dieser Zustand, der eigentlich schon sehr gut ist, wird noch einmal optimiert, indem die Belehrungspflichten ausgedehnt werden, und zwar in praktikabler Weise, und indem das Anwesenheitsrecht des Angeklagten auch in der Revisionshauptverhandlung in handhabbarer Weise verstärkt wird.
Dies geschieht durch drei zentrale Elemente. Zum Ersten – das ist schon gesagt worden – ist der Angeklagte bereits bei der Ladung darüber aufzuklären, dass in bestimmten Fällen in seiner Abwesenheit verhandelt werden kann. Zum Zweiten – das möchte ich Ihnen schon mitgeben, Herr Kollege Seitz – muss er jetzt mit Zustellung seines Berufungsurteils, das in seiner Abwesenheit getroffen wurde, weil er nicht in der Hauptverhandlung war – da gibt es die Möglichkeit, die Berufung zu verwerfen –, darüber belehrt werden, dass er die Möglichkeit hat, die sogenannte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erreichen, indem er sozusagen seine Entschuldigungsgründe nachreicht, die dann geprüft werden. Er drückt also die Resettaste.
Es ist zwar richtig – ich habe das in meiner Praxis auch gemacht –, dass man die Angeklagten aus der gerichtlichen Fürsorgepflicht heraus auf diese Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinweist. Aber gesetzlich normiert ist es in diesem Umfang nicht. Was spricht denn dagegen, dass man künftig allen Richtern klarmacht, dass diese Vorschrift einzuhalten ist und diese Belehrung zu erteilen ist? Das tut nicht weh.
Zum Dritten und zu guter Letzt – auch das wurde bereits in der Rede des Herrn Staatssekretärs gesagt – wird die Anwesenheit des Angeklagten, der inhaftiert ist, in der Revisionshauptverhandlung insofern gestärkt, als er jetzt ein Anwesenheitsrecht bekommt. Das ist deshalb handhabbar, weil nur wenige Revisionshauptverhandlungen durchgeführt werden. Wir wissen, dass die Masse der Revisionsentscheidungen nach Aktenlage getroffen wird. Es wird keine Beweisaufnahme durchgeführt, sondern es wird lediglich geprüft, ob das Urteil materiell-rechtlich oder verfahrensrechtlich in Ordnung geht. Dazu braucht es natürlich keine Hauptverhandlung und auch nicht die Anwesenheit des Angeklagten. Da genügen das schritliche Urteil und das Hauptverhandlungsprotokoll.
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Summa summarum: Allen anderen geforderten Grundrechten des Angeklagten, was Unschuldsvermutung oder die Darstellung der Unschuldsvermutung in der Öffentlichkeit anbelangt, werden wir schon heute gerecht. Wo liegt da jetzt eine Regelungswut vor, Herr Kollege Seitz?
Ich fasse zusammen: Ein ohnehin schon guter Zustand wird optimiert, und bekanntlich soll man ja besser werden, um gut zu bleiben. Das erreichen wir mit diesem Gesetzentwurf.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Martens für die FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat, mit diesem Gesetzentwurf wird die Richtlinie 2016/343 der Europäischen Union in das Strafprozessrecht umgesetzt. Das ist zu begrüßen.
Es sind einige – nicht besonders häufig – notwendige Änderungen eingefügt worden. Aber das sei doch mal angemerkt: Es ist bedauerlich, dass die Bundesregierung hier wiederholt gegen ihre Pflicht zur rechtzeitigen Umsetzung von europäischem Recht verstoßen hat. Denn diese Änderungen hätten bereits zum 1. April 2018 in Kraft treten müssen. Das gibt kein gutes Bild im Hinblick auf das Gebot der Gemeinschaftstreue der Bundesrepublik Deutschland mit Blick auf Artikel 4 Absatz 3 EUV ab.
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Der wesentliche Inhalt der Anpassung betrifft das Recht des Angeklagten auf Anwesenheit in der Revisionsverhandlung. Er hatte bisher ausdrücklich kein Recht auf Anwesenheit. Es ist klar, dass angesichts eines grundsätzlichen Rechtsanspruches des Angeklagten auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung diese Regelung keinen Bestand haben kann. Allerdings ist fraglich, ob die jetzt geschaffene Regelung wirklich alle Fälle abdeckt; denn ungeregelt bleiben Fälle, in denen in der Revisionshauptverhandlung die Anwesenheit eines Verteidigers nicht erfolgt, weil der Angeklagte etwa durch einen Wahlverteidiger vertreten wird bzw. ein Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers unterblieben ist.
Es geht also darum, zumindest die Vertretung des Angeklagten in einer Revisionsverhandlung in jedem Fall sicherzustellen. Das sieht dieser Gesetzentwurf leider nicht vor. Das ist ein Fehler; das ist ein Versäumnis. Dem hätte man eigentlich rechtzeitig begegnen können, indem man eine entsprechende Regelung vorsieht. Allerdings werden wir im weiteren Verfahren die Möglichkeit haben, eine solche Regelung in das Gesetz einzufügen. Wenn es die Koalition nicht macht, wird die FDP einen entsprechenden Vorschlag einbringen.
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Nächster Redner ist der Kollege Friedrich Straetmanns für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zur Beratung liegt der Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung vor. Das Gesetz ist bisher leider nur eine sehr eingeschränkte Umsetzung der Richtlinie des Europäischen Parlaments über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren.
Dies ist ein wichtiges Thema, da in unserem Rechtsstaat sowohl die Jurisprudenz als auch die Rechte des Angeklagten in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen müssen. Schon bisher hatte aus gutem Grund unsere Rechtsordnung, gerade auch im Strafverfahren, das Prinzip der Anwesenheit des Angeklagten vorgesehen. Davon abzuweichen, war schon bisher nur in besonderen Fällen möglich.
Es ist dennoch gut, wenn unsere Verfahrensordnung hier noch einmal besonders die Rechte der Angeklagten stärkt. Justiz muss sichtbar sein, gerade und vor allem für diejenigen, die vor Gericht stehen.
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Es ist gut, wenn aus Europa dieser Impuls kommt. Hier wird das Zusammenwachsen Europas sichtbar, und das ist auch gut so. Damit werden gleiche Mindeststandards in ganz Europa gesetzt.
Weitere Gesichtspunkte sind in Artikel 6 und Artikel 7 der Richtlinie der EU geregelt, und zwar die Frage der Beweisverwertungsverbote. Dort sind Belehrungspflichten und das Verbot des Mitwirkungszwanges geregelt. Das ist im Grunde weitergehend als die in Deutschland von der Rechtsprechung entwickelte Abwägungslehre, nach der zwischen den Interessen des Beschuldigten oder Angeklagten an der Wahrung seiner Rechte und dem staatlichen Interesse an einer Strafverfolgung abzuwägen ist.
In Deutschland folgt eben nicht aus jeder rechtswidrigen Beweiserhebung ein Beweisverwertungsverbot. Zudem muss hier einer Beweisverwertung rechtzeitig widersprochen werden. In Deutschland gilt – anders als in den USA – nicht die „fruit of the poisonous tree“-Doktrin, wonach auch weitere Erkenntnisse aus unverwertbaren Beweismitteln nicht verwertet werden dürfen. Dieser Punkt ist aber leider gerade nicht im Entwurf der Regierung aufgegriffen worden, und den Entwurf kritisieren wir an dieser Stelle. Die Regierung hat vielmehr in ihrem Entwurf nur das Notwendigste der Richtlinie umgesetzt.
Weiterhin hat die Bundesregierung die Möglichkeit nicht genutzt, bezüglich der Unschuldsvermutung eine Konkretisierung vorzunehmen, obwohl diese ein Schwerpunkt der Richtlinie darstellt, und hat die Umsetzung allein auf die Anwesenheit des Angeklagten beschränkt.
Es wurde gerade angesprochen: Gar nicht gut ist, dass die EU-Richtlinie vom 9. März 2016 erst jetzt umgesetzt wird, obwohl sie längst – bis zum 1. April 2018 – hätte umgesetzt werden müssen. Das bedeutet: Die Regierung war nicht in der Lage, in einem überschaubaren Rechtsbereich und in einer großzügigen Zeitspanne Regelungen zu entwickeln. Der Koalitionsvertrag trägt zwar die Überschrift „Ein neuer Aufbruch für Europa“; aber Ihr Handeln entspricht dem nicht. Wer so Richtlinien umsetzt, wird dem eigenen Anspruch nicht gerecht.
Ihr Entwurf hinterlässt bei uns noch viele Fragen. Wir werden deshalb ebenfalls das weitere Verfahren begleiten und werden uns auch vorbehalten, eventuell weitere Anträge einzubringen.
Vielen Dank.
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Als Nächstes spricht Canan Bayram für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kurz nach Mitternacht darf ich auch etwas zu dem Thema beitragen, wobei ich sagen muss, dass einige meiner Vorredner und Vorrednerinnen bereits wichtige Aspekte aufgegriffen haben. Insofern will ich auch damit starten, deutlich zu machen, dass dieses Gesetz, das sich schon im Titel auf die „Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung“ beschränkt, der Umsetzung der eigentlichen Richtlinie nicht ganz gerecht wird. Das wurde in mehreren Beiträgen hier schon angesprochen. Wir sollten uns darüber Gedanken machen, warum es in dieser Form eingebracht wurde. Der Staatssekretär hat kurz etwas dazu gesagt. Aber die Debatte und Beiträge hier sind eh sehr kurz. Deswegen sollten wir das im Ausschuss ausführlich diskutieren.
Eine echte Umsetzung der Richtlinie hätte tatsächlich die Möglichkeit geboten, die Rechte des Angeklagten im Ermittlungs- und Strafverfahren nachhaltig zu stärken, insbesondere im Hinblick auf die Unschuldsvermutung, die auch in der Art und Weise, wie der Angeklagte im Verfahren dargestellt wird, zum Ausdruck kommen soll. Es geht darum, dass alle Beteiligten – das können Rechtspflegeorgane oder Bürgerinnen und Bürger sein – nicht jemanden zu sehen bekommen, der hinter Gittern sitzt, Handschellen angelegt hat oder anderweitig in einer Art und Weise vorgeführt wird, durch die der Eindruck entsteht: Na, da wird schon was dran sein.
Insbesondere der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein hat deutlich gemacht, dass die „Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung“ besser hätte herausgestellt werden können. Die Behauptung, zur Umsetzung der Richtlinie seien nur punktuelle Änderungen erforderlich, sei – das würde ich gerne zitieren – „eine ‚steile’ These“. Das heißt, letztlich wurde der entscheidende Gehalt der Richtlinie, nämlich die Stärkung der Rechte der Angeklagten, nicht in deutsches Recht umgesetzt.
Die Kollegen haben zur Verfristung und dazu, dass man das alles schon im April hätte machen können, einiges gesagt. Wenn man sich klarmacht, dass die Richtlinie eigentlich Bestandteil eines „Fahrplans zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren“ ist, der zum Ziel hatte, einen Mindeststandard an Verfahrensgarantien in der EU zu verankern, dann merkt man, dass bei uns so wenig von dem Mindesten umgesetzt wird, dass wir auf jeden Fall noch im Ausschuss nachlegen müssen. Dazu habe ich hier einiges gehört. Auch wir werden unseren Beitrag dazu leisten.
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Vielen Dank. – Als Nächstes spricht der Abgeordnete Dr. Johannes Fechner für die Fraktion der SPD.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Zuschauer!
