Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was haben wir in den letzten Tagen gelernt?
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Die SPD zittert vor Wut vor der eigenen Parteibasis, eine Union in Panik demütigt die eigene Kanzlerin.
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Herr Kollege Baumann, reden Sie zur Geschäftsordnung. Es geht um die Feststellung der Tagesordnung.
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Hinter all dem steht die AfD mit 18 Prozent in den Umfragen. Auch mit Geschäftsordnungstricks kommen Sie da jetzt nicht weiter voran.
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Trotzdem versuchen Sie es, meine Damen und Herren.
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Schauen Sie sich doch einmal die großen westlichen Demokratien an. Überall eröffnet natürlich die stärkste Oppositionspartei, Frau Haßelmann, die Debatte – als Erste nach der Regierung –, und in diesem Haus sind wir das, meine Damen und Herren.
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Sie selbst hielten sich ja lange an diese Regel: 35 Sitzungen, neun Monate lang, bis zur Sommerpause. Wieso wollen Sie das jetzt ändern?
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Ist es Angst? Ist es Neid? Was auch immer: Wenn es gegen die AfD geht, sind die Altparteien sich schnell einig.
Wir waren ja zu Kompromissen bereit,
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die auch für die kleineren Parteien eine Reihenfolge ermöglichen, dass sie drankommen. Auf jeden Fall waren wir zu Kompromissen bereit. Sie aber wollten eine Art Komplott.
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Sie stellen uns völlig gleich mit der deutlich kleineren FDP. Sie verbannen uns diesmal auf TOP 8 – weit vor uns die Grünen,
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die kleinste Fraktion im ganzen Haus. Sie stellen den Willen der Wähler auf den Kopf. Was für eine Missachtung der Demokratie, meine Damen und Herren, an dieser Stelle!
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Neu ist das ja nicht. Schon vor der ersten Sitzung, bevor wir überhaupt da waren, haben Sie ja damit begonnen: Sie haben schnell die Geschäftsordnung geändert, damit wir den Alterspräsidenten nicht haben und die erste Sitzung der Legislatur nicht eröffnen können.
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Da hat es ja schon angefangen. So ging es weiter: Unseren Kandidaten fürs Präsidium ließen Sie durchfallen. Alle Fraktionen stellen einen Vizepräsidenten, der in die Redeschlachten eingreifen kann, der zur Ordnung ruft, der Strafen verhängt. Alle haben so einen. Wir haben keinen.
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Das ist die Benachteiligung.
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Alle haben Vertreter in den Vertrauensgremien, die Haushalte und Schuldenaufnahmen überwachen. Alle sind da drin. Wir nicht. Warum? Bei allen halten Sie sich an die Absprachen, was die Vorsitze in den Ausschüssen angeht – bei uns nicht. Zum Beispiel beim Ausschuss für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Was soll das denn, meine Damen und Herren? Sie beschneiden uns in unseren Rechten und hindern uns daran, unsere parlamentarische Arbeit zu machen. Aber auch mit solchen Methoden werden Sie den Aufstieg der AfD nicht aufhalten; das kann ich Ihnen sagen.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Buschmann, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auf eine solche Schmierenkomödie kann man schulmäßig nur mit Dramentheorie reagieren.
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Was Sie hier aufgeführt haben, entspricht den fünf Akten eines Regeldramas, und auf dieser Grundlage möchte ich das einmal erklären.
Als Erstes kommt die Exposition: Worum geht es wirklich? Es geht hier um das sogenannte Aufsetzungsschema für Kernzeiten.
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Das ist der eigentliche Anlass. Dazu haben wir von Ihnen in Wahrheit nichts gehört.
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Zu diesem Thema gibt es in diesem Hause eine bewährte Tradition, und zwar im Sinne der Demokratie. Die Koalitionsfraktionen haben in diesem Haus eine Mehrheit. Das kann man bedauern,
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aber sie haben eine Mehrheit, und trotzdem sind sie bereit, 50 Prozent der Kernzeiten der Opposition abzugeben. Ich finde, das ist eine gute demokratische Tradition, und dafür gebührt ihnen auch Dank.
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Worum es jetzt geht, ist die Verteilung dieser 50 Prozent Kernzeit auf die Oppositionsfraktionen.
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Nach dem ersten Akt folgt: steigende Handlung mit Erregungsmoment – der Tragödie zweiter Akt, lieber Herr Baumann. Sie haben geglaubt, Sie können uns erpressen. Sie haben nämlich verschwiegen, wie Sie in die Verhandlungen eingestiegen sind.
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Wir haben gesagt: Sie als größte Oppositionsfraktion, machen Sie uns einen Vorschlag, wie wir die Kernzeiten unter den Oppositionsfraktionen verteilen!
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Die Öffentlichkeit soll erfahren, was Sie uns vorgeschlagen haben, nämlich dass Sie 50 Prozent der Kernzeit beanspruchen.
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Sie wollten so viel Kernzeit wie alle anderen Oppositionsfraktionen zusammen.
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Ich möchte Ihnen das mal vorlesen: Sie haben 12,6 Prozent der Stimmen bei den Bundestagswahlen geholt – einverstanden –, wir 10,7 Prozent, die Linke 9,2 Prozent und die Grünen 8,9 Prozent. Das macht circa 29 Prozent. Wir sind also weitaus mehr als doppelt so stark als drei Fraktionen. Und Sie wollten trotzdem genauso viel Redezeit wie wir zusammen. Das ist doch undemokratisch!
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Sie wollten uns in Wahrheit erpressen, weil Sie geglaubt haben, dass wir mehr Angst haben, dass die GroKo uns mit ihrer Mehrheit auf die letzten und hintersten Plätze der Tagesordnung verbannt. Deshalb wollten Sie einen Sondervorteil für sich erpressen. Das hat nicht geklappt,
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und deshalb sind Sie jetzt sauer und haben über alles gesprochen, nur nicht über die Sache.
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Wir haben hier ein Aufsetzungsschema gewählt, das das Wahlergebnis eins zu eins umsetzt, und zwar in der Verteilung Sainte-Laguë/Schepers. Das ist das Verfahren, das wir überall anwenden: bei den Ausschussvorsitzenden, bei den Ausschusssitzen – überall. Es ist keine Verschwörung. Es ist das Verfahren, das wir immer anwenden, und das ist vollkommen demokratisch.
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Das hat nichts mit Verschwörung zu tun. Ihnen ist die Sache doch nur peinlich, weil Ihr Westentaschen-Machiavelli-Trick nach dem Motto „Wir versuchen mal, die anderen zu erpressen und uns einen Sondervorteil zu erschleichen“ nicht funktioniert hat, weil Demokraten nämlich hier zusammenhalten.
Herzlichen Dank.
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Weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegen mir nicht vor.
Damit kommen wir zur Feststellung der Tagesordnung der heutigen 52. und der morgigen 53. Sitzung mit den eben genannten Ergänzungen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Tagesordnung gegen die Stimmen der AfD mit den Stimmen der übrigen Fraktionen festgestellt.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestern hat das Bundeskabinett den Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit 2018 verabschiedet. Ich berichte Ihnen heute gern und vor allem über die Fortschritte, die Deutschland auf dem Weg zu gleichwertigen Lebensverhältnissen in Ost und West gemacht hat.
Gestern hat die Bundesregierung ein Signal für den Osten ausgesendet. Es traf sich der Kabinettsausschuss „Neue Länder“. Zum ersten Mal seit über 15 Jahren hat dieser Ausschuss wieder getagt. Nahezu alle Ressorts sind daran beteiligt, um über wichtige Themen abzustimmen, die den Osten betreffen. Dass der Ausschuss zusammengekommen ist, ist ein Beleg dafür, dass die Regierung die Entwicklung in den neuen Bundesländern ernst nimmt. Ich danke insbesondere Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie sich dieser Sache angenommen und dieses sichtbare Zeichen gesetzt haben.
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Damit stellen wir als Regierung insgesamt die neuen Länder in den Fokus unserer Aufmerksamkeit.
Zudem nahm ebenfalls gestern die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ ihre Arbeit auf. Hier werden bis Ende nächsten Jahres auf vielen Themenfeldern Vorschläge entwickelt, wie wir dem Anspruch auf Gleichwertigkeit in allen Regionen nachkommen können. Dazu gehört unter anderem ein Fördersystem, bei dem wir künftig nicht mehr nach der Himmelsrichtung, sondern nach tatsächlicher Bedürftigkeit entscheiden wollen. Dabei werden selbstverständlich für die neuen Bundesländer ganz wichtige Weichen gestellt, die uns über viele Jahre begleiten werden.
Ich halte die Kommission übrigens auch deshalb für wichtig und richtig, weil sie schon im Namen deutlich macht, dass es nicht um Gleichheit geht. Auch in der Debatte Ost/West sollten wir nicht den Eindruck erwecken, dass alles überall gleich sein sollte. Es geht darum, dass die Lebensbedingungen überall gut sind. Verschiedenheit ist für sich nicht schlimm, sie prägt geradezu unser Land; es darf aber am Ende niemand abgehängt werden.
Mit dem Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit werfen wir einen Blick jenseits der tagesaktuellen Wellen auf die grundsätzlichen Entwicklungen im Osten Deutschlands: auf die Herausforderungen, auf die Erfolge, aber eben auch auf die offenen Fragen. Insgesamt haben wir dabei – das ist mir wichtig zu betonen – mehr Grund zu Stolz auf das Erreichte als Grund zu Skepsis oder Verdruss. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im ganzen Land, gerade auch im Osten, sind besser als je zuvor. Mir ist es wichtig, dass wir den Osten nicht in erster Linie als abgehängten Exoten betrachten, als Anhängsel oder als Problemfall. Deutschland ist ohne den Osten überhaupt nicht denkbar. Ich glaube, gerade wir Ostdeutsche haben allen Grund, mit großem Selbstbewusstsein unsere eigene Geschichte, Kultur und Tradition in den Blick zu nehmen, weil diese unser Land ganz entscheidend mitgeprägt haben.
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Ich sage daher ganz klar: Wenn wir in der Politik als mediale Kommunikatoren nicht positiv über den Osten sprechen, tun das wenige andere.
Einige Regionen im Osten haben inzwischen aufgeschlossen zu erfolgreichen europäischen Regionen in Frankreich oder Großbritannien; gegenüber dem wirtschaftlich auch im europäischen Vergleich erfolgreichen Westen unseres Landes besteht nach wie vor ein Rückstand. Aber es ist ja auch nichts dagegen einzuwenden, dass wir im Westen eine große, eine positive wirtschaftliche Dynamik haben. Davon profitieren wir am Ende natürlich im ganzen Land.
Der Abstand nach dem Zusammenbruch der maroden ostdeutschen Kombinatswirtschaft hat heute vor allem strukturelle Ursachen. Da muss ich vor allem die demografische Entwicklung nennen, die in den ostdeutschen Flächenländern das Wachstum dämpft. Der Bevölkerungsrückgang im Osten, der ja massiv war – teilweise bis zu 31 Prozent –, kann schlicht nicht kompensiert werden, wenngleich mittlerweile dieser Abwärtstrend glücklicherweise gestoppt ist. Berlin legt bei der Einwohnerzahl mittlerweile deutlich zu, und Brandenburg kann davon im Speckgürtel etwas profitieren.
In der Gesamtschau sehen wir also einen positiven Trend. Die Wirtschaftsleistung der ostdeutschen Länder hat sich seit der Wiedervereinigung mehr als verdoppelt. Die Zahl der Erwerbstätigen sowie das durchschnittliche Einkommen sind erheblich gestiegen, die Arbeitslosigkeit ist spürbar gesunken. In den neuen Ländern ist die Arbeitslosenquote zwölf Jahre in Folge gefallen – auf den niedrigsten Wert seit der Wiedervereinigung. Während wir vor zehn Jahren im Osten noch eine um 10 Prozentpunkte höhere Arbeitslosigkeit als im Westen hatten, sind wir heute bei einem Unterschied von 2 Prozentpunkten. Wir sind also mittlerweile in vielen Regionen auf Augenhöhe mit dem Westen.
Allerdings gehört zur Wahrheit, dass mittlerweile die Annäherung stagniert, dass wir nicht mehr so stark vorankommen wie in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten. Zu stark wirken inzwischen die Hemmnisse der von mir schon angesprochen Demografie. Offen gesprochen wird sich das Bruttoinlandsprodukt in den neuen Bundesländern in den nächsten Jahren eher weniger stark entwickeln als in den alten Bundesländern. Für den Einzelnen muss dies überhaupt kein Nachteil sein, weil der Wettbewerb um die zurückgehende Zahl der Arbeitskräfte eher intensiver wird. Das wird auch in der Zukunft dazu führen, dass wir im Osten überproportional steigende Löhne und Gehälter und überproportional steigende Renten haben werden. Die Situation für die Bürger in den ostdeutschen Bundesländern wird sich also auch in den nächsten Jahren nicht verschlechtern, sondern weiter überproportional verbessern.
