Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/28/2018

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Das Grundgesetz ist sorgfältig beraten. Man sollte es nicht ununterbrochen ändern. Die Finanzverfassung hat einen hohen Stellenwert in Deutschland und ist sorgfältig abgewogen und gewachsen. Auch die sollte nicht ununterbrochen geändert werden. Wenn man sich also daranmacht, Verfassungsänderungen vorzunehmen und insbesondere die Finanzverfassung in unserem Land zu ändern, dann muss man dafür gute Gründe haben. Ich glaube, dass die drei jetzt von der Bundesregierung im Wesentlichen vorgeschlagenen Verfassungsänderungen gute Gründe haben und dass wir sie auch vornehmen sollten. Das erste große Thema, mit dem wir uns beschäftigen wollen, ist: Wie können wir den Wohnungsbau in Deutschland und insbesondere den sozialen Wohnungsbau voranbringen? Wir haben eine Zeit lang in Deutschland geglaubt, dass es vertretbar wäre, wenn sich der Bund irgendwann aus der Förderung des sozialen Wohnungsbaus verabschiedet. Das ist Gegenstand der Verfassungsänderung gewesen, die dazu führt, dass der Bund 2019 die Kompetenz verliert, für Mittel zu sorgen, die die Länder und die Gemeinden bei der Förderung des sozialen Wohnungsbaus einsetzen können. Heute wissen wir: Unverändert ist die Notwendigkeit da, geförderte Wohnungen herzustellen, und unverändert ist es notwendig, dass dabei Gemeinden, Länder und der Bund zusammenhalten. Deshalb schlagen wir heute hier vor, das Grundgesetz so zu ändern, dass auch in Zukunft, in den 20er-Jahren sozialer Wohnungsbau vom Bund unterstützt werden kann. ({0}) Warum wollen wir das? Wenn man sich genau umschaut, dann stellt man fest: Ein großer Teil der Bürgerinnen und Bürger unserer Städte ist auf geförderte Wohnungen angewiesen. Die Einkommensverhältnisse in Deutschland sind ganz anders, als es manchmal so daherkommt. Ungefähr die Hälfte aller Haushalte in diesen Städten hat schon immer eine Berechtigung, eine geförderte Wohnung zu beziehen. Nicht alle müssen das tun, zum Beispiel weil sie schon lange in einer billigen Wohnung wohnen und das Mietrecht sie schützt oder weil sie in einer Genossenschaftswohnung oder einer kommunalen Wohnung wohnen, was sie ebenfalls vor allzu großem Preisdruck schützt. Mancher hat sich auch mühsam ein kleines Haus oder eine Eigentumswohnung abgespart und ist deshalb nicht darauf angewiesen. Aber wissen müssen wir immer: Theoretisch ist es von der Einkommenslage her so, dass etwa die Hälfte aller Haushalte einen Anspruch auf eine solche Wohnung hat, und das macht deutlich, welche Dimensionen der soziale Wohnungsbau in Deutschland wieder haben muss. Wir müssen zurückkehren zu besseren Zeiten mit mehr sozialem Wohnungsbau, und darum geht es bei dieser Verfassungsänderung. ({1}) Eines ist doch ganz klar – das in die Richtung derer, die glauben, das löse sich marktwirtschaftlich ganz von alleine –: Eine Neubauwohnung in einer mittleren Stadt mit nicht allzu großem Preisdruck kann in Deutschland nicht so errichtet werden, dass sie weniger als 10 Euro netto kalt pro Quadratmeter kostet. Manche müssen noch viel mehr aufwenden, damit sich das wirtschaftlich rechnet. Und ich rede hier nicht von Spekulanten. Ich rede von Unternehmern, die Häuser bauen und dabei gut rechnen. Ein erheblicher Teil der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes kann sich solche Mieten nicht leisten. ({2}) Wir müssen es deshalb möglich machen, dass es auch neugebaute Wohnungen für knapp über 6 Euro oder für 8 Euro pro Quadratmeter gibt, und das geht nur mit öffentlicher Förderung. ({3}) Vielleicht noch ein Hinweis dazu, was sich verändert hat: Die Zahl der Sozialwohnungen ist massiv gesunken. Im Jahr 2000 waren es 2,6 Millionen. Jetzt sind es weniger als 1,2 Millionen. Man sieht: Die Zahl geht ständig zurück, und deshalb müssen wir eine Wende einleiten. Das zweite große Thema, das uns hier zusammenführt und für das wir eine Verfassungsänderung vorbereiten, ist, dass der Bund die Länder bei der Bildung unterstützen kann – es geht hier um Infrastruktur; wir wissen das. Das ist notwendig, damit wir sicherstellen können, dass überall in Deutschland unter Berücksichtigung gleichwertiger Lebensverhältnisse erstklassige Bildungsangebote zur Verfügung stehen. ({4}) Es wird ja gern darüber geredet, was so alles notwendig wäre. Wir haben uns jetzt darangemacht, für gleichwertige Lebensverhältnisse viele Vorschläge zu sammeln und sie in die Tat umzusetzen. Ein Punkt ist immer ganz zentral, nämlich dass man, egal wo man aufwächst, die besten Bedingungen vorfindet. Deshalb ist es richtig, dass der Bund, die Gemeinden und die Länder zusammenhalten und der Bund auch in Zukunft die Möglichkeit hat, die Länder hier zu unterstützen. ({5}) Wenn man allerdings Meinungsumfragen glauben darf, sind die Bürger eher der Meinung, dass die föderale Verfassung nicht ganz das ist, was sie sich selber vorstellen in dieser Frage – anders als ich übrigens. Ich glaube, dass es gut ist, dass die Länder für die Bildung zuständig sind. Aber weil das ja immer diskutiert wird, will ich den Skeptikern eines sagen: Länder und Gemeinden geben für Bildung etwa 130 Milliarden Euro aus. Wenn wir, wie es jetzt in der Finanzplanung vorgesehen ist, in dieser Legislaturperiode etwa 5,5 Milliarden Euro an Bundesmitteln einsetzen, dann muss man sich schon sehr bemühen, darin eine Gefährdung des Föderalismus zu sehen. Es ist nur ein kleiner Beitrag zu einer ganz, ganz großen Sache. ({6}) Deshalb noch einmal: Was wir hier machen, ist ein Zusammenhalten von Bund, Ländern und Gemeinden. Es ist keine Veränderung der föderalen Zuständigkeiten. Die Länder sind diejenigen, die für die Bildung zuständig sind. Das halte ich für richtig. Wir müssen sie aber unterstützen, und zwar im Sinne der jungen Leute, die bei uns aufwachsen. ({7}) Die dritte substanzielle Veränderung, die wir Ihnen hier vorschlagen, ist, dass wir es möglich machen, den öffentlichen Personennahverkehr in den Ballungsräumen und ihrem Umland besser und mehr zu fördern, als das in den letzten Jahrzehnten der Fall gewesen ist. ({8}) Man muss sich ja fragen, warum ein Land, das ganz vornean war, als die ersten schienengebundenen Nahverkehrssysteme etabliert wurden, und das sehr stolz darauf war und Städte hat, die das heute noch in ihrer Geschichte erzählen, jetzt so weit hinten liegt, wenn es darum geht, Metrosysteme auszubauen, S- und U‑Bahn, wie wir sie hier nennen. ({9}) Wenn man sich einmal in Europa und in der Welt umguckt, stellt man fest, dass es da massive, große Ausbauprogramme gibt, die eine wirklich wichtige Rolle für die Stadtentwicklung und die Zukunft der Länder spielen. Gerade hören wir immer wieder mal Zwischenberichte über den großen Plan für Paris. Da werden 200 Kilometer neue Metrostrecken geschaffen, allein für diese eine – zugegebenermaßen große – Stadt. Wenn man das mit dem gesamten Ausbauvorhaben in Deutschland vergleicht, dann sollten wir ein bisschen bescheiden beiseitetreten. Deshalb ist es aus meiner Sicht absolut notwendig, dass der Bund einen Beitrag dazu leisten kann, dass diese Strukturen, die den Nahverkehr und auch das Klima verbessern, wieder mehr gefördert werden. ({10}) In all diesen Ländern geschieht das nämlich. Keiner von uns käme auf die Idee, zu glauben, dass Investitionen in Bundesautobahnen und Bundesstraßen etwas sind, was die Länder und Kommunen alleine stemmen könnten. Wir gehen aber gegenwärtig davon aus – so ist das organisiert –, dass eine Kommune die Investitionen in ihre Nahverkehrssysteme, deren Dimension mit der von Autobahnen vergleichbar ist, alleine stemmen kann. Das war nie richtig. Deshalb ist es wichtig, dass wir hier eine Korrektur vornehmen. Mit der Verfassungsänderung, die wir Ihnen hier vorschlagen, wollen wir gleichzeitig ermöglichen, dass wir den Betrag, den der Bund für den Ausbau dieser Systeme zur Verfügung stellt und der seit Jahrzehnten bei 333 Millionen Euro liegt, auf eine 1 Milliarde Euro anheben ({11}) und dann dynamisieren. Das ist ein Bundesbeitrag zum Ausbau der Verbindungssysteme in den großen Städten und ein ganz wichtiger Beitrag dazu, dem Klimawandel zu begegnen. ({12}) In einer Zeit, in der alle darüber diskutieren, wie wir vermeiden können, dass es Fahrverbote für Individualfahrzeuge gibt, ist es doch ein gutes Zeichen, dass wir jetzt mehr Geld investieren wollen in das, was an Nahverkehrsmöglichkeiten existiert. Ich bitte um Ihre Unterstützung. Schönen Dank. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Dr. Götz ­Frömming, AfD. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Bundesminister Scholz, Sie haben vorhin gesagt, 5 Milliarden Euro seien noch vergleichsweise wenig. Da haben Sie recht. Bei über 30 000 Schulen im Lande kann man sich ausrechnen, wie viel davon vor Ort ankommt. Man könnte das Argument natürlich auch umdrehen und fragen, warum wir es nicht gleich ganz sein lassen und diesen Bereich den Ländern überlassen. Ich will Ihnen sagen, warum Sie es nicht sein lassen: Mit diesem Finanzbetrag, sei er auch so klein, will sich der Bund natürlich Kontrollrechte sichern. Aber dazu gleich mehr. Lassen Sie mich mit Erlaubnis des Präsidenten mit einem kurzen Zitat beginnen, das uns direkt zum Thema führen wird: Dass alles besser geregelt werden kann, wenn es in Berlin entschieden wird, ist eine Wahrnehmung aus Berliner Perspektive. Die Herstellung von Bildungsgerechtigkeit ist … keine Frage zentraler Steuerung. … Wenn es einzelnen Ländern an finanziellen Mitteln fehlt, muss die Mitteilverteilung im Rahmen der Bund-Länder-Finanzbeziehungen geprüft und ggf. geändert, aber nicht die einzelstaatliche Bildungsverantwortung aufgegeben werden. ({0}) So weit – schade, dass die CDU nicht klatscht – der hessische Kultusminister Professor Alexander Lorz, CDU, nein, nicht zum vorliegenden Gesetzentwurf, sondern schon in der „FAZ“ vom 6. Oktober 2016. Es gibt also, meine Damen und Herren von der CDU, vernünftige Leute bei Ihnen. Das macht Hoffnung auf die Zeit nach Merkel. ({1}) Mit diesem Gesetzentwurf will sich der Bund mehr Einflussmöglichkeiten in den Bereichen Bildung, Wohnungs- und Straßenbau verschaffen. Um den Ländern die Zustimmung zu erleichtern, sich in diesen Bereichen Stück für Stück an die Zügel des Bundes legen zu lassen – das ist heute sicherlich nur der Anfang –, soll der jeweilige „Zügel“ vergoldet werden. Im Bereich der Bildung werden – wir haben es gehört – fürs Erste bis zu 5 Milliarden Euro versprochen. Nun liegt es in der Natur der Sache, dass die Länder und Kommunen zwar gerne mehr Geld hätten, sich aber nicht oder nur ungerne an den Zügel legen lassen wollen. Der Bund wiederum will sich mit der Vergabe von Steuermitteln ein Mitspracherecht erkaufen und den Ländern vorschreiben, was sie mit dem Geld machen sollen, weil er ihnen nicht zutraut, das Richtige zu tun. Mit Verlaub, meine Damen und Herren, das ist nicht souverän, das ist Bierzeltpolitik nach dem Motto: Wir haben die Musik bezahlt und bestimmen auch, was gespielt wird, ob es dem Publikum nun gefällt oder nicht. ({2}) Die vorliegende Stellungnahme des Bundesrates zu diesem Gesetzentwurf ist sehr aufschlussreich. Mich wundert nicht, dass sie eben verschwiegen wurde; denn daraus wird ersichtlich, dass die Länder schon verstanden haben, wohin die Reise gehen soll. Merkwürdigerweise beginnt die Stellungnahme des Bundesrates mit einer vom Gesetzentwurf gar nicht berührten Kritik der Förderprogramme zur Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes. Die Länder beklagen, dass in den zurückliegenden Jahren „Bundesmittel nicht in Anspruch“ genommen werden konnten. Der Grund dafür dürfte in der komplizierten Verfahrensgestaltung und letztlich in der nicht klar gegliederten Aufgabenverteilung und Verflechtung zwischen Bund und Ländern zu suchen sein. 2006 hat man ja versucht, die Zuständigkeiten zu entflechten. Jetzt geht die Reise wieder in die andere Richtung. Des Weiteren beklagen die Länder in ihrer Stellungnahme die ausufernden Sozialausgaben, die ihnen die Luft zum Atmen nehmen. Wörtlich ist von einem „Teufelskreis aus Haushaltsproblemen, schwindenden Handlungsspielräumen und verfallender Infrastruktur“ die Rede. Statt diese zentralen Probleme anzugehen, welche natürlich auch mit der völlig verfehlten Einwanderungs- und Asylpolitik zusammenhängen, wollen Sie sich alle gemeinsam hier im Hause mit dem Wohlfühlthema Digitalisierung schmücken. Meine Damen und Herren, die AfD hat das nicht nötig und wird sich an solchen Spielchen nicht beteiligen. ({3}) Völlig zu Recht beklagt der Bundesrat, dass dieses Gesetzesvorhaben in die Unabhängigkeit der Haushaltswirtschaft der Länder gemäß Artikel 109 Absatz 1 Grundgesetz eingreift und der Bund „Steuerungs- und Kontrollrechte auf die konkrete Erfüllung von Länderaufgaben gewinnt“. Die „elementare Berücksichtigung länderspezifischer oder regionaler Besonderheiten“ wäre nicht mehr gegeben, so der Bundesrat in seiner Stellungnahme. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Wahrung der föderalen Struktur unseres Staates ist ein hohes Gut. Sie genießt nicht umsonst einen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz. Eine klare Verantwortungsteilung zwischen Bund und Ländern, die sich als Partner auf Augenhöhe gegenüberstehen sollten, gehört dazu. Die Festlegung „weitgehender Berichts- und Kontrollrechte“, die der Bund mit diesem Gesetzentwurf anstrebt, würde die vertrauensvolle Kooperation zwischen Bund, Ländern und Kommunen schwer beeinträchtigen. ({4}) Der verfassungsrechtliche Makel wird auch nicht besser, wenn diese Kontrollfunktion für einen an sich guten Zweck wie die Digitalisierung oder den sozialen Wohnungsbau ausgeübt werden soll. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf ist inhaltlich unausgegoren und verfassungsrechtlich problematisch. Dass er den Grünen und der FDP nicht weit genug geht, lässt tief blicken. Linke Bildungsideologie und neoliberale Wirtschaftspolitik haben in Ihrem Antrag einen Pakt geschmiedet. ({5}) Sie wollen Bildung zu einer Ware machen, Schulen über die Digitalisierung kontrollieren lassen und das Land – ich zitiere wörtlich aus dem Antrag, den Sie unterschrieben haben, Herr Lindner – mit flächendeckenden „inklusiven Bildungs- und Ganztagsangeboten“ überziehen. Das ist mit unserem konservativen und freiheitlichen Bildungsverständnis nicht vereinbar. ({6}) Deshalb lehnt die AfD die Anträge von Grünen, Linken und der FDP noch entschiedener ab als den vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Eckhardt Rehberg, CDU/CSU. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Grundgesetz ist kein Modellbaukasten, an den man mal so eben rangeht. Eine Frage ist zum Beispiel: War es notwendig, die Höhe der Gemeindeverkehrsfinanzierung ins Grundgesetz aufzunehmen? Jetzt müssen wir bei einer Betragserhöhung das Grundgesetz ändern. Aus meiner Sicht hätte hier eine einfachgesetzliche Regelung gereicht; aber das passierte damals auf Druck der Länder. Artikel 143e des Grundgesetzes ist ein Restant des Themas Infrastrukturgesellschaft. Deswegen will ich mich auf die Änderungen beim sozialen Wohnungsbau und bei der Bildungsinfrastruktur konzentrieren. Ich möchte zunächst festhalten, dass in beiden Fällen die Verantwortung bei den Ländern verbleibt: Für Schule/Hochschule und für den sozialen Wohnungsbau sind weiterhin die Länder verantwortlich. An der Stelle wird das Grundgesetz nicht geändert. Das ist auch gut und richtig so. ({0}) Ich möchte noch einen Punkt ansprechen – das mache ich nicht zum ersten Mal von dieser Stelle aus, liebe Kolleginnen und Kollegen –: Diese Reform wird ihren Zweck nicht erreichen, wenn wir in der Formulierung der Grundgesetzänderung nicht dafür sorgen, dass das Geld – Stichwort „sozialer Wohnungsbau und Bildungsinfrastruktur“ – auch wirklich vor Ort ankommt und nicht durch die Länder zweckentfremdet eingesetzt wird. Das ist doch eines der Kernprobleme. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden hier über viel Geld. Und Herr Minister Scholz, es sind nicht nur die 5,5 Milliarden Euro. Sie müssen hinzurechnen, was wir schon alles gemacht haben: Die Länder tragen nicht mehr die Last für das BAföG. Der Hochschulpakt des Bundes umfasst allein über 14 Milliarden Euro. Ein anderes Stichwort ist der Qualitätspakt Lehre; ich könnte mit der Aufzählung fortfahren. ({2}) Um 35 Milliarden Euro haben wir in der letzten Legislaturperiode einschließlich des Jahres 2018 die Länder und Kommunen allein im Bildungsbereich entlastet, liebe Kolleginnen und Kollegen; das muss auch gesagt werden. ({3}) Thema Entflechtungsmittel. Wenn wir vor Ort sind, dann gucken uns die Menschen komisch an. Die Mittel dafür waren bis 2013 für Investitionen in den kommunalen Straßenbau und den ÖPNV, für Hochschulbau und sozialen Wohnungsbau gebunden. Ab 2014 bis 2019 sind diese Mittel nur noch investiv verwendbar. Nur zwei Drittel der Länder haben in einem Entflechtungsgesetz die Zweckbindung beibehalten. Ich könnte jetzt bis Mitternacht Fälle und Beispiele dafür aufzählen, wo die Mittel für den sozialen Wohnungsbau gehortet werden, wo sie in Rückstellungen der Länderhaushalte fließen oder komplett zweckentfremdet eingesetzt werden. Deswegen ist es ganz richtig, dass wir dem Vorschlag des Bundesrechnungshofes folgen, wonach diese Mittel zusätzlich eingesetzt werden müssen und die Länder sie nicht substituieren dürfen und die Mittel, die sie in ihrer eigenen Zuständigkeit zu verantworten haben, zurückfahren. Nicht das Ob ist aus meiner Sicht an dieser Stelle das Kernproblem, sondern das Wie. ({4}) Wir haben eine sehr bunte Mischung von politischen Verantwortlichkeiten in Deutschland. Ich will ein Beispiel herausnehmen, Frau Göring-Eckardt: Thüringen. Ich könnte auch fünf, sechs oder sieben andere Länder nehmen. ({5}) – Nein, ich kann auch mein eigenes Heimatland nehmen; kein Problem, das habe ich drauf. – Thüringen hat in den letzten vier Jahren 230 Millionen Euro an Mitteln für den sozialen Wohnungsbau bekommen. Davon hätte man rund 6 500 Wohnungen bauen können. Gebaut wurden 194 Wohnungen. Ich könnte weitere Beispiele anführen. Ich könnte auch Mecklenburg-Vorpommern nennen. Unser Land bekommt 52 Millionen Euro an Förderung für den sozialen Wohnungsbau, davon werden 18 Millionen Euro ausgegeben. Und die Landesregierung unter SPD und CDU hat entschieden, dass die Mittel nicht in Dörfer mit kleinen Wohnungsgesellschaften fließen dürfen. Ich halte das für schizophren, und deswegen ist mir das auch wirklich ein Anliegen. Hier stellt sich auch die Demokratiefrage. Wir aus Berlin sagen Milliarden Euro für bestimmte Zwecke zu, und die Menschen dort zeigen mir den Piepmatz und sagen: Rehberg, hier kommt kein Geld an. – Das muss aufhören. Wenn wir an dieser Stelle eine Änderung des Grundgesetzes vornehmen, gehen wir nach meinem Dafürhalten eines der Kernprobleme an. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, der Kollege Dr. Frömming möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen.

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Kollege Rehberg, dass Sie die Zwischenfrage gestatten. – Um Ihren Vortrag verstehen zu können, muss ich an einer Stelle nachfragen. Sie sagten eben zu Recht, dass die Länder in der Vergangenheit Mittel nicht dort eingesetzt hätten, wo sie sie eigentlich hätten einsetzen sollen. Nun soll die Verwendung des Geldes vom Bund sozusagen mit einem Passus versehen werden, sodass es in der Bildung nicht zweckentfremdet eingesetzt werden darf. Wie wollen Sie aber gewährleisten, dass die Länder die zusätzlichen Mittel, die sie für Bildung bekommen, nicht an anderer Stelle im Bildungsbereich einsparen? Sie müssten ja dann sozusagen den gesamten Länderhaushalt unter Kuratel stellen.

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ein Blick ins Grundgesetz, so wie wir es geändert haben – ich bedanke mich an dieser Stelle insbesondere bei meinem Kollegen Carsten Schneider –: Artikel 104b und Artikel 114 Grundgesetz machen dies möglich. Wenn es um eine Mittelzuweisung an die Länder durch Änderung des Anteils an den Einnahmen aus der Umsatzsteuer geht, dann sind es Steuermindereinnahmen beim Bund und Steuermehreinnahmen bei den Ländern. Aber wenn wir Zuweisungen vornehmen, dann sind wir nach Artikel 104b Grundgesetz in der Lage, dies mit den Ländern einvernehmlich zu vereinbaren. Und dann kann – jetzt kommt der entscheidende Punkt; diese Regelung haben wir nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil korrigiert – der Bundesrechnungshof die Verwendung prüfen. Das ist uns damals sehr wichtig gewesen; wir haben das vorausschauend gemacht. Das heißt: Wenn wir heute beim sozialen Wohnungsbau und bei der Bildungsinfrastruktur eine Einigung hinbekommen und der Vorschlag des Bundesrechnungshofes greift, dann sind wir in der Lage, erstens eine Vereinbarung mit den Ländern zu finden – das ist im Bundesrat zustimmungspflichtig, das ist richtig – und zweitens – jetzt komme ich auf Ihren Punkt – durch den Bundesrechnungshof die Länderhaushalte und die Verwendung der entsprechenden Fördermittel prüfen zu lassen. Ich bin ganz offen: Ich glaube, wir brauchen diese Stellschraube. Wir brauchen auch diesen Hebel, damit das Geld, das wir für die Bildungsinfrastruktur vorsehen, auch dort ankommt, wo es hingehört, nämlich bei unseren Kindern, bei den Schülerinnen und Schülern. Ansonsten verfehlt es seinen Zweck. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch ein Wort zu den Sozialausgaben; da müssen wir zwischen Brutto und Netto unterscheiden. Zum Beispiel übernimmt heute der Bund komplett die Kosten für die Grundsicherung im Alter in Höhe von über 7 Milliarden Euro. Das ist in den letzten fünf Jahren eine Entlastung von mehr als 20 Milliarden Euro gewesen. Gucken Sie sich die Kosten der Unterkunft an. Ich nenne hier nur das Entlastungspaket; auch darüber, glaube ich, muss hier geredet werden. Die Kommunen und die Länder werden in diesem Jahr um 5 Milliarden Euro entlastet, ohne eine einzige Gegenleistung. Da muss man denen, die sagen: „Die Länder und Kommunen haben hier die Verantwortung“, schon einmal die Frage stellen, warum das Geld nicht eingesetzt wird. Eine nächste Frage muss an dieser Stelle gestellt werden. Es ist den Menschen vor Ort natürlich egal, wer die Zuständigkeit hat, ob Bund, Länder oder Kommunen. Aber wenn die Länder schon in der Verantwortung sind – bei manchen Ländern habe ich das Gefühl, sie meinen, dass nur noch der Bund in der Verantwortung ist – und klagen, dass sie zu wenig Geld haben – es wird sogar von einem Solidarpakt III geredet –, dann ist doch die Frage zu stellen: Warum wird man bei einem Überschuss – 13 Länder haben einen Überschuss von über 14,2 Milliarden Euro – der eigenen Verantwortung in diesen Bereichen nicht gerecht? Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind jetzt an einem Punkt, an dem man sagen kann: Wir drehen die Föderalismusreform zurück. – Ja, in Teilen ist das richtig. Ich bin übrigens 15 Jahre im Landtag und immer ein überzeugter Föderalist. Aber glauben Sie mir: So kann es nicht weitergehen. ({1}) Es kann nicht sein, dass der Bund massiv Mittel in die Hand nimmt, aber das Geld vor Ort nicht ankommt. Ich schließe an dieser Stelle den Reigen: Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Menschen verstehen dann den Föderalismus nicht. Die Menschen verstehen an dieser Stelle auch nicht mehr die Demokratie. Deswegen ist meine herzliche Bitte – ich habe das hier über Fraktionsgrenzen hinweg schon einmal gesagt –, gründlich über den Vorschlag des Bundesrechnungshofes nachzudenken, Steuerungs- und Kontrollrechte sowie die Zusätzlichkeitsklausel einzuführen. Nur das ist hier zielführend. Glauben Sie mir: Wenn wir die Mittel über eine Erhöhung des Anteils an den Umsatzsteuereinnahmen vergeben würden – ich kann Ihnen viele Beispiele aus der Vergangenheit erzählen; das habe ich auch versucht – oder wenn wir die Mittel ungebunden weiterreichen, dann werden die Mittel ihren Zweck verfehlen. Letzte Bemerkung, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch einmal zu den Entflechtungsmitteln. Gehen Sie mal vor Ort. Die Bürgermeister fordern: Bund, tu ab 2020 was für den kommunalen Straßenbau. Bund, tu was für den sozialen Wohnungsbau. – Das Problem des Finanzministers bei der Erstellung des Haushalts für das Jahr 2018 ist gewesen, dass die 3 Milliarden Euro heute Investitionen sind. Ab 2020 sind diese Mittel Steuermindereinnahmen beim Bund und Steuermehreinnahmen bei den Ländern. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ja, Vertrauen ist gut. Aber gelegentlich ist die eine oder andere Stellschraube notwendig. Danke. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der FDP, Christian Lindner. ({0})

Christian Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004097, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung schlägt vor, das Grundgesetz in den Bereichen Bildung, Verkehr und Bauen zu ändern. Der Minister hat hier vorgetragen, Kollege Rehberg hat vorgetragen. Sie beide als Sprecher der Regierung bzw. der Koalition haben aber auf einen Umstand nicht hingewiesen – Ihre Reden hatten auch nicht diesen Charakter –: CDU/CSU und SPD haben gemeinsam keine verfassungsändernde Mehrheit. Sie sind auf andere, auf die Unterstützung des Hauses angewiesen. Deshalb hätte ich mir gewünscht, dass auch Argumente, die andere vorgetragen haben, bereits hier zur Sprache gekommen wären; denn wir müssen gemeinsam zu einer Lösung kommen. ({0}) Im Verkehrsbereich, Herr Minister Scholz, sind wir aufgeschlossen für das, was Sie vorgetragen haben, wenngleich wir hinsichtlich der Förderbedingungen noch Fragen an Sie zu stellen haben. Sie haben viel Augenmerk darauf gelegt, was im Baubereich passieren soll. Hier muss ich für die Fraktion der FDP Zweifel an Ihrem Vorhaben anmelden. Der soziale Wohnungsbau war in den vergangenen Jahrzehnten nicht zielsicher. Im sozialen Wohnungsbau wurden auf lange Zeit auch jene gefördert, die eigentlich längst einer Bedürftigkeit entwachsen waren. Deshalb halten wir andere Instrumente wie das Wohngeld, also eine Förderung der bedürftigen Personen, für zielführender und für besser. Vor allen Dingen, Herr Minister, haben Sie geklagt, die hohen Baukosten seien ein Problem für den sozial sensiblen Wohnungsbau. Aber wer treibt denn die Preise, die Kalt- und die Warmmiete? Die Warmmiete wird getrieben durch eine Energiepolitik, die nicht mehr vernünftig ist, und die Kaltmiete wird getrieben zum Beispiel durch eine Ministerin wie Barbara Hendricks, die vier Jahre nichts unternommen hat, um die Baustandards wieder auf ein verhältnismäßiges Niveau zurückzuführen. ({1}) Ich will mich aber konzentrieren auf den Bereich der Bildung; denn hier haben die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und Freien Demokraten einen eigenen Vorschlag vorgelegt. Es ist schon für sich genommen eine Besonderheit, wenn Grüne und Liberale einen gemeinsamen Vorschlag unterbreiten. ({2}) Das kommt nicht zu oft vor. ({3}) Wir wollen auch nicht den Eindruck erwecken, in jedem bildungspolitischen Aspekt könnten Grüne und Freie Demokraten einer Meinung sein. Aber eines ist für uns klar: Bildung ist die wichtigste gesellschaftspolitische Aufgabe. Deshalb darf der Bund Länder und Kommunen bei dieser Frage auf Dauer nicht alleine lassen. ({4}) Das dokumentieren wir durch unseren gemeinsamen Antrag. Der Bildungsföderalismus wurde in Deutschland lange gesehen als Ausdruck landsmannschaftlicher Eigenarten und der Autonomie der Länder. Ich selber war im Unterschied zu dem Kollegen der AfD 15 Jahre Landtags­abgeordneter und habe in der Praxis gesehen, was das bedeutet. 15 Jahre lang habe ich mit Eltern gesprochen, die geklagt haben, wie schwierig es ist, zwischen Bundesländern den Wohnort oder den Arbeitsplatz zum Beispiel als Lehrende zu wechseln. Sie haben dokumentiert, wie Sie das sehen: Uralt! Wir sehen das ganz anders. Hessen steht nicht im Wettbewerb mit Bremen, und Bayern nicht im Wettbewerb mit Sachsen. Aber Deutschland steht im Wettbewerb mit Nordamerika und Asien. Deshalb ist der Bildungsföderalismus, wie wir ihn praktizieren, nicht mehr Teil der Lösung, sondern ist selbst zu einem Problem geworden. ({5}) Die Bundesregierung erkennt das dankenswerterweise – ich sage: endlich – an. In der Vergangenheit gab es eine große Sperre, irgendetwas zu tun. Herr Minister, Sie selbst haben heute das Problem beschrieben. Sie haben gesagt, es sei nur ein ganz kleiner Beitrag, den die Koalition nun leisten wolle. Aber dieser kleine Beitrag ist zu klein, um einen wirklichen Unterschied zu machen. Sie öffnen die Tür zu einer Reform des Bildungsföderalismus einen ganz kleinen Spaltbreit. Grüne und Liberale wollen diesen Spalt ein Stück vergrößern und das Kooperationsverbot auf den Prüfstand stellen, und zwar aus drei Gründen. Erstens. Sie konzentrieren sich mit Ihrem Vorschlag im Bildungsbereich auf Bestandsimmobilien und die technische Infrastruktur. Wir haben in diesem Bereich wirklich einen großen Sanierungs- und Reformstau. Die Länder sind in einer finanziellen Problematik aufgrund der steigenden Pensionslasten in den nächsten Jahren. Da kann das Kooperationsverbot möglicherweise bei der Investition in Gebäude und Technik für Bund und Länder der Strick werden, an dem die Bildungsqualität aufgehängt wird. Aber Sie lassen ausgerechnet das Wichtigste aus, worum es in der Bildung geht. Bildung ist keine Frage von Tablets und Whiteboards in der Schule. Bildung ist keine Frage der Qualität der Gebäude. Sicherlich trägt das alles dazu bei. Das Wichtigste in der Bildung ist aber die Beziehung zwischen Menschen. Deshalb muss auch in Köpfe investiert werden können. ({6}) Zweitens. Sie wollen das Geld – more or less – den Ländern und Kommunen rüberschieben. Das ist aus unserer Sicht nicht richtig. Der Bund muss auch über Fragen der Qualität und der Mittelverwendung sprechen dürfen; der Kollege der Union hat eben Gründe dafür genannt. Es geht nicht darum, ein Bundeskultusministerium einzurichten. Das wäre völlig überzogen. Das möchte niemand. Das wäre auch mit dem Grundgesetz und der Garantie der Eigenstaatlichkeit der Länder unvereinbar. Aber die entscheidende Frage lautet, ob es nicht einen Impuls, ausgehend vom Bund, gibt, sodass Bund und Länder bzw. die Länder untereinander Vereinbarungen treffen können. Liebe Kollegen von der AfD, ich muss noch einmal auf Sie zu sprechen kommen – Sie haben mir eine so schöne Steilvorlage gegeben –, um zu zeigen, wie Sie aus der Zeit gefallen sind. Selbst die Musterföderation der Welt, die Schweiz, hat seit dem vergangenen Jahrzehnt nicht mehr ein Kooperations ver bot bei den Kantonen, sondern ein Kooperations ge bot. Wenn selbst die Schweiz erkennt, dass man gemeinsame Qualitätsstandards und Qualitätsvorgaben im 21. Jahrhundert braucht, dann sollten wir in Deutschland dem nicht nachstehen. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Bemerkung nebenbei: Es kann jetzt nur der erste Schritt sein, über die Frage der Qualitätsentwicklung zu Vereinbarungen zu kommen. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass sich die Abiturnoten so stark unterscheiden, dass gar kein gerechter Hochschulzugang zu organisieren ist. Da ist sehr viel mehr an Vergleichbarkeit erforderlich, wenn man Familien und Lehrende tatsächlich ernst nimmt. Mein dritter und abschließender Gedanke, warum wir in diesem Punkt der Koalition zu folgen nicht imstande sind: Beim Wohnungsbau sind die Mittel, die Sie zur Verfügung stellen, unbegrenzt. Bei der Bildung sind sie degressiv und zeitlich begrenzt. Warum dieser Bewertungsunterschied? Da wird gesagt: Wir wollen die Länder für Versäumnisse der Vergangenheit nicht bestrafen. – Entschuldigung, aber was für eine funktionärische Denke! Bestraft werden dann die Familien, die sich dauerhaft mit schlechten Bildungseinrichtungen konfrontiert sehen. Deshalb muss der Bund selbstverständlich auf Dauer Verantwortung in dieser Frage übernehmen. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vielleicht ein kurzer Blick zurück in die Geschichte: Im Jahr 2006 wurde das Kooperationsverbot von Union und SPD beschlossen, und zwar gegen die Stimmen der Opposition, gegen die Stimmen der Linken. Das war ein schwerer Fehler. Dieser Fehler muss vollständig korrigiert werden. ({0}) Das Kooperationsverbot muss endlich aufgehoben werden. Angeblich sollte das Kooperationsverbot die Gesetzgebung vereinfachen und Prozesse beschleunigen. Gerade in der Bildung sehen wir die fatalen Folgen dieses Verbots. Viele Schulen in unserem Land sind in einem erbärmlichen Zustand. In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Sonderprogramme erfunden, um dieses Verbot zu umgehen. Dazu war ein erheblicher bürokratischer Aufwand notwendig. Welche Verschwendung von Energie! Diese Energie hätte man besser in die Bildung gesteckt. ({1}) Die Zahl der Sozialwohnungen hat sich in den vergangenen 15 Jahren halbiert. Auch hier muss dringend etwas getan werden. ({2}) Busse und Bahnen sehen Menschen auf dem Land so selten wie eine Mondfinsternis. Auch das ist kein haltbarer Zustand. Wir als Linke wollen noch mehr Ziele im Grundgesetz verankern: zum einen eine umfassende Gemeinschaftsaufgabe für Bildung und für die ländliche Entwicklung sowie zum anderen Kultur und Sport als Staatsziel. ({3}) Wir wollen nicht – das sei an dieser Stelle ganz klar gesagt; das ist die Kritik an den Vorschlägen, die vorliegen; aber wir haben noch mehrere Anhörungen –, dass mit Steuergeldern die Renditewünsche von Unternehmen erfüllt werden. Uns liegen zahlreiche Berichte der Rechnungshöfe von Bund und Ländern vor, die deutlich machen, dass öffentlich-private Partnerschaften keine ehrlichen Partnerschaften sind. Kosten und Risiken liegen immer bei den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern, und die Gewinne landen immer bei den Unternehmen. Das sind keine Partnerschaften. Das ist eine moderne Form der Geiselnahme. Das muss beendet werden. ({4}) Die Verträge – das kennen wir von Toll Collect – sind in der Regel geheim. Schadensersatzforderungen sind häufig nicht klar geregelt, wie wir es nun bei der A 1 sehen. Das Baukonsortium fordert vom Bund Millionen für ausgefallene Mauteinnahmen. So etwas dürfen wir uns nicht gefallen lassen, meine Damen und Herren. ({5}) Das heißt also ganz deutlich: Wir lehnen öffentlich-private Geiselnahmen ab, und deshalb wollen wir ein Gesetz zur Förderung von Investitionen für finanzschwache Kommunen, das klarstellt, dass öffentlich-private Partnerschaften nicht mehr gefördert werden, meine Damen und Herren. ({6}) Noch eine Bemerkung zu unserer Forderung, Kultur zum Staatsziel zu erklären. Dieses Ziel hatte übrigens die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ bereits im Jahr 2007 formuliert. Über zehn Jahre sind seitdem vergangen, und es ist nichts passiert. Wir erleben doch einen kulturellen Verfall in unserem Land, der beunruhigend ist. In vielen Dörfern, Gemeinden und auch in einigen Städten gibt es kein Kulturangebot mehr; es ist ja nicht überall Berlin. Da ist die Freude in einigen kleineren Orten groß, wenn man wenigstens ein Kino erhalten kann. Aber, meine Damen und Herren, die Landflucht kann nur verzögert werden, wenn wir auch ein kulturvolles Leben außerhalb der Großstädte anbieten können. In Ostdeutschland wurden nach der Wende reihenweise Theater, Orchester und Jugendklubs geschlossen, immer mit der Begründung, dass diese Einrichtungen sich nicht rechnen würden. Welch kurzsichtige Politik! Auch das gehört dringend geändert. ({7}) Im Gegenteil: Die Verödung ganzer Kulturlandschaften führt zur Landflucht. Auch deshalb fordern wir eine Gemeinschaftsaufgabe für die ländliche Entwicklung. Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen die Unterstützung der Linken anbieten, wenn Sie radikal mit dem Kooperationsverbot brechen, um gemeinsam mit Ländern und Kommunen die drängenden Probleme zu lösen. Wir brauchen mehr Bildung, mehr Wohnungen, mehr Kultur und mehr Sport, und das geht nur mit mehr Kooperation und nicht mit weniger. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Grundgesetz, über das wir heute sprechen, verspricht: Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, Sprache, Heimat oder Herkunft benachteiligt werden. – Ausgerechnet dort, wo es um den Kern geht, wo es um die Bildung geht, gilt das ganz offensichtlich nicht. Es haben eben nicht alle Kinder und Jugendlichen gleiche Chancen. Das müssen wir ändern. ({0}) Mal ganz einfach gesprochen: Wenn die Eltern von Paul studiert haben, hat er dreimal so hohe Chancen, selbst Abitur zu machen und zu studieren, als wenn sie gemeinsam einen Kiosk betreiben. Wenn das Kind nicht Paul heißt, sondern vielleicht Fatima, dann sinken die Chancen noch mal. Das liegt nicht daran, dass Paul oder Charlotte schlauer sind, sondern das liegt ganz einfach an unserem System, an der Ungleichheit, die wir in der Bildungspolitik haben. Deswegen muss ganz klar sein: Es darf bei Kindern und ihren Chancen nicht mehr davon abhängen, wo sie wohnen, wie sie heißen und wer die Eltern sind. Das müssen wir ändern, und zwar nicht mit einmaligen Finanzierungen, sondern wirklich dauerhaft. Es geht um eine Kernaufgabe der Republik. ({1}) Die Bildungskooperation ist dieser Kern. Natürlich war es ein Fehler der Großen Koalition, in 2006 die Kooperationsmöglichkeiten auf die Art und Weise abzuschaffen. Ich finde, wir müssen es zurückholen. Ich finde, wir müssen das ändern. Ich finde, wir müssen das aber auch wirklich konsequent ändern. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Göring-Eckardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pantel?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte schön.

Sylvia Pantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004370, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Göring-Eckardt, Sie tun gerade wieder so, als ob nur das Abitur die Voraussetzung für eine gute Bildung ist. Wir exportieren das duale Bildungssystem überallhin. Es hat Riesenanstrengungen gegeben, dass der Meister dem Bachelor angeglichen wird. Wenn das jetzt von den Leuten in der Öffentlichkeit verfolgt wird, dann wird bei ihnen wieder der Eindruck erweckt, dass bei uns nur jemand, der ein Abitur hat, Bildungserfolge hat und dann auch weiterkommt. Das würde ich für absolut falsch ansehen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Frau Kollegin, da sind wir uns vollkommen einig. Es geht nicht darum, dass nur diejenigen erfolgreich sind, die Abitur machen. Aber worum es doch gehen muss, ist, dass die Frage, welche Bildungserfolge man haben kann, egal auf welchem Niveau, auf welchem Level, mit welcher Zukunftsaussicht, nicht daran hängt, wie man heißt oder wo man herkommt, sondern dass die Frage, welche Möglichkeiten man bekommt, davon abhängt, welches Talent man hat. Darum geht es mir in diesem Kontext. ({0}) Meine Damen und Herren, genauso wenig wie es von den Eltern abhängig sein darf, darf die Frage, wie die Chancen sind, davon abhängig sein, wo man wohnt, so nach dem Motto: armer Stadtteil – Klo kaputt; reicher Stadtteil – schicker Schulhof. Wir wollen, dass die Gebäude intakt sind, dass die Lehrerzimmer voll sind, dass Abi gleich Abi ist und Abschluss gleich Abschluss ist, und zwar nicht nur ein bisschen. Wir wollen, dass Bund und Länder sich auch zusammentun können, wenn es um die Aus- und Weiterbildung des Fachpersonals geht. Da können wir nicht sagen: Das soll dann mal wieder irgendwie nur vier Jahre passieren, das soll dann vielleicht mal wieder jemand anders machen. – Nein, das ist der Kern, um den es geht: dass wir tatsächlich auf Dauer stellen. ({1}) Es kann nicht sein, dass es davon abhängt, ob die Schule in Bautzen, in Bielefeld oder in Baunatal steht. Es geht darum, dass Bund und Länder wirklich zusammenarbeiten und dass wir unsere Schulen in dieser Weise unterstützen, mit mehr Geld und mehr Personal. ({2}) Es ist doch absurd: Für die energetische Sanierung darf man was geben, für die Schultoiletten, wenn man die Klodeckel austauschen will, schon wieder nicht; für den Internetanschluss: ja, sehr gern, aber wenn der Router streikt – der Router streikt sehr oft –, können wir für den Support kein Geld geben. Das ist die Gesetzeslage. Das ist widersinnig. ({3}) Wir haben genug Geld in der Staatskasse, aber die Klassenkassen sind leer. Deswegen, finde ich, muss es so sein, dass der Bund in Zukunft nicht mehr nur bei den Schuldächern helfen kann, sondern auch da, wo es auf Zukunftsinvestitionen ankommt. ({4}) Ich sage das auch vor dem Hintergrund der gestrigen Debatte um den Klimaschutz. Es geht um die Zukunft unserer Kinder in diesem Land. Sie werden uns irgendwann mal nicht fragen, ob es vielleicht kompliziert war, sie werden uns auch nicht fragen, ob vielleicht die oder jene mal zuständig waren – da bin ich komplett bei Herrn Rehberg –, sondern sie werden uns eines Tages fragen: Habt ihr alles für unsere Zukunft getan, für unsere Chancen und für unseren Planeten? Darum geht es, wenn wir hier heute wie auch gestern diskutieren. ({5}) Ich will ein Argument von Christian Lindner aufnehmen. Liebe Große Koalition, beim Wohnungsbau zeigen Sie gerade, dass es geht. Da werden Sie nämlich die Mittel auf Dauer stellen. Das ist auch richtig so, weil der soziale Wohnungsbau – wir haben darüber viel debattiert – eine der zentralen Fragen ist, die wir in diesem Land klären müssen. Ich kann zu Hause und sonst wo niemandem erklären, warum eigentlich bei der Bildung nicht das gelten soll, was beim Wohnen selbstverständlich ist. ({6}) Deswegen sage ich Ihnen: Geben Sie sich einen Ruck! Machen Sie sich klar, dass Sie eine Zweidrittelmehrheit brauchen. Machen wir draußen gemeinsam klar, mit einer Kooperation, dass wir in der Lage sind, solche großen Probleme wie den Bildungsnotstand in dieser Republik zu lösen. Das ist eine Tatsache, der wir uns auf Dauer stellen müssen. Lassen Sie uns das gemeinsam angehen – nicht im Gegeneinander, sondern als Bund und Länder gemeinsam, auch in diesem Haus. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Johannes Kahrs, SPD-Fraktion. ({0})

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier heute von unserem Bundesfinanzminister gehört, dass wir große Milliardensummen investieren werden – in den Wohnungsbau, in die Bildung und in die Infrastruktur – und dass wir jetzt gemeinsam schauen müssen, wie wir die Gesetzesänderung vornehmen können, damit das vernünftig funktioniert. Ich glaube, das ist – Olaf Scholz hat das gesagt – eine wichtige nationale Aufgabe, und das werden wir nicht hinbekommen, wenn wir hier gegeneinander marschieren; das bekommen wir nur hin, wenn Kommunen, Länder und Bund das gemeinsam machen, diese Aufgabe Hand in Hand gemeinsam angehen. Wir brauchen die Landesbildungsminister. Wir brauchen die Kommunen vor Ort. Wir als Bund wollen da gern mittun und helfen. Und – Eckhardt Rehberg hat das ja gesagt –: Wir müssen gemeinsam die Grundlagen schaffen, gemeinsam dafür sorgen, dass in den Schulen, auf den Straßen und am Ende im Wohnungsbau das Geld ankommt. Es ist so – das weiß jeder –, dass wir mehr Sozialwohnungen, mehr bezahlbare Wohnungen in diesem Land brauchen. Es ist so, dass wir mehr in Bildung investieren müssen, dass nicht nur die Schulen saniert werden müssen, dass wir eine moderne Schul-IT bekommen. Aber ernsthaft – jeder von Ihnen war einmal in der Schule –: Wie soll eine moderne Schul-IT funktionieren, wenn ein Lehrer dafür halb freigestellt wird und er das nebenbei machen soll, ob er das kann oder nicht. Denn Schule mit teilweise dreistelligen Lehrerzahlen und Tausenden von Schülern ist wie ein Unternehmen; die haben normalerweise eine eigene IT-Abteilung. Und das soll in den Schulen nebenbei gemacht werden? Wie soll denn eine Kommunikation zwischen Eltern und Lehrern, zwischen Schülern und ihrem Lehrer und innerhalb des Kollegiums laufen, wenn man keine funktionierende IT hat? Auch mit Blick darauf muss man das richtig unterfüttern. Das sind alles Dinge, die wir gemeinsam angehen müssen. ({0}) Jetzt kann natürlich – das finde ich in Ordnung – jede Partei die Bedingungen stellen, zu denen man das Thema angeht. Die FDP sagt natürlich: Sozialer Wohnungsbau ist doch viel schöner. Wir bekommen es hin, dass Private das machen und der Staat zahlt. – Dann ist die Klientel der FDP auch glücklich. Die Grünen haben einmal gedacht: „Wir spielen Umwelt gegen Bildung aus“, und festgestellt: Das ist eine doofe Idee. Am Ende muss man es gemeinsam machen. Ich glaube, dass man es nur hinbekommt, wenn wir uns alle dieser Aufgabe bewusst sind. Olaf Scholz hat stellvertretend für die Bundesregierung hier ein Angebot an Länder und Kommunen, an die Opposition gemacht, diese Aufgabe – mehr für die Schüler, mehr für bezahlbares Wohnen und mehr für eine funktionierende Infrastruktur zu unternehmen – gemeinsam zu bewältigen. Zum Abschluss sei mir eine Bemerkung gestattet: Ernsthaft, das Einzige, was die AfD zu bieten hat, ist: Sie spaltet – das, was sie am besten kann. ({1}) Länder gegen den Bund, Kommunen gegen die Länder. ({2}) Wir als Bund würden den Ländern was aufdiktieren wollen. Es geht – das muss die AfD einmal zur Kenntnis nehmen – nicht, wie bei Ihnen immer, um Spaltung, um Gegner, um den einen gegen den anderen, um ({3}) Aufstampfen mit dem Fuß wie Rumpelstilzchen. Es geht ausnahmsweise einmal um die Sache. ({4}) Es geht um Schüler, es geht um Bildung, es geht um Wohnen. Deswegen zu sagen, dass wir als Bund kein Geld an die Länder geben sollen, um das gemeinsamen hinzubekommen, das ist spalten. Es ist nicht Berlin gegen die Länder – das sind wir alle gemeinsam! Nur so funktioniert das. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Kahrs, der Kollege Glaser möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit Rechtsradikalen rede ich nicht. ({0}) Das heißt also im Ergebnis: Wir müssen schauen, dass wir uns im Interesse von allen zusammenraufen. Ecki Rehberg hat gesagt: Es muss zusätzlich sein. – Wir wollen, dass wir das gemeinsam hinbekommen, dass die Länder mehr investieren und der Bund mehr investiert. Wir als Große Koalition haben auf Drängen der SPD in den letzten vier Jahren die Kommunen und die Länder gestärkt. ({1}) Die haben mehr Geld bekommen, die schreiben alle schwarze Zahlen, die haben jetzt Geld. Und wir geben noch einmal Geld dazu. Gemeinsam werden wir das schaffen – gegen die Spalter in diesem Land. Gemeinsam sind wir stark! ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort für eine Kurzintervention der Kollege Glaser, AfD.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter Herr Kahrs, einmal abgesehen davon, dass Sie wahrscheinlich eine Spalterneurose haben – die können wir hier aber nicht therapieren –, will ich mir zu dem Kern Ihrer Ausführungen erlauben festzustellen, dass Sie mit all dem, was Sie über das Thema „Lehrer“ und „fachlich besonders geschulte IT-Lehrer“ und, und, und erzählen, völlig neben der Sache liegen, weil es um investive Mittel geht. ({0}) Das gilt natürlich auch auf den Kollegen Lindner bezogen. Die Frage, ob wir in Deutschland ein Zentralabitur wie in Frankreich machen und eine Vereinheitlichung solcher Bildungsstandards erreichen wollen, kann man diskutieren. Die Kultusministerkonferenz hatte Jahrzehnte Zeit, solche Dinge zu betreiben, wenn das für die Bildungsgemeinde wichtig ist. Aber worüber wir heute reden, sind investive Fragen. Die Inhalte der Bildungspolitik, also das einheitliche Abitur in Deutschland, ist Kultusangelegenheit und Herzangelegenheit der Gliedstaaten. In diesen Bereich können Sie mit allem, was hier diskutiert wird, nicht eingreifen. Deshalb geht der Schuss in den Ofen und führt nur dazu, dass die Ebenen ihre Verantwortungen verschleifen. In jedem Vorwort zu einem verwaltungswissenschaftlichen Buch können Sie lesen, dass dies das Letzte ist, was man für ein gutes Ergebnis machen darf. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Kahrs, mögen Sie antworten? ({0})

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zuhören bildet, denken hilft. Das könnte funktionieren. ({0}) Ich habe Ihnen eben doch einfach nur erklärt, dass, wenn eine Schule mit sehr vielen Schülern und sehr vielen Lehrern und Eltern ein funktionierendes IT-System braucht, wir als Bund helfen. Ich habe Ihnen auch erklärt – das könnten Sie vielleicht verstehen und nachvollziehen, hoffe ich –, ({1}) dass wir über viele Jahre viel Geld – der Kollege Rehberg hat es betont – strukturell an Kommunen und Länder gegeben haben. Deswegen schreiben die Länder jetzt schwarze Zahlen. Das heißt: Wenn wir in IT investieren und die Länder in Personal investieren, bekommt man das gemeinsam hin. Deswegen ist die Spalterei, die Sie betreiben – Berlin gegen die Länder, gegen die Kommunen –, falsch. ({2}) Sie müssen einmal lernen, dass wir in dieser Gesellschaft nicht spalten, sondern Menschen mitnehmen und nur gemeinsam stark sind. Das ist das Problem dieser Rechtsradikalen hier in diesem Hause. Vielen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Höchst, AfD. ({0})

Nicole Höchst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004753, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werter Minister! Werte Kollegen! Hochgeschätzte Bürger! Dr. Frömming hat schon sehr zutreffend Kritik am Regierungsvorstoß geübt. Die Regierung will die Axt an unser föderales Bildungssystem legen, und das unter der Standarte der Digitalisierungsnebelkerze und dem Winken mit der prallen Geldbörse. Ich möchte Ihnen allen – besonders Ihnen, Herrn Kahrs – eine Tatsache ins kollektive Gedächtnis rufen: Die Schöpfer unseres Grundgesetzes wollten den Missbrauch von Kunst, Kultur und Bildung erschweren. „Wehret den Anfängen“, dachte man wohl und stellte mit Artikel 30 des Grundgesetzes die Bildung in die Kulturhoheit der Länder. ({0}) – Ja, da läuft er weg. – Nach den einschlägigen Erfahrungen mit der zentralen Bildungsverwaltung Deutschlands bis 1945 ist auch das heute noch absolut nachvollziehbar. Es ist bezeichnend, wer heute mit welchen Gründen die Grundpfeiler unseres Bildungsföderalismus weiter ansägen bzw. abschaffen möchte. Aber des Pudels Kern: Ist die Abschaffung im Zeitalter der deutschen Bildungsniveaurekordjagd eine gute Idee? Angesichts des Ziels einer sich ins Gegenteil verkehrenden Bildungsoffensive wäre eine Aufhebung des Kooperationsverbots nicht hinreichend, Herr Lindner, sondern eher sträflich und wettbewerbsschädlich. Wohin eine links-grün-schwarze Strukturveränderung binnen kürzester Zeit führen kann, ist am Kaputtschlagen eines hervorragend differenzierten Schulsystems in Baden-Württemberg erhellend zu studieren. ({1}) Josef Kraus beschreibt dies hervorragend in seinem Werk „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“. Meine Damen und Herren, man gewinnt aus der bisherigen Debatte fast den Eindruck, der Bildungsföderalismus, das sogenannte Kooperationsverbot, sei an allen Problemen schuld, die Schulen so haben. Das mag vielleicht populär und politisch opportun sein, es stimmt aber einfach nicht. ({2}) Denn schuld sind die verantwortlichen Landesregierungen, und da gibt es auffällige Korrelationen zwischen ideologischem Bekenntnis der Regierungsparteien und dem Grad der Herabwirtschaftung und der Versiffung des Bildungssystems. ({3}) Beispiel Berlin: Die Lehrer fliehen geradezu aus den Schulen. Und das, meine Damen und Herren, liegt bestimmt nicht am Bildungsföderalismus und auch nicht an mangelnder Digitalisierung. Die FDP zeichnet den Antrag der Grünen mit, der ebenfalls fleißig am Bildungsföderalismus sägen möchte. ({4}) Sie schreiben in Ihrer Antragsbegründung mit anderen Worten – mein Kollege hat es bereits gesagt –: Wer zahlt, bestellt. Gestatten Sie mir eine kleine Nebenbemerkung, Herr Lindner: Sie von der FDP bieten sich hier so wohlfeil Ihrer gescheiterten Jamaika-Koalition an. ({5}) Man könnte fast meinen, Sie bedauern, nicht hier auf der Regierungsbank in ebendieser Konstellation zu sitzen. ({6}) Wie gut, dass es endlich eine echte Opposition im Bundestag gibt. ({7}) In unserem Antrag zur Stärkung des Bildungsföderalismus halten wir eines klar fest: Der Bund hat bereits aufgrund der Einführung des Artikels 91b Grundgesetz die Möglichkeit, gemeinsam mit den Ländern in Fällen überregionaler Bedeutung bei Förderung von Wissenschaft, Forschung und Lehre zusammenzuwirken. Bund und Länder haben dies bereits in zahlreichen gemeinsamen Projekten durchexerziert, und Herr Rehberg hat dies hier durchdekliniert. Wozu also die Änderung? Meine Damen und Herren, es ist einfach keine weitere Erhöhung der Einflussnahme des Bundes in diesem Bereich nötig. Die bisherige Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern gewährleistet bereits die internationale Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Bildungswesens. Es muss nur endlich richtig gemacht werden. ({8}) Die Länder sollten aufgrund ihrer Unterschiede in Kultur, Struktur, Region in den wichtigen Bildungsbereichen ihre Länderhoheit bewahren, insbesondere in der Gestaltung des Unterrichts, in der Ausgestaltung und Umsetzung der Lehrpläne sowie hinsichtlich der Unterrichtsmaterialien und Unterrichtsgegenstände. ({9}) Der Bildungsföderalismus und der offen zutagetretende Länderniveauvergleich ist zudem der letzte Qualitätsrettungsanker des deutschen Bildungssystems. ({10}) Es gibt keine belastbaren Prognosen, dass der Bund dies besser könnte. ({11}) Ganz im Gegenteil! Infrage stehen die Bildungsqualität und sogar der humanistische Kerngedanke von Bildung. Der Bildungsföderalismus sollte deshalb gestärkt und nicht geschwächt werden, meine Damen und Herren. ({12}) Für die anderen in der Gesetzesänderung angestrebten Bereiche mögen Änderungen ja sinnvoll sein; dies sollte dann aber auch getrennt debattiert werden. Wir lehnen öffentliche, staatliche Geiselnahme von Kultur und Bildung ab, Frau Lötzsch. ({13}) Ich möchte Sie herzlich einladen, unseren Antrag zu unterstützen; denn wir von der AfD gestalten Zukunft. Vielen Dank. ({14})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Christian Haase, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christian Haase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004286, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir ebnen heute den Weg für eine Ausweitung der Mitfinanzierungsmöglichkeiten des Bundes bei Aufgaben in Trägerschaft von Ländern und Kommunen. Das betrifft zum Beispiel die Digitalisierung im Schulbereich. Hierbei handelt es sich um eine Herausforderung, die Länder und Kommunen unter optimalen Finanzbedingungen allein meistern könnten und müssten. Diese optimalen Bedingungen sind zwar bei den Ländern, aber längst nicht in allen Kommunen gegeben. Daher begrüßen wir grundsätzlich den Ansatz unserer Bundesbildungsministerin, den Ländern und Kommunen mit dem DigitalPakt in den kommenden fünf Jahren 5 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen. Das ist ein wichtiges Signal für Eltern und Schulkinder, aber auch für Länder und Kommunen. Die Länder sind jetzt aufgefordert, lösungsorientiert die Bund-Länder-Vereinbarungen zum DigitalPakt zu verhandeln und diese Verhandlungen auch zügig zum Abschluss zu bringen. Es geht vor allem auch darum, dass die Kommunen mit den Folgekosten der anstehenden Investitionen aus Betrieb und Wartung nicht alleine gelassen werden. Hier sind die Länder in der Pflicht, sonst nutzt die schönste Grundgesetzänderung am Ende nichts. ({0}) Das großzügige finanzielle Engagement des Bundes ist für viele Kommunen eine große Hilfe. Aber: Mischzuständigkeiten und Mischfinanzierung führen zu keiner Klärung von Verantwortung. Im Gegenteil: Sie wirken als goldene Zügel und untergraben letztendlich die kommunale Selbstverwaltung, und das darf nicht sein, meine Damen und Herren. Und wer Geld gibt, will verständlicherweise am Ende des Tages auch wissen, wofür dieses Geld ausgegeben worden ist. Wir beschwören immer wieder das Konnexitätsprinzip. Zum Prinzip der Konnexität gehört auch, auf die Kontrollmöglichkeiten des Bundes hinzuweisen und nicht auf sie zu verzichten. Das ist im Prinzip wie beim Schützenfest: Wer die Musik bestellt, der bezahlt; aber wer bezahlt, will auch wissen, welche Musik gespielt wird. ({1}) Dass die Bundesländer zwar einerseits die Finanzmittel des Bundes, zum Beispiel den DigitalPakt, herbeisehnen, auf der anderen Seite aber Steuerungs- und Kontrollrechte des Geldgebers ablehnen, konterkariert deshalb das Konnexitätsprinzip. Wenn die Länder ihrer Verantwortung nachkämen und die Kommunen auskömmlich finanziell ausstatten würden, könnten wir uns eine Ausweitung der Mitfinanzierungskompetenz des Bundes in einem ureigenen Länderaufgabengebiet sparen. Dann würde jede Ebene ihre Aufgabe wahrnehmen, so wie es in einer früheren Föderalismusreform einmal festgelegt worden ist. Ziel der Föderalismusreform 2006 ist es gewesen, klare Strukturen und Verantwortlichkeiten in der Aufgabenwahrnehmung zwischen Bund und Ländern zu schaffen. Dieses Ziel war richtig, bleibt richtig, und ist auch in Zukunft richtig. ({2}) Deshalb wäre die beste Lösung: weiterhin in Deutschland ein Wettbewerbsföderalismus. Wer hat die beste Bildung? Wo klappt es am besten mit dem sozialen Wohnungsbau? Wer kümmert sich am besten um innere Sicherheit, und wer geht mit seinen Kommunen am besten um? Die Länder bekommen ab 2020 mit der Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen dafür die finanziellen Mittel an die Hand: jährlich fast 10 Milliarden Euro mehr, und das dynamisch. Dabei fließt auch die Finanzsituation der Kommunen zukünftig deutlicher als bisher in die Berechnung ein. Die Länder erzielen bereits jetzt deutliche Überschüsse: im Jahre 2017 allein 14 Milliarden Euro. Geld, mit dem sie sich um ihre finanzschwachen Kommunen kümmern könnten, ist also bei den Ländern vorhanden. Mitunter hat man den Eindruck: Es fehlt am Willen, weil es bequemer ist, nach dem Bund zu rufen. ({3}) Meine Damen und Herren, wir setzen also nur die zweitbeste Lösung um. Bereits bei der Einfügung des Artikels 104c Grundgesetz hatten die Kommunalen davor gewarnt, dass aus der erweiterten Mitfinanzierungsmöglichkeit des Bundes bei der Bildungsinfrastruktur finanzschwacher Kommunen keine Allgemeinzuständigkeit des Bundes für die Probleme vor Ort werden darf. Das Argument, die Menschen würden es nicht verstehen, dass der Bund nicht für marode Schulen zuständig sei, lässt sich genauso auf marode Straßen und Brücken, andere öffentliche Einrichtungen oder geschlossene Schwimmbäder ausdehnen. Sägen die Länder mit ihren Forderungen also am Ast des Föderalismus, auf dem sie selbst sitzen? ({4}) Lässt sich das Vertrauen in einen Staat stärken, wenn Zuständigkeiten verwässert werden? Ich denke: Nein, meine Damen und Herren. Deshalb gilt: Am Grundsatz, dass für angemessene Finanzausstattung der Kommunen die jeweiligen Bundesländer verantwortlich sind und bleiben, darf sich auch nach der anstehenden Grundgesetzänderung nichts ändern. ({5}) Und eines, meine Damen und Herren, muss auch klar sein: Wenn der Bund Mittel für die Kommunen zur Verfügung stellt, müssen diese ungekürzt und zusätzlich vor Ort ankommen. Kommunalmittel sind kein Beitrag zur Konsolidierung von Landeshaushalten. ({6}) Eine gekürzte Weiterleitung der Bundesmittel oder eine Verrechnung im Zuge des kommunalen Finanzausgleichs sind ebenso inakzeptabel wie der Ersatz von Landesmitteln durch Bundeshilfen, beispielsweise bei Investitionszuschüssen. Machen Länder nicht? – Doch, meine Damen und Herren! Alles schon vorgekommen. Die in diesem Jahr erstmals greifende Kommunalentlastung in Höhe von eigentlich 5 Milliarden Euro ist dafür symptomatisch. Auf Druck der Länder werden 1 Milliarde Euro über die Landeshaushalte und nicht direkt an die Kommunen verteilt. Eine vollständige Weiterleitung an die Kommunen erfolgt aber längst nicht in allen Ländern. Besonders dreist fallen Rheinland-Pfalz und Brandenburg auf: Der überwiegende Teil des über das Land weitergeleiteten Geldes – nämlich 77 Prozent in Rheinland-Pfalz und 80 Prozent in Brandenburg – verbleiben im Landeshaushalt und werden nicht an die Kommunen weitergeleitet. Ich nenne das unredlich, meine Damen und Herren, und so darf es hier nicht weitergehen! ({7}) Liebe Länder, behandeln Sie Ihre Kommunen, wie Sie selbst behandelt werden wollen! Bewahren Sie den Schatz der kommunalen Selbstverwaltung! Denn ohne Kommunen ist kein Staat zu machen. Danke. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich erteile der Kollegin Katja Suding, FDP-Fraktion, das Wort. ({0})