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Zu einem starken Rechtsstaat gehört, dass die Rechte der Beschuldigten effektiv gewahrt sind. Es ist deshalb gut, dass die Europäische Union die Richtlinie über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren erlassen hat. Ich finde, gerade in diesen Zeiten, in denen wir europaweit antirechtsstaatliche Tendenzen haben, ist es wichtig, dass die Europäische Union Standards für mehr Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union setzt. Ich finde, diese Richtlinie ist ein sehr gutes Zeichen für den Rechtsstaat europaweit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Richtig ist: Es gibt in Deutschland wenig Umsetzungsbedarf. Das ist doch aber eine Auszeichnung, ein Lob für unseren Rechtsstaat. Wir haben einen starken Rechtsstaat. Insbesondere sind bei uns die Beschuldigtenrechte effektiv ausgestaltet. Es gibt nur diesen geringfügigen Verbesserungsbedarf. Ich finde, da darf man auch einmal ein positives Wort über unseren Rechtsstaat verlieren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Zum Inhalt der Richtlinie. Es ist gut, dass EU-weit die Unschuldsvermutung gelten soll. Es ist gut, dass der Grundsatz, dass die Darstellung von Verdächtigten und Beschuldigten neutral zu erfolgen hat, EU-weit gelten soll. Es ist gut, dass europaweit gelten soll, dass die Beweislast im Falle einer Verurteilung beim Staat liegen soll. All dies sind wichtige Kernpunkte eines Rechtsstaats, und deswegen ist die EU-Richtlinie sinnvoll. In Deutschland ist das alles Gesetz. Deswegen haben wir keinen Normierungsbedarf. Das ist ein gutes Zeugnis für unseren Rechtsstaat.
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Drei Anpassungen sind aufgrund dieser Richtlinie erforderlich. Es fehlte bisher eine ausdrückliche Verpflichtung des Strafrichters zu dem Hinweis an den Beschuldigten, dass ein Ausbleiben bestimmte Folgen hat und er in Abwesenheit verurteilt werden kann. Wir normieren die bisherige Interpretation des Strafprozessrechtes bezüglich des Rechts der persönlichen Anwesenheit. Zudem wird es zukünftig eine ausdrückliche Belehrungspflicht des Gerichtes hinsichtlich des Bestehens eines Rechtsbehelfes bei der Verletzung des Rechtes auf Anwesenheit im Berufungsverfahren und in der Revisionsverhandlung geben.
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Das Thema ist scheinbar trocken; aber im jeweiligen Einzelfall sind es wichtige Regelungen.
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Die FDP hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir die Umsetzungsfrist ein paar Monate überzogen haben. Ich habe mich gewundert, dass der Hinweis von der FDP kommt. Sie haben doch die Jamaika-Verhandlungen und damit die Regierungsbildung scheitern lassen. Dadurch wurden die entscheidenden Monate verplempert. Sonst hätten wir schon früher eine Regierung gehabt und locker die Frist einhalten können.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur an den drei genannten Stellen sind nennenswerte Verbesserungen in der Strafprozessordnung erforderlich. Das ist ein gutes Zeichen. Es belegt, dass wir einen starken Rechtsstaat haben, dass die Beschuldigtenrechte in Deutschland effektiv ausgestaltet sind. Das ist ein gutes Zeichen. Setzen wir noch eines drauf, und verabschieden wir diese wenigen Änderungen!
Vielen Dank.
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Der Kollege Dr. Martens erhält die Gelegenheit zu einer Kurzintervention.
Herr Präsident! Da ich keine Zwischenfrage stellen konnte, erlaube ich mir, an dieser Stelle festzustellen, dass nach meiner Erinnerung zwischen dem Wahltag am 24. September 2017 und der Vereidigung der neuen Bundesregierung eine geschäftsführende Bundesregierung weiter im Amt war und in dieser Zeit das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz von Herrn Maas geleitet worden ist. Es war also kein regierungsloser Zustand, der ein Handeln unmöglich gemacht hätte.
({0})
Wir fahren in der Debatte fort. Als letzter Redner hat das Wort der Kollege Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem es sich hier um eine Debatte im rechtspolitischen Bereich handelt, möchte ich Ihnen, Herr Kollege Seitz von der AfD, zunächst zurufen, dass Sie gar nicht verstanden haben, wie eigentlich in Brüssel Richtlinien zustande kommen. Sie sagen hier: Brüssel verlangt etwas von uns. – Ich möchte Sie darüber aufklären, wie Richtlinien entstehen: Richtlinien entstehen durch Beschluss des Europaparlaments und des Rats. Im Rat ist die deutsche Regierung vertreten. Darüber hinaus gibt es das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union. Alle Richtlinienvorschläge der Kommission werden also im Unterausschuss Europarecht oder auch im Rechtsausschuss berichtet. Einfach zu behaupten, Brüssel verlange etwas, offenbart eine populistische, europafeindliche Haltung, die man einem Volljuristen nicht durchgehen lassen kann.
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Worum geht es? Es geht darum, dass eine Richtlinie vorliegt, um die Rechte von Angeklagten im Strafverfahren zu verbessern, und zwar europaweit. Ich glaube, das ist ein wichtiges Anliegen, weil wir Europa als Raum der Rechtsstaatlichkeit begreifen müssen. Deswegen ist es auch wichtig, dass überall in der Europäischen Union die gleichen Mindeststandards der Rechtsstaatlichkeit sichergestellt werden.
Der Umstand, dass wir in Deutschland fast keinen Änderungsbedarf haben, zeugt doch davon, dass bei uns ein starker Rechtsstaat existiert und er eben nicht in einem Zustand ist, wie Sie ihn beschreiben. Sie zeichnen hier das Bild der Karikatur eines Rechtsstaats, Herr Kollege Seitz; aber damit sagen Sie nichts über den Zustand in unserem Land, sondern Sie reden unser Land schlecht, Sie reden unseren Rechtsstaat schlecht. Damit fallen Sie nicht nur den Richtern und Staatsanwälten, sondern auch den Polizisten in den Rücken, die tagtäglich für diesen Rechtsstaat geradestehen. Das ist keine gute Haltung, und davon sollten Sie sich distanzieren.
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Meine Damen und Herren, das rechtliche Gehör und damit auch das Anwesenheitsrecht des Angeklagten sind zentrale rechtsstaatliche Grundrechte unserer Verfassung. Es geht darum, das rechtliche Gehör auszubauen, wenn es um die Revisionsverhandlung geht. Wenn der Angeklagte zukünftig bei einer Revisionsverhandlung, bei der es nur um rechtliche Tatsachen und nicht mehr um eine Instanzenentscheidung, eine tatrichterliche Entscheidung geht, nach Ermessen des Gerichts anwesend sein kann, dann ist dies eine europarechtskonforme Auslegung. Ich glaube, das stärkt ein insgesamt wohlabgerundetes System der Präsenz des Angeklagten.
Aber wir dürfen nach Verabschiedung des Umsetzungsgesetzes nicht ruhen. Es gibt im Bereich der Strafprozessordnung weitere Baustellen, die wir angehen müssen. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir die missbräuchlichen Beweis- und Befangenheitsanträge eindämmen wollen. Wir sprechen über Bündelungsmöglichkeiten bei der Nebenklage. Wir müssen über die Möglichkeit der Wiederaufnahme auch zuungunsten des freigesprochenen Angeklagten bei nicht verjährten Straftaten reden. Wir müssen über die Ausweitung der DNA-Analyse sprechen, über die Beschleunigung der Gerichtsverfahren, über einheitliche Qualitätsstandards für Dolmetscher und – was ganz wichtig ist – über die Digitalisierung bei Gerichten und Staatsanwaltschaften. Auch das müssen wir angehen, weil wir insgesamt nur mit einer klaren, handlungsorientierten, aber eben auch rechtsstaatlich soliden Strafprozessordnung das hohe Niveau an Rechtsstaatlichkeit in Deutschland erhalten können.
Herzlichen Dank.
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Da wir keine weiteren Redner haben, schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/4467 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich höre keine anderweitigen Vorschläge. Deshalb ist es so beschlossen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für Innovation ist es nie zu spät. Die Forderung, die steuerliche Forschungsförderung auf den Weg zu bringen, haben wir schon lange erhoben. Wir haben 2016 einen Gesetzentwurf eingebracht. Dann hat sich der Bundesrat mit diesem Thema beschäftigt. Der damalige Finanzminister Schäuble hat sich positiv positioniert. Hubertus Heil in seiner damaligen Funktion als Wirtschaftspolitiker hat sich dazu positiv verhalten. Wir finden die Forschungsförderung in unendlich vielen Wahlprogrammen der CDU, der SPD und der FDP. Wir finden sie in noch mehr Koalitionsverträgen von unterschiedlichen Koalitionen. Aber eines haben wir nicht, nämlich eine steuerliche Forschungsförderung.
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Viele Jahre, viele Versprechen, und jetzt haben wir wieder ganz viele Versprechen auf den Tisch bekommen. Wir durften heute lesen, dass Wirtschaftsminister Altmaier ein 20-Milliarden-Steuersenkungsprogramm für Unternehmen auf den Weg bringt.
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– Ganz langsam. Euch kann man auch nichts mehr glauben.
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Jetzt bringt endlich wenigstens die steuerliche Forschungsförderung auf den Weg.
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Das wäre etwas für die Unternehmen. Aber nichts ist. Und ehrlich gesagt: Wenn ich einen Tag vorher ein Interview im „Handelsblatt“ mit Finanzminister Scholz lese, dann frage ich mich, ob es vielleicht ein Koordinationsproblem zwischen dem Wirtschaftsminister und dem Finanzminister gibt.
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– Nicht nur eines. – Denn da passt gar nichts mehr zusammen.
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Warum bringen wir den Entwurf eines Gesetzes zur Forschungsförderung ein? Wir verlieren den Anschluss als Wirtschaftsstandort Deutschland. Wir sind neben Estland das einzige Land in der Europäischen Union, das diese Forschungsförderung nicht hat. Die Digitalisierung führt zu Innovationszyklen, die inzwischen so kurz sind, dass man einfach schneller werden muss, dass man auf das kreative Potenzial, das vorhanden ist, zurückgreifen muss
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und dass man Innovationen auf den Weg bringen muss.
Angesichts der Tatsache, dass sechs von zehn kleinen und mittleren Unternehmen von der derzeitigen Förderkulisse nicht erfasst werden, dass sie gar nicht dabei sind, verlieren wir deren Potenzial. Also müssen wir etwas auf den Weg bringen. Es ist in Ordnung, die Forschungsförderung parallel zu bestehenden Fördertöpfen zu machen – da wollen wir gar nicht ran –; aber nicht alle können sie ausschöpfen, weil es zu bürokratisch ist, weil ihnen das Personal fehlt und, und, und. Deswegen sagen wir: Wir wollen eine steuerliche Forschungsförderung für kleine und mittlere Unternehmen, 15 Prozent der Aufwendungen, im Übrigen auch im Verlustfall. Das ist für Start-ups wichtig, die erst am Anfang stehen und die auch in die Forschung gehen. Aber dann sind noch nicht die Gewinne da.
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Sie müssen trotzdem eine Unterstützung bekommen.
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Deswegen sehen wir auch im Verlustfall die steuerliche Forschungsförderung vor.
Jetzt höre ich immer: Ihr habt Eckpunkte vorgelegt, aber nur beim Personal. Ich sage Ihnen: Es ist nicht gut, wenn man das nur beim Personal macht. Es hört sich einfach an: kann man abgrenzen, Personal versus Rest. Aber was machen Sie mit einem Unternehmen, das nicht wirklich für das Personal Leute eingestellt hat? Wie grenzen Sie da ab? Also sagen wir: Es geht um die Forschungs- und Entwicklungsausgaben. Ich würde über jede einzelne Ausgestaltung reden. Jetzt haben wir die erste Lesung, dann kommt die Anhörung, dann die Beratung in den Ausschüssen; wir reden darüber. Aber meinen Sie es endlich einmal ernst damit, dass die steuerliche Forschungsförderung auf den Weg kommt!