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Es hat sich mittlerweile eine Unternehmenslandschaft herausgebildet, die in der Lage ist, diese höheren Löhne zu bezahlen. Große Unternehmen finden wir leider noch selten, aber was wir mittlerweile im Osten haben, ist ein gut ausgeprägter Mittelstand. Nicht wenige dieser Unternehmen sind mittlerweile international wettbewerbsfähig, manch eines zählt sogar zu den sogenannten Hidden Champions, Marktführern im globalen Wettbewerb, etwa im Bereich Photonics, im Bereich des Leichtbaus, der Mikroelektronik oder auch der Chemie. Anders als vor vielen Jahren sehen wir zwischenzeitlich auch, dass Unternehmen aus dem klassischen Mittelstand herauswachsen, dass sie größer werden. Das Fundament vieler Unternehmen im Osten ist in den letzten Jahren deutlich stabiler geworden. Die aus dem Fehlen der großen Global Player resultierende Kleinteiligkeit ist neben dem bereits erwähnten demografischen Problem aber eines der Hauptentwicklungshindernisse.
Natürlich liegen nicht alle strukturschwachen Regionen Deutschlands im Osten. Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen Ost und West, nämlich dass der Osten nahezu flächendeckend strukturschwach ist. Hier sehe ich auch in der Zukunft weiteren Handlungsbedarf.
Schon bisher fördert die Bundesregierung die neuen Bundesländer in vielfältiger Weise. Sie konzentriert sich insbesondere auf die Mittelstandsförderung, also auf das, was in der Fläche des Landes vorhanden ist, und auf die Unterstützung von Gründern. Wir setzen dort an, wo es Wachstumsstrukturen gibt – und diese Pflänzchen sind heute deutlich kräftiger als noch vor wenigen Jahren. Wir engagieren uns auch stark bei Großansiedlungen, etwa bei der Ansiedlung von Mikroelektronik in Dresden oder – wie kürzlich – bei der Ansiedlung einer Batteriezellproduktion am Erfurter Kreuz in Thüringen. Auch künftig sehe ich im Osten Potenziale, die wir im Westen nicht haben, schlicht etwa aus der Tatsache heraus, dass noch große Flächen zur Verfügung stehen. Wir haben im Osten eine höhere Bereitschaft für industrielle Ansiedlungen und Infrastrukturprojekte. Wirtschaftlich sind wir bei allen Unterschieden und Problemen also auf einem guten Weg.
Was wir aber zugleich feststellen, ist eine größere Distanz in gesellschaftspolitischen Fragen. Das ist nicht allein eine Frage zwischen Ost und West; in der gesamten Gesellschaft nehmen wir Spannungen wahr. Gerade dieser Tage ist es notwendig, deutlich zu machen, wo wir als Gesellschaft Stoppschilder setzen, wenn es etwa darum geht, dass in den öffentlichen Debatten mit hassvollen Stimmen argumentiert wird, wenn Gewalt ausgeübt wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ja, wir haben im Osten statistisch gesehen größere Probleme mit Extremismus. Herr Bundestagspräsident Schäuble, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass Sie keine großen Unterschiede zwischen der Situation in Köthen und in Kandel sehen. Die Berichterstattung in unserem Land erweckt aber häufig den Eindruck, als wenn alle im Osten rechtsradikal wären. Das ist mitnichten der Fall. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Mehrheit der Menschen in unserem Land – auch und gerade im Osten – nichts zu tun haben will mit Demonstranten, die den Hitlergruß zeigen, die Gewalt ausüben, die in den Straßen Nazisprüche rufen wie in Dortmund oder jüdische Geschäfte angreifen –
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genauso wenig wie mit Linksradikalen, die marodierend durch Hamburg ziehen.
Manche Menschen sehen sich aber trotzdem als Bürger zweiter Klasse, als abgehängt, fragen nach ihrer Position in der Gesellschaft. Im Osten ist dies noch ein Stück ausgeprägter. Wir erleben, dass die großen politischen Themen unserer Zeit im Osten oft anders diskutiert, manchmal auch anders gesehen werden als im Rest der Republik. Differenzen, die wir in ganz Europa wahrnehmen, ziehen sich ein Stück weit auch durch unser Land. Nicht alles können wir dabei mit 40 Jahren SED-Diktatur erklären, sondern hier wirken die Erfahrungen der 90er-Jahre noch immer nach. Nicht alles, was in dieser Zeit geschah, war nur segensreich. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Antwort auf die Unzufriedenheit vieler Menschen genau hier ansetzen muss, wenn wir wollen, dass die solidarischen Anstrengungen aller in Deutschland am Ende eben auch gesellschaftspolitische Früchte tragen. Als Ostbeauftragter möchte ich deshalb neben der Erinnerungsarbeit zur Geschichte der SED-Diktatur auch die Geschichte nach der Wiedervereinigung in den Blick nehmen, etwa mit einem Forschungsprojekt zur Arbeit der Treuhandanstalt.
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Der diesjährige Bericht zum Stand der deutschen Einheit zeigt, dass wir bei der Angleichung der Lebensverhältnisse insgesamt weit vorangekommen sind. Es hat sich aber trotzdem ein Gefühl von Ungerechtigkeit breitgemacht. Ich erlebe, dass dieses Phänomen aus der Sicht vieler Westdeutscher völlig unverständlich ist. Das erklärt auch so manche oberlehrerhafte Reaktion in der Öffentlichkeit.
Vergessen wird dabei, dass die Menschen in Ostdeutschland einen kompletten Umbruch ihrer Lebenswirklichkeit hinter sich haben, der eben auch Spuren hinterlassen hat. Das wird oft nicht gesehen. Ich verstehe, dass viele Menschen in Ostdeutschland das Gefühl haben, mit ihren persönlichen Erfahrungen nicht genügend respektiert und wahrgenommen zu werden. Dabei meine ich eben nicht allein die Erfahrungen vor 1989, sondern ausdrücklich auch die danach.
Ich verstehe mein Amt als Ostbeauftragter als Auftrag, dem Osten eine Stimme zu geben und auch dessen Besonderheiten Gehör zu verschaffen. Das ist auch nötig. Schauen Sie sich an, wie derzeit Positionen in Führungsebenen in Verwaltung, Justiz, Wirtschaft und Gesellschaft, ja auch in den Medien besetzt sind. Hier kann man von keiner repräsentativen Vertretung Ostdeutscher sprechen. Wir können nun lange diskutieren, wie es zu diesem Phänomen gekommen ist. Fakt ist jedoch, dass die spezifischen Sichtweisen Ostdeutscher dann häufig nicht hinreichend zum Tragen kommen, und das ist auch spürbar. Es geht mir deswegen vor allem auch darum, ostdeutsche Interessen nachdrücklich zu vertreten: in der Öffentlichkeit und in der Bundesregierung.
Beispiele für diese praktische Interessenvertretung sind für mich etwa die Ansiedlung des neuen Bundesfernstraßenamtes in Leipzig oder die Vergabe des Kompetenzzentrums Wald und Holz nach Mecklenburg-Vorpommern. Ich bin sehr dankbar, dass die ersten Behördenentscheidungen unserer Regierung genau dieses positive Zeichen für den Osten gesandt haben. Ich bin ausdrücklich auch Andreas Scheuer dankbar, der sich im Vorfeld der Entscheidung meinem Wunsch entsprechend mit mir abgestimmt und mich eingebunden hat.
Ansiedlungen dieser Art geben mehr als einen wirtschaftlichen Impuls. Sie senden das Signal, dass es der Bund ernst meint mit seinem Engagement für den Osten und auch damit, der Strukturschwäche des Ostens entgegenzuwirken, nicht nur mit Worten, sondern auch mit ganz praktischem Handeln.
Ich wünsche mir außerdem, dass die neuen Bundesländer in Zukunft auch bei weiteren Behörden oder zukunftsgerichteten Modellprojekten stärker berücksichtigt werden. Horst Seehofer hat es als Ministerpräsident mit dem Heimatministerium in Bayern geradezu beispielhaft vorgemacht, wie man Dezentralisierung in den Blick nehmen und positive Impulse für die Fläche des Landes setzen kann.
Insoweit freue ich mich sehr, dass gestern auch der Kabinettsausschuss „Neue Länder“ getagt hat. Dort habe ich die Mitglieder des Kabinetts genau auf diesen Dreiklang angesprochen: Behörden, Modellprojekte und Repräsentanz. Ich habe deutlich gemacht, dass ich allen Ministerinnen und Ministern im positiven Sinne auf die Nerven gehen werde, um dieses Thema weiter voranzubringen.
Ich denke, wenn wir uns in diesem Sinne weiter gut koordinieren, abstimmen und nach vorne arbeiten, dann haben wir gute Chancen, zu den Signalen, mit denen wir jetzt begonnen haben, auch künftig positive Impulse für die neuen Bundesländer zu setzen. Ich glaube, wir alle haben in den nächsten Jahren keinen Mangel an Arbeit, um uns hier weiter zu engagieren; ich ganz sicher nicht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Abgeordneten Enrico Komning, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Kollegen! Ich komme aus dem Osten.
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Eines muss ich der Merkel-Regierung zugestehen: Sie arbeitet hart an einem einheitlichen Deutschland. Sie arbeitet hart an einer auf Westdeutschland ausgedehnten DDR 2.0, meine Damen und Herren.
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Bespitzelung der Bürger, Schmähung, Diskreditierung und Ächtung Andersdenkender, Gefügigmachung der staatlichen Medien: Das alles war Realität in der DDR, und das ist es heute wieder.
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Helmut Kohl, Konrad Adenauer und, ich vermute, sogar Herbert Wehner würden sich im Grabe umdrehen, während Ulbricht, Mielke und Honecker sich im Jenseits die Hände reiben.
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Eine deutsche Einheit erreicht man nicht, wenn man den Menschen im Osten Bonbons hinwirft und ihnen zuruft: Hier, seid glücklich! – Die deutsche Einheit erreicht man nicht, wenn man die Rentner auch fast 30 Jahre danach immer noch ungleich behandelt.
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Und die deutsche Einheit erreicht man nicht, wenn man den Osten als „Dunkeldeutschland“ und die Ostdeutschen pauschal als „Nazis“ beschimpft, meine Damen und Herren.
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Die Menschen im Osten gehen heute wieder massenhaft auf die Straße – nicht weil sie Nazis geworden sind, sondern weil sie ihre Freiheit bedroht sehen, weil sie sich die Freiheit, die sie sich 1989 erkämpft haben, erhalten wollen, weil sie vielleicht eher ein Gespür dafür haben, wo Demokratie aufhört und Diktatur anfängt.
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Wir wollen, meine Damen und Herren, mehr Freiheit wagen. Mehr Freiheit heißt, die Menschen ernst zu nehmen, ihnen zuzuhören, vielleicht auch mal über die eine oder andere westlich links-grüne vermeintliche Gewissheit nachzudenken. Mehr Freiheit heißt, die Menschen so leben zu lassen, wie sie wollen, eine Familienpolitik, die den Namen verdient und Familien zusammenführt, statt links-grüne Egotrips zu fördern.
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Mehr Freiheit heißt, das Gewaltmonopol des Staates durchzusetzen, Terror, Morde, Vergewaltigungen durch solche Menschen zu verhindern, von denen wir nicht wissen, wer sie sind und woher sie kommen. Mehr Freiheit heißt, Herr Hirte, mit Sicherheit auch, sich endlich dem grundgesetzlich verankerten Gebot der Herstellung gleichartiger Lebensverhältnisse mit ganzer Kraft zu widmen.
Meine Damen und Herren, die Menschen im Osten sind nach wie vor deutlich ärmer als im Westen. Sie sind häufiger arbeitslos als im Westen. Sie verdienen weniger als im Westen, und sie sterben früher als im Westen. Von gleichartigen Lebensverhältnissen, Herr Hirte, kann hier nicht ansatzweise die Rede sein. Der Angleichungsprozess stagniert seit Jahren.
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Sie tun auch nichts, um hier Abhilfe zu schaffen. Von einer flächendeckenden 5G-Abdeckung im Mobilfunk hat sich die Bundesregierung gerade letzte Woche vollends verabschiedet. Ausbau und Ausbauziele bei flächendeckendem Breitband werden immer weiter nach hinten geschoben. Insoweit, liebe Linke, ist Ihr Antrag richtig und begründet. Aber wir brauchen keine Ossi-Quoten und kein noch engmaschigeres Arbeitsrecht, weshalb wir Ihren Antrag ablehnen werden.