Katja Suding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue mich sehr, dass wir heute endlich über eine Modernisierung des Bildungsföderalismus debattieren. Unsere Schulen stehen vor riesigen Herausforderungen: Integration, Sprachförderung, Inklusion, Lehrermangel, marode Schulgebäude und Digitalisierung. Schüler, Eltern und Lehrer warten sehnsüchtig darauf, dass der Bund mehr Verantwortung übernimmt. Und so sehr wir als FDP eine Lockerung des Kooperationsverbotes unterstützen: Der Entwurf der Bundesregierung ist zu wenig. Wir brauchen mehr als nur Investitionen in Kabel und Beton. ({0}) Deshalb legen FDP und Grüne heute einen gemeinsamen Antrag vor. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, ja, es geht, man kann in diesem Hause tatsächlich noch über Parteigrenzen hinweg in der Sache arbeiten. ({1}) Unser gemeinsamer Antrag enthält zwei Kernforderungen. Erstens. Der Bund soll die Länder und Kommunen nicht nur mit kurzlebigen Programmen unterstützen dürfen, sondern muss es dauerhaft tun können. Deshalb müssen Degressivität und Befristung der Mittel gestrichen werden. Länder wie Dänemark und die Niederlande sind uns im Wettlauf um die beste Bildung zehn Jahre voraus. An die Spitze kommen wir nicht mehr mit ein paar Hundertmetersprints, sondern nur mit einem entschlossenen und dauerhaften Marathon. Und zweitens. Der Bund soll gemeinsam mit den Ländern bundesweit einheitliche und ambitionierte Bildungsstandards schaffen und deren Umsetzung sicherstellen. Die Bildungschancen unserer Kinder dürfen nicht länger davon abhängen, in welchem Bundesland sie zur Schule gehen. Die Menschen nehmen das zu Recht nicht mehr hin. ({2}) Ein Abitur in Bremen oder Berlin muss endlich so hohe Standards erfüllen wie eines in Bayern oder Sachsen, und ein Umzug in ein anderes Bundesland darf für Familien mit schulpflichtigen Kindern keine Zumutung mehr sein. In der Debatte sind ja einige kritische Anmerkungen zu unseren Vorschlägen gemacht worden, auf die ich gerne kurz eingehen möchte. Es ist gesagt worden: Bundesweit einheitliche Standards würden bedeuten, dass quasi ein Berliner Bundeskultusministerium in jede Schule hineinregiert. Das ist natürlich falsch. Wir wollen genau das Gegenteil. Wir wollen verbindliche Ziele setzen. Auf welchem Weg diese Ziele aber am besten erreicht werden, das sollen die Lehrer, Eltern und Schüler vor Ort entscheiden; sie sind die Experten, nicht die Bürokraten. ({3}) Andere kritische Töne betreffen die Kontrolle der Mittelverwendung. Natürlich darf der Bund nicht nur Zahlmeister sein. Als der Bund die Finanzierung des BAföG übernommen hat, haben etliche Länder mit den freigewordenen Mitteln eben nicht die Bildung gestärkt, sondern ihre Haushaltslöcher gestopft. Auch beim Hochschulpakt weiß der Bund nicht genau, wie die Gelder konkret verwendet werden. Die Mittel für die Bildung müssen endlich wirksamer eingesetzt werden; das muss kontrolliert werden. Wir werden an dieser Stelle auch nicht lockerlassen. Schließlich – das ist ja auch immer zwischen den Zeilen angeklungen – wurde gesagt: Wenn wir den Entwurf der Bundesregierung nicht einfach abnicken, würden wir die Grundgesetzänderung und damit auch den DigitalPakt verschleppen. Das ist natürlich falsch. Wenn der Bauer nicht schwimmen kann, dann hat doch nicht die Badehose Schuld. ({4}) Dass der DigitalPakt vor zwei Jahren großspurig angekündigt wurde, die Länder aber immer noch keinen Cent gesehen haben, hat nur einer zu verantworten, und das ist diese Bundesregierung. Nicht wir verzögern die Grundgesetzänderung; das sind schon Sie. Lieber Herr Minister Scholz und liebe Frau Ministerin Karliczek – auch Sie spreche ich da an –, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, Sie wissen doch seit langem, dass Sie keine eigene Mehrheit haben, sondern die Stimmen von FDP und Grünen benötigen. Wir haben Ihnen immer wieder das Gespräch angeboten; Sie haben noch nicht mal darauf geantwortet. ({5}) Wir fragen uns jetzt: Wie ernst meinen Sie es eigentlich mit der Grundgesetzänderung? Spekulieren Sie vielleicht am Ende sogar darauf, dass Sie gar keine parlamentarische Mehrheit bekommen? Herr Haase hat ja in seinem Beitrag gerade eigentlich gegen den Antrag der Bundesregierung gesprochen. In den Jamaika-Verhandlungen gab es ja auch ein Veto aus der Union gegen die Reform des Bildungsföderalismus. Deshalb wollen wir von Ihnen, lieber Herr Minister, endlich ein Zeichen sehen. Steigen Sie mit uns in die Verhandlungen ein! Oder sagen Sie einfach klipp und klar, dass Sie eigentlich auf ein Scheitern setzen! Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Caren Lay. ({0})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir hier beschließen, dass der Bund wieder für den sozialen Wohnungsbau zuständig wird und diesen dann auch weiter mitfinanzieren kann, dann freue ich mich; denn damit würde eine langjährige Forderung der Linken, eine langjährige Forderung auch von mir ganz persönlich in Erfüllung gehen. Sie sehen, meine Damen und Herren: Die Linke wirkt. ({0}) Ich darf mich über diesen Sinneswandel auch freuen; denn als wir dieses Anliegen vor 15 Monaten hier zur Abstimmung gestellt haben, gab es noch Ablehnung der Koalition und Enthaltung der Grünen. Ich freue mich sehr, wenn Sie Ihre Meinung an dieser Stelle ändern. ({1}) Nun habe ich gehört, dass die FDP von diesem Vorhaben noch nicht überzeugt ist, Herr Lindner. Wohngeld alleine ist nicht die Lösung, auch wenn ich weiß, dass das ein beliebtes Argument der Immobilienlobby ist. Klar wollen die das. Aber das heißt ja im Endeffekt, dass wir mit öffentlichen Geldern die Rendite in privaten Händen, die Mietenexplosion in den Händen von wenigen Konzernen subventionieren würden. Das ist finanziell keine nachhaltige Politik. ({2}) Wenn wir keine Belegungsrechte für Sozialwohnungen mehr haben, dann heißt das, dass sich bald kein Normalverdiener eine Wohnung in den Innenstädten mehr leisten kann. Dann haben wir dort Monokulturen von Besserverdienenden und Businessleuten; das können wir alle nicht wollen. ({3}) Ja, keine Frage: Die Verantwortung für den sozialen Wohnungsbau in die Hände der Länder zu geben, war keine gute Idee. Die Anzahl der Sozialwohnungen sank rapide. Sie liegt gerade mal bei 1,2 Millionen. Auch die Zweckentfremdung der Mittel für den sozialen Wohnungsbau durch die Länder erreicht erhebliche Größenordnungen; das habe ich mit meinen Anfragen regelmäßig nachgewiesen. Der massive Rückgang an Sozialwohnungen ist auch schuld an der Mietenkrise. Deswegen müssen wir diese Politik ändern. ({4}) Ich finde allerdings, dass es zu kurz greift, sich als Bundesregierung einen schlanken Fuß zu machen und zu sagen: Allein die Länder sind schuld am Niedergang des sozialen Wohnungsbaus. Ich will daran erinnern: Es war die gleiche Koalition, ({5}) die diese Frage vor zwölf Jahren entschieden und, wie wir heute wissen, falsch entschieden hat. ({6}) Als die Föderalismusreform 2006 hier diskutiert wurde – ich habe mir das Plenarprotokoll extra noch einmal durchgelesen –, war es allein Die Linke, die problematisiert hat, dass es zu einem Rückgang der sozialen Wohnungen kommen wird. Deswegen haben wir dem damals auch nicht zugestimmt. Und als wir vor fünfeinhalb Jahren einen Neustart im sozialen Wohnungsbau gefordert haben, ernteten wir vor allen Dingen von der Unionsfraktion Hohn und Spott. Wenn wir jetzt aber die Grundlagen legen, dass der Bund Sozialwohnungen weiterhin mitfinanzieren darf, dann sollten wir aus meiner Sicht auch mehr mitreden dürfen. Denn es geht nicht nur um das Ob des sozialen Wohnungsbaus, sondern auch um das Wie; und da muss sich einiges ändern. ({7}) Mit den Geldern für den sozialen Wohnungsbau Haushaltslöcher zu stopfen oder Eigenheime zu subventionieren – damit, meine Damen und Herren, muss endlich Schluss sein. Ein anderes und aus meiner Sicht das zentrale Problem sind die auslaufenden Belegungsbindungen. Das heißt: 15 Jahre lang gelten die subventionierten Wohnungen als Sozialwohnungen; danach fallen sie aus der Belegungsbindung. Das ist ein Fehler. In Zukunft muss gelten: einmal Sozialwohnung, immer Sozialwohnung. ({8}) Es fehlen nämlich im Moment 4 bis 5 Millionen Sozialwohnungen. Die 100 000 Wohnungen, die Sie in dieser Legislatur bauen wollen, sind natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein; denn wenn jedes Jahr mindestens 80 000 Wohnungen aus der Sozialbindung herausfallen, dann werden wir am Ende der Legislatur weniger Sozialwohnungen statt mehr Sozialwohnungen haben. Und das ist eine falsche Politik. ({9}) Dafür wird es am Ende des Tages Geld brauchen. Die 5 Milliarden Euro, die Sie in dieser Legislatur und nicht, wie wir fordern, im Jahr zur Verfügung stellen, reichen nicht aus. Sie geben demgegenüber 14 Milliarden Euro für Sonder-AfA und für Baukindergeld aus. Das, meine Damen und Herren, steht in keinem Verhältnis. ({10}) Zu guter Letzt: Wenn Fehler korrigiert werden sollen, dann bitte schön auch noch weitere; denn die falsche Wohnungspolitik hat ihren Anfang nicht erst in der Föderalismusreform 2006, sie begann 1989 mit der Abschaffung der Wohngemeinnützigkeit. Diese müssen wir jetzt in veränderter, in moderner Form wieder einführen. Das ist der nächste Schritt. Daran werden wir weiter arbeiten. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Katja Dörner das Wort. ({0})

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mit der Einführung des sogenannten Kooperationsverbots in der Bildung wurde ein sehr schwerer Fehler gemacht. ({0}) Es ist einfach an der Zeit, nicht nur diesen Fehler zu korrigieren; es ist auch Zeit, unseren Bildungsföderalismus auf gesunde Füße zu stellen. Es ist Zeit für einen modernen Bildungsföderalismus, in dem der Bund, die Bundesländer und die Kommunen im Sinne der Bildung, im Sinne der Kinder und Jugendlichen an einem Strang ziehen können. ({1}) Wir beraten heute eine Grundgesetzänderung. Das ist ja keine Lappalie. Wenn man das Grundgesetz ändert, dann sollte man es auch gut und richtig machen. Wir haben jetzt die große Chance, wichtige Weichen zu stellen und die Bildungspolitik in diesem Land ernsthaft zum Besseren zu bewegen. Ich sage Ihnen: Ich habe es satt, in jedem Bildungsbericht, in jeder OECD-Studie, ja sogar in jeder dritten Pressemitteilung der Bildungsministerin zu lesen, wie eng der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg in diesem Land ist. Dass wir beim Thema „Chancengleichheit in der Bildung“ weiter Schlusslicht sind, das muss ein Ende haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Ohne die Möglichkeit, dass Bund und Länder zusammenarbeiten, wird das kein Ende haben. Deshalb sind wir als grüne Bundestagsfraktion – ich denke, das gilt auch für die FDP-Fraktion – sehr entschieden und sagen ganz klar: Ein kleiner Schritt in die richtige Richtung ist zwar nie verkehrt; aber der kleinste gemeinsame Nenner von SPD und Union reicht an dieser Stelle nicht. Das ist nicht das, was diese Republik braucht. Nein, wir müssen jetzt das tun, was tatsächlich notwendig ist. Das heißt für den Bund, nicht nur in Beton, sondern in Köpfe zu investieren, nicht nur Schulklos zu sanieren oder Whiteboards aufzuhängen – – ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ronja Kemmer?

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Ronja Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, herzlichen Dank. – Ihre Kritik geht ja dahin, dass die Grundgesetzänderung nicht weit genug gehen würde. Jetzt wundere ich mich schon; denn da, wo die Grünen in den Ländern Verantwortung tragen, zum Beispiel in Baden-Württemberg, gibt es auch andere Stimmen. Ministerpräsident Kretschmann bezeichnet die jetzige Grundgesetzänderung als zu weit gehend, als Aushöhlung des Föderalismus. Da frage ich mich dann schon: Was ist denn jetzt die Position der Grünen? Zwischen Bund und Ländern scheint die ja nicht wirklich abgestimmt zu sein. ({0})

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wissen Sie, es ist ja der Kern des Föderalismus, dass eine Bundestagsfraktion und ein Ministerpräsident eines Bundeslandes auch unterschiedlicher Meinung sein dürfen. ({0}) Ich habe, glaube ich, die Meinung der Bundestagsfraktion an dieser Stelle sehr deutlich gemacht. ({1}) Es darf eben nicht so sein, dass nur Schulklos saniert und Whiteboards aufgehängt werden, sondern es muss auch in die Ganztagsbetreuung investiert werden können, in die Inklusion. Unsere Lehrkräfte müssen fit gemacht werden für den digitalen Wandel. Das werden die Bundesländer nicht alleine wuppen können, und die Schülerinnen, die Lehrkräfte, die Eltern, alle, die mit Schule zu tun haben, wissen das auch. ({2}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir müssen jetzt die Chance nutzen, Möglichkeiten zu schaffen, um wichtige Ziele auf einem vernünftigen Weg erreichen zu können. Das Bildungs- und Teilhabepaket ist ein Beispiel für einen unvernünftigen Weg. Es ist ein kompliziertes Von-hinten-durch-die-Brust-ins-Auge-Konstrukt, das unter anderem versucht, die Nachhilfe für arme Kinder unter mühsamer Umgehung des Kooperationsverbots zu finanzieren – mit dem Effekt, dass ein Großteil der anspruchsberechtigten Kinder diesen Anspruch gar nicht wahrnimmt. Zu kompliziert, zu bürokratisch. Das ist doch absurd. Warum legt der Bund sich selbst Steine in den Weg? Warum kann er nicht unmittelbar in die Schulen investieren? Das ist aus unserer Sicht nicht nachvollziehbar. ({3}) Deshalb wollen wir einen mutigen Schritt bei dieser Grundgesetzänderung. Wir wollen nicht nur den Artikel 104c ändern, damit der Bund dauerhaft und nicht nur befristet in die Infrastruktur investieren kann, sondern auch in Artikel 91b die Möglichkeit für Vereinbarungen zwischen Bund und Bundesländern im Sinne der Verbesserung der Qualität von Bildung schaffen. Ich sage es noch einmal, weil das ja hier in diversen Debattenbeiträgen ziemlich durcheinanderging: Wir wollen die Möglichkeit für Vereinbarungen zwischen Bund und Bundesländern schaffen. Der Bund soll den Ländern die Hand reichen können, um miteinander zu kooperieren. Sich dem entgegenzustellen, das ist für uns rundum nicht nachvollziehbar. ({4}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, vor exakt zehn Jahren hat die Union die Bildungsrepublik Deutschland ausgerufen. Unlängst rief Volker Kauder den Bildungsnotstand aus. Nach 13 Jahren CDU-Bildungsministerinnen und genauso langem Gewürge um dieses Kooperationsverbot muss ich sagen: Eine solche Äußerung ist einfach nur noch Realsatire. ({5}) Wir brauchen jetzt einen mutigen Schritt. Ich erwarte – ich denke, es ist an der Zeit –, dass die Regierungsfraktionen mit uns über diesen Schritt ins Gespräch kommen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort die Kollegin Ulli Nissen. ({0})

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist für mich eine große Ehre, dass ich heute zu den geplanten Verbesserungen beim Grundgesetz reden darf. Für diese jetzt hoffentlich kommenden Änderungen habe ich mich schon lange eingesetzt. Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir das Leben der Menschen in unserem Land verbessern. Wir werden ein milliardenschweres Investitionspaket für die Städte und Gemeinden auf den Weg bringen. Es geht um den Ausbau der kommunalen Bildungsinfrastruktur, um die Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs und um die Förderung des sozialen Wohnungsbaus – alles Themen, die unmittelbar wichtig sind für ein gutes Zusammenleben der Menschen und für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. ({0}) Ich als Baupolitikerin spreche bei den Grundgesetzänderungen zum Bereich „bezahlbares Wohnen“. Die SPD hat lange dafür gekämpft, dass die soziale Wohnraumförderung fortgeführt werden kann. Es ist uns gelungen: Die soziale Wohnraumförderung wurde im Koalitionsvertrag festgeschrieben. ({1}) Wir wollen, dass der Bund auch in Zukunft gemeinsam mit den Ländern Verantwortung für die soziale Wohnraumförderung übernehmen kann. Dazu brauchen wir die Grundgesetzänderung. Wenn wir nichts ändern würden, läge die soziale Wohnraumförderung künftig allein bei den Ländern und – besonders wichtig – die Finanzhilfen durch den Bund würden auslaufen und wären nach 2019 nicht mehr möglich. Durch Aufnahme eines zusätzlichen Artikels 104d Grundgesetz wird dem Bund die Möglichkeit gegeben, den Ländern zweckgebunden Finanzhilfen für den sozialen Wohnungsbau zu geben. „Zweckgebunden“ ist ein ganz wichtiges Stichwort. Viele Jahre hat der Bund den Ländern Milliarden für den sozialen Wohnungsbau gegeben. Leider haben nur 3 von 16 Bundesländern die Mittel in all diesen Jahren auch wirklich dafür verwandt. Große Hochachtung an Hamburg! Olaf, ich habe mir die Zahlen angeschaut: Ihr habt das großartig gemacht! ({2}) Leider gehörte mein eigenes Bundesland Hessen nicht zu den Guten. Die Mittel wurden zum Teil fremdverwandt. Das gibt es nach der Grundgesetzänderung nicht mehr, liebe Kollegen; und das ist auch gut so. ({3}) Wir von der SPD-Bundestagsfraktion denken, dass wir bei der Unterstützung der Kommunen auch die Stadtentwicklung mit einbeziehen müssen. Wir wollen im parlamentarischen Verfahren prüfen, ob wir Artikel 104d Grundgesetz auch im Hinblick auf die künftigen Bedarfe unserer Städte und Gemeinden um die Städtebauförderung ergänzen können. Das wäre aus meiner Sicht ein wichtiger Schritt. Noch einmal: Es geht um Milliarden, die der Bund an die Kommunen geben will. Wir wollen starke Städte und Gemeinden, und wir wollen gute öffentliche Leistungen für die Menschen in unserem Land bei Bildung, beim öffentlichen Personennahverkehr und beim Wohnen. Für diese Änderung des Grundgesetzes brauchen wir im Bundestag und im Bundesrat die entsprechenden verfassungsändernden Mehrheiten. Deshalb mein Appell an Grüne, Linke und FDP: Lassen Sie uns gemeinsam an einem Strang ziehen, um die Lebensbedingungen in unserem Land zu verbessern! Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Als Nächstes hat das Wort der Kollege Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Eine Verbesserung der Bildungsinfrastruktur ist lange überfällig. An Geld mangelt es an allen Ecken und Enden, und das mindestens schon seit so vielen Jahren, wie hier in diesem Hause Diskussionen darüber geführt werden. Das wirft auch immer wieder die Frage auf, wo die Finanzmittel der Länder eigentlich hin sind. Gleiches gilt für die Kommunen, welche insbesondere die steigenden Kosten für die Sozialleistungen anführen. Das tun sie aber nicht erst seit der Flüchtlingskrise. Das taten sie auch schon viele Jahre vorher. Seit 2015 kommt halt noch eine schöne Schippe obendrauf, die nur keiner richtig kalkulieren kann. Aber es ist letzten Endes egal, wohin wir das Geld verschieben, auf kommunale Ebene, auf Landesebene, auf Bundesebene. Es sollte sich jeder immer wieder vor Augen führen – das ist so schön eingängig –: Egal ob Bund, Kommune oder Land, es kommt aus Steuerzahlerhand. ({0}) Die Bürger müssen das, was ausgegeben wird, vorher erst mal erwirtschaften. Nun sehen sicherlich wieder einzelne Bundesländer die eigene Entscheidungssouveränität in Gefahr. Aber wenn man sich die zahlreichen Länder anschaut, in denen sich die Schulen in katastrophalem Zustand befinden und in denen die hohen Abschlusszahlen nur noch durch stetes Absenken der Anforderungen erreicht werden, dann müssen wir uns wirklich die Frage stellen, inwieweit wir auch vonseiten des Bundes hier eingreifen. Es braucht eben weit mehr, um unsere Bildung wieder zurück an die Spitze des internationalen Wettbewerbes zu bringen. Als blaue Partei streben wir ebenfalls bundesweit einheitliche Bildungsstandards an, die sich natürlich an den besten Schulsystemen Deutschlands orientieren müssen. Die Zeiten, in denen ein Umzug in ein anderes Bundesland gleichbedeutend mit dem Wechsel in ein anderes Schulsystem mit anderen Schwerpunkten, mit anderen Bewertungsmaßstäben war, müssen der Vergangenheit angehören. Der bildungspolitische Flickenteppich ist eine Belastung für die Schüler, für die Familien und für die Lehrer und damit in der Folge für die Zukunft unseres Nachwuchses. Das kann also nur heißen, sich an den Spitzenreitern in den Bildungsrankings auszurichten. Das sind mit Sachsen und Bayern zwei Länder, die sich den bisherigen Bildungsexperimenten wie Inklusion, Gender, Abschaffung der Mehrgliedrigkeit, Absenkung der Leistungsstandards völlig zu Recht weitgehend verweigert haben. Die Diskussion über die Unterstützung bei der Schaffung von Wohnraum scheint mir eine Symptomdebatte, die wir ewig führen werden, wenn sich nichts an den eigentlichen Ursachen ändert. Die Ursachen dafür, dass Menschen Mieten nicht mehr bezahlen können, sind unter anderem eben auch zu hohe Steuern, zu hohe Energiekosten, die Euro-Politik, zu geringe Löhne, zu viele Aufstocker und damit letzten Endes viel zu wenig Kaufkraft im Vergleich zur eigentlichen Arbeitsleistung. Wer in dieser Diskussion diese Dinge ignoriert, der mag nach Marzahn schauen. Dort stehen die Paradebeispiele sozialistischen Wohnungsbaus. Das hat die Menschen nicht glücklich gemacht, und das weiß ich aus eigener Erfahrung. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Kai Wegner hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Kai Wegner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003860, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 2006 wurde die soziale Wohnraumförderung in die alleinige Verantwortung der Länder übertragen. Deutschland war angeblich „fertig gebaut“, und auch hier im Haus war der Ruf nach „Bildung statt Beton“ zu hören. Heute, zwölf Jahre später, müssen wir feststellen: Diese Entscheidung hat sich in Zeiten angespannter Wohnungsmärkte nicht bewährt. Heute geht es nicht mehr um Bildung statt Beton, heute geht es um Bildung und Beton, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das bezahlbare Wohnen steht nun wieder ganz oben auf der politischen Agenda. Die Öffentlichkeit erwartet, dass der Bund hier maßgeblich zur Problemlösung beiträgt, ganz unabhängig davon, was dazu im Einzelnen im Grundgesetz steht. Ohne die sprichwörtlichen goldenen Zügel ist die wirksame Aufgabenwahrnehmung durch viele Länder leider nicht vollständig gewährleistet. Eckhardt Rehberg hat vorhin die Zahlen dargestellt. Die von der Bundesregierung vorgeschlagene Grundgesetzänderung greift das auf und macht, wie ich finde, dazu ein gutes Angebot. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine erneute Grundgesetzänderung machen wir uns nicht leicht, weil unser föderales System von klaren Verantwortlichkeiten lebt. Aber bei der Versorgung aller Bürger mit Wohnraum handelt es sich in der Tat um eine nationale Aufgabe. Darum ist es sinnvoll und geboten, dass sich der Bund zukünftig aktiv auch hier wieder mit zweckgebundenen Finanzhilfen voll einbringen kann. ({0}) – Ja, in der Tat, zweckgebunden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Wohnungsfrage muss sich die Stärke unserer sozialen Marktwirtschaft bewähren. Gerade weil unsere Marktwirtschaft sozial ist, müssen wir immer darauf reagieren, wenn sich Menschen in Deutschland aus eigener wirtschaftlicher Kraft unter reinen Marktbedingungen angemessenen Wohnraum nicht leisten können. Das machen wir als Bundesregierung: über das Wohngeld, über das soziale Mietrecht. Das machen wir selbstverständlich aber auch über die soziale Wohnraumförderung. Die soziale Wohnraumförderung ist integraler Bestandteil unseres Sozialstaates. Darauf können wir stolz sein. ({1}) 5 Milliarden Euro nimmt allein der Bund bis 2021 für den sozialen Wohnungsbau in die Hand. Wenn wir die Mittel der sozialen Wohnraumförderung von Bund, Ländern und Kommunen zusammenrechnen, können damit 100 000 zusätzliche Sozialwohnungen entstehen. Für die Herausforderungen auf dem Wohnungsmarkt ist die Zukunftssicherung der sozialen Wohnraumförderung kein Allheilmittel, aber sie ist ein wichtiger Bestandteil der gemeinsamen Wohnraumoffensive von Bund, Ländern und Kommunen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Wohnungspolitik stehen wir vor großen Herausforderungen, und wir als Bundesregierung, wir als Koalition gehen diese auch an. Mir ist durchaus bewusst, dass es – das hat auch die Aktuelle Stunde am vergangenen Mittwoch gezeigt – bei der Wohnungspolitik unterschiedliche Positionen, unterschiedliche Auffassungen hier im Hause gibt. Unser Ansatz, der Ansatz der CDU/CSU, ist, dass wir von allem etwas brauchen. Wir brauchen einen breiten Mix, um diesen Herausforderungen gerecht zu werden. Wenn wir uns darauf verständigen könnten, dass wir von allem etwas brauchen, sehe ich große Chancen, dass wir fraktionsübergreifend für die angemessene Wohnraumversorgung der Bürger gemeinsam sehr viel erreichen können. Daher bitte ich Sie: Lassen Sie uns in den Ausschussberatungen immer im Kopf behalten, was für ein starkes Signal es ist, wenn das Parlament mit breiter Mehrheit ({2}) – wenn das Parlament mit breiter Mehrheit, lieber Herr Kubicki – seinen Beitrag dazu leistet, die soziale Wohnraumförderung mit starker Unterstützung des Bundes und zweckgerichtetem Mitteleinsatz für die Zukunft zu sichern, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich glaube, das erwarten die Menschen von uns. Das ist alle Anstrengungen wert, und dieser Verantwortung für das soziale Gesicht in unserem Land sollten wir gemeinsam gerecht werden. Lassen Sie uns über den richtigen Weg diskutieren, aber lassen Sie uns diskutieren mit dem klaren Ziel einer Einigung: dass wir es hinbekommen, dass das Grundgesetz für die Menschen in diesem Land in dieser Form geändert wird. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Oliver Kaczmarek. ({0})

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, dass auf diese Debatte nicht nur viele Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker, sondern auch viele Beteiligte in Schulen und Verbänden gewartet haben. Der Unterschied zu den vielen Diskussionen, die wir über das Kooperationsverbot in diesem Haus schon geführt haben, und der Unterschied zu Klammerbemerkungen in Sondierungspapieren ist doch: Wir haben einen Gesetzentwurf der Bundesregierung auf der Grundlage eines Koalitionsvertrages. Damit liegt der Aufbruch zu Digitalisierung und Ganztag zum Greifen nahe. Bitte lassen Sie uns diese Chance gemeinsam ergreifen. ({0}) Was wir wollen, ist nicht eine Veränderung der Zuständigkeiten – der Minister hat gerade darauf hingewiesen –, sondern eine neue Verantwortungsgemeinschaft von Bund, Ländern und Kommunen für die großen Herausforderungen im Bildungswesen. Wir wollen, dass sie auf Augenhöhe kooperieren. Deswegen ist das keine abstrakte Gesetzesänderung, sondern wir wollen etwas erreichen. Ich will Ihnen drei Beispiele nennen, damit deutlich wird, warum wir das machen. Wir wollen erstens, dass Schulen weiterhin modernisiert werden. Wir wollen uns nicht damit abfinden, dass Schülerinnen und Schüler teilweise die Toiletten meiden, weil sie sich in keinem guten Zustand befinden. Wir wollen die Schulsanierung weiterführen. Mit dieser Grundgesetzänderung ermöglichen wir, dass das nicht nur auf finanzschwache Kommunen begrenzt ist. Es ist ein guter Schritt, wenn wir das gemeinsam schaffen. ({1}) Wir wollen zweitens qualitativ hochwertige Angebote der Ganztagsbetreuung, insbesondere in Grundschulen. Die Eltern brauchen das. Die Kinder profitieren davon. Das ist ein richtig guter Schritt in Richtung Chancengleichheit. Drittens. Der DigitalPakt ist hier schon angesprochen worden. Ich glaube, es ist mittlerweile unumstritten, dass wir ihn als Instrument brauchen. Die GEW, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, hat in dieser Woche eine Lehrerbefragung vorgelegt. 82 Prozent aller Lehrerinnen und Lehrer sagen, die technische Ausstattung ihrer Schulen sei ein sehr großes Hindernis für die weitere Schulentwicklung. Deswegen müssen wir jetzt die Grundlagen dafür schaffen. Wir dürfen jetzt nicht noch mehr Zeit verplempern. Das hat es beim DigitalPakt lange genug gegeben. Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass es am 1. Januar nächsten Jahres losgeht und die Schulträger Anträge stellen können. ({2}) Das sind wir den Schulen, den Schülerinnen und Schülern schuldig. ({3}) Wir wissen doch, dass es derzeit keine Absicherung für diese Vorhaben im Grundgesetz gibt. Es ist klar, dass das, was die ehemalige Bildungsministerin vorgeschlagen hat, nämlich das über den Artikel 91c Grundgesetz, über die Verwaltungszusammenarbeit im IT-Bereich, abzuwickeln, nicht geht. Das ist hinlänglich belegt, auch durch Kommentare. Es ist eine Feststellung, die im Übrigen auch Bündnis 90/Die Grünen in der vergangenen Wahlperiode getroffen haben. Also, dieser Weg ist nicht gangbar. Sie von FDP und Grünen wissen doch, dass das, was Sie vorschlagen – bei aller Sympathie, die man dafür haben kann –, nicht nur hier im Haus beschlossen werden muss. Sie wissen doch, dass es hier im Haus – Sie haben mit der CDU/CSU selbst verhandelt – auf große Vorbehalte stößt und auch bei den eigenen Ländern auf Vorbehalte stoßen wird. Deswegen meine Bitte: Wir dürfen die Vorbehalte bei der Gesetzesänderung, die Sie vorschlagen, nicht ignorieren. Ich glaube, das verzögert die Abläufe. Wir müssen deutlich machen: Taktik darf nicht wichtiger sein, als Verantwortung zu übernehmen. ({4}) Ich plädiere dafür, dass wir gemeinsam Verantwortung übernehmen, und lade dazu ein. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU hat das Wort der Kollege Alois Rainer. ({0})

Alois Rainer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004384, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute in erster Lesung über die Änderung des Grundgesetzes, die Änderung der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Es gibt viele Gründe dafür; viele sind auch schon angesprochen worden. Ein Grund ist, dass es im Koalitionsvertrag verankert worden ist. Ich bin und bleibe ein großer Fan des Föderalismus in unserer Bundesrepublik Deutschland. Er wurde schon 1949 im Grundgesetz verankert. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich immer mal wieder höre, es gibt Schulhäuser, in denen die Toiletten nicht in Ordnung sind, dann mag das durchaus stimmen. Ich erinnere mich gerne an meine Zeit als Bürgermeister. Das war eine gute Lehrzeit. Ich kann an jeden Bürgermeister und auch an jede Landesregierung nur appellieren: Setzen Sie Prioritäten! Zeigen Sie nicht immer mit dem Finger auf den Bund! Fordern Sie nicht immer, der Bund soll sanieren! Denn es gibt Zuständigkeiten, und hier liegen sie nun einmal bei den Kommunen und bei den Ländern. ({0}) Ja, wir wollen helfen, und das ist gut. Bisher hatten wir nur notleidenden Kommunen unter die Arme greifen können. In Zukunft sollen wir bei der Bildungsinfrastruktur jeder Kommune unter die Arme greifen können. Man kann sich seine Gedanken darüber machen. Ich hoffe, dass am Ende der Tage nicht wir im Deutschen Bundestag die Verantwortung für marode Schulhäuser tragen. Wenn es um Bildungsinfrastruktur geht, geht es auch um Investitionen in die Köpfe. Wir müssen uns darüber miteinander unterhalten. Aber ich denke, es wird schwierig werden, den Kultusministerinnen und ‑ministern unserer Bundesländer zu sagen, wie sie es machen sollen. Sie nehmen gerne das Geld, das wir für Investitionen zur Verfügung stellen, aber die Entscheidungen darüber sollen bei den Ländern liegen. Ich finde das auch gut. Ich weiß auch, dass sich die Kultusminister zum Beispiel schon länger über das Thema unterhalten, dass man die Abiturnoten in Deutschland harmonisieren könnte. Na ja, wenn man sich am bayerischen System orientiert, dann kann ich mir es durchaus gut vorstellen, dass das funktioniert. ({1}) Aber andere Länder werden das nicht mitmachen. Ich bin stolz darauf, Mitglied dieser regierungstragenden Partei zu sein. Wir haben die kommunalfreundlichste Bundesregierung, die es je gab, schon in der letzten und auch in dieser Legislatur. Der Bund entlastet die Länder und Kommunen im Jahr 2018 um circa 75 Milliarden Euro. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist richtig gut. Das darf man auch einmal sagen. ({2}) Für eine Grundgesetzänderung braucht man eine Zweidrittelmehrheit. Das finde ich gut. So ein wichtiges Gesetz braucht eine breite Mehrheit. Auch hier muss man sich noch unterhalten. Wir werden mit dieser Grundgesetzänderung die Möglichkeit schaffen, den Ländern mehr Geld zum Beispiel für den sozialen Wohnungsbau zu geben. Es wurde vorhin schon darüber gesprochen, welche Länder das zur Verfügung gestellte Geld bisher ordentlich eingesetzt haben. Ich hoffe, es folgen viele Länder dem Beispiel Bayerns, indem man das Geld, das der Bund für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung stellt, auch für den sozialen Wohnungsbau verwendet. Das ist unglaublich wichtig. Wir haben einen Wohnungspakt. Wir wollen zusätzliche bezahlbare Wohnungen bauen lassen. Wir lassen uns auch gerne in die Verantwortung nehmen, aber wir lassen nicht zu, dass sich die Länder aus ihrer Verantwortung stehlen. Das darf nicht passieren. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich fordere ausdrücklich: Wenn der Bund mehr Geld zur Verfügung stellt, dann brauchen wir verfassungsmäßig die entsprechende Kontrolle über das Geld, das wir zur Verfügung stellen. Es soll nämlich für den Zweck verwendet werden, für den wir es zur Verfügung stellen. Es soll der Grundsatz gelten: keine Leistung ohne Gegenleistung. Ich freue mich auf die kommenden spannenden Verhandlungen zu diesem Thema. Wir haben am Montag der nächsten Sitzungswoche eine Anhörung zu den geplanten Grundgesetzänderungen. Ich bin der Meinung, man sollte sich die Zeit nehmen, über diese wichtigen Änderungen unserer Verfassung ausführlich zu diskutieren. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Tankred Schipanski, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das ist eine amüsante Debatte heute Morgen, gerade mit Blick auf den Bildungsbereich. Ich möchte zur Ausgangslage zurückkommen. Es geht um den Koalitionsvertrag Zeilen 1 139 bis 1 145, in dem wir versprechen: Zur Verbesserung der Bildung werden wir eine Investitionsoffensive für Schulen auf den Weg bringen. Diese umfasst zusätzlich zum laufenden Schulsanierungsprogramm die Unterstützung der Länder … – Hört! Hört! Wir kooperieren schon, Bund und Länder arbeiten schon zusammen. – Wir wollen insbesondere Investitionen in die Bildungsinfrastruktur leisten. Dazu werden wir die erforderliche Rechtsgrundlage in Art. 104c Grundgesetz (GG) durch die Streichung des Begriffs „finanzschwache“ in Bezug auf die Kommunen anpassen. Die Kultushoheit bleibt Kompetenz der Länder. Alois Rainer hat es gesagt: Es geht darum, dass mit Blick auf die Bildungsinfrastruktur nicht nur finanzschwache Kommunen zukünftig unsere Hilfe bekommen, sondern Länder und Kommunen generell. Die AfD will alles so belassen, wie es ist. Das ist ihr gutes Recht. Dieser Ansicht kann man sein. Grüne und FDP sagen: Lasst die Hände von Artikel 104c, ändert lieber Artikel 91b und Artikel 104b Grundgesetz. – Sie verknüpfen damit eine Sachfrage, bei der es um eine Rechtsgrundlage für eine notwendige Maßnahme geht, nämlich den DigitalPakt, mit einer generellen Föderalismusdebatte. Die Regierungskoalition will mit dieser Grundgesetzänderung den DigitalPakt ermöglichen, den wir schon so oft hier in diesem Hause diskutiert haben. Es geht um 5 Milliarden Euro, die wir für die wichtige Aufgabe „digitales Lernen“ temporär zur Verfügung stellen wollen. Wir wollen finanzielle Impulse setzen, wir wollen anschieben, wir wollen die Länder anspornen und sie motivieren, ihrer Verantwortung bei der digitalen Bildung nachzukommen. Ich bin sehr überrascht, dass die FDP plötzlich gegen Ansporn und gegen Leistung ist. Das ist schon sehr vielsagend. Wir brauchen den DigitalPakt. Er ist Startschuss, Weckruf und Ansporn. Wer sich gegen die geplante Grundgesetzänderung stellt, stellt sich gegen den DigitalPakt. Er stellt sich auch gegen das Geld, das der Finanzminister bereits zur Verfügung gestellt hat. Er verhindert gute Bildung und fördert sie nicht.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich würde gerne ausführen und später auf eine Kurzintervention reagieren. Wenn FDP und Grüne in dieser Debatte von Ermöglichen sprechen, dann müssen wir in einer sachlichen Debatte auch schauen, was überhaupt möglich ist. Wir debattieren die Grundgesetzänderung eben nicht im luftleeren Raum. Wir benötigen auch eine Zweidrittelmehrheit im Bundesrat. Ich kenne keinen einzigen Ministerpräsidenten, der auf seine Kultushoheit verzichten will, aber genau das schlagen FDP und Grüne in ihrem Antrag vor. ({0}) Für die Grünen scheint es ganz normal zu sein, dass die Bundestagsfraktion eine andere Meinung vertritt als ihre Länderkollegen, insbesondere der Ministerpräsident. Außerdem verwenden Sie wiederholt den Begriff „Kooperationsverbot“ bewusst falsch. ({1}) Sie wissen, dass wir in einem Bundesstaat leben und dass unsere Verfassung ein Kooperations ge bot enthält. Sie wissen, dass wir klare Zuständigkeitsregeln haben und dass wir bereits umfangreich kooperieren. Ich denke an den Hochschulpakt, an den Qualitätspakt Lehre und an den Pakt für Forschung und Innovation. Erst gestern wurden den Hochschulen 2,7 Milliarden Euro im Rahmen der Exzellenzinitiative zur Verfügung gestellt. Das ist Kooperation. Da muss der Kollege Lindner nicht erst in die Schweiz schauen; er kann auf Deutschland schauen, wie hier kooperiert wird. ({2}) In Ihrem Antrag und in Ihrem Brief an die Bundeskanzlerin fordern Sie nationale Bildungsstandards und deren verbindliche Umsetzung. Ich freue mich sehr, dass Sie hiermit eine Forderung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion aus dem Jahr 2010 aufgreifen und unterstützen. Jedoch ist Ihr vorgeschlagener Weg, diese Forderung umzusetzen, ein Irrweg; denn der Fehler mit Blick auf Bildungsstandards und Verbindlichkeit liegt nicht in der Verfassung. Der Mangel liegt in einem fehlerhaften Verfahren der Kultusministerkonferenz; deren Beschlüsse sind nämlich nicht verbindlich, und man hat es – da haben Sie recht – in 70 Jahren nicht geschafft, diesen Mangel abzustellen. Daher haben wir uns im Koalitionsvertrag für die Einrichtung eines Nationalen Bildungsrates entschieden, der sich der Lösung dieser Problematik annehmen soll. Der einzig verfassungsrechtlich zulässige Weg ist im Übrigen ein Bildungsstaatsvertrag, den die Ministerpräsidenten gemeinsam abschließen, analog zum Rundfunkstaatsvertrag. Aber auch das ist eine Forderung der CDU/CSU, aus Bund und Ländern gemeinsam. Das heißt, eine Verfassungsänderung, wie sie Grüne und FDP hier vorschlagen, verfehlt leider ihr Ziel. Auch mit Blick auf dauerhafte Finanzhilfen kommen Sie zu spät. Dies haben wir abschließend am 13. Juli 2017 geklärt. Wir haben eine große Bund-Länder-Finanzreform auf den Weg gebracht: 9,6 Milliarden Euro jährlich für die Bundesländer zusätzlich vom Bund. Mehr geht nicht. Richtig ist: Sie waren nicht im Parlament. Die Grünen waren dagegen. Aber so ist es nun einmal. Sie haben die Chance verpasst, dieser dauerhaften Finanzierung zuzustimmen. Eine Bund-Länder-Zusammenarbeit ist im Bundesstaat möglich. Wir wollen die Verfassung ändern, um etwas zu ermöglichen. Wir wollen anschieben, wir wollen Schwung geben. Fahren müssen die Bundesländer aber selbst; sie tragen dafür die Verantwortung. Oder um es mit Frau Suding zu sagen: Wir bezahlen den Bauern die Badehose, aber schwimmen müssen sie schon selber. Der FDP rufe ich zu: Sie haben die Möglichkeit, Ihr Wahlprogramm, in dem Sie auf Seite 25 von „Digitalisierung der Bildung“ usw. sprechen, umzusetzen. Das können Sie hier mit Zustimmung zu unserer Verfassungsänderung erreichen. Seien Sie in dieser Sache doch mal mutig! Den Grünen kann man nur sagen: Seien Sie nicht ständig gegen etwas! Sie haben es am 13. November 2014 schon versäumt, der Änderung von Artikel 91b zuzustimmen. Ermöglichen Sie jetzt den DigitalPakt durch Änderung von Artikel 104c! Seien Sie nicht immer dagegen! Unsere Hand ist ausgestreckt zum Wohle der Bildungsrepublik Deutschland. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/3440, 19/4543 und 19/4556 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Dr. Bruno Hollnagel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004760, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der EZB-Rat wird noch in diesem Jahr über eine Änderung der Satzung des europäischen Systems der Zentralbanken entscheiden. Diese Änderung betrifft die Regelung zu Zahlungssystemen, Artikel 22 des Statuts. Die Situation bietet uns die Möglichkeit, das System zu verbessern. Diese Chance sollten wir nutzen, denn es ist nötig. Herr Dr. Beermann, Mitglied des Bundesbankvorstands, sagt: Solange das Euro-System unverändert fortbesteht, sind die TARGET2-Salden nicht risikobehaftet. Die Frage ist nun: Und was geschieht, wenn ein Land den Euro-Raum verlässt? Dazu schreibt EZB-Präsident Mario Draghi: Würde ein Land das Euro-System verlassen, müssten die Forderungen und Verbindlichkeiten der nationalen Zentralbank gegenüber der EZB vollständig beglichen werden. Was heißt das? TARGET2-Salden sind eben nicht nur zahlungstechnische Verrechnungssalden, sondern sie haben den Charakter von Krediten. Die verantwortliche Politik darf dazu nicht länger schweigen. Immerhin ist im Fall der Bundesbank eine Summe von 960 Milliarden Euro zu diskutieren. Das ist ein Volumen im Gesamtwert des Bundeshaushalts der letzten drei Jahre. Die spannende Frage ist nun: Was geschieht, wenn zum Beispiel Italien aus dem Euro austritt – was ja in diesem Jahr schon diskutiert worden ist – und die fälligen Gelder nicht bezahlen kann oder nicht bezahlen will? Holt sich die EZB das Geld dann mit Panzern? Wohl kaum. Was geschehen würde, steht im Monatsbericht der Deutschen Bundesbank vom März 2017: TARGET2-Verbindlichkeiten eines austretenden Landes, die nicht vollständig erfüllt werden, führen zu Verlusten bei den verbleibenden Zentralbanken. ({0}) Den Letzten beißen die Hunde. ({1}) Bezüglich der Deutschen Bundesbank bedeutet das ein Verlustrisiko in dreistelliger Milliardenhöhe. ({2}) Darin liegt ein erhebliches Erpressungspotenzial nach dem Motto – ich bleibe im Bild von Italien –: Gebt Italien frisches Geld, damit ihr nicht eigenes Geld verliert. – Das darf und kann nicht richtig sein. ({3}) Die enorm großen TARGET2-Salden bergen also große Risiken und Erpressungspotenzial. Jeder Einwohner Deutschlands steht diesbezüglich mit 12 000 Euro im Risiko. Wir fordern deswegen Sicherheiten für diese Risiken in der Hand der deutschen Zentralbank. ({4}) Weiterer Fakt ist: Für die erwähnten Kredite bekommt die Deutsche Bundesbank keine Zinsen – ({5}) trägt aber die Risiken –, die sie, wenn sie welche bekäme, an den Bundeshaushalt weiterleiten könnte. Meine Damen und Herren, wir reden über Belastungen unserer Bürger im Zusammenhang mit exorbitant hohen Steuern. ({6}) Wir reden hier über Altersarmut. Wir reden über sozialen Wohnungsbau, über mangelhafte Infrastruktur, über Millionen Kinder, die unterhalb der Armutsgrenze leben. ({7}) Wir reden aber nicht über potenziell entgangene Zinseinnahmen der TARGET2-Salden im Volumen von immerhin einem zweistelligen Milliardenbetrag. Mit Zinsen in Höhe von 2 Prozent oder TARGET-Forderungen wäre der Soli bezahlt. ({8}) Faktisch verschenken wir Geld ins Ausland. Das ist den Bürgern nicht zu vermitteln. Die Bürger haben nichts zu verschenken. ({9}) Bildlich gesprochen: Die deutsche Zentralbank hat der EZB die goldene Kreditkarte gegeben und die Nummer für die Sperrzentrale gleich mit verschenkt. Das ist unverantwortlich.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende. ({0})

Dr. Bruno Hollnagel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004760, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich komme zum Schluss. – Wir haben die Pflicht, möglichen Schaden von unserem Land abzuwenden. Ich rufe Sie deswegen auf, ({0}) Ihres Amtes zu walten und unseren Antrag anzunehmen, damit der Schaden von unserem Land ferngehalten wird. Danke schön. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege André Berghegger. ({0})

Dr. André Berghegger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004252, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir beraten hier den AfD-Antrag zum Thema TARGET-Salden: „Das Vermögen der Deutschen Bundesbank schützen – Target-Forderungen besichern“. Das ist ein spannendes Thema, und es ist eine sportliche Aufgabe, es vor allen Dingen für diejenigen, die sich nicht jeden Tag damit beschäftigen, in wenigen Minuten nachvollziehbar zu erklären. ({0}) – Davon gibt es eine Menge. Sie gehen in dem Antrag von einem konkreten Risiko für den Bundeshaushalt aus und wollen die TARGET-­Verbindlichkeiten deswegen werthaltig besichern. Es wird Sie nicht wundern, wenn wir und ich persönlich etwas anderer Auffassung sind. Ich werde versuchen, das in den nächsten Minuten zu erklären. ({1}) Zum Hintergrund: Was ist das TARGET-System? Das TARGET-System dient der technischen und buchhalterischen Umsetzung des Zahlungsverkehrs in der Euro-Zone in unserem zweistufigen System mit der EZB und den nationalen Notenbanken. Eine internationale Transaktion ist für die Bürger ein relativ einfacher Vorgang, aber dahinter steckt natürlich technisch und rechtlich ein komplizierter Mechanismus. Dieser Mechanismus ist mit Einführung der Währungsunion Ende der 90er-Jahre etabliert worden. Durch das TARGET-System entstehen Salden, Forderungen, Schulden der nationalen Notenbanken in Bezug auf die Europäische Zentralbank. Es wurde gerade schon angesprochen: Der aktuelle Stand der Forderungen im Rahmen dieses TARGET2-Systems, also der Fortentwicklung, beläuft sich bei der Bundesbank auf einen Betrag von über 900 Milliarden Euro. Das ist eine beachtliche, ja eine gigantische Summe. Aber was bedeutet das eigentlich? Aus meiner Sicht erkennt man daran den Leistungsbilanzüberschuss in Deutschland: dass die Exporte die Importe deutlich überwiegen. Man sollte diese TARGET-Forderungen nicht überschätzen und auch nicht unterschätzen. Wir sollten versuchen, gemeinsam realistisch damit umzugehen. ({2}) Ich würde sagen, die TARGET-Forderungen sind – gestatten Sie mir dieses Bild – wie ein Fieberthermometer. Sie zeigen an, dass in diesem System etwas nicht stimmt. ({3}) Aber eine werthaltige Absicherung der TARGET-Forderungen ist nun nicht erforderlich. ({4}) Das werde ich Ihnen anhand mehrerer Gründe erklären. Jeder Grund für sich ist schon sehr beachtlich und nachvollziehbar. Erstens. Das EZB-Geld und damit auch die Forderungen gegenüber der EZB sind in unserem System das sicherste Geld, das wir kennen. ({5}) Es ist durch internationale Verträge gesichert und muss deswegen nicht noch zusätzlich besichert werden. ({6}) Zweitens. Der Euro hat keinen Gegenwert mehr in Gold oder in anderen Sicherheiten. ({7}) Ein Goldstandard, feste, flexible Wechselkursmechanismen, das Bretton-Woods-System, all das ist international seit etlichen Jahren entweder ausgesetzt oder sogar abgeschafft worden. ({8}) Deswegen ist das keine neue Entwicklung, sondern spätestens seit den 70er-Jahren so. Das Geld, das wir kennen – Münzgeld, Notengeld –, erhält seinen Wert alleine dadurch, dass es Vertrauen gibt, Vertrauen durch die Staaten und eine Anerkennung dieser Währung durch die Staaten und die Steuerbehörden. Genau das wissen Sie auch. ({9}) Die dritte Argumentation – das, was der Kollege Hollnagel vorhin gesagt hat –, nämlich die Forderung, die nationale Notenbank soll negative TARGET-Salden ausgleichen – als Beispiel werden oft die USA zitiert –, überzeugt mich nun wirklich nicht. In den USA ist es so, dass diese TARGET-Forderungen ausgeglichen oder besichert wurden durch Gold, Goldzertifikate und am Ende auch durch Staatsanleihen. Genau das finde ich in diesem Fall aber unlogisch. Zum einen fehlt uns der Gegenwert in Gold – das habe ich vorhin gerade beschrieben –, ({10}) und zum anderen würde das im Ergebnis dazu führen, dass am Ende Anleihen finanzschwacher Staaten in die Bilanz der Bundesbank übernommen werden. Das kann nun wirklich keiner wollen. ({11}) Der vierte Punkt. Die TARGET-Forderungen der Deutschen Bundesbank – Herr Hollnagel hat da wieder das Gegenteil behauptet – sind nun wirklich kein Kredit an andere Länder, der besichert werden muss. Nun wirklich nicht! ({12}) Es ist kein Geld von Deutschland ins Ausland geflossen, sondern umgekehrt wird ein Schuh daraus: ({13}) Deutsche Produkte wurden im Zweifel exportiert, und Geld aus dem Ausland ist nach Deutschland geflossen. Das ist nun wirklich kein Kredit. ({14}) – Ich habe Sie doch auch ausreden lassen. Im Ergebnis sind die TARGET-Salden Anzeichen für Ungleichgewichte in der Wirtschafts- und Währungsunion, die abzubauen sind; das ist ja gar keine Frage. Aber das sind keine billionenschweren Haftungsübernahmen Deutschlands. Es sind Buchungssalden. Ich würde sie eher als Einlagen bei der EZB beschreiben denn als Kredit. Sie weisen auf die Probleme hin, sind aber selbst keine. Ich möchte das Beispiel des Fieberthermometers noch einmal aufgreifen: Wenn Sie Anzeichen von Fieber verspüren, dann schmeißen Sie ja auch nicht das Thermometer weg, sondern ({15}) kümmern sich um die Ursachen. Das müssen wir auch hier versuchen. ({16}) – Ja, jetzt sind sie ruhig. Nur in der Theorie – ich komme Ihnen ja entgegen; ich versuche, die Argumente nachzuvollziehen –, in dem unwahrscheinlichen Fall, dass mehrere Länder aus dem Euro-Raum aussteigen, ({17}) könnte, wenn überhaupt – Konjunktiv –, ein Risiko einschlägig sein. Dann müsste über den bilanziellen Umgang mit den TARGET-Salden gesprochen und entschieden werden; das steht außer Frage. Aber es gibt keine einhellige wissenschaftliche Auffassung, die besagt, dass dies sofort zu einem Risiko für den Steuerzahler wird. ({18}) Ob und in welcher Höhe eine Belastung für die Bundesbank und dann auch für den Steuerzahler entsteht, ist dann noch zu klären und abzuwarten. Sie legen doch immer Wert auf Fakten. Dann nehmen Sie diese Meinung in der Wissenschaft doch bitte zur Kenntnis. ({19}) Ein Automatismus von einem Ausgleich eventueller Bilanzverluste der Deutschen Bundesbank zu einer Beanspruchung des deutschen Steuerzahlers ist gerade nicht gegeben. Verbreiten Sie hier bitte keine Unsicherheit bzw. – das habe ich vorhin schon einmal gehört – keine Angst. Ich komme zum Fazit. Der Schlüssel für den Abbau der TARGET-Salden besteht im Abbau der Ungleichgewichte in der Euro-Zone. Sie wissen, dass in den Verhandlungen über die Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion solche Fragen natürlich auch eine Rolle spielen. Wir müssen geeignete Instrumente finden, diese Ungleichgewichte abzubauen; das ist gar keine Frage. Die Diskussionen über diesen Themenkomplex sind Ihnen bekannt. Nach alledem kann Ihr Antrag – das dürfte Sie nicht wundern – meine Fraktion und mich nicht wirklich überzeugen. Ich bin dennoch gespannt auf die Diskussionen im federführenden Haushaltsausschuss. Vielen Dank fürs freundliche Zuhören. ({20})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Frank Schäffler das Wort. ({0})

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Antrag zu den TARGET-Forderungen der Deutschen Bundesbank im Euro-System greift die AfD ein wichtiges Thema auf und schlägt unter anderem die Besicherung dieser TARGET-Forderungen vor. Ob es diese Sicherheiten auf der Seite der Notenbanken der Südstaaten des Euro-Systems in diesem Umfang und in ausreichender Qualität gibt, darf man getrost bestreiten. Aber das ist sicherlich ein berechtigtes Anliegen. Dass wir hier im Parlament einmal darüber diskutieren, ist aus meiner Sicht dringend notwendig. ({0}) Für Pfänder, also Sicherheiten, hat die EZB die Anforderungen für Banken bereits auf ein „BBB-“ gesenkt, also faktisch auf Schrottniveau. Dass die Qualität dieser Sicherheiten insbesondere in Südeuropa seit Jahren sinkt, ist allgemein bekannt. Daher stellt sich schon die Frage, ob diese Sicherheiten überhaupt erstrebenswert sind; Sie haben das richtigerweise gesagt. Vielleicht ist es viel besser, wenn die sehr hohen TARGET-Verbindlichkeiten ab einer bestimmten Höhe risikogewichtet verzinst werden müssen. Aber letztlich sind diese TARGET-Forderungen der Bundesbank ein Symptom der Krise. Die Ursachen der TARGET-Verbindlichkeiten liegen in der unterschiedlichen Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten. Das ist das Problem. ({1}) Der Währungsraum kann nur stabilisiert werden, wenn die Länder ihre Hausaufgaben machen. Das müssen sie selbst tun. Da kann man keine Ratschläge geben, so wie wir das in der Vergangenheit gemacht haben. Man kann vielleicht Hilfen anbieten. Aber die Länder müssen das am Ende selbst tun. ({2}) Für die Länder, die das nicht können oder wollen, braucht es ein funktionierendes Staatsinsolvenzrecht und ein geordnetes Austrittsverfahren aus dem Euro-Währungsgebiet. Das ist eigentlich das Entscheidende. ({3}) Das Euro-Währungsgebiet muss atmen können. Es darf nicht mit aller Gewalt und mit allen Mitteln, die wir haben, zusammengehalten werden. ({4}) Wir müssen Risiko und Haftung zusammenbringen: bei der Eigenkapitalunterlegung von Staatsanleihen, bei der Bankenabwicklung und beim Verstoß gegen die Maastricht-Kriterien. Wir müssen die weitere Kollektivierung von Schulden unterbinden: bei der Einlagensicherung, beim Backstop und bei einer europäischen Arbeitslosenversicherung. Überall da sollen Risiken kollektiviert werden, und das geschieht auch. Das ist aber das Gegenteil dessen, was wir eigentlich brauchen. Wir brauchen mehr Haftung und mehr Verantwortungsübernahme. ({5}) Denn Wettbewerbsfähigkeit kann man über diesen Weg nicht erreichen. Das zeigt – wir diskutieren ja nachher noch über die Lehman-Pleite – gerade die Entwicklung der letzten zehn Jahre. Wir haben die Risiken kollektiviert, aber die Verschuldung ist weltweit angestiegen, insbesondere im Euro-Raum. Wettbewerbsfähigkeit erreicht man durch offene Märkte, innerhalb des europäischen Marktes, aber auch außerhalb Europas. ({6}) Hier zeigt sich die wahre Einstellung der AfD zu unserer marktwirtschaftlichen Ordnung. Gerade beim Freihandel, bei Freihandelsabkommen und deren Verabschiedung haben Sie sich bei den Linken, den Grünen und Donald Trump eingehakt. ({7}) Da sind sich hier in diesem Haus links und rechts einig; auch das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. ({8}) Das alles zeigt mir: Sie missbrauchen Sachfragen als Vehikel in Ihrem Kampf gegen das System. ({9}) Da machen wir Freien Demokraten nicht mit. Liberale waren schon immer für Reformen, aber gegen Kulturkämpfe und Revolutionen. Der Freihandel ist in seiner Geschichte immer hart erkämpft worden. Er ist nicht vom Himmel gefallen, sondern hart erkämpft worden. Richard Cobden hat im 19. Jahrhundert über viele, viele Jahre für den Freihandel gekämpft, und es war ihm immer klar, dass Freihandel erst über Freihandelsabkommen realisiert werden kann und nicht einfach, indem man alles beiseitewischt. ({10}) Das Freihandelsabkommen, für das Richard Cobden seinen Namen hergegeben hat, das Freihandelsabkommen zwischen England und Frankreich, hatte zum Inhalt, dass die Briten auf ihre Zölle auf französische Waren vollständig verzichtet haben. Die Franzosen aber waren nur bereit, 50 Prozent ihrer Zölle abzubauen. Daran sieht man, dass Freihandelsabkommen von beiden Seiten mit jeweils unterschiedlichen Interessen auch gebilligt werden müssen. Wer Freihandelsabkommen ablehnt, der lehnt im Kern unsere marktwirtschaftliche Ordnung ab ({11}) und der erzeugt nicht den Boden dafür, dass die Wettbewerbsfähigkeit in den südeuropäischen Ländern besser wird. ({12}) Und wer das nicht macht, der verschärft im Kern die Euro-Krise innerhalb Europas. Deshalb, glaube ich, ist es notwendig, dass dieses Haus erkennt, dass Freihandelsabkommen eigentlich der Schlüssel zum Wohlstand von uns allen sind. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat als Nächste das Wort die Kollegin Sonja Amalie Steffen. ({0})

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste auf der Tribüne! Wir debattieren heute über einen Antrag, der eine Änderung des TARGET2-Systems fordert. TARGET2 ist ein System des Zahlungsverkehrs, über das nationale und vor allem grenzüberschreitende Euro-Zahlungen schnell und mit sofortiger Gültigkeit abgewickelt werden. Kurz zusammengefasst: Das ­TARGET2-System sorgt dafür, dass Handel und Dienstleistungen im Euro-Raum problemlos und rechtssicher möglich sind. Jetzt gehe ich mal davon aus, dass die meisten von Ihnen – zumindest die Gäste auf der Tribüne – noch nicht viel über das TARGET2-System gehört haben. Weil mein Kollege Lothar Binding, der sonst immer wunderbar erklärt, erst nach mir drankommt, nutze ich die Gelegenheit, das TARGET2-System einmal aus der Sicht eines ganz normalen Bürgers oder einer ganz normalen Bürgerin zu erklären. Wenn ich beschließe, meinem Vater zu Weihnachten einen Rentierpullover – natürlich nicht aus echtem Rentierfell, sondern gestrickt – in Finnland zu bestellen, dann kann ich das machen: Ich bestelle den Pullover und überweise das Geld von meinem Konto – natürlich bei der Sparkasse – auf das Konto des finnischen Händlers; so denke ich mir das als Kunde. In Wirklichkeit funktioniert das anders im Euro-Raum. In Wirklichkeit ist es so, dass die Sparkasse mein Geld der Bundesbank überweist. Dann passiert in Finnland etwas ganz Ähnliches: Die finnische Zentralbank überweist das Geld, wenn es angekommen ist, an den Händler. Dazwischen ist die EZB. Jetzt kommt das TARGET2-System ins Spiel: Die EZB verbucht nämlich eine Forderung der finnischen Zentralbank und eine Verbindlichkeit der Bundesbank. So, bis hierhin ist alles klar. In den meisten Fällen erübrigt sich dann eine direkte Geldüberweisung, weil nicht nur ich einen Pullover in Finnland bestelle, sondern am gleichen Tag vielleicht ein Finne eine Kuckucksuhr im Schwarzwald bestellt. Und nicht nur wir beide bestellen etwas, sondern an dem Tag bestellen ganz viele Menschen. Deshalb erübrigen sich Überweisungen, die Fälligkeiten verrechnen sich. Über TARGET2 geschieht das alles täglich im gesamten Euro-Raum und vereinfacht den Geldverkehr natürlich enorm. Ohne dieses System wäre ein reibungsloser Geldverkehr zwischen den Euro-Staaten in der heutigen Form überhaupt nicht möglich. ({0}) Eine denkbare Alternative zu diesem komplizierten Zahlungssystem wäre übrigens – so viel zur Lehrstunde „TARGET2, was steckt dahinter?“ –, wenn man die Zentralbanken der Euro-Länder abschaffen würde, wenn man also quasi nur die EZB hätte. Dann hätte man dieses komplizierte System nicht mehr. Dann würde sich auch das – angebliche – Problem erübrigen, das dem Antrag der AfD zugrunde liegt. Aber so weit – das wäre dann die Fiskalunion – sind wir im Euro-Raum noch nicht. ({1}) Das ist bedauerlich; aber das wird hoffentlich irgendwann einmal kommen. ({2}) Halten wir also fest: TARGET2 ist ein Werkzeug der Zentralbanken und kein politisches Instrument. Läuft in der Euro-Zone alles normal, dann gleichen sich Forderungen und Verbindlichkeiten aus. So war es übrigens in den ersten Jahren der Euro-Zone. 2002, als die Euro-Zone begann, war alles ausgeglichen. Das hat sich erst im Jahre 2007 geändert, im Zusammenhang mit der europäischen Finanzkrise. Seitdem – an der Stelle ist das richtig – driften die Salden der Euro-Länder extrem auseinander und führen tatsächlich zu schwindelerregenden Zahlen im positiven und im negativen Bereich. ({3}) Ja, es gibt aktuell rechnerisch einen Saldo der Bundesbank, der sich insbesondere aus der Finanzkrise und aus deren Folgen und auch aus den Instrumenten, die dann entwickelt wurden – also insbesondere aus den Anleihekäufen –, entwickelt hat. Aber es war richtig, diese Maßnahmen zu ergreifen, wie man am Beispiel Irland, das aus der Finanzkrise nun mittlerweile endgültig raus ist, sehr gut erkennen kann. ({4}) Ja, es stimmt: Wenn ein Land über Nacht beschließen würde, aus dem Euro-Raum auszutreten, dann wären die TARGET-Forderungen, die an diesem Tag bestehen, an diesem Tag erst einmal nicht gedeckt. Allerdings würde der Ausfall selbst in diesem fiktiven Szenario – und darauf hat mein Kollege Berghegger schon hingewiesen – nicht allein von der Bundesbank getragen werden müssen, sondern alle Staaten des Euro-Raumes müssten für den Fehlbetrag gemeinsam aufkommen. Und dazu, meine Damen und Herren, würde es wahrscheinlich gar nicht erst kommen, weil: Wenn wir uns jetzt einmal vorstellen, ein Land steigt aus dem Euro-Raum, also aus diesem TARGET2-System aus, dann wird es die Differenz begleichen müssen und auch begleichen wollen, ({5}) wenn es weiterhin Geschäfte machen will, damit es sich in Europa nicht komplett isoliert. Wir fassen also noch einmal zusammen: Die ­TARGET2-Salden sind zwar kein Problem, aber sie weisen eine Asymmetrie im Euro-Raum auf, und das sollten wir angehen. ({6}) Deshalb ist es richtig, dass wir das hier im Parlament diskutieren. Wir von der SPD-Fraktion wollen durch europäische Zusammenarbeit dafür sorgen, dass die gesamte Euro-Zone wirtschaftlich wieder erstarkt ({7}) und sich die Leistungsbilanzen der Euro-Länder wieder angleichen. Sie, meine Damen und Herren von der AfD, wollen aus dem TARGET2-System, das ja kein Kreditsystem ist, ein Kreditsystem machen. Ich war sehr traurig, Herr Schäffler, zu hören, dass die FDP das anscheinend auch will. Sie wollen, dass für die TARGET2-Differenzen zukünftig Zinsen gezahlt und Sicherheiten geleistet werden müssen. Sie schreiben in Ihrem Antrag sogar, dass Sie zuerst die wertvollsten Vermögensgegenstände der Zentralbanken der jeweiligen Länder verpfänden wollen. Das heißt, die von der Wirtschaftskrise besonders betroffenen Staaten sollen ihr komplettes Tafelsilber verscherbeln. ({8}) Das ist ein perfider Versuch der Destabilisierung der europäischen Solidarität. ({9}) Ihr Antrag ist keiner, der aus berechtigten oder gar vernünftigen, ökonomischen Beweggründen eingebracht wurde, sondern eher einer, der Ihrer politischen Agenda folgt. ({10}) Ihr Vorschlag würde in keinster Weise zur Lösung der Probleme beitragen – das finde ich jetzt ganz wichtig –, ({11}) sondern einzig und allein die wirtschaftlich schwächeren Länder noch mehr schwächen und eine einseitige Kostenabwälzung in der Euro-Zone erzwingen. Also, das wäre das Ende der europäischen Idee. Und nicht nur das: Dann würden sich die Ängste, die Sie hier schüren, realisieren. Genau mit dem, was Sie in Ihrem Antrag wollen, würde es möglicherweise so kommen, dass Europa in eine Schieflage gerät. ({12}) Das machen wir nicht mit. Wir Sozialdemokraten setzen uns für ein wirtschaftlich starkes, soziales und vor allem solidarisches Europa ein. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Fabio De Masi, Fraktion Die Linke. ({0})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die AfD will über TARGET2-Salden diskutieren. Das sind Bilanzposten der Notenbanken. Die AfD behauptet, das Vermögen der Bundesbank zu schützen, indem ­TARGET2-Salden von Ländern wie Italien etwa durch Gold oder andere Vermögenswerte besichert werden. Von Henry Ford stammt der Satz: „Würden die Menschen das Geldsystem verstehen, hätten wir eine Revolution noch vor morgen früh.“ Das Problem scheint mir aber, die AfD hat weder TARGET2 noch das Geldsystem verstanden. ({0}) In Deutschland betreiben ein paar lustige Vögel Fake Economics. Die Leier geht so: Die Griechen und die Italiener wollen an unser sauer verdientes Geld. – Und nun haben die cleveren Bürschchen dafür mit TARGET2 einen fiesen Trick gefunden und sagen, die Salden seien ein Kredit, für den Deutschland haftet. ({1}) Um zu verstehen, was TARGET2-Salden sind, muss man erst einmal verstehen, wie eine stinknormale Überweisung funktioniert. ({2}) Daher etwas „Sendung mit der Maus“ für die AfD: Bürger und Unternehmen haben Konten bei Banken, und Banken wiederum haben ein Konto bei der Zentralbank. Wenn eine Frau Storch aus Berlin – der Name ist völlig zufällig gewählt – 100 Euro auf das Konto von Bernd das Brot innerhalb Deutschlands überweist für eine neue PC-Maus oder Mettigel, ändert sich im deutschen Bankensystem in der Summe nichts. Die Banken wickeln die Überweisung über ihre Konten bei der Bundesbank ab. Die Bundesbank hat nun weniger Verbindlichkeiten gegenüber der Storch-Bank, deren Guthaben bei der Bundesbank geschrumpft ist, und mehr gegenüber der Brot-Bank, deren Guthaben bei der Bundesbank gestiegen ist. Niemand würde auf die Idee kommen, dass Berlin mit Steuergeldern oder Gold die Einkäufe von Frau Storch besichern muss. Wenn aber Massimo aus Mailand 100 Euro an Frau Storch überweist, wird es etwas komplizierter – auch für die AfD. ({3}) Denn Massimos Bank hat ein Konto bei der Banca d’Italia, der italienischen Zentralbank. Durch die Überweisung wächst das Guthaben der Storch-Bank bei der Bundesbank. Das Guthaben von Massimos Bank bei der Banca d‘Italia schrumpft jedoch um 100 Euro. Die Bundesbank hat jetzt mehr Verbindlichkeiten gegenüber der Storch-Bank, und die Banca d‘Italia hat weniger Verbindlichkeiten gegenüber Massimos Bank. Daher gibt es zum Ausgleich der Bilanzen im grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr TARGET2. Hätten die beiden Zentralbanken ein gemeinsames Konto bei der EZB, gäbe es kein TARGET2; das ist eine rein technische Größe. ({4}) Denn für Geschäftsbanken macht es keinen Unterschied, ob die Überweisung an eine deutsche oder eine italienische Bank geht. Ob Banken solvent sind, ist hingegen Aufgabe der Bankenaufsicht, nicht von TARGET2. ({5}) TARGET2 sagt auch überhaupt nichts über Risiken aus. ({6}) – Hören Sie zu. Es lohnt sich. ({7}) Zwischen 2001 bis 2007 explodierten spanische Bankkredite. Spanier kauften wie die Luzie auf Pump in Deutschland ein. ({8}) Doch der TARGET2-Saldo – Überraschung – war fast null, weil die deutschen Banken bereit waren, Spaniern Kredite zu geben. ({9}) Warum hat die Bundesbank nun TARGET2-Forderungen an das TARGET-System der EZB? Erstens. Deutschland häuft auch wegen unzureichender Löhne und unzureichender öffentlicher Investitionen Exportüberschüsse an ({10}) und verkauft wesentlich mehr Güter in die anderen Euro-Länder, als es von dort einkauft. ({11}) Wenn diese Güter bezahlt werden, fließt Geld von den Konten anderer Euro-Länder auf Konten deutscher Banken. Wenn sich die AfD also um die TARGET-Salden oder deutsche Vermögen sorgt, sollte sie dafür streiten, dass Löhne, Renten und öffentliche Investitionen in Deutschland steigen, um die Binnenwirtschaft zu stärken und einen neuen Crash zu verhindern. ({12}) Die AfD will aber Löhne, Renten und öffentliche Investitionen kürzen. ({13}) Zweitens geht es auch um Kapitalflucht. Wenn also Spekulationen um einen Rauswurf Italiens aus der Euro-Zone angeheizt werden, bringen Italiener ihre Ersparnisse auf deutschen Banken in Sicherheit, und die TARGET2-Forderungen der Bundesbank steigen. Die Risiken für Deutschlands Banken nehmen aber sicher nicht zu, wenn Italiener ihre Ersparnisse auf deutsche Konten bringen. Drittens. Auch Staatsanleihen spielen eine Rolle. In der Summe kaufen mehr Südländer deutsche Staatsanleihen als umgekehrt. Deutsche Staatsanleihen werden aber wegen des Finanzplatzes von den Frankfurter Filialen der ausländischen Geschäftsbanken gehalten, und darum hat die Bundesbank so hohe TARGET-Forderungen, weil auch dadurch Geld nach Frankfurt fließt. Was passiert nun, wenn ein Land den Euro-Raum verlässt? TARGET-Salden bestehen weiter, entweder in Euro oder in einer neuen Währung. Das führt zu einem Wechselkursrisiko. Auch dann käme aber nicht zwingend ein Geldeintreiber von der Bundesbank. Es könnte auch ewig verrechnet werden. Richtig ist: Es könnte in einer solchen Situation zu einer Schmälerung des Notenbankgewinns kommen. Das ist aber nicht zwingend. Die Bundesbank kann bilanzieren, wie sie will, da eine Notenbank wegen ihres unschlagbaren Geschäftsmodells – Geldmonopol und Seigniorage – nie in eigener Währung pleitegehen kann und sogar negatives Eigenkapital verkraftet. ({14}) Dies hat die Schweizerische Nationalbank in einem hervorragenden Papier kürzlich ausgeführt. Der Euro könnte tatsächlich zerbrechen, wenn die Regierung weiter Löhne und Investitionen drückt. Aber TARGET hat damit nichts zu tun. Der beste Schutz deutscher Steuergelder wäre daher, die AfD würde sich ein Buch kaufen mit dem Titel „Bilanzierung für Anfänger“. Vielen Dank. ({15})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Dr. Gerhard Schick. ({0})