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Wenn das wieder so eine Luftnummer ist wie in den letzten zehn Jahren, dann haben Sie an Glaubwürdigkeit verloren. Das ist doch mal klar.
({10})
Die restliche halbe Minute schenke ich dem Plenum.
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Weitere Geschenke dieser Art werden jederzeit entgegengenommen.
Als Nächster hat das Wort der Kollege Dr. Thomas de Maizière für die CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Andreae, Sie kamen mir vor wie eine Oppositionsrednerin, die wütend gegen die Regierung anrennt und die Tür aufschlagen will, aber die Tür steht weit offen.
({0})
– Gemach, gemach.
({1})
– Hören Sie jetzt zu oder nicht?
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Wir haben mit den Sozialdemokraten eine steuerliche Forschungsförderung vereinbart. Wir hätten bei Jamaika mit Ihnen eine steuerliche Forschungsförderung vereinbart.
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Die FDP hat einen Antrag für eine steuerliche Forschungsförderung gestellt. Die AfD hat einen Antrag für eine steuerliche Forschungsförderung gestellt.
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Sie haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sehr spät kam. Ich habe ihn natürlich gelesen. Ich will auch gleich einen Satz dazu sagen. Aber so eilig war es Ihnen auch nicht, wenn Sie ihn erst Dienstagabend vorlegen.
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Das Problem ist doch nicht, dass wir nicht für steuerliche Forschungsförderung wären; vielmehr – das wissen wir alle – steckt der Teufel im Detail:
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Was genau ist Forschung? Gilt das auch für große oder nur für kleine und mittlere Unternehmen? – Dann haben Sie einen Vorschlag gemacht, Frau Andreae. Es wäre nett, wenn Sie zuhörten.
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Sie haben gesagt, er ist super unbürokratisch. Bei Ihrem Gesetzesmodell muss ich als Mittelständler erst mal zu einer Zertifizierungsstelle gehen.
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Die muss bestätigen, dass das Forschung ist. Dann gehe ich zum Finanzamt. Der, der die Steuern begünstigt bekommt, zahlt die Kosten für die Zertifizierungsstelle.
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Ich würde gerne mit Ihnen streitig darüber reden, ob das wirklich so unbürokratisch ist. Dann stellt sich die Frage: Wie ist es mit Forschung im In- und Ausland? Dann stellt sich die Frage: Wie ist das Verhältnis zur Projektförderung?
Kurzum: Vieles ist in diesem Parlament in dieser Legislaturperiode sehr streitig. Jetzt könnte es ein Projekt geben, das nicht streitig ist: die steuerliche Forschungsförderung.
({10})
– Der Finanzminister hat uns im Finanzausschuss gesagt – da waren Sie nicht da –, er wird sehr schnell einen Entwurf vorlegen.
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Das CDU-geführte Forschungsministerium hat schon Eckpunkte vorgelegt. Lassen Sie uns daraus ein großes gemeinsames Projekt machen und ein Ergebnis erzielen, das alle gut finden,
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und nicht aus Eitelkeit sagen: „Ich habe als Erste diesen Vorschlag gemacht“, „Ich habe als Erstes den Gesetzentwurf eingebracht“, „Ich habe aber auch einen Antrag gestellt“.
Also: Konzentration auf die Sache, die schwierigen Detailfragen gemeinsam lösen. Ich würde mir wünschen, wir würden ein Gesetz hinbekommen, das wir vielleicht sogar einstimmig verabschieden. Das wäre nicht schlecht für die Forschung in unserem Land.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Götz Frömming für die AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Kollege de Maizière, die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Im Jahr 1982 betrug der staatliche Anteil an privaten Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten nach einer Studie der OECD in Deutschland noch 18 Prozent. Heute liegt er bei 3 Prozent. Im Vergleich mit anderen Industrienationen liegt Deutschland bei der Forschungsförderung auf dem letzten Platz. Das ist schlichtweg ein Skandal.
Schuld daran tragen die, die schon länger regieren, also vor allem CDU/CSU und SPD, aber auch die FDP. Sie betreiben trotz anderslautender Lippenbekenntnisse – wir haben es heute wieder gehört – seit Jahren eine forschungsfeindliche Politik.
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Damit, meine Damen und Herren, muss endlich Schluss sein.
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Lediglich 2,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts investiert Deutschland derzeit in Forschung und Entwicklung. 2016 betrug der Anteil noch 5 Prozent des BIP. Innerhalb der letzten zwei Jahre sanken die Investitionen um fast 50 Prozent.
Zielführende politische Maßnahmen gegen diesen Trend sind lange überfällig. Hierzu zählen die von uns vorgeschlagenen steuerlichen Begünstigungen für Forschungsunternehmen, wie sie die meisten Industrienationen schon längst eingeführt haben.
Meine Damen und Herren, letztlich geht es bei diesem Wettlauf um den Erhalt von deutschen Arbeitsplätzen und um die Zukunft unseres Landes. Schon vor drei Wochen hat die AfD-Bundestagsfraktion in einer Pressemitteilung gefordert, eine steuerliche Forschungs- und Entwicklungsförderung einzuführen.
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Es ist erfreulich, dass die Grünen und die FDP diesen Impuls nun aufgegriffen haben oder selbst auf die Idee gekommen sind – wie die Grünen –, ihren alten Antrag vom März 2016 wieder auf den Tisch zu legen.
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Allerdings frage ich mich, was mit der CDU/CSU los ist. 2009 haben Sie im Koalitionsvertrag – damals zusammen mit der FDP – eine steuerliche Forschungsförderung angekündigt, und nichts ist geschehen. Jetzt steht das im Koalitionsvertrag mit der SPD, und wieder ist bisher nichts passiert.
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In der Zwischenzeit verlagern deutsche Betriebe ihre Forschungsaktivitäten ins Ausland,
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und zwar genau in solche Länder, die Forschung steuerlich honorieren, wie zum Beispiel Österreich. Dort hat man die sogenannte Forschungsprämie gerade von 12 auf 14 Prozent erhöht. Es ist kein Wunder, meine Damen und Herren, dass forschende deutsche Unternehmen auch nach Österreich gehen, Beispiel: Boehringer Ingelheim, ganz neu. Für die Errichtung einer biopharmazeutischen Produktionsanlage in Wien investiert das Unternehmen fast 700 Millionen Euro. Das ist die größte Einzelinvestition in der Geschichte des Unternehmens und die größte Firmeninvestition in Wien seit Errichtung des General-Motors-Werkes dort 1979. In der neuen Anlage werden rund 500 Arbeitsplätze im Bereich der biomedizinischen Forschung und Entwicklung entstehen. Diese Arbeitsplätze – das ist nur ein Beispiel von vielen – und die damit verbundenen Steuereinnahmen gehen jetzt Deutschland verloren, und das ist Ihre Schuld, Ihre Untätigkeit.
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An diesem Beispiel sehen Sie sehr gut, warum das Konzept der AfD den anderen hier vorliegenden überlegen ist.
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Sie wollen nämlich nur kleine Unternehmen bei ihren Forschungsaktivitäten unterstützen. Damit können Sie Entscheidungen wie die von Boehringer Ingelheim im eben genannten Beispiel überhaupt nicht beeinflussen. Zunächst einmal mag es nachvollziehbar klingen: Wir fördern nur die Kleinen. – Dabei vermischen Sie aber den ursprünglichen, eigentlich guten Gedanken, der ein rein volkswirtschaftlicher Ansatz war, mit einem fast schon sozialromantischen, karitativen Denken, das nun offenbar auch die FDP erfasst hat.
Wenn es darum geht, meine Damen und Herren, Forschung insgesamt voranzubringen, dann gehören größere Unternehmen selbstverständlich dazu. Denn gerade in Deutschland sind es vor allem die großen Unternehmen, die Forschung betreiben. Die von den Grünen so geliebten KMU haben leider nur einen Anteil von rund 8 Prozent an den Forschungs- und Entwicklungsausgaben. Das heißt, über 90 Prozent der privaten Forschung in Deutschland wollen Sie gar nicht fördern. Das ist doch ein Witz.
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Wir von der AfD wollen 100 Prozent Forschungsförderung, meine Damen und Herren.
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Dass bei den Großunternehmen eine gewisse Deckelung, wie auch der BDI das vorsieht, dazugehört, ist selbstverständlich. Wenn wir die großen Unternehmen stärken, stärken wir auch die kleinen, und zwar viel besser, als das mit einer direkten Projektförderung allein – die wir gar nicht abschaffen wollen – jemals gelingen könnte. 2016 haben Großunternehmen für 17 Milliarden Euro Forschungsaufträge an überwiegend kleinere und mittlere Firmen vergeben. Daran sehen Sie, wie sehr diese beiden Welten miteinander verwoben sind, die Sie künstlich trennen wollen. Lassen Sie das! Folgen Sie dem Rat der AfD!
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Denn die Forschung von heute schafft die Arbeitsplätze von morgen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Nächster Redner ist der Kollege Lothar Binding für die Fraktion der SPD.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Es ist spät genug. Vielleicht können wir mal die Augen zumachen
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und uns einen kleinen Moment Deutschland ohne Forschungsförderung vorstellen, uns ausmalen, wie die Landschaft dann wäre. Wir hätten keine Universitäten, keine Stiftungen aus der Gesellschaft, keine Wirtschaftsstiftungen, keine Stiftungen aus der Politik,
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wir hätten keine Forschungsstiftungen, wir hätten viel weniger Forschung in der Industrie, in den großen und kleinen Unternehmen, keine Forschung der DFG, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, keinen Deutschen Akademischen Austauschdienst, keine Forschung durch die EU, durch die Bundesländer, durch den Bund. Sie merken, in welche Richtung ich gehe. Wir hätten keine Förderangebote der Forschungsgemeinschaften wie Helmholtz-Gemeinschaft, Max-Planck-Gesellschaft, Leibniz-Gemeinschaft, last, but not least auch keine wissenschaftlichen Preise.
Wir haben eine riesige Förderlandschaft. Das hat Deutschland stark gemacht. Diese Förderlandschaft beruht auf Forschung und Entwicklung, die durch Projektförderung entwickelt wurde. Das ist erst einmal gut.
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Wir haben ein gutes Werkzeug. Das haben wir kennengelernt. Aber jeder weiß: Ein einzelnes Werkzeug funktioniert nicht für alle Anwendungsfälle. Auch wenn es toll ist, passt es nicht überall. In dem einen Fall ist es zu groß, in dem anderen zu schwer, zu kompliziert, und vor allem kommt es nicht in die Ecken. Wir sehen: Die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten von kleinen und mittleren Unternehmen sind ausbaufähig. Deshalb müssen wir dort mehr machen als bisher. Dort werden Potenziale nicht ausgeschöpft. Kerstin Andreae hat gesagt: Gebt denen 15 Prozent der Aufwendungen, dann ist alles ganz einfach. – So einfach ist es nicht.
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Deshalb brauchen Sie eine Zertifizierungsstelle, wie auch alle anderen eine brauchen. Denn sonst kann man das gar nicht so leicht organisieren. Einstein hat gesagt, man muss die Dinge so einfach machen wie möglich, aber nicht einfacher.
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Wir wollen hier ein Angebot mit einem neuen Werkzeug machen, das Forschungsförderung heißt.