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Das zentrale Förderprogramm für ländliche Regionen, die GRW, ist ineffizient. Es unterliegt viel zu hohen bürokratischen Hürden. Die einseitige Ausrichtung der Förderkriterien auf „Nachhaltigkeit“ bei Ausschluss ganzer Wirtschaftszweige wie der Eisen- und Metallverarbeitung ist falsch. Das ZIM, das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand, schüttet seine Mittel zum großen Teil nur dort aus, wo ohnehin schon gefestigte Wirtschaftsstrukturen bestehen: in den großen Städten und Ballungszentren und zumeist im Westen.
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Die wirtschaftliche Einheit, meine Damen und Herren, wird erst dann erreicht, wenn der Osten die gleichen Chancen erhält. Ich sage es frei heraus: Wir brauchen Sonderwirtschaftsgebiete im Osten Deutschlands, das heißt eine echte Bevorteilung der Menschen in den ländlichen Räumen, die 40 Jahre DDR-Sozialismus und nunmehr fast 30 Jahre Agonie, Schläfrigkeit und Unlust an der Einheit erdulden mussten.
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Kommen Sie doch mal – ich lade Sie ein – zu mir nach Vorpommern. Ich zeige Ihnen die sterbenden Dörfer, die Industriebrachen und die verlassenen Bahnhöfe.
Meine Damen und Herren, die gesellschaftliche Einheit erreichen Sie erst, wenn Sie aufhören, ganz normale Menschen zu kriminalisieren, wenn Sie aufhören, den Menschen vorschreiben zu wollen, was gut für sie ist.
Verlassen Sie Ihren Weg in den Überwachungsstaat! Hören Sie auf die Menschen! Hören Sie auf, die Menschen zu bevormunden! Hören Sie auf, die Menschen im Osten pauschal abzukanzeln, wenn Ihnen ihre Meinung nicht passt! Hören Sie auf, sich mit sich selbst zu beschäftigen, sich im Koalitionskrieg zu ergehen! Fangen Sie bitte endlich an, zu arbeiten!
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Oder machen Sie den Weg frei für Neuwahlen. Dann, meine Damen und Herren, klappt es auch mit der deutschen Einheit.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Staatsminister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr des Freistaats Sachsen, Herr Martin Dulig.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Ja, man kann Ostdeutschland richtig falsch erzählen. Das haben wir gerade erlebt. Die einen wollen Ostdeutschland verschwinden lassen in einer Erzählung der vollkommenen Angleichung, Einheit durch Nachahmung. Ostdeutschland ist aber immer ein unvollendetes Deutschland, ein Dreivierteldeutschland, ein 85‑Prozent-Deutschland, ein Defizitland. Dieser Maßstab ist aber immer ein westdeutscher. So manches Urteil und so manches pauschale Urteil, das ich über meine ostdeutsche Heimat immer wieder höre, entspringen diesem Denken. Doch schlimmer sind diejenigen, die Ostdeutschland in Besitz nehmen wollen,
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und zwar für ihre Ideen eines völkisch-nationalistischen deutschen Reiches.
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Die Ostdeutschen sind für sie Versuchskaninchen für ihre Umsturzfantasien.
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Ja, der Osten hat ein besonderes Problem mit Rechtsextremismus. Zu lange wird dies relativiert und verharmlost. Ich werde das nicht tun.
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Die Verantwortung dafür liegt vor Ort bei uns im Osten. Es ist aber auch interessant, zu sehen, dass gerade rechte Eliten aus dem Westen heute Gallionsfiguren der AfD im Osten sind.
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Sie wollen Rache nehmen für Ihre verlorenen Schlachten in der alten Bundesrepublik. Die Ostdeutschen sind Ihnen dazu nur Mittel zum Zweck.
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Ostdeutschland hat mehr und anderes verdient: Anerkennung, Verständnis, aber keine falsche Nachsicht. Denn der Osten Deutschlands ist im Jahr 2018 so widersprüchlich wie die Ergebnisse des Einigungsprozesses. Nie war die Lage so gut, die Stimmung aber so schlecht. Dieser Bericht zum Stand der deutschen Einheit zeigt: Wir haben so viel Positives geschafft. Demokratie, Rechtsstaat, Wohlstand, Arbeit und Infrastruktur – ich kann das alles, wenn ich mir Sachsen anschaue, nur bestätigen.
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Der Bericht zeigt aber auch, was wir in den fast 30 Jahren vergessen haben. Wir haben die deutsche Einheit auf wirtschaftliche Kennzahlen reduziert. Man spricht über herausgeputzte Städte, über neue Straßen. Man spricht aber nie über Mentalitäten. Es gibt viele Ostdeutsche, die sich unfair behandelt fühlen. Sie nehmen den fehlenden Respekt vor ihren Lebensleistungen und ihren Erfahrungen wahr.
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Sie fühlen sich unbeheimatet in unserer Republik. Ein wichtiger Grund dafür, sehr geehrte Damen und Herren, liegt in der jüngeren Vergangenheit. Die Nachwendezeit ist vorbei. Ihre Aufarbeitung beginnt aber erst jetzt. Es war ein zentraler Fehler, über die damaligen Umbrüche, die Kränkungen und die Ungerechtigkeiten nicht öffentlich zu debattieren. Es wird Zeit, über Form und Fehler des Systemwandels zu sprechen, der damals unter marktradikalen Vorzeichen ablief.
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Ich habe daher vorgeschlagen, eine gesamtdeutsche Wahrheits- und Versöhnungskommission einzusetzen.
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Ich hänge nicht an diesem Begriff, wohl aber an dem Instrument. Diese Kommission soll diesen zentralen Zeitraum deutscher Geschichte aufarbeiten. Sie soll gegensätzliche Perspektiven zusammenbringen und so einen Prozess der Versöhnung und der Beheimatung ermöglichen.
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Es freut mich daher, wenn im Bericht von der Erforschung des Transformationsprozesses und einer Aufarbeitung der Arbeit der Treuhand die Rede ist. Denjenigen, die das Kapitel Ostdeutschland mit dem letzten Bericht zur deutschen Einheit im nächsten Jahr schließen wollen, sei mit Christa Wolf gesagt: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.“ Wir stehen gerade erst am Anfang der Aufarbeitung der Nachwendezeit. Wenn wir im Osten die Zukunft wollen, müssen wir hinter uns die Geschichte aufräumen.
Die Zukunft unseres gesamten Landes wäre ohne ostdeutsche Ideen und Perspektiven ärmer und grauer. Die meisten politischen und sozialen Zukunftsfragen Deutschlands treten im Osten verstärkt auf und sind dort auch anders gelagert. Deutschland braucht unseren Beitrag zur Debatte über die Zukunftsthemen des Landes. Wir können selbstbewusst eine Politik aus dem Osten für Deutschland formulieren, zum Beispiel bei der Rente. Ich will, dass die Lebensleistung der ostdeutschen Aufbaugeneration endlich anerkannt wird. Denken Sie an diejenigen, die sich durch die Nachwendezeit gekämpft und die Wirtschaft wieder aufgebaut haben. Sie haben den Osten am Laufen gehalten und dabei auf gerechte Löhne verzichtet. Gerade diese Aufbaugeneration macht sich zu Recht Sorgen um ihre Renten. Diese drohende Altersarmut wird zu einer der größten Gerechtigkeitsfragen Deutschlands. Es geht um Leistungsgerechtigkeit, eine verlässliche Rentengarantie, eine echte Grundrente, eine starke Erwerbsminderungsrente oder einen Gerechtigkeitsfonds zur Beseitigung von Ungerechtigkeiten in der Rentenüberleitung. Das sind Antworten darauf.
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Ich denke auch an die Familien- und Gleichstellungspolitik. Da sind wir im Osten Vorreiter. Die Frauenerwerbsquote im Osten ist deutlich höher als im Bundesdurchschnitt. Der Lohnnachteil der Frauen im Osten ist geringer. Es gibt dort flächendeckend Kindergärten. Gleichzeitig leben im Osten mehr Kinder bei Alleinerziehenden. Die staatlichen Familienleistungen sind aber noch immer zu stark am westdeutschen Modell des männlichen Alleinverdieners ausgerichtet. Während das Ehegattensplitting eine fast vollständige Westsubvention ist, fehlt in Deutschland noch immer eine Kindergrundsicherung. Das zu ändern, wäre mein Vorschlag.
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Wenn ich an die digitale Revolution denke, dann stelle ich fest, dass das ganze Land von unseren ostdeutschen Umbruchserfahrungen zehren kann. „Wir können Veränderung“, sagt der Bericht. Den Mut, die Tatkraft und das Sicheinlassen auf das Ungewisse, das uns nach 1990 so weit gebracht hat, brauchen wir erneut. Ich wünsche mir einen neuen Pioniergeist an der Schwelle zu einer Arbeitsgesellschaft, vor der wir stehen.
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Wir lassen den Osten nicht schlechtreden. Ich nehme nicht hin, dass der Osten als Zerrbild herhalten muss für die politischen Ziele anderer. Die Menschen im Osten wollen gesehen und geachtet, gelobt und herausgefordert werden, als Menschen und nicht als politische Abziehbilder.
Und weil wir dies Land verbessern Lieben und beschirmen wir’s ...
So hat es uns Bertolt Brecht in der „Kinderhymne“ ins Stammbuch geschrieben. In diesem Sinne werden wir aus dem Osten heraus die friedliche Revolution von 1989
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und die Aufbauleistungen verteidigen.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Linda Teuteberg, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Der Bericht zum Stand der deutschen Einheit und auch die Debatte darüber in diesem Haus kranken daran, dass wir uns in erster Linie mit der Frage beschäftigen, welchen Aufholbedarf die ostdeutschen Länder haben. Vor allem in ökonomischer Hinsicht. Weshalb wird die deutsche Einheit allzu oft als Geschichte von Fehlern, Defiziten, von Aufholprozessen erzählt? Dabei gerät Wesentliches leicht aus dem Blick. Ich zitiere den ehemaligen Bundesminister des Auswärtigen Hans-Dietrich Genscher im Juni 1988 auf einer Tagung in Potsdam vor Gästen aus den Vereinigten Staaten und der UdSSR:
Sie werden feststellen, die Menschen hier sehen so aus und verhalten sich so, wie Deutsche eben aussehen und sich verhalten.
Er fuhr fort:
Freilich, und auch das ist unübersehbar, hier herrscht ein anderes politisches System, das sich in vieler Hinsicht von dem einer westlichen Demokratie unterscheidet.
Hans-Dietrich Genscher war als entschiedener Europäer und Multilateralist ganz bestimmt des Nationalismus unverdächtig. So schwer es uns manchmal fallen mag, es zu beschreiben: Es gibt etwas, das uns verbindet. Von außen erkennt man das manchmal besser als bei uns im Tagesgeschäft. Ich war in der letzten Woche mit einigen Kollegen aus anderen Fraktionen in Washington. Auch dort wurden wir gefragt: Was macht euch als Deutsche eigentlich aus? Wofür steht ihr? – Dass wir ein Phänomen nicht ohne Weiteres, nicht exakt und nicht abschließend beschreiben können, bedeutet nicht, dass es nicht existierte. Wir sind uns so viel ähnlicher, als wir manchmal denken.
Zugleich hat Hans-Dietrich Genscher klargemacht: Es gab dort ein anderes politisches System, und das hat Prägungen und Spuren hinterlassen. Allerdings hat die Konstruktion „Der Osten“ oder „Die Ostdeutschen“ für sich genommen schon fast xenophobe Züge. Denn wo sonst oft genug und zu Recht über Vielfalt als Bereicherung und Chance, über notwendige Toleranz in unserem Land gesprochen wird, kann man sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren: Bloß die Ostdeutschen, das ist ein bisschen zu viel der Fremdheit. In Wahrheit sind sie manchmal die Probe aufs Exempel, wie viel Befremdliches mancher verträgt.
Ostdeutschland und Ostdeutsche sind genauso vielfältig wie andere Regionen Deutschlands und ihre Bewohner.
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Doch und zugleich – das haben auch schon andere Kollegen erwähnt – gibt es Besonderheiten. Es gibt besondere Probleme, die sich allerdings im Osten unseres Landes manchmal einfach stärker, schneller und flächendeckender beobachten lassen. Das gilt für vieles; ich nenne hier nur das Stichwort „demografischer Wandel“, aber auch manche Erscheinungsformen der Demokratieverachtung.
Wenn Einheit bedeutet, bei allen Unterschieden gemeinsam das Gespräch und Lösungen zu suchen, dann steht es darum heute nicht gut. Aber das ist nicht nur zwischen Ost und West so, sondern vor allem auch zwischen Menschen, die sich in ihrer Weltsicht vergraben wie in Schützengräben. Unversöhnliche Lager, die alles in schwarz und weiß oder in links und rechts einzuordnen versuchen, in vermeintlich abgehobene Eliten oder ängstlich Abgehängte. Woher kommen diese Emotionen? Woher kommt dieses Bedürfnis nach Zuordnung?