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Fabio De Masi dankbar dafür, dass er hier den richtigen Punkt gesetzt hat. Es geht um eine rein technische Frage, die in anderen Ländern der Welt keinen Menschen interessiert. ({0}) Bloß in Deutschland gibt es ein paar Leute, die aus einem rein statistischen Phänomen eine Angstdebatte machen, ({1}) um die Leute auf die Bäume zu treiben. Das ist unverantwortlich. ({2}) Es ist unverantwortlich, weil ein funktionierendes Zahlungssystem die Grundlage für unseren wirtschaftlichen Wohlstand in Europa ist. Deswegen ist entscheidend, sicherzustellen, dass die Zahlungen immer laufen können, der Zahlungsstrom nicht aufgrund von Zuschlägen oder Sicherheiten irgendwann unterbrochen wird und damit die wirtschaftlichen Transaktionen im Binnenmarkt unterbrochen werden. Deswegen haben zu allen Zeiten vernünftige Zentralbanken immer dafür gesorgt, dass die Zahlungswege sichergestellt sind, und im Zweifelsfall nicht auf Sicherheiten gedrängt. Der Wirtschaftshistoriker Eichengreen hat es sehr schön anhand der USA analysiert. In den USA hat man über die Jahre hinweg immer auf den Vorrang des Funktionierens des Zahlungssystems gesetzt und keine Sicherheiten verlangt. Ihr Antrag ist wirtschaftsfeindlich. ({3}) Ich will noch einmal einen Vergleich mit den USA ziehen. Wir müssen einmal überlegen: Wo kommt das Phänomen überhaupt her? Warum gibt es das denn auch in den USA, die keine Euro-Krise hatten? In den USA ist dieses Phänomen in den Statistiken der einzelnen Notenbanken sichtbar, ({4}) und zwar in der Zeit, in der es eine sehr expansive Geldpolitik in der Krise gegeben hat, und in dem Maße, wie die zurückgeht, gehen auch die Salden zurück. Deswegen ist das ein Phänomen, welches uns nicht beunruhigen muss. In dem Moment, in dem die Euro-Krise überwunden wird, werden auch die TARGET-Salden zurückgehen. Lassen Sie uns also an den wirklichen Themen arbeiten und nicht an statistischen Phänomenen. ({5}) Ich will das mit dem statistischen Phänomen noch einmal deutlich machen. Und hören Sie auf, dazwischenzuquatschen, damit man den Gedanken folgen kann. Das würde Ihnen auch guttun an dieser Stelle. ({6}) In Europa ist das Zentralbankwesen aus historischen Gründen so organisiert, dass die einzelnen Transaktionen von den bisherigen nationalen Notenbanken gemacht werden. Damit wird die einzelne Transaktion, die man für die Geldpolitik braucht, mal in der Bundesbank, mal in der Banco de España verbucht. Man hätte es auch anders machen und sagen können: Alle Transaktionen mit dem Finanzsektor buchen wir in der EZB von Frankfurt aus. – Dann gäbe es die TARGET-Salden überhaupt nicht. Daran sehen Sie: Sie reden hier über ein statistisches Phänomen, um Leuten Angst zu machen. Aber über ein wirkliches Problem, nämlich dass wir immer noch nicht die Euro-Krise hinter uns haben, dass wir endlich mehr Investitionen brauchen und dass wir dringend eine stabile Währungsunion brauchen und deswegen zur Zusammenarbeit mit den anderen bereit sind, darüber wollen Sie nicht reden. Lassen Sie uns hier über die echten Probleme reden. ({7}) Jetzt sagen Sie: Wir müssen vorsorgen, falls Italien austritt. – Aber die Sicherheiten, die Sie sich geben lassen wollen, was sind das denn im Wesentlichen für Sicherheiten? Das wären ja im Wesentlichen Anleihen, die zum Beispiel die italienische Notenbank als Gegenposition zu den geldpolitischen Transaktionen hätte. Das sind dann im Wesentlichen italienische Staatsanleihen und italienische Unternehmensanleihen. Was wären diese im Moment des Austritts aus dem Euro denn wert? Wegen der Abwertung praktisch nichts. Das heißt, das ist eine Scheinsicherheit, die Sie da einfordern, und bringt im Krisenmoment, den Sie beschreiben, überhaupt nichts. Es ist also ein völliger Popanz, den Sie hier aufbauen. ({8}) Aber es gibt – das muss man natürlich sagen – ein Problem. Wenn tatsächlich ein Staat aus der Euro-Zone austreten würde, dann hätten wir in Deutschland ein massives ökonomisches Problem, allerdings nicht wegen der TARGET-Salden, sondern weil plötzlich die Währungsrelationen durcheinander gerieten. Es käme zu einer Finanzkrise ohne Ende. Wenn Italien austreten würde, dann war die Lehman-Krise eine Kleinigkeit gegenüber der Krise in Europa, die dann ausbrechen würde. Wir sollten also alles dafür tun, damit es auf keinen Fall zu einem Auseinanderbrechen der Euro-Zone kommt. Deswegen ist Ihre Politik ökonomisch das Gefährlichste für Deutschland, was man sich vorstellen kann. ({9}) An dieser Stelle verstehe ich auch die FDP nicht, die in ihrer Argumentation erstaunlich nah an der AfD dran ist. Mit der Einführung eines Insolvenzrechts für Staaten, das Italien oder anderen Staaten den Weg aus dem Euro-Raum hinaus ebnen würde, würden Sie die Wahrscheinlichkeit für ein solches Krisenszenario erhöhen. Deswegen: Die Aufgabe ist nicht, mit statistischen Phänomenen die Menschen auf die Bäume zu treiben, sondern die realen Probleme in der Euro-Zone anzugehen durch gemeinsame Investitionen, durch eine Vervollständigung der Banken-Union, dadurch, dass wir endlich Stabilität und Sicherheit im Euro-Raum schaffen. Das ist gut für Bürgerinnen und Bürger. Das ist gut für unsere Wirtschaft. Folgen Sie nicht denjenigen, die Angst machen wollen, wo es überhaupt keinen Grund zur Angst gibt, sondern lassen Sie uns die realen Probleme lösen! ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Alois Karl, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In ihrem heutigen Antrag nimmt sich die AfD-Fraktion doch durchaus hehre Ziele vor. Sie beantragt, dass die Bundesregierung bei den anstehenden Verhandlungen in Europa das Vermögen der Bundesbank schützen soll, mithin letztlich den Bundeshaushalt und das Vermögen der Steuerzahler schützen soll. Dafür – so die AfD – müsse das jetzige TARGET-2-System geändert werden; die theoretischen Ausführungen dazu sind bereits gemacht worden, ich brauche sie nicht zu wiederholen. Geändert werden soll das System so, dass die nationalen Zentralbanken in Europa, die im TARGET-System Verbindlichkeiten haben, zunächst werthaltige Sicherheiten an die EZB übertragen sollen und dann, wenn sie Forderungen haben, Sicherheiten wieder auf sie übertragen werden. Ich habe den Antrag der AfD zweimal gelesen. Ich muss sagen, es ist durchaus beachtenswert, wenn Sie niederschreiben, dass das Vermögen der Bundesbank und des Bundeshaushalts geschützt werden solle. Beim zweiten Hinsehen und beim sorgfältigen Durchlesen jedoch erkennt man sehr bald und sehr unschwer, dass der Antrag von einer populistischen Oberflächlichkeit getragen ist, die in vielen Fällen gerade noch das Stammtischniveau bedient, das Stammtischniveau der untersten Schublade. ({0}) Sie tragen Angstszenarien vor, auf denen Sie dann Ihren Antrag aufbauen. Sie schreiben, dass wir Forderungen im TARGET-System in Höhe von 900 Milliarden Euro hätten und ziehen daraus den Schluss, dass deswegen der Untergang der Welt, der Untergang des Abendlandes oder zumindest der Untergang Deutschlands unmittelbar bevorstünde. Meine sehr geehrten Damen und Herren, in Vorbereitung auf diese Rede habe ich ein altes englisches Sprichwort gefunden, nämlich die Redewendung vom „Roten Hering”. Diese besagt, dass früher offensichtlich aus den Gefängnissen ausgebrochene Gefangene rote, stinkende Heringe ausgelegt haben, um die Spürhunde in eine verkehrte Richtung zu führen, um sie abzulenken. Beim Lesen Ihres Antrags bin ich daran erinnert worden. ({1}) Nichts anderes ist der Sinn Ihres Antrages. Sie wollen die Öffentlichkeit offensichtlich in die Irre führen. Sie skizzieren Angstszenarien, und Angst ist in der Tat kein guter Ratgeber in der Politik. Wir machen das anders. Sie stellen in Ihrem Antrag die deutschen TARGET-­Forderungen von 900 Milliarden Euro den italienischen Verbindlichkeiten von circa 500 Milliarden Euro und den spanischen von circa 400 Milliarden Euro gegenüber. Sie tun damit so, als würde Deutschland für diese TARGET-­Verbindlichkeiten bürgen. Sie müssten wissen, dass das völlig falsch ist. Sie tun nichts anderes, als Angst zu säen und daraus politisches Kapital zu ziehen. ({2}) Sie suggerieren, das Eigenkapital der Bundesbank würde geradezu völlig aufgebraucht werden. Ich sage das noch einmal: Scharlatane sind es, die diesen Antrag geschrieben haben, und Scharlatane auch, die diesen Antrag unterschrieben haben. ({3}) Das Szenario, das Sie hier aufführen, ist nicht real und nicht realistisch, weil die TARGET-Salden – das ist schon gesagt worden – eben keine Kreditgeschäfte sind, keine Finanzhilfen darstellen und keine Bürgschaften. Weil dem so ist, müssen TARGET-Verbindlichkeiten nicht ausgeglichen werden und können TARGET-Forderungen nicht eingetrieben werden. Solange das Euro-System so fortbesteht, haften wir auch nicht. Selbst wenn wir haften müssten, würden wir nicht mit den 900 Milliarden Euro haften, die angeschrieben sind, sondern lediglich mit unserem Anteil an der EZB, und dieser ist natürlich sehr viel geringer. Es ist schon gesagt worden, ich glaube vom Kollegen Berghegger, dass wir in Europa die wirtschaftliche und finanzielle Situation verbessern müssen. Wir müssen noch heute dem ehemaligen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble dankbar sein, dass er die Reformen mit harter Hand in Europa mit durchgezogen hat und die Durchführung struktureller Verbesserungen im Umgang mit Staatsverschuldungen auf die Agenda geschrieben hat. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich halte Ihnen auch vor, dass Sie nicht zwischen den verschiedenen TARGET-Salden unterscheiden, nämlich zwischen denen, die es zu unseren Gunsten vor zehn Jahren gegeben hat, und denen, die es jetzt gibt. Heute beruhen die TARGET-Salden darauf, dass die Europäische Zentralbank hohe Ankäufe tätigt: Waren dies einmal Ankäufe für 85 Milliarden Euro pro Monat, sind es augenblicklich 15 Milliarden Euro pro Monat, zu Ende dieses Jahres werden die Ankäufe der EZB auf null heruntergefahren. Das heißt, die TARGET-Salden werden sich nach Beendigung dieser Aufkaufpolitik wieder egalisieren. Vor zehn Jahren war der Grund die Weltfinanzmarktkrise. Damals haben wir Deutsche großen Gewinn aus den TARGET-­Salden gezogen und konnten etwa 400 Milliarden Euro in den heimischen sicheren Hafen nach Deutschland zurückführen. Aufgrund der Verrechnungseinheiten der Salden haben wir also einen großen Gewinn gemacht. Meine sehr geehrten Damen und Herren, nachdem meine Redezeit hier – fast zu schnell – zu Ende geht, möchte ich Ihnen sagen, dass wir unsere Politik auf anderen Grundlagen und nicht auf Angstmacherei aufbauen. Ich erinnere an Professor Ludwig Erhard, der gesagt hat, 50 Prozent des wirtschaftlichen Erfolges beruhe auf Vertrauen. Aus der vertrauensvollen Politik des Wirtschaftens haben wir in Deutschland unendlich großen Gewinn gezogen. Ein Ausdruck des Vertrauens sind zum Beispiel unsere Hermesbürgschaften. Wir übernehmen jährlich Bürgschaften über viele Milliarden Euro. Seit Anfang der 50er-Jahre sind dies zusammen schon 1,3 Billionen Euro. Im letzten Jahr waren es 17 Milliarden Euro an Bürgschaften. Augenblicklich halten wir 85 Milliarden Euro Bürgschaftsrisiken. Obwohl das Bürgschaftsgeschäft viel risikoreicher ist, entsteht daraus kein Verlust. Durch die Verbürgung von Geschäften und Finanzierungen machen wir Jahr für Jahr Gewinne, zwar kleine, aber immerhin, weil wir auf Vertrauen setzen und nicht auf Angstmacherei. Herr Präsident, mit Ihrer Genehmigung komme ich zum Schluss.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich bitte darum.

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Im Gegensatz zu Ihnen sehen wir das Wirtschaften als eine vertrauensvolle Angelegenheit an und betreiben keine Angstmacherei. Die Philosophie Ihres politischen Agierens ist die Angstmacherei. ({0}) Das Glaubensbekenntnis Ihrer politischen Agitation ist das Verbreiten von Unsicherheiten. Das Credo Ihres politischen Auftretens ist es, an latente, nicht definierbare dumpfe Gefühle in der Bevölkerung zu appellieren. Das machen wir nicht mit. Aus diesem Grunde lehnen wir den Antrag selbstverständlich ab. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der AfD hat als Nächstes das Wort der Kollege Peter Boehringer. ({0})

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der deutsche TARGET-Saldo hat einen bei einem Verrechnungskonto völlig wesensfremden Stand von 900 Milliarden Euro erreicht. Das TARGET-System hat sich heute faktisch – ich betone: faktisch – zum größten, wenn auch unerklärten Euro-Rettungsvehikel entwickelt. ({0}) Jede hier heute gemachte Gegenbehauptung ist widerlegbar. Wir werden im Ausschuss alles eins zu eins widerlegen. ({1}) – Im Ausschuss. – ({2}) Trotzdem hat sich dieses Instrument seit Jahren jeder demokratischen Kontrolle entzogen. TARGET war seit Einführung vor 20 Jahren bislang im Bundestag noch nie Gegenstand. ({3}) Erst dieser Antrag bringt es auf die Tagesordnung. Heute, 20 Jahre später, ist es so weit: Der Bundestag bekommt mit unserem Antrag erstmals Gelegenheit, über dieses gefährliche Kontensystem wenigstens zu debattieren und über den EU-Rat auch Einfluss zu nehmen. ({4}) Die Explosion des TARGET-Saldos begann 2007. Die Bundesbank selbst hat die Öffentlichkeit damals nicht darüber informiert. Dabei war diese Risikoposition schon damals skandalös anschwellend. Es bedurfte eines schon lange emeritierten ehemaligen Bundesbankpräsidenten, um Alarm zu schlagen. ({5}) Professor Schlesinger war 2010 der Erste, der dieses Thema adressiert hat. Er, Professor Sinn und dann in der Folge wir Blogger mussten die Öffentlichkeit jahrelang über dieses Risiko aufklären – ({6}) gegen erbitterten Widerstand der aktiven Banker des Bundesbankvorstands. Wie aber soll man Bankern helfen, die nicht in der Lage sind, ein Problem zu erkennen, ({7}) wenn ein Verrechnungssystem zu einer für Deutschland unbeherrschbaren, bald billionenschweren Kreditquelle für Ausländer mutiert? Der Bundesbankvorstand bestreitet das TARGET-Milliardenrisiko mit dem realitätsfernen Hinweis darauf, dass der Euro unsterblich sei. ({8}) Das sage ich am heutigen Tag, an dem in Italien wegen des neuen verrückten Haushalts, den die Regierung vorgestellt hat, gerade wieder Chaos am Bondmarkt herrscht. TARGET als risikofreie Saldierungsgröße abzutun, kommt einer Ablehnung ordentlicher Bilanzbuchführung gleich und damit einer Leugnung der hinter den Salden stehenden ökonomischen Zusammenhänge. ({9}) Die AfD-Fraktion verlangt von uns allen als Vertreter der deutschen Steuerzahler im Parlament ein verantwortungsvolleres Verhalten. Und nein: Es ist kein Ausweis ökonomischer Verantwortung, wenn man wie neulich an dieser Stelle Kollege Binding ernsthaft und trotzig sagt: Forderungen sind erst dann ein Problem, wenn man sie fällig stellt. ({10}) Herr Binding, Sie sprechen ja gleich. Aber ja: Auch Plutonium in der Atombombe ist völlig harmlos, solange niemand den Zünder drückt. ({11}) Dieses komplette Ausblenden von Risiken, das wir heute schon an anderer Stelle gehört haben, ist infantile Vogel-Strauß-Politik. ({12}) Auch die SPD und andere Fraktionen – das sage ich auch in Richtung CSU – müssen endlich einmal das Zerstörungspotenzial von faulen Krediten verstehen. ({13}) TARGET2 ist ein superteures Ventil – ja, es ist nur ein Symptom; das, was hier heute gesagt wurde, ist richtig – zur Verlängerung der Lebenslüge des fehlkonstruierten Euro. Der Euro ist tatsächlich die Ursache; das ist richtig, da gebe ich Ihnen recht. Ohne den Euro müsste es keine steuerbesicherte Kreditvergabe ohne Fälligkeitsdatum, ohne Tilgungsverpflichtungen und ohne Verzinsung geben. ({14}) – Oh ja. – Internationale Geldtransaktionen würden dann vom privaten Interbankenmarkt ausgeführt – wie immer, seit Jahrzehnten, ich könnte sogar sagen: seit Jahrhunderten. Lieber Frank Schäffler, liebe Frau Steffen oder Herr Schick, Sie haben alle gesagt: Es gab eine Welt vor TARGET2. Es gab sie. Es konnte auch damals international gehandelt werden. ({15}) Auch der Freihandel war ohne TARGET2 möglich. Es ist völlig absurd, hier das Gegenteil zu behaupten. ({16}) TARGET schaltet planwirtschaftlich die angemessene Risikoprämie der Länder aus. Keine marktwirtschaftlich agierende Bank würde solche Kredite vergeben. Ich zitiere jetzt noch den Wirtschaftsrat der CDU, auf den Sie hören sollten: Es ist eine „demokratisch nicht legitimierte“, „erzwungene Umverteilung“ per „Goldener Kreditkarte“. – Ihr eigener Wirtschaftsrat sagt das. Da hat er recht. ({17}) Unser Antrag schlägt mit der Besicherung der Forderungen eine Lösung vor. Wir sind auch für andere Vorschläge, die teilweise schon angeklungen sind, und zwar zu Recht angeklungen sind, offen. Aber das hier ist ein durchdachter Lösungsvorschlag. Vielleicht gibt es auch andere, vielleicht sogar bessere. Wir nehmen Gold und auch andere Sicherheiten an. Wir akzeptieren auch Obergrenzen. Aber das ist der im Raum stehende Vorschlag. Viel Erfolg in den Ausschussdebatten. Herzlichen Dank. ({18})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Lothar Binding. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Bekanntlich sind viele Leute befreundet. Aber wir wissen: Beim Geld hört die Freundschaft auf. Das ist der Ansatz des heutigen Tagesordnungspunktes: Diejenigen, die Europa nicht wollen und auch den Euro nicht wollen – wir wissen genau, wer Europa und den Euro nicht will –, sind die, die glauben, Deutschland wäre für sich allein genug. ({0}) Diese Menschen verbreiten Panik. Panik ist immer gut, weil sie große Unsicherheit schafft. Bei dieser großen Unsicherheit kann man schauen, was dabei herauskommt. Man hofft immer das Beste für sich. Man verbreitet Angst und Nervosität. Man hetzt die Menschen gegeneinander. Das ist schon ein gewisses Problem, das hier existiert. Man will Europa verunsichern. Deshalb reden wir heute über Geld. Ich habe gelesen: TARGET-Salden machen Deutschland handlungsunfähig. – Jetzt frage ich einmal in die Runde, auch die Zuschauer: TARGET-Salden gibt es schon immer. Sie lagen einmal bei null. Gut, da gibt es kein Problem. Aber ab 2007 wuchsen die TARGET-Salden stetig an. Jetzt frage ich: Hat sich an Ihrem Lebensstandard seit 2007 infolge der TARGET-Salden so viel verändert, dass bei Ihnen Panik aufgekommen ist? Was hat sich überhaupt verändert? Wo ist für Sie das Problem? Ich muss feststellen, dass ich damit kein Problem habe, meine Familie nicht und meine Freunde auch nicht. Also: Die TARGET-Salden sind nicht das Problem. ({1}) Herr Boehringer hatte recht, ich habe gesagt: Forderungen werden erst dann ein Problem, wenn sie fällig gestellt werden. ({2}) Ich will mal ein Beispiel nennen. Deutschland hatte seit 1919 Schulden, und zwar exorbitante Schulden. Wären die Schulden sozusagen fällig gestellt worden, hätte Deutschland sofort ein gigantisches Problem gehabt. Was ist passiert? Die Schulden wurden, wie wir sagen, in der Rückzahlung – wir sagen „Endfälligkeit“ – prolongiert, also die Rückzahlungsfrist wurde verlängert. Die Frist wurde 1953 in den Londoner Verträgen verlängert. Wann haben wir diese Schulden eigentlich beglichen? 2010 haben wir die letzte Schuld aus diesem Schuldenpaket beglichen. ({3}) Wir sehen: Wären die Forderungen eher fällig gestellt worden, hätten wir ein Problem gehabt. So war das nicht der Fall. Wir hatten Zeit, diese Forderung zu bedienen, und hatten deshalb kein Problem. So ist das, was ich gesagt habe, zu verstehen. Deshalb ist es sinnvoll, wenn man nicht nur zitiert, sondern die Dinge auch in den richtigen Kontext stellt.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von dem Kollegen von der AfD?

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das erlaube ich nicht. – Wir wissen, dass es früher ein sehr umfangreiches Zahlungssystem mit ganz vielen einzelnen Verabredungen gab. TARGET2 hat das alles zusammengefasst. Herr Boehringer hat angekündigt, alle Argumente, die heute genannt worden sind, zu entkräften. Ein Argument, das der Kollege Schick, der Kollege De Masi und die Kollegin Steffen angeführt haben, ist, dass es überhaupt keine TARGET-Salden gäbe, wenn wir keine nationalen Zentralbanken hätten. Dann würde nämlich das Verrechnungssystem in der EZB selbst vorgenommen, und wir hätten Zahlungsvorgänge wie eh und je und erst einmal gar kein Problem, jedenfalls bezogen auf die TARGET-Salden. Natürlich würden Forderungen und Verbindlichkeiten bestehen; das ist ja wohl logisch. Aber die TARGET-Salden wären eben kein Problem. Deshalb ist es viel wesentlicher, sich um die Forderungen, Verbindlichkeiten und deren Ursachen zu kümmern; darüber haben wir schon viel gehört. Wir haben nämlich einen riesigen Exportüberschuss. Das heißt, Leute kaufen in Deutschland. Das bedeutet, deren Geld kommt in Deutschland an. Wenn dieses Geld in Deutschland ankommt, ruht es hier nicht, sondern es wird angelegt. Wo und von wem wird es denn angelegt? Die wesentlichen Anlagevolumina aus Deutschland im Ausland werden von Leuten getätigt, die hier keine Lohnempfänger sind. Jetzt merken wir: Wenn wir die Verbindung zwischen Exportüberschuss, zwischen Industrialisierung, zwischen Digitalisierung und zwischen Lohnentwicklung anpassen würden, dann würde die Ursache der TARGET-Salden, nämlich dieser exorbitante Exportüberschuss, bekämpft, und zwar nicht nur die Wirkung. Uns geht es um Ursachenbekämpfung und nicht nur um Wirkungsbeschreibungen. ({0}) Jetzt müssen wir uns überlegen, was diese Besicherung eigentlich bedeuten würde und ob sie überhaupt nötig ist.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gestatten Sie eine Zwischenfrage vom Kollegen Willsch?

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfragen. – Die EZB hat nämlich eine ganz große Besonderheit, die wir, wenn wir ein normales Konto bei der Sparkasse eröffnen, gar nicht im Hinterkopf haben: Die EZB ist nämlich das sogenannte „lender of last resort“. Das heißt, die EZB ist eine absolute Vertrauensinstitution. Deshalb braucht man in einem Verrechnungssystem, das über die EZB läuft, diese Art der Besicherung nicht. Das entscheidende und schlagende Argument, warum die Besicherung nicht funktionieren muss, ist, dass sie über die EZB gegeben ist. Aber die Forderung nach einer Besicherung durch Gold sollten wir genauer untersuchen. Tatsächlich würden die Goldreserven der einzelnen Länder gar nicht ausreichen, um das zu besichern. ({0}) Es ist Unsinn, eine Besicherung zu fordern, die es gar nicht gibt. Das bestehende System ist ganz vernünftig. Bretton Woods war eine schöne Idee. Aber Bretton Woods gibt es seit 1972 nicht mehr. Wie wir sehen, ist Deutschland nach 1972 nicht zusammengebrochen. Auch Europa ist nicht zusammengebrochen, obwohl es die Golddeckung nicht mehr gibt. Die Golddeckung war in einer bestimmten Phase eine ganz gute Idee zur Stabilisierung. Aber wie wir gesehen haben, brauchen wir sie gar nicht mehr. Europa ist stabil. Deutschland ist auf einem sehr guten Pfad. Den Besicherungsideen, die Sie haben, liegt ein sehr traditionelles Bild zugrunde, und diese Ideen entsprechen überhaupt nicht mehr der heutigen Situation. Man darf nicht vergessen: In dem in Rede stehenden System werden täglich 1,7 Billionen Euro bewegt. Da merken wir, welche enorme Kraft dieses System hat, um die Wirtschaft in Europa zu stärken. Das TARGET2-­System ist eine gute Institution, eine gute Idee, um für Deutschland und Europa etwas zu erreichen. Deshalb sind wir dafür, den Euro und Europa zu erhalten und beides zu stabilisieren. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Harald Weyel von der AfD-Fraktion.

Prof. Dr. Harald Weyel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004932, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Kollege Binding, ich glaube, dass da einiges durcheinandergeraten ist. Vielleicht hätten Sie doch den 2-Meter-Zollstock mitbringen sollen; denn Sie haben jedes Maß verloren. Sie haben jede Möglichkeit zu einer gigantischen Fehldarstellung genutzt. Die Schulden Deutschlands 1919, die Kriegsschulden, die weginflationiert wurden, waren das Ende der Reichsmark. Dann kam die Rentenmark. Das hat zu einer gigantischen Vermögensvernichtung geführt. Das haben die Deutschen aus der eigenen Tasche gezahlt. Nun zum Young-Plan von 1929. Die letzte Rate wurde im Oktober 2010 zurückgezahlt, und er wurde auch noch durch eine Volksabstimmung genehmigt. Das ist eine ganz andere Art Geschäft gewesen aufgrund des Dollarkredits, der sich noch an den alten Austauschverhältnissen orientierte. Sie bezeichnen uns als Feinde Europas. Sie sind der Feind Europas, wenn Sie Europa auf immer dünnere Beine stellen und zunehmend in der Logik eines betrügerischen Haustürgeschäfts Sachen versprechen, ({0}) die nicht eingehalten werden können, ein X für ein U vormachen, alte Schulden mit neuen Schulden bezahlen. Das ist alte Schule. Um die Folgen eines solchen Wirtschaftens zu sehen, müssen wir nicht nach Europa gehen. Ganz Südamerika hat so gewirtschaftet. Die Folge waren Tausende Staatspleiten und Währungsschnitte. Kehren Sie zurück zum ehrlichen Wirtschaften! Da Sie und Ihre Partei es nicht können und nur mit dem Geld anderer Leute und prolongierten, prolongierten, prolongierten Krediten arbeiten, lassen Sie die Leute ran, die etwas davon verstehen. Schlagen Sie eine Bresche für die Vernunft, für die Rückkehr zur Realwirtschaft, für das ehrliche Wirtschaften. Lassen Sie uns ehrliche Makler für Europa, für uns selbst und die ganze Welt werden und nicht dieses betrügerische Haustürgeschäft fortsetzen. Danke. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Binding, wollen Sie antworten?

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es muss Ihnen wohl sehr wehgetan haben, dass ich gesagt habe: Deutschland war auf das Ausland angewiesen und darauf, dass es uns Zeit gibt. Übrigens gab es noch einen Effekt ähnlicher Art. Denken Sie an die Währungsreform 1948. Auch damals gab es einen Ausgleichsposten, für den uns die anderen Länder Zeit gegeben haben. Also: Seien wir großzügig mit denjenigen, die schwach sind bzw. die Sie als schwach bezeichnen. Ich habe überhaupt kein Problem mit dem System, das wir beschreiben. Ich weiß nur, dass Deutschland schon so oft auf andere angewiesen war, dass es sich lohnt, gut Freund zu sein mit vielen. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Hermann-Josef Tebroke, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Hermann Josef Tebroke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Aufgabe der Europäischen Zentralbank und des Europäischen Systems der Zentralbanken sind die Sicherung der Preis- und Geldwertstabilität sowie die Gewährleistung eines reibungslos funktionierenden Zahlungssystems im Euro-Währungsgebiet. Das ESZB handelt im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, so heißt es in der Satzung von EZB und ESZB, dessen anstehende Änderung des Artikels 22 der Satzung die AfD nun zum Anlass nimmt, einen Antrag vorzulegen, und zum Hebel, Änderungen zu erreichen, und zwar nicht nur im TARGET2-System, sondern – so vermute ich – deutlich darüber hinaus. Über die Wirkweise des TARGET2 ist genügend vorgetragen worden. Auch ist im Antrag bereits darauf hingewiesen und von Herrn Kollege Berghegger noch einmal betont worden: Die Salden im TARGET2-System laufen deutlich auseinander. Das verdient eine genauere Betrachtung. Der deutlich angestiegene positive Saldo der Bundesrepublik liegt bei rund plus 900 Milliarden Euro. Aber auch die Salden etwa Spaniens mit minus 400 Milliarden Euro und Italiens mit minus 500 Milliarden Euro müssen genauer betrachtet werden. Wie kommt es zu dieser Entwicklung? Welche Gründe werden in diesem Zusammenhang genannt? Da sind zum einen das anhaltende Leistungsbilanzungleichgewicht zwischen den Akteuren. Da ist zum Zweiten die Verlagerung grenzüberschreitender Zahlungen aus dem Interbankengeschäft auf das TARGET2-System. Da gibt es drittens das wachsende Interesse an Geldanlagen in Deutschland, Stichwort „sicherer Hafen“. Meine Damen und Herren, insofern ist der Befund weitgehend unstrittig. Strittig sind allerdings die Bewertungen und vor allem auch die Schlussfolgerungen, die aus diesem Befund gezogen werden. Zum Ersten. TARGET2 funktioniert. Insgesamt gleichen sich die Salden zu null aus. Geldpolitisch kommt es also zu keiner neuen Geldschöpfung. Für das Funktionieren des TARGET2 sind Höhe und Unterschiede der Salden zunächst auch gar nicht wichtig. Begrenzungen sind sogar schädlich; denn indem das System atmen kann und flexibel ist, gibt es keinen Anreiz zu Spekulationen gegen Engpässe und auch nicht gegen einzelne Länder, wie das in Systemen fester Wechselkurse immer wieder beobachtet wird oder beobachtet werden muss. Es funktioniert offenbar so gut, dass es immer mehr genutzt wird. Problematisch sind möglicherweise die Gründe für diese zunehmende Attraktivität. Da sollten wir genauer hinschauen. Die Kollegen Schick und De Masi sowie die Kollegin Steffen haben deutlich gemacht, dass das TARGET2-­System ein wichtiger Beitrag zu wirtschaftlicher Zusammenarbeit, Prosperität und Integration in Europa ist. Eine solche positive Bewertung findet sich im vorliegenden Antrag nicht. Das verwundert vielleicht auch gar nicht. Zum Zweiten. Zur Interpretation der Salden möchte ich nur eine kurze Bemerkung machen. Die AfD sieht die positiven Salden als Forderung der Notenbanken gegenüber der EZB und negative Salden entsprechend als Verbindlichkeiten. So haben „die TARGET-Salden der Bundesbank einen eindeutigen Forderungscharakter“. Diese Einordnung ist zumindest umstritten. Man sollte auch zur Kenntnis nehmen, dass die umfangreiche wissenschaftliche Diskussion durchaus gute Gründe aufweist, die Salden als einfache Rechengrößen zu betrachten. Hierauf findet sich übrigens im Antrag der AfD gar kein Hinweis. ({0}) Zum Dritten. Was folgt denn nun aus dem Befund? Wenn man der Einschätzung des Antragstellers gleichwohl folgt, dann stellen sich natürlich Fragen danach, wer hier etwa kreditiert unter welchen Bedingungen und zu welchen Konditionen und auch, ob sich Risiken ergeben, ob sie relevant sind und wie damit umzugehen ist. Unter meines Erachtens weitreichenden und zum Teil diffamierenden Annahmen entwickelt nun der Antragsteller – besser: er deutet an – Szenarien, aus denen sich für die Bundesrepublik ein erhebliches, ein untragbares Ausfallrisiko ergibt. Am Ende werde der Schaden – so heißt es – unüberschaubar. Das System breche zusammen, und der deutsche Steuerzahler werde „die Zeche für die Rettung der Banken in den Euro-Südstaaten zahlen“. Hier geht es offensichtlich nicht mehr nur um die sachliche Diskussion des Phänomens und möglicher Ursachen, sondern um das Schüren von Angst, vielleicht sogar Panik. Aber das sind schlechte Berater. Der Antragsteller schlägt nun erstens vor, den Saldo umgehend zurückzufahren – das auch zuletzt im Antrag vom 6. Juni – und sich dafür einzusetzen, dass Zentralbanken mit negativen Salden – also Verbindlichkeiten – Sicherheiten weiterleiten. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, fordert die AfD die Bundesregierung auf, ihre Zustimmung zur anstehenden Neufassung des Artikels 22, der etwas ganz anderes zum Gegenstand hat, zu verweigern. Kann das eigentlich gewollt sein? Nur in Kürze: Saldenbeschränkungen in einem solchen System des Zahlungsverkehrs belasten realwirtschaftliche Lieferungs- und Leistungsbeziehungen. Dabei haben wir doch ein großes Interesse daran, Leistungsbeziehungen von Friktionen des Finanzmarkts möglichst loszulösen. ({1}) Also werden solche Beziehungen möglicherweise sogar abgewürgt. Es entsteht das Risiko von Spekulationen gegen den Engpass. Nein, das kann nicht gewollt sein. Zweitens. Wenn die abnehmende Bonität der Sicherheiten beklagt wird, wird es auch keinen Sinn machen, wie eben auch Herr Schick schon ausführte, diese Sicherheiten einfach nur über die EZB an die im vorliegenden Fall fordernde Deutsche Bundesbank weiterzuleiten. Im Übrigen wäre das so – jetzt nehme ich als Beispiel eine Volksbank –, als würde einem Sparer bei einer Volksbank die Hypothek seines Nachbarn, der bei der gleichen Bank einen Kredit aufgenommen hat, weitergereicht. Drittens. Wenn das Vertrauen in die Banken beeinträchtigt ist, dann muss es darum gehen, das Vertrauen wieder zu begründen. Das sollten wir – das tun wir auch – an anderer Stelle diskutieren, wenn es um die Quote der Non-performing Loans geht und auch um die Bewertung von Staatsanleihen in den Bilanzen dieser Banken, die nach und nach an Vertrauen verlieren. ({2}) Viertens. Entscheidend ist für mich an dieser Stelle, dass ein hier gut funktionierendes System, ein Instrumentarium der Geldpolitik, unzulässigerweise und ohne Aussicht auf den entsprechenden Erfolg bei der Bewältigung der Ursachen für den Saldenanstieg missbraucht wird und seine Wirksamkeit einbüßt. Und fünftens. Meine Damen und Herren, auch mit der Drohung, der Änderung des Artikels 22 der Satzung nicht zuzustimmen, erweisen wir dem System einen Bärendienst, weil der Artikel 22 und seine Änderung gerade darauf abzielen, das System insgesamt stabiler zu machen. Aber vielleicht geht es dem Antragsteller auch gar nicht darum, das System zu verbessern. Wenn man vor diesem Hintergrund – ich komme zum Schluss, meine Damen und Herren – auch die Dramaturgie im Aufbau des Antrags und die Wortwahl betrachtet, dann, vorsichtig formuliert, könnte mindestens der starke Eindruck entstehen, dass der Antragsteller den Schutz des Vermögens der Bundesbank eher nur vorschiebt, dass er gar kein Interesse hat an einer Stabilisierung und erfolgreichen Zukunft von TARGET2 der Europäischen Zentralbank sowie des Systems der Zentralbank, dass er kein Interesse hat an einem gemeinsamen Euro – das ist gerade auch in der Debatte noch mal sehr deutlich geworden – und damit auch kein Interesse hat an einer erfolgreichen wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Kooperation in Europa zum Nutzen der Bürgerinnen und Bürger. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie jetzt bitte wirklich zum Schluss, Herr Kollege.

Dr. Hermann Josef Tebroke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich schließe.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ja, das machen Sie bitte gleich.

Dr. Hermann Josef Tebroke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Was wir wollen – darum können wir nicht einverstanden sein –: Wir wollen TARGET2 sichern und gegebenenfalls nötiges Vertrauen stärken. Wir wollen die Risiken rational analysieren und sie auch entsprechend managen. Wir möchten die Gründe für dauerhafte strukturelle Leistungsbilanzunterschiede und für Vertrauensverluste bei den Banken nicht mit geldpolitischen Instrumenten, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, bitte jetzt!

Dr. Hermann Josef Tebroke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– sondern mit geeigneten Mitteln innerhalb der jeweiligen Zuständigkeit regeln. Darum lehnen wir – meine Damen und Herren, das können Sie nachvollziehen – den Antrag ab. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Sie haben, Herr Kollege Tebroke, meine Geduld bis an die Grenze strapaziert, weil Sie mehr als eine Minute überzogen haben. Ich bitte wirklich, darauf zu achten, dass die Redezeit eingehalten wird; denn sonst sitzen wir heute Abend noch nach 18 Uhr hier, was keiner von uns will. Mit diesen doch, finde ich, beherzenswerten Worten schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/4544 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden, wie ich sehe. Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, über die Brückenteilzeit. Aber lassen Sie mich aus aktuellem Anlass eine kurze Bemerkung machen. Ich war heute Morgen in Schönefeld bei den streikenden Arbeitern von Ryanair. Es ist nicht üblich, dass sich Politik und Staat oder auch die Bundesregierung in Tarif­auseinandersetzungen einschalten. Aber ich muss Ihnen sagen: Nach dem, was ich da heute erlebt habe, ist es wichtig, dass wir in diesem Haus – es waren Vertreter der CDU, der Grünen, der Linken, auch der SPD dankenswerterweise da – eines deutlich machen: Wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach Artikel 9 unseres Grundgesetzes ihr verbrieftes Recht auf Koalitionsfreiheit in Anspruch nehmen, wenn sie auch streiken, dann ist das ein gutes Recht. Was ich heute erlebt habe, ist, dass eine Unternehmensleitung versucht hat, streikende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu bedrohen und zu drangsalieren. Deshalb will ich an dieser Stelle im Parlament, hoffentlich mit Ihrem Einverständnis, eines deutlich sagen: Deutschland ist keine Bananenrepublik. Wir sind ein sozialer Rechtsstaat. Wer Globalisierung zur Ausbeutung missbraucht, wie das bei Ryanair der Fall ist, muss unseren entschiedenen Widerstand erfahren, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({0}) Tagesaktuell ist heute zum Zweiten der Tag der Arbeitslosenzahlen. „5 Prozent“ ist heute die Meldung aus Nürnberg, der höchste Stand sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung seit der Wiederherstellung der deutschen Einheit – eine Leistung, auf die wir in Deutschland gemeinsam stolz sein können. ({1}) Aber gleichzeitig wünschen sich Millionen von Menschen mehr berufliche Flexibilität für unterschiedliche Lebensphasen. Ich meine Menschen, die beispielsweise ihre Arbeitszeit ein bisschen reduzieren wollen, weil sie ein ehrenamtliches Projekt für die Gemeinschaft machen wollen, weil sie die Nachbarschaft oder die Gemeinde oder den Sportverein unterstützen wollen. Ich meine Menschen, die aus ganz privaten Gründen gefordert sind, weil sie beispielsweise einen Trauerfall in der Familie zu verarbeiten haben oder eine Scheidung. Ich meine Menschen, die ihr Haus renovieren müssen oder deren Kind gerade in einer schwierigen Lebensphase steckt. Es gibt also sehr unterschiedliche Situationen, in denen Menschen das Bedürfnis haben, in einer Lebensphase ihre Arbeitszeit flexibel zu gestalten. Alle diese Menschen, die ich genannt habe, stehen stellvertretend für 1 Million Menschen in diesem Land, die aus sehr individuellen Gründen zeitlich begrenzt ihre Arbeitszeit reduzieren wollen. Sie brauchen diese Zeit, meine Damen und Herren, und zwar, ohne dass sie zukünftig langfristig berufliche Nachteile erleiden. Teilzeit darf nicht zur Falle werden, zur Sackgasse ohne Rückweg in ein Vollzeitberufsleben. Deshalb sage ich an dieser Stelle: Dieses Gesetz hilft, dass die Arbeit zum Leben passt und nicht umgekehrt. ({2}) Es gibt heute schon das Recht, aus bestimmten Gründen die Arbeitszeit zu reduzieren: aus Gründen der Kindererziehung, der Pflege von Angehörigen. Es gibt bereits seit 2001 das Recht auf Teilzeit. Aber was wir jetzt schaffen – das entspricht der Lebenswirklichkeit vieler Menschen in Deutschland und einem modernen Arbeitsmarkt –, ist ein Rechtsanspruch auf zeitlich begrenzte Teilzeit und damit Brücken in eine Teilzeitphase und Brücken zurück in die vorherige Arbeitszeit. Diese Brückenteilzeit funktioniert also in zwei Richtungen: wenn man in Teilzeit gehen will, aber auch, wenn man aus der Teilzeit wieder herauswill. Wir bauen diese Brücken für einen bestimmten Zeitraum. Es gibt einen Rechtsanspruch, die Arbeitszeit für ein bis fünf Jahre zu verkürzen, ohne das übrigens besonders begründen zu müssen, um anschließend geplant in Vollzeit zurückzukehren. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir stärken vor allen Dingen auch das Recht derjenigen, die jetzt Teilzeit als Falle erleben, aus der Teilzeitfalle herauszukommen. ({3}) Es ist bisher schon so, dass Beschäftigte, die in Teilzeit sind, einen vorrangigen Anspruch haben, berücksichtigt zu werden, wenn sie den Wunsch haben, zur Vollzeit zurückzukehren. Das ist im Teilzeit- und Befristungsrecht so vorgesehen. Aber bis dato ist es so, dass die Darlegungspflicht, warum das möglich ist, im Wesentlichen bei den Beschäftigten selbst liegt. Der entscheidende Schritt, den wir mit diesem Gesetz machen, ist, dass wir bei der Darlegungspflicht sagen: Das Unternehmen, das den Anspruch verweigern will – es muss ihn aus bestimmten Gründen verweigern können –, muss darlegen, warum es das nicht erlaubt. Wenn ein Mittelständler – das ist nachvollziehbar – keinen freien Arbeitsplatz hat oder wenn die Qualifikation nicht passt oder die unternehmerische Existenz gefährdet wird, dann muss es natürlich das Recht geben, diesen Rechtsanspruch zu verwehren. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, das muss zukünftig aus guten Gründen der Arbeitgeber darlegen, und der Gesetzgeber will und sollte sich bewusst dafür entscheiden, den Beschäftigten an dieser Stelle den Rücken zu stärken. ({4}) Die Brückenteilzeit ist damit gleichzeitig ein Beitrag zur Gleichstellung der Geschlechter in Deutschland und zur Vermeidung von Altersarmut. Überwiegend sind es Frauen, die in Deutschland teilzeitbeschäftigt sind. Acht von zehn Teilzeitbeschäftigten in Deutschland, also 80 Prozent, sind Frauen. Oder umgekehrt: Die Hälfte der abhängig beschäftigten Frauen in Deutschland, ungefähr 47 Prozent, arbeitet in Teilzeit. Viele dieser Frauen würden nach einer bestimmten Zeit gern wieder mehr arbeiten – mit Blick auf ihre berufliche Entwicklung, auch mit Blick auf ihre Altersversorgung. Dieser Zusammenhang liegt auf der Hand. Wer sein Leben lang Teilzeit gearbeitet hat – und das möglicherweise noch zu schlechten Löhnen –, wird im Alter keine höheren Anwartschaften haben als die Grundsicherung. Deshalb sage ich: Die Brückenteilzeit ist ein Instrument, um Altersarmut in Deutschland zu vermeiden, und das ist auch gut so. ({5}) Aber ich sage auch: Die Brückenteilzeit hilft Unternehmen in Deutschland, weil sie Planungssicherheit schafft. Mit Blick auf die notwendige Fachkräftesicherung in Deutschland hilft sie nicht nur, die Attraktivität von Unternehmen zu steigern, weil sie flexible Arbeitszeiten, die zu Lebensphasen passen, ermöglichen, sondern auch, weil wir mit der Rückkehr in Vollzeit die Chance haben, das Arbeitszeitvolumen von qualifizierten beschäftigten Männern und Frauen in Deutschland für die Fachkräftesicherung zu nutzen. Deshalb sage ich: Wir haben lange gekämpft für dieses Gesetz. Wir haben lange gerungen, auch in der letzten Legislaturperiode zwischen den damaligen Koalitionspartnern, die die heutigen sind. Ich bin froh, dass es in der Regierung nach intensiven Debatten, auch nach intensiven Gesprächen mit den Sozialpartnern, gelungen ist, diesen Gesetzentwurf heute in das Parlament einbringen zu können. Ich gebe zu: Ich bin ein bisschen stolz; es ist mein erster Gesetzentwurf, der jetzt das Parlament erreicht. ({6}) Aber das ist nicht wichtig, weil es nicht um mich geht. Es geht um Millionen von Menschen in Deutschland, die mit diesem Gesetz bessere Arbeits- und Lebensbedingungen bekommen. Ich sage es noch einmal: Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir müssen in einer modernen Arbeitsgesellschaft über Flexibilität reden. Es gibt in einer modernen, vor allem digital geprägten Arbeitswelt, auch auf Unternehmensseite flexible Ansprüche und das Bedürfnis nach neuen Arbeitsformen, die auch entstehen. Der Ruf nach Flexibilität kommt aus vielen Unternehmen, er kommt auch aus vielen Wirtschaftsverbänden, aber wenn wir über Flexibilität reden, dann müssen wir eben auch über die Flexibilitäts- und Sicherheitsbedürfnisse von Beschäftigten in Deutschland sprechen. Dafür leistet dieses neue Gesetz, die Brückenteilzeit, einen wesentlichen Beitrag. Zusammenfassend möchte ich feststellen: Dieser Gesetzentwurf entspricht der Lebenswirklichkeit von Millionen von Menschen in Deutschland. Wir stärken den Rücken derjenigen, die von Teilzeit in Vollzeit zurückkehren wollen. Er hilft zur Vermeidung von Altersarmut. Er schafft die Chance, nach einer Weile in Teilzeit tatsächlich wieder Vollzeit arbeiten zu können. Der Gesetzentwurf schafft gleichzeitig einen Beitrag zur Fachkräftesicherung. Er schafft Planungssicherheit für Unternehmen. Kleine und mittelständische Unternehmen werden bewusst nicht überfordert; darüber haben wir gesprochen, und dafür haben wir gesorgt. Deshalb, meine Damen und Herren, bitte ich Sie in den parlamentarischen Beratungen um einen konstruktiven Dialog, damit ab 1. Januar 2019 die Brückenteilzeit in Deutschland von den Beschäftigten genutzt werden kann. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Minister. – Als nächster Redner hat der Kollege Jürgen Pohl, AfD-Fraktion, das Wort. ({0})

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Werte Genossen von der SPD! ({0}) Der Minister hat groß herausgestellt, wie dieses Gesetz die Frauen und Mütter dieses Landes entlasten soll, wie die Rechte dieser Mütter und Frauen gewahrt werden sollen. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber bei der Lektüre Ihres Gesetzentwurfs habe ich vergeblich nach Vorteilen für die Mütter gesucht. Ganz ehrlich: Was Sie da zusammengeschrieben haben, ist eine Beschäftigungsmaßnahme und Spielwiese für Rechtsanwälte, Gewerkschaftssekretäre und für die Arbeitsgerichte. ({1}) Es ist so sinnvoll und so notwendig, dass den Arbeitnehmern die Möglichkeit gegeben wird, eine befristete Teilzeitbeschäftigung einzugehen, die mit dem Rechtsanspruch auf verbindliche Rückkehr verbunden ist. Darauf warten die Mütter seit Jahren. Und weil das so ist, setzen wir uns als AfD, als Volkspartei, als Partei der kleinen Leute ({2}) für dieses Thema konsequent ein. – Wir gehen ins Detail, dann lachen Sie weiter. ({3}) Über 5,1 Millionen Mütter sind in Deutschland teilzeitbeschäftigt. ({4}) Diese Zahl zeigt den enormen Bedarf einer solchen Regelung. Von diesen 5,1 Millionen Frauen sind über 3 Millionen in Betrieben mit weniger als 50 Beschäftigten tätig. Das heißt: Zwei Drittel dieser Frauen fallen gar nicht unter diese rechtliche Regelung. ({5}) – Das wussten Sie? Warum lachen Sie? ({6}) Die meisten jungen Mütter werden von dieser Regelung also gar nichts haben. Bei den Arbeitgebern, die zwischen 45 und 200 Beschäftigte haben, kann nur jeder Fünfzehnte – also bei den kleinen Betrieben nur drei Frauen – diese Regelung in Anspruch nehmen, falls man ihnen diese Regelung nicht verwehrt, zum Beispiel aus dringenden betrieblichen Gründen. Liebe Genossinnen und Genossen aus der Regierungsfraktion, echte Sozialpolitik geht anders. Aber diesen Anspruch haben Sie aufgegeben; spätestens seit den Hartz-Gesetzen ist das so. Seitdem kommen die Wähler lieber zu uns, zur AfD, statt zu Ihnen. ({7}) Ihr Gesetzentwurf sieht vor, dass der Arbeitnehmer die gewünschte Verteilung der Arbeitszeit zusammen mit seinem Teilzeitwunsch angibt. ({8}) – Oh Gott! Pöbeln Sie doch weiter. Sie sehen Ihre Wahlergebnisse, Ihre Umfrageergebnisse. Machen Sie doch mit. Wissen Sie, ich habe diese Woche zwei Bewerbungen zum Wahlhelfer der Woche für die AfD. ({9}) Einmal den Kollegen Schulz, einmal den Kollegen Kahrs. Wenn Sie auch einer werden wollen, dann werden wir Sie in die Straße der Besten aufnehmen. ({10}) Wir kommen zurück. Auch für die Arbeitgeber ist es dramatisch eingreifend, was der Gesetzentwurf für sie vorsieht. Erstens. Ein Wust an Bürokratie. Zweitens. Unternehmerische Entscheidungsfreiheit gibt es nicht mehr. Drittens. Eine sinnvolle Personalplanung wird ad absurdum geführt. Sie müssen überlegen: Die Besetzung einer Personalstelle dauert heutzutage sechs Monate. Sie haben jetzt eine Ankündigungsfrist von drei Monaten vorgesehen. Wie das funktionieren soll, weiß ich noch nicht. Zum Letzten, meine Damen und Herren von der SPD. Arbeit auf Abruf ist moderne Sklaverei und nur in einigen wenigen Branchen, wie zum Beispiel in der Gastronomie, notwendig und akzeptiert. Das heißt: Wenn einige kleine Branchen Arbeit auf Abruf benötigen, dann ist dies ein Regelungsbedarf für Branchentarifverträge. Dass die SPD sich hergibt, eine derartige Ausbeutung von Arbeitnehmern in Gesetzesform zu gießen, ist meines Erachtens der Gipfel an Unverfrorenheit für eine soziale Partei. ({11}) Und noch mal: Wenn Sie sich fragen, warum Ihnen die Wähler weglaufen, dann lesen Sie Ihren eigenen Gesetzentwurf durch. Danke schön. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner hat der Kollege Wilfried Oellers für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute den Gesetzentwurf zur Brückenteilzeit. Mit diesem Gesetzentwurf wird ein Bestandteil unseres Regierungsprogramms aus dem letzten Bundestagswahlkampf, der Einzug in den Koalitionsvertrag gefunden hat, umgesetzt. Neben der Einführung der Brückenteilzeit sei der Vollständigkeit halber erwähnt, dass dieser Entwurf auch Änderungen bei den Themen „Arbeit auf Abruf“ und „Verlängerung der Arbeitszeit“ nach der bisherigen Möglichkeit, die Arbeitszeit zu verringern, beinhaltet. Die Menschen haben heutzutage den Wunsch, ihre Arbeitszeit flexibler zu gestalten, um privates, familiäres Leben mit dem Arbeitsleben besser vereinbaren zu können. Es gibt Menschen, die ihre Arbeitszeit dafür reduzieren wollen, es gibt aber auch andere, die gerade ihre Arbeitszeit wieder erhöhen wollen. Zu diesem Ergebnis kommt auch jüngst eine veröffentlichte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Dieser Gesetzentwurf kommt den Wünschen der Menschen entgegen. Herr Minister Heil hat bereits die Rahmenbedingungen für Brückenteilzeit erwähnt. Ich darf mich diesen Äußerungen anschließen, vor allen Dingen den positiven Effekten, die er damit in Verbindung bringt; dem stimme ich unbestritten zu. Ich möchte nur eine Sache betonen – das ist mir im Rahmen der Befristungsthematik und der Diskussion darüber besonders wichtig –: Jeder, der heute diesem Gesetz im Grundsatz – ich sage nicht: in allen Einzelausführungen – Positives abgewinnen kann, der muss natürlich auch die Konsequenz berücksichtigen. Ich schiebe noch mal vorweg, dass ich die Brückenteilzeit als Flexibilisierungsinstrument für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausdrücklich begrüße. Aber die Folge wird sein, dass man im optimalen Fall aus einem unbefristeten Vollzeitarbeitsverhältnis mindestens ein befristetes Teilzeitarbeitsverhältnis macht, durch die Ergänzung der ausfallenden Arbeitszeit durch die Inanspruchnahme der Brückenteilzeit eigentlich sogar zwei befristete Teilzeitarbeitsverhältnisse. Warum? Arbeitnehmer A möchte gerne seine Arbeitszeit reduzieren, er ist unbefristet beschäftigt, arbeitet 100 Prozent, also Vollzeit, und möchte jetzt heruntergehen auf beispielsweise 50 Prozent. Diese ausgefallene Arbeitszeit muss natürlich ausgeglichen werden. Dafür muss der Arbeitgeber einen anderen Arbeitnehmer – wiederum befristet – in Teilzeit, 50 Prozent, einstellen, der diese ausfallende Tätigkeit aufnimmt. Auf dem derzeitigen Arbeitsmarkt wird es schon eine Herausforderung sein, eine Person zu finden, die einem solchen Angebot zustimmt. Worauf möchte ich hinaus? Wir machen aus einem Vollzeitarbeitsverhältnis zwei befristete Teilzeitarbeitsverhältnisse, und das wird die Statistik, die bei der Befristungsthematik immer zur Diskussion steht, verändern. Bisher wird das Instrument der befristeten Teilzeit ja an den Pranger gestellt und gesagt, es sei ein schlechtes Instrument – ({0}) natürlich habe ich auch lieber 100 Prozent Vollzeitbeschäftigte –, aber das wird es in Zukunft immer häufiger geben. Deswegen bin ich der Auffassung, dass es im Rahmen der Brückenteilzeit außerordentlich wichtig ist, sehr geehrter Herr Minister, dass diese Dinge statistisch separat erfasst werden, damit wir in keine Schieflage in der Diskussion um die Befristungsthematik insgesamt geraten. ({1}) Wie gesagt, das Flexibilisierungsinstrument der Brückenteilzeit wird ein wichtiges und wahrscheinlich auch ein sehr oft in Anspruch genommenes Flexibilisierungsinstrument sein. In diesem Zusammenhang ist es mir aber genauso wichtig, zu betonen: Auf der einen Seite ist das ein Flexibilisierungsinstrument der Arbeitnehmer, auf der anderen Seite muss der Arbeitgeber darauf natürlich auch entsprechend flexibel, unbürokratisch und vor allen Dingen rechtssicher reagieren können. Das ist auch ein Punkt, den das Befristungsrecht insgesamt hergeben muss. Sosehr dem Wunsch nach Flexibilität in der Arbeitszeit nachgegangen werden muss, so selbstverständlich sollte auch das Interesse des Arbeitgebers berücksichtigt werden, dass der Betrieb natürlich auch mit diesem Instrument weiterlaufen muss. Ich komme zum zweiten großen Aspekt, der diejenigen betrifft, die bisher in Teilzeit sind und nach den bisherigen rechtlichen Möglichkeiten gerne aufstocken wollen. Hier ist es bisher so, dass es im Rahmen der Beweislastumkehr vier Voraussetzungen gibt, von denen zwei beim Arbeitgeber liegen. Hier sollen noch zwei weitere Voraussetzungen dazukommen; Herr Minister Heil hat es angesprochen. Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang, zu betonen, dass selbst der Nachweis des freien Arbeitsplatzes, der natürlich beim Arbeitgeber liegt – das heißt, er muss nachweisen, dass er keinen freien Arbeitsplatz hat –, nicht dazu führt, dass die Organisationshoheit des Arbeitgebers infrage gestellt wird. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der insbesondere im Kabinettsverfahren eingeführt worden ist und Einfluss in die Beratungen gefunden hat. Lassen Sie mich abschließend sagen: Flexibilisierung ist nötig in der Arbeitswelt, das ist überhaupt keine Frage. Aber es muss natürlich für beide Seiten gelten: für den Arbeitnehmer und für den Arbeitgeber, um darauf unbürokratisch, rechtssicher reagieren zu können. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Oellers. – Als Nächster für die Freien Demokraten der Kollege Till Mansmann. ({0})