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Es soll leicht handhabbar sein, unbürokratisch und flexibel, und es soll motivieren, dort zu forschen, wo Erkenntnispotenzial ungenutzt herumliegt.
Es ist nicht ganz leicht, diese Steuerung hinzukriegen. Sie soll leichtgängig, unbürokratisch und flexibel sein, aber trotzdem zielgenau funktionieren und bestimmten Qualitätsstandards entsprechen. Auch das wollen wir sicherstellen. Das Geld soll nicht einfach rausgeschmissen werden. Hier könnte man sich an dem „Frascati Manual“ orientieren. Es definiert gewisse Dinge, wie man da vorgeht. Das ist zunächst mal ein Statistikmodell, enthält aber viele inhaltliche Beschreibungen. Jeder Finanzpolitiker hätte seine Aufgabe verfehlt, wenn er nicht darauf achten würde, was mit der Förderung tatsächlich passiert und dass tatsächlich mehr geforscht wird. Wir müssen also bedenken, dass es Mitnahmeeffekte gibt und dass es fast unmöglich ist, zu wissen, was die steuerliche Forschungsförderung den Staat kostet. Wir können auch Fehlverwendungen nicht ausschließen, und es ist unsere Aufgabe, die Aufgabe der Finanzpolitiker, darauf zu achten.
Wir wollen tatsächlich die Innovationsaktivitäten steigern. Das ist nicht ganz leicht. Wir wollen die Wahrscheinlichkeit, dass disruptive Prozesse entstehen, erhöhen.
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Wir wollen die Zahl der Sprunginnovationen erhöhen. Wir wollen, dass Neues an der Stelle von Altem entsteht. Die Wahrscheinlichkeit dafür wollen wir durch ökologische, digitale und kulturelle Transformation erhöhen. Wir sehen: Die Forschungsförderung in KMUs ist eine relativ komplexe Angelegenheit. Man kann nicht einfach mal sagen, dass mit 15 Prozent alles gegessen ist. Nein!
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Wir beobachten auch, dass die Projektförderung mitunter sogar besser funktioniert als die steuerliche Forschungsförderung. Wir wollen die steuerliche Forschungsförderung als Ergänzung zur Projektförderung einführen. Durch diese Dualität hat die Forschungsförderung eine sehr gute Zukunft.
Es gibt hier verschiedene Modelle. Österreich ist hier ganz gut auf dem Weg; Professor Spengel hat was Gutes vorgestellt. Wir können uns viele Dinge vorstellen. Insgesamt braucht man aber eine Zertifizierungsstelle, die zum guten Schluss einen Grundlagenbeschluss mitgibt, damit man die Forschungsförderung, die man verdient hat, auch bekommt. Das ist unsere Aufgabe; daran arbeiten wir. Das Finanzministerium unterstützt uns bei dieser Arbeit. Das hat eine gute Zukunft.
Schönen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Thomas Sattelberger für die FDP.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Grünen haben den Gesetzentwurf zur steuerlichen Forschungsförderung von 2016 wieder ausgegraben. Sie sind routiniert in Anträgen, aber deutlich weniger begabt in praktischer Wirtschaftspolitik.
({0})
Der Mittelstand in Baden-Württemberg hätte seit vielen Jahren eine innovationsfreundliche Politik nötig,
({1})
und bis 2017 galt das übrigens auch für Nordrhein-Westfalen. In Baden-Württemberg bröckelt die Wirtschaft, in Nordrhein-Westfalen geht sie jetzt gerade wieder etwas nach vorne,
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und in Schleswig-Holstein und in Rheinland-Pfalz haben die Grünen gottlob gute Partner.
({3})
Die Bundesregierung organisiert es, nichts zu hören. Ich habe ja der Frau Ministerin Karliczek gratuliert: zehn Jahre EFI-Bericht, zehn Jahre Forderungen nach steuerlicher Forschungsförderung, zehn Jahre nicht zugehört.
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Aber Wirtschaft ist ja kein Topfschlagen und kein Kindergeburtstag. Die Innovatorenquote des deutschen Mittelstandes liegt heute fast 40 Prozent unter der Zahl von 2005.
Um zu sehen, wie es anders geht, brauchen wir gar nicht nach China zu gucken. Schon um die Ecke, in Belgien oder in Österreich, weht ein anderer Wind. Für Deutschland heißt das: Endlich anders handeln. Wir brauchen mehr Prozessinnovationen, smarte Produkte und Services und neue digitale und Deep-Tech-Geschäftsmodelle. Wodurch erreichen wir das? Durch unternehmerischen Mut, durch Attraktivität für Fachkräfte und durch die richtigen politischen Rahmenbedingungen.
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Fast alle Länder um uns herum geben ihren Unternehmen mehr Freiheit und fördern steuerlich Innovationen. Deutschland hinkt hinterher – übrigens auch die CSU.
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Der Freistaat Bayern ist geprägt von der Monokultur „Automobil und Maschinenbau“.
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Das sind Branchen, die sich grundlegend reformieren müssen – samt ihrer mittelständischen Zulieferer.
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Derweil twittert Markus Söder, der „Máximo L í der“, der Raumfahrtguru, sein überdimensioniertes Konterfei – völlig losgelöst, wie Major Tom.
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Kreuze hängt er in Bayern auf wie Knoblauch gegen Vampire. Das ist Transsilvanien und keine Transformation.
({10})
Schnelle, bodenständige Maßnahmen müssen her. Bitte lesen Sie unseren Antrag vom 3. Juli dieses Jahres.
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Wir wollen, dass alle Unternehmen interne Personalkosten für Innovation absetzen können,
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genauso wie externe Ausgaben für die Auftragsforschung, und zwar ohne eine willkürliche Begrenzung des Wachstums auf kleine und mittlere Unternehmen, aber mit einem Förderhöchstbetrag.
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Das muss bürokratiearm und planungssicher erfolgen und sofort wirksam und monatlich bei der Lohnsteuer sowie vierteljährlich im Voraus bei der Körperschaftsteuer zu spüren sein.
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Das spüren die Betriebe sofort an ihrer Liquidität, allen voran die Start-ups in der Pionierphase.
Außerdem brauchen wir, wie in Österreich, verbindliche Vorabzusagen, egal ob von Finanzämtern oder beauftragten Experten. Das muss agil, behände, wetterfest
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und übrigens komplett anders erfolgen als beim diffusen Eckpunktepapier von BMBF und BMWi: Abzugsfähigkeit erst nach Ablauf des ersten Kalenderjahres, Rechtssicherheit erst nach einer Betriebsprüfung, Bürokratie im Übermaß; das ist undynamisch, langwierig und instabil und halt Ausdruck der Großen Koalition.
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Wir brauchen jetzt dringend diesen ersten Schritt, um Deutschlands Zukunftsfähigkeit zu steigern.
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Danach muss eine große Unternehmensteuerreform kommen. Darüber reden wir dann das nächste Mal.
Ich möchte jetzt meine Redezeit nicht überschreiten
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und bedanke mich.
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Nächster Redner ist Thomas Lutze für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir heute Nachmittag und auch am frühen Abend jede Menge Debatten geführt haben, die man sich hätte sparen können,
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sowohl was den Inhalt als auch bestimmte Aussagen angeht, finde ich es wirklich schade, dass dieses wichtige Thema hier erst eine halbe Stunde nach Mitternacht aufgerufen wird.
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Ich glaube, es wäre hilfreich, wenn wir mal eine Sortierung der Tagesordnung nach Wichtigkeit vornehmen würden.
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– Das kann man allen überall sagen; aber passen Sie lieber auf Ihre Leute auf, dass sie während der Debatte nicht einschlafen.
Ich komme zum Thema. Forschung und Entwicklung sind Grundpfeiler – ich glaube, das ist unstrittig – einer leistungsfähigen Wirtschaft. Aufgrund ihrer Größe – bzw. der nicht vorhandenen Größe – können kleine und mittlere Unternehmen in puncto Forschungs- und Entwicklungsleistungen in der Regel nicht mit den großen Konzernen und den großen Unternehmen konkurrieren. Die Frage nach einer Forschungsförderung ist für kleine und mittlere Unternehmen keine Frage nach dem Ob, sondern eine Frage nach dem Wie.
Wir begrüßen selbstverständlich eine Forschungsförderung für kleine und mittlere Unternehmen. Wir haben aber Zweifel, dass diese durch das vorliegende Gesetzesvorhaben erreicht werden kann. Eine steuerliche Forschungsförderung, wie sie der Gesetzentwurf vorsieht, arbeitet nämlich ein Stückchen nach dem Gießkannenprinzip. Jeder bekommt etwas, mit zu wenig Berücksichtigung des tatsächlichen und individuellen Bedarfs.
Zum einen kann eine steuerliche Forschungsförderung massive Mitnahmeeffekte bei Großunternehmen und Konzernen erzeugen; denn ein Förderausschluss konzernverbundener Unternehmen ist nicht vorgesehen. Unternehmen können so ihre Forschungs- und Entwicklungsleistungen in kleine Tochterunternehmen ausgliedern, um die Größenkriterien eines kleinen oder mittleren Unternehmens zu erfüllen. Somit würden milliardenschwere Großunternehmen und Konzerne steuerlich belohnt, obwohl sie eigentlich nicht der Adressat des gutgemeinten Gesetzentwurfes sind.
Zum anderen gibt es keine empirischen Hinweise darauf, dass eine steuerliche Forschungsförderung tatsächlich zu einer Verbesserung von Forschung und Entwicklung im Unternehmenssektor führt. Dies bestätigt eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.
Die spezifischen Probleme der kleinen und mittleren Unternehmen begründen unserer Ansicht nach keine steuerliche Forschungsförderung; denn um von der Förderung überhaupt profitieren zu können, müssen zuvor Eigen- und Fremdmittel für Forschung und Entwicklung eingesetzt werden. Wer also das Geld nicht verdient, kann es nachher auch nicht steuerlich geltend machen.
Das ist für viele kleine und mittelständische Unternehmen das Problem. An dieser Stelle unterstützt der gutgemeinte Gesetzentwurf kleine und mittlere Unternehmen in der Praxis viel zu wenig.
Vielen Dank. Glück auf!
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Vielen Dank. – Nächster Redner: Sebastian Brehm, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Sattelberger, Herr Dr. Frömming, Sie haben so viele wundervolle Vorschläge gemacht; aber in Ihren Anträgen steht einfach nichts drin.
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Ihre Anträge sind sehr dünn. Da steht bloß drin: Wir wünschen uns eine steuerliche Forschungsförderung. – Ja, das wünschen wir uns alle. Aber Sie müssen auch schon sagen, wie es geht.
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Sie können hier nicht schlau reden, dann aber nicht wissen, wie es geht. Insofern: Schreiben Sie es bitte genau rein, und dann können wir auch darüber diskutieren.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, in meiner Heimatstadt wurde die MP3-Technologie erfunden; ich werde später noch darauf zurückkommen. Nach 30 Jahren ist das immer noch eine wesentliche Technologie. Wir können uns darauf aber nicht ausruhen, sondern wir brauchen immer mehr Forschung und Entwicklung. Deswegen haben wir in den Koalitionsvertrag auch reingeschrieben: „Deutschland muss ein Innovationsland bleiben.“ Ich sehe da ähnlich wie der Kollege Binding nicht schwarz, sondern ich sehe das als gut an. Wir haben viel Forschung und Entwicklung; es gibt viele Projektförderungen in unserem Land.