Für mehr gesellschaftlichen, mehr inneren Zusammenhalt brauchen wir ein großes gesamtdeutsches Gespräch auf Augenhöhe. Lassen Sie mich einige Punkte skizzieren, die zum Gelingen dieses Dialoges beitragen: Alles beginnt mit Neugier, mit Interesse aneinander. Hören wir einander zu! Für Herablassung, für Überlegenheitsgefühle oder auch Minderwertigkeitskomplexe besteht auf keiner Seite Anlass. Es ist niemandes Verdienst, wo und wann er oder sie geboren wurde.
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Billigen wir uns gegenseitig so viel Toleranz und Sensibilität in der Wortwahl, so viel Differenzierungsfähigkeit und Klarheit zu, im Umgang auch miteinander, wie wir jeweils von anderen erwarten und bei den Äußerungen anderer bereit sind aufzubringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als 1989 „40 Jahre Grundgesetz“ gefeiert wurden, sagte Bundespräsident Richard von Weizsäcker:
Patriotismus ist Liebe zu den Seinen; Nationalismus ist Haß auf die anderen.
Diese Liebe zu den Seinen sollte uns ein intensives gesamtdeutsches Gespräch wert sein. Und lassen Sie uns dabei nicht der vielleicht typisch deutschen Neigung nachgehen, unnötige Gegensätze zu konstruieren. Die Liebe zu unserer freiheitlichen Verfassung und die zu den eigenen Landsleuten vertragen sich sehr, sehr gut. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben sie gar vorausgesetzt.
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Lieber Herr Dulig, ich schließe insofern an, bei allem, was ambivalent ist an Bertolt Brecht, und schließe mit einem Appell an uns alle:
Anmut sparet nicht noch Mühe Leidenschaft nicht noch Verstand Daß ein gutes Deutschland blühe Wie ein andres gutes Land.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Matthias Höhn, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nicht nur die Wirtschaft in Ostdeutschland hinkt dem Westen hinterher; auch der Einheitsbericht ist nicht auf der Höhe der Zeit. Die Menschen in Ostdeutschland wissen ja längst, dass sie knapp 20 Prozent weniger verdienen. Sie wissen bereits, dass sie in Erfurt weniger Rentenansprüche erwerben als in Kiel.
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Und dass die jungen Leute in der Prignitz fehlen, dürfte seit 1990 auch niemandem entgangen sein – und ebenso, dass Großbetriebe in den neuen Ländern fehlen; die, die es hätte geben können, wurden doch oft von der Treuhand plattgemacht.
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Ich hoffe, dass Ihre zaghaften Eingeständnisse, die ich heute gehört habe, nicht zu spät kommen. Im Osten ist der Vertrauensverlust gegenüber Staat und Parteien mit Händen zu greifen. Es geht nicht mehr allein um die Frage, wie groß der Abstand bei Renten, Löhnen, Wirtschaftskraft ist; es geht um den Abstand an sich, und es geht um die Zurücksetzung der Ostdeutschen, die sich seit 28 Jahren verfestigt, anstatt zu schwinden; der Staatssekretär hat es eben noch mal erwähnt.
Herr Dulig, wenn Sie auf die Rentenungerechtigkeit hinweisen, freut mich das. Ich will allerdings die Frage stellen, welche Partei für die aktuelle Rentenpolitik Verantwortung trägt.
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Man muss den Leuten nur zuhören. Bei jedem größeren Familientreffen werden solche Gespräche geführt, und alle diejenigen, die alt genug sind, wissen beispielsweise, wer seit fast drei Jahrzehnten die Leitungs- und Topfunktionen in den neuen Bundesländern besetzt. Der WDR hat es neulich aufbereitet, und ich will es hier wiederholen. Schauen wir uns mal Leipzig an – eine schöne Stadt. Der Oberbürgermeister ist in Siegen geboren. Die Rektorin der Uni kommt aus Kassel, der Sparkassendirektor aus Wuppertal. Die Chefin der Staatsanwaltschaft ist gebürtig aus Lindlar. Der Präsident des Landgerichts kommt aus Dillenburg, der Präsident des Amtsgerichts aus Osnabrück. Nur aus Leipzig oder einer anderen ostdeutschen Stadt kommt in dieser Liste niemand, und die Leute haben das satt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Es geht bei dieser Frage nicht um die Fähigkeit des Einzelnen, obwohl man auch sagen muss, dass nach 1990 nicht immer nur die Besten in den Osten gekommen sind.
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Es geht darum, dass es zur Regel geworden ist und darum, dass Ostdeutsche fast keine Chance haben, in der eigenen Region Spitzenfunktionen einzunehmen – und noch gravierender: dass sich dieser Trend fortsetzt.
Die Leute haben nicht vergessen, wie viele Glücksritter in den 90er-Jahren kamen und nach den Filetstücken schnappten, und da geht es natürlich auch um eine Verkettung mit den Erfahrungen mit der Treuhand. Die Ostdeutschen haben die Demokratie gewählt, erkämpft – und die Treuhand gleich noch mit bekommen. Da war schon wieder Schluss mit der Mitbestimmung, um die es eigentlich ging. Aus einer Volkswirtschaft wurde über Nacht eine Altlast, und aus Kollektiven wurden Arbeitslose. Im Osten ist kein Stein auf dem anderen geblieben nach 1990.
Der Umstieg auf die Privatwirtschaft war sicherlich die bittere Stunde der Wahrheit hinsichtlich Produktivität und Effizienz der DDR-Wirtschaft, aber es gab eben auch die Bereinigung der Ostwirtschaft im großen Stil, um Platz zu machen für die westdeutsche Konkurrenz. All dies gehört endlich öffentlich aufgearbeitet, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich freue mich, wenn ich das jetzt auch von Union und SPD höre. Es kommt ein bisschen spät. Ich hoffe, es kommt nicht zu spät.
Was damals zerschlagen wurde, hat – daran hat sich nicht viel geändert – den Osten ein Stück weit zu einer Sonderwirtschaftszone gemacht.
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Es ist immer noch Tatsache, dass 30 Prozent im Osten nur von Niedriglöhnen von unter 10 Euro leben. Der Durchschnittsverdienst für Vollzeitbeschäftigte liegt bei 2 700 Euro. In Westdeutschland verdient man im Schnitt 600 Euro mehr. Dagegen gibt es immer wieder den Einwand, ja, die Miete und der Restaurantbesuch seien in Jena viel günstiger als in München. Aber es geht dabei nicht nur um einen Abend mehr oder weniger im Restaurant; es geht um andere Größenordnungen.
Laut Deutschem Aktieninstitut besaßen 2017 in Magdeburg 1 Prozent der Bürgerinnen und Bürger Aktien. In Hamburg-Harburg waren es 35 Prozent, in Starnberg in Bayern 66 Prozent. Das Nettogeldvermögen in Ostdeutschland lag 2016 bei der Hälfte der Einwohner unter 25 000 Euro; in Süddeutschland lag diese Grenze bei über 100 000 Euro. Das ist kein Abendessen mehr; das ist das ganze Restaurant, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Deswegen ist meine Bitte und auch mein Appell an die Bundesregierung, aber auch an Unternehmen, Universitäten, die Verlagshäuser: Denken Sie um, und prüfen Sie alles, was gesetzlich und innerbetrieblich möglich ist, um die Ostdeutschen nicht weiter zu beschämen und um ihnen Aufstiegschancen zu ermöglichen! Ich will Ihnen versprechen: Wenn die Bayerische Staatsregierung mehrheitlich ostdeutsch besetzt ist, höre ich auf, über die Benachteiligung der Ostdeutschen zu reden.
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Die Politik der vergangenen 28 Jahre hat die Ostdeutschen zwangsweise als eine soziale Gruppe definiert – und das muss man erst mal schaffen,
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weil viele DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger nach 1989 damit gar nicht schnell genug brechen konnten. Das System stürzte zugunsten neuer politischer und persönlicher Freizügigkeit zusammen. Die Menschen hatten im Herbst 1989 ihre Freiheit für die Freiheit riskiert. Jetzt gibt es auch wieder Montagsdemonstrationen. Ausgerechnet da, wo Menschen 1989 für ihre politischen Grund- und Freiheitsrechte gekämpft haben, ausgerechnet da werden nun diese Rechte für andere bestritten.
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Ich warne vor Naivität gegenüber dem, was sich dort zusammenschiebt.
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Es gibt einen neuen und auch gefährlichen Angriff auf die liberale Demokratie, und es gibt viele Wählerinnen und Demonstranten, denen es nicht um mehr selbstbewusste Ostdeutsche geht
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und denen es auch nicht um weniger Armut bei Kindern oder im Alter geht, ob nun in Ost oder in West; es geht um eine Ablehnung alles vermeintlich Fremden und eine Riesenwatsche an die sogenannten „die da oben“.
Ich will auch sagen: Ich habe den Eindruck, auch in der Bundesregierung gibt es Vertreter, die denken: Wer den Druck auf Flüchtlinge und Einwanderer verstärkt, nimmt sich selber aus der Schusslinie. – Dieser Rechtspopulismus verschmilzt mit dem Gerede vom Staatsversagen, aber dieser Rechtsruck stabilisiert gar nichts. Die schweren Fehler, die die Bundesregierung mit dem Abbau des Sozialstaats begangen hat, heilt man nicht, indem man jetzt die Grundrechte von Migranten und Flüchtlingen einschränkt.
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Deswegen bin ich froh, dass auch und gerade in Ostdeutschland viele Menschen, zuletzt in Chemnitz, sich diesem Trend widersetzt haben und auf die Straße gegangen sind. Denen will ich danken.
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Misstrauen wir allen Fürreden für autoritäre Lösungen; die Leute wollen ja nicht die DDR zurück. Sie messen die Bundesrepublik lediglich an ihren eigenen Maßstäben, nämlich am Grundgesetz: gleichwertige Lebensverhältnisse, Diskriminierungsverbote und eine Marktwirtschaft, die eine soziale sein sollte. Diese Maßstäbe sollten eben für alle gelten, auch für Ostdeutsche.
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! „Ich habe aufs richtige Pferd gesetzt, aber es hat nicht gewonnen.“ – Das ist ein Satz aus dem gerade angelaufenen Film über den ostdeutschen Liedermacher Gundermann. Ich glaube, es ist ein Satz, der das Seelenleben vieler Ostdeutscher zutreffend beschreibt. Er steht für eigene Geschichte, den Versuch eines richtigen Lebens im Falschen, aber auch für die Hoffnung nach der friedlichen Revolution und die Bereitschaft, mitzumachen, sowie am Ende für so etwas wie nüchterne Enttäuschung.
Ich bin Thüringerin, und ich sage: Wir haben in den letzten 28 Jahren manches richtig gemacht, aber zu vieles falsch. Jetzt entscheidet sich, ob dieses Land zusammengehört oder ob es ewig gespalten bleibt zwischen denen im Osten, denen vorgeworfen wird, immer nur zu jammern, und den anderen im Westen, von denen es heißt, sie wollten es immer nur besser wissen. Nach 28 Jahren wünsche ich mir, dass wir mit diesem Mit-dem-Finger-aufeinander-Zeigen endlich aufhören.
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Es braucht noch immer Anerkennung und Kennenlernen.
„Ich habe aufs richtige Pferd gesetzt, aber es hat nicht gewonnen.“ – Seit 28 Jahren hören wir hier im Deutschen Bundestag immer wieder den Bericht zum Stand der deutschen Einheit: Zahlen, Statistiken – jedes Mal aufs Neue. Zahlen, die auf den doppelten Umbruch und dessen Folgen verweisen: den rasanten Zusammenbruch der Wirtschaft, der staatlichen Ordnung, millionenfach Arbeitslose und das Trauma der Treuhand, große Betriebe über Nacht einfach so aufgelöst.
Mit den Betrieben gingen 1 Million Menschen kurz nach der friedlichen Revolution, und viele sind ihnen gefolgt. Die Betriebe fehlen. Man merkt es übrigens im ganz normalen kulturellen, gesellschaftlichen Leben in Städten und Dörfern in Ostdeutschland. Dort, wo im Westen der Sportverein von fünf Unternehmen gesponsert wird, kann im Osten höchstens noch die Sparkasse was dazugeben. Das bedeutet einen wesentlichen Unterschied auch für das, was man Zivilgesellschaft nennt.