Till Mansmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004815, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Heil! Ein Gesetzentwurf gibt immer einen interessanten Blick darauf, wie sein Autor die Realität betrachtet. So ist es auch hier: Ihr Gesetzentwurf für die Brückenteilzeit zeigt nicht viel Verständnis für die Realität in den Betrieben in Deutschland. ({0}) Dieser Entwurf der Großen Koalition geht ganz offensichtlich davon aus, dass die Arbeit in Unternehmen so homogen ist, dass jeder Angestellte jeden anderen einfach so ersetzen kann. ({1}) Sie unterscheiden noch nicht einmal zwischen verschiedenen Betriebsstätten, die ein Betrieb ja auch haben kann. Nehmen wir den einfachen Fall eines Betriebs, der künftig betroffen sein soll, mit knapp 50 Angestellten. Wenn 35 von ihnen in der Produktion sitzen, fünf in der Logistik und fünf in der Verwaltung und auch nur zwei Verwaltungsangestellte das Angebot, das Sie ihnen machen wollen, nutzen, ist das Problem ein ganz anderes und sehr viel größer, als wenn zwei Mitarbeiter aus der viel größeren Produktionsabteilung das machen. ({2}) Man könnte den sozialdemokratischen Geist, den dieses Gesetz atmet, lieber Minister Heil, einen invers mephistophelischen nennen. Sie kennen Mephisto: Der Geist, der stets verneint, der stets das Böse will und stets das Gute schafft. – Sie haben hier einen Geist, der stets bejaht, der jedem alles verspricht, der stets das Gute will – das erkennen wir ja an, dass Sie das Gute wollen –, aber dann ein schlechtes Gesetz daraus macht. Wie der Volksmund so schön sagt: Gut gemeint ist nicht gut gemacht. ({3}) Mit diesem Gesetz schaffen Sie sich die Probleme von morgen selbst. Denn wenn ein Arbeitnehmer nun ankündigt, sagen wir, in drei Monaten für drei Jahre von einer vollen auf eine halbe Stelle zu reduzieren, dann reagiert das Unternehmen natürlich auf diese Veränderung, indem es eine Teilzeitstelle schafft. Der Kollege Oellers hat das bereits erwähnt. Wenn der Arbeitgeber die Stunden nicht auf eine andere Teilzeitstelle verteilt, könnte er auch reagieren, indem er Überstunden erzeugt. ({4}) Wir werden sehen, dass in ein oder zwei Jahren Vertreter der SPD-Fraktion hier stehen und sich darüber beschweren, dass Unternehmen deutlich mehr befristete Stellen ausschreiben als früher oder dass immer mehr Überstunden entstehen. ({5}) – Aber noch kein Recht auf Rückkehr. – Und dann werden die Vertreter der SPD-Fraktion Gesetze ankündigen, um diesen Missstand, den sie mit diesem Gesetz selbst geschaffen haben, noch weiter zu regulieren. ({6}) Sie rufen die Geister, die Sie in ein paar Jahren hier vertreiben wollen, selbst her. Es ist eine klassische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, aber leider nur für diese und die nächsten Bundesregierungen, die Betriebsjuristen und die Arbeitsgerichte. ({7}) Wir von den Freien Demokraten stehen zur Tarifautonomie. Wir stehen fest hinter dem Streikrecht, geehrter Minister Heil, aber eine pauschale Globalisierungskritik unterstützen wir nicht. ({8}) Die Idee der Tarifautonomie ist nicht nur eine Frage des Lohns, sondern auch, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemeinsam die Erbringung der Arbeitsleistung passend zu ihrer Branche organisieren. Das funktioniert in Deutschland gar nicht so schlecht. Das Statistische Bundesamt hat in seiner Studie zur Qualität der Arbeit 2017, zur sogenannten freiwilligen Teilzeit, herausgefunden, dass fast 90 Prozent aller Teilzeitbeschäftigten zufrieden sind mit ihrer Teilzeit, und 80 Prozent der Betriebe setzen den Wunsch nach Arbeitszeitveränderung bereits heute so schnell wie möglich um. ({9}) Das Bundesministerium für Familien, Frauen, Senioren und Jugend hat in seinem Unternehmensmonitor Familienfreundlichkeit schon 2013 festgestellt: Bei nur 1,5 Prozent der Betriebe ist die Umsetzung nicht möglich. Diesen niedrigen Wert werden Sie mit Ihrem Gesetzentwurf noch nicht einmal senken; denn auch künftig sollen die Unternehmen solche Wünsche ja nicht umsetzen müssen, wenn es betrieblich nicht möglich ist. Sie brummen den Betrieben ab jetzt eine fürchterliche Dokumentationsbürokratie auf. ({10}) Im Gesetzentwurf ist von dringenden Gründen die Rede, die wir bereits aus dem Teilzeitbefristungsgesetz und zahllosen Arbeitsrechtsprozessen kennen. Sie haben auch den Erfüllungsaufwand in Unternehmen auf zunächst 26 Millionen Euro und dann 1,81 Millionen Euro jährlich geschätzt, wohlgemerkt nur den Aufwand, der entsteht, wenn die Anträge gestellt und bearbeitet werden. Die Bürokratie für die Dokumentation der Arbeit – die wird nötig sein – haben Sie einfach unter den Tisch fallen lassen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Till Mansmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004815, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das wird der Realität in den Betrieben einfach nicht gerecht. ({0}) Daher lehnt die FDP-Fraktion diesen Gesetzentwurf ab. Das tut vermutlich auch ein Teil der Fraktion der Union. ({1}) Aber im Gegensatz zur Unionsfraktion werden wir demnach dann auch nicht zustimmen. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als Nächstes spricht für die Fraktion Die Linke die Kollegin Susanne Ferschl. ({0})

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, wer über die Lage und Dauer der Arbeitszeit bestimmt, der bestimmt über die Lebenszeit der Beschäftigten. Die Bundesregierung ändert am Zugriffsrecht der Arbeitgeber auf die Lebenszeit der Beschäftigen so gut wie nichts. Durch den Gesetzentwurf haben über 14 Millionen Menschen keinen Anspruch auf die sogenannte Brückenteilzeit, und Unternehmen werden weiterhin durch Arbeit auf Abruf – Dauer, Lage und Länge der Arbeitszeit – von über 4 Millionen Beschäftigten nach eigenem Ermessen bestimmen können. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Die Menschen wünschen sich gute Arbeit und Arbeitszeiten, die planbar sind, und die sie selber beeinflussen können. ({0}) Schauen wir es uns genauer an: Die Zahl der Teilzeitbeschäftigten hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Teilzeit ist nun mal eine Form der prekären Beschäftigung: Der Lohn reicht oft nicht zum Leben, die Menschen sind gezwungen, den Lohn aufzustocken, der Weg in die Altersarmut ist vorprogrammiert. Gerade Frauen hängen in der Teilzeitfalle fest. Das haben Sie vorher selber ausgeführt, Herr Minister. Haben sie einmal die Arbeitszeit reduziert, haben sie keine Möglichkeit oder Chance, diese wieder zu erhöhen. Sie haben das Problem zwar erkannt, aber Sie haben es nicht im Sinne der Beschäftigten gelöst. Sie schaffen jetzt ein Gesetz, in dem das Rückkehrrecht erst für Beschäftigte in Betrieben mit mehr als 45 Mitarbeitern gilt. Beschäftigte in kleineren Betrieben haben Pech gehabt. Sie schließen ganze Branchen damit aus, zum Beispiel den Hotel- und Gaststättenbereich, wo zwei Drittel aller Beschäftigten in kleineren Betrieben arbeiten. Und dann schränken Sie noch mal ein: Bis zu einer Betriebsgröße von 200 Mitarbeitern hat nur jeder oder jede 15. Anspruch auf die Brückenteilzeit. Diese komplizierte Regelung wirft zwei große Probleme auf: Erstens. Können Sie mir als langjähriger Betriebsrätin mal erklären, wie das in der Praxis funktionieren soll? Wer wählt denn bei mehreren Bewerbern aus, wer den Anspruch auf Brückenteilzeit bekommt und wer nicht? Woher sollen die Beschäftigten denn wissen, ob sie jetzt der 15. oder 16. Bewerber sind? Wer kontrolliert eigentlich die Einhaltung des Gesetzes, wenn in mehr als der Hälfte dieser Betriebe kein Betriebsrat existiert? So verkommt Brückenteilzeit zur Lotterie. Planungssicherheit sieht wirklich anders aus. ({1}) Wären Sie doch wenigstens so konsequent gewesen und hätten den Betriebsräten mehr Mitbestimmung und den Gewerkschaften ein Verbandsklagerecht eingeräumt! Zweitens. Sie schaffen eine Regelung, die für 96 Prozent aller Betriebe und somit für die Hälfte der Beschäftigten nichts bringt. Das Schlimmste daran ist, dass überwiegend Frauen betroffen sind. Sie als Bundesregierung haben als Ziel im Gesetzentwurf formuliert, dass es ein „wichtiges arbeits-, gleichstellungs-, und familienpolitisches Anliegen“ ist, Beschäftigten ein Rückkehrecht zu ermöglichen. Und dann machen Sie ein Gesetz, das für über die Hälfte der beschäftigten Frauen und fast 70 Prozent aller erwerbstätigen Mütter nichts bringt. Manchmal denke ich mir echt: Vielleicht sollten Sie sich als Große Koalition besser keine Ziele mehr setzen. ({2}) Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich wundere, warum die SPD dieses ganze Theater mitmacht. Sie wollten doch eigentlich etwas ganz anderes. Blockiert hat das Vorhaben in Wirklichkeit doch die Union, allen voran die CSU. Sie machen Klientelpolitik für die Unternehmen, und die CSU hat ein Frauenbild, das aus dem vorigen Jahrhundert stammt. Ich hoffe sehr, dass die bayerischen Frauen Ihnen das nicht vergessen und bei der Landtagswahl einen entsprechenden Denkzettel verpassen. ({3}) Für Die Linke ist klar: Egal ob es um Erziehung von Kindern, um die Pflege von Angehörigen oder einfach um mehr freie Zeit für das Privatleben geht: Die Möglichkeit, die Arbeitszeit vorübergehend zu reduzieren, muss allen Beschäftigten offenstehen. Der Gesetzentwurf regelt dann auch noch Arbeit auf Abruf – oder regelt sie eben genau nicht: Bei Arbeit auf Abruf müssen die Menschen unbezahlt zu Hause sitzen und darauf warten, bis ihr Arbeitgeber anruft und sie zur Arbeit einteilt. Die Grenzen zwischen Familie, Arbeit und Freizeit verschwimmen, und zwar im Interesse des Arbeitgebers. ({4}) Es gibt keine Planungssicherheit, weder beim Entgelt noch bei der Arbeitszeit. Das unternehmerische Risiko wird damit auf die Beschäftigten abgewälzt. Das bisschen Korrektur, das Sie da bringen, ist letztendlich nur Makulatur. Wir sagen: Arbeit auf Abruf gehört abgeschafft. ({5}) Und wenn Arbeitgeber das für unbedingt erforderlich und notwendig erachten, dann sollen sie eben Rufbereitschaft oder Bereitschaftsdienst einführen und die Flexibilität wenigstens entsprechend vergüten. ({6}) Fazit: Mit diesem Gesetz wird die große Chance vertan, insbesondere Frauen aus der Teilzeitfalle zu holen und Teilzeitbeschäftigten eine berufliche Entwicklung und finanzielle Sicherheit zu bieten. Und – Herr Minister, ich muss Ihnen leider widersprechen –: Das Gesetz hilft eben vielen Menschen nicht, die Arbeitszeiten zu bekommen, die zu ihrem Leben passen. Genau das bräuchten wir. Wir bräuchten eine Umverteilung von Arbeit und mehr Zeitsouveränität. Deswegen fordert Die Linke ein Rückkehrrecht für alle und das Verbot von Arbeit auf Abruf als ersten Schritt und als weiteren Schritt sichere Arbeitsverhältnisse für alle mit einer kürzeren Vollzeit bei vollem Lohnausgleich, kurz gesagt: ein neues Normalarbeitsverhältnis. Vielen Dank! ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächste Rednerin spricht zu uns jetzt die Kollegin Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Endlich ist sie da, die Reform des Teilzeitrechts. Und ich würde Ihnen, Herr Minister, eigentlich sehr gerne gratulieren; denn uns Grünen ist dieses Thema ein besonderes Anliegen. Aber was lange währt, wird nicht automatisch gut. Das zeigt sich auch bei dieser Reform. Was heute hier vorliegt, ist nicht mehr als ein erster Schritt. Die Gratulation fällt also aus. ({0}) Es ist ein Gesetz, das viel verspricht, aber wenig hält. Das ist uns Grünen einfach zu wenig. ({1}) Aber worum geht es eigentlich bei diesem Thema? Es geht in erster Linie um Frauen. Die einen wollen weniger arbeiten, die anderen mehr. Es geht um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Es geht um Zeitsouveränität, eigenständige Existenzsicherung und um die Absicherung im Alter. Das sind alles zentrale Themen, die bei einer Reform im Mittelpunkt stehen müssen. ({2}) Mehr als 75 Prozent aller Frauen waren 2017 erwerbstätig. Fast die Hälfte von ihnen arbeitet in Teilzeit. Zwei Drittel aller Teilzeitbeschäftigten sind also Frauen. Wenn sich die Lebenslage verändert, wenn die Kinder beispielsweise größer geworden sind, dann wollen viele Frauen wieder länger arbeiten. Das wollen sie übrigens, weil sie wie Männer, gleichberechtigt, am Arbeitsleben teilhaben wollen. Dann schnappt aber häufig die Teilzeitfalle zu – nach dem Motto: Einmal Teilzeit, immer Teilzeit. Das hat für die Frauen gravierende Folgen: weniger Weiterbildung, geringere Aufstiegschancen und ein kleineres Einkommen. Das führt häufig direkt in die Altersarmut. Damit muss endlich Schluss sein. ({3}) Damit komme ich konkret zum Gesetz: Wenn es um die Verlängerung der Arbeitszeit geht, werden die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber mit dem neuen Gesetz dazu verpflichtet, mit den Frauen darüber zu reden. Sie müssen auch Gründe darlegen, wenn sie Arbeitswünsche ablehnen. An dieser Stelle hätten Sie, Herr Minister, mutiger sein müssen; denn unter dem Motto „Schön, dass wir mal darüber geredet haben“ wird sich für die Frauen, die heute schon in Teilzeit sind und länger arbeiten wollen, rein gar nichts verändern. Das kritisieren wir scharf; denn an dieser Stelle ist das Gesetz harmlos und schwach. ({4}) Neben dem Aspekt, dass Frauen länger arbeiten wollen, geht es aber natürlich auch um die Beschäftigten, die sich beweglichere Arbeitszeiten wünschen. Damit meine ich Männer und Frauen. Die Lebensentwürfe der Menschen sind unterschiedlich; auch die verschiedenen Lebenslagen sind unterschiedlich: Pflege, Kinder, Ehrenamt, Weiterbildung. Es geht darum, dass die Beschäftigten kürzer und dann wieder länger arbeiten wollen. Deshalb soll es die Brückenteilzeit geben. Die Idee ist gut. Die Umsetzung ist aber schlecht; denn es gibt zu viele Hürden. Das macht die Brückenteilzeit viel zu eng und zu starr. ({5}) Wer in einem Unternehmen mit bis zu 45 Beschäftigten arbeitet, der hat überhaupt kein Recht auf Brückenteilzeit. ({6}) Das ist die erste Hürde. Dabei ist die Zahl 45 völlig aus der Luft gegriffen und willkürlich gewählt. In Unternehmen mit 46 und bis zu 200 Beschäftigten gibt es dann die sogenannte Zumutbarkeitsgrenze. Als zumutbar gilt nur eine Brückenteilzeit pro 15 Beschäftigten. Das ist die zweite Hürde. Dann können die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber die Brückenzeit natürlich auch noch ablehnen, und zwar ganz einfach aus betrieblichen Gründen. Und das ist die dritte Hürde. Erfolgversprechende Rahmenbedingungen sehen wahrlich anders aus. Wenn Sie es mit der Brückenteilzeit tatsächlich ernst meinen, dann müssen Sie auf doppelte und dreifache Hürden verzichten. ({7}) Und dann ist die Brückenteilzeit auch noch zu starr und unflexibel. Sie kann von einem Jahr bis zu fünf Jahre dauern; weniger geht nicht, mehr auch nicht. Und wenn die Brückenteilzeit einmal vereinbart wurde, sind Veränderungen vom Gesetz her nicht vorgesehen. Im Voraus ist aber das Leben nicht wirklich planbar. Lebenssituationen können sich verändern. Dem wird die Brückenteilzeit in keiner Weise gerecht. Auch das kritisieren wir; denn die Beschäftigten brauchen echte Zeitsouveränität, damit Arbeit besser ins Leben passt. ({8}) Sehr geehrte Regierungsfraktionen, geht es um das Thema Teilzeit, dann brauchen insbesondere die Frauen eine wirkungsvolle Reform. Sie müssen gestärkt werden. Stattdessen werden mit diesem Gesetz die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber mit Samthandschuhen angefasst und in Watte gepackt. Die Brückenteilzeit für die Beschäftigten ist viel zu eng und starr, und in der Konsequenz werden viel zu wenige davon profitieren. Für die Frauen, die schon heute in Teilzeit arbeiten und gerne ihre Arbeitszeit verlängern wollen, wird das Gesetz überhaupt nichts verändern. Das ist zu wenig, das ist zu schwach. Es ist ein Gesetz, das viel verspricht, aber nur wenig hält. Das zeigt: Sie haben leider wieder einmal eine Chance verpasst. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächstes für die SPD-Fraktion die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wir das Gesetz zur Brückenteilzeit heute auf die parlamentarische Schiene setzen. Wenn alles rundläuft, wird das Gesetz dann schon ab 1. Januar 2019 Wirklichkeit. ({0}) Dieses Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Meilenstein. Es wird vielen Frauen und natürlich auch Männern helfen, endlich aus der Teilzeitfalle herauszukommen. ({1}) Meine Damen und Herren, ich habe ganz persönlich erlebt, wie es ist und wie es sich anfühlt, wenn man keine gesetzlich gesicherten Ansprüche im Arbeitsleben hat. Als meine Tochter überraschend 1992 geboren wurde, ({2}) musste ich meinen Arbeitgeber geradezu beknien, weniger Stunden arbeiten zu dürfen. Ein Recht auf Teilzeit gab es nicht. Das wurde den Beschäftigten erst 2001 unter Rot-Grün zugestanden. ({3}) Genauso ein Kraftakt war es dann, zwei Jahre später, wieder meinen ursprünglichen Vollzeitjob zu bekommen. Ich hatte Glück. Viele, vor allem auch alleinerziehende Frauen, haben dieses Glück nicht und bleiben in der Teilzeit hängen. Das ändern wir jetzt. Das ist gut, und das ist ein ganz großer Schritt. ({4}) Mit dem Gesetz verbessern wir das Leben vieler Beschäftigter, vor allem vieler Frauen. Sie trifft es, wenn durch eine festzementierte Teilzeit ein Aufstieg in Führungspositionen nur sehr schwer oder gar nicht möglich ist. Die verbaute Rückkehr in eine vormalige Vollzeitstelle ist mit ein Grund für den geringeren Lohn, den Frauen im Vergleich zu Männern in unserem Land bekommen. ({5}) Der niedrigere Verdienst durch eine dauerhaft erzwungene Teilzeitarbeit hat meistens katastrophale Auswirkungen auf die Höhe der Rentenanwartschaften und damit natürlich auch auf die spätere Rente. Das, meine Damen und Herren, ist zutiefst ungerecht. Wir sagen: Damit muss Schluss sein. Die Brückenteilzeit ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. Sie wird das Leben vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer deutlich verbessern. ({6}) Ja, es ist richtig: Nicht alle Beschäftigten, nicht alle Frauen werden sofort von der Brückenteilzeit profitieren; das stimmt. Kleine Unternehmen sind vorerst ausgenommen, für Betriebe ab 45 bis 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gibt es Einschränkungen. In Unternehmen mit über 200 Beschäftigten haben dann alle das Recht, für ein bis fünf Jahre ihre Arbeitszeit zu verkürzen. Klar wäre es toll, das Rückkehrrecht sofort allen Beschäftigten zu ermöglichen, wie es die Linken fordern. Aber bedenken Sie: 50 Prozent der Frauen werden dieses Recht erhalten. Das ist viel angesichts der derzeitigen Mehrheiten hier in diesem Haus. ({7}) Uns ist es im Gegensatz zu Ihnen auch nicht egal, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, wie das Gesetz wirken wird. Wir wollen Erfahrungen mit dem Gesetz sammeln. Eines ist doch klar: Nicht jeder kleine Handwerksbetrieb, jedes Friseurgeschäft oder jedes Start-up kann Wünsche der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so berücksichtigen, wie es große Unternehmen können. ({8}) Hier sollten wir auf die im Gesetz verankerte Überprüfung der Wirksamkeit des Gesetzes vertrauen und die Ergebnisse abwarten. ({9}) Ich bin mir sicher: Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels werden sich auch kleinere Betriebe Wettbewerbsvorteile verschaffen, je mehr sie den Wünschen der Beschäftigten entgegenkommen. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sorgen nicht nur für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die zukünftig für einen bestimmten Zeitraum in Teilzeit arbeiten möchten. Nein, wir verbessern mit diesem Gesetzentwurf auch die Situation für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bereits heute wieder mehr arbeiten möchten, und zwar für alle ohne Einschränkung. ({11}) Zukünftig muss der Arbeitgeber nämlich beweisen, dass eine Aufstockung der Arbeitszeit im Betrieb nicht möglich ist. Die Hürde für den Arbeitgeber, den Wunsch nach mehr Stunden abzulehnen, wird also deutlich erhöht. ({12}) Und wir greifen mit unserem Gesetzentwurf zusätzlich ein Thema auf, das mir seit langem unter den Nägeln brennt: die Arbeit auf Abruf. Auch hier werden wir mit dem Gesetz deutliche Verbesserungen für die Beschäftigten erzielen. Meine Damen und Herren, Sie sehen: Es ist ein tolles Gesetz. Da beißt die Maus keinen Faden ab. ({13})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich danke allen ganz herzlich, die hieran mitgewirkt haben. Es war wahrlich keine leichte Geburt. Bei meiner Tochter traf das zum Glück nicht zu. ({0}) Umso schöner ist es, dass wir die Brückenteilzeit heute auf den Weg bringen. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Hiller-Ohm. – Ich gehe davon aus, dass die Geburt Ihres Kindes doch nicht so überraschend gekommen ist, wie Sie es hier dargestellt haben. ({0}) – Ich habe damit keine eigenen Erfahrungen, entschuldigen Sie das bitte. Aber normalerweise hat man mehrere Monate Zeit, sich mental darauf vorzubereiten. Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion. ({1})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bundesregierung und Die Linke haben einen Gesetzentwurf bzw. einen Antrag vorgelegt. Sie werden die Arbeitgeber deutlich stärker belasten. Sie werden den Arbeitnehmern praktisch überhaupt keinen Vorteil verschaffen und die Situation in Deutschland verschlechtern. Die Regierung Merkel schafft das. ({0}) Herr Minister Heil, Sie haben in Ihrer Eingangsrede davon gesprochen, dass Sie die Möglichkeit schaffen wollen, dass Menschen, die in Teilzeit arbeiten, wieder in Vollzeit arbeiten können. ({1}) Falls Sie vor lauter Kampf gegen rechts und Kampf gegen die Arbeitgeber Ihre Prinzipien vergessen haben, möchte ich Sie an ein Zauberwort erinnern. ({2}) Das Zauberwort in Deutschland heißt: Vertragsfreiheit. Das funktioniert so: Es gibt einen Arbeitgeber, und es gibt einen Arbeitnehmer, und die machen einen Vertrag, der ihren Interessen entspricht; denn sonst gäbe es die beiden Unterschriften darunter nicht. Und wenn sich die Interessen abändern, dann können Arbeitgeber und Arbeitnehmer einen Änderungsvertrag machen, der diese Interessen reflektiert. ({3}) So kann man problemlos von Teilzeit in Vollzeit wechseln, schon heute. ({4}) Wenn das aber nicht funktioniert, dann ist das ein Hinweis darauf, dass ein Interesse verletzt wird. Dann müssen wir uns als Politiker hinstellen und alle Interessen gleichermaßen würdigen und ordentlich über die Dinge nachdenken. ({5}) Sie aber kommen mit dem Holzhammer. ({6}) Ihr Gesetzentwurf bedeutet im Wesentlichen: Der Arbeitnehmer kann einfach sagen – Sie können gerne zuhören –: ({7}) Ich möchte jetzt von Teilzeit auf Vollzeit gehen. ({8}) Der Arbeitgeber hat im Wesentlichen sämtliche Nachweispflichten. ({9}) Er muss beweisen: Es gibt keinen entsprechenden freien Arbeitsplatz, die Qualifikation ist zu niedrig usw. usf. Das bedeutet: Der Arbeitgeber hat sehr viele Pflichten, und der Arbeitnehmer – na ja, der hat einfach Bock. Ausgewogen ist das nicht, meine Damen und Herren. ({10}) Und das Schlimmste ist: Sie wagen nicht einmal eine wirkliche Reform. Es gibt bereits Ansprüche auf befristete Teilzeit, zum Beispiel im Pflegezeitgesetz, im Familienpflegezeitgesetz, im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz, im Bundesbeamtengesetz. Sogar für Schwerbehinderte gibt es entsprechende Regelungen im SGB IX, die Teilzeit vorschreiben oder ermöglichen. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sie stellen dieses neue Monsterkonstrukt neben die bestehende Gesetzeslage und schaffen damit noch mehr Bürokratie, statt sie abzubauen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus den Reihen der CDU?

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Selbstverständlich.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Einen kleinen Moment. – Darf ich darauf hinweisen, dass es keinen Sinn macht, so viel zwischenzurufen. Ich habe keinen einzigen Zwischenruf verstanden. Das geht den Protokollanten wahrscheinlich genauso, und damit verpufft die Wirkung. ({0}) Herr Kollege, Sie haben das Recht zur Zwischenfrage.

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Kleinwächter, ich habe Ihren Kollegen Pohl vorhin so verstanden, dass er uns hier dafür kritisiert hat, dass wir den Rechtsanspruch viel zu eng gefasst haben und er eigentlich ausgeweitet werden müsste auf alle Frauen in diesem Land. ({0}) Sie stellen sich jetzt hierhin und sagen: Es ist viel zu weitgehend. – Was um alles in der Welt wollen Sie als AfD: ausweiten oder abschaffen? ({1})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Kollege Whittaker, ich danke Ihnen für Ihre Disziplin, dass Sie anders als die Kollegen bei den Linken zum Beispiel tatsächlich Ihr Recht genutzt haben, hier eine Zwischenfrage zu stellen, und dass Sie nicht reinrufen. Das ist schon einmal sehr löblich. Ich möchte es Ihnen erklären. ({0}) Mein Kollege Pohl hat sehr viel davon gesprochen, dass wir aktuell nicht genug für die Frauen und Mütter in diesem Land tun. Es ist keine Gruppe, die nicht definiert wäre, sondern es ist eine sehr klar definierte Gruppe. Wenn Sie mir gerade zugehört haben: Ich habe gesagt, dass wir im Wesentlichen in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung eine Situation vorfinden, die letztendlich dem Arbeitnehmer ohne jeglichen Grund diese vielen Rechte einräumt, einen Rechtsanspruch erlaubt, auch wenn die Vertragsfreiheit dies tatsächlich schon erlauben würde, dass aber keine sachlichen Gründe vorliegen müssen. ({1}) Ich war gerade dabei, auszuführen, dass wir eine echte Reform brauchen, die diese ganzen unterschiedlichen Gründe, die eine Teilzeit rechtfertigen, einmal zusammenfassen müsste – gerne auch im Teilzeit- und Befristungsgesetz – und die insofern damit ermöglichen würde, in Deutschland klarzustellen: Das wollen wir. Das ist die Situation, ({2}) so sind die Regeln bei uns, und so kann man es machen. Das wäre unser Wunsch, und diese Gelegenheit haben Sie deutlich verpasst, sehr geehrter Herr Whittaker. ({3}) Ich finde in diesem Zusammenhang besonders lustig, was die Linken beantragt haben. Sie wollen sozusagen ein völlig bedingungsloses Rückkehrrecht. Ich habe spontan, als ich Ihren Antrag gelesen habe, an die Firma meines Onkels gedacht. Mein Onkel hat einen Heizungs- und Sanitärbetrieb. Er hat zwei Vollzeitmonteure, einen Teilzeitmonteur, der von der Vollzeit gekommen ist, und eine Teilzeitsekretärin. Wenn der Teilzeitmonteur jetzt einen Rechtsanspruch hätte, auf Vollzeit zurückzukehren, dann wäre mein Onkel pleite. Er könnte es nicht bezahlen. ({4}) Sie müssen erst einmal Aufträge generieren; Sie müssen erst einmal Geld erwirtschaften. Arbeitsplätze wachsen nicht auf Bäumen, aber offensichtlich lernt man das nicht in der sozialistischen Schule, die die Linke und die SPD besucht haben. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hendricks?

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, gerne nehme ich die Zwischenfrage an.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie sprechen von einem Sanitärbetrieb, der klein ist und daher sowieso nicht unter die Regelung fällt. Aber Sie behaupten, er wäre pleite, wenn er eine Halbtagsstelle auf eine Ganztagsstelle aufstocken müsste. Ist Ihnen klar, dass wir im Bauhaupt- und ‑nebengewerbe in der Bundesrepublik Deutschland einen unglaublichen Auftragsstau haben, der gar nicht abgearbeitet werden kann, und wir um jeden Sanitärinstallateur froh wären, der zusätzlich arbeitet? ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Kollegin, auch Ihnen danke ich für Ihre Disziplin. Ich habe mich gerade auf den Linkenantrag bezogen. Der Linkenantrag, wie Sie wissen, unterscheidet sich von Ihrem Gesetzentwurf dadurch, dass die Linken ein bedingungsloses Rückkehrrecht fordern. Sie haben eine Regelung, die sich auf die Unternehmensgröße bezieht, eingebaut – man muss sagen: glücklicherweise –, um die absolute Katastrophe zu verhindern. Das ist in dem Linkenantrag nicht vorhanden. Inwiefern sich die Auftragslage im Baugewerbe von denen in anderen Gewerben unterscheidet ({0}) und inwiefern jemand froh sein müsste, dass jemand da voll arbeitet, dazu sage ich: Das ist keine arbeitsrechtliche Diskussion, werte Kollegin. ({1}) Deswegen bitte ich, heute zur Sache zurückzukehren. Das tue ich nunmehr. ({2}) Ich möchte bei dieser Gelegenheit überleiten zum Thema Arbeit auf Abruf. Da hat die Linke mal was einigermaßen Richtiges angesprochen. Es ist in der Tat eine Unverschämtheit, was wir in Deutschland zulassen. Es gibt Arbeitnehmer, die arbeiten auf Abruf. Sie können jederzeit abgerufen werden, aber das gibt ihnen letztendlich nicht die Möglichkeit, eine weitere Stelle zu haben. Insofern ist es richtig, zu fordern, dass wir bei der Arbeit auf Abruf etwas ändern und sie einschränken. Ganz abschaffen können wir sie nicht. Es gibt gewisse Branchen – mein Kollege Pohl hatte es ausgeführt –, die im Wesentlichen darauf angewiesen sind. Aber wir sollten das wirklich auf Branchentarifverträge reduzieren. Wir sollten im Wesentlichen dazu beitragen, dass Arbeit auf Abruf nicht mehr allgemein möglich ist. Deswegen appelliere ich an alle Beteiligten hier in diesem Haus: Machen Sie einen wirklichen Reformentwurf, ({3}) der das ganze Thema „Teilzeit, Befristung, Prekarität“ adressiert. Schaffen Sie aber kein Bürokratiemonster, das noch einmal gegen bestehende Regelungen gesetzt wird, das die Verwirrung verstärkt, ({4}) die Arbeitgeber belastet.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sie tun letztendlich nichts anderes, als ihre eigene hier bewiesene Diskursunfähigkeit auf das Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu übertragen. Ich danke Ihnen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Antje Lezius. ({0})

Antje Lezius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004341, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Kleinwächter, eines mal zu Ihrer Rede:

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, es wäre nett, wenn Sie das Präsidium freundlicherweise begrüßen würden.

Antje Lezius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004341, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Entschuldigung, ich war hier so aufgebracht. Herr Kleinwächter, wir in der GroKo haben die Rechte der Frauen und der Mütter in der letzten Legislaturperiode gestärkt, und wir werden das in dieser Legislaturperiode auch fortsetzen. Das können wir Ihnen versichern. ({1}) Nun zur Sachlage zurück. Knapp 45 Millionen Menschen in Deutschland sind erwerbstätig. Rund 15 Millionen arbeiten in Teilzeit, 7 Millionen mehr als noch vor 20 Jahren. Flexible Arbeitszeitmodelle haben Konjunktur. Teilzeitarbeit wird oft schlechtgeredet. Das ist falsch. Teilzeit umfasst keineswegs nur einfache Arbeiten. Tatsächlich entscheiden sich die meisten bewusst für dieses Arbeitsmodell. 87 Prozent der Frauen und 76 Prozent der Männer, die es tun, gehen freiwillig einer Teilzeitbeschäftigung nach. Insbesondere Frauen bevorzugen flexible Teilzeitarbeit, um Familie und Beruf besser vereinbaren zu können. Das habe ich in der Praxis als ehemalige Unternehmerin selbst erlebt. Es gibt eben Lebensphasen, in denen die Arbeit nicht die oberste Priorität hat. Wichtig ist jedoch, dass Frauen auch wieder in Vollzeit zurückkehren können, ({2}) dass Teilzeit keinen Einbruch in der Berufsbiografie bedeutet und dass Teilzeit nicht zu Altersarmut führt. ({3}) Tatsächlich hat bereits heute jeder Arbeitnehmer Anspruch auf eine Teilzeitstelle. Voraussetzungen sind, dass er in einem Betrieb mit mehr als 15 Mitarbeitern ({4}) – oder sie – arbeitet und das Arbeitsverhältnis länger als sechs Monate besteht. Das regelt heute schon das Teilzeit- und Befristungsgesetz. ({5}) Was bisher nicht gesetzlich garantiert ist, von Teilzeit zurück in den Vollzeitjob zu wechseln, ({6}) das wird unser Gesetzentwurf für Millionen Bürgerinnen und Bürger ändern; denn die Arbeitnehmer wünschen sich flexiblere Arbeitszeiten. 2,6 Millionen Menschen in Deutschland wollen gerne mehr arbeiten. 1,8 Millionen Erwerbstätige wollen weniger arbeiten, aber nur, wenn ihnen im Nachhinein wieder eine Vollzeitstelle sicher ist. Das, sehr geehrte Damen und Herren, garantiert unser Gesetzentwurf zur Einführung einer Brückenteilzeit. ({7}) Was sind die beiden wichtigsten Punkte der neuen Brückenteilzeit? Erstens: ein Anspruch auf zeitlich begrenzte Teilzeitarbeit mit Rückkehrrecht in Vollzeit. Er gilt für Unternehmen mit mehr als 45 Mitarbeitern, wobei die Teilzeit mindestens ein Jahr und höchstens fünf Jahre betragen muss. Zweitens: eine Darlegungspflicht gegenüber Teilzeitarbeitenden, die gerne mehr arbeiten wollen. Künftig muss der Arbeitgeber darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass Mehrarbeit nicht möglich ist, zum Beispiel weil es keinen entsprechenden Arbeitsplatz gibt oder weil der Teilzeitbeschäftigte für den Arbeitsplatz nicht qualifiziert ist. Von links wird gerufen, wie ungerecht dieses Gesetz sei. Zu viele Beschäftigte würden nicht profitieren. ({8}) Ich sage: 62 Prozent, mehr als 23 Millionen Beschäftigte, profitieren davon. ({9}) Warum gibt es Einschränkungen? Weil es die Aufgabe der Politik ist, dass das Gesamtgefüge in unserem Land funktioniert. Was bringt es, wenn wir einem Kleinstbetrieb, zum Beispiel im Handwerk, Regeln vorschreiben, die er kaum einhalten kann? Wem ist damit geholfen? Oder: Wie soll ein kleines Unternehmen, das ein oder zwei Spezialisten in seiner Belegschaft hat, die Produktion aufrechterhalten, wenn diesem für Jahre die Fachkräfte fehlen? Nein, wir können die gesetzlichen Regelungen nicht noch weitertreiben. Damit setzen wir letztlich den Organisations- und Planungsaufwand für kleinste und kleinere Unternehmen so hoch, dass er nicht mehr bewerkstelligt werden kann. ({10}) Nein, auch die Arbeitgeber haben durchaus berechtigte Interessen. Die Aufgabe von uns hier im Bundestag ist es doch, alle Aspekte von Arbeit im Auge zu haben, in unserer vielschichtigen Gesellschaft für Ausgleich zu sorgen. Wir setzen den Rahmen für gute Arbeit, aber auch für Wachstum und Wohlstand. Schon heute haben wir ein Rückkehrrecht nach der Pflegezeit, ein Rückkehrrecht nach der Elternzeit, ein Rückkehrrecht nach der Familienpflegezeit. Das alles sind Verbesserungen, die wir in den letzten Jahren erreicht haben. Ab dem 1. Januar 2019 soll das Rückkehrrecht nach Teilzeit hinzukommen. Es wird ein Gesetz, das die Wünsche der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen berücksichtigt, ohne den Arbeitgebern das Wirtschaften unmöglich zu machen, eben verantwortungsvoll im Sinne der Bürgerinnen und Bürger. Danke schön. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. ({0}) Meine Nachsicht ist grenzenlos, Frau Kollegin. – Als Nächstes für die FDP der Kollege Carl-Julius ­Cronenberg. ({1})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das deutsche Recht kennt bereits heute Ansprüche auf Teilzeit nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz, dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz, dem Pflegezeitgesetz, dem Familienpflegezeitgesetz und dem SGB IX. Herr Minister Heil, was macht Sie eigentlich so sicher, dass Arbeits- und Sozialpolitik gerechter wird, wenn Sie sie immer komplizierter machen? ({0}) Das Gegenteil ist doch der Fall. Erst wenn Sozialpolitik so einfach ist, dass sie von allen verstanden wird, werden die Menschen sie auch wieder als gerecht wahrnehmen können. ({1}) Erst dann wird es etwas mit dem Zusammenhalt, den wir alle brauchen. ({2}) Das Problem, das Sie in den Blick nehmen, ist in Wahrheit so alt wie die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und genau in diesem Bereich muss es auch gelöst werden. Kollege Mansmann hat darauf hingewiesen: Fast 90 Prozent der Teilzeitbeschäftigten sind mit ihrer Arbeitszeit zufrieden. ({3}) Die Bürgerinnen und Bürger sind in der Lage, sich gut zu organisieren. Nicht jede Teilzeit ist eine Falle, Herr Minister. Gelöst werden die Probleme im Betrieb oder unter den Tarifpartnern. Vielleicht gibt es auch regionale Unterschiede, Frau Hiller-Ohm. Bei uns im Sauerland haben wir immer eine Lösung für junge Mütter gefunden. ({4}) Die Sozialpartner wissen eben besser als Sie, Herr Minister, was in ihrer jeweiligen Branche vertretbar ist. Nein, das wahre Problem dieser Tage ist doch längst der Fachkräftemangel. Überall, wo Sie hinschauen, fehlen Arbeitskräfte, in Industrie, Handel und Handwerk, aber eben auch in Schulen, in Krankenhäusern oder, allen Branchen voran, in der Pflege. Herr Heil, was haben Sie Herrn Spahn eigentlich geboten, dass er diesem Gesetzentwurf zustimmt? Oder war er gerade im Urlaub? Spätestens beim Thema „Zumutbarkeit für die kleinen und mittleren Unternehmen“ fehlt es dem Entwurf jedoch an Ausgewogenheit. Till Mansmann hat es gesagt: § 9a Absatz 2 ist, mit Verlaub, Unsinn. Nicht die Unternehmensgröße ist das entscheidende Maß für Zumutbarkeit, sondern die Größe der betroffenen Abteilung. Und, Herr Heil, es gibt natürlich keine Pflicht zur Rückkehr in Vollzeit. ({5}) Deshalb kann es auch keine Planungssicherheit für die Unternehmen geben, wie Sie das behaupten. Drei Instrumente haben die Unternehmen, um darauf zu reagieren: Überstunden, neue befristete Teilzeitstellen oder aber Arbeitnehmerüberlassung. Ein FDP-Gesetzentwurf zur Arbeitszeit hätte helfen können; den haben Sie aber abgelehnt. ({6}) Die Zahl der Befristungen wollen Sie einschränken, die Zeitarbeit auch. Also entweder Sie geben Ihre arbeitspolitische Agenda auf – dann machen Sie sich unglaubwürdig –, oder Sie überfordern Unternehmen und Beschäftigte. Eine neue Dynamik für Deutschland entsteht so jedenfalls nicht. ({7}) Dann gibt es noch diejenigen, die aus familiären Gründen mehr Zeit brauchen, um in Vollzeit zurückzukehren. Es ist aber zu befürchten, dass genau diese Menschen bei zukünftigen Neueinstellungen am ehesten benachteiligt werden. Das wollen Sie doch ganz sicher nicht riskieren.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Cronenberg, kommen Sie bitte zum Schluss.

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ihr Gesetzentwurf wiegt die Betroffenen in falscher Sicherheit, verschärft den Fachkräftemangel und sorgt für neue Rechtsunsicherheiten. Herr Minister, Sie haben eine Brücke geplant, aber eine Krücke geliefert. Lassen Sie dieses Gesetz weg! ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank. – Als Nächstes die Kollegin Yvonne Magwas, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004346, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetz, das hier im Entwurf vorliegt, führen wir ein Rückkehrrecht in Vollzeit nach befristeter Teilzeit ein. Meine Vorredner haben die konkreten Inhalte schon dargelegt. Ich möchte dies aus Sicht der Gruppe der Frauen in der Union ergänzen. Ja, für uns ist klar: Wir begrüßen die Einführung der Brückenteilzeit. Sie ist ein echter Fortschritt für uns Frauen; denn – wir haben es heute öfter gehört – Teilzeitarbeit ist überwiegend leider noch Frauensache. Die Zahlen wurden mehrfach genannt: Laut dem Mikrozensus 2016 haben 47,8 Prozent aller abhängig erwerbstätigen Frauen eine Teilzeitbeschäftigung. Ihnen wird es zukünftig erheblich erleichtert, nach einer Phase der Kindererziehung oder auch nach der Phase der Pflege von Angehörigen, in der sie ihre Arbeitszeit verkürzen, wieder zu ihrer vorherigen Arbeitszeit zurückzukehren. Ich bin sicher, dass die Frauen diese Möglichkeit auch nutzen werden. Die Rückkehr in Vollzeit ist das Ende der Teilzeitfalle. Meine Damen und Herren, zahlreiche Studien zeigen uns, dass mehr als jede zweite erwerbstätige Mutter selbst dann noch ihre Arbeitszeit reduziert, wenn ihr jüngstes Kind ein Teenager ist. Das tun Frauen oft nicht freiwillig, sondern weil ihnen beispielsweise die Rückkehr in Vollzeit verwehrt wird oder auch die Betreuung fehlt. Diese Verkürzung der Arbeitszeit wirkt sich nicht nur negativ auf das Monatsgehalt aus. Nein, sie wirkt sich auch zukünftig nachteilig aus; denn die heute verkürzte Arbeitszeit bedingt später automatisch eine geringere Rente. Die heutige Lücke im Entgelt bleibt dann bis zur Rente bestehen. Das heißt, wenn wir es den Frauen heute erleichtern, schneller aus einer Teilzeittätigkeit in eine Vollzeittätigkeit zurückzukehren, werden diese Frauen auch zukünftig davon profitieren. Die Einführung der Brückenteilzeit ist somit zugleich auch ein weiterer wichtiger Schritt hin zu einer eigenständigen Alterssicherung von Frauen. ({0}) Ich möchte noch den Faktor Zeit anführen. Mit der Einführung der Brückenteilzeit ermöglichen wir auch mehr Zeitsouveränität. Erleichterte Übergänge zwischen Vollzeit und Teilzeit können dazu beitragen, dass die Arbeits- und Familienzeit zwischen Frauen und Männern gleichmäßiger verteilt ist. Also trägt die Brückenteilzeit auch dazu bei, die Gleichstellung von Frauen und Männern zu verbessern. Meine Damen und Herren, ich weiß, dass die Wirtschaft diesen Gesetzentwurf kritisch beäugt. Aus diesem Grund haben wir ihn entsprechend ausgestaltet; Kollegin Lezius ist darauf eingegangen: Kleine Betriebe auszunehmen, macht absolut Sinn. Ich möchte die aus wirtschaftlicher Sicht positiven Aspekte der Brückenteilzeit anführen. Es ist keine Neuigkeit – wir haben es heute öfter gehört –, dass die deutsche Wirtschaft dringend Fachkräfte benötigt. Wir wissen auch, dass sich Arbeitnehmer in Deutschland flexiblere Arbeitszeiten wünschen, oft auch in größerem Umfang. Die Brückenteilzeit wird es den Unternehmen zukünftig erleichtern, das vorhandene Potenzial ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besser zu nutzen. Auch ist sie ein wichtiger Baustein, um gut ausgebildete und hochqualifizierte Mitarbeiterinnen zu gewinnen und langfristig an das Unternehmen zu binden. Die Einführung der Brückenteilzeit kann also auch als eine klassische Win-win-Situation bewertet werden.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie freundlicherweise zum Schluss?

Yvonne Magwas (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004346, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jawohl, Herr Präsident. – Auf dem G‑20-Gipfel 2014 in Australien haben die Staats- und Regierungschefs ein weltweites Wirtschaftswachstumsziel von jährlich 2 Prozent vereinbart. Sie kamen auch zu der Einsicht, dass dies allein durch eine stärkere Beteiligung von Frauen am Wirtschaftsleben erreicht werden kann. Nutzen wir dieses Potenzial, und lassen Sie uns dieses Gesetzesvorhaben zu einem guten Ende bringen! Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster und letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Stephan Stracke von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Grüß Gott. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Teilzeitrechts bedeutet für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ganz konkrete Verbesserungen im Arbeitsleben. Wir begrüßen diesen Entwurf ausdrücklich. ({0}) Wir stehen für eine Arbeitswelt, die Flexibilität und Aufstiegs- und Qualifizierungschancen bietet. Gerade Familien stehen vor besonderen Anforderungen, wenn es um die Organisation der Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht, im Hinblick auf die Kindererziehung, aber auch im Hinblick auf die Pflege von Angehörigen. Familie zuerst, das ist der Anspruch der Union. Dazu zählt, dass der Wechsel von Teilzeit in Vollzeit und umgekehrt für Frauen und Männer einfacher möglich sein muss. ({1}) Der vorliegende Entwurf ist ein großer Fortschritt im Vergleich zur letzten Legislaturperiode, als Frau Nahles als Bundesarbeitsministerin in der Sache mit dem Kopf durch die Wand wollte und mit ihrer Vorlage krachend gescheitert ist. ({2}) Nun hat die arbeitsmarktpolitische Vernunft gesiegt, weil wir zum einen Rücksicht auf die betrieblichen Möglichkeiten gerade kleinerer Betriebe nehmen und zum anderen das Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an Flexibilität und Sicherheit nicht aus dem Blick verlieren. Wir sorgen für Sicherheit für diejenigen, die vorübergehend ihre Arbeitszeit reduzieren wollen. Wir haben bereits einen Rechtsanspruch für Elternzeit, Pflegezeit, Familienpflegezeit. Diesen Rechtsanspruch erweitern wir nun um die Brückenteilzeit. Dabei nehmen wir gerade Rücksicht auf die arbeitsorganisatorischen Möglichkeiten und Fähigkeit kleinerer mittelständischer Unternehmen. Ein einfaches Umverteilen von Arbeit, so wie häufig behauptet wird, ist dort nämlich nicht möglich. Deswegen müssen wir besonders Rücksicht nehmen. Genau diesen Aspekten tragen wir in dem Maße Rechnung. ({3}) Ein zweiter Aspekt: Wir erleichtern den Teilzeitbeschäftigten, die mehr arbeiten möchten, die Rückkehr aus Teilzeit. Wir unterstützen diejenigen, die einen Aufstockungswunsch haben. Aber nicht jeder, der Teilzeit arbeitet, befindet sich in einer Sackgasse. Wer von „Teilzeitfalle“ spricht, erweckt häufig den Eindruck, dass ein Großteil der Teilzeitbeschäftigten in Deutschland dies eigentlich ungewollt sei und lieber Vollzeit arbeiten wolle, aber nicht könne. ({4}) Die Gründe für Teilzeit, Frau Kollegin, sind natürlich vielfältig. Bei Frauen spielt vor allem die Betreuung von Kindern oder Pflege eine Rolle. Bei Männern sind es eher Krankheiten und Unfallfolgen. Aber wenn bei Frauen beispielsweise die Betreuung von Kindern zunehmend in den Hintergrund rückt, befinden sie sich dann tatsächlich in der Teilzeitfalle, in der Sackgasse, aus der sie nicht mehr herauskommen? ({5}) In Bayern nennen 2,6 Prozent der Frauen das Nichtvorhandensein einer Vollzeitstelle als Grund für die Teilzeittätigkeit. Der Hauptgrund, warum sie nicht Vollzeit arbeiten, liege in ganz anderen Dingen, nämlich im persönlichen Bereich, und manche wollten auch nicht Vollzeit tätig sein. Das ist der Hauptgrund. ({6}) Ein ähnliches Bild ergibt sich mit Blick auf Gesamtdeutschland. Dennoch sagen wir: Die meisten Teilzeitbeschäftigten sind nicht in der Teilzeit gefangen, sondern sie wollen Teilzeit arbeiten. Das ist in keiner Weise kritikwürdig. ({7}) – Ganz ruhig, Frau Kollegin. Ich sage es doch gleich. Wir unterstützen diejenigen, die einen Aufstockungswunsch haben, diesen aber nicht hinreichend realisieren können. Das ist arbeitsmarktpolitisch und gesellschaftspolitisch vernünftig. Genau deswegen legen wir einen Gesetzentwurf mit dem Rechtsanspruch auf Brückenteilzeit vor, mit den Möglichkeiten der Beweislastumkehr, wenn es darum geht, von Teilzeit wieder aufzustocken. Darüber müssen wir jetzt diskutieren. ({8}) In diesem Sinne freue ich mich auf die Gespräche innerhalb der Koalition und natürlich in diesem Hohen Haus. Herzlichen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Stracke. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/3452 und 19/4525 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 und der dadurch ausgelösten internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise ist das internationale Finanzsystem von Stabilität immer noch weit entfernt. Bei allen Fortschritten der Regulierung im Einzelnen blieben die Maßnahmen insgesamt halbherzig, ihre Umsetzung wurde verwässert, oder sie sind gänzlich gescheitert. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise im Jahr 2008 hatten die führenden Industrie- und Schwellenländer in der Gruppe der G 20 beschlossen, dass kein Finanzplatz, kein Finanzprodukt und kein Finanzakteur unreguliert bleiben solle. Heute dürfen neue Finanzinstrumente weiterhin ohne vorherige Risikoprüfung in Umlauf gebracht werden. Nach Angaben der BaFin wurden in Deutschland allein im Jahr 2016  3,2 Millionen neue Finanzprodukte auf den Markt gebracht. Das kann nicht so bleiben. ({0}) Heute hat die größte Schattenbank der Welt, der Vermögensverwalter BlackRock, das verwaltete Vermögen seit der Krise auf insgesamt 6 300 Milliarden US-Dollar fast verfünffacht, und das weitgehend außerhalb jeglicher Bankenregulierung. Das ist gefährlich und muss eingeschränkt werden. ({1}) Heute ist der Bestand der außerbörslichen Derivate – also der Kern des Finanzmarktkasinos: Spekulationen auf die Entwicklung von Zinsen, Währungen, Aktienkursen oder Kreditausfällen – laut Bank für Internationalen Zahlungsausgleich so hoch wie nie zuvor. Das ist noch viel gefährlicher und muss dringend zurückgedrängt werden. ({2}) Es gibt also keinen Anlass, sich zufrieden zurückzulehnen. Noch weniger Grund gibt es für die Behauptung, die Regulierung sei zu weit gegangen. Weitere Maßnahmen sind dringend geboten. ({3}) Meine Damen und Herren, die Ursachen der globalen Finanzkrise lagen keineswegs nur im individuellen Versagen großer Teile der Führungseliten der Finanzindustrie, nicht einmal im Kern fehlender Regulierungen für die Finanzmärkte. Es waren politische Entscheidungen verschiedener, auch deutscher, Regierungen, die maßgeblich den Treibstoff der Finanzmarktkrise produziert haben. Steuersenkungen für hohe Einkommen, Unternehmensgewinne und Vermögen haben immer größere Privatvermögen der Reichen und Superreichen anwachsen lassen. Die Beiträge aus der teilprivatisierten Riester-Rente spülen täglich hohe Geldbeträge auf die Kapitalmärkte, die jeden Tag neu angelegt werden müssen. Schon in den 90er-Jahren wurde über Siemens als „Bank mit angeschlossenem Elektroladen“ gespöttelt. Die hohen liquiden Mittel großer Konzerne zeigen überdeutlich, dass hier Gewinne in einem Ausmaß erwirtschaftet werden, das gar nicht mehr sinnvoll in neue Produkte und Dienstleistungen mit gesellschaftlichem Nutzen investiert werden kann. Das Gefährdungspotenzial, das von den internationalen Finanzmärkten für unser demokratisches Gemeinwesen ausgeht, wird wesentlich auch durch die Größenordnung des dort gehandelten Vermögens bestimmt. Daher ist jeder Euro, der durch Umverteilung von oben nach unten den Finanzjongleuren entzogen wird, auch ein Beitrag zur Entwaffnung der Finanzmärkte. ({4}) Dass diese enorme Anhäufung von Finanzkapital in den Händen weniger nicht nur Probleme im Finanzsystem verursacht, darauf hat der damalige Bundesbankpräsident Tietmeyer bereits 1996 hingewiesen. Sie erinnern sich sicher an seine Formulierung: „dass sich die meisten Politiker immer noch nicht darüber im Klaren sind, wie sehr sie bereits heute unter der Kontrolle der Finanzmärkte stehen und sogar von diesen beherrscht werden“. Parlamente und Regierungen müssen das Primat der Politik wiederherstellen. ({5}) Zusammenfassend möchte ich feststellen: Zentrale Eckpfeiler zur Überwindung des Kasinokapitalismus sind vorhanden; sie müssen nur eingesetzt werden. Dazu gehören die Entschleunigung und Schrumpfung der Finanzmärkte, zum Beispiel durch eine Finanztransaktionsteuer, die nach wie vor auf der politischen Tagesordnung stehen muss, und die Rückbesinnung auf solidarische und umlagefinanzierte Sozialversicherungssysteme. Diese haben sich in der Krise als stabil und widerstandsfähig erwiesen und einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern die Krise besser meistern konnte. Die gescheiterte Riester-Rente gehört zurückgenommen. Selbstverständlich ist die Umverteilung von Einkommen und Vermögen von oben nach unten – zum Beispiel durch eine Vermögensteuer, zum Beispiel durch eine Neuregelung der Erbschaftsteuer – ein wichtiges und zentrales Mittel, um zu diesem Ziel zu kommen. Ich danke Ihnen. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächste für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Antje Tillmann. ({0})

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist gut, dass wir zehn Jahre nach Lehman einmal innehalten und uns vergewissern, wo wir stehen. Wir haben in den letzten zehn Jahren über 40 Gesetze international und national auf den Weg gebracht, um Institute und Märkte sicher zu machen und die Anleger zu schützen. Seit 2014 setzen wir schrittweise höhere Eigenkapitalanforderungen an die Banken durch. Sie müssen ab 2019 eine Quote von mindestens 10,5 Prozent aufweisen. Der aktuelle Bericht des Ausschusses für Finanzstabilität kommt zu dem Schluss, dass die Banken im Euro-Raum besser aufgestellt sind. Die harte Kernkapitalquote stieg 2017 auf über 14 Prozent. Aber auch innerhalb der Bankbilanzen müssen wir Risiken reduzieren. So ist es uns gelungen, die ausfallgefährdeten Kredite europaweit zu reduzieren. Es ist aber tatsächlich noch viel zu tun; denn die Unterschiede innerhalb der europäischen Länder sind noch sehr groß. Während in Deutschland 2,5 Prozent der Kredite ausfallgefährdet sind, sind es in Italien 15 Prozent und in Griechenland 46 Prozent. Um die Zahl dieser Kredite und damit die Risiken in den Finanzmärkten weiter zu reduzieren, müssen wir das europäische Insolvenzrecht harmonisieren. Es muss uns gelingen, auch Staatsanleihen realitätsgerecht abzubilden und mit Eigenkapital zu unterlegen. Ein gutes Stück haben wir also schon geschafft; aber wir wissen auch, wo unsere Probleme noch sind. ({0}) Mit dem Einlagensicherungssystem ist es uns gelungen, auch hier auf europäischer Ebene eine Harmonisierung herbeizuführen. Anleger können sicher sein, dass bis 2024 in allen europäischen Staaten 0,8 Prozent der gedeckten Einlagen zu ihrem Schutz zurückgelegt werden. Wir haben sichergestellt, dass pro Anleger bis zu 100 000 Euro, egal bei welcher europäischen Bank sie angelegt sind, sicher sind. Wir haben die europäische Bankenunion und damit die EZB-Aufsicht geschaffen. Alle 120 größten europäischen Banken unterliegen jetzt der EZB-Aufsicht; auch das trägt zur Sicherheit bei. 2016 ist dem ein Abwicklungsmechanismus hinzugefügt worden. Wir wollen nicht mehr, dass Steuerzahlerinnen und Steuerzahler für in Not geratene Banken haften müssen, sondern wir wollen, dass dies Eigentümer und Gläubiger machen, die nämlich vorher auch davon profitiert haben. Für diesen Abwicklungsmechanismus müssen Banken 8 Prozent ihres Haftungskapitals vorhalten. Allerdings müssen wir sicherstellen, dass diese Maßnahmen in Europa auch tatsächlich durchgesetzt werden; die Diskussion darüber ist in vollem Gange. Wir bestehen darauf, dass Regeln, die wir uns einmal gegeben haben, tatsächlich mit Leben gefüllt werden. Der Abwicklungsfonds wird die Sicherheit mit zusätzlichen 60 Milliarden Euro garantieren. 2023 soll dieses Geld vorhanden sein, sodass auch hier mehr Geld für Krisen zur Verfügung steht, das die Banken vorher selbst angespart haben. Die Abwicklungsbehörde – europäisch, im Rahmen der Bankenunion – stellt sicher, dass Banken einheitlich abgewickelt werden können. Auch hier ist uns der Schutz der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler sehr wichtig. ({1}) Solange eine Bank in Europa aber nicht systemrelevant ist, kann sie immer noch nach nationalen Regeln abgewickelt werden. Hier gibt es noch eine Lücke im europäischen Beihilferecht, die wir zu schließen gedenken. Denn auch hier wollen wir Steuerzahlerinnen und Steuerzahler vor der Haftung für insolvent gehende Banken schützen. Den ESM haben wir für Staatenrettungen installiert. Mit 500 Milliarden Euro an Krediten können wir Staaten kurzfristig helfen, um auf den Pfad der Solidität zurückzukommen. Das hat bei Irland, Spanien, Portugal und Zypern funktioniert; auch Griechenland ist auf einem besseren Weg. Aber wir wissen auch, dass bei größeren Krisen dieses Volumen nicht ausreicht. Deshalb müssen wir sicherstellen, dass dieser ESM auch eine Letztsicherung bekommt. Deutsche Position und damit Position der CDU/CSU-Fraktion ist: Wir sind solidarisch; aber Vorleistung ist, dass die Staaten ihre Hausaufgaben machen. Das gilt sowohl für die Haushalte innerhalb der Staaten – Italien und Frankreich nenne ich an dieser Stelle –, aber das gilt natürlich auch für die Banken. Wir brauchen eine Risikominimierung. Wir wollen, dass die Hausaufgaben gemacht werden, bevor es weitere Vergemeinschaftungen gibt. Das wird bei der Letztsicherung Ende des Jahres einer der Punkte sein, auf die wir besonderen Wert legen. ({2}) Diese Regulierung ist natürlich kein Selbstzweck. Ich glaube, es gibt keinen Grund, die Regulierung zurückzufahren. Aber wir müssen gucken, ob wir sie zielgenau ausgestaltet haben. Da stellen wir fest, dass wir bei kleinen Banken viel Regulierung auf ein geringes Risiko gesetzt haben. Wir haben schon lange den Grundsatz der doppelten Proportionalität gefordert. Das heißt: Kleine Banken, die ein nicht riskantes Geschäftsmodell fahren, müssen auch weniger reguliert werden. Ich danke den Vertretern des Finanzministeriums, dass sie es, auch auf unsere Anregung hin, geschafft haben, in Europa eine sogenannte Small Banking Box einzuführen. Die Sparkasse nebenan, die Volksbank oder die kleinere Privatbank, die kein riskantes Modell haben, sollen weniger Regulierung ertragen müssen. Das hilft diesen Kreditinstituten, in der Niedrigzinsphase lukrativer dazustehen. ({3}) Auf diesem Weg sind wir auch. Das ist eine Forderung im Antrag der Grünen, die wir eigentlich schon erfüllt haben. Von daher ist der Antrag an dieser Stelle einfach nicht notwendig. ({4}) Lebensversicherungen, ein weiteres Thema aufgrund der Niedrigzinssituation. Wir haben mit dem Lebensversicherungsreformgesetz genau das getan, was im Antrag der Grünen gefordert wird: Wir haben die Risiken zwischen den Versicherungen, der Versichertengemeinschaft und denjenigen, die diese Versicherung vermitteln, verteilt. Mit Ausschüttungssperren und dem Halten von Bewertungsreserven stellen wir sicher, dass alle Versicherten dauerhaft sicher sein können, dass sie das Geld, das sie aus einer Lebensversicherung erwarten, tatsächlich bekommen. Auch hier sind wir auf einem guten Weg. Allerdings sage ich: Wir müssen beobachten – wir haben dieses Thema auch regelmäßig in unserer Arbeitsgruppe –, wie sich die Situation entwickelt. Natürlich wäre der beste Weg, wenn die Zinsen steigen würden. Wir hoffen, dass die EZB diese Entscheidung kurzfristig trifft. Nicht zuletzt haben wir die Verbraucherinnen und Verbraucher bessergestellt. Wir haben nämlich im Rahmen des Verbraucherschutzes die Produktinformationsblätter vereinfacht. Wir haben die Banken verpflichtet, in Geeignetheitsprüfungen sicherzustellen, dass Verbraucher keine Produkte angedreht bekommen, die für sie und ihre Situation nicht geeignet sind. Wir wollen, dass Banken nachweisen, dass sie die Verbraucherinnen und Verbraucher nur mit Produkten bedienen, die tatsächlich in das Finanzsäckel des Kunden passen; das ist eine wesentliche Verbesserung. Für den Fall, dass es doch einmal Probleme gibt, haben wir den Finanzmarktwächter eingeführt, an den sich alle Verbraucherinnen und Verbraucher mit konkreten Problemen über die Verbraucherzentralen wenden können. Dieser Finanzmarktwächter ist konkreter Verbraucherschutz, so wie er im Antrag der Linken gefordert wird. Er ist schon in die Tat umgesetzt, sodass wir diesen Antrag im Hinblick auf dieses Thema nicht brauchen. Letztes Thema: Immobilien. Auch da haben wir die kritische Situation überprüft. Wir haben der BaFin als Aufsichtsbehörde zusätzliche Möglichkeiten an die Hand gegeben, die Zahl der Kredite zu reduzieren. Was aber am besten gegen Probleme am Immobilienmarkt hilft, ist Wohnungsneubau. Dafür sorgen wir: mit dem Baukindergeld, mit der Sonderabschreibung und mit sozialem Wohnungsbau. Auch da haben wir die Probleme im Griff.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin?