Allerdings wollen wir hier die 3,5 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt erreichen. Dafür brauchen wir den Staat, den Bildungssektor, die kleinen und mittleren Unternehmen, aber natürlich auch die großen Unternehmen. Gemeinsam können wir die notwendigen Anstrengungen leisten und die 3,5 Prozent in unserem Land erreichen. Derzeit liegen wir bei knapp 3 Prozent. 0,4 Prozent davon kommen vom Staat, gut 0,5 Prozent vom Bildungssektor, 0,18 Prozent von den kleinen und mittleren Unternehmen und knapp 2 Prozent von den größeren Unternehmen.
Der einzige Rohstoff, den wir in unserem Land haben, ist der Rohstoff Geist. Deswegen brauchen wir eine Forschungsförderung und auch ihren Ausbau. Wir haben eine projektbezogene Förderung. Es ist aber sinnvoll, eine zweite Säule danebenzustellen, und das ist eben die steuerliche Forschungsförderung, über die wir reden. Ob das steuersystematisch richtig ist oder nicht, ist natürlich dahingestellt. Für eine steuerliche Forschungsförderung sprechen aber drei wesentliche Punkte:
Erstens. Im internationalen Steuerwettbewerb sind wir einer der wenigen, die keine steuerliche Forschungsförderung haben; Sie hatten es erwähnt. Auch im OECD-Vergleich sind wir eines der wenigen Länder, die keine steuerliche Forschungsförderung haben.
Zweitens. Ich glaube, die Mitnahmeeffekte überwiegen nicht, sondern es gibt Hebeleffekte in der steuerlichen Forschungsförderung – das zeigen auch internationale Vergleiche –, weil die Unternehmen mehr investieren, wenn sie eine steuerliche Forschungsförderung bekommen und dadurch mehr Effekte erzielen.
Drittens. Wir schaffen es, eine Lücke zu schließen, weil die projektbezogene Förderung oft schwierig ist.
Damit komme ich auf meinen MP3-Player zurück. Für diese Technologie gab es in Nürnberg kaum eine Förderung, weil Unterhaltungstechnologie zum damaligen Zeitpunkt kein Ziel für die projektbezogene Forschungsförderung war. Deswegen ist das Folgegeschäft in die USA und nach China gegangen. Deswegen brauchen wir eine Förderung, die nicht nur auf den einzelnen Zweck ausgerichtet ist, wie die projektbezogene Forschungsförderung, sondern begleitend eben auch auf die zweite Säule.
Der Fehler am Antrag der Grünen, der allerdings gut ausformuliert ist, ist, dass man sich nur auf die kleineren und mittleren Unternehmen bezieht. Wir brauchen aber alle Unternehmen, um unser 3,5-Prozent-Ziel zu erreichen. Deswegen brauchen wir, glaube ich, eine Arbeit im Detail. Diese Arbeit im Detail ist das Wesentliche: Was sind förderfähige Aufwendungen? Kollege de Maizière hat es vorhin gesagt. Wie soll gefördert werden? Über Sonderabschreibungen, erhöhte Abschreibungen? Sollen die Substanz und eine Steuerschuld angerechnet werden? Auf welchem Weg wollen wir das machen? Es soll unbürokratisch sein. Wenn erst mal eine Zertifizierung benötigt wird, ist es nicht mehr unbürokratisch.
Deswegen werden wir gemeinsam mit dem Finanzministerium natürlich einen guten Vorschlag vorlegen und dann fachlich diskutieren. Dazu lade ich Sie herzlich ein. Dann wird aus dem dünnen Papier, das Sie vorgelegt haben, vielleicht auch ein echter Vorschlag, worüber wir dann diskutieren und woraus wir dann wirklich was Gutes machen können.
Bevor Sie hier also groß reden, machen Sie bitte erst die Hausaufgaben. Gehen Sie vom Schaufenster zurück an den Schreibtisch, um zu arbeiten. Dann schauen wir mal, dass wir eine gute Forschungsförderung hinbekommen.
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Abgeordnete Dr. Manja Schüle für die Fraktion der SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren, die uns jetzt noch per Livestream folgen: Ihnen einen besonders herzlichen guten Abend!
Jede neue Steuer hat etwas erstaunlich Ungemütliches für denjenigen, der sie zahlen oder auch nur auslegen soll.
Ein Zitat nicht nur für Feinschmecker der Steuer- und Finanzpolitik, nein, seit geraumer Zeit auch für uns Forschungspolitikerinnen und Forschungspolitiker. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Zitat stammt nicht von unserem Finanzminister a. D. Dr. Wolfgang Schäuble, sondern es wird Bismarck zugeschrieben. Es beschreibt ganz gut den Gemütszustand des Finanzministeriums in der letzten Legislaturperiode, wo nämlich in aller Regelmäßigkeit Ideen und Konzepte zur steuerlichen Forschungsförderung in den Schubladen verschwanden und nicht etwa in den Finanzämtern unseres Landes ankamen.
Aber, liebe Frau Andreae, hier die gute Nachricht: Wir haben jetzt mit Olaf Scholz einen Finanzminister, der sich davon emanzipiert hat, der vor vier Wochen in diesem Hohen Hause erklärt hat: Die steuerliche Forschungsförderung wird kommen.
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Wir haben mittlerweile veröffentlichte Eckpunkte der unionsgeführten Häuser Bildung und Wirtschaft, und so wie es sich gehört, werden wir in der Großen Koalition auch Einfluss nehmen auf das Papier von Olaf Scholz.
Ich könnte diese Eckpunkte jetzt bewerten. Wir könnten uns über Hebelwirkungen, Beschäftigungseffekte, Steuergutschriften, Optionszwang, Mitnahmeeffekte etc. pp. unterhalten. Sie merken, es wird kompliziert, und das liegt nicht nur an der Uhrzeit, aber unsere Aufgabe ist es, es einfacher zu machen.
Wir wissen doch alle, dass die kleinen und mittelständischen Unternehmen es bei der Projektförderung schwerer haben. Das liegt nicht etwa daran, dass sie der Anforderung intellektuell nicht gewachsen wären, einen Fördermittelantrag zu stellen, sondern daran, dass sie die Expertise und den Personalkörper für ein gutes Fördermittelmanagement ganz oft einfach nicht mitbringen. Deswegen brauchen sie eine steuerliche Förderung, die unbürokratisch und direkt bilanzierbar ist und sich sofort in der Gesamtlohnsumme niederschlägt, wenn man ins Lohnbüro marschiert.
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Stellen Sie sich auch ein Unternehmen vor, das nur noch einen Chemiker beschäftigt. Dieser Chemiker steht aber kurz vor der Rente. Dieses Unternehmen findet keinen neuen. Auch diesem Unternehmen muss es gestattet sein, Aufträge für Auftragsforschung zu vergeben und dafür steuerlich begünstigt zu werden.
Das sind zwei Beispiele, die deutlich machen, dass wir mit der steuerlichen Forschungsförderung die kleinen und mittelständischen Unternehmen direkt erreichen – jene Unternehmen im Übrigen, in denen sich die Mehrzahl der Arbeitsplätze in Deutschland befindet.
Lieber Herr Sattelberger, ich will nicht nur über Bayern reden – ich weiß, Sie brauchten heute einen Wahlkampfspot für die Bayern-Wahl –, sondern ich will auch über Brandenburg reden; da komme ich nämlich her. Wir haben eine ganz kleinteilige Wirtschaftsstruktur. 75 Prozent unserer Unternehmen haben weniger als 259 Beschäftigte. Aber die sind unseres Glückes Unterpfand, und genau diese Unternehmen müssen wir auch fitmachen – fit für die Zukunft. Da sage ich ganz im Sinne auch von Christine Lagarde: Wir müssen das Dach in Ordnung bringen, wenn die Sonne scheint. – Jetzt sprudeln die Steuereinnahmen, und jetzt ist es an der Zeit, sie gewinnbringend und unbürokratisch einzusetzen, im Übrigen für den Lackierer aus Müllrose, der sich um Beschichtungen kümmert, genauso wie für das Hightechunternehmen Ripac aus Potsdam, das maßgeschneiderte Impfstoffe für Tiere anbietet.
Das ist für mich nachhaltige Forschungspolitik, aber vor allen Dingen auch nachhaltige Arbeitsmarktpolitik; denn das sind die guten Arbeitgeber von heute, und das werden hoffentlich auch die guten Arbeitgeber von morgen sein.
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Die steuerliche Forschungsförderung kommt; das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Über die genaue Ausgestaltung werden wir diskutieren, wenn der Entwurf aus dem Finanzministerium vorliegt. Liebe Frau Andreae, ich verspreche Ihnen: Das wird nicht noch mal eine Legislatur dauern.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Norbert Maria Altenkamp für die CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich die Tagesordnung sah, vergegenwärtigte ich mir, dass ich aufgrund der Uhrzeit möglicherweise vor leeren Rängen spreche. Oben auf der Besuchertribüne sind sie auf jeden Fall leer, aber nicht hier im Plenum; das freut mich ganz besonders.
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Und ich weiß von einer Person, die heute Abend vor dem Livestream sitzt: Das ist mein Vorgänger als Wahlkreisinhaber, nämlich Professor Dr. Heinz Riesenhuber, der seit vielen Jahren ein besonderer Freund und auch Promoter der steuerlichen Forschungsförderung ist. Insofern bin ich sein Nachfolger.
Ich denke, es ist Zeit, diese Förderung weiter voranzubringen; denn derzeit sind wir gut aufgestellt: Wir gehören zu den innovationsstärksten Ländern der Welt, allem Schlechtreden zum Trotz. Wir haben eine leistungsstarke Forschungslandschaft mit starken Instituten und vielen hochinnovativen Unternehmen und Start-ups. Unsere Hightech-Strategie und unsere staatlichen Förderprogramme sind weltweit beispielhaft.
Wir dürfen uns auf den Erfolgen aber nicht ausruhen. Der globale Innovationswettlauf wird immer härter. Die Konkurrenz ist uns immer dichter auf den Fersen, Beispiel China. Wir können nur dann innovationsstark und wettbewerbsfähig bleiben, wenn wir unser Forschungsengagement weiter ausbauen und dabei auch neue Wege gehen. Wir müssen vor allem unsere Forschungsausgaben bis 2025 auf 3,5 Prozent des BIP erhöhen, und wir müssen sicherstellen, dass neue Technologien in der ganzen Breite unserer Wirtschaft genutzt und weiterentwickelt werden.
Dafür reicht es nicht aus, die Fördermittel zu erhöhen und den dichten Förderdschungel leichter zugänglich zu machen; denn nicht jede Zukunftsidee passt in ein spezielles Förderkonzept. Deshalb haben wir uns im Koalitionsvertrag verpflichtet, jetzt endlich – ja, endlich – auch in Deutschland die steuerliche Forschungsförderung einzuführen. Die meisten anderen OECD-Länder haben damit bereits Erfolg.
Der Gesetzentwurf der Grünen – das möchte ich loben – und die Anträge der Opposition zeigen: Wir sind uns im Ziel einig.
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Die Vorteile einer steuerlichen Forschungsförderung liegen auf der Hand. Sie hilft, mehr Unternehmen an die Forschung heranzuführen; denn sie ist breit und schnell wirksam, einfach anwendbar, technologie- und branchenoffen. Sie hilft uns, das 3,5-Prozent-Ziel zu erreichen; denn jeder Euro, den wir in die Forschung investieren, bringt die Unternehmen zu eigenen Forschungsausgaben in 1,3-facher Höhe; das zeigen Studien. Sie macht Standorte attraktiv für ausländische Unternehmen – wir sehen auch da das Beispiel Österreich –, fördert Forschungskooperationen, steigert die Anzahl der Patentanmeldungen und bringt Wettbewerbsvorteile; denn so kommen Innovationen schneller in die Märkte.