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Ja, es sind große Anstrengungen unternommen worden. Es sind Millionen Euro in den Osten geflossen, und vieles sieht wahnsinnig schön aus. Aber nur Geld und hübsch machen reicht eben nicht. Die fünf ostdeutschen Bundesländer liegen immer noch zurück. Wie kommt das? Kein DAX-Unternehmen hat seinen Hauptsitz in Ostdeutschland. Kaum ein Wirtschaftsboss kommt aus dem Osten. Und es gibt weitere Gründe.
Ein Beispiel: Es war das Jahr 1992, als die Bundesregierung beschlossen hat, Bundesbehörden und Forschungseinrichtungen künftig bevorzugt im Osten anzusiedeln. Was ist das Ergebnis? Zwischen den Jahren 2014 und 2017 sind ganze drei Einrichtungen nach Magdeburg, Jena und Leipzig gegangen. Jetzt kommen noch zwei dazu, dann sind es fünf Einrichtungen. Auf der anderen Seite sind zehn Einrichtungen nach Berlin gegangen und zehn nach Baden-Württemberg, Hamburg, NRW und Bayern. Allen sei es gegönnt, aber 5 : 20 heißt jedenfalls nicht „bevorzugt nach Ostdeutschland“. Das ist ein Ergebnis, dem wir uns stellen müssen.
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Ich sage deswegen: Nehmen Sie den Osten ernst! Ich verstehe, wenn Menschen heute mitunter erschöpft sind, mutlos, manchmal enttäuscht von Demokratie und Rechtsstaat. Sie sorgen sich um die Entwicklungen in unserem Land und um ihre eigene Zukunft. Sie sind total genervt, wenn ihre Heimat immer nur als strukturschwach, als weniger produktiv, als rückständig und nach 30 Jahren immer noch als „neu“ bezeichnet wird. Denn: Wir sind nicht die Zugezogenen in dieser Republik, die zur Integration sieben Generationen brauchen, sondern wir gehören hier zusammen, meine Damen und Herren.
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Natürlich wollen diese Menschen auch nicht hören, dass ein Wahlkampf im Süden der Republik darüber entscheidet, was in diesem Land wichtig ist. Sie wollen Mut, sie wollen Visionen, sie wollen, dass die Probleme im Land – im Osten wie im Westen – tatsächlich angepackt werden.
Der Osten? Der Osten – das sind in der Mehrheit Menschen, die sich anstrengen und etwas anfangen, Leute, die nichts erben und trotzdem etwas wagen, eine Bürgergesellschaft, die sich langsam entwickelt und gewiss noch selbstbewusster sein kann. Aber ich fände es schon gut, wenn wir hier über die Menschen reden, die in Chemnitz und Köthen und überall gegen die Rechtsradikalen und die Nazis auf die Straße gegangen sind und die nicht so tun, als ob der Osten eben so sei.
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Wenn wir erwarten, dass die Einheit dann vollendet ist, wenn der Osten irgendwann mal so ist wie der Westen, dann werden wir hier noch viele Jahre bei der Debatte über den Bericht zum Stand der deutschen Einheit über Defizite reden. Ich will jetzt auch nicht sagen: überholen, ohne einzuholen. Nein, der Osten muss nicht zum Westen werden. Der Osten ist anders; und das ist gut so. Der Osten, das sind Menschen, die haben Umbrüche erlebt und sie gemeistert, wie kaum jemand in diesem Land das jemals geschafft hat.
Wie viel, meine Damen und Herren, wurde über den Jahrestag 1968 diskutiert, berichtet und geschrieben? Wie viele dieser Beiträge drehten sich eigentlich um die Panzer in Prag? Das ist das ostdeutsche 1968. Ja, wir haben eine gemeinsame Geschichte, meine Damen und Herren: die Trennung und die friedliche Revolution. Wer spüren will, was das heißt, der geht zum Grünen Band. Dort, wo die Grenze war, die Wunde, der Riss, ist heute eines der schönsten Naturmonumente, das ich mir vorstellen kann:
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1 400 Kilometer mitten in Deutschland, 150 Naturschutzgebiete, 600 bedrohte Arten leben dort.
„Ich habe aufs richtige Pferd gesetzt, aber es hat nicht gewonnen.“ – Macht nichts. Hier geht es nicht darum, wer gewinnt. Hier geht es darum, dass wir zusammengehören. Hier geht es darum, dass alle in diesem Land dazugehören – gleichermaßen und auf Augenhöhe. Das wäre, was ich mir unter deutscher Einheit vorstelle.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Mark Hauptmann, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kollegen! Verehrte Gäste! Ich möchte einen besonderen Gast der heutigen Debatte persönlich begrüßen. Ich freue mich, dass wie jedes Jahr der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Roland Jahn, dieser Debatte beiwohnt. Herr Jahn, es freut uns, dass Sie hier an dieser Debatte teilnehmen. Ich möchte Ihnen, aber auch Hubertus Knabe, dem langjährigen Leiter der Stasigedenkstätte Hohenschönhausen,
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recht herzlich für Ihre Arbeit danken, die Sie hier in den letzten Jahren geleistet haben. Sie sorgen dafür, dass das historische Erbe der DDR weiterhin erfahrbar bleibt, dass es nicht aus unserem kulturellen Gedächtnis verschwindet und dass Aufarbeitung nach wie vor stattfinden kann. Herzlichen Dank dafür.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte drei Themen, die im Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit zentral sind, hier in den Fokus rücken. Erstens möchte ich das Zerrbild des Ostens geraderücken. Zweitens geht es um die Frage, wie wir den wirtschaftlichen Aufholprozess weiter unterstützen können. Und drittens geht es natürlich auch darum, wie wir die Herausforderungen weiter angehen können.
Wir alle wissen, dass wir in den nächsten Tagen wieder ein freudiges Ereignis zum Feiern in dieser Republik haben, nämlich den Tag der Deutschen Einheit. Deswegen ist gerade diese Debatte und die Art und Weise, wie wir sie heute führen, von großer Aktualität, aber auch von Notwendigkeit geprägt, die der Jahresbericht vorstellt. Die Bilder von Chemnitz und Köthen sind nach wie vor sehr präsent und erinnern uns an die furchtbaren und schockierenden Geschehnisse in diesem Jahr in diesen beiden Städten. Aber ebenso schockierend ist die schamlose Instrumentalisierung der selbsternannten Führer des Volkes von rechts und der Verführer von links,
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die hier letztendlich eskalieren statt deeskalieren, die polarisieren statt versöhnen. Für sie ist Ostdeutschland lediglich ein Wallfahrtsort für Empörungs- und Protestkultur aus ganz Deutschland. Ich sagen Ihnen eins: Das hat der Osten Deutschlands nicht verdient. Sie machen den Osten zum Prügelknaben in der öffentlichen Debatte; wir haben es in den letzten Wochen erlebt.
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Was die Menschen in Ostdeutschland erwarten, sind konkrete Maßnahmen, mit denen wir die Weiterentwicklung Ostdeutschlands vorantreiben.
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Was in dieser Debatte, sehr geehrter Herr Kollege, nicht hilft, ist, wie Sie bewusst Ängste zu schüren, die Bevölkerung gegeneinander aufzuhetzen, sich mit einem verurteilten Volksverhetzer wie Herrn Bachmann in der ersten Reihe unterzuhaken, dann einen Protestmarsch zu starten und zu ignorieren, dass Naziparolen gebrüllt werden. So geht es nicht. Das schürt Ängste in unserem Land, das polarisiert, und das führt unsere Gesellschaft nicht zusammen, gerade in einer schwierigen Phase, wie wir sie derzeit erleben.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Gleiche erleben wir auch bei dem politisch linken Flügel. Auch bei der Linkspartei wird nicht abgegrenzt zum Linksextremismus. Auch hier wird Gewalt wie beispielsweise in Leipzig 2017 verharmlost; sie wird nicht thematisiert. Deswegen sage ich Ihnen aus der Mitte dieses Hauses, der Demokraten: Jeder Extremist ist Mist, egal ob rechts oder links oder religiös fundamental. Wir brauchen Demokraten in der Mitte der Gesellschaft, die diese Gesellschaft zusammenhalten, gerade in schwierigen Zeiten.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir wissen, dass bei der Linken – Sie haben es gerade in Ihrem Wortbeitrag wieder dargestellt – der Jammerton zum Kammerton geworden ist. Alles in den letzten Jahren hat sich Ihrer Meinung nach wenig zum Positiven entwickelt. Natürlich wäre es falsch, an diesem Pult zu stehen und zu sagen: Wir haben nach 28 Jahren deutscher Einheit bereits ein Schlaraffenland geschaffen. Nein, das haben wir noch nicht erreicht. Aber ich sage Ihnen auch: Wir müssen die positiven Beispiele der Entwicklung in den Vordergrund stellen. Wir müssen darstellen, was sich hier positiv in den letzten Jahren entwickelt hat. Wo sind wir vorangekommen? Wo haben sich Chancen ergeben, die sich niemals unter einer DDR-Führung ergeben hätten, und wie können wir die Gesellschaft mitnehmen, diese Chancen zu nutzen und in der Realität zu verwirklichen?
Deswegen möchte ich – das ist mein zweiter Punkt –, auf den wirtschaftlichen Aufholprozess zu sprechen kommen. Das Bruttoinlandsprodukt ist in den letzten Jahren im Osten um 1,9 Prozent gestiegen. Wenn wir uns anschauen, wie sich allein die Arbeitslosenquote reduziert hat – zum Glück! – auf 7,6 Prozent im Jahr 2017, dann zeigt sich, dass wir die Zeit seit 2005, als wir noch 18,7 Prozent Arbeitslosigkeit im Osten hatten, genutzt haben, Menschen in Beschäftigung zu bringen und durch wirtschaftlichen Wohlstand an der gesellschaftlichen Entwicklung teilhaben zu lassen.
Ich vertrete einen Südthüringer Wahlkreis hier im Deutschen Bundestag. In meinem Wahlkreis entwickelt sich die Arbeitslosenquote in Richtung 3 Prozent – nahezu Vollbeschäftigung.
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Unser Problem ist nicht mehr die Arbeitslosigkeit, unser Problem sind fehlende Arbeiter. Der Fachkräftemangel ist die zentrale Herausforderung, die uns mittlerweile bewegt. Die Wirtschaftskraft hat sich hier in den letzten Jahren massiv angeglichen, die Arbeitslosigkeit ist zurückgegangen, und die wirtschaftlichen Ergebnisse zeigen, dass eine Angleichung zwischen Ost und West in den letzten Jahren stattgefunden hat.
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Aber – auch das ist Realität –: Dieser wirtschaftliche Aufholprozess ist ins Stocken geraten, er hat sich verlangsamt. Das ist nicht etwa so, weil es Deutschland insgesamt wirtschaftlich nicht gut ginge. Deutschland geht es sogar sehr gut. Aber wir entwickeln uns wirtschaftlich eben in beiden Teilen dieser Republik, in Ost und in West. Deswegen ist dies ein Zeichen der gesamtdeutschen Stärke und nicht etwa ein Zeichen der rein ostdeutschen Schwäche. Schauen wir uns an, was Ihre Partei als Erbe der DDR hinterlassen hat: Der Anteil der industriellen Produktion im Osten lag 1991 bei 17 Prozent.
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Im Jahr 2016 lag die industrielle Produktion bei 52 Prozent. Wenn wir das in einem europäischen Vergleich bewerten, dann zeigt sich, dass der Osten Deutschlands bereits heute über dem Niveau anderer westeuropäischer Länder liegt und bei der industriellen Wertschöpfung deutlich aufgeholt hat.
Die Zeit der Klagelieder der Wirtschaft im Osten ist vorbei. Schauen wir uns an, was sich in den Regionen spezifisch entwickelt hat: Mikroelektronik in Sachsen – Stichwort „Silicon Saxony“. Es freut mich natürlich auch, dass der entsprechende Minister heute hier anwesend ist. Sachsen ist mittlerweile das größte Mikroelektronik-Cluster Europas und das fünftgrößte weltweit.
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Die Start-up-Szene in Berlin hat sich massiv entwickelt. Ich prophezeie Ihnen: Sollte der harte Brexit kommen, dann wird Berlin die Start-up-Stadt Nummer eins in ganz Europa werden.
Das ist doch eine Entwicklungschance, die wir voranbringen sollten: Leichtbaucluster in Sachsen-Anhalt; in Mecklenburg-Vorpommern hat sich mittlerweile eine Luft- und Raumfahrtbranche in geografischer Nähe zu Hamburg entwickelt, und auch Brandenburg ist mittlerweile ein bedeutender Standort, wenn es um die Chemie- und Kunststoffindustrie geht. Nicht zuletzt zeigt auch der Freistaat Thüringen, wie man aus mittelständischen und kleinen Betrieben Weltmarktführer macht, die im internationalen Wettbewerb der Globalisierung bestehen. Hier müssen wir zeigen: Wir haben Forschungs- und Entwicklungscluster, und diese wollen wir in den nächsten Jahren weiterentwickeln.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben in diesem Land mit 44,3 Millionen Menschen die höchste Erwerbstätigkeit seit der Wiedervereinigung. 7,9 Millionen Menschen davon arbeiten in Ostdeutschland; das sind 18 Prozent unserer Gesamtbevölkerung. Das ist der höchste Stand seit der Wiedervereinigung dieses Landes.