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. Wir wissen: Wir haben noch viele Aufgaben vor uns. Aber heute ist auch ein Tag, um zu zeigen, dass wir viele Probleme erkannt haben und angegangen sind. Ich fordere Sie auf, uns dabei weiter zu unterstützen und diese Entwicklung in den nächsten Jahren im Auge zu behalten. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als nächster Redner der Kollege Stefan Keuter, AfD-Fraktion. ({0})

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir sind jetzt in einer so gefährlichen Situation, wie wir sie noch nicht einmal 2007/2008 hatten, so der frühere EZB-Präsident Trichet. Das haben die Linken und Grünen nun auch erkannt – die Anträge liegen uns vor – und kommen jetzt mit ganz abstrusen Vorschlägen: „Wie soll man dieses System stabiler machen?“, das Ganze gespickt mit oberflächlich linkem Populismus, gewürzt mit Elementen der sozialistischen Lehre. ({0}) Man könnte auch sagen: Das links-grüne Narrenschiff nimmt Fahrt auf. ({1}) Haben Sie belastbare Wirtschaftsprognosen? Wissen Sie, wie sich die Wirtschaft in den nächsten Jahren entwickelt? Kennen Sie die Wirkungsmechanismen und makroökonomischen Zusammenhänge? ({2}) Von der AfD lernen heißt siegen lernen; also hören Sie mir zu. ({3}) In Deutschland gab es bis Anfang des Jahrtausends verlässliche Wirtschaftszyklen, etwa vier bis sieben Jahre. Seit der Machtergreifung Merkels ({4}) sind diese Zyklen durch Interventionen – europäische Interventionen – quasi nicht mehr erkennbar, ({5}) dies nicht etwa, weil Europa eine Erfolgsgeschichte ist, sondern wegen einer völlig verfehlten Zins- und Geldmengenpolitik der EZB. Hiervon profitiert Deutschland zwar kurzfristig; doch es bauen sich auf der anderen Seite gigantische Risiken und Haftungsverbindlichkeiten auf. ({6}) Ich möchte an dieser Stelle nur TARGET2 und die kalte Enteignung unserer Sparer nennen. Ich prophezeie Ihnen in sehr absehbarer Zeit eine Rezession, gefolgt von einer Depression. Aufgrund der Haftungen kann dies für Deutschland extremst schmerzhaft und teuer werden. Ja, der deutschen Wirtschaft geht es zurzeit gut. In guten Zeiten betreibt man Vorsorge, man spart für schlechte Zeiten. Aber was macht unsere Regierung? Sie ballert das Geld raus, und zwar mit beiden Händen: für die Integration illegaler Einwanderer ({7}) und für Transferzahlungen an die EU. In den großen Fragen unserer Zeit hat diese Regierung komplett versagt. Sie glaubt, durch Dieselverbote und das Aufstellen von Windrädern das Weltklima verändern zu können. ({8}) Dabei werden wichtige Investitionen in Deutschlands Zukunft vernachlässigt. Deutschland wird nicht zukunftssicher und zukunftsfähig gemacht. Ich möchte nur einmal den mangelnden Breitbandausbau, die mangelhaften Bildungssysteme und die mangelhafte Digitalisierung nennen – ({9}) von der Bekämpfung der Kinder- und Altersarmut einmal ganz zu schweigen. ({10}) Man streitet sich um Personalien, versucht mit Gewalt, an der Macht zu bleiben. Ich möchte schon gar nicht mehr von einer Großen Koalition sprechen, wenn ich in den Umfragen 40 Prozent plus ein ganz kleines x sehe. ({11}) Die Groko hat fertig, meine Damen und Herren. Liebe GrünInnen, schön, dass Sie die Folgen der Zinspolitik jetzt erkannt haben. Für die Sparer und die Altersvorsorgeprodukte ist dies eine Katastrophe. ({12}) Es ist schier der Existenz des Euros über heterogene Volkswirtschaften hinweg geschuldet. Die EZB hat das Mandat, die Euro-Zone um jeden Preis zu retten – „what­ever it takes“, sagt Draghi. Deutschland braucht aber ein höheres Zinsniveau als schwächere Teilnehmerländer und eine dem Wirtschaftswachstum angemessene Geldmenge. Der einzige Weg, um dies zu erreichen, ist eine unabhängige Notenbank, eine Notenbank, wie sie die Deutsche Bundesbank bis 1998 war. Die AfD stimmt der Überweisung der Anträge an den Finanzausschuss zu. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({13})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Keuter. Bevor ich dem Kollegen Metin Hakverdi das Wort erteile, möchte ich nur eine Klarstellung treffen: Die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland ist nicht im Wege einer Machtergreifung sozusagen zu ihrer Position gekommen, sondern im Wege einer demokratischen Wahl. ({0}) Als Nächster für die SPD-Fraktion der Kollege Metin Hakverdi. ({1})

Metin Hakverdi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004289, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zehn Jahren begann die Finanzkrise. Im Verlauf dieser Krise verloren viele Tausend Menschen ihren Arbeitsplatz, ganze Volkswirtschaften in Europa drohten zu kollabieren. Nur unter Einsatz erheblicher Steuermittel konnte der Absturz globaler Finanzmärkte abgewendet werden. Die Finanzkrise hat uns damals kalt erwischt. In der Euro-Zone hatten wir weder den institutionellen noch den rechtlichen Rahmen, um mit der Krise fertigzuwerden. Die erste und wichtigste Lektion der Finanzkrise lautet heute: Der einzelne Nationalstaat kann in einer globalisierten Finanzwelt nicht allein Krisen vorbeugen oder diese im Fall ihres Ausbruchs allein beherrschen. Der schnellen und engen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, aber auch mit den USA – hier insbesondere der amerikanischen Zentralbank – ist es zu verdanken, dass es damals nicht zu einer Kernschmelze des Finanzmarktes gekommen ist. Die Bewältigung der Finanzkrise ist für mich deshalb, trotz der Schwierigkeiten und der vielen Probleme, die bis heute wirken, auch eine Erfolgsgeschichte europäischer und darüber hinaus globaler Zusammenarbeit. Mir ist wichtig, dass wir den Blick auf diesen Aspekt nicht verlieren. Wenn heute Populisten weltweit umherrennen und behaupten, globale Herausforderungen könnten auf nationalstaatlicher Ebene bewältigt werden, dann wissen wir heute, dass das Unsinn ist. ({0}) Hätte es seinerzeit keinen globalen Zusammenhalt gegeben, hätten wir seinerzeit in Europa nicht schnell multilaterale Entscheidungen getroffen, dann hätte es noch schwerwiegendere Folgen gehabt, dann hätten noch mehr Menschen ihren Arbeitsplatz oder ihr Vermögen verloren. Wir haben wegen dieser Krise innerhalb der vergangenen zehn Jahre wichtige europäische Institutionen geschaffen: eine gemeinsame Aufsicht und die gemeinsame Sanierung und Abwicklung systemrelevanter Banken, die sogenannten Europäischen Autoritäten, die die Aktivitäten auf dem Banken-, Finanz- und Versicherungsmarkt überwachen, und den ESM, den Europäischen Stabilitätsmechanismus, mit dem wir heute die Auswirkungen von Krisen eindämmen können. Die Notwendigkeit dieser europäischen Institutionen wird heute niemand, niemand Vernünftiges bestreiten. Niemand Vernünftiges fordert heute, diese Institutionen zu renationalisieren. Wenn heute solche politische Einigkeit über die Notwendigkeit dieser Institutionen besteht, um die europäischen Finanz-, Banken- und Versicherungsmärkte zu überwachen, dann müssen wir uns heute ehrlicherweise die Frage stellen: Warum war das nicht 2008 möglich? Warum hatten wir nicht vor der Krise solche Systeme? Wir hätten viele Verluste nicht haben müssen, hätten wir diese Institutionen schon vor 2008 geschaffen. Warum waren wir dazu nicht in der Lage? Die Antwort ist einfach wie frappierend: Damals wie heute wurden politische Notwendigkeiten von einem nationalstaatlichen Diskurs überlagert. Damals wie heute wurden politische Mehrheiten innerhalb nationalstaatlicher Grenzen organisiert. Damals wie heute gelang es nicht allen politischen Akteuren, zu erkennen, dass es uns nur mit starken europäischen Institutionen gelingen kann, unseren eigenen, nationalen deutschen Interessen international Gehör zu verschaffen. Damals wie heute. Das bringt mich zur aktuellen Debatte über die Weiterentwicklung des Europäischen Stabilitätsmechanismus zu einem Europäischen Währungsfonds. Ich habe auch hier heute den Eindruck, dass erneut nationalstaatliche Diskurse rationale europäische Lösungen hemmen. Das Gleiche gilt für die Debatte über die Einrichtung eines Euro-Zonen-Budgets. Wir werden nicht die notwendigen europäischen Institutionen schaffen, wenn wir von „Geldpipelines nach Brüssel“ sprechen, wenn wir von „Vergemeinschaftung von Schulden“ reden oder von „Souveränitätsverlust“ sprechen. Europa ist unser gemeinsames Haus. Mit Europa gewinnen wir, ohne Europa verlieren wir; so einfach ist das. ({1}) Kolleginnen und Kollegen, bei der Regulierung des Bankenmarktes dürfen wir heute nicht nachlassen! Wir müssen das Notwendige tun, damit Banken nicht auf Kosten der Steuerzahler gerettet werden müssen. Die SPD lehnt es ab, dass Gewinne privatisiert, aber Verluste sozialisiert werden. ({2}) Unser finanzpolitisches Denken darf nicht mit Überlegungen zur Krisenfestigkeit von Banken und Staaten enden, ({3}) wir müssen immer den einzelnen Menschen im Zentrum unserer Überlegungen sehen, auch und gerade auf dem Finanzmarkt. Deshalb ist es richtig, dass in der Meseberg-Erklärung der Finanzminister auch über eine europäische Arbeitslosenrückversicherung nachgedacht wird. Dafür bin ich unserem Finanzminister Olaf Scholz außerordentlich dankbar. Diese würde natürlich auch der Finanzmarktstabilität dienen. Deshalb läge sie natürlich auch in unserem eigenen, nationalen Interesse. Zutreffend wird in den Anträgen der Grünen bzw. der Linken auf die wohnungsbaupolitische Dimension der Finanzpolitik oder deren Einfluss auf die sozialen Sicherungssysteme hingewiesen. Kolleginnen und Kollegen, unsere sozialen Sicherungssysteme müssen in Hinblick auf Konjunkturentwicklungen gedacht und weiterentwickelt werden. Es ist nicht in unserem nationalen Interesse, wenn auf den Finanzmärkten auf Kosten der Umwelt und auf Kosten des Klimas Gewinne gemacht werden; denn das bedeutet nichts anderes, als dass Gewinne privatisiert, aber die Kosten der Allgemeinheit, dem Steuerzahler auferlegt werden. Es ist nicht in unserem eigenen, nationalen Interesse, wenn durch zu niedrige Löhne etwa Transferzahlungen im Rentenalter trotz jahrelanger Arbeit notwendig sind. Auch das bedeutet nichts anderes, als dass Gewinne privatisiert, aber die Kosten der Allgemeinheit, dem Steuerzahler auferlegt werden. Green Finance im Sinne von nachhaltigem Finanzmarkt und nachhaltigem Wirtschaften bedeutet heute: wirtschaftliche Nachhaltigkeit, also nachhaltige Profitabilität, genauso wie ökologische Nachhaltigkeit, ({4}) aber eben auch soziale Nachhaltigkeit. Wenn wir heute zehn Jahre zurückblicken, können wir hoffentlich sagen, dass wir das Kind noch einmal geschaukelt haben, obwohl nicht alle mit einem blauen Auge davongekommen sind. Für die kommenden zehn Jahre sollte uns aber klar sein: Wir müssen auf europäischer Ebene noch enger zusammenarbeiten, gerade in Bezug auf den Finanzmarkt. Wer heute nur dem Wettbewerb um niedrigere Löhne und niedrigere Umweltstandards folgt und wer heute Finanzstabilität nur national denkt und nicht in multilateralen Zusammenhängen, insbesondere in der Euro-Zone, wer so denkt, der hat nicht nur die Lektionen der letzten zehn Jahre nicht verstanden, wer so denkt, kann auch nicht die Zukunft gestalten. ({5}) Die SPD will nachhaltige Investitionen, Klimaschutz und Sozialstaat miteinander verknüpfen. Wir sollten heute auf gar keinen Fall einen Schlussstrich unter die Debatte um die Weiterentwicklung der Finanzmärkte ziehen. Es geht gerade erst richtig los. Ich freue mich auf die Debatte. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Und nun Frank Schäffler für die FDP-Fraktion. ({0})

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zehn Jahre Lehman-Pleite müssen uns auch ein Stück weit zurückblicken lassen. Wer die Situation von vor zehn Jahren vor Augen hat und sich die heutige Situation vor Augen führt, der muss sagen: So viel haben wir eigentlich nicht gelernt. Die weltweite Verschuldung ist in diesen zehn Jahren um rund 40 Prozentpunkte gestiegen, die weltweite Steigerung der Wirtschaftskraft betrug in der gleichen Zeit 25 Prozentpunkte. Wir haben in den letzten zehn Jahren im Kern Wirtschaftswachstum mit noch mehr Schulden produziert. Das, was Sie hier jetzt alles in den Papieren niedergeschrieben haben, sind alles Kollateralschäden dieser Entwicklung – ob es um die Lebensversicherungen, die Banken oder die Regulierung der Banken geht. Was sagen Sie denn den Sparkassen heutzutage? Diese immer stärkere Regulierung hat nicht dazu geführt, dass die Bausparkassen, die Lebensversicherungen, die Sparkassen vor Ort sicherer geworden sind. Ganz im Gegenteil: Sie werden vom Markt gedrängt, und im Kern entstehen immer größere Konglomerate, die wir immer schwächer kontrollieren können. ({0}) Das Kernproblem ist, dass wir dieses Ergebnis, diese Finanzblasen, eigentlich durch staatliche Einflussnahme geschaffen haben. Der eine Grund ist die Zinspolitik der EZB und der Fed. Die hat im Kern zu dieser Verschuldungsspirale geführt. Der andere Grund ist: Die, die die Finanzkrise bei uns ausgelöst haben – ich kann mich noch sehr gut an 2007 erinnern –, waren staatliche Banken, zunächst die IKB. Im Herbst 2007 ist die IKB als halbstaatliche Bank von heute auf morgen pleitegegangen, und dann waren Sie es, die diese Bank gerettet haben. Anschließend kamen die WestLB und die Sachsen LB. Es waren immer staatliche Institutionen, die versagt haben. Das waren an dieser Stelle nicht die privaten Banken. Das heißt, wir müssen dafür sorgen, dass wir wieder zur Haftung zurückkehren. Das ist eigentlich das Entscheidende. Wir dürfen nicht ständig versuchen, mit billigem Geld eine Schuldenkrise zu lösen. Das hat sich in den vergangenen zehn Jahren nicht bewährt, und wir haben jetzt ein viel, viel größeres Problem, als wir vor zehn Jahren hatten. ({1}) Deshalb ist es notwendig, dass wir nicht auf eine Regulierungsspirale immer eine neue Regulierungsspirale heben, sondern dass wir versuchen, das Haftungsprinzip durchzusetzen. Das ist aus meiner Sicht das Entscheidende. Ansonsten kommen wir in absehbarer Zeit, was die Lebensversicherungen, die Bausparkassen, die Pensionskassen betrifft, immer stärker in Schwierigkeiten. Wenn wir dieses Problem nicht lösen, dann, glaube ich, stehen wir tatsächlich am Vorabend der nächsten Finanzkrise. Deshalb ist es notwendig, dass auch die EZB möglichst schnell eine Zinswende einleitet und ihr Ankaufprogramm noch schneller zurückführt, es nicht weiterführt, indem die auslaufenden Anleihen von ihr wieder verlängert werden. Das darf nicht passieren, sondern wir müssen wieder zu einer geordneten Geldpolitik in Europa zurückkommen. Das ist der einzige Weg, aus dieser Finanzkrise herauszukommen. Etwas anderes zu behaupten und sein Wahlprogramm sowie all das, was er zu der Finanzkrise schon immer einmal sagen wollte, in diese Papiere zu schreiben, löst aus meiner Sicht nicht das Problem. Insofern haben die Linken, wenn ich das so qualitativ sagen darf, einen ziemlich schlechten Antrag vorgelegt. Die Grünen haben sich immerhin Mühe gegeben, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Ich teile nicht alles, was in diesem Grünenantrag steht, aber immerhin, glaube ich, haben Sie sich die Mühe gegeben, dieses Problem ein Stück weit zu durchdringen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss. – Ich glaube, diese Finanzkrise kann man nur dadurch beseitigen, dass wir Haftung und Verantwortung wieder in eine Hand bringen. Das ist notwendig und die Voraussetzung für eine Besserung. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Schäffler. – Als Nächstes für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Dr. Gerhard Schick. ({0})

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Er wäre ja schön, wenn das ein Moment des Rückblickes auf eine vergangene Finanzkrise sein könnte, aber leider ist das nicht so, sondern trotz der vielen Regulierungsmaßnahmen, von denen Frau Tillmann gesprochen hat, ist die Finanzkrise leider nicht vorbei, gerade auch in Deutschland nicht. Während wir hier sitzen, laufen immer noch die Bemühungen zur Stabilisierung einer Bank in Deutschland – der Nord/LB in diesem Fall –, die sich bei Schiffsfinanzierungen verhoben hat. Wir sind immer noch mitten in der Bewältigung dieser Finanzkrise. Das ist das Gefährliche auch für das Gesellschaftliche und Politische; denn wir wissen, dass Finanzkrisen – das hat es in der Geschichte immer wieder gegeben – auch zu politischen Verwerfungen führen und für unsere Demokratie eine enorme Herausforderung sind. ({0}) Deswegen kann man jetzt nicht einfach auf die vielen Gesetze zurückblicken, die da gemacht worden sind, auch wenn, wie zum Beispiel mit der Schaffung der Bankenunion, die gegen den Willen dieser Bundesregierung in Europa erreicht werden konnte, wichtige Maßnahmen ergriffen worden sind. Trotzdem müssen wir, wenn wir den Strich darunterziehen und das alles bewerten, sagen: Heute sind die Finanzmärkte leider nicht stabiler als 2007, im Vorfeld des Ausbruchs der Finanzkrise, die uns heute noch beschäftigt. Die Schulden sind weiter angewachsen. Sie sind schneller gewachsen als die Wirtschaftsleistung. Die großen Banken, die damals schon zu groß waren, sind teilweise weiter gewachsen, und die Menge an intransparenten Finanzprodukten hat weiter zugenommen. Deswegen kann es nicht sein, dass wir uns damit begnügen, dass wir viel gemacht haben – ja, wir selber haben sehr viele Gesetze verabschiedet –, sondern wir müssen entscheidend dazu beitragen, dass das System stabil wird, und das ist bisher nicht gelungen. ({1}) Vor diesem Hintergrund ist der Blick in den Koalitionsvertrag leider ernüchternd. Sie haben sich in Sachen Finanzmarktregulierung leider nicht vorgenommen, diese großen Probleme wirklich anzugehen. Deswegen sagen wir: Dieser zehnte Jahrestag der Lehman-Pleite muss der Anlass sein, um endlich einen neuen Anlauf für eine echte Finanzwende hinzubekommen. ({2}) Als eine Dimension dessen, was getan werden muss, will ich die Schnittstelle zum Immobilienmarkt nennen. Es gab in den letzten Jahrzehnten eine massive Fehlentwicklung in Deutschland: Wir hatten große kommunale Wohnungsbestände, und diese Immobilien konnten eben nicht als Spielball von internationalen Finanzinvestoren genutzt werden, sondern waren ausschließlich im Dienst der Bürgerinnen und Bürger, die da wohnen wollten. Durch das Instrument der Wohnungsgemeinnützigkeit, das in den 90er-Jahren leider abgeschafft worden ist, hatten wir einen großen Bestand an Wohnungen, die der Gemeinnützigkeit unterlagen, und es war damals nicht so leicht wie heute, Immobilienpakete schnell an der Börse zu handeln. Die drei Schritte, die das umgekehrt haben, haben dazu beigetragen, dass die Immobilien – das, wo Menschen wohnen wollen – von einem Gebrauchsgut, das Menschen brauchen, immer mehr zu einem Finanzprodukt geworden sind. Diese Entwicklung müssen wir korrigieren. Wir müssen diese Fehlentwicklungen zurückdrehen, um wieder dafür zu sorgen, dass es bezahlbaren Wohnraum für die Menschen in diesem Lande gibt. ({3}) Um es noch mal ganz klar zu sagen: Auch wenn viele andere Maßnahmen diskutiert werden: Ohne eine Finanzwende wird das Problem, dass die Immobilienpreise und die Mieten schneller steigen als die Einkommen der Menschen, nicht lösbar sein. Da müssen wir ran. ({4}) Es gibt eine zweite Dimension, und zwar im Bereich des Verbraucherschutzes. Ja, da ist auch manches entstanden, aber viel Papier hilft nicht immer viel. Ich erlebe immer wieder, dass sich Menschen schämen, wenn sie am Finanzmarkt Betrügern zum Opfer gefallen sind, wie jetzt gerade zum Beispiel viele Leute bei P&R, die einfach hinter die Fichte geführt worden sind. Ich finde aber nicht, dass sich die Opfer schämen sollten. Ich finde, es müssen sich die Betrüger am Finanzmarkt und diejenigen schämen, deren Aufgabe es gewesen wäre – das sind auch wir –, die Opfer vor diesen Betrügereien im Milliardenumfang zu schützen, es aber nicht geschafft haben. Da muss man etwas tun. ({5}) Deswegen können wir uns nicht mit Beraterregister – und was es sonst noch alles gegeben hat – zufriedengeben, sondern wir müssen dafür sorgen, dass diese intransparenten Finanzprodukte, die Betrug Tür und Tor öffnen und mit denen man Gebühren verstecken kann, der Vergangenheit angehören und der Finanzmarkt endlich für die Bürgerinnen und Bürger da ist und nicht im Wesentlichen eine intransparente Spielwiese ist, auf der sich ein paar Experten möglichst viel Geld verschaffen können. ({6}) Ich will einen letzten Punkt nennen, obwohl es noch viele weitere Beispiele gäbe: die grüne Dimension der Finanzwende. Viele Unternehmen – das merke ich in vielen Gesprächen mit der Branche – haben inzwischen verstanden: Es macht keinen Sinn mehr, in veraltete Technologien zu investieren, viel Geld in Kohle und andere fossile Energien zu stecken, denn da wird man Geld verlieren. – ({7}) Deswegen gibt es inzwischen viele Investoren, die Ausstiegspläne haben. Wenn man jetzt mal schaut, wie es beim Geldanleger Bund aussieht, dann muss man sagen: Die Pensionsgelder der Bundesbeamten sind immer noch ohne Nachhaltigkeitskriterien, ohne Blick auf diese Risiken angelegt. – Ich finde, das kann nicht sein. Es braucht endlich auch eine Finanzwende, wenn der Bund Geld anlegt. Wir müssen die ökologischen Risiken am Finanzmarkt ernst nehmen. Auch da braucht es eine echte Finanzwende. Danke schön. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Dr. Schick. – Als Nächstes der Kollege Alexander Radwan, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zehn Jahre Finanzkrise sind ein guter Anlass, auf das, was gemacht wurde, zurückzuschauen, einen Ausblick in die Zukunft zu wagen, aber möglicherweise auch die Ursachen, warum es zu dieser Finanzkrise kam, zu analysieren. Ich habe vorhin gehört, es seien sehr stark die öffentlich-rechtlichen Banken gewesen, die gerettet werden mussten. Ich möchte nur daran erinnern: Die Ursache der Finanzkrise liegt in einer Zeit, in der alle von Deregulierung gesprochen haben. Es war der große Hype, die Märkte zu deregulieren, nach dem Motto: Sie werden es schon selber richten. – Es gab damals auch eine Koalition in Deutschland, die der Meinung war, die Deutschland AG aufgeben zu müssen und an den Markt glauben zu können. Von daher hat all das eine Vorgeschichte, und wir sollten nicht nur auf die zehn Jahre zurückschauen. ({0}) Das Ziel ist heutzutage, die Deregulierung zurückzuführen, zu regulieren, Eigenverantwortung nach vorne zu bringen und letztendlich den Steuerzahler zukünftig nicht mehr in die Pflicht zu nehmen, wie es bisher der Fall war. Die Staatsschuldenkrise war die Folge aus der Finanzkrise. ({1}) Da möchte ich schon darauf hinweisen: Dass die Bekämpfung der Staatsschuldenkrise in Europa in eine Richtung ging, in der Eigenverantwortung und Solidarität im Gleichklang waren, ist insbesondere Deutschland zu verdanken. ({2}) Auch hier im Haus gibt es regelmäßig Vorstöße, mit denen man einer stabilitätsorientierten Politik auf europäischer Ebene letztendlich eher in den Arm fallen würde, als sie zu unterstützen. Damit würde man weiterhin eine entsprechende Instabilität an den Märkten zulassen. Es ist Angela Merkel und Wolfgang Schäuble zu verdanken, dass die Mechanismen zur Schaffung von Stabilität gegriffen haben. Wenn man sich anschaut, welche Staaten heute aus den jeweiligen Programmen entlassen wurden – bis hin zu Griechenland –, sehen wir, dass man hier – gerade durch das Engagement Deutschlands – Stück für Stück mühsam vorangekommen ist. Dann – Antje Tillmann hat es angesprochen – gab es ein ganzes Maßnahmenpaket von Regulierungen, etwa Eigenkapitalanforderungen im Rahmen von Basel III. Die Bankenunion wurde entsprechend gestärkt, und das nicht gegen den Willen Deutschlands. Wenn Deutschland einmal Kritik übt und schaut, wie man in die richtige Richtung geht, ({3}) wenn Deutschland auf die Regionalbanken schaut, dann ist das – Sie wissen es ganz genau – ein Ringen in Europa um den richtigen Weg. Deutschland ist da nicht gegen etwas. ({4}) Wir müssen aus der Finanzkrise lernen und den Ausblick wagen. Erstens. Wichtig ist, dass wir zukünftig auf europäischer Ebene die Regeln, die wir uns geben, auch durchsetzen. Es hilft überhaupt nichts, immer wieder entsprechende Vereinbarungen auf europäischer Ebene zu treffen und sie dann eben nicht durchzusetzen. Deutschland und die CDU/CSU-Fraktion stehen dafür, dass diese Regeln auch zukünftig in Europa angewendet werden. ({5}) – Ja. Ich war damals im Europäischen Parlament und war einer der Hauptkritiker der Maßnahmen von Schröder unter Rot-Grün, mit denen damals der Stabilitätspakt zum ersten Mal gebrochen wurde. Sie haben es hier mit jemandem zu tun, der das rechtzeitig kritisiert hat. ({6}) Zweitens. Wir müssen das, was wir bisher gemacht haben, evaluieren: Was haben die Gesetze, die gekommen sind, für Auswirkungen? Wir müssen dem Proportionalitätsgrundsatz, der allen möglichen Gesetzen zugrunde liegt, zur Geltung verhelfen. Es nützt nichts, den Grundsatz nur in europäische Verordnungen und nationale Gesetze hineinzuschreiben, sondern wir müssen Größenunterschiede – Unterschiede im Umgang mit den großen, internationalen Banken und den kleinen Banken – auch tatsächlich zulassen. Wir müssen uns die Aufsichtspraxis anschauen, die jetzt so langsam in Schwung kommt. Die Europäische Zentralbank ist auf der einen Seite unmittelbar für die großen Banken zuständig; aber wir wissen genau, dass ihre Maßnahmen und Vorgaben auch auf die kleinen Banken Auswirkungen haben. Ich bin hier für eine stärkere Eigenständigkeit der nationalen Aufseher und möchte, dass der Proportionalitätsgrundsatz, was regionale Banken anbelangt, entsprechend berücksichtigt wird. ({7}) Drittens. Meine Damen und Herren, wir haben hier sehr viel über legislative Maßnahmen gesprochen, über Gesetzgebung auf nationaler und europäischer Ebene. Alle wissen aber, dass die nächste Finanzkrise möglicherweise aus einer Ecke kommt, die wir heute gar nicht gesetzgeberisch geregelt haben. Die Frage ist dann, wie wir schnell handeln können. Ich möchte in diesem Haus, gerade ausgehend von diesen Anträgen, einmal die Diskussion führen, inwieweit es sinnvoll ist, zukünftig prinzipienorientiert zu handeln, den Aufsehern grundsätzliche Kompetenzen unter demokratischer Kontrolle zu geben, die dann schnell marktgerecht reagieren können, statt jedes einzelne Detail mit der entsprechenden Bürokratie über Gesetze zu regeln. Viertens. Wir stehen vor der Hausaufgabe und der Herausforderung der Zinswende. Jeder ist der Meinung, die Zinswende müsse kommen. Allerdings ist die Frage: Sind wir auf die Zinswende in Deutschland vorbereitet, sind die Banken darauf vorbereitet, ist die Ökonomie darauf vorbereitet? Das ist eine Herausforderung, die vor uns steht und kommen wird. Fünftens. Wir müssen die vernetzte Welt ein Stück weit noch transparenter machen. Die Finanzkrise ging von Amerika aus; es waren die Verbriefungen aus den USA, die hierhergekommen sind. Da waren, wie Sie, Herr Schäffler, sicherlich wissen, nicht nur öffentlich-rechtliche Banken dabei; es waren auch private Banken, die daran sehr gut verdient haben. Die Vernetztheit müsste transparent und nachvollziehbar werden, insbesondere weil der internationale Konsens, den wir nach der Finanzkrise, nach der Pleite von Lehman, auch mit den USA hatten, Stück für Stück aufgebrochen wird. Wir spüren heute, dass die Amerikaner wieder in Richtung Deregulierung gehen. Ich halte das für einen falschen Weg, auch wenn er von dem einen oder anderen in Deutschland bereits propagiert wird. Sechstens. Wir stehen vor der Herausforderung des Brexit: Wie wird sich der Brexit auf die Finanzmärkte auswirken? Das ist ein wichtiges Thema, mit dem wir uns – neben der Digitalisierung – auch im Finanzausschuss auseinandersetzen müssen. Meine Damen und Herren, es kam die Finanzkrise, es kam die Wirtschaftskrise, die Deutschland gut abgefangen hat, es kam die Staatsschuldenkrise, die wir in den Griff bekommen haben. Ich denke, hier besteht großer Konsens, dass wir alle miteinander daran arbeiten müssen, dass wir alles, was mit diesen Krisen zusammenhängt, so regeln, dass daraus keine Demokratiekrise wird, dass das, was wir alle miteinander wollen – ein stabiles Europa und ein stabiles Deutschland mit einer stabilen Wirtschaft –, existieren kann. Darum müssen wir alle, die an einer stabilen Demokratie und an einem stabilen Europa Interesse haben, gemeinsam daran mitwirken. Alle, denen es um die Demokratie in Deutschland und in Europa geht, sind dazu eingeladen. Besten Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Radwan. – Als Nächstes für die AfD-Fraktion die Kollegin Franziska Gminder. ({0})

Franziska Gminder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004728, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Liebe Abgeordnete! Liebe Gäste! Zehn Jahre sind seit der spektakulären Pleite von Lehman Brothers und der daraus folgenden katastrophalen Finanzkrise vergangen. Diese Krise hat laut Bericht in der „Welt“ vom 13. September Deutschland bisher 59 Milliarden Euro gekostet, jede vierköpfige Familie sei mit 3 000 Euro belastet worden. Für die Stützung von Banken kommen 900 Milliarden Euro hinzu. Und was hat es geholfen? Nichts. Heute droht ein neuerlicher Crash am Aktien- und Immobilienmarkt. Die Nullzinspolitik der EZB seit März 2016 hat die öffentliche und private Verschuldung rasant anwachsen lassen. ({0}) Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die in den USA bereits steigenden Zinsen – sie wurden zum 26. September auf 2,00 bis 2,25 Prozent erhöht, und drei weitere Erhöhungen wurden für die nächste Zeit angekündigt – eine Reaktion in Europa auslösen. Und dann wehe der sogenannten schwarzen Null des Finanzministeriums und den mit 20 Prozent Eigenkapital finanzierten Immobilien! Was bieten da Linke und Grüne als Heilmittel an? Die Linke will Finanzkrisen durch strikte Regulierung und Umverteilung von oben nach unten verhindern. Das sind die Uraltideen der sozialistischen Planwirtschaft und die ewige Leier der Vermögensteuer. ({1}) Man kann es nicht mehr hören. Leider muss man zu den Vorschlägen von Bündnis 90/Die Grünen feststellen, dass hier ideologisch und nicht sachorientiert argumentiert wird. Die Finanztransaktionsteuer würde Deutschlands Börsenvorhaben in Konkurrenz mit anderen Staaten, die die Finanztransaktionsteuer nicht haben, kaltstellen. Die Immobilienspekulation ausbremsen: Ja wie will man das denn machen? ({2}) Ein Finanz-TÜV, keine provisionsorientierte Finanzberatung – all das ist kontraproduktiv zum Leistungsprinzip und würgt jede Initiative und die Selbstheilungskräfte des Marktes ab. Wer die Ursachen erkennt, muss an diese herangehen und nicht Symptombehandlung ausführen. Die Ursachen für die letzte und die wahrscheinlich nächste Finanzkrise liegen aber in der nichtrisikokonformen Verzinsung von Anlagen, Staatsanleihen sowie von Unternehmensanleihen, wie sie uns die EZB unter Herrn Draghi nun schon seit Jahren aufzwingt. ({3}) Heute haben wir ein ausuferndes und völlig verfehltes Anleihekaufprogramm, das als Quantitative Easing getarnt wird, und eine Gelddruckorgie. Hoffen wir auf einen deutschen Nachfolger für Draghi. Deutschland ist mit 27 Prozent der größte Zahler für den ESM in der EU und darf sich nicht wieder hinter Frankreich zurückdrängen lassen. ({4}) Das Problem der Non-performing Loans, die in Ländern wie Griechenland über 60 Prozent aller Kredite, sagt man, und sogar in Italien noch rund 40 Prozent ausmachen, wird weiterhin von allen Beteiligten verdrängt. Eine Vergemeinschaftung der Schulden, wie in der dritten Säule der Bankenunion gefordert, lehnen wir als AfD daher kategorisch ab. ({5}) Es herrscht Anlagenotstand, da die Notenbanken die Märkte weltweit immer noch mit Geld überschwemmen. So werden auch jetzt wieder riskante Investments getätigt, nur um wenigstens ein bisschen Rendite zu ermöglichen. Dabei bleibt dann oft die Sicherheit auf der Strecke. Das Niedrigzinsumfeld schwächt die Altersvorsorge der Bürger, enteignet die Sparer, ruiniert die Versicherungen und dient allein der Rettung des Euro. Warum die Finanzaufsicht stärken, wenn sie keine Erfolge vorweisen kann? Das Single Resolution Board ist, wie wir alle wissen, im Bericht des Europäischen Rechnungshofes durchgefallen. Eine Fusionskontrolle der Banken kommt jetzt zu spät. Wissen Sie, dass die Deutsche Bank aus dem EURO STOXX 50 herausgefallen ist? Die Commerzbank ist nicht mehr im DAX vertreten. Unsere Banken stehen also ziemlich schwach da. Ein Trennbankensystem wäre eine echte Verbesserung und wird auch seit Jahren gefordert. Aber politisch war das schlicht nicht umzusetzen. Zusammenfassend kann ich nur sagen: Grüne und Linke fordern sozialistische Plan- statt sozialer Marktwirtschaft.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Franziska Gminder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004728, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich komme zum Schluss. – Und sie haben keine guten Lösungen zur Verhinderung von Finanzkrisen vorzuweisen. ({0}) Im Gegenteil: Mit ihren Maßnahmen schlittern wir garantiert in die nächste Krise. Die AfD stimmt der Überweisung der Anträge in den Finanzausschuss zu und hofft dort auf positive Einsichten. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vielen Dank an dieser Stelle an Frank Schäffler. Seinen Beitrag kann ich absolut unterschreiben. Der Staat hat nichts gelernt. Durch immer restriktivere Gesetzgebung, ständige Eingriffe, Marktmanipulationen in Form von Subventionen, exorbitant hohe Steuern, immer mehr Etatismus und insbesondere durch das missbrauchte Geldmonopol, mit dem er sich selbst finanziert, Kaufkraft umverteilt oder für fehlgeleitete Ressourcenverwendung sorgt, erzeugt er zwar einen Boom, aber eben keinen nachhaltigen, sondern er erzeugt eine Blase. Diese Blasen sind allen Gesellschaften, die das bisher probiert haben, irgendwann um die Ohren geflogen und haben tiefe Spuren hinterlassen. Ich hatte ja – vielleicht im Unterschied zu dem einen oder anderen, der hier sitzt – vorher einen richtigen Job. Ich kann mich gut an 2007 und 2008 erinnern, wie faktisch alle meine mittelständischen Kunden in die Kurzarbeit gegangen sind ({0}) und selbst leitende Angestellte um ihre Hypotheken fürchteten und die Familien nicht mehr wussten, wie sie ihre Lebenshaltungskosten decken sollten. Wenn falsche Preissignale weiterhin von der Realwirtschaft abgekoppelt bleiben, werden sie dem Druck der Märkte irgendwann nicht mehr standhalten. Nachhaltiges Wachstum ist mit expansiver Geldpolitik nicht zu vereinbaren. Man sollte gegenüber den Bürgern ehrlich sein. Vorhin hieß es ja wieder, bis 100 000 Euro seien die Spareinlagen sicher. Sind sie nicht, weil die Einlagensicherungsfonds diese Sparguthaben nicht einmal im Ansatz abdecken. An die SPD adressiert: Es war Ihr Finanzminister Steinbrück, der damals maßgeblich an der Deregulierung der Finanzmärkte beteiligt war. Griechenland wurde vorhin erwähnt. Was haben wir in Griechenland erreicht? Griechenland hat statt 107 Prozent vor dem ersten Rettungspaket heute 180 Prozent Staatsverschuldungsquote, 60 Prozent Jugendarbeitslosigkeit und ziemlich wenig Perspektive. Wer als überzeugter Europäer auftreten möchte und argumentiert, der sollte sich mal fragen, ob der Ausspruch „Deutschland profitiert von dem, was wir tun, am meisten“ fair und sinnvoll ist. Vielen Dank.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Cansel Kiziltepe. ({0})

Cansel Kiziltepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jubiläen wie der Zusammenbruch von Lehman Brothers sollten uns zum Nachdenken anregen. Vor zehn Jahren hat sich die Finanzbranche verzockt, verstand ihre eigenen Produkte nicht mehr und drohte uns alle mit in den Abgrund zu reißen. Das darf nicht noch einmal passieren. Um das zu verhindern, haben wir richtige Schritte unternommen, am Ziel sind wir aber noch lange nicht angekommen. ({0}) Ein wichtiger Schritt war die Schaffung der Bankenunion, liebe Kolleginnen und Kollegen. Damit haben wir nicht nur die systemrelevanten Banken unter die notwendige Aufsicht gestellt, sondern auch gemeinsame Regeln für Europa geschaffen. Kein Finanzinstitut musste vor der Krise Stresstests durchlaufen, Abwicklungspläne aufstellen und so hohe Anforderungen für Eigenkapital erfüllen, wie das heute der Fall ist. Außerdem gibt es jetzt einen Abwicklungsfonds, der mit einer Bankenabgabe finanziert wird, und Eigenkapitalvorschriften, die eine Beteiligung sicherstellen. Mit den neuen Regeln wollen wir eins sicherstellen: Eigentümer von Banken müssen die Kosten der Rettung tragen – nicht mehr und nicht weniger. ({1}) Außerdem gehen wir seit der Finanzkrise massiv gegen Steuerhinterziehung und ‑vermeidung vor; denn die Krise hat uns eines gelehrt: Nur ein gut finanzierter Staat kann im Zweifelsfall handeln und die Wirtschaft vor den Folgen der Zockerei retten. Die BEPS-Initiative der OECD ist hier ein wichtiger Schritt. Einige Maßnahmen wurden bereits umgesetzt, wie Länderberichte von multinationalen Konzernen und neue Standards bei Verrechnungspreisen. Andere setzen wir demnächst um, wie zum Beispiel die Anzeigepflicht für Steuergestaltungen und eine bessere Besteuerung von digitalen Unternehmen. ({2}) Doch wir müssen auch feststellen: Diese Maßnahmen reichen nicht aus. Viele Menschen teilen das Gefühl, dass die Banker und die Finanzindustrie viel zu gut weggekommen sind. Das hat den Nährboden für den Populismus, für Populisten wie die AfD geschaffen. Antworten bieten sie zwar nicht, aber sie nutzen den Frust der Menschen. Deswegen dürfen wir die Finanzelite nicht von der Angel lassen; und das werden wir auch nicht tun. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen auch eine Finanztransaktionsteuer. Wir als SPD kämpfen seit Jahren für deren Einführung und haben sie in den Koalitionsvertrag für diese Legislaturperiode hineinverhandelt. Doch der Kampf, wie sich zeigt, erweist sich als schwierig. Immer wieder werden uns Steine in den Weg gelegt. Die Finanzlobby wehrt sich mit Händen und Füßen. Ihr kommt dabei zugute, dass wir eine wirksame Finanztransaktionsteuer eben nur auf europäischer Ebene umsetzen können. Doch wir dürfen und wir wollen uns davon nicht abhalten lassen. Mit der Finanztransaktionsteuer stellen wir nämlich sicher, dass die Krisenverursacher auch für die Kosten der Krise verantwortlich gemacht werden und sich an den Kosten für das Gemeinwohl beteiligen. Wenn uns die Einführung in Europa nicht gelingt, dann müssen wir eben in Deutschland mit gutem Beispiel vorangehen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen aber auch Entwicklungen im Finanzbereich beobachten, wir müssen aufmerksam sein; denn Finanzmarktentwicklungen sind nicht statisch, sondern dynamisch. Wir müssen immer wieder gucken, was schiefläuft, wo Lücken gesucht und auch gefunden werden. Im Moment sollten uns insbesondere die Entwicklungen auf dem Immobilienmarkt Sorgen machen. Seit der Finanzkrise stürzt sich die Industrie auf Wohnungen in Deutschland. Sie pumpt den Sektor mit Geld voll. Leider entstehen dadurch kaum neue Wohnungen, sondern bestehende Mietwohnungen werden immer mehr zu Kapitalanlagen und handelbaren Waren. Das treibt wiederum die Preise in die Höhe. Das gefährdet nicht nur die Finanzstabilität, sondern verdrängt auch Menschen aus ihren Wohnungen. Wohnen ist keine Ware. Das kann und darf nicht sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Wir sollten auch nicht vergessen: Die Finanzkrise hat auf dem amerikanischen Häusermarkt angefangen. Aber nicht nur das: Finanzkrisen zeigen auf dem Wohnungsmarkt auch ihr hässlichstes Gesicht. Wir müssen nur an die Menschen in Spanien denken, die ihre Häuser, ihre Wohnungen verloren haben. Damit wir solche Szenen nicht in Deutschland haben, braucht die Finanzindustrie klare und strenge Regeln für den Immobiliensektor. Das, was auf dem Wohngipfel beschlossen wurde, nämlich das Verbot der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen, ist ein erster wichtiger Schritt. Wir müssen aber auch Steuerschlupflöcher wie die Share Deals, mit denen die Grunderwerbsteuer umgangen wird, schließen. ({6}) Auch das haben wir als Sozialdemokraten in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt. Das wurde auf dem Wohngipfel beschlossen, und das ist auch gut so. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Wir arbeiten national wie europäisch und international, um Finanzkrisen in Zukunft vorzubeugen. Wir wollen die Finanzwende. Unterstützen Sie uns dabei! Ich freue mich auf die Diskussion im Finanzausschuss. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat das Wort die Kollegin Bettina Stark-Watzinger. ({0})

Bettina Stark-Watzinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004902, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, der Jahrestag der Lehman-Insolvenz ist in der Tat ein Anlass, die bestehende Finanzmarktregulierung zu hinterfragen – Eigenkapitalunterlegung, Bankenabwicklung, Verbraucherschutz, die Aufsicht. Haben wir unser Ziel erreicht, ein stabiles Finanzsystem zu schaffen? Klar ist: Die Kapitalmärkte müssen verantwortungsvoll agieren. Sie müssen aber auch ihre Aufgabe erfüllen können. Sie haben nämlich die Aufgabe, unsere Wirtschaft zu finanzieren und den Menschen die Möglichkeit zu geben, Eigentum aufzubauen. ({0}) Deswegen müssen wir, die Politik und die Aufsicht, sehr genau beobachten, ob und welche Risiken entstehen. All dies leisten die beiden vorgelegten Anträge nicht. ({1}) Selektive Wahrnehmung ist eine Eigenschaft, bei der nur bestimmte Aspekte der Umwelt wahrgenommen und andere ausgeblendet werden. So kommen mir die Anträge vor. Ein Beispiel: Die Kollegen von der Linken ergehen sich darin, dass „der fortgeführte Systemwechsel“ hin zu kapitalgedeckter Altersvorsorge „die Finanzmärkte mit anlagesuchendem Kapital“ flute und „mit (kurzfristigen) Renditeerwartungen“ einhergehe. Ich frage mich: In welcher Realität leben Sie eigentlich? ({2}) In Deutschland kommen noch immer circa drei Viertel der Alterseinkommen aus der umlagefinanzierten gesetzlichen Altersvorsorge. ({3}) Gleichzeitig gibt es Schätzungen, dass die Bürgerinnen und Bürger allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres einen Zinsverlust von circa 17 Milliarden Euro hinnehmen mussten, weil sie eben nicht in kapitalgedeckte Produkte in entsprechendem Maße haben investieren können. Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ist wieder einmal der Versuch, unser Wirtschaftssystem nach planwirtschaftlichen Traumvorstellungen umzubauen, ({4}) und das auf vier Seiten Papier. Dabei beschäftigen Sie sich noch nicht einmal mit den wirklichen Problemen und Risiken, die wir haben. Die Grünen – das muss ich sagen – tun das etwas differenzierter. Sie reden nicht von den Auswirkungen der Niedrigzinsphase, die für die Stabilität der Banken, der Versicherungen und der Sparer entstehen. Sie erwähnen mit keinem Wort die Risiken der hohen Staatsverschuldung und sagen kein Wort zu der engen Verknüpfung von Banken und Staaten, die Experten mit als eine der größten Gefahren bezeichnen! ({5}) Für uns ist essenziell: Kein Akteur auf dem Finanzmarkt darf davon ausgehen, dass andere ihn retten.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Kollegin?

Bettina Stark-Watzinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004902, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielleicht gleich eine Kurzintervention. Ich habe nur noch zwei Sätze. Dann aber sehr gerne. Für uns ist essenziell: Kein Akteur auf dem Finanzmarkt darf davon ausgehen, dass er von anderen gerettet wird. Das ist unser schärfstes Schwert. Verantwortung, Risiko und Haftung müssen zusammenbleiben, das heißt Insolvenzrecht, Abwicklungsregime. Wir müssen die Kapitalmarktunion stärken, damit privates Kapital und nicht der Steuerzahler oder der Sparer für Risiken haftet. Wir brauchen Transparenz für Anleger. Wir müssen die Anleger in die Lage versetzen, die richtige Entscheidung zu treffen. Ja, Finanzmarktregulierung ist mehr als die Orientierung an Wettbewerbsfähigkeit oder Ertragskraft. Aber es darf nicht darum gehen, der Finanzwirtschaft maximalen Schaden zuzufügen. Es muss uns um Mehrwert für Stabilität und Verbraucherschutz gehen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, Sie dürfen Platz nehmen. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat jetzt der Kollege Sepp Müller.

Sepp Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kollegin, Sie sagten, der Antrag der Grünen sei differenzierter. Unter anderem geht es dort um das Thema Green Finance. Wir haben gehört – das ist auch in der Diskussion –, wie zukünftig Eigenkapital bei grünen Finanzierungen hinterlegt werden soll. Sie sind Volkswirtin. Wie ist Ihre Meinung dazu, dass Realwirtschaft mit finanzwirtschaftlichen Instrumenten unterstützt werden soll?

Bettina Stark-Watzinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004902, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Müller, das ist eine wichtige Frage; denn hier kommt ein ganz großes Projekt der Europäischen Union auf uns zu. Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass es aufseiten der Verbraucher eine große Nachfrage gibt, nachhaltig anzulegen. Die Industrie bietet auch schon entsprechende Produkte an. Was aber nicht passieren darf, ist, dass der Staat normativ eingreift, dass er anfängt, Kapital zu lenken, und Risiko nicht mehr adäquat mit Eigenkapital unterlegen lässt. Es darf keinen Trade-off von Risiko und nachhaltiger Anlage geben. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Matthias Hauer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Matthias Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004292, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In diesem Monat jährt sich die Insolvenz der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers zum zehnten Mal. Das war gleichzeitig der Höhepunkt der Finanzkrise von 2007/2008; dazu haben wir gerade schon viel gehört. Ich will das alles natürlich nicht wiederholen. Nur so viel: Weltweit wurden Menschen um Ersparnisse gebracht. Es mussten Staaten enorme Summen aufbringen, um weitere Banken vor dem Zusammenbruch zu retten. Die Weltwirtschaft stand vor dem Abgrund. Diese schwere Krise und ihre Folgen haben uns vor allem gelehrt, das Verhältnis von Staat und Markt im Finanzsektor neu zu definieren, mit dem Ziel, den Finanzmärkten einen robusten Ordnungsrahmen und effiziente Strukturen zu geben. Auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene haben wir seitdem eine Vielzahl von Maßnahmen umgesetzt. Deutschland ist auf diesem Weg vorangegangen, um die Anfälligkeit für neue Finanzkrisen zu reduzieren. Gerade unserem langjährigen Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble gilt dafür unser Dank. ({0}) Die Aufsicht über den Finanzmarkt hat sich seit der Finanzkrise tiefgreifend verändert. Eine schwache Aufsicht hat die damalige Krise erst ermöglicht, und gerade die grenzüberschreitende Kooperation war während der Finanzkrise völlig unzureichend. Es wurde deutlich, dass in einer immer komplexer werdenden und vernetzten Welt rein nationale Maßnahmen und Regulierungen nicht mehr ausreichen. Deshalb wurde länderübergreifend gehandelt. Der Finanzstabilitätsrat, FSB, wurde durch die G-20-Länder eingerichtet, um Schwachstellen des internationalen Finanzsystems zu identifizieren und die Regulierungspolitik auf internationaler Ebene zu koordinieren. Das Europäische Finanzaufsichtssystem, ESFS, hat 2011 seine Arbeit aufgenommen und sorgt für eine einheitliche Finanzaufsicht in der EU. Die einheitliche europäische Bankenaufsicht, SSM, agiert grenzüberschreitend und präventiv unter dem Dach der EZB als zentrale Bankenaufsichtsbehörde im Euro-Raum. Aber nicht nur die Aufsicht war zu schwach. Die damalige Krise hat auch gezeigt, dass viele Finanzinstitute nicht ausreichend in der Lage waren, Verluste zu verkraften. Es war daher wichtig, die Finanzinstitute widerstandsfähiger zu machen. Dazu haben meine Kollegin Antje Tillmann und Kollege Alexander Radwan in ihren Reden bereits viele wichtige Punkte angesprochen. Diesen Weg werden wir gemeinsam in der Koalition auch mit dem neuen Finanzminister Olaf Scholz konsequent weitergehen. Finanzkrisen verhindern – das ist unser gemeinsames Ziel. Leider tragen die beiden Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke dazu inhaltlich sehr wenig bei. Auch viel Neues findet sich darin nicht. Gerade der Antrag der Linken liest sich eher wie ein allgemeines Sammelsurium aus ihrem Wahlprogramm. An vielen Stellen fällt es schwer, einen Zusammenhang zum Thema zu erkennen. Sie von den Linken wollen neue Steuern einführen, obwohl wir niemals höhere Steuereinnahmen hatten als heute. Sie versprechen jedem einen Betrag von 1 050 Euro netto – ohne irgendeine Aussage, wie das finanziert werden soll. ({1}) Aber auch bei anderen Themen versprechen Sie das Blaue vom Himmel: Mindestlohn, Rente, Gesundheit, Bildung, Pflege, Wohnungsbau, Verkehr, Energie, Digitales. Was hat das alles gemeinsam? Sie glauben: Das hat viel mit dem Thema Lehman-Pleite zu tun. Das alles, wohlgemerkt, in einem Antrag zu diesem Thema! Das spricht schon für sich. ({2}) Sie sprechen zwar wichtige Themen an, aber Sie haben leider die falschen Lösungsansätze. ({3}) Mit Ihren Vorschlägen würde es den Menschen am Ende schlechter gehen. Eine Finanzkrise würde durch Ihre Vorschläge eher wahrscheinlicher als verhindert. Die Staatsverschuldung würde durch die Decke gehen, wenn man Ihrem Forderungsbündel tatsächlich zustimmen würde. Wir als Union werden weiter dafür kämpfen, dass Sie von der Linken niemals Gelegenheit haben werden, diese Forderungen durchzusetzen ({4}) und unser Land runterzuwirtschaften. ({5}) Wir wollen, dass unser Land leistungsfähig bleibt und dass es den Menschen besser geht. Der Antrag der Grünen befasst sich zumindest mit dem Thema. Damit unterscheidet er sich von Ihrem Antrag, von dem der Linken. Es finden sich da auch durchaus einige gute Forderungen, so die nach der Regulierung von Schattenbanken. ({6}) Die können Sie im Übrigen im Koalitionsvertrag nachlesen. Wir wollen das im Rahmen einer internationalen und einer europäischen Lösung angehen; denn gleiches Geschäft muss auch gleich reguliert werden. Der Antrag der Grünen wirkt ein bisschen wie Werbung für den neuen Verein von Herrn Dr. Schick; er hat auch einen gleichnamigen Titel. Frau Kiziltepe hat den Titel auch aufgegriffen. Ich hoffe, das hat nichts Negatives zu sagen. Aber wenn Ihr Verein tatsächlich so unabhängig und überparteilich sein soll, Herr Dr. Schick, ist es vielleicht keine so gute Idee, unter dem Titel einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen in den Bundestag einzubringen. ({7}) Zum Bereich Verbraucher- und Anlegerschutz ist viel gesagt worden. Wir haben in den letzten Jahren da sehr viel getan, zuletzt noch mit der EU-Zahlungsdiensterichtlinie. Davon profitieren Verbraucher beim Bezahlen. Über Risiken von Finanzprodukten wird stärker aufgeklärt, Stichwort „PRIIPs-Verordnung“. Mit MiFID II haben wir den Anlegerschutz verbessert. Es gibt mehr Informationen über die Kosten von Finanzdienstleistungen. Es gibt die Geeignetheitserklärung. Auch die Honoraranlage-Beratung haben wir gestärkt. Sie kämpfen beharrlich gegen die Provisionsberatung. Die Festlegung auf eine Beratungsform führt aber am Ende zu weniger Beratung. Lassen Sie doch den Verbrauchern die Wahl, auf welche Beratungsform sie zurückgreifen wollen! ({8}) Ich komme zum Ende. – Wir brauchen keine Finanzwende oder gar ein völlig neues Finanzsystem, wie es Die Linke möchte. Es gilt vielmehr, den bestehenden Regulierungsrahmen da, wo es nötig ist, fortzuentwickeln und an die neuen Herausforderungen anzupassen. Es ist ein Anliegen der Koalition, insbesondere kleinere Institute zu entlasten, soweit von ihnen geringere Risiken für die Finanzstabilität ausgehen. Es darf keine Regulierung um ihrer selbst willen geben. Es bleibt festzustellen: Die europäische Harmonisierung hat die Finanzmärkte transparenter und robuster gegen Krisen gemacht. Daran werden wir mit unserem Koalitionspartner weiter arbeiten. Wir werden wachsam bleiben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/4241 und 19/4052 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Enak Ferlemann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003525

Sehr geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung legt Ihnen hiermit einen Gesetzentwurf zur Beschleunigung von Planungsverfahren im Verkehrsbereich vor. Warum haben wir das gemacht? Deutschland ist Exportweltmeister. Mit einem Anteil an der Weltbevölkerung von knapp über 1 Prozent haben wir in diesem Land eine Wirtschaft aufgebaut, die ihresgleichen sucht. Wir sind das große Exportland in der Welt. Im Verhältnis zu unserer Bevölkerung produzieren wir eine Riesenwarenmenge und bringen sie über den Export in alle Welt, importieren dafür Rohstoffe oder Teilfertigprodukte. Zugleich sind wir auch Logistikweltmeister. Darauf sind wir besonders stolz. Das heißt, die logistischen Prozesse in Deutschland sind besonders gut organisiert, besonders effizient und besonders wirtschaftsnah. Aber dafür braucht man eine sehr gute und leistungsfähige Infrastruktur. Wir haben das sehr genau analysiert. Ich bin sehr dankbar, dass der Deutsche Bundestag in der vergangenen Legislaturperiode mit einer übergroßen Mehrheit festgestellt hat, dass die Analysen richtig sind, die wir dazu gemacht haben, wie sich die globalen Warenströme entwickeln werden, wie sich die Handelsströme entwickeln werden und daraus folgend: Was brauchen wir an Verkehrsinfrastruktur, um dieses Volumen abwickeln zu können? Wir haben dann einen darauf fußenden Bundesverkehrswegeplan vorgelegt, der die Antworten auf genau die Fragen gibt: Was müssen wir investieren in die Wasserstraßen, in die Schienenwege, in die Straßen? Wie schaut es mit dem Luftverkehr aus? Welche anderen Infrastrukturen brauchen wir in diesem Land? – Nachdem Sie diesen Plan sozusagen bewilligt haben, indem Sie Ausbaugesetze dazu beschlossen haben, haben wir gesagt: Jetzt brauchen wir ausreichend Geld, um diese Maßnahmen auch umsetzen zu können. – Dazu hat der Deutsche Bundestag in einer, wie ich finde, einmaligen Aktion, festgelegt: 270 Milliarden Euro darf das Bundesverkehrsministerium bis zum Jahr 2030 ausgeben, um all die Maßnahmen, die dort enumerativ aufgelistet sind, umsetzen zu können. Man kann also sagen: Wir haben einen sehr guten Plan, und wir haben ausreichend Geld. Dann sind wir auf das nächste Problem gestoßen, nämlich dass wir gar nicht genug Planer haben, die das umsetzen können, und dass die Planverfahren in Deutschland viel zu kompliziert sind, viel zu komplex geworden sind, um diese Maßnahmen zeitnah umsetzen zu können. Deswegen haben wir uns Gedanken gemacht, wie wir im bestehenden System die Planungen beschleunigen können. Das Ergebnis sehen Sie heute an dem, was wir Ihnen vorgelegt haben. Nun muss man zugeben: Das beinhaltet das, was wir im bestehenden Rechtssystem machen konnten. Wir haben eine sehr starke Fokussierung auf den Schienenbereich. Wir haben zum Beispiel die Konzentration auf das Eisenbahn-Bundesamt als Anhörbehörde – statt 37 Behörden, die derzeit in Deutschland dafür zuständig sind. Mit Blick auf die Planungsbeschleunigung insbesondere bei Schienenstrecken haben wir gesagt: Wir wollen nur noch eine Gerichtsinstanz, nur noch die Direktvorlage zum Bundesverwaltungsgericht. Auch das beschleunigt enorm. Enthalten ist auch, dass wir gern mehr Plangenehmigungen machen wollen. Wie Sie wissen: „Planfeststellungsverfahren“ ist in Deutschland zum Teil schon zum Unwort geworden: viel zu lang, viel zu kompliziert. Wir können mit der Plangenehmigung wesentlich schneller sein, vor allem wenn es um Ersatzneubauten geht. Auch das finden Sie in dem Gesetzentwurf wieder. Wir haben für mehr Transparenz gesorgt. Heute können und müssen alle Planungen ins Internet gestellt werden, sodass sich die Bürgerinnen und Bürger, die bei manchen Projekten durchaus kritisch sind, genau informieren können: In welchem Planungsstand befindet man sich? Wie weit sind die Planungsbehörden? Was kommt auf uns zu? Wo kann ich mich gegebenenfalls mit guten Vorschlägen zur Verbesserung beteiligen? ({0}) Es ist eine Fülle weiterer Punkte enthalten. All das wird dazu führen, dass wir wesentlich effizienter und effektiver planen können, um mit weniger Planern mehr auf die Straße, auf die Schiene oder auf die Wasserstraße bringen zu können. Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: Das wird nicht reichen. Da freue ich mich auf eine sehr intensive Beratung zu diesem Gesetz. Ich habe gesehen, dass der Verkehrsausschuss in dieser Woche bereits eine Anhörung beschlossen hat. Da werden wir sicher viele Vorschläge bekommen. Ob die rechtlich funktionieren oder nicht, wird dann eine Frage der Beurteilung nach den Anhörungen und der Beratung in den Ausschüssen sein. Ich glaube, dass wir mit diesem Gesetzentwurf eine gute Grundlage gelegt haben, mit der wir auch durch den Bundesrat kommen – dieses Gesetz ist im Bundesrat ja zustimmungsbedürftig –, sodass wir ab dem 1. Januar nächsten Jahres bei vielen Verfahren wirklich deutlich schneller sein können. Ich sage allerdings ganz ehrlich: Es ist nicht das Ende der Kette, und es ist auch noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Wir haben ein Gutachten in Auftrag gegeben zur Machbarkeit eines Maßnahmegesetzes. Es geht darum, dass wir eine Maßnahme direkt mit einem Gesetzgebungsverfahren machen können – sehr ähnlich wie unsere Kollegen in Dänemark das machen, die hier durchaus ein Vorbild sind, die relativ schnell, relativ transparent, aber auch relativ gut Planverfahren durchziehen können, und zwar in einer viel kürzeren Zeit, als wir das in Deutschland gewohnt sind, ohne Abbau von irgendwelchen Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechten. Wir werden uns genau ansehen müssen, ob wir nicht auch im Umweltbereich – der ist in diesem Gesetz nicht angesprochen – einige Verbesserungsmaßnahmen durchführen können. Was wir bei vielen Maßnahmen feststellen, ist ja, dass es Umweltschützer gibt, die sich wirklich engagiert für die Natur und die Landschaft einsetzen. Und jede Infrastrukturmaßnahme greift ja in Natur und Landschaft ein. Das ist gut und das ist richtig so. Es muss eine Lobby für die Umwelt in Deutschland geben. ({1}) Das begrüßen wir außerordentlich. Wenn aber von Gegnern des Projektes der Umweltschutz nicht in erster Linie zum Schutz der Umwelt genutzt wird, sondern um das Projekt zu verhindern, dann stimmt etwas im System nicht. Dann müssen wir die Umweltbelange wieder auf das notwendige Maß zurückführen, aber das Verfahren so gestalten, dass man die Umweltpolitik nicht dazu nutzen kann, das Verfahren auszuhebeln. Wir werden uns die Dinge genau angucken: mit Blick auf die Wasserrahmenrichtlinie, die Beteiligungen im Umweltbereich, die Durchgriffsmöglichkeit des Umweltrechtes, den Artenschutz und all die Fragen, mit denen wir uns tagtäglich beschäftigen. Es kann nicht richtig sein, dass Verkehrsplaner zu Hobbyornithologen werden und dass eine Strecke nicht mehr gebaut werden kann, nur weil ein bestimmter Vogel gefunden wird. Dann muss man Lösungen finden, wie man der Natur zu ihrem Recht verhilft, aber gleichzeitig Infrastruktur schaffen kann. Die Antworten auf diese Fragen gibt dieser Gesetzentwurf logischerweise noch nicht. Es wird eine weitere intensive Beratung geben. Ich glaube, dass das bei den Anhörungen deutlich rauskommen wird. Wir werden Vorschläge machen, wie wir mit Maßnahmegesetzen bestimmte Projekte direkt im Deutschen Bundestag behandeln und beraten können, um noch schneller große Projekte in der Infrastruktur durchzubekommen. Aber für den heutigen Tag ist dies erst mal ein erster guter Aufschlag, ein guter Anfang, um die guten Planungen, die guten Ideen, die wir haben, das viele Geld, das wir von Ihnen bekommen haben, möglichst effizient und schnell umsetzen zu können. Deswegen bitte ich um intensive Beratung und Unterstützung zu diesem Gesetzentwurf. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Kollege Leif-Erik Holm. ({0})

Leif Erik Holm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004761, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Liebe Bürger! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema Planungsbeschleunigung klingt erst mal tatsächlich nicht besonders sexy. Aber es ist eben ein wichtiger Baustein dafür, dass wir beim Ausbau unserer Infrastruktur wirklich Fahrt aufnehmen. Im Moment sind wir ja leider im Schneckentempo unterwegs. Immerhin: Die Bundesregierung hat das jetzt auch erkannt, aber – um im Bild zu bleiben –: Mit Ihrem Gesetzentwurf schalten Sie nicht den Turbo zu, sondern maximal in den zweiten Gang. Herr Ferlemann, Sie haben das ja im Prinzip angedeutet. Es ist sinnvoll, klar, wenn zeitraubende Doppelprüfungen vermieden und Planungsverfahren gebündelt werden. Es ist gut, wenn mit vorbereitenden Baumaßnahmen frühzeitig begonnen werden kann und die Verfahren effizienter werden. Und es ist zu begrüßen, wenn die Klagewellen zumindest etwas eingedämmt werden. Aber das Problem liegt hier im Wort „etwas“. Es wird eben nicht ausreichen, um eine entscheidende Beschleunigung der Verfahren zu erreichen. Aber die brauchen wir, um wirklich voranzukommen. Es kann nicht sein, dass wir in diesem Land Jahrzehnte für wichtige Verkehrsvorhaben brauchen. Nehmen wir beispielsweise das Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nummer 1, die Bahnausbaustrecke von Lübeck und Hagenow Land über Rostock nach Stralsund. Daran werkeln wir jetzt seit 28 Jahren. Es ist toll, dass die Strecke zu den Projekten gehören soll, bei denen das Bundesverwaltungsgericht erstinstanzlich zuständig wäre; aber das kommt ein bisschen spät. Oder nehmen wir die A 7, unsere längste Nord-Süd-Autobahn. Das letzte Stück bei Füssen hat von der Planung bis zur Vollendung des Baus fast 30 Jahre in Anspruch genommen. Man könnte sagen: Bis so eine Strecke in Betrieb geht, sind die ersten Planer schon weggestorben. Das ist, glaube ich, nicht richtig. ({0}) Die Ausweitung der erstinstanzlichen Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts wird nicht ausreichen. Zwar sollen drei neue Richterstellen geschaffen werden, aber das Problem der Klageflut und der überlangen Prozesse wird damit eben einfach nur verlagert. Der Flaschenhals bleibt. Sie werden das Problem damit nicht lösen können. Es wäre eigentlich gar nicht so schwer. Die Bundesregierung könnte zum Beispiel auf den Rat der Experten hören. Das Innovationsforum Planungsbeschleunigung hat ja gute Vorschläge geliefert. Ich kann die Lektüre des Berichts nur wärmstens empfehlen. Schaffen Sie also endlich wirksame Regelungen zur Präklusion. Vor allem: Schränken Sie das Verbandsklagerecht ein – oder besser noch: Schaffen Sie es ab. Es sind die Verbandsklagen, die oft missbraucht werden, um Bauvorhaben lahmzulegen. ({1}) Ein Blick über die Ländergrenzen kann helfen. Andere sind eben deutlich schneller und effizienter. Dänemark ist von Herrn Ferlemann angesprochen worden; das ist genau das richtige Beispiel. Dort läuft es. Großprojekte wie die Fehmarnbelt-Querung liegen im Zeit- und Kostenrahmen – und das, obwohl Dänemark unter der gleichen Knute der überbordenden EU-Regelungen steht. Wir dagegen bekommen es nach wie vor nicht auf die Reihe. Wir müssen ja nur die Verkehrsanbindung zu diesem Tunnel bauen, den die Dänen selber finanzieren und bauen. Aber wir hängen schon jetzt meilenweit hinterher. Das darf nicht sein in einem Land, das früher für seine exzellente Infrastruktur bekannt war. Wir dürfen hier nicht weiter zurückfallen in Europa. ({2}) Ein paar Zahlen dazu. In Dänemark liegen zum Bau der Fehmarnbelt-Querung 36 Einsprüche vor, in Deutschland sind es 12 400. Genau da müssen wir ran; da bremst es. Was macht die dänische Regierung besser als die Merkel-Truppe? Die Bürger werden sehr frühzeitig und unbürokratisch einbezogen, Planungen werden dort gegebenenfalls schon dann angepasst. So wird Akzeptanz geschaffen. Die Genehmigungs- und Planungsverfahren sind wesentlich schlanker als bei uns, und sie laufen komplett digital – das, was bei uns noch Neuland ist. Am Ende gießt das Folketing, das Parlament vor Ort, das Ganze in Gesetzesform. Das schafft Verlässlichkeit und sichert eine zügige Abwicklung. So kann es gehen, und daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen. ({3}) Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf greift zu kurz. Er wird die Kardinalfehler in den Planungsverfahren lindern, aber nicht wirklich beheben können. Wir wünschen uns deutlich mehr Mut, damit unsere Bürger und Unternehmen schneller aus dem Stau kommen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Kirsten Lühmann. ({0})

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Sehr verehrte Anwesende! In meinem Wahlkreis soll es in der Weimarer Zeit zum ersten Mal die Überlegung einer Ortsumfahrung um Celle gegeben haben. Das ist nun nicht die durchschnittliche Dauer eines Planungsprozesses. Aber als wir dann angefangen haben, das Ganze zu verwirklichen, ergab sich nach zwei Bauabschnitten, dass wir den Schwerlastverkehr durch eine historische Innenstadt leiten mussten, die auch noch stark von Familien bewohnt ist, sodass das Ganze hakte. Wir dachten, es sind wenige Jahre erforderlich, aber wir sind inzwischen bei über zehn Jahren Planung angekommen, ohne dass es eine Ausschreibung gibt. Sie alle kennen diese Beispiele aus Ihren Wahlkreisen. Wir brauchen dringend eine Beschleunigung der Planungsverfahren, aber mit rechtzeitiger Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen und unter Berücksichtigung der Belange der Umwelt. Nur dann wird das Ganze zum Erfolg führen. ({0}) Unsere Verfahren sollen nicht schlechter oder ungenauer werden, sondern schneller. Darum haben wir in diesem Gesetzentwurf die Verkürzung des Rechtsweges auf die Projekte beschränkt, wo das Ganze verhältnismäßig ist; denn nicht umsonst ist die Rechtsweggarantie ein sehr hohes Gut in unserer Verfassung. Auch die Möglichkeit der Verbandsklage haben wir erhalten. Sie ist sogar sehr wichtig, weil es Belange gibt, die von einem Einzelnen, einer Einzelnen überhaupt nicht vernünftig dargelegt werden können. Wir brauchen die Verbände, damit sie uns auf einige Dinge aufmerksam machen, die sonst bei der Planung überhaupt keine Berücksichtigung finden würden. Aber es gibt zwei Dinge, die wir außerhalb dieses Gesetzes noch deutlich verändern sollten. Zum einen – das geht an die Länder – brauchen wir mehr Kapazitäten an den Gerichten, sodass, wenn Menschen ihr Recht wahrnehmen, die Verfahren nicht mehr jahrelang dauern, sondern deutlich verkürzt werden. Zum anderen müssen wir als Bund bei der Planung besser werden. Wir haben die Infrastrukturgesellschaft gegründet, um hier deutlich voranzukommen. Wir wollen – das wurde schon angesprochen – eine Anhörung machen. In dieser Anhörung haben wir die Chance, einige Dinge, die vielleicht das ein oder andere Verfahren noch kürzer, noch besser machen können, mit den Fachleuten zu erörtern. Ich spreche hier nur zwei Fragen an. Die eine lautet: Nach welchen Grundlagen werde ich das Ganze vor Gericht schließlich bewerten? Es geht also um den Stand von Wissenschaft und Technik. Wann legen wir ihn fest? Wonach richten wir uns da? Die zweite Frage lautet: Können wir nicht Raumordnung und Planfeststellung zusammenlegen? Das würde uns einen deutlichen Schritt nach vorne bringen. Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, lassen Sie uns das mit den Fachleuten diskutieren, damit unsere Infrastruktur schneller besser wird. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner: der Kollege Torsten Herbst, FDP-Fraktion. ({0})