Wichtig für den Erfolg ist die Ausgestaltung. Ich halte hier folgende Eckpunkte für entscheidend: Die bewährte Projektförderung muss erhalten bleiben. Die Förderung sollte den Investitionsrahmen von rund 1,5 bis 1,7 Milliarden Euro pro Jahr nicht übersteigen. Deshalb sollten wir zunächst mit kleinen und mittleren Unternehmen anfangen – wie genau, das werden wir in den weiteren Gesprächen in den Ausschüssen klären.
Bemessungsgrundlage sollen die Kosten für das Forschungspersonal und die Auftragsforschung sein. Die Förderung soll als Steuergutschrift erfolgen. Sie soll an Firmen, die Verluste schreiben oder keine Steuern zahlen, ausgezahlt werden. Das hilft auch Start-ups und Gründern. Wir wollen Doppelförderung durch Förderprogramme und Tax Credits ausschließen, am besten durch ein projektbezogenes Wahlrecht, und wir wollen die steuerliche Forschungsförderung zum 1. Januar 2020 einführen.
Natürlich müssen wir diese Vorstellung noch mit dem Bundesfinanzminister endgültig klären; aber ich habe ja gehört, dass da besondere Hoffnung angezeigt ist, und der besondere Wille ist ja auch erklärt. Ich bin mir aber auch sicher, dass er den Weitblick hat, zu erkennen, dass uns eine statische Betrachtung der Finanzen hier nicht weiterbringt. Wir müssen hier dynamisch denken.
Die steuerliche Forschungsförderung kann man nicht wie ein Buchhalter nur mit Steuermindereinnahmen gleichsetzen; denn schon morgen wird sie in Gewinn umschlagen und die Innovationskraft unserer Unternehmen, unsere Steuereinnahmen und unser Wirtschaftswachstum insgesamt ankurbeln. Dafür wollen wir gemeinsam arbeiten.
Aber erst mal wünsche ich Ihnen eine gute Nacht.
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Aber vorher, Herr Kollege, müssen wir noch einige Abstimmungen durchführen. – Ich schließe die Aussprache.
Wir müssen jetzt über die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b getrennt abstimmen.
Tagesordnungspunkt 20 a. Es wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/4827 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen; strittig ist aber die Federführung. Das müssen wir zunächst klären.
Die Fraktionen CDU/CSU, SPD und FDP wünschen Federführung beim Finanzausschuss. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie.
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Ich lasse erst mal abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, also Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Das sind die Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen. Wer ist dagegen? – Das ist das Haus im Übrigen. – Enthaltungen? – Gibt es keine. Damit ist der Vorschlag abgelehnt.
Dann lasse ich über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und FDP – Federführung beim Finanzausschuss – abstimmen. Wer stimmt für diesen Vorschlag? – Gegenstimmen? – Bei Gegenstimmen der Grünen wurde der Überweisungsvorschlag vom Haus im Übrigen – Enthaltungen habe ich auch hier nicht gesehen – angenommen.
Dann kommen wir zu Tagesordnungspunkt 20 b und zu Zusatzpunkt 7. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/3175 und 19/4844 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heute zur Debatte stehenden Entwurf der Bundesregierung eines Geschäftsgeheimnisgesetzes wird das Recht der Geschäftsgeheimnisse in Deutschland erstmals kodifiziert. Anlass ist die Umsetzung einer vom Europäischen Parlament im April 2016 verabschiedeten Richtlinie, die vor dem Hintergrund der in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten sehr unterschiedlichen Regelungen einen europaweit einheitlichen Mindestschutz von Geschäftsgeheimnissen gewährleisten will.
In Deutschland ist das Recht zum Schutz der Geschäftsgeheimnisse bislang überwiegend richterrechtlich geprägt, sodass viele Einzelfragen umstritten und nicht abschließend geklärt sind. Das fängt etwa bei der Frage an, was überhaupt als Geschäftsgeheimnis geschützt sein soll, und hört bei Detailfragen des Prozessrechts auf.
Meine Damen und Herren, mit dem Entwurf eines Geschäftsgeheimnisgesetzes schaffen wir im Interesse aller Beteiligten klare und präzise Regeln. Dies liegt nicht nur im Interesse moderner, innovativer deutscher Unternehmen, sondern – lassen Sie mich das hier ausdrücklich sagen – gleichermaßen im Interesse von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Betriebsräten, Whistleblowern und Journalistinnen und Journalisten.
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Hierbei ist wichtig, das Zusammenspiel der einzelnen Regeln im Blick zu behalten. Der Entwurf folgt einer systematisch stimmigen Struktur. Er schafft damit Rechts- und Planungssicherheit für alle Beteiligten.
Der Entwurf benennt neben erlaubten Handlungen und Handlungsverboten auch zwingend anzuwendende Rechtfertigungsgründe. Zu diesen Rechtfertigungsgründen zählt explizit auch die Aufdeckung von Fehlverhalten im Rahmen des sogenannten Whistleblowing. Dies umfasst die Offenlegung von Verstößen gegen rechtliche Pflichten, wie zum Beispiel Steuerbetrug oder rechtswidrige Abgasmanipulationen bei Diesel-Pkws.
Anders als im Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen beschränken wir das zulässige Whistleblowing aber nicht auf bloße Rechtsverstöße. Wir beziehen auch Verhaltensweisen ein, die nicht gegen geltende Normen verstoßen, jedoch gemeinhin als unethisch angesehen werden.
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Beispielhaft möchte ich hier auf Kinderarbeit oder gesundheits- und umweltschädliche Produktionsbedingungen im Ausland verweisen.
Als Folge der Rechtfertigung entfällt nicht nur die Strafbarkeit von Whistleblowern; vielmehr bestehen auch keine zivilrechtlichen Ansprüche. Flankierend hierzu finden sich im Entwurf praxisgerecht ausgestaltete zivilprozessuale Regelungen. Diese dienen den Erfordernissen der Rechtsanwender und fanden folglich auch ganz überwiegend die Zustimmung des Bundesrates.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der bereits im Juni dieses Jahres abgelaufenen Umsetzungsfrist der Richtlinie setze ich auf zügige und konstruktive parlamentarische Beratungen. Darauf hoffe ich, und ich bitte um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist Stephan Brandner, AfD.
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Guten Morgen, meine Damen und Herren! Die Geisterstunde ist vorbei: 1 Uhr.
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Wir reden über zwei Teilaspekte dieses Tagesordnungspunktes: zum einen über den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Dazu hat der Parlamentarische Staatssekretär Lange gerade Ausführungen gemacht. Da positioniere ich mich jetzt nicht so deutlich wie zu dem versuchten Gesetzentwurf der Grünen. Den Gesetzentwurf der Bundesregierung schauen wir uns an und werden uns positionieren, wenn wir im Ausschuss darüber gesprochen haben.
Meine Damen und Herren, organisierte Denunziation ist ein Mittel von Diktaturen.
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Wer so etwas einsetzt, um Missliebige zu enttarnen und an den Pranger zu stellen, gibt viel über sein eigenes Demokratieverständnis preis. So oder so ähnlich soll Frau Barley sich gegenüber der „FAZ“ geäußert haben. Damit meinte sie freilich nicht den Gesetzentwurf der Grünen, der sich mit den Whistleblowern – früher nannte man solche Personen auch Petzen oder Spitzel – beschäftigt, sondern sie meinte Plattformen, die die AfD ins Leben gerufen hat, um Rechtsverstöße von Lehrern aufzudecken.
Frau Barley hat sich schon ganz gut positioniert, was Denunziation angeht. Damit ist eigentlich zu dem Gesetzentwurf der Grünen alles gesagt. Er öffnet nämlich, Frau Rottmann, Denunziantentum Tür und Tor.
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Er soll, blumig formuliert, Menschen, die sich dafür einsetzen, Informationen, die dem öffentlichen Interesse und dem Allgemeinwohl dienen, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, dabei unterstützen und sie vor Strafverfolgung und dienst- und arbeitsrechtlichen Konsequenzen schützen. – Oha! Was hat man davon zu halten? Abgesehen davon, dass das öffentliche Interesse und das Allgemeinwohl, das Sie da anführen, sehr auslegbare Begriffe sind, könnte man den Gesetzentwurf auch ein Spitzelfördergesetz nennen, meine Damen und Herren.
Es ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis unter dem Namen des Allgemeinwohls und dem Deckmantel des öffentlichen Interesses Prämien für das Anschwärzen und Verpetzen von Menschen mit unliebsamen politischen Meinungen gezahlt werden.
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Ich bin davon überzeugt, dass Frau Kahane und ihre Amadeu-Antonio-Stiftung bestimmt schon Pläne in diese Richtung haben, wie man bei diesem Spitzelfördergesetz tätig werden kann.
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Wir halten fest: Rechtsbrüche an Schulen zu erfassen, ist die Organisation offenen Denunziantentums. Rechtsbrüche in Unternehmen anzuzeigen, muss hingegen gesetzlich geregelt und gefördert werden. Meine Damen und Herren, dieses Messen mit zweierlei Maß ist mehr als unverständlich, aber ein Wesensmerkmal linker Politik. So ist das in Deutschland.
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Festzuhalten bleibt also: Diesen grünen Murksentwurf braucht kein Mensch. Denn die Willkürherrschaft der Unternehmen ist ein weiteres grünes Schreckgespenst, das sie durch Deutschland treiben. Typisch grüne Partei: eine Partei, die von der Angst lebt.
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Ohne Angst gäbe es diese Partei gar nicht. Wir denken zurück: Es gab das Baumsterben, den sauren Regen,
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drohende Atomkriege, giftige Lebensmittel, giftige Luft, fehlende Bienen, fehlende Insekten und jetzt die Angst vor Sanktionen, für Petzen und Anschwärzer. Meine Damen und Herren, das ist die Partei der Angst. Die drei Damen, die hier sitzen, sind die Reste der Partei der Angst in diesem Bundestag.
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Alles grüne heiße Luft. Mit anderen Worten: grüner Murks, ein Wesensmerkmal grüner Politik. Es versteht sich von selbst, dass wir diesen Gesetzentwurf ablehnen werden, egal was im Ausschuss dazu herauskommt.
Den Gesetzentwurf der Bundesregierung begleiten wir kritisch und natürlich so, wie wir es gewohnt sind, auch gründlich.
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– Schon Teil des Establishments geworden, genau. – Wir machen das ganz kreativ.
Auch wenn das so wäre, ist Ihre Redezeit zu Ende.
Herr Oppermann, ich bin fertig. – Die grüne Murksdebatte lehnen wir ab.
Ich bedanke mich und wünsche eine gute Nacht. Auf Wiedersehen.
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Nächste Rednerin ist die Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker für die Fraktion der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist 1 Uhr. Man könnte sagen, es ist ziemlich spät. Aber vielleicht ist das der beste Zeitpunkt, um über unser heutiges Thema zu sprechen. Denn es hat etwas mit Geheimnissen zu tun. Dazu passen die leeren Ränge hier vielleicht ganz gut.
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– Darauf können Sie lange warten, und da können Sie auch spitzeln, so viel Sie wollen. Ich würde sagen, das ist nicht nur eine Spezialität der Linken, sondern historisch gesehen gerade eine Spezialität von Rechten. Von daher sollten Sie da ganz schön vorsichtig sein, wem Sie Spitzelei vorwerfen.
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– Ja, von allen totalitären Systemen. Sie sollten mal in die Historie zurückschauen und sehen, in welche Linie Sie sich da einreihen.