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Das ist ein positiver Wert, den wir in den Fokus rücken sollten. Natürlich wollen wir diese wirtschaftliche Entwicklung weiter angehen und staatlich unterstützen, sei es durch das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand, das bürokratiearm ist und nicht etwa, wie der Kollege gesagt hat, nur auf die Ballungszentren abzielt. Die Stärke von ZIM ist, dass es sich gerade an den kleinen forschenden Mittelständlern ausrichtet, und die sitzen zum Großteil im ländlichen Raum.
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Das ist eine Stärkung, gerade auch der ostdeutschen Forschungskultur. Daneben werden die Mittelstands-4.0-Kompetenzzentren in den neuen Ländern aufgebaut.
Wir müssen natürlich – das ist mein dritter Punkt – auch die strukturellen Nachteile des Ostens berücksichtigen. Wir dürfen sie nicht wegdiskutieren, sondern wir müssen sie ansprechen und schauen, wie wir hier in den nächsten Jahren weiterkommen können. Ein Thema, das zentral ist: Der Osten Deutschlands hat eine andere Siedlungsdichte. Er ist ländlicher geprägt, er hat mehr Mittelzentren und weniger Ballungszentren. Natürlich hat das auch Auswirkungen auf wirtschaftliche Cluster, wirtschaftliche Entwicklungen. Daher ist es wichtig, dass wir den ländlichen Raum in Deutschland fördern, dass er nicht hinten runterfällt bei der Infrastruktur, dass er nicht hinten runterfällt bei der Entwicklung der Forschung, dass er nicht hinten runterfällt, wenn es darum geht, gleiche Lebensverhältnisse in unserem Land herzustellen. Deswegen müssen wir ihn zentral auf unsere politische Agenda setzen. Natürlich müssen wir bei den Themen Fachkräfteausbau, Breitbandinfrastruktur und der kommunalen Daseinsvorsorge den ländlichen Raum weiterhin in den Fokus nehmen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch ein zentrales Thema, das für den Osten wichtig ist, benennen: das Kohlerevier in der Lausitz. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Transformationsbewegungen in den letzten Jahren haben gezeigt, dass die Erfolge durchaus überschaubar sind. Was wir jetzt brauchen, ist eine ehrliche und offene Debatte, bei der es keine Denkverbote geben darf. Wir müssen auch über Sonderwirtschaftszonen nachdenken, in denen es ein beschleunigtes Verfahren gibt, in denen man vielleicht auf die Körperschaftsteuer verzichtet, um spezifisch in einer schwierigen Region unterstützend wirken zu können.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe großes Vertrauen in die Kraft der Bürger unseres Landes. Ich denke, dass wir die gemeinschaftlichen Leistungen des Ostens weiterhin in den Fokus rücken sollten, dass wir die Herausforderungen aktiv angehen müssen. Dabei dürfen wir aber eines in diesem Land nicht verlieren: den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft – in Ost und West. Deswegen: Lassen Sie uns diese Herausforderungen anpacken, damit die deutsche Einheit wirklich vollendet wird.
Herzlichen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Abgeordneten Steffen Kotré, AfD.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die deutsche Einheit war für uns Deutsche eine glückliche Fügung. Als die D‑Mark nach Ostdeutschland kam, erfüllte sich für viele ein Traum.
Durch die schnelle Vereinigung gab es aber auch Verwerfungen. Die meisten DDR-Betriebe waren allein nicht überlebensfähig; viele Menschen rutschten in Notlagen. Diese Anfangsprobleme sind kleiner geworden; doch es gibt, wie wir heute auch festgestellt haben, immer noch die wirtschaftliche Kluft zwischen Ost und West, die leider nicht kleiner wird.
Es gibt aber noch andere Unterschiede. Wir Ostdeutsche wissen, was Bevormundung und was Ideologie bedeuten.
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Deshalb kommt der offene Widerstand gegen die von oben verordnete Multikulti-Vielfalt-Propaganda eher aus dem Osten.
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Und damit sind wir auch schon bei der Migrationsfrage. Wir Ostdeutsche wissen, was der Verlust von Heimat bedeutet.
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– Doch! – Wir waren mit der deutschen Einheit glücklich, glücklich darüber, dass sich unser Volk wiedervereint hat. Aber jetzt droht uns Deutschen wieder der Verlust der Heimat durch den Import von Parallelgesellschaften,
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von fremden Kulturen und von Kriminalität.
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Migranten werden bei uns zum Teil über das notwendige Existenzminimum hinaus mit Steuergeldern alimentiert; aber viele Rentner leben an der Armutsgrenze.
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Für Migranten gibt es zum Beispiel in einigen Landkreisen keine Mietobergrenze, für deutsche Hartz‑IV-Empfänger jedoch schon. Das ist Inländerdiskriminierung; so hatten wir uns die deutsche Einheit nicht vorgestellt, meine Damen und Herren.
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Aber vielleicht hängt das ja damit zusammen, dass Frau Merkel wenig vom deutschen Volk hält.
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Sie hat die deutsche Fahne ja mal verächtlich weggetan. Und wenn sie zu Herrn Erdogan fährt, dann sitzt sie lieber vor der türkischen statt vor der deutschen Fahne.
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– Nehmen Sie sich die Fotos von diesen Besuchen!
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Vielleicht liegt es ja daran, dass sie auch Ausländer zum deutschen Volk zählt; aber das ist grundgesetzwidrig. Sie sagt:
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Zum Volk gehört jeder, der hier lebt. – Das ist grundgesetzwidrig. Sie hat das wiederholt. Das ist leider ihre Strategie.
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Damit stellt sie sich außerhalb des Grundgesetzes, und mit ihr tut das auch die Regierung, die sie da unterstützt.
Wenn die Menschen nun dagegen aufbegehren, dann kommt oftmals die leere Wortfloskel: Wir müssen die Bürger mitnehmen; wir müssen es den Bürgern besser erklären. – Aber das ist eben nicht glaubhaft; das sind leere Worthülsen.
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Wenn man die richtige Lösung hat, dann muss man niemanden mitnehmen, dann kommen die Leute von allein mit.
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Wo bleibt eigentlich die Glaubhaftigkeit der Bundesregierung? Die Bundesregierung schadet uns Deutschen im Ausland, weil sie Hetzjagden sieht, wo gar keine sind. Damit verschreckt sie Investoren, die wir hier dringend brauchen.
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Sie betitelt angemeldete Demonstranten als Teil einer Zusammenrottung. Nur noch einmal zur Vergegenwärtigung: Zusammenrottung war ein Straftatbestand in der DDR. Und was tut die Bundesregierung? Sie beschäftigt sich wochenlang mit Personalien, anstatt hier Aufklärung zu betreiben.
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Und ich möchte meinem Vorredner widersprechen. Im Lausitzer Braunkohlerevier brauchen wir im Moment keinen künstlichen Strukturwandel. Wir werden irgendwann dahin kommen, dass die Kohle aufgebraucht ist. Aber wir sagen: Wir wollen so lange an der Braunkohle festhalten, bis die erneuerbaren Energien wettbewerbsfähig sind, bis die Speichertechnologie entwickelt ist und bis die erneuerbaren Energien auch zu Regelstrom und Netzstabilität beitragen. Bis dahin wollen wir keinen vorschnellen Ausstieg aus der Braunkohle.
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Wenn wir uns die Kohlekommission mal anschauen, dann sehen wir, dass die Kohlekommission eigentlich nichts anderes machen will, als der Kohle den Garaus zu machen. Auf der Packung „Kohlekommission“ steht zwar Kommission für „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“, das Gegenteil ist aber drin. Es scheint, der Kohleausstieg ist beschlossene Sache, nur der Zeitpunkt ist es noch nicht. Das ist aber mit uns nicht zu machen. Ich frage mich, warum in der Kohlekommission eigentlich kein einziger Experte für Stromerzeugung bzw. für Netze Mitglied ist. Vermutlich ist die Antwort: Sie wollen es einfach nicht hören. Solche Experten würden Ihnen ganz klar sagen: Wir können nicht gleichzeitig aus zwei Energieträgern, aus der Kernenergie und der Kohle, aussteigen; denn das destabilisiert unsere Stromversorgung und treibt die Strompreise unsozial in die Höhe und die Unternehmen, zum Beispiel der Papier- und Bauindustrie, außer Landes. – Das ist mit der AfD nicht zu machen.
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Es gibt noch weiteren volkswirtschaftlichen Irrsinn. Gelder fließen ab, anstatt in die Vollendung der deutschen Einheit zu fließen. Wir Deutsche sollen auf den Dieselmotor verzichten. Es drohen Fahrverbote. Die Bundesregierung schaut dabei zu, wie Volksvermögen Schritt für Schritt vernichtet wird. Die Forschung wandert ab. Jetzt hat Porsche auch noch gesagt, man wolle nicht mehr an der zukunftsträchtigen Dieseltechnologie weiterforschen.
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Das ist ein Skandal, meine Damen und Herren.
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Sie wissen sicherlich: Die Grenzwerte für Stickoxid sind europaweit die gleichen. Haben Sie mal von Fahrverboten im Ausland gehört? Ich nicht. Daran können wir erkennen, was hier eigentlich läuft. All diese Dinge spalten unsere deutsche Gesellschaft wieder. Zwar haben wir es geschafft, Ost- und Westdeutschland weiter zusammenrücken zu lassen, doch dieser neue Riss tut sich leider auf. Ich habe ihn skizziert. Ich hoffe, dass sich bald wieder vernünftige Kräfte in unserem schönen Deutschland durchsetzen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Frank Junge, SPD.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Kehren wir zurück zur wirklichen Debatte
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und zu dem Thema, um das es heute geht.
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Die deutsche Einheit und das bis heute erfolgreich gestaltete Zusammenwachsen von Ost und West umfasst bei weitem mehr, als irgendein jährlicher Bericht zum Ausdruck bringen könnte. Das, was uns mit und seit der Wiedervereinigung beider ehemaliger deutscher Staaten gelungen ist, ist geschichtlich und global betrachtet so groß und so einzigartig, dass wir alle zu Recht stolz darauf sein können.
Wir können stolz darauf sein, weil sich das Zusammenwachsen von Ost und West natürlich auf milliardenschwere finanzielle Solidarität der Menschen aus den alten Ländern stützt. Wir können aber vor allem stolz sein, weil wir Ossis uns mit der friedlichen Revolution Freiheit und Demokratie und den Rechtsstaat selbst erkämpft und mit dem gesamten Aufholprozess bei der Angleichung der Lebensverhältnisse eine Leistung erbracht haben, die ihresgleichen sucht.
Da kann Ihre gesamte Fraktion, Herr Kotré, damals nicht dabei gewesen sein; denn das, was an Rechtsstaatlichkeit dort gefordert worden ist und was wir jetzt haben, das wollen Sie ja gerade abschaffen.
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Sieht man auf die konkreten Zahlen im Bericht, so zeigt sich in der Tat, dass sich die Lebensverhältnisse im Osten weiter verbessert haben und die Angleichung an den Westen funktioniert. So befindet sich die Arbeitslosigkeit, als eines der wesentlichen Kriterien, auf einem historisch niedrigen Stand. Gleichzeitig sind immer mehr Menschen in sozialversicherungspflichtiger Arbeit. Die Löhne und die Renten, Herr Höhn, wachsen. Sie sind prozentual sogar stärker gestiegen als im Westen. Das kann man einfach nicht ignorieren; das ist einfach Fakt. Der Garant dafür ist die Wirtschaftskraft im Osten, die wiederum auf einer mittelständisch geprägten Wirtschaft aufbaut.
Ich hebe das hervor, weil die Instrumente, die wir als Bundesregierung bereitstellen, nämlich zum Beispiel die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, eine ganz besondere Bedeutung für die Wirtschaftsförderung in sich tragen. Rund 80 Prozent der Mittel, die dort ausgeschüttet und generiert werden, fließen in strukturschwache ostdeutsche Regionen, stärken dort die Wirtschaft. Hand an diese Mittel zu legen, wäre aus meiner Sicht fatal. Nach einem Antrag der FDP, der im Gespräch ist, sind diese Mittel zu kürzen. Das wäre ein Schlag ins Gesicht der ostdeutschen Wirtschaft. Das geht so nicht.