Torsten Herbst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004746, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In einem Punkt gebe ich dem Bundesverkehrsministerium ausdrücklich recht: Wir bauen viel zu langsam und oft zu teuer. Das müssen wir dringend ändern. ({0}) Wenn wir mittlerweile über zehn Jahre für die Planung von 2 Kilometern Radweg entlang der Elbe in meiner Heimatstadt Dresden brauchen, wenn wir über 20 Jahre für einen 5 Kilometer langen Lückenschluss bei der B 178 in der sächsischen Lausitz brauchen und wenn wir vermutlich über 40 Jahre für den Lückenschluss auf der A 14 zwischen Magdeburg und Schwerin brauchen, dann ist das eine Bankrotterklärung für ein entwickeltes Industrieland. ({1}) Auch wenn die Grünen da immer protestieren: Wir wollen, dass Bauen schneller geht. Beispiele wie die, die ich aufgezählt habe, kennt wahrscheinlich jeder aus seiner Region und seinem Wahlkreis. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ohne Frage ein Anfang; auch wir meinen allerdings: ein unzureichender. Wer Planung und Bau wirklich beschleunigen will, der muss dabei auch die Handbremse lösen. ({2}) Ich will nur einige Punkte nennen, um die es uns geht. Warum beschränkt man beispielsweise bei der Planfeststellung mögliche Einsprüche nicht auf den Bereich, den es betrifft, um nicht das gesamte Verfahren zu blockieren? Warum integrieren wir Raumordnungsfragen nicht gleich in das Planfeststellungsverfahren? Warum – das wurde angesprochen – sorgen wir nicht dafür, dass es für einzelne Großprojekte gleich ein Planungsgesetz gibt, wo beispielsweise die Trassenführung vom Gesetzgeber beschlossen wird? Warum schaffen wir es nicht, bei Ersatzneubauten, wie beim Ersatz einer alten Brücke, ein wirklich einfaches Verfahren zu finden? ({3}) Und warum bekommen wir es nicht hin, die Bürgerbeteiligung, die wir durchaus wollen, früher stattfinden zu lassen? Wir müssen aber auch die Behörden dahin bekommen, aktiv zu kommunizieren – das fehlt nämlich oft –, und zwar in einer Art und Weise, dass es die Bürger auch verstehen, und nicht nur in Fachchinesisch. Das scheint mir dringend geboten. ({4}) Es gibt auch andere Themen, die man diskutieren kann. Wenn ich mir allein den Katalog der geschützten Arten anschaue, stellt sich die Frage: Ist das Umweltrecht auf EU-Ebene noch zeitgemäß? Sind unsere Baustandards eigentlich noch zeitgemäß? Warum bauen wir in Teilen so viel teurer als unsere Nachbarländer? Wie sieht es mit der personellen Ausstattung der Behörden aus? Ich glaube, niemand hier im Haus – und das schließt uns ein – will einen rücksichtslosen Straßenbau à la China, wo jemand was anordnet und am nächsten Tag der Bagger durch den Vorgarten rollt. Aber, meine Damen und Herren, wir müssen uns schon fragen: Warum gelingt es anderen EU-Ländern mit demselben Rechtsrahmen, auf europäischer Ebene so viel schneller zu bauen als wir? Da müssen wir etwas besser machen. ({5}) Ich finde, wenn allein der bloße Verdacht auf eine Fledermaus, auf einen Juchtenkäfer oder auf eine Zaun­eidechse dazu führt, dass wirklich notwendige Verkehrs­projekte um Jahre, teilweise sogar um ein Jahrzehnt verzögert oder verhindert werden, dann ist das niemandem mehr zu erklären, meine Damen und Herren. ({6}) Wir wollen ein mobiles Land, und wir sind eine Industrienation, die darauf angewiesen ist, eine leistungsfähige Infrastruktur zu haben. Ich hoffe, dass bei der weiteren Behandlung des Gesetzentwurfes noch einige Bremsen im Planungsrecht entfernt werden, sodass die Beschleunigung nicht nur im Titel des Gesetzes und auf dem Papier steht, sondern tatsächlich in der Praxis ankommt. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Sabine Leidig. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Die Bundesregierung bringt heute einen Gesetzentwurf zur Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren im Verkehrsbereich ins Parlament ein. Dazu eine Vorbemerkung: Wir setzen uns seit Jahren dafür ein, dass besser geplant wird und dass Bürgerinnen und Bürger besser beteiligt werden an der längst überfälligen Verkehrswende. Es ist widersinnig, heute noch mehr Autobahnen zu bauen; der umweltschädliche Straßenverkehr muss ja reduziert werden. ({0}) Die Alternative, den sinnvollen Ausbau von Schiene und Wasserstraßen, unterstützen wir natürlich nach Kräften. Das aber wird mit diesem Gesetzentwurf genau nicht gelingen. Im Gegenteil: Sie wollen die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern und von Umweltverbänden einschränken; aber das ist genau der falsche Weg. Seit 1990 sind demokratische Beteiligungsrechte beim Bau von Verkehrsprojekten und Industrieanlagen abgebaut worden – hinter dem Rücken der Öffentlichkeit. Aber vor ziemlich genau acht Jahren, am Schwarzen Donnerstag, wurde im Stuttgarter Schlossgarten eine friedliche Demonstration gegen Stuttgart 21 mit Polizeigewalt niedergeschlagen, und damit kam das Thema auf den Tisch. Das Grundproblem, das dahintersteckt, ist, dass Vorschläge und Einwände überhaupt erst am Ende vom Planungsverfahren eingebracht werden können, dann, wenn über das Ob einer Maßnahme gar nicht mehr entschieden werden kann. Damals war das Problem so offensichtlich, dass selbst die Bundeskanzlerin Frau Merkel gesagt hat, dass es mehr Bürgerbeteiligung geben muss. Ein Gesetzentwurf der Regierung aus Union und FDP, der damals vorlag und der weniger Beteiligung vorsah, ist 2011 gestoppt worden. Jetzt ein neuer Anlauf, dieses Mal mit Beteiligung der SPD? Ich hoffe, nicht. ({1}) Was steht denn drin in dem Entwurf? Es soll eine vorläufige Anordnung geben für Teilmaßnahmen, ohne ordentliches Planfeststellungsverfahren. Sogar der Erörterungstermin steht infrage. Sie wollen Fakten schaffen, bevor die Öffentlichkeit überhaupt von den Plänen erfährt. Sie wollen private Projektmanager einsetzen, bei denen man gar nicht weiß, welche Abhängigkeiten da bestehen. Sie wollen den Rechtsweg beschneiden und Klagen generell nur vor dem Bundesverwaltungsgericht zulassen. Und Sie wollen verhindern, dass die Belastung durch Verkehrslärm erneut überprüft wird, wenn Jahre nach Beginn der Planung der Bau anfängt und in Wirklichkeit längst viel mehr Verkehr rollt. Das geht überhaupt nicht. Die Bürgerinnen und Bürger müssen ihre Rechte wahrnehmen können und ihren Schutz bekommen. ({2}) Sie haben die Vertreter von Bauherren und Bauunternehmen zusammengeholt und nennen das „Innovationsforum Planungsbeschleunigung“. Daran ist überhaupt nichts neu. Die Naturschutzverbände sind ausgestiegen, weil es eine Mogelpackung ist; Bürgerinitiativen wurden überhaupt nicht einbezogen. Sie haben gar keine Analyse vorgelegt, was eigentlich wirklich die konkreten Hindernisse für die gute Fertigstellung von Infrastrukturprojekten sind. Vielleicht klemmt es ja bei den Planungs- und Beratungskapazitäten in den Ämtern und Behörden, vielleicht fehlt es an qualifizierten Planerinnen und Ingenieuren. Wir wissen, dass Projekte – und das gilt nicht nur für den BER – auch an Fehlplanungen scheitern oder am Chaos von Sub- und Sub-Sub- und Sub-Sub-Sub-Unternehmen und letztlich auch an fehlenden Arbeitskräften und an schlechten Arbeitsbedingungen bei Bauunternehmen. Daran muss man doch was ändern. ({3}) Es gibt keine einzige Untersuchung, die belegt, dass weniger Demokratie zu besseren Ergebnissen führt, auch nicht bei Verkehrsinfrastruktur – im Gegenteil. Unser Nachbarland Schweiz, um mal ein anderes Land in den Blick zu nehmen, steht bei den Infrastrukturprojekten deutlich besser da als wir: weniger Kostensteigerung, ziemlich genau im Zeitplan; das gilt nicht nur für den Gotthard-Basistunnel. Wir alle wissen, dass es in keinem anderen Land Europas so viel Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie gibt wie in der Schweiz. Das müsste doch unser Vorbild sein. ({4}) Der alte Hut, den Sie hier auf 40 Seiten auswälzen, bedeutet keinen Abbau von Bürokratie, sondern einen Abbau von Demokratie. Ich finde, das darf dieses Parlament nicht zulassen. Danke. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: Stephan Kühn, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Immer wieder wird behauptet – so natürlich auch in dieser Debatte –: Die Klagen von Umweltverbänden verzögern Infrastrukturprojekte. Das ist falsch. ({0}) Der Sachverständigenrat der Bundesregierung für Umweltfragen kommt in einer Studie zu dem Ergebnis, dass Verbandsklagen nur in sehr geringem Umfang eingesetzt werden. Zwischen 2013 und 2016 gab es in Deutschland bei mehreren Hundert Verfahren lediglich 35 Klagen pro Jahr. Die hohe Erfolgsquote dieser Verbandsklagen von 50 Prozent zeigt nach Ansicht des Sachverständigenrates für Umweltfragen, dass die Umweltverbände die Planungsverfahren nicht verzögern, sondern mit ihren Klagen wichtige Umwelt- und Naturschutzaspekte bei den Planungen durchsetzen. ({1}) Was sind nun die wirklichen Gründe, warum sich Planungen von Verkehrsprojekten verzögern? Erstens. Die Bürgerinnen und Bürger werden nicht oder erst spät an den Verfahren beteiligt, oft erst, nachdem die Grundsatzentscheidungen bereits gefallen sind. Das erhöht nicht die Akzeptanz, sondern es erhöht das Risiko von Widerständen und Klagen. Zweitens. Die Planungs- und Genehmigungsbehörden sind nicht ausreichend ausgestattet; jahrelang wurde Personal abgebaut. Wenn man das Eisenbahn-Bundesamt nicht nur zur Genehmigungs- und Anhörungsbehörde machen will, dann braucht auch das Eisenbahn-Bundesamt mehr Personal, Herr Ferlemann, sonst funktioniert die Sache nicht. ({2}) Drittens. Auch Gerichte auf verschiedenen Ebenen sind nicht ausreichend mit Personal ausgestattet. Komplexe Verfahren werden nicht zeitnah bearbeitet, wenn nicht mehr Personal zur Verfügung gestellt wird. Viertens. Eine weitere Ursache für Planungsverzögerungen sind Mängel in der Zusammenarbeit von Planungsbehörden mit Naturschutz- und Umweltverbänden. Die Expertise der Verbände wird, wenn überhaupt, nur am Rande einbezogen. Packt dieser Gesetzentwurf die eigentlichen Probleme an? Nein. So soll jetzt bei Vorhaben, bei denen eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt werden muss, künftig auf Erörterungen verzichtet werden. ({3}) Der Verzicht auf Erörterungen wird Planungen aber nicht beschleunigen. Erörterungstermine sind wichtige Bestandteile effektiver Öffentlichkeitsbeteiligung. ({4}) Ohne rechtskräftiges Baurecht soll es künftig bereits vorbereitende Maßnahmen wie Waldrodungen geben können. Meine Damen und Herren, damit werden Tatsachen geschaffen und statt auf Dialog auf Konfrontation gesetzt. So schafft man weder Akzeptanz noch Rechtssicherheit für Infrastrukturvorhaben. ({5}) Was mich vor allen Dingen wundert, ist, dass die Bundesregierung viele gute Vorschläge der schon zitierten Expertenkommission Innovationsforum Planungsbeschleunigung überhaupt nicht aufgreift. So wird mit dem Gesetzentwurf beispielsweise die Planung von Ersatzneubauten, insbesondere Brücken, nicht beschleunigt. Dabei haben wir hier erheblichen Investitionsbedarf. Auch der öffentliche Nahverkehr spielt überhaupt keine Rolle in diesem Planungsbeschleunigungsgesetz. Die Planung und die Genehmigung von städtischer Infrastruktur für Busse und Bahnen tauchen in diesem Gesetzentwurf nicht auf. Dabei brauchen wir für den Ausbau der Infrastruktur mit Blick auf die Verkehrswende und mit Blick auf das Erreichen der Klimaschutzziele endlich auch da eine Beschleunigung. Nichts davon steht in diesem Gesetzentwurf. ({6}) Was ist nun zu tun? Wir brauchen eine neue Planungskultur. Es braucht eine verbindliche, umfassende und frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung und eine Prüfung von möglichen Alternativen. Das Bundesverkehrsministerium hat bereits 2012 das „Handbuch für eine gute Bürgerbeteiligung – Planung von Großvorhaben im Verkehrssektor“ veröffentlicht. Das ist ein gutes Werk; es gibt nur keine verbindlichen Empfehlungen, die Maßnahmen, die in diesem Werk beschrieben werden, umzusetzen. Frühzeitige Bürgerbeteiligung bleibt für die Behörden weiter fakultativ, und das muss sich ändern; ({7}) denn gute Bürgerbeteiligung verbessert die Planung und schafft Akzeptanz für Verkehrsprojekte, und darauf kommt es an. Als erstes Bundesland hat Baden-Württemberg die Verwaltungen der Regierungspräsidien sowie der Land- und Stadtkreise innerhalb der bestehenden Rechtslage zur frühzeitigen Öffentlichkeitsbeteiligung verpflichtet. Genau das ist der richtige Weg, meine Damen und Herren. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme jetzt zum Ende. Die Beschleunigung von Planungen auf Kosten von Umwelt- und Naturschutz lehnen wir klar ab. Auch hier hat das Innovationsforum Planungsbeschleunigung den richtigen Weg aufgezeigt. Zielführend ist eine Wissensplattform zum Umweltschutz. Für Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen sollten verbindliche Standards vereinbart werden. Hierbei kann auf die Expertise der Natur- und Umweltschutzverbände zurückgegriffen werden. Meine Damen und Herren, für eine neue Planungskultur braucht es Kooperation statt Konfrontation. Dann kommen wir alle schneller zum Ziel. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: der Kollege Dr. Christoph Ploß, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei politischen und gesellschaftlichen Debatten merken wir im Moment alle: Wir erleben immer mehr Polarisierung, und wir erleben, dass Menschen hinterfragen, ob unser politisches System noch in der Lage ist, den künftigen Herausforderungen begegnen zu können. Immer häufiger hört man, dass Bürger unseres Landes sogar autoritäre politische Systeme attraktiv finden und Zweifel an demokratischen Strukturen äußern. Besonders häufig hört man das im Zusammenhang mit wichtigen Infrastrukturprojekten, die aus Sicht vieler Bürger viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen – sowohl in der Planung als auch in der Umsetzung. Während in China oder der Türkei in kürzester Zeit geplant und gebaut wird, dauert das bei uns häufig Jahrzehnte. ({0}) Für die Unionsfraktion – da will ich gerne gleich auf Ihren Zwischenruf eingehen – ist natürlich nicht nur mit Blick auf die Geschichte unseres Landes vollkommen klar, dass autoritäre Ansätze nicht die Lösung für unsere politischen Probleme sein können und einen Irrweg bedeuten. ({1}) Natürlich wollen auch wir kein Planungsrecht wie in China oder in anderen autoritären Staaten; das ist doch vollkommen klar. ({2}) Aber wir müssen doch selbstkritisch festhalten, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass unser derzeitiges Planungsrecht den Ansprüchen einer bedeutenden Wirtschaftsnation wie Deutschland nicht genügen kann; darum geht es doch. ({3}) – Wenn Sie da empört reinrufen, nenne ich Ihnen mal drei, vier Beispiele. Elbvertiefung in meiner Heimatstadt Hamburg: Beginn der Planung 2002, Fertigstellung vermutlich und hoffentlich im Jahr 2020 – vorausgesetzt, die nächste Klage der Umweltverbände hat nicht wieder Erfolg. Berliner Flughafen: Beginn der Planung 1992, Fertigstellung vermutlich 2020, aber auch das wissen wir nicht; das ist noch offen. ({4}) Bahnstrecke Berlin–München: Beginn der Planung 1991, Fertigstellung Ende des letzten Jahres. Man könnte auch Stuttgart 21 nennen; es gibt viele Beispiele in unserem Land.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jetzt nicht. Das geht nachher als Kurzintervention. – Meine Damen und Herren, wir sind das wirtschaftlich stärkste Land Europas. Wir sind die Industrienation; wir sind die Exportnation, das Land der Hidden Champions. Aber wir werden wirtschaftlich nur erfolgreich bleiben und den technologischen Wandel anführen, wenn wir über eine leistungsfähige und gut ausgebaute Verkehrsinfrastruktur verfügen. ({0}) Meine Damen und Herren, im November dieses Jahres werden wir den größten Investitionshaushalt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hier im Deutschen Bundestag beschließen. Wir stellen in den kommenden Jahren – das hat der Staatssekretär Ferlemann eben ausgeführt – für die Straßen, Schienen, Brücken und Wasserwege Rekordmittel zur Verfügung, damit unsere Verkehrswege saniert, ausgebaut oder neugebaut werden können. Aber vor der Vollendung zahlreicher Maßnahmen steht das Planungs- und Genehmigungsrecht für diese Bauvorhaben. In den letzten Jahren ist deutlich geworden: Rekordmittel bedeuten keine Rekordzeiten für den Baubeginn oder bei den Planungen. Nicht nur im weltweiten, sondern auch im europäischen Vergleich nehmen Planungs- und Genehmigungsverfahren in Deutschland überdurchschnittlich viel Zeit in Anspruch. Einer der Gründe – auch das hat der Staatssekretär Ferlemann vollkommen zu Recht dargelegt – liegt in der wachsenden Zahl geltender bautechnischer und umweltrechtlicher Vorgaben. Einen sehr großen Aufwand für die Verwaltungen stellen die naturschutzrechtlichen Prüfungen dar. Vieles war und ist sicherlich gut gemeint; gar keine Frage. Aber das bedeutet, dass wir kaum mehr etwas vernünftig planen und am Ende bauen können. Deswegen ist für uns, die Union, vollkommen klar: Wir brauchen zukünftig mehr Tempo bei Infrastrukturvorhaben durch ein Planungs- und Baubeschleunigungsgesetz. Was wir bei der Elbvertiefung, bei Stuttgart 21, beim Berliner Flughafen und bei vielen anderen Infrastrukturprojekten erlebt haben, darf sich in Zukunft nicht wiederholen. Deswegen müssen wir die genannten Punkte im Deutschen Bundestag angehen. Das wird nur gelingen, wenn wir die Abläufe im Bau- und Planungsrecht verkürzen und gleichzeitig die frühzeitige Einbindung von Bürger­interessen gewährleisten, ausreichend Planungspersonal in den Behörden einsetzen und die Vorteile der Digitalisierung nutzen. Daher bitte ich Sie: Unterstützen Sie dieses Planungs- und Beschleunigungsgesetz hier im Deutschen Bundestag! Bringen Sie sich konstruktiv in die Beratungen ein! Lassen Sie uns dieses wichtige Gesetz zeitnah verabschieden! Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Stefan Gelbhaar, Bündnis 90/Die Grünen.

Stefan Gelbhaar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004726, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Kollege! Sehr geehrter Herr Präsident! Ich melde mich zu Wort, um eine Nachfrage zu stellen bzw. eine Anmerkung zu machen. Der Kollege Kühn hatte vorhin ausgeführt, dass in vielen Fällen Klagen von Umweltverbänden eben gerade nicht zu Verzögerungen führen. Sie meinten jetzt, das wäre anders, und führten dazu Beispiele an, zum Beispiel Stuttgart 21 und den Berliner Flughafen. Ich möchte mich auf den Berliner Flughafen konzentrieren und Sie bitten, mir noch mal zu erläutern, wo da durch das Planungsverfahren Verzögerungen entstanden sind, insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Flughafen ja schon 2012 baufertig sein sollte und seitdem gar keine Planungsverfahren mehr anhängig sind. Ich würde Sie einfach bitten, hier vor allem noch mal darzustellen, welche Umweltverbände da noch geklagt haben sollen etc. pp. Das würde mich interessieren. Nicht, dass wir hier mit Fake News arbeiten! ({0})

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich habe das eher allgemein formuliert. ({0}) Das können Sie sich gern gleich auch noch mal anhören. Ich hatte ja auch das Beispiel Elbvertiefung genannt. Dieses Beispiel aus meiner Heimatstadt Hamburg steht, glaube ich, in Deutschland par excellence dafür, dass Umweltverbände natürlich auch wichtige Infrastrukturprojekte in unserem Land um Jahre oder Jahrzehnte verzögern können. ({1}) – Liebe Kollegen von den Grünen, ich habe Ihnen doch eben zugehört. Sie haben mich um eine Antwort gebeten. Ich versuche, Ihnen diese Antwort zu geben. Wenn Sie sofort wieder reinrufen, sobald nur ein Wort gefallen ist, wird das Ganze schwierig, und Sie können meiner Argumentation nicht folgen. Ich habe Ihnen zugehört. Ich glaube, das gebietet der Respekt, dass auch Sie mir zuhören. ({2}) Wie gesagt, nehmen Sie das Beispiel Elbvertiefung. Das war jetzt gar nicht auf den Berliner Flughafen bezogen. Da haben wir in der Tat ganz andere Probleme. Aber bei der Elbvertiefung haben die Klagen über Jahre und mittlerweile Jahrzehnte dieses wichtige Projekt für unser Land verzögert. Wir hoffen, dass wir es jetzt im Jahr 2020 fertigstellen können. Aber auch das ist noch nicht hundertprozentig sicher, wenn die nächste Klage der Umweltverbände Erfolg hat. Mein Plädoyer war, dass wir sagen: Wir müssen das Ganze wieder in ein rechtes Maß rücken. Natürlich haben die Umweltverbände eine Bedeutung in unserem Land, und wir wollen umweltrelevante Aspekte in die Planung einbeziehen. Aber vieles, was gut gemeint war – und was Sie hier sicherlich auch gut meinen –, hat teilweise dazu geführt, dass wir wichtige Infrastrukturprojekte in unserem Land nicht mehr angemessen planen und fertigstellen können. Darum ging es mir. Wenn wir das hier gemeinsam hinbekommen wollen, lade ich Sie gerne ein, in den nächsten Wochen bei den Beratungen mitzuwirken. Das wäre für unser Land eine großartige Sache. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich erteile das Wort dem Kollegen Mathias Stein von der SPD-Fraktion. ({0})

Mathias Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Gerade sind die Emotionen ja ein bisschen hochgekocht. Ich will einmal den Grundsatz nennen, den wir bisher für Planungen verwandt haben. Wir haben immer gesagt: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Ich kenne das aus meiner eigenen Tätigkeit. Ich habe lange bei der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung gearbeitet. Das war immer Maßgabe für unsere Genehmigungs- und Planungsverfahren. Aber leider dauert es manchmal dann tatsächlich Jahrzehnte, bis überhaupt die ersten Bagger rollen. Die Verfahren sind kompliziert, sie sind aufwendig. Die Planungsabteilungen bei Bund und Ländern bekommen die Projekte dadurch nicht schnell genug vom Tisch. Als Wirtschaftsstandort, als Technologieland, als zentrale Verkehrsachse in Europa können wir uns das nicht länger leisten. Es wäre gut, wenn wir da einen Konsens in diesem Haus herstellen können. ({0}) Wie haben wir uns in diese Lage hineingeritten? Es war nicht eine zentrale Entscheidung, es war auch nicht die Konfrontation mit den Umweltverbänden. Vielmehr waren es viele Einzelentscheidungen. Ich will drei davon nennen. Das Erste – es ist schon genannt worden –: Insbesondere seit den 1990er-Jahren sind in den Verwaltungen massiv Stellen eingespart worden. Wir haben die Verfahren komplexer gemacht. Insofern finde ich es schade – Herr Herbst unterhält sich jetzt gerade –, ({1}) dass die FDP diese Frage gar nicht angesprochen hat, weil ich sie für eine sehr zentrale halte. Da fehlen uns Menschen, da fehlt uns Personal. Wir müssen aufpassen, dass das nicht auch zukünftig eine Engstelle bleibt. ({2}) Das Zweite ist: Wir haben zu wenig in den Erhalt der Infrastruktur investiert. Die Daehre-Kommission, die Bodewig-Kommission haben das gesagt. Das müssen wir Stück für Stück auflösen. Ein dritter Punkt ist, glaube ich, ganz zentral: die Einstellung der Menschen gegenüber großen Infrastrukturvorhaben. Wir haben Stuttgart 21 angesprochen. Ich glaube, da müssen wir mehr bei der Bevölkerung werben, damit es eine positive Einstellung zu großen In­frastrukturmaßnahmen gibt. Die Dänen haben dazu eine sehr positive Einstellung, die Schweden haben dazu eine sehr positive Einstellung. Man muss auch sehr deutlich sagen, dass am Ende 58 Prozent der Bevölkerung Stuttgart 21 zugestimmt haben. Das müssen auch die Linken einmal zur Kenntnis nehmen. ({3}) Der vorliegende Gesetzentwurf wird nicht alle Herausforderungen der Planungsprozesse und erst recht nicht der Bauprozesse lösen können. Aber er ist ein erster wichtiger Schritt. Zentrale Schritte sind aus meiner Sicht zum Beispiel: Wir wollen es ermöglichen, dass bestimmte Maßnahmen auch im Vorwege getroffen werden. Da sind wir anderer Auffassung als die Grünen; denn ich glaube schon, dass wir dann erfolgreich sein können. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Elbkonzept gibt es zum Beispiel Naturschutzverbände, die sagen: Können wir nicht die naturschutzrechtlichen Maßnahmen vorziehen oder die Kampfmittelbeseitigung? ({4}) – Genau, das geht ja auch nur dann, wenn man das in einem angemessenen Verfahren macht. Ich glaube schon, dass wir uns in dieser Frage einigen können. Das Eisenbahn-Bundesamt ist angesprochen worden. Da sind wir uns mit den Grünen hundertprozentig einig, dass wir das auch ordentlich mit Personal ausstatten müssen, ({5}) dass wir da auch versuchen müssen, an den Schnittstellen das Know-how der Länder aufzugreifen. Letzter Punkt. Die Frage der Ersatzneubauten ist, glaube ich, eine ganz zentrale. Angesichts einer bröckelnden Infrastruktur müssen wir, glaube ich, nicht bei jedem Brückenbauprojekt ein extra Planfeststellungsverfahren machen und auch nicht unbedingt eine obligatorisch vorgeschriebene Öffentlichkeitsbeteiligung. Denn auch die Aarhus-Konvention sagt ausdrücklich, dass man bei diesen Maßnahmen nicht unbedingt eine Planfeststellung braucht, sondern auch eine Plangenehmigung machen kann. ({6}) Ich will noch drei Punkte nennen, an denen wir über den Gesetzentwurf hinaus arbeiten müssen. Da ist erstens das Stichwort „Bürgerbeteiligung“. Wir müssen versuchen, Bürgerbeteiligung so zu gestalten, dass wir große Bauvorhaben mit den Menschen planen und nicht gegen sie. Wir müssen zweitens versuchen, bei den Planungsverfahren das Raumordnungs- und das Planfeststellungsverfahren gemeinsam zu gestalten und mit der Bürgerbeteiligung zu koppeln. Drittens wäre es sinnvoll, dass wir mit Blick auf das Baugesetz tatsächlich auch noch einmal über Maßnahmegesetze sprechen, damit wir bei wichtigen großen Verkehrsprojekten von nationaler Bedeutung den Aushandlungsprozess gestalten können. Ich freue mich auf die Diskussion. Ich freue mich auf die Anhörung. Vielleicht bekommen wir es ja hin, dass wir über die Koalition hinaus für unseren Gesetzesvorschlag Zustimmung bekommen. Danke schön. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Bevor ich die Aussprache schließe, erteile ich der Kollegin Sabine Leidig das Wort zu einer Kurzintervention.

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich bei Ihnen zu bedanken, Kollege Stein, weil Sie so kenntnisreich aus Ihrem Erfahrungshintergrund gesprochen haben. Ich möchte aber auch die Gelegenheit nutzen, Sie bei einem Bereich, den Sie nicht aus eigener Erfahrung kennen, zu korrigieren. Sie haben gesagt, dass bei Stuttgart 21 die Bevölkerung über das Projekt abgestimmt hätte. Das ist nicht richtig. Die Volksabstimmung hat über die Frage stattgefunden, ob das Land Baden-Württemberg als Projektpartner aussteigt, zu einem Zeitpunkt, als die 4,5 Milliarden Euro noch als Kostenobergrenze festgestellt waren und in den Raum gestellt wurde, dass ansonsten 2 Milliarden Euro sozusagen für nichts verpulvert worden wären. Die Situation ist heute eine völlig andere. Ich wollte das nur richtigstellen. Also: Es wurde zu keinem Zeitpunkt über das Projekt als solches abgestimmt. Danke. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Müssen Sie dazu noch etwas sagen?

Mathias Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich glaube, das ist ein bisschen spitzfindig. ({0}) Wenn man sich die damaligen Auseinandersetzungen anschaut, dann muss man sagen: Natürlich ist in der Konsequenz für oder gegen Stuttgart 21 abgestimmt worden. Ich glaube, das ist an der Stelle etwas spitzfindig, weil diejenigen, die Stuttgart 21 nicht wollten, was ihr gutes Recht gewesen ist, dann versucht haben, das Projekt durch diese Abstimmung zu verhindern. Insofern glaube ich schon, dass es so ist. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gut, jetzt haben wir das auch geklärt. – Ich schließe dann die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/4459 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist erkennbar nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Karlheinz Busen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004690, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 4 Millionen Quadratmeter gerodeter Wald, 250 000 tote Fledermäuse, 12 000 erschlagene seltene Greifvögel: ({0}) Das ist ein kleiner Teil der jährlichen Bilanz der Windenergieanlagen im Wald. Und es wird nicht besser: Während 2010 bundesweit circa 40 Anlagen im Wald gebaut wurden, waren es 2016 schon über 800. Heute stehen ungefähr 2 000 Windenergieanlagen im Wald. Wenn es nach den Planungen einzelner Länder geht, werden es bald noch viel mehr sein. Hessen plant einem Bericht zufolge mehr als 2 300 neue Anlagen. Die dafür vorgesehenen Flächen liegen zu 80 Prozent in Wäldern. Dabei handelt es sich nicht um irgendwelche Wirtschaftswälder. Jahrhundertealte Bäume im Reinhardswald sollen der Windenergie weichen. Im Kaufunger Wald ({1}) sollen Windenergieanlagen sogar in streng geschützten FFH-Gebieten errichtet werden. ({2}) – Sie können es ja nachlesen. ({3}) Daran sehen wir, dass es den grünen Ideologen, die diese Schutzgebiete in Hessen für die Nutzung der Windkraft vorsehen, nicht um Ökologie geht, sondern einzig und allein um Geschenke für die Windlobby. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesem ideologisch begründeten Ausbau der Windenergieanlagen im Wald, der der Umwelt mehr schadet als nützt, muss endlich Einhalt geboten werden. ({5}) Für eine Technologie, die nichts, aber auch gar nichts zur sicheren Energieversorgung beiträgt, ({6}) dürfen wir unsere Wälder nicht opfern. ({7}) Vielfach stehen die Windräder sogar ohne einen Anschluss ans Stromnetz im Wald, weil der Ausbau nicht vorankommt. 1,4 Milliarden Euro wurden im vergangenen Jahr an die Energieversorger gezahlt für produzierten Strom, der nicht eingespeist wurde. Angesichts dessen ist es doch klar, dass die allgemeine Akzeptanz der Windkraft in der Bevölkerung schwindet, was auch weiterhin der Fall ist. ({8}) Leider brauchen wir als Brückentechnologie derzeit noch die Braunkohle, um Strom auch dann zu erzeugen, wenn der Wind nicht weht. ({9}) Dafür verlieren wir bedauerlicherweise einen Teil des Hambacher Forstes. Das steht aber in keinem Verhältnis zu den für Windenergieanlagen gerodeten Waldflächen. ({10}) Meine Damen und Herren, Windenergieanlagen im Wald stellen nicht nur für Tiere eine Gefahr dar, sondern für die gesamte Umwelt, auch für den Menschen. Die Dürre in diesem Jahr zeigt, wie brandanfällig Wälder sind. ({11}) Der kleinste technische Defekt an einem Windrad kann zur Katastrophe führen. Überall gelten in Sachen Brandschutz höchste Maßstäbe – ich erinnere nur an einen Flughafen, der nie fertig wird –; ausgerechnet bei den Windenergieanlagen im Wald wird diese Gefahr aber heruntergespielt. Das ist ein Unding. Und wenn eine Windkraftanlage havariert oder ihren Dienst erfüllt hat, bleiben die Fundamente mit mehr als 3 000 Kubikmetern Beton im Boden. ({12}) – Hören Sie gut zu. ({13}) Das Gleiche gilt für Straßen, die Fahrzeugen und Kränen mit bis zu 50 Tonnen standhalten müssen. ({14}) – Zeigen Sie mir etwas, das belegt, dass das nicht falsch ist. ({15}) Meine Damen und Herren, lassen Sie uns unsere Wälder vor grüner Ideologie bewahren. Ich bitte um Überweisung des Antrags. ({16})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Alois Gerig hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.

Alois Gerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004040, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! So ein bisschen überrascht bin ich schon über die FDP-Position und diesen Vortrag, Kollege Busen. Das ist ein bisschen eine verkehrte Welt. ({0}) Aber der Reihe nach. Der FDP-Antrag hat zwei Teile. Der erste Teil des Titels lautet: „Wälder schützen“. Das wollen wir, und das müssen wir tun. Das wissen wir alle. Ein Drittel der Fläche Deutschlands ist mit Wald bewachsen. Die Bundeswaldinventur zeigt uns, dass diese Fläche sogar ein wenig größer wird. ({1}) Es wächst mehr Holz nach, als wir entnehmen. Auch das ist eine Tatsache, die man an der Statistik ablesen kann. ({2}) Wald dient als Kohlenstoffsenke, Wald ist wichtiger Rohstofflieferant – das wird zukünftig noch wichtiger werden –, und Wald ist Erholungsraum für Fauna, Flora, aber insbesondere auch für uns Menschen. Ich sage Ihnen: Die Waldbesitzer haben angesichts des aktuellen Zustands des Walds ganz andere Sorgen, als dass sie sich um ein paar Windräder mehr oder weniger sorgen würden; darauf komme ich gleich noch einmal zurück. ({3}) Damit zum zweiten Teil des FDP-Antrags, der mit „Rodungen für die Windkraft stoppen“ überschrieben ist. Ja, natürlich, man kann grundsätzlich fragen, wie viele Windenergieanlagen wir insbesondere in den windschwächeren ländlichen Regionen tatsächlich brauchen, wie viele gebaut werden sollen. Diese Frage ist zumindest so lange berechtigt, wie noch keine bezahlbaren Speichermöglichkeiten zur Verfügung stehen. ({4}) Ich mache auch keinen Hehl daraus, dass ich persönlich ein eher distanziertes Verhältnis dazu habe. ({5}) Wir sollten unsere landschaftlich reizvollen ländlichen Regionen unbedingt für den Tourismus und als Naherholungsgebiete erhalten. Gleichzeitig müssen wir in der Bevölkerung Akzeptanz für Windenergieanlagen schaffen, um sicherzustellen, dass die Bevölkerung diese Anlagenstandorte genehmigt und mitträgt. Ökologisch gesehen, kann ein Windrad im Wald unter Umständen genauso nützlich, aber auch genauso schädlich sein wie ein Windrad auf einem Acker am Waldrand. Deshalb steht schon heute in den Genehmigungsverfahren, für die übrigens die Bundesländer zuständig sind, die naturschutzfachliche Prüfung ganz obenan. ({6}) Größere Waldrodungen, Schneisen und andere Beeinträchtigungen sollten selbstverständlich, wo immer möglich, vermieden werden. ({7}) Wir sollten uns noch mehr auf den Bau von Stromtrassen von Nord- nach Süddeutschland konzentrieren, um den deutlich kontinuierlicher fließenden Strom aus Offshorewindkraftanlagen in ganz Deutschland besser nutzen zu können. Dann brauchen wir auch die Debatten über den Zubau bei uns im Land nicht mehr in dem Maße zu führen. Abschließend noch ein paar Worte zur aktuellen Situation im deutschen Wald. Die Lage ist dramatisch, meine sehr verehrten Damen und Herren. Der Wald und die 2 Millionen Waldbesitzer brauchen unsere politische Hilfe. Ich bin froh darüber, dass Bundesministerin Julia Klöckner und Staatssekretär Fuchtel sich die Situation in den Wäldern bereits im August angesehen haben. Von den 500 Millionen Baumsetzlingen, die im Frühling 2018 ausgepflanzt worden sind, ist ein Großteil vertrocknet. Die Bäume insgesamt sind durch die große Trockenheit geschädigt und geschwächt, was dem Borkenkäfer breite Nahrung bietet. Die Bäume mussten schnell gefällt werden, was zu einem totalen Preisverfall am Holzmarkt geführt hat, zumal infolge des Sturmtiefs „Friederike“, das im Januar in Mitteldeutschland gewütet hat, immer noch 2 Millionen Festmeter Holz noch nicht vermarktet sind. Gut ist, dass sich die Agrarministerkonferenz gestern um das Thema gekümmert hat. Fazit meiner Rede: Wir lehnen den pauschalen Antrag der FDP ab. Wir sollten uns gemeinsam intensiv um das kümmern, was wirklich wichtig ist: Wir müssen dem deutschen Wald bzw. den Waldbesitzern in dieser schwierigen Situation unter die Arme greifen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat der Kollege Andreas Bleck, AfD-Fraktion. ({0})

Andreas Bleck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004674, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! O, du schöner Westerwald.  über deine Höhen pfeift der Wind so kalt;  jedoch der kleinste Sonnenschein,  dringt tief ins Herz hinein. Ich hoffe, dass ich für dieses Zitat nicht durch den Präsidenten zur Ordnung gerufen werde. Immerhin wurde unter anderem deswegen das Bundeswehr-Liederbuch durch die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen gestoppt. Ein lächerlicher Skandal, den ich und viele andere Westerwälder nicht vergessen haben. ({0}) Das Westerwald-Lied gehört zu unserer Heimat, ist unsere Tradition und zeigt, wie wir Westerwälder den Westerwald wahrnehmen. ({1}) Aber auch losgelöst von der lokalpatriotischen Perspektive ist der Wald ein schützenswerter Raum für Mensch, Tier und Pflanze. Für den gestressten Menschen bietet der Wald einen offenen Raum für Regeneration und Lebensfreude. Wer kennt es nicht, bei einem ausgedehnten Waldspaziergang in entspannter Atmosphäre plötzlich Ideen und Lösungen für knifflige Fragen zu bekommen? ({2}) Nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder erleben den Wald als Ort der Freiheit. Begeistert lassen sie sich von ihrer Neugier leiten und entdecken in freier Natur Waldbewohner wie Käfer, Schmetterlinge, Füchse oder Rehe. Auch für Tiere und Pflanzen ist der Wald wichtig. Er bietet ihnen Lebensraum und Schutz für eine stabile Reproduktion. Werte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns deshalb den Wald wertschätzen und bewahren. Er ist Grundlage für unser aller Leben. Deshalb haben Windenergieanlagen im Wald nichts zu suchen. ({3}) Allerdings legt die Bundesregierung mit der Energiewende im wahrsten Sinne des Wortes die Axt an den Wald. Bei Windrädern gibt es nämlich ein Spannungsfeld zwischen Klimaschutz auf der einen Seite und Umwelt- und Naturschutz auf der anderen Seite. Es ist offenkundig, dass die Windenergieanlagen der Umwelt und Natur schaden und die stabile und zuverlässige Energieversorgung Deutschlands gefährden. ({4}) Dies möchte ich an drei Punkten verdeutlichen. Erstens. Aufgrund sich verdichtender Hinweise, dass der Infraschall von Windrädern bei Menschen zu gesundheitlichen Problemen wie Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen und Herzbeschwerden führt, werden die Abstandsregelungen für Windräder zur Wohnbebauung voraussichtlich verschärft. ({5}) Windräder müssten dann vermehrt in Wäldern gebaut werden. Für ein einziges Windrad muss dabei etwa 1 Hektar Wald gerodet werden. ({6}) Auch die Versiegelung des Bodens durch Fundamente aus Beton stellt ein großes Problem dar. Beim Rückbau von Windrädern bleiben diese nicht selten ganz oder teilweise im Boden zurück. ({7}) Zweitens. Jährlich kommen Hunderttausende Fledermäuse und Tausende Vögel durch Windräder in Deutschland um. ({8}) Die Anzahl der jährlich sterbenden Tiere würde sich durch den Ausbau der Windenergieanlagen noch weiter erhöhen. Drittens. Waldflächen sind für Windräder grundsätzlich ungeeigneter als Freiflächen, da die Verwirbelungen in der Luft über den Bäumen größer sind. ({9}) Ohnehin lassen sich Windstrom und Sonnenstrom, auch Zappelstrom genannt, nicht ohne Weiteres speichern. Wenn der Wind nicht bläst, die Sonne nicht scheint, dann gibt es keinen Strom. Um die Netze zu stabilisieren, müssen in Reserve gehaltene Kohle- und Gaskraftwerke dazugeschaltet werden. Wenn der Wind hingegen kräftig bläst und die Sonne lange scheint, gibt es zu viel Strom. Da wir diesen jedoch nicht adäquat speichern können, bezahlen wir sogar für den Export des ungewollten Zappelstroms in die Nachbarländer. ({10}) Wind- und Sonnenstrom sind also nicht grundlastfähig. Deutschland benötigt für eine stabile und zuverlässige Energieversorgung jedoch grundlastfähigen Strom. Der gleichzeitige Ausstieg sowohl aus der Kernenergie als auch aus der Kohleenergie würde ansonsten tatsächlich zu einem Dunkeldeutschland führen, aber hoffentlich bei Ihnen, den Verursachern. ({11}) Wenn Sie den vielen Wind, den Sie um die ideologisch motivierte Energiewende machen, nicht in den Deutschen Bundestag, sondern in die Windräder blasen würden, dann wäre uns allen geholfen. ({12}) Auch der Bundesrechnungshof kommt in seinem aktuellen Bericht zur Energiewende zu einem katastrophalen Ergebnis. Die Kosten der Energiewende stünden, so Bundesrechnungshofpräsident Kay Scheller, in einem krassen Verhältnis zu dem bisher dürftigen Ertrag. Das Bundeswirtschaftsministerium möchte die EEG-Umlage allerdings nicht zu den Kosten der Energiewende zählen. Damit werden die Verbraucher, die im Jahr 2017 alleine für die EEG-Umlage Kosten in Höhe von 24 Milliarden Euro tragen mussten, auch noch verhöhnt. Das, werte Kolleginnen und Kollegen, ist einfach ungeheuerlich. ({13}) Wir müssen endlich die Notbremse ziehen. Im Interesse der Menschen, des Waldes, seiner Tiere und Pflanzen fordern wir ein Ende der ideologisch motivierten Energiewende. Ich wiederhole: Windkraftanlagen haben in den Wäldern nichts zu suchen. Der Überweisung in den Ausschuss stimmen wir zu. Vielen Dank. ({14})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat der Kollege Timon Gremmels, SPD-Fraktion. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich wende mich in meiner Rede an die Kolleginnen und Kollegen der FDP. Bei Ihnen habe ich wenigstens noch die Hoffnung, dass Sie den Argumenten folgen können. Das ist bei der rechten Seite des Hauses nicht der Fall. ({0}) Sehr geehrter Herr Busen, die Windenergie ist ein sehr wichtiger Wirtschaftsfaktor. Ihn wollen wir sichern und ausbauen. Windenergie ist außerdem eine der preiswertesten erneuerbaren Energien. Wir brauchen die Windenergie auch, um aus den fossilen Energieträgern aussteigen zu können, sehr geehrter Herr Busen. Wissen Sie, woher ich das habe? Das habe ich aus dem Koalitionsvertrag aus Schleswig-Holstein, den Ihre Partei unterschrieben hat. Aber dann stellen Sie sich hier vorne hin und erzählen so einen Kram? Man sieht, dass die FDP mit sehr viel Doppelmoral ausgestattet ist, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) – Ja, natürlich reden wir von Windrädern im Wald. Sie kommen aus Schleswig-Holstein. ({2}) – Ich habe aus dem Koalitionsvertrag aus Schleswig-Holstein zitiert. Dort gibt es 11 Prozent Waldfläche. Ich komme aus Hessen. Dort gibt es 42 Prozent Waldfläche. Wenn wir die Energiewende in Hessen umsetzen wollen – und das wollen wir –, dann müssen wir auch in den Wald gehen. ({3}) Und ja – das muss man an dieser Stelle so sagen –: Wir wollen auch im Wirtschaftswald Windkraftanlagen ausbauen. Dazu stehen wir, und dafür werben wir auch. ({4}) Ich mache auch Regionalplanung in der Regionalversammlung Nordhessen. Natürlich wird dort im Nationalpark die Kernzone ausgenommen. Im Biosphärenreservat Rhön wird auch die Kernzone ausgenommen. Wir nutzen die Möglichkeiten, die wir haben, um Erholungswald zu schützen. Dafür brauchen wir kein Bundesgesetz. Kernzonen sind ausgenommen und bleiben frei. Das geht alles schon heute, dort, wo wir Verantwortung tragen. Ich sage Ihnen noch eines: Wenn wir Windräder in Wäldern bauen, dann müssen wir an anderer Stelle aufforsten. Es müssen Maßnahmen getroffen werden, um Ausgleichsflächen auszuweisen. Höherwertiger Wald muss geschaffen werden, oder es muss an anderer Stelle aufgeforstet werden. Es ist so – mein Vorredner von der CDU hat es deutlich gesagt, auch der letzte Waldbericht hat es gezeigt –, dass wir sogar 50 000 Hektar mehr Waldflächen haben als im letzten Berichtszeitraum. Das zeigt, dass Windkraft und Wald Hand in Hand gehen. Ich bitte die FDP, hier keine Fake News zu verbreiten. ({5}) Sie haben noch etwas gesagt, worauf ich gerne eingehen möchte. In Ihrem Antrag heißt es: Windkraft, Tourismus und Naherholung würden sich ausschließen. Herr Kollege Busen, Sie haben den Kaufunger Wald – er liegt in meinem Wahlkreis – angesprochen. Ich möchte Ihnen eine Ankündigung vorlesen: Wanderung zur Windkraft, Grimmsteig-Touristik lädt zur Tour auf den Kreuzstein ein. Die Grimmsteig-Touristik veranstaltet am Sonntag, den 30. September, eine Infowanderung zum Thema Kreuzstein-Windkraftanlagen. Es wird eine Informationsveranstaltung über Energiegewinnung im Zusammenhang mit Klima-, Natur- und Artenschutz stattfinden. ({6}) So macht man das: Tourismus, Wandern, Energiewende und die Besichtigung von Windkraftanlagen – Hand in Hand. ({7}) Sie sind herzlich eingeladen. Kommen Sie diesen Sonntag bitte um 9 Uhr an die Königs-Alm. Dann können Sie sich fortbilden. Es funktioniert nämlich. ({8}) Werfen Sie einen Blick auf die heutige Tagesordnung. Eben beim vorigen Tagesordnungspunkt hat die FDP für Verfahrensverkürzungen beim Straßenbau geworben, damit bitte schön alles schneller geht. Sie wollen weniger naturschutzrechtliche Vorgaben. Jetzt machen Sie bei Windrädern im Wald genau das Gegenteil! Da sieht man, was für eine Doppelmoral Sie an den Tag legen. Die Doppelmoral ist wirklich mit den Händen zu greifen. ({9}) Was ich besonders witzig an Ihrem Antrag fand – das soll mein letzter Punkt sein –, dass sich die FDP als Vogelschutzpartei darstellt. Wunderbar, ich bin auch sehr für Vogelschutz. Jährlich sterben angeblich 120 000 Vögel durch Windkraftanlagen. ({10}) Wissen Sie, wer der Hauptfeind der Vögel ist? Das sind wild streunende Katzen. Über 1 Million Katzen reißen Vögel. ({11}) Es wäre viel effizienter gewesen, wenn Sie heute hier einen Antrag auf Zwangskastration von Katzen gestellt hätten. Damit hätten Sie mehr erreicht als mit Ihrem Antrag heute zum Thema Windkraft. In diesem Sinne: Alles Gute! Glück auf! ({12})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Ralph Lenkert, Die Linke. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wenn die selbsternannte Wirtschaftspartei FDP Naturschutz entdeckt, wird es spannend. ({0}) Die FDP möchte Wälder schützen – wirklich, zwar nicht beim Straßenbau, nicht beim Bau von Flugplätzen, nicht bei Gewerbegebieten und auch nicht, wenn es um Kohletagebau geht. Aber wenn es um Windräder im Wald geht, dann wird sie konsequent; dann greift sie durch. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch von der FDP, Sie kennen doch sicher die Arbeitsgemeinschaft deutscher Waldbesitzerverbände. Sie hat uns das Positionspapier „Forderungen zur Bewältigung klimabedingter Probleme in unseren Wäldern“ zugeschickt. Wir Linken nehmen das ernst. Und es ist logisch: Ein stärkerer Klimawandel verstärkt natürlich die Probleme. Dann habe ich als Maschinenbautechniker mal nachgerechnet. Im Hambacher Forst fielen dem Kohletagebau bisher 3 500 Hektar Wald für die Kraftwerke Niederaußem und Neurath zum Opfer, die im Jahr circa 48 Terawattstunden Strom produzieren. Die Landesregierung von NRW aus CDU und FDP hat auf eine Anfrage erklärt: Pro Windrad gehen etwa 0,3 Hektar Wald verloren. ({2}) – 0,3 Hektar. Lesen Sie es in der Antwort der Landesregierung von NRW nach! Es wird nämlich wieder aufgeforstet. – Aber wir können weiterreden. Sie können sich ja zu einer Zwischenfrage melden. ({3}) 10 000 Windräder erzeugen im Jahr in NRW etwa 48 Terawattstunden, ähnlich wie die Kohlekraftwerke. Aber sie brauchen nur 3 000 Hektar Land. Und, Herr Busen, wenn Sie von 4 Millionen Quadratmetern reden, dann klingt das zwar viel, aber es sind trotzdem 400 Hektar. ({4}) Ich möchte noch eins dazusagen: Wenn man nachrechnet – 3 500 Hektar gegen 3 000 –, ist es besser, Windräder zu bauen, als im Kohletagebau auszubaggern. ({5}) Liebe FDP, in Ihrem Antrag schreiben Sie, dass jährlich 12 000 Vögel durch Windräder sterben. ({6}) – Greifvögel. – Über 2 Millionen Vögel sterben jährlich im Straßenverkehr. Dazu sagen Sie nichts. ({7}) Natürlich haben Sie recht, dass ein Windrad im Wald Vögel schädigen kann. Sie haben recht, dass seltene Pflanzen in kleineren Biotopen leben. Und Sie haben natürlich auch recht, dass der Erholungswert in solchen Gebieten sinkt. Dann stelle ich aber die Frage an Sie von der FDP und an Sie, die weiter rechts außen sitzen – wir haben gerade gehört: Sie wollen mehr Autobahnen; Sie wollen mehr Straßen –: Welchen Erholungswert hat ein Wald neben einer Autobahn? ({8}) Welchen Einfluss hat der Sperrriegel einer Autobahn auf die Lebensräume von Tieren? Das ist doch verheerend und schizophren. Wenn Sie wirklich die Wälder schützen wollen, dann kämpfen Sie gegen Autobahnen und gegen neue Straßen! ({9}) Wir als Linke sind für den Kohleausstieg. Wir wollen die letzten Bäume im Hambacher Forst schützen, und wir wollen die Energiewende. Und wir wollen die Forderungen der Waldbesitzer umsetzen. Denn sie sind vernünftig. Der Sturmbruch durch den Orkan „Friederike“ wurde schon erwähnt. Die Schädlinge belasten die Wälder sehr, und die Waldbesitzer fordern zu Recht mehr Holzlagerflächen. In Fichten- oder Kiefermonobeständen haben wir in diesem Sommer gesehen, wie die Waldbrandgefahr wächst. Ein Waldumbau ist zwingend erforderlich. Ganz ehrlich: Wenn man Windkraftanlagen in diesen Monowäldern platziert, dann könnte man mit etwas Intelligenz – die vielleicht nicht überall da ist – die Wege sowohl für die Waldbesitzer als auch für die Windkraftanlagen nutzen. Man könnte die Aufstellflächen bei den Windkraftanlagen als temporäres Holzlager nutzen. Ganz nebenbei kann man natürlich die Planung so machen, dass man Brandschutzwege ebenfalls erhält. Und mit der Pacht ist eine Finanzierung des Waldumbaus durchaus machbar. Jetzt als letztes Argument für Sie von der FDP: Normalerweise scheuen Sie Verbote wie der Teufel das Weihwasser. Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass Sie jetzt zur Verbotspartei werden. Also ziehen Sie diesen Antrag zurück! Erinnern Sie sich daran, dass Sie gegen Verbote sind! ({10}) Kämpfen Sie mit uns gemeinsam im Haushalt für mehr Geld für den Waldumbau! Dann schützen Sie den Wald, aber nicht mit solchen Anträgen. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: der Kollege Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Präsenz der FDP-Fraktion beim eigenen Antrag ist ja überschaubar, und offensichtlich ist es manchen Kollegen auch peinlich, was Sie da vorlegen. ({0}) Deshalb hat man lieber schon einmal die Flucht ins Wochenende angetreten. Denn das, was Sie hier vorlegen – das haben die Kollegen Gremmels und Lenkert gerade schon sehr deutlich gemacht –, ist echt eine peinliche Nummer. ({1}) Es ist doch zum Totlachen, dass ausgerechnet die FDP – man muss ja nur einen Tagesordnungspunkt zurückgehen – immer nur dann, wenn es um Windkraft geht, Natur- und Artenschutz entdeckt und bei allen anderen Themen auf der exakt gegenteiligen Seite steht. ({2}) Meine Damen und Herren von der FDP, dass Sie sich auch noch trauen, das hier als Antrag vorzulegen, ist echt peinlich. ({3}) Ich weiß ja, dass es bei Ihnen vernünftige Leute gibt, und ich hoffe, dass vielleicht der eine oder andere mal darüber nachdenkt, wie Sie sich hier positionieren. Denn das Bild Ihrer Partei – auch das muss man an der Stelle sagen – wird noch von Leuten wie einem Herrn Minister Sander aus Niedersachsen geprägt, der im Jahr 2007 höchstpersönlich mit der Kettensäge in ein FFH-Gebiet gegangen ist und dort Bäume umgesägt hat. So viel zum Thema FDP und Schutz des Waldes, meine Damen und Herren. Das gehört ein Stück weit zur Wahrheit dazu. ({4}) Und, ehrlich gesagt, wenn ich hier höre, dass Sie plötzlich Ihr Herz für die Greifvögel entdecken, ({5}) als Hobbyornithologe – es gibt noch einen Kollegen, der sich da gut auskennt –, dann freut mich das zwar. Aber, ehrlich gesagt, bevor Sie sich mit der Windkraft beschäftigt haben, haben Sie den Rotmilan doch für einen serbischen Freiheitskämpfer gehalten und nicht für eine Vogelart, die in Deutschland brütet, meine Damen und Herren. ({6}) Ich sage Ihnen jetzt eines: Wenn Sie etwas für den Schutz der Greifvögel tun wollten – den Anspruch erheben Sie in Ihrem Antrag –, dann würden Sie in Deutschland ein Tempolimit auf Autobahnen fordern. Das ist nämlich die hauptsächliche Todesursache für Greifvögel. ({7}) Ich glaube, der Grund, warum Sie diesen Antrag vorlegen, ist, dass Sie im Bereich Umweltenergie und Klima einfach überhaupt nichts in der Pfanne haben. Bei all Ihrem Gequatsche – Digital First und was wir noch alles gehört haben – ist nämlich die Wahrheit, dass Sie im fossilen Zeitalter stecken geblieben sind, und zwar nicht einmal im 20., sondern teilweise sogar im 19. Jahrhundert. ({8}) Das lässt sich im Moment in Nordrhein-Westfalen besichtigen, ({9}) wo Ihre Partei in Regierungsverantwortung nicht 1 Hektar, sondern 4 000 Hektar Wald zerstört. Und das ist kein Wirtschaftswald, sondern das ist ein naturnaher erhaltungswürdiger Wald, worüber Sie zynisch hinweggehen und behaupten, es sei für die Braunkohlenutzung notwendig, das zu zerstören. ({10}) Sie können den Menschen nicht erklären, dass wir hier das Klimaabkommen ratifizieren und gleichzeitig über den Kohleausstieg reden, an dem die Große Koalition arbeitet, während man dort den Wald zerstört und weiter abholzt. Das können Sie an der Stelle niemandem erklären. ({11}) – Die Zwischenfrage habe ich erwartet. Darauf freue ich mich jetzt, Herr Präsident.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Dann ist es recht.

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Wenn dem so ist, warum haben Sie dann, nachdem das Klimaschutzabkommen 2016 ratifiziert wurde, im Landtag von NRW zugestimmt, dass der Landesentwicklungsplan beschlossen wurde, in dem stand, dass der Hambacher Forst gerodet werden darf? ({0})

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, ich danke Ihnen für die Frage, und ich freue mich, dass ich hier darauf hinweisen kann, dass Bündnis 90/Die Grünen als einzige Partei im nordrhein-westfälischen Landtag dafür gesorgt hat, dass 1 400 Menschen nicht aus ihrer Heimat vertrieben werden – gegen den expliziten Willen Ihrer Partei, gegen den expliziten Willen der SPD, ({0}) auch gegen expliziten Willen der CDU – und dass wir das an der Stelle durchgekämpft haben. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wenn Sie mir vorwerfen, dass ich mich nicht gegen Ihre Parteien und Sie durchsetzen konnte, die den Hambacher Wald zerstören können, ({1}) dann ziehe ich mir den Schuh ganz ehrlich an. Aber ich sage Ihnen: Dass Sie jetzt hier in Berlin über den Kohleausstieg verhandeln und dort zulassen, dass auf dem Rücken von Tausenden von Polizisten Fakten geschaffen werden, können Sie den Menschen nicht erklären, und das fliegt Ihnen im Moment gerade gesellschaftlich um die Ohren. ({2}) Da haben Sie eine Verantwortung, und vor der drücken Sie sich, indem Sie hier solche peinlichen Anträge stellen und Ihren Ministerpräsidenten so herumlaufen lassen. Das einzige, was Ihnen da einfällt, ist, gegen Bündnis 90/Die Grünen zu wettern. An der Stelle würde ich erwarten, dass Sie den Versuch unternehmen, diesen gesellschaftlichen Konflikt zu lösen. Aber dazu haben Sie weder die Kraft noch den Willen, weil Sie nicht im 21. Jahrhundert stehen, ({3}) wo Klimaschutz und Nachhaltigkeit notwendig sind, sondern weil Sie ganz, ganz tief im fossilen Zeitalter stecken geblieben sind, anders als Sie es immer darstellen. Das ist, ehrlich gesagt, an der Stelle absolut ärmlich. Das muss ich ganz klar und deutlich sagen. ({4}) Ich sage Ihnen deshalb, was hier gilt. Da will ich einmal die Worte der Gewerkschaft der Polizei zitieren. Die sagt: Reden statt räumen und roden. – Das müsste die Devise von uns allen sein. Darum sollten Sie sich kümmern, statt hier solch peinliche Vorlagen abzuliefern. Das ist Ihre Verantwortung in Nordrhein-Westfalen, wo Sie in der Landesregierung sind bzw. das wäre Ihre Verantwortung, übrigens auch die von Union und SPD, die an dieser Stelle jetzt ja ganz stiekum sind, die hier über den Kohleausstieg verhandeln, aber zulassen, dass ein gesellschaftlicher Konflikt in Nordrhein-Westfalen nicht gelöst wird. Es kann nicht sein, dass wir am Ende einen Wald zerstören und nicht einmal wissen, ob wir die Kohle, die darunter liegt, überhaupt noch in Anspruch nehmen müssen. Das können Sie den Menschen draußen nicht erklären. Deshalb sage ich: Hambi bleibt! Danke. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der CDU/CSU hat der Kollege Dr. Klaus-Peter Schulze das Wort. ({0})

Dr. Klaus Peter Schulze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004406, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren auf den Besucherrängen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht sollten wir wieder ein bisschen mehr in die sachliche Diskussion einsteigen. ({0}) – Ja, aber man kann sich trotzdem sachlich über die Dinge unterhalten. ({1}) Ich möchte zunächst eine Bemerkung zu Herrn Busen und Herrn Bleck machen. In der Regel werden Windkraftanlagen, wenn sie ihre Zeit erreicht haben, zurückgebaut und durch andere ersetzt. Mir ist kein Fall bekannt, in dem eine solche Anlage an ihrem Standort stehen geblieben ist. ({2}) Vielmehr werden sie nachgenutzt, weil die Flächenpotenziale – dazu komme ich nachher noch – erheblich eingeschränkt sind. Ich war von 2009 bis 2013 als stellvertretender Vorsitzender der Regionalen Planungsgemeinschaft Lausitz-Spreewald auf einer Fläche von 7 200 Quadratkilometern für die Erstellung des Teilregionalplanes Windkraft verantwortlich. Da merkt man, in welchen Zielkonflikt wir insgesamt kommen, wenn der Siedlungsbestand, rechtskräftige Bebauungspläne, Wasserschutzzonen, Naturschutzgebiete, Landschaftsschutzgebiete usw., Wald mit Schutzverordnung und stehende Gewässer als Erstes ausgeschlossen werden und bei einem zweiten Überblick dann noch die Überschwemmungsgebiete, Naturparke, FFH-Gebiete und Denkmalschutzbereiche herausgenommen werden – alles Restriktionsflächen. Die Vorgabe, in diesem Fall die des Landes Brandenburg, war: 2 Prozent der Regionalfläche sind auszuweisen. Das war mit Sicherheit nicht zu erreichen. Aus diesem Grund haben wir uns nach sehr langer Diskussion entschieden, den Weg zu beschreiten, monostrukturierte Kiefernwälder, die sich nach Möglichkeit auf nährstoffarmen Standorten befinden, auch für die Windkraftnutzung freizugeben. Dieser Diskussionsprozess dauerte insgesamt vier Jahre. Im Ergebnis konnten wir gerade einmal 1,8 Prozent der Regionalfläche ausgleichen. Das ist aus meiner Sicht ein Punkt, der dazu führt, dass wir aufgrund des nicht ausreichenden Flächenpotenzials diesen Weg gehen müssen. Nichtsdestotrotz – das hat mein Kollege Gerig schon gesagt – müssen wir damit natürlich sehr sensibel umgehen und auf der Grundlage entsprechender Analysen sehr genau prüfen: Welche Waldflächen sind überhaupt geeignet und welche nicht? Das ist das Erste. Das Zweite – Herr Krischer hat schon angedeutet, dass dazu noch eine Bemerkung von mir kommen wird – ist das Thema Artenschutz und das sogenannte Helgoländer Papier. Natürlich begrüße ich als Natur- und Artenschützer und als zuständiger Berichterstatter im Umweltausschuss sehr, dass wir das Helgoländer Papier auch umsetzen. Aber wir müssen auch da schauen: Wie sind die Flächenpotenziale? Wir hatten im Jahr 2005  470 Seeadlerpaare; inzwischen sind es 700. Die Entwicklung ist nicht ganz so rasant wie beim Wolf, aber immerhin. Wenn man weiß, dass 2 800 Hektar Fläche im Umfeld eines Seeadlerbrutplatzes nicht genutzt werden können, dann kann man sich schnell ausrechnen, welche Flächenpotenziale auch hier eingeschränkt werden. Was mir viel mehr Sorgen macht, ist, dass eine der europäischen Hauptzugrouten, die Via Baltica, in Mecklenburg-Vorpommern mit Windparks bestückt werden soll. Hier muss man sich wirklich überlegen, ob man diesen Weg gehen sollte, auch im Interesse des Natur- und Artenschutzes. Und, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten uns ehrlich machen: Wie viel Fläche haben wir denn in Deutschland zur Verfügung, um Windkraftanlagen zu errichten? Dazu gibt es eine Studie des Umweltbundesamtes aus dem Jahre 2013. Da sagt man beim ersten Aufschlag, es sind 14 Prozent der Landesfläche in Deutschland. Beim zweiten Aufschlag sagt man, man weiß es nicht genau; vielleicht sind es auch bloß 2 Prozent, weil es die und die Restriktionen gibt – ich habe sie schon angesprochen – und weitere Flächen, zum Beispiel Radaranlagen der Bundeswehr, nicht bebaut werden dürfen. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um auf Ihren Antrag einzugehen. Wir sollten uns in den nächsten Wochen und Monaten die Karten ansehen und schauen: Wie groß ist das Potenzial, das wir haben? Welche Wege sind notwendig, um den Zielkonflikt zwischen Klimaschutz, Energiewende und Natur- und Artenschutz sachgerecht zu lösen? Erst wenn wir diese Zahlen verbindlich auf dem Tisch liegen haben, können wir uns darüber unterhalten, inwieweit wir in Waldflächen eingreifen müssen. Ich sage: Wertvolle Mischwaldbestände und reich strukturierte Nadelbestände sollten mit Sicherheit zu Restriktionsflächen erklärt werden. Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: der Kollege Johann Saathoff, SPD-Fraktion. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Worüber reden wir eigentlich? Wir reden über das Klimaschutzabkommen, das wir in Paris geschlossen haben. ({0}) Es ist eine internationale Verpflichtung, zu der wir gemeinsam stehen müssen. ({1}) Deutsche sind letzten Endes immer stolz auf ihre Vertragstreue. Aber wenn wir jetzt schon anfangen, über solche Dinge zu sprechen, dann kann auch der ein oder andere in anderen Ländern auf die Idee kommen, dass wir vielleicht gar nicht mehr so vertragstreu sind, wie wir immer vorgeben. Wir reden auch über den Koalitionsvertrag, liebe Kolleginnen und Kollegen. Da steht drin: 65 Prozent erneuerbare Energien bis 2030. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich finde es superinteressant, zu lesen, was Sie nicht wollen. ({3}) Die Begründung dafür fand ich dann schon weniger interessant. Beeindruckt hätten Sie mich, wenn Sie gesagt hätten, was Sie wollen, und wenn Sie uns ein Konzept vorgelegt hätten, wie man zum Beispiel die Klimaziele erreichen kann; das hätte mich beeindruckt. ({4}) In Ostfriesland würde man dazu sagen: Wenn’t drum geiht, dat een wat deiht sitt dor’n Uul. – Mit anderen Worten: Man kann mit dem Mund immer schnell irgendetwas behaupten; aber wenn es dann tatsächlich um Sachen geht, die man umsetzen muss, traut man sich nicht. Sie sollten nicht immer nur sagen, was Sie nicht wollen. Sagen Sie, was Sie wollen, und vor allen Dingen, wie Sie das erreichen wollen. ({5}) Trotz der dürftigen Faktenlage in Ihrem Antrag beschäftigen wir uns mit ihm. Laut Bundeslandwirtschaftsministerium haben wir 11,4 Millionen Hektar Wald in Deutschland – ein Drittel der Gesamtfläche. Das macht insgesamt 90 Milliarden Bäume, die in Deutschland stehen. In den letzten zehn Jahren hat die Waldfläche um 50 000  Hektar zugenommen. Nehmen wir einmal an, Ihre Aussage, dass man für eine Windenergieanlage einen Hektar Wald braucht, stimmt – ich stelle das infrage, aber nehmen wir es einmal an –, und gehen wir theoretisch davon aus, wir würden nur die Zuwachsfläche der letzten zehn Jahre nutzen, um sie mit Windenergie zu belegen, dann würde eine Kapazität von 150 Gigawatt allein auf der Zuwachsfläche der letzten zehn Jahre entstehen – dreimal so viel wie der Windenergiezubau in Deutschland seit 30 Jahren.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kubicki?