Wir haben ein neues Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen, ein neues Stammgesetz, in dem auch Regeln des bisherigen UWG aufgehen. Vieles wird neu definiert bzw. standardisiert; es gibt Definitionen von Geschäftsgeheimnissen. Was ist zulässig, um an ein Geschäftsgeheimnis heranzukommen? Welche Maßnahmen gibt es, wenn Geschäftsgeheimnisse unbefugt verraten werden? Das reicht vom Rückruf über die Strafvorschriften bis hin zum Schadensersatz und dergleichen und auch zu besonderen Vorschriften im Zivilprozess.
Ein Blick auf diese Regeln zeigt, welches Bild dahintersteht. Da ist der innovative Unternehmer, der in Technik investiert und etwas entwickelt, der ein geheimes Rezept hat oder eine Kampagne plant, und auf der anderen Seite jemand, der das zum eigenen Nutzen verrät. Das ist das Bild, das dahintersteht, und ich glaube, es ist auch ganz klar, dass es sinnvoll ist, diese Richtlinie zu schaffen und europaweit ins Werk zu setzen.
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In der öffentlichen Diskussion geht es vornehmlich um einen anderen Fall. Da hat man eine ganz andere Situation vor Augen; da geht es um die Ausnahmen. Da hat man den Journalisten vor Augen, der investigativ tätig ist, oder den Mitarbeiter, der mitbekommt, dass es einen Missstand gibt oder vielleicht sogar eine Gefahr für andere droht. Dabei geht es um die Frage, wie weit diese Ausnahme reicht.
Es gibt Bedenken der Journalisten, die sich ausgebremst fühlen. Das werden wir sicherlich prüfen. Denn die Richtlinie sagt ganz klar, dass der Schutz von Journalisten wie auch von Arbeitnehmern nicht gefährdet sein soll. Wenn wir an Fälle wie Gammelfleisch, Pflegeskandal oder Steuerbetrug denken, dann macht das auch Sinn.
Aber wir haben noch eine dritte Konstellation, und zwar zum einen den Unternehmer, der sich rechtmäßig verhält, und zum anderen jemanden, dem trotzdem etwas nicht gefällt, der andere Maßstäbe hat und dem etwas gegen den Strich geht. Da ist die Frage, ob das unter die Ausnahmen fällt und inwieweit wir das letztendlich mittragen und inwieweit das unseren Prüfungen standhält.
Denn die Ausnahmen, die im Gesetz vorgesehen sind, gehen sehr, sehr weit. Da reicht schon das allgemeine öffentliche Interesse oder die Aufdeckung eines sonstigen Fehlverhaltens. Da müssen wir genau hinsehen: Gehören dazu auch moralische Verfehlungen? Oder reicht es zum Beispiel, wenn ein Arbeitgeber viele geringfügig Beschäftigte hat und jemand anders sagt: „Es ist nicht in Ordnung, auf diese Art und Weise Sozialabgaben zu sparen“? Reicht es, wenn Arbeitnehmer zum Beispiel im Ausland nicht nach sozialen Standards und Umweltstandards arbeiten, die bei uns selbstverständlich wären? Reicht das, um etwas zu verraten und damit möglicherweise Schaden anzurichten? Genügt die Offenlegung eines Geheimnisses nach der Charta der Grundrechte? Die hat auch nicht immer jeder neben sich auf dem Schreibtisch liegen, geschweige denn den Kommentar dazu. Ich glaube, es wird noch auf uns zukommen, das deutlich zu konkretisieren und fassbarer zu machen, also die etwas abstrakte Sprache der Richtlinie zu übersetzen.
Ein weiterer wichtiger Punkt: Mit Blick auf die Rechtsfolgen ist auffällig, dass in der Richtlinie davon die Rede ist, dass die Ausnahmen gelten, auch wenn ein Antrag auf die in der Richtlinie genannten Maßnahmen abgelehnt werden soll. Was das Gesetz aber daraus macht, ist etwas anderes. Unser Gesetzentwurf schlägt vor, dass unter der Annahme dieser Ausnahmen das Verraten eines Geheimnisses gerechtfertigt sein soll. Das geht weit über das hinaus, was in der Richtlinie vorgesehen ist. Das würde für die gesamte Rechtsordnung gelten, und das müssen wir uns noch einmal sehr genau anschauen. Ich denke, dass wir auch da zu Konkretisierungen und auch zu Einschränkungen kommen müssen. Denn dass jede weitreichende Schädigung nur deshalb gerechtfertigt sein soll, weil jemand etwas mit guter Absicht verraten hat, dürfte wohl über das Ziel hinausschießen.
Diese verschiedenen Konstellationen müssen wir uns genauer anschauen und vergleichen. Ich glaube, da werden wir noch einiges diskutieren und prüfen müssen, aber dann zu einem guten Ergebnis kommen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist Roman Müller-Böhm für die FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Guten Morgen erst einmal! Worum geht es hier so spät in der Nacht? Es geht einerseits um das verständliche Schutzinteresse von Geschäftsgeheimnissen, welche einen elementaren Bestandteil für unsere deutsche Wirtschaft und für den fairen Wettbewerb miteinander darstellen. Es ist Aufgabe des Rechtsstaates, die unbefugte Weitergabe von schützenswerten Informationen dann auch zu sanktionieren.
Es geht aber andererseits auch um die Pressefreiheit und insbesondere um den Informantenschutz, welche auch ein elementarer Bestandteil einer unabhängigen Berichterstattung sind. Kollidieren diese beiden staatlichen Aufgaben, dann ist es unsere Aufgabe als Gesetzgeber, da für einen angemessenen Ausgleich zu sorgen. Und direkt vorweg – das zeigen auch die Stellungnahmen der großen Akteure zu dem Bereich –: Das ist der Bundesregierung nicht gelungen.
Sie schaffen größtenteils gute Regelungen zum Schutz der Geschäftsgeheimnisse, aber Sie gefährden doch sehr den Schutz von Informanten.
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Wir Freien Demokraten sind besorgt, dass Ihr Gesetz in seiner jetzigen Fassung zu einem Ungleichgewicht zulasten der freien Presse führt. Das können wir nicht akzeptieren.
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Im Gegensatz zum materiellen Eigentum ist doch ganz klar, dass der Schutz von Geschäftsgeheimnissen deutlich schwieriger zu ermöglichen ist. Nicht geringer ist jedoch seine Bedeutung für unsere deutschen Unternehmen und vor allem für die kleinen und mittelständischen Unternehmen.
Für mich stellt sich dann vorrangig die Frage: Was soll denn konkret ein Geschäftsgeheimnis sein? Ihr Gesetzentwurf liefert dazu leider keine ausreichenden und präzisen Antworten. Die Folge ist dann, dass der Inhaber von Informationen nahezu willkürlich entscheiden kann, was ein Geschäftsgeheimnis ist. In Kombination mit den Auskunftsansprüchen – die wurden gerade schon teilweise angesprochen – öffnen wir damit die Büchse der Pandora und behindern die Arbeit aller investigativen Journalisten.
Machen wir uns konkret ans Eingemachte. Es geht um § 8 Absatz 1 des Gesetzentwurfs: Der Inhaber des Geschäftsgeheimnisses kann vom Rechtsverletzer – das können in diesem Fall die Journalisten sein – konkret die Person, von der er das Geschäftsgeheimnis erlangt hat, benannt bekommen. Das geht auch für uns auf gar keinen Fall. Jedem Pressevertreter tritt hierbei der Angstschweiß auf die Stirn, und der Informantenschutz, so wie wir ihn kennen, wird damit komplett ausgehöhlt.
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Dabei ist dieser ein Bestandteil der Pressefreiheit, meine Damen und Herren, und die gilt es zu bewahren.
Wir müssen die Begriffsbestimmung des Geschäftsgeheimnisses konkretisieren und den Informantenschutz sicher gewährleisten. Ihre Definition des Geschäftsgeheimnisses in § 2 des Gesetzentwurfs muss von einer Oder- in eine Und-Definition verschärft werden. Außerdem muss hier das berechtigte Interesse des Inhabers an Geheimhaltung erweitert werden. Diese Idee findet sich übrigens auch schon im Erwägungsgrund 14 der Richtlinie wieder.
§ 8 Absatz 1 Nummer 4 des Gesetzentwurfs muss ebenfalls angepasst werden. Auch bei den Rechtfertigungsgründen nach § 5 besteht noch Änderungsbedarf.
Dieses Thema ist uns allen wichtig. Spielen wir also nicht Unternehmen gegen die Presse aus. Der Schutz der Geschäftsgeheimnisse ist von zentraler Bedeutung für unsere Wirtschaft. Aber er darf sicherlich auch nicht ausschließlich zulasten der Pressefreiheit bestehen.
Vielen Dank.
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Okay. – Nächster Redner ist Niema Movassat für die Fraktion Die Linke.
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Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie von der Bundesregierung wollen Whistleblower weiterhin im Stich lassen und gleichzeitig die Geschäftsgeheimnisse von Unternehmen noch stärker schützen. Dem Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, fehlt jede Balance. Wir als Linke werden ihn natürlich ablehnen.
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Worum geht es? Sie haben ein Umsetzungsgesetz für die EU-Richtlinie zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen von Unternehmen vorgelegt. Man hätte die Richtlinie aus unserer Sicht zum Anlass nehmen müssen, um endlich ein Whistleblower-Schutzgesetz vorzulegen. Denn wir müssen endlich die mutigen Menschen schützen, die unter Gefahr für ihre berufliche Existenz Missstände wie Gammelfleischskandale, Steuerbetrug durch Banken oder arbeitsrechtliche Probleme in den Betrieben öffentlich machen. Whistleblower leisten in diesem Land einen Beitrag zum Gemeinwohl.
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Aber schon der Titel Ihres Gesetzentwurfs „zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen“ zeigt: Ihnen sind private Unternehmensinteressen wichtiger als die berechtigten Interessen von Whistleblowern. Ihre Definition, was ein Geschäftsgeheimnis ist, könnte kaum weitergehend sein. Ein Geschäftsgeheimnis sei eine Information, die von wirtschaftlichem Wert sei, heißt es in Ihrem Gesetzentwurf. Welche Unternehmensinformation kann nach Ansicht eines kreativen Juristen ohne wirtschaftlichen Wert sein? Nach Ihrer Definition ist fast alles ein Geschäftsgeheimnis, vermutlich sogar die Menge des Klopapiers, die ein Konzern bestellt.
Zwar könnte man meinen, durch § 5 würden die Whistleblower ein wenig geschützt werden. Doch die Voraussetzungen für rechtmäßiges Whistleblowing sind völlig unbestimmt. Denn eine gerechtfertigte Veröffentlichung von Informationen läge etwa nur dann vor, wenn der Whistleblower „in der Absicht handelt, das allgemeine öffentliche Interesse zu schützen“. Es ist nicht klar, was unter „öffentliches Interesse“ fällt. Für Arbeitnehmer bedeutet das ein hohes Risiko: Decken sie einen Missstand auf, können sie nicht im Ansatz voraussehen, ob das Gericht ein „öffentliches Interesse“ bejaht. Das hängt von der Interpretation ab, und von der hängt es auch ab, ob man sich strafbar gemacht hat. Wie soll man sich da noch trauen, auf Missstände hinzuweisen, wenn man am Ende dafür im Knast landen kann?
Überhaupt führen Sie mit diesem Gesetz eine dem Strafrecht zu Recht unbekannte Kategorie ein: die Absicht bzw. die Gesinnung des Handelnden; denn wer gerechtfertigterweise Geheimnisse eines Unternehmens herausgeben will, muss in guter Absicht handeln. Das ist doch absurd. Es muss doch darauf ankommen, ob der Whistleblower für die Öffentlichkeit objektiv einen Dienst zur Aufdeckung eines Skandals leistet.