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Der Bericht verdeutlicht auch die Potenziale, die wir uns vornehmen müssen. Wir stehen vor einer Wirtschaftskraft, die sich weit von der des Westens unterscheidet. Die Tariflöhne, die wir im Osten haben, sind weit unter dem Niveau der Löhne in den alten Ländern, und immer noch haben wir einen großen Niedriglohnsektor, der natürlich in der Folge das Einkommen, das Steueraufkommen und das Vermögen der Ostdeutschen beeinflusst. Darunter leiden die Kommunen. Vor diesem Hintergrund ist es eine ganz schwere Aufgabe für die ostdeutschen Kommunen, für die Daseinsvorsorge vor Ort einzustehen und für vernünftige Lebensbedingungen vor Ort zu kämpfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit wird klar, dass wir unglaublich viel erreicht haben, aber auch eine ganze Menge Arbeit vor uns liegt. Maßstab des Erfolgs kann nach meinem Dafürhalten jedoch nur die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen den Regionen in Deutschland sein. Dabei ist mir und wahrscheinlich uns allen klar, dass mit diesen gleichwertigen Lebensverhältnissen nicht gemeint sein kann, dass Vorpommern oder die Lausitz so stark wie Hamburg oder München sein werden. Aber überall in Deutschland müssen sich Menschen sicher fühlen können, muss es gute Löhne, gute Kitas, gute Schulen, gute medizinische Versorgung, verlässliche Betreuung für Ältere, gute Pflege und einen flächendeckenden ÖPNV geben. Um das voranzubringen, haben wir in der Bundesregierung zahlreiche Projekte auf den Weg gebracht. Ich erinnere da nur an die bereitgestellten Haushaltsmittel für die Programme der Mittelstandsförderung, für die Förderung von strukturschwachen Regionen, für Forschung und Entwicklung sowie auch an den Stellenaufwuchs bei Polizei und Richtern.
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Außerdem werden die enormen Investitionen in wirtschaftsnahe Infrastruktur und Bildung, das Gute-Kita-Gesetz und das Gesetz zur Schaffung eines sozialen Arbeitsmarktes den Osten weiter voranbringen. Vor allem aber – damit will ich zum Schluss kommen – brauchen wir Lösungen, um die flächendeckende Strukturschwäche der neuen Bundesländer zu beseitigen. Hier sind zwei Elemente genannt worden, die auch ich für sehr wichtig erachte: Zum einen geht es darum, Bundesbehörden und Forschungsinstitutionen im Osten anzusiedeln. Zum anderen ist aber auch die Frage wichtig, inwieweit Führungskräfte des Ostens sich in den Chefetagen wiederfinden. Vor allen Dingen mit Blick auf den 2019 auslaufenden Solidarpakt II muss klar sein, dass die strukturellen Unterschiede zwischen Ost und West noch lange nicht beseitigt sind. Die Weichen für all das müssen wir jetzt in der dafür zuständigen Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ stellen. Ich erwarte daher, dass die besondere Situation des Ostens dort besondere Berücksichtigung findet.
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Es muss uns klar sein, dass wir die Probleme der neuen Bundesländer in Bezug auf den Ausgleich von strukturellen Unterschieden nicht nur deshalb lösen wollen, weil wir Ost und West zusammenbringen wollen, sondern auch weil wir damit Deutschland insgesamt voranbringen. Denn wenn wir die Mühe und die damit verbundenen Investitionen nicht scheuen, dann ist das nicht nur der beste Weg, die deutsche Einheit erfolgreich zu vollenden. Vielmehr schaffen wir damit auch wieder mehr Vertrauen in Politik, in unseren Staat, und wir tun etwas für gesellschaftlichen Zusammenhalt und für Demokratie. Und das ist das beste Mittel gegen Nationalismus, Spaltung, Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Thomas Kemmerich, FDP.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Liebe Zuhörer und Zuschauer!
Wir werden die Probleme anpacken, welche die Menschen in ihrem Alltag bewegen, und setzen uns mutige Ziele für die nächsten vier Jahre. Wir arbeiten für Stabilität und Zusammenhalt, für Erneuerung und Sicherheit und für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in unserem Land. Die besonderen Herausforderungen in Ostdeutschland erkennen wir als gesamtdeutschen Auftrag an.
Ein Absatz aus dem Koalitionsvertrag. Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Herr Staatssekretär Hirte, sagte gestern, man müsse aufpassen, nicht ganze Regionen im Osten zu stigmatisieren oder in Misskredit zu bringen. Sie können selber beurteilen, wie zurzeit Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen.
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Es wird Zeit, zu den politischen Prioritäten zurückzukehren und der Bevölkerung zu zeigen, dass wir ihre Sorgen und Nöte wirklich ernst nehmen, natürlich auch in Bezug auf die Verwirklichung der deutschen Einheit.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich hier auch die wirtschaftlichen Aspekte reflektieren. Leider haben sich meine Vorredner überwiegend damit zufriedengegeben, die Situation zu beschreiben. Es kamen wenig Konkretes, wenige Handlungsaufforderungen, erst recht keine Programme, die wirklich umgesetzt werden könnten und die den Aufholprozess zu anderen Regionen weiter vorantreiben würden. Der Bericht der Bundesregierung zeigt wieder einmal, dass der Aufholprozess stagniert. Die Wirtschaftskraft in den neuen Ländern bleibt schwächer, wobei man hier sehr differenziert zwischen den Regionen unterscheiden muss. Regionale Unterschiede bleiben. Auch das haben meine Vorredner gesagt. Aber mit einem Irrglauben, meine Damen und Herren, sollten wir hier einmal aufräumen, und zwar mit der sogenannten Arbeitslosenquote als Indikator. Sie kann nicht länger zum Gradmesser von wirtschaftlichem Erfolg gemacht werden. Herr Minister Altmaier sagte kurz nach seinem Amtsantritt, er strebe Vollbeschäftigung im Land an. Wir haben Vollbeschäftigung, wenn ich das als Volkswirtschaft insgesamt sehe. Das Fachkräfteproblem ist das Kernproblem dieser Zeit, umso mehr noch in den Regionen in Ostdeutschland. Hier haben wir insbesondere deshalb ein Strukturproblem, weil aufgrund der Abwanderung von jungen Frauen in den 90er-Jahren heute eine große demografische Lücke klafft, die wir kaum schließen können. Deshalb ist es umso wichtiger, hier Prozesse zu akzeptieren und auch zu moderieren, die unausweichlich sind. Ich nenne einmal zwei Beispiele.
Anhand der Beispiele von Siemens und Opel kann man sehen, welche Anpassungsprozesse wir haben. Opel Eisenach ist seit Jahren tatsächlich nur die Werkbank eines französischen Konzerns. Und was machen aktive Wirtschaftsminister? Sie kommen hin und versprechen Milderung und Salbung mit Steuermillionen. Das Gegenteil müsste passieren: Wir müssen Lust auf Veränderung wecken. Wir müssen die Qualität der Veränderung begreifen und sagen: Beharrt nicht auf dem, was ihr habt, sondern habt Lust darauf, dass die Prozesse auf euch zukommen. Gestaltet den Wandel, und wartet nicht ab, bis der Wandel euch gestaltet.
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Deshalb sollten wir die notwendigen Infrastrukturmaßnahmen und die notwendigen Qualifizierungsmaßnahmen ergreifen, damit den Leuten nicht vorgegaukelt wird: „Es bleibt ewig so, wie es ist“, sondern ihnen gesagt wird: „Es wird sich ändern, und ihr seid Teil der Veränderung, ihr könnt Anteil daran nehmen“. Nur dann werden wir viele Probleme lösen, über die wir heute reden, zum Beispiel indem wir aus heute einfacheren Arbeiten höher qualifizierte Arbeiten machen, die natürlich besser entlohnt werden können.
Wir werden alleine in Thüringen in den nächsten Jahren 300 000 Arbeitskräfte aus dem Arbeitsmarkt verlieren. Das ist überproportional viel im Vergleich zu den Verlusten, die wir in Westdeutschland erwarten können. Hier besteht also großer Handlungsbedarf. Deshalb: Lassen Sie uns nicht mehr feiern, dass die Arbeitslosenquote so niedrig ist. Mein Kollege hat es gesagt: Auch in Südthüringen haben wir keine nennenswerte Zahl an Arbeitskräften mehr zur Verfügung.
Wir haben Leuchttürme in Ostdeutschland wie Jena, Dresden, Leipzig. Wir haben viele Hidden Champions. Hier sollten wir uns eher die Frage stellen: Wie können wir diese Erfolgsmodelle adaptieren, duplizieren und zum Vorbild machen? Die ländlichen Räume in Ostdeutschland sind vor allen Dingen durch eins geprägt: durch einen starken Mittelstand, durch kleine und mittelständische Unternehmen. Deshalb, meine Damen und Herren: Lassen Sie uns unsere Kraft darauf verwenden, diese zu stärken.
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Wir müssen den Menschen Lösungen anbieten und nicht steuerfinanzierte kurzfristige Beruhigungspillen. Wir brauchen ganz konkrete Maßnahmen.
In einem Antrag, den wir dem Hause vorstellen werden, sagen wir: Wie können wir die handwerkliche Ausbildung stärken? Wir brauchen mehr Meister statt Master. Wir brauchen ein Anreizsystem, damit wir mehr Lehrlinge bekommen und nicht Studenten, die in einer hohen Zahl ihr Studium abbrechen und vielleicht auf ihrem Lebensweg scheitern. Wir brauchen einen „War for Talents“, gewinnbringende, vielversprechende Konzepte, wie wir Talente nach Deutschland, insbesondere aber auch zu uns nach Ostdeutschland locken. Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz, was wir seit Jahren propagieren, was abgelehnt wird von diesem Haus, um nach Deutschland einzuladen, um Menschen die Möglichkeit zu geben, hier am Arbeitsmarkt teilzuhaben. Andere Regionen und Länder machen uns das vor. 63 Prozent der ostdeutschen Firmen sagen: Unser größtes Problem ist Fachkräftemangel. – Nehmen Sie das endlich ernst.
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Private Innovationen in Ostdeutschland müssen wir fördern. Nur 2 von 26 geförderten Universitäten liegen in Ostdeutschland. Ich halte es für sehr begrüßenswert, dass wir Bundesbehörden in Ostdeutschland ansiedeln wollen. Aber das wird das Problem letztlich nicht lösen, weil die Wirtschaft andere Impulse braucht. Wir haben leider an den Universitäten, nicht wie in Stuttgart, nicht wie in München, keine große Zahl von Drittsponsoren, die uns in dieser Form unterstützen können. Auch hier brauchen wir steuerliche Anreizsysteme.
Ich komme zu der Idee „Sonderwirtschaftszone“. Das begrüßen wir ausdrücklich.
Herr Kollege, Sie sollten vor allen Dingen zum Schluss kommen.
Wir schlagen das seit fast 30 Jahren vor. Es wird höchste Zeit, sich vielleicht einmal das Beispiel von Estland vorzunehmen. Ganz Ostdeutschland könnte wie Estland sein: klein, fein und digital.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Claudia Müller, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig, die Leistungen der Menschen in Ostdeutschland in den letzten knapp 30 Jahren anzuerkennen. Das darf uns aber nicht davon abhalten, mit uns selbst kritisch ins Gericht zu gehen. Die Angleichung zwischen Ost und West kommt in den letzten Jahren nicht mehr voran. Im Gegenteil: In einigen Bereichen wird die Kluft sogar wieder größer. Wenn wir 28 Jahre nach der Wiedervereinigung in Ostdeutschland immer noch im Schnitt länger arbeiten und dafür 18 Prozent weniger Lohn bekommen, dann ist das kein Grund, uns auf die Schulter zu klopfen.
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Ostdeutschland ist weiterhin flächendeckend als strukturschwach einzustufen. Das müssen wir hier so deutlich zur Kenntnis nehmen. Dies nicht auszusprechen, hieße, diesen Fakt zu ignorieren. Und das haben die Menschen im Osten weiß Gott nicht verdient.
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Schönreden hilft nicht. Es ist gut, dass wir jetzt stärker den Mut und die Transformationserfahrung der Menschen im Osten in den Blick nehmen. Aber das ist kein Ausgleich für fehlende Chancengleichheit. Wir brauchen den echten erkennbaren Willen der Bundesregierung, ihren Verfassungsauftrag, gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen, auch wirklich zu erreichen. Davon merken die Menschen im Osten bisher wenig.
Es ist bereits mehrfach angesprochen worden: Der Beschluss von 1992, Bundesbehörden besonders im Osten anzusiedeln, ist schlicht und ergreifend ignoriert worden.