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber selbstverständlich, Herr Präsident. – Herr Kollege Kubicki.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001235, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber, sehr geschätzter Herr Kollege Saathoff, zum Ersten – da Sie ja aus Ostfriesland kommen –: Würden Sie freundlicherweise zur Kenntnis nehmen, dass die FDP auch auf Offshorewindenergie setzt, die keine Abholzung von Wäldern zur Folge hat? Zum Zweiten. Wie wollen wir denn glaubhaft in der Welt vertreten, dass wir uns gegen die Abholzung von Regenwäldern wehren und wenden, wenn wir beginnen, unsere eigenen Wälder abzuholzen? ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Geschätzter Kollege Kubicki, ich freue mich über Ihr Engagement für Offshorewindenergie; ich freue mich, dass wir wenigstens in dieser Richtung gemeinsam unterwegs sind und biete Ihnen gerne an, da auch noch ein paar Fakten dazu zu liefern, dass wir gemeinsam in der richtigen Richtung unterwegs sind. ({0}) Aber Brandrodungen in tropischen Wäldern mit Rodungen für die Windräder in Deutschland zu vergleichen, ist einfach nicht in Ordnung. Aus meiner Sicht vergleichen Sie hier Äpfel mit Birnen und bauen eine Angst auf, die faktisch gar nicht vorhanden sein muss. ({1}) Das Fazit heißt: Der Wald ist durch Windenergie nicht in Gefahr; das darf man an dieser Stelle deutlich sagen. Die FDP fordert in ihrem Antrag, Naturschutzgebiete für die Gewinnung von Windenergie auszuschließen und eine Abstandsregelung zu Brutstätten gefährdeter Vogelarten zu definieren. Ich sage Ihnen: Das gibt es alles schon. ({2}) Ich berichte mal aus der Praxis: Was brauchen Sie eigentlich, wenn Sie eine Windmühle bauen wollen? Sie brauchen eine Baugenehmigung oder eine Genehmigung nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz. Dazu brauchen Sie zwingend ein ornithologisches Gutachten. Da wird zwölf Monate kontinuierlich geguckt, was sich dort aufhält, und zwar in allen Bereichen. Von der Wiesenweihe über den Rotmilan bis zum Weißsternigen Blaukehlchen wird da untersucht, und da, wo ornithologische Hindernisse sind, werden Sie keine Windenergieanlagen bauen können. Darüber hinaus brauchen Sie, wenn Sie überhaupt einen Bauantrag stellen wollen, einen Bebauungsplan der Gemeinde. Das heißt, der Rat muss sich damit auseinandergesetzt haben und wollen, dass dort Windenergie gewonnen wird. Sie brauchen einen Flächennutzungsplan der Gemeinde, für den das Gleiche gilt. Und Sie brauchen ein Regionales Raumordnungsprogramm des Landkreises und des Bundeslandes. – Es ist nicht so – wie Sie das suggerieren –, dass man eine Windenergieanlage aufgrund der Außenbereichsregelung einfach hinstellen kann, wo man will. Das ist faktisch nicht der Fall. ({3}) Wir brauchen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Energiewende mehr Fläche für Windenergie. Wir brauchen mehr Windenergie im Süden, und wir brauchen weniger Schaufensteranträge. ({4}) Wir wollen eine umweltfreundliche, CO 2 -freie Stromerzeugung. Liebe FDP, unsere Stromerzeugung soll keine strahlenden Müllaltlasten hinterlassen. ({5}) Die Stromerzeugung, wie wir sie uns vorstellen, soll keine Ewigkeitskosten der Atommülllagerung beinhalten. Die Stromerzeugung, wie wir sie uns vorstellen, soll keine Folgekosten der kostenlosen CO 2 -Deponierung in der Atmosphäre beinhalten. Unsere Stromerzeugung soll nachhaltig sein, sie soll sozial gerecht sein und generationengerecht. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/2802 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, allerdings ist die Federführung strittig. Die Fraktionen CDU/CSU und SPD wünschen eine Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, die Fraktion der FDP Federführung beim Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der FDP, also Federführung beim Landwirtschaftsausschuss. Wer ist für diesen Überweisungsvorschlag? – Das sind die FDP und die AfD. Wer ist dagegen? – Das sind die übrigen Fraktionen. Damit ist dieser Überweisungsvorschlag abgelehnt. Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen CDU/CSU und SPD, Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit. Wer stimmt dem zu? – Dafür haben gestimmt Linke, SPD, Grüne, CDU/CSU. – Wer stimmt dagegen? – Die AfD und die FDP. Damit ist dieser Überweisungsvorschlag angenommen.

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Alle Jahre wieder erleben wir das gleiche Spiel: Die polizeiliche Kriminalitätsstatistik, PKS, wird vorgestellt, und während die einen sagen, das Land sei viel, viel sicherer geworden, sagen die anderen, alles werde immer schlimmer. Welche Aussage am Ende stimmt, das weiß man nicht so genau; denn dass die Aussagekraft der PKS begrenzt ist und die Daten vielseitig interpretierbar sind, liegt leider in der Natur dieses Zahlenwerkes. So ist die PKS in erster Linie ein Arbeitsnachweis der Polizei und bildet daher nur einen Teil der tatsächlichen Kriminalitätsbelastung ab. Aber die Daten können natürlich die Grundlage für weiter gehende Untersuchungen sein; das jedenfalls wäre für seriöse Schlussfolgerungen auch dringend nötig. ({0}) Der richtige Ansatz steht schon im Koalitionsvertrag von Union und SPD – das möchte ich ganz ausdrücklich begrüßen –: Darin verspricht die Bundesregierung eine zügige Aktualisierung des Periodischen Sicherheitsberichts. Falls Sie jetzt den letzten Bericht, also den aus dem Jahr 2006, nicht zur Hand haben sollten, darf ich mal kurz aus dem Vorwort zitieren: Um wirksame Konzepte zur Kriminalitätsbekämpfung entwickeln zu können, braucht die Politik eine verlässliche, in regelmäßigen Abständen aktualisierte Bestandsaufnahme der Kriminalitätslage, die über die bloße Analyse der Kriminalstatistik und der Strafverfolgungsstatistiken hinausgeht. Dieser Satz ist ja völlig richtig; aber man fragt sich natürlich, was eigentlich aus den regelmäßigen Abständen geworden ist; denn seit über zehn Jahren hat es eine solche Analyse nicht mehr gegeben. ({1}) Stattdessen erleben wir eine Kriminal- und Sicherheitspolitik nach Gefühlslage. Leider werden Sicherheitsgesetze viel zu häufig eben nicht auf Grundlage gesicherter Fakten, sondern aus dem Bauch heraus gemacht. Ehrlich gesagt, ich verstehe es nicht. In nahezu jedem wichtigen Politikfeld werden regelmäßig wissenschaftliche Berichte vorgelegt – nehmen wir zum Beispiel den Armuts- und Reichtumsbericht, den Jahreswirtschaftsbericht oder auch den Bildungsbericht –; daran kann sich die Politik dann orientieren. Nur in dem Politikfeld, das seit Jahren die Schlagzeilen bestimmt und bei dem sich alle einig sind, wie wichtig es ist, nämlich bei der inneren Sicherheit, da verzichten wir seit Jahren auf solide wissenschaftliche Grundlagen und machen Politik nach Stimmungen und nach Wetterlage, oder was? Also, ich verstehe es nicht, und ich finde, es kann nicht sein. ({2}) Wer den Anspruch hat, eine Kriminal- und Sicherheitspolitik für dieses Land zu machen, die tatsächlich wirkt, und zwar auf Basis fundierter wissenschaftlicher Analysen und Fakten, der kann unseren Gesetzentwurf nicht ablehnen. Die Kosten können jedenfalls kein Argument sein; denn nichts ist teurer, als auf die falschen innenpolitischen Instrumente zu setzen und nicht zu merken, wenn sich die tatsächlichen Aufgaben der Sicherheitsbehörden verändern. ({3}) Wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse zur Kriminalitätslage sind übrigens auch ein ziemlich gutes Mittel gegen Fake News, gegen Populismus und gegen Angstmacherei. ({4}) Ich finde, gerade in diesen aufgeregten Zeiten könnte man damit sehr, sehr viel zur Versachlichung der Debatte beitragen. Daher ist es mit einer einmaligen Neuauflage des Periodischen Sicherheitsberichts meiner Ansicht nach nicht getan, es muss ein regelmäßiges Berichtswesen geben. Das würde helfen, längerfristige Entwicklungen bestimmter Kriminalitätsformen viel besser im Blick zu behalten und einzuordnen und daraus eben auch die richtigen Strategien zur Bekämpfung abzuleiten. Wir haben mit dem Periodischen Sicherheitsbericht aus den Jahren 2001 und 2006, wie ich finde, sehr, sehr gute Erfahrungen gemacht. Deswegen gibt es eigentlich keinen Grund, einen solchen Bericht nicht alle zwei Jahre regelmäßig aufzulegen. Ich jedenfalls habe keinen Zweifel daran, dass der Periodische Sicherheitsbericht die Gesetzgebung wesentlich zielgerichteter, die Arbeit unserer Sicherheitsbehörden effektiver und somit das Land am Ende sicherer machen wird. Ganz herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für CDU/CSU-Fraktion der Kollege Axel Müller.

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf möchten die Grünen – das hat die Kollegin deutlich gemacht – ein Kriminalitätsstatistikgesetz schaffen. Dieses soll der Untersuchung der Kriminalitätslage dienen und die Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik ergänzen und – so füge ich hinzu – bei der Kriminalitätsbekämpfung unterstützen. So wie Ihr Entwurf allerdings ausgestaltet ist, wäre seine Umsetzung zum einen zu teuer, zum Zweiten zu aufwendig und zum Dritten überflüssig bzw. untauglich. Sie kalkulieren mit voraussichtlich nicht mehr als 2 Millionen Euro pro Jahr, ohne das näher, was die Kostenfolgenabschätzung anbelangt, zu erläutern. Zentraler Bestandteil des Entwurfs ist einmal die gesetzliche Verpflichtung, alle zwei Jahre einen sogenannten Periodischen Sicherheitsbericht zu erstellen, und zweitens repräsentative Befragungen der Bevölkerung durchzuführen, um dieses Dunkelfeld der Kriminalität zu erhellen, also den Bereich der Straftaten zu erhellen, den die Polizei nicht bearbeitet, weil er bei der Polizei nicht angekommen ist, etwa weil etwas nicht angezeigt wurde oder weil es schlichtweg verborgen geblieben ist. Zunächst ist festzuhalten, dass die von Ihnen so kritisierte Polizeiliche Kriminalstatistik als Ergebnis einer Auswertung der Zahlen der Länder durch den Bund jährlich erstellt und veröffentlicht wird. Diese ist äußerst umfangreich. Sie ist keine schnöde Auflistung von Straftaten, sondern sehr detailliert, differenziert, beispielsweise nach vollendeten oder versuchten Taten, nach Deliktsgruppen, nach Tätergruppen, nach Alter der Tätergruppen bzw. nach dem Milieu – großstädtisch oder ländlicher Raum –, nach Nationalität, nach Geschlecht. Die Opfer werden genau erfasst. Es bleibt also ausreichend Raum. Auch die Kapitaldelikte werden, was die Begehungsweise, was die Wahl der Tatmittel betrifft, genau bezeichnet. Die PKS lässt durchaus die kriminologischen Studien, die Sie gerne machen würden, zu. Sie lässt es durchaus zu, dass sie Basis für derartige Auswertungen ist. Die Schwachpunkte der PKS will ich ja gar nicht verleugnen. Zum einen ist es eben nur eine Ausgangsstatistik. Nur das, was von der Polizei erfasst und endbearbeitet wird, ist darin enthalten. Zum Zweiten – Sie haben es gesagt –: Das Dunkelfeld wird eben nicht erfasst. Aber nun, meine Damen und Herren von den Grünen, die Sie diesen Gesetzentwurf eingebracht haben: Glauben Sie denn, dass mit der Umsetzung Ihres Vorschlags, eine Bevölkerungsbefragung durchzuführen, das Dunkelfeld wirklich erhellt wird? ({0}) Unsere Polizei genießt nach meiner Überzeugung – dafür spricht auch das, was im letzten Periodischen Sicherheitsbericht veröffentlicht war – das Vertrauen der großen Mehrheit der Bevölkerung in diesem Land. Wer Opfer einer Straftat ist und diese nicht anzeigt, der tut es oftmals aus höchst persönlichen Gründen und nicht, weil er kein Vertrauen in die Polizei hat. Im Periodischen Sicherheitsbericht des Jahres 2001 stand, dass gerade einmal 1,5 Prozent der Befragten angegeben hat, ihr Vertrauen in die Polizei sei nicht vorhanden gewesen. ({1}) Des Weiteren ist es ja nicht so, dass in den letzten Jahren kein Periodischer Sicherheitsbericht erstellt worden wäre. Zwei haben auch Sie erwähnt: den von 2001 und den von 2006. ({2}) Ich gebe ja zu: Es wäre wünschenswert, pro Legislaturperiode einen solchen Sicherheitsbericht zu haben. Deshalb haben wir in den Koalitionsvertrag geschrieben, dass wir dafür sorgen wollen. Aber einen solchen Bericht alle zwei Jahre zu erstellen, macht beim besten Willen keinen Sinn. Und es macht auch keinen Sinn – das nur ganz am Rande bemerkt –, einfach die Strafrechtspflege außen vor zu lassen und nicht mit aufzunehmen, was aus den ganzen angezeigten Straftaten, die die Polizei bearbeitet hat und die die Staatsanwaltschaften zur Anklage gebracht haben, letztendlich geworden ist. Ganz besonders hellhörig macht mich eines, wenn ich Ihren Gesetzentwurf lese. Da steht nämlich, dass sich die Antragsteller aus den Periodischen Berichten Erkenntnisse für eine fortlaufende Überprüfung der gesetzlichen Bestimmungen in einem für die Grundrechte sensiblen Bereich erhoffen. Was ist das denn? Dient das Ganze am Ende nicht der Kriminalitätsbekämpfung, sondern dient das Ganze am Ende der Rechtspolitik? Ich kann mir Ihre Argumentation schon vorstellen: Unter Berufung auf den Periodischen Sicherheitsbericht, unter Berufung auf Expertenmeinungen sagen Sie dann am Ende: Also, das mit der Telefonüberwachung ist viel zu exzessiv. Im Übrigen hat auch die Vorratsdatenspeicherung keinen Einfluss auf die Kriminalitätsbekämpfung. Alles in allem sage ich Ihnen: Da gehen wir nicht mit. In dieser Form lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Müller. – Als Nächster spricht zu uns der Kollege Lars Herrmann, AfD-Fraktion. ({0})

Lars Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004748, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der hier vorgelegte Gesetzentwurf zeigt mal wieder eines ganz deutlich: Innere Sicherheit und Grüne, das verhält sich wie Erdogan und Demokratie – es passt nicht zusammen und wird auch nie zusammenpassen. ({0}) Zunächst muss man jedoch anerkennen, dass die Idee eines Periodischen Sicherheitsberichts kein schlechter Vorschlag ist; das ist wirklich wahr. Bisher gab es zwei solcher Berichte; wir haben das schon gehört. Diese Berichte wurden von einem Gremium aus Wissenschaftlern, Ministeriums- und Behördenvertretern erstellt und dienen als wichtiges Instrument zur Politikberatung und als hilfreiche Quelle für die Praxis repressiver und präventiver Kriminalitätsbekämpfung. So weit, so gut. Der Gesetzentwurf der Grünen ist jedoch von einem tiefen Misstrauen gegenüber unserer Polizei und unseren Sicherheitsbehörden geprägt. So soll das Gremium, das bisher aus absolut hochkarätigen Experten bestand, nunmehr eine neue Zusammenstellung erfahren. Gemäß der grünen Ideologie soll die sogenannte Zivilgesellschaft beteiligt werden und Akteneinsicht beim BKA nehmen dürfen. Bei dem Gedanken daran, was man bei den Grünen unter Zivilgesellschaft versteht, läuft es mir allerdings eiskalt den Rücken runter. ({1}) Demnächst sollten also solche Gestalten wie kriminelle Ökoterroristen, wie sie derzeit auf Bäumen im Hambacher Forst zu finden sind, von wo sie mit Stahlkugeln auf Polizeibeamte schießen oder Polizisten mit menschlichen Exkrementen überziehen, auf das Fachwissen vom Bundeskriminalamt zurückgreifen und dort unbehelligt ein- und ausgehen können. Ein absoluter Irrsinn, meine sehr verehrten Damen und Herren! ({2}) Auch wollen die Grünen nun eine repräsentative Befragung der Bevölkerung zur Aufklärung des sogenannten Dunkelfelds durchführen und das im Gesetz festschreiben. Obwohl ich persönlich an der Dunkelfeldforschung, also an dem Bereich der Kriminalität, der nicht in der Kriminalitätsstatistik abgebildet wird, sehr interessiert bin, ist die von den Grünen beabsichtigte Methode der Bevölkerungsbefragung gänzlich ungeeignet. Ich räume auch gerne ein: Das Problem bei so einer Befragung – empirische Sozialforschung ist jetzt nicht unbedingt mein Spezialgebiet – ist derart offensichtlich, dass es sogar mir regelrecht ins Auge springt. Zunächst muss im Bereich des Dunkelfeldes zwischen Anzeige- und Kontrolldelikten unterschieden werden. Erstere werden durch die Geschädigten selbst zur Anzeige gebracht, weil diese ein ureigenes Interesse an der Strafverfolgung haben und deshalb bei der Polizei Anzeige erstatten. Die Kontrolldelikte hingegen werden durch die Polizei selber festgestellt und zur Anzeige gebracht. Das bedeutet: Weniger Kontrollen sind zugleich weniger festgestellte Straftaten. Ich möchte das in diesem Zusammenhang verdeutlichen. So wird beispielsweise behauptet, dass die Grenzkriminalität in meinem schönen Heimatland Sachsen auf dem niedrigsten Stand seit zehn Jahren sei und im Vergleich zum Vorjahr sogar um 1,4 Prozent abgenommen habe. Man vergisst dabei aber, im selben Atemzug zu erwähnen, dass die Präsenz der Bundespolizei im Grenzgebiet zu Polen und Tschechien erheblich abgebaut wurde und Stellen nicht nachbesetzt werden. Auch bei der Landespolizei Sachsen wurden Polizeireviere geschlossen, Streifenwagen reduziert oder abgezogen. ({3}) Weniger Polizei bedeutet also weniger Straftaten in der Statistik – das stimmt –; aber auf keinen Fall bedeutet dies eben mehr Sicherheit. ({4}) Im Hinblick auf den Bereich der Kontrolldelikte verhält es sich wie folgt – ein Beispiel –: Wenn einem Autohändler in Görlitz nach dem dritten Einbruch in sein Autohaus die Versicherung kündigt, besteht für diesen keinerlei Interesse, die Straftat bei der Polizei zur Anzeige zu bringen und dort stundenlang seine Zeit zu verplempern. Er kann sich nach den vorausgegangenen Erfahrungen die Anzeige sparen, weil 80 Prozent der Einbrüche ohnehin nicht aufgeklärt werden und die Versicherung nicht zahlt. Auch hier würde die Statistik einen Rückgang verzeichnen, wo in Wirklichkeit keiner ist. Sie sehen: Es ist ein sehr interessantes Feld. Es lohnt sich, das zu untersuchen – gar keine Frage –; allerdings werden die von den Grünen beabsichtigten Bevölkerungsbefragungen hier keine Erhellung bringen. ({5}) Vielmehr ist die Zielrichtung klar zu erkennen: Der Polizei soll gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit unterstellt werden. Die entlarvenden Äußerungen von Herrn Hofreiter bezüglich des unsäglichen und haltlosen Vorwurfs gegenüber der Polizei – Stichwort „institutioneller Rassismus“ – lassen erkennen, wo die Fahrt hingehen soll. ({6}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere Polizei braucht keine Diffamierung, keine Gängelung. Unsere Polizisten brauchen vernünftige Ausrüstung, Ausstattung und unsere Rückendeckung, damit sie ihren Job machen können. ({7}) Von den Grünen ist das nicht zu erwarten. Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als Nächste spricht zu uns die Kollegin Susanne Mittag, SPD-Fraktion. ({0})

Susanne Mittag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004355, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der letzte Periodische Sicherheitsbericht – es ist schon erwähnt worden – stammt aus dem Jahr 2006. Nur mal zur Erinnerung: Was hatten wir da vor zwölf Jahren? Das Sommermärchen der WM. Jeder weiß, dass das schon reichlich lange her ist. Und was ist alles in dieser Zeit allein im Sicherheitsbereich passiert, und wie haben sich die Sicherheitsthemen verändert, zum Beispiel, wenn man allein den Bereich der Digitalisierung sieht? Zwölf Jahre – dass diese Unterbrechung zu lang ist, dürfte ja wohl allen klar sein. Deswegen haben wir auch schon im Koalitionsvertrag – Frau Mihalic sagte es schon – die Weiterführung des Periodischen Sicherheitsberichts beschlossen. ({0}) Damit waren vielleicht nicht alle einverstanden, aber wir finden das wichtig. Zu Beginn der Diskussion sollten wir uns aber mal eine Frage stellen: Wozu brauchen wir wirklich einen Periodischen Sicherheitsbericht, und wie soll er am Ende genutzt werden? Ein solcher Bericht richtet sich natürlich vor allem an die Politik, an uns – die Frage ist, wie wir mit den Ergebnissen umgehen –, aber auch an die Polizei und die Wissenschaft. Das Ziel dieses Berichtes war und ist es, als Grundlage für alle Maßnahmen der präventiven Kriminalitätsbekämpfung, aber auch für die Erarbeitung zukünftiger Ermittlungsmöglichkeiten zu dienen. Otto Schily und Herta Däubler-Gmelin schrieben im Vorwort des Ersten Periodischen Sicherheitsberichtes aus dem Jahre 2001 – mit Ihrer Erlaubnis darf ich zitieren –: Die Bundesregierung hat sich … entschieden, einen wissenschaftlich fundierten, umfassenden Bericht über die Sicherheitslage in der Bundesrepublik Deutschland zu erstellen. Leider ist dieses Projekt – das muss man nun mal leider sagen – unter Unionsinnenministern wieder eingeschlafen. Um den genannten Zweck zu erfüllen, darf ein solcher Bericht keine zwölf Jahre lang Pause haben, er darf nicht so lange liegen bleiben. ({1}) Er muss auch erheblich öfter als alle fünf Jahre erscheinen. Was passiert alles in fünf Jahren! Mit einem fünfjährigen Turnus ist es unmöglich, auf kurzfristig auftretende Phänomene zu reagieren. Ich denke, ein zwei- bis dreijähriger Turnus erscheint angemessen, ({2}) um kurzfristig reagieren und aktuelle Entwicklungen erkennen zu können. Wenn man allein unsere sicherheitspolitischen Diskussionen in den letzten ein, zwei Jahren anguckt, dann weiß man, dass uns ein alle fünf oder sechs Jahre erscheinender, langjähriger Bericht überhaupt nicht nützt. ({3}) Auch die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage zur Festlegung eines Berichtszeitraumes unterstützen wir ausdrücklich. Dann schläft es nicht wieder ein. ({4}) Beim Format des Berichtes besteht allerdings noch Handlungsbedarf; da sind wir uns nicht so ganz einig. Der erste Bericht hatte 777 Seiten, der zweite – leichte Steigerung – 830 Seiten. Mal ehrlich: Diese Größenordnung macht zwar Eindruck; aber durch die schiere Länge des Berichts und seinen allumfassenden Anspruch geht der Sinn des Berichtes – er soll Grundlage für polizeipolitische Entscheidungen sein – komplett verloren. ({5}) Das ist weder übersichtlich noch informativ, noch zeigt es am Ende das Wesentliche auf. Auch der unterrichtende und veranschaulichende Charakter des Berichtes wird dadurch vermindert, alles wird übertüncht. Der Bericht muss maßgeblich verkürzt werden und sich spezieller mit den wichtigsten und dringlichsten Themen beschäftigen. Denn das Ziel dieses Berichts sollte sein, über aktuelle Themen gut und schnell zu informieren und einen Blick in die Zukunft zu ermöglichen, um politisch, polizeitaktisch und präventiv auf die sich schnell ändernden Kriminalitätsschwerpunkte reagieren zu können. Dafür brauchen wir keine 830 Seiten, sondern einen Bericht, der beispielsweise – so die Vorstellung – die zehn wichtigsten Themen tiefgreifender abhandelt. Die Top 10 könnten sich zum Beispiel – das muss man verhandeln – nach Fallhäufigkeit, Schadenssumme, neuen Strukturen, Vorgehensweisen von Tätern, Kriminalitätsfolgen aufgrund gesetzlicher Veränderungen im In- und Ausland oder finanziellen Zugriffsmöglichkeiten zusammensetzen. Man muss darüber reden, in welche Richtung man das macht. ({6}) Der Bericht ist für uns, die Politik, und die Polizei – für sie ist ja der Bericht – nur dann sinnvoll, wenn man sich auf bestimmte Themen konzentriert. Schon der erste Bericht hatte ein Spezialthema, nämlich „Jugendliche als Opfer und Täter“. Im Nachgang kann man ja wohl feststellen, dass das ein wirklich wichtiges Thema ist, das uns heute noch beschäftigt. Dieser Ansatz muss weitergeführt werden. Natürlich muss dieser Bericht ausführlicher sein als eine PKS, also eine Polizeiliche Kriminalstatistik, oder auch justizielle Statistiken wie die Strafverfolgungsstatistik allein, die ja parallel laufen und überhaupt nicht miteinander verbunden sind. Es gibt also jede Menge Statistiken, die zusammengeführt werden müssen. Das Augenmerk muss viel stärker auf den Zusammenhängen zwischen Polizei und Justiz liegen. Der Bericht darf nicht nur eine Analyse darüber sein, was passiert ist, sondern muss auf die Zukunft ausgerichtet sein: Welche Entwicklungen sind zu erwarten? Das Programm „Polizei 2020“ des BKA kann zu diesen Auswertungen auch einen wichtigen Beitrag leisten. Die Informationen der Länder- und Bundespolizeien können in den Bericht einfließen – sie können da zusammengeführt werden – und der Wissenschaft bei der Analyse, Auswertung und Weiterentwicklung der Statistiken helfen. Für einen aussagefähigen Bericht muss den beteiligten Wissenschaftlern – natürlich unter Berücksichtigung des Datenschutzes – Zugang zu den Auszügen aus den Statistiken ermöglicht werden. Wichtig ist uns auch ein Bericht, in dem Wissenschaftler und Polizeipraktiker sich gemeinsam mit dem Thema beschäftigen. Was nützt uns die ganze Theorie, wenn die Praxis nicht funktioniert? Auf diese Art und Weise kann man zu neuen Erkenntnissen gelangen. ({7}) Eine rein wissenschaftliche Arbeit halte ich nicht für praxisorientiert und zielführend; denn dafür sind die Expertisen und Einschätzungen der Polizei, die erkennt, wo Handlungsbedarf für die Politik besteht, zu zukunftsweisend. Der Bericht verlöre dann die absolut wichtigste Aufgabe, die er hat, nämlich die Politik in der Arbeit zu aktuellen Themen zu unterstützen und bezüglich der möglichen Lösungen zu informieren, damit sie nicht immer der Lage hinterherlaufen muss. Eine Bevölkerungsumfrage halte ich in diesem Rahmen für nicht zielführend. Ich denke, der Bericht sollte sich an Fakten orientieren und weniger an gefühlten Werten. Derartig gelagerte Umfragen werden inzwischen schon von Umfrageinstituten geleistet; die Ergebnisse kann man heranziehen. Das wäre bei Präventionsmaßnahmen vielleicht hilfreich. ({8}) – Ja, Frau Mihalic, wir müssen uns nicht komplett einig sein; das können wir ja noch verhandeln. Abschließend möchte ich ganz deutlich unterstreichen, dass ich den Vorschlag grundsätzlich begrüße, die SPD-Fraktion auch. ({9}) Ich bin froh, dass dieser Antrag zum Periodischen Sicherheitsbericht vorliegt, weil das Thema damit wieder ein bisschen Anschub bekommt und besprochen wird. Ich denke, die Etablierung eines zwei- oder dreijährigen Sicherheitsberichtes hätte für alle große Vorteile. Es wäre ein gutes Zeichen, jetzt, wo Deutschland doch Ausrichter der Fußballeuropameisterschaft 2024 ist, den Grundstein für einen neuen Periodischen Sicherheitsbericht zu legen. Er würde dann sicherlich sehr dabei helfen, die Sicherheitslage zu bewerten und entsprechend zu reagieren. Vielen Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Mittag. – Als Nächstes für die FDP-Fraktion Konstantin Kuhle. ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Intention eines Kriminalitätsstatistikgesetzes ist doch völlig richtig. Auf der einen Seite sind wir als Innenpolitiker der öffentlichen Sicherheit im objektiven Sinne verpflichtet. Objektive Sicherheit heißt: weniger Straftaten, weniger Gewalt, die man tatsächlich messen kann. Und wenn man am Ende in einer objektiven Statistik feststellt, dass es zu weniger Verurteilungen gekommen ist, dann ist das ein Erfolg der objektiven Sicherheitspolitik. Wir sind aber als Innenpolitiker und als Politik allgemein auch der subjektiven Sicherheit verpflichtet, also dem Gefühl der Bevölkerung, das mit der Sicherheitssituation im Lande zusammenhängt. Das ist gerade in der aktuellen Situation nicht zu unterschätzen, weil die subjektive Sicherheit im Land eine Einbruchstelle für zweierlei ist: Die subjektive Sicherheit in der Bevölkerung ist – erstens – eine Einbruchstelle für Verhaltensänderungen. Natürlich werde ich mein Verhalten ändern, wenn ich Opfer einer Straftat geworden bin. Ich werde mein Verhalten aber möglicherweise auch ändern, wenn jemand aus meiner Familie, aus meinem Umfeld, aus meiner näheren Bekanntschaft Opfer einer Straftat geworden ist, wenn ich darüber lese und mich in der Nachbarschaft nicht mehr sicher fühle, wenn Fragen der Stadtplanung betroffen sind, wenn Fragen des Zusammenlebens betroffen sind. Weil die Frage der subjektiven Sicherheit einen Einfluss auf reales Verhalten haben kann, gehört auch sie zum Ziel- und Kernbereich der Sicherheitspolitik. ({0}) Die subjektive Sicherheit ist auch deswegen für uns eine wichtige Frage, weil sie – zweitens – eine Einbruchstelle für politische Kräfte aller Art und besonders für Populisten ist, die Statistik zum Gegenstand von Forderungen aller Art machen. Wenn man sich auf den Dunkelfeldbereich bezieht, auf Straftaten, die gar nicht zur Kenntnis der Sicherheitsbehörden gelangen, dann kann man immer Forderungen stellen, die möglicherweise gar keine statistische Grundlage haben. ({1}) Weil diese Einbruchstelle für Populisten gerade in der derzeitigen Situation so gefährlich ist, bedarf es auch aus unserer Sicht einer Untersuchung des Dunkelfeldes. ({2}) Das ist auch Teil der Auseinandersetzung, die man über die objektive und die subjektive Sicherheit in Deutschland führen muss. Es ist zu Recht schon darüber gesprochen worden, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik und auch die Erhebungen über die politisch motivierte Kriminalität in Deutschland bestimmte Mängel aufweisen. Das ist vor allen Dingen der unterschiedliche Zeitpunkt. Wir haben auf der einen Seite eine Eingangsstatistik, auf der anderen Seite eine Ausgangsstatistik; verschiedene Statistiken, die möglicherweise zu einem unklaren Bild führen. Deswegen kann man am Ende nur sagen: Dass der Periodische Sicherheitsbericht seit dem Jahr 2006 nicht erschienen ist, ist ein großer Nachteil für die Sicherheitsarchitektur in Deutschland. Es wäre gut und richtig, wenn das wieder passierte. ({3}) Nun ist es so, dass wir einen Gesetzentwurf vorliegen haben. Wir als Fraktion der Freien Demokraten fragen uns ein bisschen: Ist eigentlich die Legislative der richtige Ansprechpartner für das Programm eines Periodischen Sicherheitsberichts? Ist es nicht vielmehr Kernaufgabe der Exekutive, so etwas in Auftrag zu geben? ({4}) Es ist richtig: Das ist seit 2006 nicht gemacht worden. Aber dann muss es doch hier in diesem Hohen Haus als Aufforderung an das Bundesministerium des Innern beschlossen werden, so etwas auf den Weg zu bringen. ({5}) Wir haben unsere Zweifel, ob mehr Bürokratie, ob mehr gesetzliche Befugnisse für die Sicherheitsbehörden immer auch zu realen Vorteilen führen. Das mag vielleicht aus Sicht der Grünen so sein. Aber tatsächlich ist das eine Aufgabe der Exekutive. Da kann man im Innenausschuss über die Kriterien diskutieren. Aber ob es immer ein neues Gesetz sein muss, steht doch zu bezweifeln. In diesem Sinne stimmen wir gerne für die Überweisung in den Ausschuss. Da kann man am Ende gucken, ob man das Ganze noch um einige Kriterien und Gesichtspunkte anreichert. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Kollege Kuhle. – Als Nächstes für die Fraktion Die Linke: der Kollege Friedrich Straetmanns. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Anliegen des hier vorliegenden Gesetzentwurfs der Grünen, die Polizeiliche Kriminalstatistik durch einen Periodischen Sicherheitsbericht zu ergänzen, geht in die richtige Richtung. Die bisherige Statistik hat viele Mängel und liefert nicht die Informationen, die wir für eine sachliche Debatte benötigen. So erfasst sie nicht die reale Anzahl der Straftaten, sondern basiert auf dem Anzeigeverhalten der Bevölkerung. So sagt eine bloße Zahl, etwa wie viele Anzeigen von Gewaltverbrechen registriert worden sind, nichts darüber aus, ob diese Verbrechen im familiären Umfeld oder im öffentlichen Raum geschehen. Das zu wissen, ist aber für die polizeiliche und insbesondere für die gesetzgeberische Arbeit wichtig. Wir brauchen nicht nur die nackte Statistik, sondern ein umfassendes vertieftes Lagebild, um zu vernünftigen Schlussfolgerungen zu kommen. ({0}) Damit habe ich in meiner kommunalpolitischen Tätigkeit in Bielefeld sehr gute Erfahrungen gemacht, wo ich jährlich den Sicherheitsbericht über die Bielefelder Innenstadt von Praktikern vorgetragen bekommen habe. Aber eine gewisse Tendenz lässt sich der Statistik natürlich entnehmen. So wurden im Jahr 2017  9,6 Prozent weniger Straftaten erfasst als noch im Jahr davor. Auch die Gewaltkriminalität ging um 2,4 Prozent zurück. Diese Realität muss man zur Kenntnis nehmen, gerade angesichts der beständigen Panikmache von Rechtsaußen. ({1}) Nehmen Sie lieber zur Kenntnis: Seit der Wiedervereinigung hat es mindestens 169 Todesopfer rechter Gewalt gegeben und nicht nur 83, wie von der Regierung behauptet. Das ist traurige Realität in diesem Land. ({2}) Die bisherige Polizeiliche Kriminalstatistik erlaubt in keiner Hinsicht die Schlussfolgerung, dass Gesetze verschärft werden müssen. Weil es in diesem Haus eine Fraktion gibt, die ununterbrochen den Untergang des Abendlandes beschwört: Auch die jetzige Statistik liefert keinen Hinweis darauf, dass es in Deutschland irgendwie gefährlicher geworden ist. ({3}) Was die erwünschten Folgen einer, wie es im Entwurf heißt, „evidenzbasierten Sicherheitspolitik“ betrifft, bin ich allerdings skeptisch. Wenn es um Kriminalität geht, kochen Emotionen hoch und schalten die Vernunft aus. Dies gilt auch für die Damen und Herren der AfD, die lieber auf Stimmungsmache und Gruselgeschichten als auf Sachargumente setzen. Hier ist aber festzustellen: Auch die Bundesregierung lässt sich häufig von Stimmungen statt von Tatsachen leiten. Die Gesetzesverschärfungen der letzten Jahre, die sogenannten Antiterrorgesetze, der Ausbau der Videoüberwachung usw., geschahen alle ohne ausreichende Analyse der tatsächlichen Gefahrenlage, ja sogar gegen den Rat von Experten. Als Stichwort nenne ich die elektronische Fußfessel für Gefährder, die selbst in Polizeikreisen als nutzlose Symbolpolitik bezeichnet wird. ({4}) Nach meiner Überzeugung müssen wir uns gerade im Bereich der Sicherheitspolitik von Fakten und nicht von Vermutungen leiten lassen. Dafür müssen wir besser und exakter erfassen, ruhiger auswerten und nicht Gesetze verschärfen, nur weil es das vermeintliche Rechtsempfinden der Bevölkerung erfordert. Trauriges Beispiel ist das bayerische Polizeiaufgabengesetz, das wir gemeinsam mit Grünen und FDP in Karlsruhe zu Fall bringen werden; da bin ich mir sehr sicher. ({5}) Meine Damen und Herren von der CSU, den Rechtsstaat schützt man nicht, indem man die Grundrechte der bayerischen Bürgerinnen und Bürger aushebelt, und eine Wahl gewinnt man damit hoffentlich auch nicht. ({6}) Dieser Gesetzentwurf dagegen ist als ein Beitrag zu mehr Aufklärung zu begrüßen: gegen Hass, Vorurteile und blinden Aktionismus. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächster spricht zu uns der Kollege Philipp Amthor, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren über den Entwurf eines Kriminalitätsstatistikgesetzes der Grünen. Wenn man den Gesetzentwurf liest und der Debatte folgt, dann könnte man ja glauben: Das ist der ganz große Wurf für die innere Sicherheit in unserem Land. ({0}) Ich will Ihnen deutlich sagen: Ich glaube das nicht. Ich glaube das aus zwei Gründen nicht: erstens, weil ich der Überzeugung bin, dass das Gesetz überhaupt nicht notwendig ist, und zweitens, weil ich glaube, dass Sie die Wirkungsweise von Kriminalitätsstatistik überschätzen. Warum ist das Gesetz nicht notwendig? Sie haben Ihrerseits, Frau Mihalic, immer wieder auf die Polizeiliche Kriminalstatistik verwiesen. Für diese Form der Statistik gibt es auch keine gesetzliche Grundlage, keine Aufforderung dazu. Es funktioniert trotzdem. Kollege Konstantin Kuhle hat sehr richtig ausgeführt: Für eine solche Statistik braucht man kein Gesetz. Das macht die Exekutive schon ganz von alleine. ({1}) – Beruhigen Sie sich. Das kommt gleich. – Ich will Ihnen sagen: Sie müssen nur den Koalitionsvertrag lesen. Wir haben vereinbart, dass wir den Periodischen Sicherheitsbericht jetzt neu vorlegen werden. Wenn Sie uns treiben wollen, dann machen Sie das doch mit Dingen, die wir nicht schon selbst beschlossen haben. Das würde schon ausreichen. Also, wir werden das entsprechend vorlegen. Aber auch Ihnen dürfte nicht verborgen geblieben sein, dass wir in den letzten Wochen und Monaten in der Innenpolitik wichtigere Dinge hatten als das Thema mit irgendwelchen Berichtspflichten. ({2}) Ganz deutlich gesagt: Die Steuerung und Begrenzung der Migration und der Pakt für den Rechtsstaat sind wichtiger als Ihre Berichtspflichten, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Unabhängig davon, dass wir, um diesen Bericht vorzulegen, Ihren Gesetzentwurf gar nicht brauchen, kann ich Ihnen auch sagen: Wenn Sie schon ein Gesetz machen, dann machen Sie es doch richtig. ({4}) Schauen wir uns das einmal unter dem Gesichtspunkt der technischen Gesetzgebung an. Mal nachlesen: § 3 Absatz 1 Satz 1 Ihres Gesetzentwurfes enthält Feststellungen, keine Regelungen, gar kein normativer Gehalt. So etwas gehört in die Begründung und nicht in die Norm. Das ist halbherzig gemacht. Inhaltlich enthält Ihr Gesetzentwurf wenig Regelungen und allerlei krumme Sachen. Das ist uns ein Gesetz nicht wert. Wir werden diesen Bericht vorlegen, ohne dass wir dafür ein Gesetz brauchen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Sie überbewerten die Relevanz von solchen Berichten; denn ganz deutlich muss man sagen: Ich sehe zuallererst keinen Mehrwert in dem von Ihnen geforderten Bericht, sondern ich sehe, dass das ganze Projekt 2 Millionen Euro im Jahr kosten soll, 2 Millionen Euro, von denen ich überzeugt bin, dass sie bei den Polizistinnen und Polizisten in unserem Land besser angelegt wären. ({6}) Ich sage Ihnen: Auch mit den besten Berichten, die Sie vorlegen, werden Sie die Terroristen und die Cyberkriminalität in unserem Land nicht bekämpfen. Terror und Cyberkriminalität bekämpft man nicht durch Berichte, sondern durch eine Polizei, die in der Lage ist, auf der Höhe der Zeit zu operieren. ({7}) Deswegen würde ich mich freuen, wenn Sie mit uns zum Beispiel eher über eine Ausweitung der Befugnisse reden. Das ist es, was wir brauchen, damit der Rechtsstaat mithalten kann, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Dann verkennen Sie überhaupt auch die Bedeutung einer objektiven Sicherheit, die Sie aus diesem Gesetzentwurf ableiten wollen. Ich sage Ihnen: Wenn ich in meinem Wahlkreis an der polnischen Grenze mit einem Landwirt rede, bei dem das dritte Mal in Folge auf dem Hof eingebrochen wurde, dann will er nicht Ihre Statistik haben, sondern er will, dass dieser Rechtsstaat funktioniert. ({9}) Daran arbeiten wir. Ihren Gesetzentwurf brauchen wir nicht. Herzlichen Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Amthor. – Als letzter Redner spricht zu uns der Kollege Christoph Bernstiel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Deutschland ist nach wie vor eines der sichersten Länder der Welt. Die Polizeiliche Kriminalstatistik aus dem Jahr 2017 belegt das. Die Zahl der Straftaten ist erneut um 5 Prozent gesunken und ist damit so niedrig wie seit 26 Jahren nicht mehr. Dennoch fühlen sich viele Menschen unsicher in unserem Land. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik nur die Fälle erfasst, in denen unsere Ermittlungsbehörden auch tatsächlich gearbeitet haben. Nicht erfasst sind hingegen alle Straftaten und Delikte, die im Verborgenen begangen werden oder erst gar nicht zur Anzeige gebracht wurden. Diese Fälle schreibt man dem sogenannten Dunkelfeld zu. Die Autorin Marlene Lufen schrieb in ihrem vielbeachteten Buch „Die im Dunkeln sieht man nicht“, dass alle drei Minuten eine Frau in Deutschland vergewaltigt wird. Doch nur 70 Prozent dieser Fälle werden angezeigt. Marlene Lufen erklärt das unter anderem so – ich zitiere –: ... die meisten schämen sich, rechnen sich nur geringe Erfolgschancen aus oder versuchen, den Vorfall schnell zu vergessen. Die Beweisaufnahme nach einer Tat ist schwierig, die Polizeibefragung gleicht einem Verhör und im Gerichtssaal empfinden sie das Prozedere als erniedrigend. So kann das nicht bleiben. Wir brauchen dringend eine Debatte über den Umgang mit Tätern und Opfern in unserem Land. Es kann nicht sein, dass Vergewaltiger ungestraft davonkommen und Frauen sich nicht trauen, solche Taten zur Anzeige zu bringen. ({0}) Doch den Opfern sexueller Gewalt helfen wir nicht, indem wir Wissenschaftlern uneingeschränkten Zugang zu sensiblen Quellen unserer Sicherheitsbehörden ermöglichen, so wie es die Grünen in ihrem Gesetzentwurf fordern. Mit Skepsis blicken wir im Übrigen auch auf den Vorschlag, künftig Bevölkerungsbefragungen zur Aufklärung des Dunkelfeldes durchzuführen; denn erfahrungsgemäß sind solche Umfragen äußerst manipulationsanfällig und tragen nur wenig zur realen Kriminalitätsbekämpfung bei. Sinnvoller wäre hier, eine Befragung der Opfer durchzuführen, sich darauf zu konzentrieren und die sogenannte deliktspezifische Forschung zu stärken. Über allen Bemühungen zur Verbesserung der Statistik muss jedoch das Ziel stehen, Straftaten zu verhindern. Dies können wir erreichen, indem wir unsere Sicherheitsbehörden stärken und mit den erforderlichen rechtlichen Kompetenzen ausstatten.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Mihalic?

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne im Anschluss. – Doch genau das versuchen die Grünen immer wieder zu verhindern. Drei Beispiele. Im Jahr 2016 stimmten Bündnis 90/Die Grünen gegen die erleichterte Ausweisung von straffälligen Ausländern. Im Juni 2017 lehnten sie die Einführung der Schleierfahndung zur Terrorismusbekämpfung in allen Bundesländern ab. In meinem Bundesland Sachsen-Anhalt forderte die Grünenlandtagsfraktion sogar die Abschaffung des Verfassungsschutzes. ({0}) Man muss sich daher schon fragen, wie ernst die Grünen die Kriminalitätsbekämpfung tatsächlich nehmen, wenn sie keine Gelegenheit auslassen, um unsere Sicherheitsbehörden zu kritisieren oder sogar zu schwächen. ({1}) Zum Abschluss möchte auch ich etwas zu den Kosten sagen. Sie gehen von ungefähr 2 Millionen Euro pro Jahr aus, um die Kriminalitätsstatistik zu verbessern. Das sind 8 Millionen Euro pro Legislaturperiode. ({2}) Verbrechen verhindert man nicht mit Statistiken, sondern mit Polizisten auf der Straße und mit klugen Köpfen in unseren Ermittlungsbehörden. ({3}) Zusätzliche Mittel im Sicherheitsbereich sollten daher zuerst in gutes Personal und erst dann in Statistiken investiert werden. Denn den meisten Opfern von Gewalt ist es egal, ob sie in einer Statistik erfasst werden oder nicht. Sie wünschen sich vielmehr, dass anderen Menschen ihr eigenes Schicksal erspart bleibt. Da sollten wir ansetzen. Genau das werden wir tun. Danke schön. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Bernstiel. – Erlauben Sie mir kurz den Hinweis, dass man Zwischenfragen nur während der Rede und nicht am Ende der Rede zulassen kann. Aber das wissen Sie, wie ich mir denke. ({0}) Frau Mihalic hat darauf verzichtet, eine Kurzintervention zu machen. Aber der Kollege Straetmanns möchte eine machen. Ich gestatte diese Kurzintervention.

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Bernstiel, dass Sie noch anwesend sind. – Ganz kurz und knapp: Sie haben eben den Verfassungsschutz und die Polizei zusammen genannt. Ist Ihnen bekannt, welche unterschiedlichen Aufgabenbereiche diese beiden Organisationen oder Behörden verfolgen? Der Verfassungsschutz hat keine polizeilichen Aufgaben. Ich wollte Sie darauf nur kurz hinweisen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Wollen Sie antworten? – Gut, dann haben Sie jetzt das Wort, Herr Kollege Bernstiel.

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zuerst stelle ich einmal fest, dass meine Fraktion im Gegensatz zu Ihrer noch fast vollständig anwesend ist. Aber vielen Dank für den Hinweis. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Bernstiel, das muss ich wirklich bestreiten.

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Um auf Ihre Frage einzugehen: Das Trennungsgebot betreffend den Verfassungsschutz und die Polizeibehörden ist nicht grundgesetzlich verankert. Selbstverständlich sind die Punkte, die ich hier angesprochen habe, konsistent. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Bernstiel. – Sie sollten sich vielleicht umdrehen – um die Frage nach der Anwesenheit noch einmal zu erörtern. ({0}) Damit schließe ich jedenfalls die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/2000 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das höre und sehe ich nicht. Damit ist die Überweisung so beschlossen.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drei Jahre sind seit dem Bekanntwerden des Abgasskandals nun vorüber, und das Thema beherrscht hier – anders als in den USA, dem Land, in dem der Skandal aufgedeckt wurde – immer noch permanent die öffentliche Debatte. Das hat eine ganz einfache Ursache: Weder die Autoindustrie noch die Bundesregierung haben in diesen drei Jahren auf diesen Skandal auf angemessene Weise reagiert, weil sie sich für das Aussitzen entschieden haben. ({0}) Das ist ein Skandal, um das ganz deutlich zu sagen. ({1}) Sowohl die Autoindustrie als auch die Bundesregierung haben geglaubt, dass man das Thema nur so wie eine Grippe behandeln muss: Nach zwei Wochen ist alles vorüber. Aber genau das Gegenteil ist geschehen. Der Abgasskandal hat unsere wichtigste Industrie in die größte Vertrauenskrise ihrer Geschichte geführt. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass das auch zur größten wirtschaftlichen Krise dieser Industrie führt. Dafür trägt diese Bundesregierung eine zentrale Verantwortung, weil sie nicht auf angemessene Weise handelt. ({2}) Es ist ja nicht so, als ob nicht genug darüber geredet worden wäre. Nach unzähligen Dieselgipfeln – man kann schon fast von einem Dieselgebirge sprechen; am Wochenende findet wahrscheinlich wieder ein Dieselgipfel statt – haben Sie das Problem immer noch nicht an der Wurzel gepackt. Es fahren doch Millionen Diesel-Pkws auf den Straßen und emittieren ein Vielfaches des Grenzwertes. Es reicht eben nicht, Herr Scheuer, ein paar Elektrobusse zu fördern oder in der einen oder anderen Stadt die Ampelschaltung zu verbessern. Sie müssen ran an die Hardware der Fahrzeuge. Sie müssen das Problem an der Quelle bekämpfen und dafür sorgen, dass die Fahrzeuge sauber werden. Es kann doch nicht sein, dass wir nach drei Jahren noch immer keine Entscheidung zu diesem Thema haben. ({3}) – Ich höre gerade: „Reiner Populismus!“ – Am Anfang haben nur ein paar Umweltverbände und die Grünen eine Hardwarenachrüstung gefordert. Dann auf einmal war auch die SPD dafür. Inzwischen ist auch die CDU bei dem Thema Hardwarenachrüstung angekommen. Da mögen Frankfurt und die hessische Landtagswahl eine Rolle spielen. Aber immerhin bewegen Sie sich in die richtige Richtung. Der Einzige, von dem man nicht weiß, wo er steht, und von dem man jeden Tag eine andere Meinung und Position – genauso wie in den letzten Minuten ja auch wieder – hört, ist der zuständige Verkehrsminister Andi Scheuer. Ich sage: Das Problem ist personifiziert. Scheuer und sein Vorgänger sind die Ursache dafür. ({4}) Um es klar zu sagen: Ich halte es für zynisch, dass ein Verkehrsminister wochen- und monatelang durchs Land läuft und sagt: Die Flottenerneuerung ist die Lösung. – Das müssen Sie sich mal vorstellen: Da haben Millionen Menschen Geld für einen Diesel ausgegeben, von dem die Automobilindustrie ihnen erzählt hat: Der ist sauber. – Diese Menschen sind betrogen worden. Jetzt kommt der Verkehrsminister und sagt: Kauft ein neues Auto! Dann wird die Luft sauberer. – Ich sage: Das ist kein Verkehrsminister. Das ist ein Verkaufsagent der Automobilindustrie. Das macht unsere Luft nicht sauberer. ({5}) Das Ganze ist am Ende nicht nur eine soziale Frage. Tatsächlich löst man mit einer Flottenerneuerung kein Problem. Der eigentliche Skandal neben den nicht mit Hardware nachgerüsteten Fahrzeugen ist, dass nach wie vor jeden Tag Tausende neue Fahrzeuge auf unsere Straßen kommen – und zwar mit Billigung dieses Verkehrsministers –, die die Grenzwerte nicht einhalten. Deshalb kann die verrückte Situation eintreten, dass ein altes Fahrzeug mit Flottenerneuerung aus dem Verkehr gezogen wird und das neue Fahrzeug sogar noch mehr emittiert. Das kann doch, ehrlich gesagt, nicht die Antwort auf die Dieselkrise sein. ({6}) Deshalb: Herr Scheuer, ich erwarte jetzt und hier von Ihnen eine klare Ansage, was Sie machen wollen. Dieses ewige Hin-und-her-Gewankele! Ich weiß ja nicht, ob der Discobesuch in dieser Woche auch ein bisschen zur Verwirrung beigetragen hat. ({7}) Es kann nicht weitergehen, dass ein Verkehrsminister Deutschland so lange im Unklaren lässt, wie Herr Scheuer das tut, wo wir inzwischen schon die verrückte Situation haben, dass sogar ein Automobilhersteller selbst bereit ist; nur der liebe Andi Scheuer steht noch auf der Bremse – oder: Man weiß nicht genau, wo er steht. Da erwarte ich eine klare Ansage. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. ({0}) Drei Jahre nach Dieselgate ist nicht nur die Hardwarenachrüstung, das Dieselthema an sich ein Problem; das Hauptproblem ist, dass wir eine Verkehrspolitik haben, die nicht Klimaschutz und Nachhaltigkeit berücksichtigt, die nicht die notwendigen Veränderungen anpackt, die die Branche insgesamt braucht, die für eine neue Mobilität stehen. Es reicht nicht, ein paar Städten ein 1‑Euro-Ticket irgendwie zuzubilligen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, bitte!

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir brauchen den Abbau von Diesel- und Dienstwagenprivilegien. Wir brauchen eine Investitionsoffensive für den öffentlichen Verkehr und eine nachhaltige Mobilität. Das ist die Herausforderung. Aber die wird da überhaupt nicht angepackt. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als Nächstes der Bundesminister Andreas Scheuer. ({0})

Andreas Scheuer (Minister:in)

Politiker ID: 11003625

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! ({0}) Herr Kollege Krischer, wie scheinheilig sind denn Sie eigentlich? ({1}) Sie spielen sich hier auf als einer, der die deutsche Automobilindustrie mit Hunderttausenden von Arbeitsplätzen schützen möchte. In Wirklichkeit sind Sie der, als der Sie zum Schluss der Rede entlarvt wurden: Sie wollen eigentlich gar keinen Diesel, gar keinen Verbrennungsmotor. ({2}) Was wäre die Folge? Allein bei Bosch hängen 50 000 Arbeitsplätze am Diesel. Wir in dieser Koalition machen Wirtschaftspolitik, damit der Automobilstandort Deutschland erhalten wird. Wie unvernünftig und gewissenlos sind Sie denn? ({3}) Aber wir haben vor allem die vielen Millionen Dieselbesitzer im Blick. Wenn Sie im Titel dieser Aktuellen Stunde vorsätzlich formulieren: „Drei Jahre Abgasskandal – Jetzt für saubere Luft sorgen“, dann machen Sie nichts anderes als beinharten Populismus; ({4}) denn der Abgasskandal ist ein ganz anderes Thema als das Thema der Grenzwerte und der Mobilität in den Innenstädten. Vergackeiern Sie doch die Leute nicht! Wir haben sofort reagiert auf die Fehler und Manipulationen aus der Vergangenheit. ({5}) Wir haben 6,3 Millionen Software-Updates. Wir haben eine Rückrufquote beim VW von 97 Prozent. Die Fehler und Manipulationen werden sukzessive und konzentriert abgearbeitet. ({6}) Wir haben sofort gehandelt, und das belegt auch die Entscheidungskraft dieser Koalition. ({7}) Wenn Sie an dieser Stelle das eine, nämlich die Fehler und Manipulationen, die abgestellt gehören und denen wir mit Hochdruck begegnet sind, ({8}) mit der anderen Geschichte, nämlich der Mobilität in den Innenstädten, in Verbindung bringen, dann machen Sie genau diesen Fehler. Bei dem einen, nämlich den Fehlern und Manipulationen, ist – da haben Sie recht – viel Vertrauen zerstört worden und ein Schaden am Label „made in Germany“ verursacht worden. ({9}) Wir haben den Fonds „Saubere Luft“ mit 1 Milliarde Euro gestartet. Ich habe heute wieder Förderbescheide im Volumen von 16,5 Millionen Euro verteilt, weil die Maßnahmen, die wir gestartet haben, wirken, messbar wirken: bei den Werten in den Innenstädten, ({10}) und das ist die gute Botschaft. ({11}) Wir haben die Millionen Dieselbesitzer im Blick. Ich frage Sie: Sind Sie für Hardwarenachrüstung von Euro‑4-Fahrzeugen, Herr Krischer? ({12}) Sehen Sie: 3,1 Millionen Euro-4-Fahrzeuge gibt es in Deutschland, und die sind technisch gar nicht hardwarenachrüstbar; sie sind technisch nicht nachrüstbar. ({13}) Auch mit einem Nobelpreis für Hardwarenachrüstung geht es nicht. Euro‑5-Fahrzeuge: 5,5 Millionen; davon nur ein Drittel hardwarenachrüstbar. Damit wir in die Breite kommen, brauchen wir eine andere Diskussion, nämlich dass wir den Millionen Dieselbesitzern die Botschaft geben, dass wir die Entwertung der Diesel stoppen und dass wir ihnen mit der Perspektive der Flottenerneuerung Sicherheit geben. Das ist das Ziel dieser Bundesregierung, meine Damen und Herren. ({14}) Wenn Sie so geil darauf sind, dass man in altes Wagenmaterial eine Hardwarenachrüstung reinschmeißt, um mit einem alten Diesel weiterhin in den Innenstädten zu fahren, ({15}) obwohl wir nicht einen Hersteller haben, der beim KBA überhaupt ein Genehmigungsverfahren laufen hat: Das ist die falsche Entscheidung, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({16}) Deswegen freut es mich, dass diese Bundesregierung, diese Koalition – vor ein paar Stunden und am Montag Thema im Koalitionsausschuss – für die Millionen Dieselfahrer eine Botschaft haben wird. Wir sind in der Ausarbeitung eines guten Konzepts über die Bundesministerien hinweg. ({17}) Wir werden eines machen: nicht nur die Städte mit intensiver Belastung im Blick haben, sondern in der Breite den Dieselbesitzern diesen Dieselknick ausgleichen, ({18}) weil der Markt es regeln wird, weil wir Modernisierung haben wollen und weil wir eine Flottenerneuerung haben wollen. Das muss die Botschaft sein. ({19}) Dabei sind auch die ausländischen Hersteller gefragt. Wir sind mit beiden im Gespräch: mit den deutschen Herstellern und mit den 25 ausländischen Herstellern. Wir sind dabei, dass wir den Dieselbesitzern ein wirkliches Angebot machen. ({20}) Sie wollen ja generell, dass die Diesel aus dem Markt kommen. ({21}) Ich sage: Die Handwerker, die Pendler, die Menschen, die lange Strecken fahren müssen, brauchen einen sparsamen Diesel und am besten einen sparsamen Diesel deutscher Ingenieurskunst. Das ist unsere Herangehensweise. ({22}) Was machen wir weiter? Wir haben schon längst Hardwarenachrüstung dort, wo es wirklich sinnvoll ist. Die Bundesregierung hat zusammen mit den Haushaltspolitikern und den Verkehrspolitikern entschieden, dass wir die Fahrzeuge umrüsten, bei denen es wirklich sinnvoll ist, nämlich die Dieselbusse in den Innenstädten. ({23}) Mit 92 Prozent Schadstoffreduzierung geht jetzt ein Dieselbus in Düsseldorf an den Start. ({24}) Wir haben sehr viele Förderbescheide. Wir wollen an dieser Stelle umrüsten. ({25}) Wir wollen was für die Kommunalfahrzeuge tun – Straßenreinigung, Müllfahrzeuge, Feuerwehr, Krankenwagen –, damit die Fahrzeuge der öffentlichen Infrastruktur wirklich sauber sind. Da gibt es Nachrüstsätze. Da gibt es Genehmigungen. Da machen wir Förderrichtlinien – das wirkt wirklich –, ({26}) damit die Werte in den Innenstädten runtergehen. ({27}) Wir werden das auch auf die Lieferdienste und die Handwerkerfahrzeuge ausweiten. Das macht das Gesamtkonzept aus: Auf der einen Seite wollen wir die Fahrzeuge, die zu 100 Prozent in der Innenstadt fahren, wirklich sauberer bekommen, und auf der anderen Seite wollen wir den Millionen Dieselbesitzern eine gute Botschaft geben. ({28}) Sie haben dann verschiedene Optionen, wie sie sich entscheiden, und die Hersteller sind in der Pflicht. Wir sind in dieser Woche einen wirklichen Schritt weitergekommen. Es geht darum, mit guten Tauschprämien, mit geringen Leasingraten ein gutes Angebot zu machen, damit wir Euro‑4- und Euro‑5- in saubere Euro‑6-Diesel tauschen. Das ist Wirtschaftspolitik, das ist Industriepolitik, und das ist Verbraucherpolitik dieser Koalition, meine Damen und Herren. ({29}) Sie sind nur auf dem Trip, dass wir auf dem Umweg, den Sie ständig so verständnisvoll formulieren, diese Mobilitätswende, wie Sie das nennen, herbeiführen. Was bedeutet Mobilitätswende? Sie wollen auf Verboten basierend Politik machen. Wir wollen auf Anreizen basierend Politik machen. Das ist genau der Unterschied zwischen euch und uns, meine Damen und Herren. ({30}) Herr Krischer, Sie wollen aussperren, und wir wollen, dass gut gefahren werden kann in einer Innenstadt mit sauberer Luft. Das ist unser Konzept. ({31}) Das macht diese Koalition übers Wochenende in harter Arbeit, sodass wir am Montag nach dem Koalitionsausschuss den Bürgerinnen und Bürgern eine gute Botschaft geben können: Mit dieser Koalition gibt es gute Mobilität, bessere Mobilität, ({32}) aber obendrauf auch saubere Luft dank neuer Technologie. Das ist unsere Herangehensweise. ({33}) Meine Damen und Herren, ich möchte Sie um eines bitten – wahrscheinlich wird es sowieso nicht fruchten; ({34}) ich komme aus einer Automobilherstellerregion, wo wir 2,7 Prozent Arbeitslosigkeit haben und in den letzten Jahrzehnten Millionen von neuen Fahrzeugen produziert haben –: Wir müssen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den Millionen Menschen im Bereich der Automobilindustrie, im Bereich der Logistik und im Bereich der Forschung und Entwicklung die Botschaft senden, dass dieses Hohe Haus in seiner Verantwortung für unseren Wirtschaftsstandort eines im Blick hat, nämlich Wohlstand und wirtschaftliche Prosperität, damit wir uns das, was wir hinsichtlich sozialer Sicherheitsstandards und vielem mehr entscheiden, überhaupt leisten können. ({35}) Dazu brauchen wir eine gute deutsche Automobilindustrie, gute deutsche Produkte für Dieselfahrer, Benziner und – vor allem auch mit Blick auf die neue Mobilität – alternative Antriebstechnologien. ({36}) Deswegen wird mein Haus technologieoffen fördern. Das wird so bleiben, damit wir eines bekommen und verbessern: gute Mobilität und saubere Luft – nicht im Widerspruch, sondern als Exportschlager. Herzlichen Dank. ({37})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Minister Scheuer. – Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Marc Bernhard, AfD-Fraktion. ({0})