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Übrigens nimmt auch die EU-Richtlinie diese Gesinnungsprüfung nicht vor. Also raus damit aus dem Gesetz!
Whistleblower erheben die Stimme, wo andere schweigen. Eine demokratische Gesellschaft braucht die Kultur des Hinschauens. Die Bundesregierung schützt leider einseitig die Unternehmensinteressen. Wir sagen dazu Nein.
Danke für die Aufmerksamkeit.
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Nächste Rednerin ist Dr. Manuela Rottmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Ja, ich bin noch da. – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Damen und Herren von der AfD, dass sich Ihr Redner weigert, in dieser Debatte seine Rede zu Protokoll zu geben, und dann nach seiner Rede nach Hause geht, ist etwas, wofür Sie sich schämen sollten.
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Ich will Ihnen noch etwas sagen, was Sie ihm bitte dringend ausrichten sollten: Ich möchte von Ihnen wissen, ob Ihnen der Name Brigitte Heinisch etwas sagt und ob Sie sie kennen. Brigitte Heinisch ist eine Berliner Pflegekraft. Sie hat im Jahr 2004, nachdem sie vielfach erfolglos auf Missstände in ihrer Pflegeeinrichtung hingewiesen hat, eine Strafanzeige gestellt. Ihr wurde dann fristlos gekündigt. Sie musste bis zum Europäischen Gerichtshof gehen, damit 2011 diese Kündigung, die ausgesprochen wurde, obwohl sie den Pflegebedürftigen in ihrer Einrichtung einen großen Dienst erwiesen hat, zurückgenommen wurde. Diese anständige Frau hat Ihr Redner gerade als Denunziatorin bezeichnet. Schämen Sie sich!
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Ich komme zurück zum Thema. Wir haben den Rechtsstandort Deutschland nach vorne zu bringen. Dazu gehören für mich verschiedene Elemente. Dazu gehört für mich der kollektive Rechtsschutz, dazu gehört der Pakt für den Rechtsstaat – die Koalition wird wieder sagen, dass daraus nichts wird –, dazu gehören Unternehmensaktionen sowie Whistleblower- und Hinweisgeberschutz.
Wir hören immer großes Lob für den Whistleblower. Aber es passiert nichts. Die Realität ist, dass sich die Initiativen der Bundesregierung auf die Umsetzung dieser Richtlinie beschränken, die aber nur eine punktuelle Lösung ist, die zum Beispiel Brigitte Heinisch nichts genützt hätte, weil sie nicht für das Arbeitsrecht gilt. Wir kommen also nicht voran.
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Sie setzen diese Richtlinie sogar nur halb um. Statt einer Ausnahme wie in der Richtlinie soll es eine Rechtfertigung sein. Ganz offensichtlich ist es so – ich habe Ihrer Rede zugehört, Herr Lange –, dass es die Zustimmung der Union noch nicht einmal für diesen schwachen und dünnen Entwurf gibt. Er wird wahrscheinlich noch weiter ausgebeint. Was wir eigentlich brauchen, ist ein umfassender Schutz im Dienstrecht, im Arbeitsrecht und im Strafrecht. Was wir bekommen, ist eine punktuelle Regelung. Ich kann Ihnen sagen: Diese punktuelle Regelung hätte Brigitte Heinisch nichts genutzt. Sie nützt niemandem etwas, der Hinweise auf Umweltverschmutzungen oder andere Vergehen gibt.
Seit der 16. Wahlperiode liegt Ihnen unser Entwurf vor. Seit der 16. Wahlperiode höre ich viel Lob für den Hinweisgeber. Es passiert aber nichts.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Abgeordnete Martin Rabanus für die Fraktion der SPD.
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
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Frau Kollegin Haßelmann, wir haben hier eine Debatte. Jetzt hat das Wort Martin Rabanus und nicht die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Es ist tatsächlich so, dass das Verhalten des Kollegen Brandners gegen ihn und auch gegen die AfD insgesamt spricht. So richtig überraschend ist es ja nicht, dass sich diese Truppe nicht parlamentarisch verhalten kann, sondern hier eher auf Klamauk gebürstet ist.
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Es ist so, dass wir hier zu später Stunde über einen Gesetzentwurf sprechen, der im Vorfeld dieser ersten Lesung schon eine ganze Reihe von Verbesserungen erfahren hat. Die Diskussion ist ja nicht neu. Ich finde auch, das weist in eine richtige Richtung. Denn auch für die investigativ arbeitenden Journalisten, die hier schon mehrfach erwähnt worden sind, sind schon Verbesserungen im Vergleich zum Referentenentwurf eingearbeitet.
So berücksichtigt dieser Gesetzentwurf die Philosophie, dass Geschäftsgeheimnisse zu schützen sind. Selbstverständlich! Was denn sonst? Aber sie werden natürlich nicht absolut gesetzt, sondern sie müssen im Einzelfall hinter den Belangen des Allgemeinwohls zurücktreten. Das ist im Gesetzentwurf so angelegt, wenn dort steht – ich darf zitieren –:
Die Erlangung, die Nutzung oder die Offenlegung eines Geschäftsgeheimnisses ist gerechtfertigt, wenn dies zum Schutz eines berechtigten Interesses erfolgt, insbesondere ... zur Ausübung des Rechts der freien Meinungsäußerung ... einschließlich der Achtung der Freiheit und der Pluralität der Medien.
Das ist gut, und es ist richtig, dass das so angelegt ist.
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Aber natürlich verschließen wir nicht die Augen vor berechtigten Hinweisen aus der Arbeitnehmerschaft – das ist schon adressiert worden –, aber auch von Medien und von Medienverbänden. Natürlich wird das Beratungsgegenstand im weiteren Verfahren sein.
In den wenigen Sekunden meiner verbleibenden Redezeit will ich noch zwei Punkte benennen. Der erste Punkt ist die Konstruktion Rechtfertigungsgründe auf der einen Seite und Ausnahmetatbestände auf der anderen Seite. Der zweite Punkt ist die erweiterte Auskunftsverpflichtung, die adressiert worden ist. Denn es ist klar: Wenn ein Journalist einen Skandal aufdecken will, dann wird das nur mittels interner Informationen gehen, und die Informanten sind entsprechend zu schützen.
Ob das gelingt, wird die weitere parlamentarische Beratung ergeben. Wir werden – da bin ich mir nach der heutigen ersten Lesung relativ sicher – hier einen Anwendungsfall des Struck’schen Gesetzes erleben, demzufolge kein Gesetz den Deutschen Bundestag so verlässt, wie es hineingekommen ist. Es ist ein gutes Gesetz, das möglicherweise noch verbesserungsfähig ist.
Herzlichen Dank.
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Letzter Redner in dieser Debatte ist Alexander Hoffmann für die CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man nach einem solchen Tag die Gelegenheit hat, das Schlusswort zu sprechen vor vollem Haus, dann eignet sich das immer gut, um zusammenzufassen.
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Ich will zunächst einmal herausarbeiten, was uns in diesem Haus eint.
Vorher möchte ich schon feststellen: Ich wundere mich darüber, dass der Kollege Brandner nicht mehr anwesend ist, weil er doch unbedingt diese Debatte führen wollte. Außerdem fand ich das, was er in seinen drei Minuten Redezeit abgeliefert hat, ziemlich dünn.
Aber der Rest von uns – das kann man sagen – ist sich einig. Wir wollen einen effektiven Schutz der Hinweisgeber. Wir wollen auch nicht, dass Hinweisgeber in die Ecke der Denunzianten gestellt werden. Wenn jemand einen Pflegeskandal oder einen Gammelfleischskandal aufdeckt und damit der Allgemeinheit einen Dienst tut, sollte seine Existenz nicht bedroht sein.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube auch, dass wir in dieser Debatte nicht gleich den Eindruck erwecken dürfen, dass wir überall im Land in jeder Behörde, in jedem Unternehmen Missstände haben und dass diese Missstände nur durch Hinweisgeber aufgedeckt werden können. Mir ist das Regel-Ausnahme-Verhältnis wichtig. Die Regel ist – ich glaube, das kann man sagen –, dass wir viele gute Unternehmen und viele gute Betriebe in der Wirtschaft unseres Landes haben wie auch Verwaltungen, die mittlerweile zahlreiche freiwillige, eigenverantwortliche Mechanismen und Strukturen entwickelt haben, um interne Missstände aufzuarbeiten und zu beseitigen.
Wenn ich die heutige Wortmeldung der Linken analysiere, dann muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen: Das ist ja noch viel schlimmer als das, was wir in der letzten Legislaturperiode erlebt haben.
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Ich glaube, dass wir da, Frau Kollegin Werner, die Diskussion ein bisschen vom Kopf auf die Füße stellen müssen. Wir müssen uns die Frage stellen, was wir eigentlich regeln müssen.
Heute sind schon Beispiele genannt worden. Interessant ist, dass all diese Beispiele – auch das Beispiel der Kollegin Rottmann von der Pflegekraft – in bestimmten Urteilen schon Niederschlag fanden. Das sind am Ende des Tages Abwägungsentscheidungen, wo das Geheimhaltungsinteresse des Betriebes abgewogen wird gegenüber dem Veröffentlichungs- und Aufklärungsinteresse der Allgemeinheit. Im Fall der Pflegekraft ist es so gewesen, dass es eine Vereinbarung zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegeben hat mit einer Abfindung von fast 90 000 Euro.
Die spannende Frage ist doch: Gelingt es uns, das, was sich in einer sehr dezidierten und ausgewogenen Rechtsprechung zeigt, jetzt in Gesetzesform zu gießen?
Ich will am Ende noch einen kleinen Schwenk auf die zwei Vorlagen machen, die uns aktuell vorliegen. Zum einen geht es um die Umsetzung der Richtlinie. Dazu will ich Ihnen sagen, dass ich bei der ersten Lektüre schon sehr früh den Eindruck gewonnen habe, dass die Umsetzung viel zu weitreichend ist. Denn wir schießen weit über das hinaus, was wir eigentlich brauchen. Es wird die verpflichtende Schaffung von internen Meldekanälen vorgesehen. Ich glaube, dass wir am Ende des Tages mit Blick auf das Regel-Ausnahme-Verhältnis, das ich vorhin schon beschrieben habe, einen Bürokratieaufwand für Unternehmen schaffen, der an der Stelle nicht gerechtfertigt ist.
Ich will am Ende noch ein paar Sätze zum Gesetzentwurf der Grünen sagen. Es gab ihn in ähnlicher Form schon ein paarmal. Sie eröffnen da viel zu früh die Möglichkeit, dass man sich unmittelbar an die Presse wenden kann, und beachten auch da den Vorrang der internen Klärung, wie es der BGH und der EuGH vorgegeben haben, viel zu wenig. Deswegen glauben wir, dass das der falsche Weg ist.
Das Ziel bleibt dasselbe. Es gibt noch viel Beratungsbedarf. Ich freue mich auf die Beratungen. Jetzt wünsche ich Ihnen eine gute Nacht.
Danke.
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Dieser Wunsch ist zwar verständlich, aber ihn zu äußern, ist das ganz vornehme Recht des Präsidenten am Ende der Sitzung.
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Wir müssen noch über die Überweisungen abstimmen. Die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 19/4724 und 19/4558 sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 19/4558 soll federführend an den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz überwiesen werden. – Da ich keine anderen Vorschläge sehe, ist das so beschlossen.
Damit sind wir am Ende der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf heute, Freitag, den 12. Oktober 2018, 9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Feierabend und eine geruhsame Nacht, die höchstens 7,5 Stunden dauert.
Die Sitzung ist geschlossen.
(Schluss: 1.28 Uhr)