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! „Zeige mir einen Lügner, und ich zeige dir einen Dieb.“ Sie missbrauchen die diffusen Ängste der Menschen, krank zu werden, für Ihre politischen Ziele. ({0}) Es geht Ihnen aber nicht um Gesundheit oder Umwelt. Es geht Ihnen allein darum, den Menschen die Freiheit zu stehlen. ({1}) Das Auto hat der Generation unserer Eltern und Großeltern eine noch nie dagewesene Freiheit gebracht – eine Freiheit, die davor nur Könige und Fürsten hatten. Ihnen ist jedes Mittel recht, den Menschen diese Freiheit wieder wegzunehmen. Fahrverbote sind nicht gottgegeben, sondern von Ihnen politisch gewollt. ({2}) Sie haben in Brüssel, wie Ihr damaliger Verhandlungsführer selbst eingeräumt hat, einem völlig willkürlich festgelegten Stickstoffdioxidgrenzwert von 40 Mikrogramm zugestimmt und 20 Jahre lang nichts unternommen, dies zu korrigieren. Dieser Grenzwert stützt sich ausschließlich auf sogenannte epidemiologische Studien, also rein theoretische Hochrechnungen ohne praktischen Bezug. Daher sind auch sämtliche Versuche der WHO, den Grenzwert von 40 Mikrogramm durch klinische Studien zu bestätigen, krachend gescheitert. ({3}) Zum Vergleich: Beim Rauchen einer einzigen Zigarette atmen Sie 50 000 Mikrogramm Stickstoffdioxid ein. ({4}) Eine Schachtel entspricht also 1 Million Mikrogramm. ({5}) Wenn also das wahr wäre, was Sie hier behaupten, müssten alle Raucher innerhalb von ein bis zwei Monaten tot sein. Das ist ja ganz offensichtlich nicht der Fall. ({6}) So lautete auch das klare Ergebnis des Diesel-Untersuchungsausschusses hier im Deutschen Bundestag: Unter 900 Mikrogramm pro Kubikmeter gibt es keine Gesundheitsbeeinträchtigungen. ({7}) Denn wenn der Gesundheitsschutz einen so niedrigen Grenzwert erfordern würde, wie rechtfertigen Sie dann eigentlich Ihre Tatenlosigkeit und Ihr Desinteresse daran, dass der Grenzwert für Arbeitsplätze in Deutschland 950 Mikrogramm beträgt, meine sehr geehrten Damen und Herren? ({8}) Dort also, wo sich die Menschen jeden Tag acht Stunden und mehr aufhalten, dürfen sie mehr als das 20-Fache dessen einatmen, was sie an der Kreuzung einatmen, wo sie nur wenige Minuten am Tag sind. Daran sieht man: Es geht Ihnen nicht um die Gesundheit der Menschen, sondern einzig und allein darum, ihnen das Auto und damit die Freiheit wegzunehmen. ({9}) Dazu ist Ihnen jedes Mittel recht. Sie stellen die Messstationen so manipulativ auf, dass es unweigerlich zu Fahrverboten kommen muss. ({10}) Auf Ihr Betreiben wurde 2015 die EU-Richtlinie zur Messung der Stickoxidgrenzwerte so geändert, dass der Manipulation Tür und Tor geöffnet ist. Mit dieser Änderung ist es jetzt nämlich möglich, die Messstationen praktisch aufzustellen, wie man will. ({11}) Oder wie erklären Sie sich sonst, dass von 28 EU-Mitgliedstaaten neben Deutschland nur zwei wegen der Überschreitung der Stickoxidgrenzwerte verklagt werden, obwohl in ganz Europa die Situation in den Innenstädten ähnlich ist und überall die gleichen Autos gefahren werden? ({12}) Anderswo in Europa werden Messstationen zum Beispiel in 35 Meter Höhe, auf dem Dach eines Universitätsgebäudes, aufgestellt. In Deutschland dagegen werden Messstationen direkt am Straßenrand oder in der Straßenmitte aufgestellt, um Höchstwerte an Stickstoffdioxid zu messen, ({13}) und eben nicht, um Messwerte zu erhalten, die für die Lebenssituation der Menschen tatsächlich repräsentativ sind. ({14}) Allein wenn Sie die Messstation nur um 4 Meter weiter von der Straße wegstellen, verringert sich der Stickstoffdioxidanteil um 40 Prozent. Genau daran wird offensichtlich, wie Sie mit den Ängsten der Menschen spielen, um ihnen ihr Auto und damit die Freiheit zu rauben. Vergessen Sie bitte eines nicht: Man kann viele lange täuschen; man kann einige immer täuschen; aber man kann nicht alle immer täuschen. – Schluss mit der Panikmache und falschen Fakten! ({15}) Hören Sie endlich auf, die Menschen in unserem Land mit Ihrem ideologisch motivierten Kampf gegen das Auto und Ihren Hirngespinsten zu drangsalieren! Kümmern Sie sich endlich um die wahren Probleme unseres Landes! Herzlichen Dank. ({16})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Bernhard. – Als Nächstes spricht zu uns der Parlamentarische Staatssekretär Florian Pronold. ({0})

Florian Pronold (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003612

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist immer wieder erheiternd, wie viel Verschwörungstheorie man in kurze Redebeiträge packen kann. ({0}) Ich finde, dass die Kolleginnen und Kollegen von der AfD vielen Autofahrerinnen und Autofahrern hier einen Bärendienst erweisen, die massive Wertverluste dadurch erlitten haben, dass von Herstellern falsche Angaben gemacht worden sind und sie im guten Vertrauen auf diese Angaben Dieselfahrzeuge gekauft haben. Diese Menschen schauen jetzt aufgrund der Wertverluste mit dem Ofenrohr ins Gebirge. Außerdem haben diejenigen große Probleme, die in den Innenstädten dauerhaft diesen Belastungen ausgesetzt sind, weil sie eben nicht nur kurz an der Kreuzung stehen, sondern weil sie dort wohnen. Wir wissen doch aus Analysen, dass gerade diejenigen, die keinen großen Geldbeutel haben, an den am meisten belasteten Verkehrsadern wohnen und permanent diesen Belastungen ausgesetzt sind. Deswegen müssen wir alles dafür tun, saubere Luft in den Innenstädten zu haben, damit die Gesundheitsrisiken für die Menschen in Deutschland sinken. ({1}) Das Umweltministerium hat von Anfang an darauf hingewiesen, dass wir in den hochbelasteten Städten nur dann eine Chance haben, die NO x -Belastung zu senken, wenn wir neben all den anderen Maßnahmen, die sinnvoll sind – das Softwareupdate, der Austausch von Dieselbussen durch Elektrobusse, der Austausch von anderen Kommunalfahrzeugen und, und, und –, auch Nachrüstungen anstreben. Ohne Nachrüstungen sind Fahrverbote in vielen deutschen Städten nicht zu vermeiden. Seit über drei Jahren weisen wir als Umweltministerium auf diese Position hin. ({2}) Es ist ein schönes Geschenk für meine Ministerin, die heute Geburtstag hat, dass sich nun auch das Verkehrsministerium dieser Position so deutlich angenähert hat, wie das bisher noch nicht der Fall war. ({3}) Darauf kommt es doch auch an. Wir wissen natürlich eines: Ein Euro‑5-Diesel ist kein Fahrzeug, das fünf oder zehn Jahre alt ist. Die Leute haben das vor drei Jahren gekauft. Nicht alle können es sich trotz günstiger Zinsen leisten, nach drei Jahren ein neues Auto zu kaufen; ({4}) das geht nicht. Deswegen muss es Nachrüstungen geben. ({5}) Die Nachrüstungen müssen diejenigen bezahlen, die dafür verantwortlich sind, dass wir in diese Situation gekommen sind. Das ist doch ganz klar. ({6}) Es ist gut, dass es heute bei den Gesprächen eine deutliche Annäherung gegeben hat und dass wir eine Vielzahl von Maßnahmen umsetzen werden, die zu dem Ergebnis führen, dass es bessere Luft in den Städten gibt, dass Fahrverbote in vielen Situationen mit großer Wahrscheinlichkeit vermieden werden können, aber auch dazu, dass diejenigen, die sich auf den Euro‑5-Diesel verlassen haben, zum Schluss nicht die Dummen sind. Das ist für uns als SPD und für das Umweltministerium die ganz, ganz wichtige Botschaft. ({7}) Es ist gut, dass bei diesen Gesprächen der richtige Weg eingeschlagen wurde. ({8}) Ich bin mir sicher, dass wir am Montag dann auch mit einem guten Ergebnis aus dem Koalitionsausschuss kommen werden. Herzlichen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Staatssekretär, herzlichen Dank – für die Kürze. ({0}) Als Nächstes hat der Kollege Frank Sitta, FDP-Fraktion, das Wort. ({1})

Frank Sitta (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen hier heute in einer Aktuellen Stunde über das Thema „drei Jahre Abgasskandal“ – aus unserer Sicht drei Jahre zu spät. Nun ja, mit dem gewählten Titel hat auch die antragstellende Fraktion gezeigt, dass Aktualität ein reichlich dehnbarer Begriff ist. ({0}) Man muss Ihnen als Grünenfraktion aber zugestehen, dass der eigentliche Dieselskandal, nämlich der Betrugsfall, weder politisch noch juristisch endgültig abgeschlossen und aufgearbeitet ist. Ich möchte hier für meine Fraktion klarstellen: Wer wissentlich ein Produkt herstellt und verkauft, das von vornherein nicht die versprochenen Eigenschaften besitzt, der betrügt den Käufer. ({1}) Wer das tut, hat auch die Verantwortung, den Schaden entsprechend zu begleichen und/oder das Produkt durch geeignete Maßnahmen vollumfänglich in den zugesicherten Zustand zu bringen. Die anderen Fahrzeuge, die Fahrzeuge nach Euro-5-Norm, über die wir hier reden, sind zum Großteil legal nach Recht und Gesetz auf der Straße. In einem Rechtsstaat kann man niemanden dafür belangen, dass er sich an die Gesetze gehalten hat, ({2}) so verlockend das für den einen oder anderen in diesem Hause auch sein mag. Als Freie Demokraten sind wir bekanntlich Anhänger der Marktwirtschaft, und der Grundsatz der Vertragstreue ist ein Fundament dieser Marktwirtschaft. „Jetzt für saubere Luft sorgen“ – nun gut, der zweite Teil des Titels der Aktuellen Stunde suggeriert zumindest eine gewisse Aktualität. In dieser Beziehung kann von einem Skandal aber nicht wirklich die Rede sein; denn die Luft in unseren Städten ist in den letzten Jahren immer sauberer geworden. Seit 2009 sind die maximalen NO x -Werte um über 30 Prozent gesunken. Wir diskutieren hier über Grenzwerte, die zweieinhalbmal so hoch sind wie im ökologisch korrekten Kalifornien. Die Höhe der Grenzwerte und wie wir sie in Deutschland messen, muss unserer Meinung nach dringend überprüft werden. Um die dafür notwendige Zeit zu gewinnen, ist die Bundesregierung unserer Meinung nach aufgefordert, auf europäischer Ebene ein Moratorium zu erwirken, die Grenzwerte auszusetzen und damit auch den Klagen die Rechtsgrundlage zu entziehen und den Fahrzeughaltern in Deutschland eine Mobilitätsgarantie zu gewähren. ({3}) Ich erinnere noch einmal daran, worum es eigentlich geht: Es geht um den Gesundheitsschutz der Menschen. Es geht nicht um das Aufspüren von Rekorden an asphaltierten Flächen, an denen sich niemand längere Zeit aufhält und an denen sich ehrlicherweise auch niemand längere Zeit aufhalten möchte. ({4}) Man kann sich schon wundern, wenn Städte in anderen EU-Ländern, die eher nicht für eine ausgezeichnete Luft bekannt sind, mit den Grenzwerten weniger Probleme haben und dort nun Gebrauchtfahrzeuge aus Deutschland unterwegs sind, die vom Vorbesitzer leider preisgünstig abgegeben werden mussten, weil sie hierzulande von flächendeckenden Fahrverboten betroffen sind. Die Panikmache, die von interessierter Seite betrieben wird, dient, wenn Sie ehrlich sind, doch nicht dem Gesundheitsschutz. Es sind doch andere Motive, die hier eine Rolle spielen. Ziel ist, den motorisierten Individualverkehr zu bekämpfen. ({5}) Jetzt ist es der Diesel, in ein paar Jahren der Verbrennungsmotor an sich, und irgendwann wird man ganz verblüfft feststellen, dass in den Batterien der E-Fahrzeuge nicht nur saubere Luft verbaut ist, sondern auch ungesunde Chemikalien. Die Autoindustrie muss ohne Frage ihren Anteil zur weiteren Verringerung der Schadstoffbelastung leisten. ({6}) Entwicklungspotenzial ist da auch bei den jetzt schon zur Verfügung stehenden Technologien vorhanden. Die Fahrzeugindustrie ist – darauf möchte ich noch einmal hinweisen – ein Fundament des wirtschaftlichen Wohlstands in unserem Land. Wir müssen ihre Innovationskraft für die Herausforderungen der Zukunft nutzen. Wir sollten sie nicht zerstören, so verlockend das auch hier für den einen oder anderen zu sein scheint. Die Industrie muss sich aber auch den Fehlern der Vergangenheit stellen. Dazu gehört ganz klar der Komplex Dieselskandal. Den meisten Herstellern war ein regelrechter Betrug bisher nicht nachzuweisen. Einen rechtlichen Hebel, um sie zu einer finanziellen Beteiligung an den notwendigen Nachrüstungen zwingen zu können, gibt es deswegen wohl nicht. Nichtsdestotrotz liegt eine moralische Verantwortung auch bei denjenigen, die die Regeln gedehnt und zuweilen wohl auch überdehnt haben. ({7}) Mein Kollege Luksic hat Ihnen in der gestrigen Debatte unsere Fondslösung noch einmal ans Herz gelegt. Wir glauben, Fahrverbote erschüttern das Vertrauen der Autokäufer in die Automobilindustrie. Deshalb ist die Branche gut beraten, sich an einer Lösung zu beteiligen, die weitere Fahrverbote überflüssig macht. Wir fordern daher eine ganz klare Mobilitätsgarantie für betroffene Bürger. Ich komme zum Schluss. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind auf dem besten Weg, ohne jede Not die insgesamt immer noch mit Abstand sauberste und effizienteste Spitzentechnologie made in Germany selber mit voller Inbrunst zu zerstören, weil wir uns von der Deutschen Umwelthilfe, die sich vom Konkurrenten Toyota bezahlen lässt, treiben lassen. Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Sitta. – Als Nächstes die Kollegin Ingrid Remmers, Fraktion Die Linke. ({0})

Ingrid Remmers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004134, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Drei Jahre Abgasskandal – aus meiner Sicht, aus Sicht meiner Fraktion waren dies drei verlorene Jahre, drei verlorene Jahre für die Luftreinhaltung, für die betrogenen Verbraucherinnen und Verbraucher und letztendlich auch drei verlorene Jahre für die Autoindustrie. Bei der Aufklärung und Aufarbeitung des Abgasskandals haben unsere Bundesregierung und ihre Vorgängerin vollständig versagt. Erinnern wir uns: Zunächst wollten uns Autoindustrie und Bundesregierung weismachen, es handele sich nur um ein Problem von VW. Mittlerweile wissen wir: Abschalteinrichtungen wurden unter anderem von VW, BMW, Daimler, Fiat, Renault, Peugeot und anderen verwendet. Das heißt, der betrügerische Einsatz von Abschalteinrichtungen betrifft die gesamte Autoindustrie. Und es kann doch nicht sein, dass sich die Autoindustrie in einem Kartell zusammensetzt und beschließt: Wir halten uns nicht an die Umweltgesetze. Wir verwenden einfach alle zusammen einen zu kleinen AdBlue-Tank und regeln die Abgasreinigung runter. Was hat die Bundesregierung bisher unternommen, damit sich so etwas nicht wiederholt? Fast nichts. Aber auch in diesem zentralen Bereich der deutschen Wirtschaft müssen rechtsstaatliche Verhältnisse gelten. ({0}) Für die notwendigen Auseinandersetzungen mit der Autoindustrie fehlt Ihnen, Herr Scheuer, offenbar der Mut. Die Aufarbeitung eines solchen Skandals erfordert Dis­tanz von den Betrügern. Als Buddy der Autokonzerne kann man die notwendigen Maßnahmen nicht treffen. Für Gegenmaßnahmen bekommt man selten Zustimmung der Täter. ({1}) Durch eine Kleine Anfrage von uns kam erst kürzlich noch ans Licht, dass das Verkehrsministerium vonseiten der deutschen Autoindustrie weiterhin belogen wird. Was ist das denn für ein Neuanfang? Weiterhin erzählt die Autoindustrie bei der Zulassung, sie würden keine Abschalteinrichtungen einsetzen. Das Kraftfahrt-Bundesamt muss dann den Einsatz mühselig nachweisen, was inzwischen immerhin einigermaßen gelingt. Aber das kann doch so nicht bleiben. Konsequenzen vonseiten der Regierung? Fehlanzeige! Stattdessen haben Sie, Herr Minister Scheuer, zunächst allein auf die Billiglösung Softwareupdates gesetzt, aber nur, um der Autoindustrie Kosten zu ersparen. Messungen der Deutschen Umwelthilfe und auch der Europäischen Kommission zeigen, dass die Softwareupdates bei weitem nicht das bringen, was sie versprechen. Das heißt, es gibt weiterhin Tote und Erkrankte durch Stickoxide. Die betroffenen Kundinnen und Kunden beklagen sich zu Recht über Wertverlust und drohende Fahrverbote. Letzten Endes hat sich das Verkehrsministerium hier in eine Sackgasse manövriert, die ihm noch teuer zu stehen kommen wird. ({2}) Was jetzt ein mögliches Programm zur Nachrüstung der Dieselautos angeht, kann ich Sie wirklich nur davor warnen, die betrogenen Autofahrerinnen und Autofahrer erneut zur Kasse zu bitten. Ich kann Sie nur davor warnen, wieder etwas vorzulegen, das dem Gerechtigkeitsempfinden der Mehrheit der Bevölkerung zu Recht widerspricht. Wir bleiben dabei: Sie haben eine gesetzliche Grundlage, die Hersteller auf eigene Kosten zu einer technischen Nachrüstung zumindest der Euro-5- und Euro-6-Fahrzeuge zu verpflichten. ({3}) Eines möchte ich aber unbedingt betonen: Es geht uns nicht nur darum, Fahrverbote für die betrogenen Dieselkunden zu verhindern. Es geht uns zentral darum, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. ({4}) – Ja, ach herrje! – Es geht darum, dass menschliches Leid durch Asthma und schwere Krankheiten zu verhindern ist. ({5}) Das geht aber nur, wenn bestehende Grenzwerte auch eingehalten werden. Letztlich wird die Luft auf Dauer nur sauberer werden – da schließe ich mich den Grünen an –, wenn wir in den Städten weniger Autoverkehr haben. Wir brauchen eine andere Mobilität, eine Mobilität mit weniger motorisiertem Verkehr. Wenn wir es in Deutschland nicht schaffen, eine Lösung für den Verkehr jenseits des Verbrennungsmotors zu entwickeln, dann werden es andere machen. Die Bilanz der Bundesregierung nach drei Jahren Dieselskandal ist verheerend. Die Probleme sind nicht gelöst; viel Vertrauen ist verloren gegangen. Durch fehlende Anstöße zur Innovation verspielen Sie die Zukunft der Autoindustrie und vor allem ihrer Arbeitsplätze. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Remmers. – Als Nächster spricht zu uns der Kollege Oliver Grundmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Oliver Grundmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004283, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich will heute einmal aus der Praxis berichten. Ich bin gerade auf der Suche nach einem neuen Auto. Es darf gerne wieder ein Diesel sein. Ich komme aus einem großen Flächenwahlkreis, der eine Distanz von 120 Kilometern hat, und ich bin dort ziemlich viel unterwegs. Ich habe mir in den letzten Wochen Angebote für meinen alten VW-Diesel machen lassen. Das ist ein T5, ein Familienbus – wir haben drei Kinder –, Baujahr 2012. Der Wertverlust allein durch diesen Dieselskandal liegt bei rund 5 000 Euro. Da dachte ich mir: Danke Volkswagen! Auf einen Streich 5 000 Euro vernichtet. Unseren Autohändlern – das will ich an dieser Stelle auch einmal sagen – geht es im Grunde nicht besser. Sie bekommen Leasingrückläufer wie Audi Q5, Q7, VW Touareg – das sind große Fahrzeuge –; der Verlust liegt bei 5 000 bis 10 000 Euro pro Fahrzeug. ({0}) Darauf bleibt allein der Händler sitzen. Der Schaden wird ihm derzeit nicht erstattet. Wir Abgeordneten, meinen vielleicht einige da draußen, können 5 000 Euro verkraften. Aber dem normalen Bürger, der Altenpflegerin, dem Polizeibeamten, dem Pendler mit seinem Golf Diesel, dem einfachen Bürger mit den kleinen Fahrzeugen können wir das eben nicht erklären. ({1}) Wir können ihm auch ganz bestimmt nicht erklären, dass er jetzt selber Geld in die Hand nehmen muss, um seinen schmutzigen Diesel nachzurüsten. ({2}) Wir haben jetzt auch nicht die Zeit, meine sehr geehrten Damen und Herren, endlose Debatten zu führen. ({3}) Wir brauchen jetzt schnelle Lösungen zur Luftverbesserung, sonst kommen diese Fahrverbote. Da ist das Wunschkonzert der Antidieselfraktion genauso kontraproduktiv wie die Hinhaltetaktik der Automobilhersteller, die wir hier sehen. ({4}) Wir müssen uns auch ehrlich machen: Volkswagen hat im letzten Jahr seinen Nettogewinn verdoppelt. ({5}) Das ist gut und wichtig für die heimische Wirtschaft. Zum Glück war der Schaden nicht größer; zum Glück konnten wir die Arbeitsplätze in den Industrieunternehmen erhalten. Aber die fortwährenden Boni-Zahlungen auf dem Rücken unserer Dieselbesitzer sind einfach unanständig. Das geht so nicht, und das können wir da draußen niemandem mehr vermitteln. ({6}) Deshalb erwarte ich nun, nach dem härtesten Ringen meines CSU-Kollegen, Andreas Scheuer, dass wir uns einer sachgerechten und vernünftigen Lösung annähern; dafür steht er. ({7}) Mit Blick auf die Grenzwertüberschreitungen und Fahrverbote sage ich an euch gerichtet, liebe Freundinnen und Freunde der grünen Partei: Das Problem kriegen wir nicht allein durch Volkswagen, durch Nachrüstungen oder die Automobilhersteller vom Tisch und noch viel weniger durch den von Ihnen geführten ideologischen Kampf, ({8}) den ideologischen Kampf gegen den Verbrennungsmotor, den ideologischen Kampf gegen den Individualverkehr, den ideologischen Kampf gegen den Diesel. ({9}) Lieber Oliver Krischer, du weißt das – du kommst aus einem Flächenwahlkreis und wohnst hier in Berlin in einem alten Malocherstadtteil, in Moabit –: Deutschland ist nicht nur Prenzlauer Berg mit Carsharing, Tram und Lastenfahrrädern ({10}) in grün-urbanen Wohlfühloasen. Deutschland ist zu 90 Prozent ländlicher Raum; da kommen wir her. ({11}) Dort gibt es Menschen, die auf ihr Fahrzeug angewiesen sind, weil sie arbeiten und sich ehrenamtlich engagieren. Ich bin nicht gewählt worden, um diesen Menschen ihre Freiheit zu nehmen. ({12}) Was mich aktuell verärgert, so richtig verärgert – dabei will ich es heute dann auch belassen –, ist diese linke Stimmungsmache gegen LNG, gegen Flüssigerdgas. ({13}) Da meint man, den nächsten Sündenbock ausgemacht zu haben. Flüssigerdgas aus den USA ist echtes Teufelszeug für unser Öko-Establishment, gerade für die Linkspartei. Da sind Sie aber auf dem Holzweg. Das ist alles andere als Teufelszeug. Ich sage mal: Im Vergleich zum konventionellen Schweröl in der Seeschifffahrt haben wir dabei 25 Prozent weniger CO 2 , 99 Prozent weniger Schwefelverbindungen, 99 Prozent weniger Feinstaub und 85 Prozent weniger Stickoxide. Das sind Zahlen und Fakten, die nicht nur für den maritimen Bereich, sondern auch für andere Fahrzeugbereiche gelten.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Grundmann, Sie müssen Ihren engagierten Beitrag jetzt leider zu Ende bringen. ({0})

Oliver Grundmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004283, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das sind Informationen, die wir gerade von der IAA-Nutzfahrzeugmesse mitgebracht haben. Andreas Scheuer hat dort eine hervorragende Figur gemacht. Es gibt diese neuen LNG-Antriebstechnologien im Lkw-Bereich. Das ist die Zukunft. In diese Richtung werden wir zukünftig gehen. Ich möchte zum Schluss kommen:

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich bitte darum.

Oliver Grundmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004283, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ideologie ist der natürliche Feind des Verstandes. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Das war für die CDU/CSU-Fraktion, glaube ich, der Kollege Oliver Grundmann. Ich gehe davon aus, Herr Kollege Grundmann, dass Abgeordnete der CDU/CSU auch in Städten wohnen und nicht nur im ländlichen Raum. Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Dr. Dirk Spaniel für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Dirk Spaniel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004899, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn ich die Reden mancher CDU-Politiker höre, frage ich mich ernsthaft, warum Sie unsere Anträge immer ablehnen. ({0}) Drei Jahre Abgasskandal liegen hinter uns. Am 16. Oktober 2015 hat das Kraftfahrt-Bundesamt den Rückruf von 2,4 Millionen VW-Fahrzeugen angeordnet. Der Vorwurf war, dass VW eine illegale Prüfstandserkennung verwendet habe. Als Maschinenbauingenieur und verkehrspolitischer Sprecher der AfD-Fraktion sage ich ganz klar: Das geht so nicht. Die Kunden haben ein Recht darauf, dass sie ein ordentlich zugelassenes Automobil erwerben, das der bestehenden Gesetzgebung entspricht. Wir stehen hier ganz klar an der Seite der Kunden. ({1}) Im Untersuchungsbericht zur Abgasaffäre steht aber auch ganz klar, dass darüber hinaus keinem anderen Hersteller ein illegales Verhalten nachgewiesen werden konnte. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Herr Hofreiter, der sich Fachwissen ja gerne in Tageszeitungen anliest, behauptete hier im Bundestag: Die deutsche Autoindustrie hat in großem Umfang betrogen. Als Begründung dafür werden Ergebnisse von Abgasmessungen im realen Fahrbetrieb zitiert, die weit außerhalb der bei Prüfstandstests zulässigen Werte liegen. Dabei ist das ein ganz logischer Fakt. Es handelt sich bei beiden Messungen um völlig unterschiedliche Bedingungen für Abgasmessungen. ({2}) Ich will das einmal mit einer Pulsmessung vergleichen: Ihr Ruhepuls, entspannt im blauen Sessel, ist nicht vergleichbar mit Ihrem Puls bei einem 25‑Meter-Sprint zum Bus. ({3}) In beiden Fällen handelt es sich um Pulsmessungen. Abgasmessungen im realen Fahrbetrieb, die Sie immer zitieren, waren bis 2017 überhaupt nicht relevant für die Zulassung eines Fahrzeugs. Seit drei Jahren erleben wir eine ideologische Hetzkampagne gegen die Automobilindustrie. An der Spitze dieser Antiautomobilkampa­gne, die sich weitgehend gegen die deutsche Automobilindustrie richtet, stehen wieder einmal die Grünen und die Linken. ({4}) Damit könnte ich noch leben, wenn sich wenigstens die CDU/CSU nicht hätte anstecken lassen. Aus dem Kanzleramt höre ich seit Jahren keine kritischen Töne gegen diese ideologische Hetze. Durch das Schweigen der Kanzlerin haben es die Grünen und große Teile des Journalismus geschafft, dass die breite Öffentlichkeit denkt, jedes Dieselfahrzeug sei ein Luftverpester. ({5}) Bis auf VW haben sich alle anderen Firmen an die Gesetzgebung gehalten und sich lediglich die unklaren Ausführungen der europäischen Abgasverordnung zunutze gemacht. Auch Experten haben dem Bundestag bestätigt, dass der Gesetzgeber hier unsauber gearbeitet hat. Dass Autohersteller im globalen Wettbewerb das Maximale aus der Gesetzgebung herausholen, versteht jeder, der sein Geld schon einmal in der Privatwirtschaft verdient hat. ({6}) Politiker, die noch keinen Tag in ihrem Leben in der Privatwirtschaft gearbeitet haben, verstehen das natürlich nicht. ({7}) Was sagen eigentlich die Mitarbeiter der Autoindustrie zu der permanenten Hetze, die gegen ihre Arbeitgeber erfolgt? Ich zitiere einmal Herrn Osterloh, Betriebsrat bei Volkswagen: Mich wundert dabei, dass der eine oder andere Sozialdemokrat zu meinen scheint, es sei ja nicht so schlimm, wenn 100 000 oder 200 000 Menschen ihren Arbeitsplatz in der Automobilindustrie verlieren … Liebe Kollegen von der SPD, machen Sie ruhig weiter auf Ihrem Weg in die politische Bedeutungslosigkeit! ({8}) Zusammenfassend kann man sagen, dass die Skandalisierung der Abgasmessung von der Politik benutzt wurde, um vom eigenen Fehlverhalten abzulenken. Es wäre Aufgabe der Regierung dieses Landes gewesen, klare und transparente Regeln für Abgasmessungen aufzustellen und diese europaweit einheitlich durchzusetzen. Für die Zukunft gilt, dass die Abgasvorschriften mit vertretbarem technischen Aufwand erreichbar sein müssen, damit die Autofahrer sich das auch leisten können. Nachdem offensichtlich keine politische Kraft in diesem Land für unsere Arbeitsplätze in der Autoindustrie und die Autofahrer eintritt, hat die AfD-Fraktion das jetzt übernommen. ({9}) Die AfD steht für den Schutz deutscher Arbeitsplätze. Dazu gehört der Erhalt des Verbrennungsmotors. Die ideologisch motivierte Nachrüstung lehnen wir als einzige Fraktion in diesem Hause ab. Vielen Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als Nächstes hat die Kollegin Kirsten Lühmann, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Sehr verehrte Anwesende! Am 18. September 2015 wurde der Dieselskandal öffentlich. Der Titel dieser Aktuellen Stunde will uns glauben machen, dass seitdem eigentlich gar nichts passiert ist, um die Luft besser zu machen und die Gesundheit der Menschen in unserem Lande zu schützen. Aber weit gefehlt: Bereits wenige Tage später hat das Verkehrsministerium eine Untersuchungskommission eingesetzt und alle großen in- und ausländischen Automobilhersteller verpflichtet, ihre Fahrzeuge zur Verfügung zu stellen. Alle diese Fahrzeuge wurden untersucht. Dabei wurde festgestellt, dass nicht nur bei VW-Fahrzeugen erstaunliche Abweichungen aufgetreten sind. Es wurden auch die Techniken dazu festgestellt. Unter anderem wurde das sogenannte Thermofenster gefunden. Anschließend wurden sowohl verpflichtende als auch freiwillige Rückrufaktionen eingeleitet. Es wurden Softwareveränderungen vorgenommen, die anschließend dafür sorgten, dass das Auto richtliniengemäß ist. Was richtliniengemäß ist und was eigentlich die Automobilindustrie versprochen hatte, dazu komme ich später. Auf alle Fälle war es sehr gut, dass wir diese Softwareupdates gemacht haben; denn dadurch ist die Luft bei uns sauberer geworden. ({0}) Dann haben wir am 28. April 2016, an meinem Geburtstag, mit den damals hier vertretenen Fraktionen einstimmig einen Untersuchungsausschuss eingesetzt, der auch am 22. Juni 2017 Ergebnisse vorgelegt hat. Was ist seitdem passiert? Nun, liebe Kollegen und Kolleginnen, die meisten dieser Schlussfolgerungen und Ergebnisse wurden bereits umgesetzt. Als Allererstes nenne ich dabei die Musterfeststellungsklage, die Eine-für-alle-Klage, die dafür sorgt, dass man auf Augenhöhe mit der Automobilindustrie vor deutschen Gerichten sein Recht erstreiten kann. ({1}) Das Zweite, was wir feststellen, ist, dass inzwischen die Motorsoftware gegenüber dem Kraftfahrt-Bundesamt, gegenüber der Genehmigungsbehörde, offengelegt werden muss, damit auch das Kraftfahrt-Bundesamt auf Augenhöhe mit der Automobilindustrie prüfen kann. ({2}) Das Dritte ist: Wir haben die Endrohrmessung an Pkw wieder eingeführt, damit keine defekten oder manipulierten Abgaseinrichtungen mehr durch den TÜV oder die DEKRA geschmuggelt werden können. ({3}) Wir haben das KBA gestärkt. Wir haben die realistischen Straßenkontrollen deutlich früher eingeführt, als es eigentlich geplant war. ({4}) Wir haben ein neues Prüfverfahren, das WLTP, eingeführt, zu dem mein Kollege Klare gleich noch etwas ausführen wird. Wir haben eine Förderung aller Antriebsarten vorgenommen, wie es der Untersuchungsausschuss gefordert hat, und zwar technologieoffen. ({5}) Wir haben ein „Sofortprogramm Saubere Luft“ aufgelegt, liebe Kolleginnen und Kollegen, das für die 70 höchstbelasteten Städte Sofortmaßnahmen vorsieht und sehr erfolgreich ist. ({6}) Was wir jetzt machen müssen, ist, dass wir dieses Programm ausweiten auf andere Städte; denn es gibt nicht nur 70 Städte, in denen die Luft besser werden muss. In ganz Deutschland haben wir die Situation, dass wir im Rahmen des Gesundheitsschutzes möchten, dass die Luft besser wird. Wir haben aber auch noch einige Restanten. Eines wurde hier schon oft erwähnt, die Hardwarenachrüstung. Ich bitte Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen: Wir können darüber diskutieren. Aber wer behauptet, das wäre technisch nicht möglich, verkennt nicht nur die Realität, sondern auch mehrere Gutachten, die unter anderem vom Verkehrsministerium in Auftrag gegeben wurden. Mein Kollege Arno Klare hat schon vor zwei Jahren hier an diesem Pult ein Gerät gezeigt, das die Abgasentwicklung in Dieselfahrzeugen deutlich verbessert. Das ist kein Hexenwerk. Das ist da, das kann eingebaut werden. ({7}) Das geht bei nahezu allen Fahrzeugen. In Euro-1-Busse und Euro-2-Busse wurde es bereits eingebaut. Was wir jetzt überlegen müssen, ist – das muss man ganz ehrlich sagen –: Lohnt es sich wirklich bei jedem Fahrzeug? Lohnt es sich bei einem Fahrzeug, das einen Restwert von 2 000 Euro hat, für 3 000 Euro eine Abgasreinigung einzubauen? Liebe Kolleginnen und Kollegen, darüber lasse ich gerne mit mir reden, aber nicht bei den neuen Euro-5- und Euro-6-Fahrzeugen, die möglicherweise nach drei Jahren verschrottet werden. Was ist denn das für eine Umweltbilanz, wenn ich ein neues Auto verschrotte? ({8}) – Nein, wir machen es auch nicht. Wir fordern ja die Nachrüstung, lieber Kollege Spaniel, und die werden wir auch kriegen. ({9}) Als Letztes: Wir brauchen – das hat der Untersuchungsausschuss gefordert – Normenklarheit. Auch hier haben wir Ideologie. Die einen erzählen: „Es ist doch alles klar, wir brauchen nichts zu ändern“, die Industrie baut munter anders weiter. Lassen Sie uns doch endlich vernünftige, klare Regeln machen, ({10}) die wir nicht vor Gericht diskutieren müssen, sondern die für alle eindeutig sind. Dann werden wir auch dazu kommen, dass das Vertrauen in den Industriestandort Deutschland und in den Gesundheitsschutz in diesem Land wiederhergestellt werden kann. Das muss unser Ziel sein. Herzlichen Dank. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner hat der Kollege Stefan Gelbhaar, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({0})

Stefan Gelbhaar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004726, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vorab ein Wort an Herrn Grundmann, der jetzt schon verschwunden ist. ({0}) – Kommt wieder, umso besser. Richten Sie ihm aus: Ich lade ihn gern in den Prenzlauer Berg ein, damit er da seine Neidreflexe oder Ähnliches ablegen kann. Wir kriegen das gemeinsam hin. Ich möchte Sie auf das Ergebnis einer Umfrage hinweisen, die vor zwei Wochen in der „Berliner Morgenpost“ veröffentlicht wurde. Dort stand: 80 Prozent haben den Eindruck, dass die Politik im VW-Skandal eher die Interessen der deutschen Autoindustrie vertreten hat. … Nur drei Prozent meinen hingegen, dass die Politik dabei eher die Interessen der betroffenen VW-Dieselbesitzer vertreten hat. Herr Minister Scheuer, dieses Bild haben Sie heute wieder perfekt bestätigt. ({1}) Und natürlich kennen Sie alle das Dieselurteil zu Frankfurt am Main von vor drei Wochen. Mehr und mehr Städte müssen jetzt Fahrverbote verhängen, um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. ({2}) – Doch, das steht da genau so drin. Herr Scheuer, vor dem Hintergrund dieser jüngsten Gerichtsentscheidung sowie des krachend klaren Ergebnisses der Umfrage frage ich: Ist der Groschen nun endlich gefallen? Wir wissen ja, dass Umfragen Angela Merkel immer stark beeindrucken. Aber, Herr Scheuer, kriegen auch Sie jetzt die Kurve? Zeit wäre es. ({3}) In Deutschland werden unter Ihrer Verantwortung immer noch Dieselneuwagen zugelassen, die die zulässige Stickoxidgrenze von 80 Mikrogramm überschreiten; denn erst die Euro-6-Norm hält auch im Realverkehr die Grenzwerte ein. Seit September 2017 sind 40 000 dieser Diesel-Pkw mit Euro 6 zugelassen worden. Aber insgesamt wurden seit September 2017  1,4 Millionen Diesel-Pkw zugelassen. Das heißt, gerade einmal 2,8 Prozent der neu zugelassenen Pkws sind so etwas wie sauber. Das allein ist ein rechtsstaatlich schwer verdaulicher Zustand. ({4}) Jetzt haben Sie sich, Herr Scheuer, angeblich mit VW geeinigt, dass die Dieselautos mit Hardware nachgerüstet werden. Das ist gut. Die betroffenen Dieselautofahrer werden sich freuen. Aber Achtung: In der Presse sprechen jetzt auf einmal alle von einer generellen Dieselhardware­nachrüstung. Der zugrundeliegende „Spiegel“-Artikel bezieht sich jedoch nur auf die durch Schummelsoftware manipulierten Autos. Das heißt, entweder hat der „Spiegel“ das nicht verstanden oder fasst das zu eng, oder das Verkehrsministerium und VW versuchen, mit einem Hackentrick die Öffentlichkeit zu täuschen. Was gilt jetzt, Herr Scheuer? In den letzten Stunden kam einmal diese, einmal jene Meldung zutage. Ihre Politik gleicht langsam einem glitschigen Fisch. Man kriegt Sie nicht zu fassen. ({5}) Deswegen sage ich: Legen Sie diese Vereinbarung endlich offen – das ist ja wohl das Mindeste –, damit dieses Kasperletheater endlich ein Ende findet. Damit kommen wir zu einem weiteren Treppenwitz, zu dieser angepriesenen Umweltprämie. Die Verbraucher sollen ihre meist erst wenige Jahre alten Autos abgeben und sich dafür ein neues, teures Auto kaufen, worauf es dann einen Rabatt via Umweltprämie geben soll. Das ist faktisch so eine Art Konjunkturprogramm für die Automobilwirtschaft: Die Automobilwirtschaft hat betrogen und soll dafür von der Abwrackprämie profitieren. Allein das ist unglaublich. Mich persönlich erinnert das an die Geschichte eines anderen CSU-Ministers aus den letzten Tagen: Fehler machen – oder gar, wie hier, betrügen –, und die Bundesregierung springt sofort und gewährt finanzielle Zulagen. Das meinen Sie doch nicht ernst, Herr Scheuer! Meine Priorität eins sind interessante Tauschoptionen, das haben Sie im „Morgenmagazin“ am Mittwoch gesagt. Was ist eigentlich Ihr Plan, wenn all die Autos wirklich zurückgegeben werden? Wo sollen die hinkommen? Haben Sie dazu irgendwelche Gedanken? Das war dem „Morgenmagazin“ nicht zu entnehmen. Dazu habe ich von Ihnen, ehrlich gesagt, noch nichts gehört. Herr Scheuer, Sie sagen immer wieder, dass die ganzen Nachrüstungen 18 Monate dauern würden. Wir haben diese Aktuelle Stunde überschrieben mit „Drei Jahre Abgasskandal“. Seit drei Jahren hätten Sie also die Möglichkeit gehabt, das zu tun. Sie hätten alle Autos schon zweimal nachrüsten können. Deswegen sage ich Ihnen: Fangen Sie endlich an; sonst erzählen Sie uns dieses Märchen nächstes Jahr immer noch. ({6}) Ich werde das Gefühl nicht los, Sie haben Ihre Rolle in der ganzen Angelegenheit nicht verstanden. Sie gehören zur Bundesregierung. Selbstverständlich wird sich kein Konzernchef bei Ihnen melden und sagen: Hey, Andi, ich habe es jetzt verstanden, kein Problem, wir machen das freiwillig. – Das dürfen die gar nicht. Das sind internationale Aktienunternehmen. Sie sind die Bundesregierung. Ihre Rolle ist es deshalb nicht, Bitte zu sagen oder zu sagen: Wir machen einmal eine Gesprächstherapie. – Ihre Rolle ist es, die Autohersteller dazu zu verpflichten, die Nachrüstungen herbeizuführen – ohne „vielleicht“ und „bitte“. ({7}) Ein Letztes noch, weil ich das an dieser Stelle einmal klarstellen will. Immer wieder wird vorgebracht: Fahrverbote bedeuten Enteignung. Das habe ich von der CDU gehört, das hört man von der FDP, das hört man permanent von der AfD. – Nein, das ist Quatsch, das ist juristisch Quatsch, das ist politischer Dummsinn. ({8}) Ja, mit vielen Fahrzeugen können Sie dann nicht mehr an bestimmten Orten fahren. Auch „flächendeckend“ fiel heute wieder, völlig irre! Aber einmal ehrlich: Auf der Autobahn darf auch kein Mensch mit dem Fahrrad fahren. Deswegen frage ich Sie einmal: Werde ich durch den Bau neuer Autobahnen enteignet? ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Sie müssen jetzt zum Schluss kommen, Herr Kollege Gelbhaar.

Stefan Gelbhaar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004726, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ist Ihr Haushaltsentwurf, ist Ihr Bundesverkehrswegeplan bloß ein großer Plan zur Enteignung von mir und meinem Fahrrad? Das ist doch Quatsch! Wow, das eröffnet völlig neue Ebenen für die politische und juristische Auseinandersetzung. Ich würde sagen: Das Argument der Enteignung sollten Sie stecken lassen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Gelbhaar, bitte.

Stefan Gelbhaar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004726, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Belassen wir es dabei, und kommen wir ansatzweise wieder zurück zu einem fundierten Austausch. Das wäre sinnvoll. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Dr. Christoph Ploß, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege von den Grünen, wenn Sie hier den Eindruck erwecken, Fahrverbote seien keine Einschränkung und nichts Schlimmes für die Bürger, dann muss man Ihnen enorm widersprechen. Ich kann Ihnen als Hamburger gerne von Erfahrungen aus meiner Heimatstadt berichten. ({0}) In Hamburg hat vor einigen Monaten die rot-grüne Regierung das erste Fahrverbot für Dieselfahrzeuge in Deutschland erlassen und damit die Mobilität in der Stadt eingeschränkt. Es handelte sich hierbei um eine politische Entscheidung, die nicht nur negative Auswirkungen auf die Mobilität gehabt hat, sondern auch auf die Umwelt, und deswegen bis heute zahlreiches Kopfschütteln nicht nur in Hamburg, sondern in ganz Deutschland ausgelöst hat. ({1}) Hunderttausende Fahrer, Handwerker, Pendler, Berufskraftfahrer, Reisende, dürfen nicht mehr durch die Straßen fahren, müssen Umwege in Kauf nehmen, und es kommt zu unübersichtlichen Situationen. ({2}) Es gibt noch weitere Folgen: steigende Stickoxidbelastungen in Ausweichstraßen, die vornehmlich in Wohngebieten liegen, mehr Stau, die Umweltbelastung steigt insgesamt an. Wenn Sie von den Linken und den Grünen jetzt empört dazwischenrufen, ({3}) dann kann ich Ihnen sagen: Das sind nicht die Ergebnisse meiner Recherchen oder der Recherchen meiner Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion, sondern das sind die Ergebnisse der Recherchen der Umweltverbände, vom BUND und der Deutschen Umwelthilfe, die Sie hier bei fast jeder Debatte als Kronzeugen anführen. Deswegen sage ich, meine Damen und Herren: Wir müssen uns in dieser Debatte hier im Deutschen Bundestag endlich wieder auf die Fakten konzentrieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei und von den Grünen, Sie machen vor allem die Dieselfahrer für das Überschreiten von Grenzwerten in zahlreichen Städten unseres Landes verantwortlich. Zur Wahrheit gehört – meine Kollegen haben auch in der gestrigen Debatte vollkommen zu Recht darauf hingewiesen –, dass die Prüfdienststellen wie zum Beispiel die DEKRA zu Recht darauf hingewiesen haben, dass viele Faktoren die Messwerte beeinflussen können, beispielsweise die Wetterlage, aber eben auch der Aufstellstandort. Wenn man zum Beispiel die Messstation nur um wenige Meter verschiebt, hat man teilweise völlig andere Messwerte. Deswegen möchte ich mit Nachdruck die Initiative der Verkehrsminister der Länder unterstützen, die gesagt haben: Wir müssen über Stichproben ermitteln, ob die Standorte objektiven Kriterien standhalten und nicht vielmehr ideologisch motiviert ausgewählt wurden. Gerade in den Städten, über die wir hier sprechen, haben wir meiner Ansicht nach viele Standorte, die aus ideologischen Gründen ausgewählt wurden. ({4}) Unser Ziel muss es sein, die Luftqualität anders zu verbessern als durch Fahrverbote. Wenn wir heute darüber diskutieren, wie wir die Luft sauberer machen können, dann ist eine Aussage festzuhalten: nicht durch Fahrverbote, sondern durch andere Maßnahmen, die der Herr Minister eben vollkommen zu Recht hier dargelegt hat und die die volle Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion finden. Wir müssen Dieselbusse und kommunale Dieselfahrzeuge nachrüsten. Dieselfahrzeuge müssen sauberer werden. Gleichzeitig müssen wir in den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs investieren. Die Bundesregierung hat enorm viele Maßnahmen in dieser Legislaturperiode schon auf den Weg gebracht, sodass wir in vielen Städten unseres Landes Investitionen in die Infrastruktur des öffentlichen Nahverkehrs erleben werden. Aber wir brauchen auch massive Investitionen in alternative Antriebstechnologien. Deswegen müssen wir die Infrastruktur für den Bereich der Elektromobilität ausbauen. Wir wollen deswegen noch in dieser Legislaturperiode bis zu 100 000 Ladestationen in Deutschland schaffen und auch die Zahl der Wasserstofftankstellen in unserem Land verdoppeln; denn nur, wenn die Menschen dank einer guten Infrastruktur die Möglichkeit haben, ihr Auto mit alternativen Antriebsstoffen schnell und unproblematisch aufzuladen, dann wird es attraktiv sein, auf Elektroautos zu setzen. Das schaffen wir mithilfe einer guten Infrastruktur, aber eben nicht durch Fahrverbote, die Sie aus ideologischen Gründen verhängen wollen. ({5}) Meine Damen und Herren, ein weiterer wichtiger Beitrag zu einer besseren Luftqualität wird die Digitalisierung unseres Verkehrs leisten. Wenn die Ampelsysteme in unseren Großstädten nur zur Hälfte digitalisiert würden, würde der Verkehr nicht nur flüssiger laufen, sondern durch eine grüne Welle, einen gleichmäßigen Verkehrsfluss – das zeigen zahlreiche Untersuchungen – würden wir auch die Stickoxidbelastung bis zu knapp einem Drittel reduzieren. Lassen Sie uns solche auf die Zukunft ausgerichtete Initiativen ergreifen und nicht ideologisch begründete Fahrverbote verhängen. Lassen Sie mich zum Schluss sagen, werte Kolleginnen und Kollegen: Fahrverbote sind wahrlich kontraproduktiv. Wir müssen jetzt mit voller Kraft in den öffentlichen Nahverkehr, in Elektromobilität und die Digitalisierung des Verkehrs investieren. Nur so schaffen wir saubere und auch leisere Städte in Deutschland. Herzlichen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ploß. – Als Nächster für die SPD-Fraktion der Kollege Arno Klare. ({0})

Arno Klare (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004329, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kirsten Lühmann hat es gerade erwähnt: Der 18. September 2015 ist in der Tat ein historisches Datum. An dem Tag verlor die deutsche Automobilindustrie ihren Nimbus und VW 9,8 Milliarden Euro an der Börse. Letzteres hat ja auch ein gerichtliches Nachspiel. Gibt es seitdem eine Lernkurve? Würde ich diese Frage nicht nur rhetorisch stellen, dann wüsste ich genau, wie geantwortet würde, aber es ist natürlich eine rhetorische Frage. Ja, es gibt eine Lernkurve, aber es gibt Licht und Schatten. Zunächst zum Licht. Ziemlich genau drei Jahre nach dem 18. September 2015, nämlich am 24. September 2018, also vor wenigen Tagen, hat VW in Wolfsburg im Bereich der Elektromobilität die I.D.-Serie vorgestellt. Das ist mehr als nur ein Auto. Das ist ein Modularer Elektrobaukasten, also eine Plattform, auf der ganz viele Fahrzeuge unterschiedlicher Größe, alle batterie­elektrisch, platziert werden können. Die Botschaft war: E‑Mobilität zum Dieselpreis. Die Fahrzeuge sollen nicht teurer sein als ein vergleichbarer Diesel. VW hat an dem Tag formuliert – wörtlich –: Wir setzen alles – alles! – auf diese Karte. Das könnte eventuell in den Schattenbereich hineinreichen, weil man nicht mehr technologieoffen ist. ({0}) Aber immerhin setzt die Tochter Audi noch auf Wasserstoff. Zum zweiten Mal Licht. 13. März 2018. An der Raststätte Brohltal, A 61, ziemlich unbemerkt von der Öffentlichkeit, sind sechs High-Power-Charger von Ionity eingeweiht worden. BMW, Daimler, Ford, VW sind Teil dieses Joint Ventures und errichten 200 von diesen Schnellladeeinrichtungen, jeweils sechs solcher Ladesäulen an den TEN-T-Korridoren in Deutschland, um die Langstreckenfähigkeit von E‑Mobilität zu sichern. Das ist ein großes Investment. Auch das ist Licht. Jetzt zum Schatten. Kirsten Lühmann hat gerade auf WLTP hingewiesen. Der Flughafen Berlin Brandenburg – kein besonderer Ausweis von Riesenerfolg – ({1}) wird im Moment als Parkplatz genutzt, andere Orte in dieser Republik auch. Und der gerade von mir so gelobte VW-Konzern ist nicht in der Lage, emissionsarme Fahrzeuge zu liefern? Nein, man kann sie noch nicht einmal mehr bestellen, und zwar mit der Begründung: WLTP, also der neue Fahrzyklus, kam so überraschend. ({2}) Ich habe hier ein Protokoll der Economic Commission for Europe. Die haben das WLTP entwickelt. Wohlgemerkt: Das war nicht die Europäische Kommission; das muss man fein auseinanderhalten. Das Protokoll ist vom 14. Januar 2009. Es hat davor im November 2008 schon eine Sitzung gegeben. Auf der letzten Seite – das können Sie jetzt nicht sehen – ist ein sogenanntes Gantt-Diagramm, also ein Balkendiagramm zu sehen, in das der Ablauf des Prozesses eingetragen ist. Auf diesem Gantt-Diagramm ist ein Entscheidungstermin, approval termine, für diese Gruppe angegeben, und zwar 2015. So wurde entschieden. 2017 ist das Messverfahren dann „ganz überraschend“ durch die EU-Kommission in Kraft gesetzt worden. Aber das war natürlich nicht überraschend. Strategisches Management von großen Konzernen muss anders aussehen als das, was wir im Moment erleben. ({3}) Meine Damen und Herren, ich will noch etwas zu den Messverfahren sagen, die auch schon gestern hier Thema waren. Die 39. Verordnung zum Bundes-Immissionsschutzgesetz legt in Anhang 3 exakt fest, wo solche Messstationen zu stehen haben. Wenn irgendwo in Europa eine Messstation falsch steht und man sich dafür ausspricht, das ebenso zu machen, dann ist das ein Aufruf zu illegalem Handeln. Und das hier in diesem Hohen Haus, wo wir Gesetzgebung machen? ({4}) Das ist doch ein Unding! Ich bitte darum, solche Äußerungen hier nicht zu wiederholen. ({5}) Manchmal kommt mir die Art dieser Debatte über die Messwerte so vor wie das, was kleine Kinder in einer gewissen Phase machen. Beim Versteckspielen halten sie sich die Augen zu und sagen: „Such mich mal!“ Es geht nicht darum, die Messstationen in Parks zu stellen, es geht darum, die Autos sauber zu machen! ({6}) Die Unternehmen, mit denen ich darüber rede, sagen im Übrigen alle: Wir können das, das ist überhaupt kein Problem. – Ich habe die I.D.-Produktion und die Stationen an der Raststätte Brohltal angesprochen. Daran sieht man: Sie machen es auch. – Wir führen hier die Debatten der Vergangenheit, während die Unternehmen schon längst die Debatten der Zukunft führen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Ich sehe, dass Ihre Uhr, weil eine andere bei einer Minute stehen geblieben war, noch weiterläuft.

Arno Klare (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004329, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jetzt habe ich so vehement geredet, dass sogar die Uhren stehen bleiben.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ja. Sie haben jetzt noch 20 Sekunden.

Arno Klare (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004329, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe noch 20 Sekunden. – Ich erwarte von einem Minister, den ich, was seine Fachlichkeit angeht, im Grunde sehr schätze, ({0}) dass er nicht hinter dem zurückbleibt, was die Automobilindustrie schon längst zugesagt hat. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, herzlichen Dank. – Die deutsche Ingenieurskunst versagt auch bei unserer Uhr hier, aber ich habe die zweite Uhr im Blick. ({0}) Als Nächstes hat der Kollege Felix Schreiner, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({1})

Felix Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004883, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In Erwartung, dass die Uhr jetzt wieder geht, möchte ich mich dem Thema der heutigen Debatte widmen. Mit Blick auf Frankfurt möchte ich Ihnen sagen, dass wir über eine Stadt mit 750 000 Einwohnern sprechen, die morgen zu einer Millionenstadt wird. Zwei Drittel aller Beschäftigten pendeln täglich von außerhalb in die Main-Metropole. Damit ist Frankfurt Deutschlands Pendlerhauptstadt, dicht gefolgt von zwei weiteren Landeshauptstädten, nämlich Stuttgart und Düsseldorf. Diese drei Städte haben neben ihrem Prädikat als Pendlerhauptstädte noch etwas anderes zu bieten: Sie überschreiten beim Stickoxid den Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel, und deshalb drohen allen drei Städten Fahrverbote. Obwohl die NO x -Belastung im Straßenverkehr seit dem Jahr 2000 um 60 Prozent gesunken ist und wir jetzt über 66 Städte sprechen, die im letzten Jahr die Grenzwerte nicht eingehalten haben, geht die Debatte an einer Stelle in die falsche Richtung. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer hat gleich nach seinem Amtsantritt ein ganzes Maßnahmenbündel vorgestellt. Er hat es hier vorgestellt, er hat es in den Ausschüssen vorgestellt und mit uns diskutiert. In eine Debatte wie heute gehört auch, darauf hinzuweisen, dass wir die Nachrüstung der städtischen Dieselbusse vorantreiben, dass wir die kommunalen Fahrzeuge nachrüsten. Wenn wir diese umgerüstet haben, dann führt das übrigens zu einer Schadstoffreduzierung von bis zu 90 Prozent. Dazu gehört die angesprochene Nachrüstung von Millionen Diesel-Pkw mit Softwareupdates. Aber es gehört auch dazu, hervorzuheben, dass wir einen Minister haben, der in diesen Tagen mit der Automobilindustrie im Gespräch ist und gemeinsam mit ihr nach Lösungen sucht. Herr Krischer, man kann sich nicht einfach hierhinstellen und etwas anderes behaupten, so wie Ihr Fraktionsvorsitzender, Toni Hofreiter – ich vermisse ihn nicht; er ist halt nicht da –, ({0}) der Anfang der Woche ein Interview im Deutschlandfunk gegeben hat. Er hat gesagt: Die Bundesregierung hat total versagt und macht nichts an dieser Stelle. – Ich muss Ihnen sagen: Das Gegenteil ist der Fall. ({1}) Der Minister hat es heute dargestellt. Er hat das Thema zur Chefsache gemacht. Er verhandelt gemeinsam mit der Bundeskanzlerin im Kanzleramt mit den Automobilkonzernen, und Sie behaupten hier: „Da passiert überhaupt nichts“? ({2}) Ich finde das unseriös, meine Damen und Herren von den Grünen. ({3}) Sein Engagement zeigt sich auch darin, dass das Kraftfahrt-Bundesamt einen verpflichtenden Rückruf von 100 000 Dieselfahrzeugen angeordnet hat. Genauso abstrus in diesem Interview ist – ich habe es mir übrigens echt angetan und es gelesen –, dass zwar sehr umfangreich über Nachrüstmöglichkeiten gesprochen wurde, aber über die technischen Möglichkeiten wurde nicht gesprochen. Der Begriff „Technik“ kommt ein einziges Mal vor. ({4}) Stattdessen erweckt Herr Hofreiter den Eindruck, dass wir die SCR-Katalysatoren quasi nur aus den Regalen nehmen müssten, dann könnte man sie irgendwo einbauen und alles funktioniert. Aber so einfach ist es nicht. Die technischen Experten in den Anhörungen, Kollege Klare, mit denen wir zu Recht diskutiert und nach Lösungen gesucht haben, sagen uns: Es ist in manchen Bereichen möglich, aber es ist kein einfacher Weg, meine Damen und Herren. ({5}) Wissen Sie, man kann das alles ignorieren und den Leuten erzählen, was alles möglich ist. Aber am Ende kann es zum Beispiel zu einem hohen Anstieg von anderen Schadstoffen kommen. Vorhin fiel der Begriff „Vanadiumoxid“, übrigens ein krebserregender Stoff, der beim Einbau dann zum Beispiel als weitere Folge auftreten kann. Übrigens weisen von vier umgebauten Fahrzeugen des Umweltministeriums Baden-Württemberg mittlerweile zwei Fahrzeuge genau dieses Problem auf, und das habe nicht ich erfunden, sondern das hat Winne Hermann – übrigens ein grüner Verkehrsminister – bekannt gegeben. ({6}) Bei den Euro‑4-Fahrzeugen ist es technisch gar nicht möglich. Bei den Euro‑5-Fahrzeugen gibt es einen höheren Kraftstoffverbrauch. Da kann die Möglichkeit bestehen. Es ist vielleicht möglich, aber wir müssen das diskutieren. Und vor allem haben wir den Zeitfaktor; denn es wird nicht schnell gehen, meine Damen und Herren. ({7}) Auch rechtlich gilt, Herr Gelbhaar – wir haben heute gar nicht über die ausländischen Fahrzeuge in unserem Land diskutiert –: Sie werden keinen Halter eines Fahrzeugs rechtlich verpflichten können, für das eine Genehmigung in Deutschland vorliegt. Das ist die Wahrheit. Ich komme, weil der Präsident schon klingelt, zum Schluss.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich blinke. Ich klingele nicht.

Felix Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004883, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Okay, er blinkt. – Lassen Sie uns aufhören, den Leuten einfache Lösungen zu versprechen, wo es keine Lösungen gibt. Aber lassen Sie uns gemeinsam nach Lösungen suchen. Lassen Sie uns unseren Verkehrsminister Andreas Scheuer in diesen Diskussionen unterstützen, wenn es um Rücknahmeaktionen, Tauschmöglichkeiten und gezielte Hardware-Nachrüstungen geht, wo es wirtschaftlich möglich ist. Aber lassen Sie uns Lösungen mit den Herstellern und mit den Händlern finden. Denn es wird uns nicht helfen, wenn wir unseren Automobilstandort schon vorher an die Wand gefahren haben. Wenn wir das alles plattmachen, dann werden wir am Ende gar nichts erreicht haben, meine Damen und Herren. Lassen Sie uns sachlich diskutieren und nach Lösungen suchen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege.

Felix Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004883, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Leute haben ein Recht darauf, und sie schauen heute auch auf diese Debatte. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Schreiner. Sie wollten ja, dass die Uhr wieder läuft. Insofern muss ich jetzt auch darauf zurückkommen. – Als letzte Rednerin des heutigen Tages wird jetzt zu uns sprechen die Kollegin Ulli Nissen, SPD-Fraktion. ({0})

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Jahren sind Dinge passiert, wo ich vorher gedacht hätte: Das kann doch nicht passieren! Dabei denke ich unter anderem an den Brexit und an die unsägliche Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA. Und: Ich hätte auch nie damit gerechnet, dass unser „Vorzeigeunternehmen“ VW seine Kundschaft so massiv betrügen könnte, wie es vor drei Jahren bekannt wurde. Da habe ich als Erstes an die Belegschaft von VW gedacht. Allein in Deutschland sind das 270 000 Menschen. Viele von denen arbeiten schon in dritter oder vierter Generation im Betrieb. Sie waren stolz auf ihr Unternehmen. Wie musste es ihnen bei der Nachricht gehen? Für den Betrug waren aber 99,9 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht verantwortlich. ({0}) Der Belegschaft gilt nach wie vor meine große Solidarität, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Später stellte sich zusätzlich heraus, dass andere Autohersteller ähnlich ungut mit der Gesundheit der Bevölkerung umgegangen sind. Dies war für mich als Umweltpolitikerin natürlich besonders empörend. Allein in Deutschland gehen wir von etwa 7 000 Toten durch Verkehrsabgase aus. Frühzeitig haben wir von der SPD gefordert, dass neben einem Softwareupdate auch eine technische Nachrüstung auf Kosten der Hersteller erfolgen muss. ({2}) Ich erinnere mich noch, wie der ehemalige Verkehrsminister Dobrindt kräftig bestritten hat, dass überhaupt technische Nachrüstungen machbar sind. Ich habe ihm damals gesagt: Wir sind vor 50 Jahren auf den Mond geflogen, aber eine technische Nachrüstung ist nicht machbar? – Er hat darauf bestanden. Das Gutachten vom ADAC hat bewiesen, dass technische Nachrüstungen nicht nur möglich, sondern auch hochwirksam sind. Die Untersuchungen ergaben, dass sich der Schadstoffausstoß innerorts bis zu 70 Prozent und außerorts bis zu 90 Prozent durch Nachrüstungen reduzieren lässt. Das kann in besonders belasteten Gebieten zu einer Reduzierung von 25 Prozent führen. Die hätten vielleicht ausgereicht – wenn wir es frühzeitig gemacht hätten –, um Fahrverbote zu vermeiden. ({3}) Die Umrüstung muss natürlich auf Kosten der Autohersteller erfolgen. Es gilt auch hier das Verursacherprinzip. Ein großer deutscher Autokonzern erzielte trotz 20 Milliarden Euro Strafen in den USA im Jahr 2017 einen Gewinn von 11 Milliarden Euro. Wie will ich da einem Autobesitzer vermitteln, dass er für seinen entstandenen Schaden selbst vollständig oder auch nur teilweise aufkommen soll? Wie soll ich ihm das vermitteln? Das harte Urteil vom Verwaltungsgericht Wiesbaden gegen meine Stadt Frankfurt hat doch wohl viele aufgeschreckt. Jetzt scheint sich auf einmal einiges zu bewegen. Die Bundeskanzlerin trifft sich mit den Spitzen der entsprechenden Ministerien. Ich bin gespannt. Ich vermute, auch die kommenden Wahlen spielen da eine wichtige Rolle. Viele befürchten, dass ähnliche Urteile auch gegen ihre Städte erlassen werden. Falls die eingelegte Berufung scheitert, dürfen zum 1. Februar 2019 keine Diesel der Klasse 4 und niedriger mehr nach Frankfurt hineinfahren. Ab 1. September 2019 – also ganz knapp – gilt das Fahrverbot auch für Euro-5-Diesel. Ausnahmeregelungen soll es nicht geben. Selbst mehr als 60 Prozent der städtischen Linienbusse wären davon betroffen. Wir können bis zum 1. September 2019 gar nicht so viele entsprechende Elektrobusse kaufen, weil sie am Markt nicht verfügbar sind. Frankfurt ist Deutschlands Pendlerhauptstadt Nummer eins; das ist schon gesagt worden. 362 000 Menschen pendeln täglich nach Frankfurt ein. Da können Sie sich vorstellen, wie viele Menschen vom angekündigten Fahrverbot betroffen sind. Da können Sie sich vorstellen, wie viele Menschen jetzt Angst haben, ihr Fahrzeug nicht mehr nutzen zu können. Menschen haben mir von ihrer Verzweiflung berichtet. Sie haben einen Euro‑5-Diesel gekauft, in dem Glauben, ein gutes, umweltfreundliches Fahrzeug zu haben. Viele haben den Kredit für das Fahrzeug noch längst nicht abbezahlt. Ihnen muss es wie Hohn erscheinen, wenn man ihnen jetzt anbietet, ein neues Auto vergünstigt zu kaufen. Das geht doch nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Wovon sollen sie das bezahlen? Wer kauft ihnen ihr altes Auto ab, ohne dass hohe Verluste entstehen? Leider hat die seit 19 Jahren regierende Hessen-CDU es mehrfach versäumt, genug gegen Fahrverbote zu tun. Anders als die SPD in Bund und Land hat sich die Hessen-CDU nicht frühzeitig für Hardwarenachrüstungen auf Kosten der Hersteller eingesetzt. ({5}) Das Urteil gegen die Stadt dokumentiert daneben das schwere Versagen des schwarz-grünen Luftreinhalteplans für Hessen. Das Gericht hat festgestellt, dass dieser Plan nichts taugt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen jetzt die Verpflichtung der Autohersteller, dass auf deren Kosten die technische Nachrüstung zu erfolgen hat. Außerdem muss durch das Kraftfahrt-Bundesamt umgehend die Zulassung der nachgerüsteten Fahrzeuge erfolgen. Natürlich müssen auch die Luftreinhalteprogramme deutlich intensiviert werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Maßnahmen sind dringend nötig, um etwas für die Gesundheit und auch für die betroffenen Autofahrer zu tun. Ich bitte dafür um Ihre Unterstützung. Danke schön. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, liebe Kollegin Nissen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen ein erholsames Wochenende und uns allen eine schöne sitzungsfreie Woche. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 10. Oktober 2018, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 17.57 Uhr)