Wichtig ist jetzt, dass wir das Wirtschaftswachstum im Osten wieder stärker in den Blick nehmen. Die flächendeckende Ansiedlung größerer mittelständischer Betriebe oder gar von Großkonzernen im Osten ist gescheitert. Wir sehen sie nicht. Jetzt heißt es, Vorhandenes zu stärken, weiterzuentwickeln und daran anzudocken. Wir brauchen eine Förder- und Wirtschaftspolitik, die auf die besonderen Verhältnisse Ostdeutschlands zugeschnitten ist.
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Das heißt, wir brauchen Konzepte, um Forschung besser zu fördern. Die Forschungsquote der Wirtschaft im Osten ist nur halb so hoch wie die im Westen. Eine steuerliche Forschungsförderung für kleine und mittelständische Unternehmen könnte hier helfen. Vor allem gilt es – auch das ist hier mehrfach angesprochen worden –, Fachkräfte im Osten nicht nur auszubilden, sondern auch dort zu halten. Die Menschen bleiben nur dort, wenn sie für sich echte Chancen sehen; nicht nur für sich, sondern auch für ihre Kinder.
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Ein Problem nimmt dieser Bericht noch gar nicht in den Blick: die Frage der Nachfolger und Nachfolgerinnen. Derzeit wären 347 000 Arbeitsplätze in Ostdeutschland in 24 800 Unternehmen gefährdet, wenn sich dort keine Nachfolger und Nachfolgerinnen finden. Übrigens reden wir beim Strukturwandel in der Lausitz über 8 000 Arbeitsplätze. Über die reden wir, das ist gut. Wir reden aber nicht über die knapp 350 000 Arbeitsplätze, die in Ostdeutschland im Mittelstand ebenfalls gefährdet sind.
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Wir müssen im Osten endlich erkennbar erleben, dass die Fragen und die Herausforderungen, die sich dort stellen, angegangen werden, dass wir wirklich versuchen, gleichwertige Lebensverhältnisse in Ost und West zu schaffen; denn nur dann können wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt in ganz Deutschland wirklich erreichen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas Lenz, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt könnte man sich fragen, und ich wurde auch schon gefragt: Was hat die CSU zum Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit zu sagen?
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Es ist wie immer: eine ganze Menge.
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Es sind aber in erster Linie die mutigen Menschen, denen wir für das Geschenk der deutschen Einheit danken müssen. Es war die Macht der scheinbar Machtlosen, die das Glück der Wiedervereinigung erst ermöglichten. Diese Macht stammt aus dem Glauben an die Grundwerte, an die menschliche Würde.
Die Menschen in der DDR wollten den maroden Unterdrückungsstaat nicht reformieren, nein, sie wollten ihn überwinden, sie wollten Freiheit statt Sozialismus, sie wollten soziale Marktwirtschaft anstatt sozialistischer Mangelwirtschaft, sie wollten Menschen- und Bürgerrechte anstatt Ideologie und Unterdrückung.
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Deutschland und Europa wurden also durch den Willen der Menschen, der Völker verändert. Es war der Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, am 3. Oktober jährt sich auch der Todestag von Franz Josef Strauß zum 30. Mal: ein großer Bayer, Deutscher und Europäer. Wir verdanken Franz Josef Strauß einen großen Teil der deutschen Einheit.
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Bayerns Klage gegen den Grundlagenvertrag hat sich als Glücksfall für die deutsch-deutsche Geschichte erwiesen. Das Bundesverfassungsgericht hatte damals klar festgestellt, dass das Wiedervereinigungsgebot für alle Verfassungsorgane bindend ist und das Grundgesetz für alle Deutschen gilt, eben auch für die Menschen in der damaligen DDR. Die Verweigerung der völkerrechtlichen Anerkennung war Bayerns Beitrag zum Fall des Unrechtsstaates.
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Auch heute noch müssen wir betonen, dass die DDR ein Unrechtsstaat war. In der Verharmlosung der Diktatur liegt immer auch eine Verhöhnung der Opfer. Dazu darf es nicht kommen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Das gilt übrigens auch, wenn man jetzt die aktuelle Bundesrepublik mit der damaligen DDR vergleicht.
Von Strauß kann man übrigens auch heute noch lernen,
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was aktive Strukturpolitik bedeutet. Gleichwertige Lebensverhältnisse sind Verfassungsauftrag. Ich bin dankbar, dass nun durch die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ zusammen mit den Ländern und Kommunen konkrete Vorschläge und Maßnahmen für ganz Deutschland erarbeitet werden. Das Heimatministerium wird hier Ankerpunkt sein,
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damit Heimat auch Heimat bleiben kann, damit Perspektiven entstehen. Wir handeln also.
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Blickt man auf die Bilanz, so sieht man: Es wurde Vieles erreicht. Die Lebenserwartung hat sich annähernd angeglichen. Dies war übrigens 1990 noch ganz anders. Im Osten war die Lebenserwartung bei Männern im Schnitt vier Jahre niedriger als im Westen. Im Übrigen war in der ehemaligen DDR die Selbstmordquote doppelt so hoch wie im Westen. So gesund kann der Kommunismus also nicht gewesen sein.
Aber natürlich ist nicht alles nur schwarz-weiß. Auch das zeigt der Bericht. Vieles ist zwar gelungen, aber 40 Jahre Zwangswirtschaft haben auch Spuren hinterlassen.
Wir alle wissen, dass kein DAX‑30-Unternehmen in Ostdeutschland seinen Sitz hat, übrigens in Schleswig-Holstein beispielsweise auch nicht. Trotzdem hat sich der Arbeitsmarkt in Ostdeutschland positiv entwickelt. So lag die Arbeitslosigkeit 1999 noch bei 17 Prozent, 2017 liegt sie bei nur noch 7,6 Prozent. Natürlich liegt das auch an externen Effekten, am demografischen Wandel, Wegzug usw., aber jüngst auch am Beschäftigungsaufbau. Das ist ein Erfolg, und das ist auch ein politischer Erfolg, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Beschäftigung entsteht durch Innovation, durch Wertschöpfung, durch eine möglichst breite Wertschöpfung. Genau hier müssen wir ansetzen. Es wurde schon thematisiert, dass die Forschungs- und Entwicklungsquote im Osten etwas niedriger ist als im Westen Deutschlands. Hier setzt beispielsweise ZIM an. 42 Prozent der Mittel aus dem Zentralen Innovationsprogramm Mittelstand gehen in die neuen Bundesländer, genauso wie die Mittel der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“. Hier müssen wir schauen, dass wir in Zukunft passgenau die Stärken der jeweiligen Region flexibel fördern. Ich durfte neulich mit der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ nach Halle an der Saale fahren.
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Ich war zuvor noch nie dort: eine sehr schöne Stadt. Ich habe auch spontan eine Kirchenführung im Dom durch den örtlichen Küster bekommen. Auch hier sieht man, was Aufbau Ost letztlich bedeutet. Aber vor Ort werden auch die Herausforderungen durch die Braunkohlereviere und die nachgelagerten Industrien sichtbar. Wichtig wird sein, dass gerade hier keine Strukturbrüche, sondern ein Strukturwandel erfolgt. Wir müssen aktivieren und dürfen nicht alimentieren, und zwar entlang der gesamten Wertschöpfungsketten.
Das, was hier seit der Wende aufgebaut wurde, soll nicht wieder abgeschafft werden. Wir brauchen maßgeschneiderte Konzepte für jedes Revier, auch für die Reviere im Westen. Das umfasst natürlich Infrastruktur, von mir aus auch das Ansiedeln von Behörden. Aber es muss auch über grenzüberschreitende Wirtschaftszonen, beispielsweise Sonderwirtschaftszonen gesprochen werden. Wir brauchen Planungsbeschleunigung, wir brauchen Hightechlabore, und wir müssen vor allem mit den Menschen vor Ort sprechen und dann die Ergebnisse gesetzlich entsprechend umsetzen.
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Es ist eine Mär, dass keine Experten in dieser Kommission sitzen würden. Wenn der Vorsitzende des BDEW, des BDI und des VKU in dieser Kommission sitzen, dann kann man doch nicht sagen, dass keine wirtschaftliche oder energiewirtschaftliche Kompetenz vorhanden wäre.
Wir müssen jetzt die Grundlagen für eine weitere positive Entwicklung im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung legen. Man muss betonen, welche Kraftanstrengungen hinter uns liegen und welche auch noch vor uns liegen werden. Man darf aber auch betonen, welch Glück es ist, dass wir in Frieden und Freiheit wiedervereinigt sind. Ich glaube, wir sollten das gerade jetzt erwähnen, da in diesem Jahr erstmals der Zeitraum seit dem Fall der Mauer länger ist als der Zeitraum, in dem sie stand. In diesem Sinne geht es weiter.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Danke schön.
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Damit erteile ich das Wort der Kollegin Elisabeth Kaiser, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einem Jahr bin ich als 30‑jährige Ostthüringerin für die SPD-Fraktion in den Deutschen Bundestag gewählt worden und halte heute zum ersten Mal zu einem ostdeutschen Thema eine Rede. Ich denke, die Menschen in meinem Wahlkreis in Gera, im Altenburger Land und in Greiz werden sicher zuhören und sich fragen, was ich dazu zu sagen habe.
Der Kollege eben hat es bereits gesagt: Ende dieses Jahres ist Deutschland länger wiedervereint, als es durch die Mauer getrennt war. Und mittlerweile sind in Ostdeutschland Generationen herangewachsen, die nicht in der DDR gelebt haben, aber dennoch durch das Thema „Ost und West“ geprägt wurden. Ich denke, auch diesen Menschen sollten wir hier eine Stimme geben.
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Im Vereinigungsjahr 1990 wurde ich als dreijährige DDR-Bürgerin ziemlich unerwartet und plötzlich zur Bundesbürgerin. Damals war mir natürlich noch nicht bewusst, was das für eine Zäsur war.
„Es wächst zusammen, was zusammengehört“, so hatte der damalige SPD-Vorsitzende Willy Brandt den Mauerfall am 10. November 1989 in Gotha kommentiert. Was könnte ich Willy Brandt heute über das Zusammenwachsen und seine damalige Prognose erzählen? Zum Beispiel, dass sich aus der Einheitseuphorie eine neue Distanz gebildet hat, die durch Deutschland geht und vor allem mit der Nichtachtung der Lebensleistung vieler Ostdeutscher zu begründen ist. Denn bei aller Kritik, die man am politischen System der DDR haben muss, an der Unterdrückung und Kontrolle, so war es doch für viele Millionen Menschen auch Heimat, in der sie ihr tägliches Lebenswerk vollbrachten. Dieses typisch ostdeutsche Phänomen der zwei Seiten, der offiziellen und der des Privaten, kann man nur durch mehr Zuhören verstehen. Aus dem gewonnenen Verständnis muss eines erwachsen: Viele Ostdeutsche müssen die Gewissheit erlangen, dass ihnen Chancen und eine Perspektive gegeben werden.
Zweifellos nimmt Ostdeutschland nur einen geringen Raum auf der gesamtdeutschen Karte ein. Nur 17 Prozent der deutschen Bevölkerung lebt hier, und es werden weniger. Aber nur 1,7 Prozent der deutschen Führungspositionen werden durch Ostdeutsche besetzt. Und da entsteht eben auch Unmut und die verfestigte Überzeugung: Die wollen uns da nicht!
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Umso wichtiger ist es, anzuerkennen: Die empfundene Benachteiligung ist nicht nur irgendein Gefühl. Ich denke, dahinter stehen Fakten.
Ich brauche mich nur in meiner Heimatstadt Gera umzuschauen. Ich bin in einem Plattenbaugebiet in Gera-Lusan aufgewachsen. Mein Albert-Schweitzer-Gymnasium ist heute eine Bildungsruine, dabei war es nach der Wende das größte Gymnasium Thüringens. Es schloss 2007 mangels Kindern. Gera war mit 135 000 Einwohnern bis 1990 nach Erfurt die zweitgrößte Stadt in Thüringen. Mehr als 35 000 Menschen hat Gera bis heute verloren und damit auch den Großstadtstatus. – So meine ganz persönliche Sichtweise und die Erfahrung der Menschen in meiner Heimat.
Blicken wir in die Jahresberichte zum Stand der deutschen Einheit, finden sich natürlich viele Erfolgsgeschichten, die ich hier gar nicht verschweigen möchte. Beide Perspektiven stehen auch gar nicht im Widerspruch zueinander, sondern erklären den sehr komplexen und widersprüchlichen Einheitsprozess. Auch der Bericht zeigt ein sehr differenziertes Bild.
Die gute gesamtwirtschaftliche Entwicklung in Deutschland hat sich auch in Ostdeutschland positiv ausgewirkt. Es wurde bereits gesagt: Das Wirtschaftswachstum ist gestiegen, und die Arbeitslosigkeit ist gesunken. Das stimmt ermutigend. Und: Wir sind auch spitze in Ostdeutschland, was die Frauenbeschäftigung angeht. Da sind wir doppelt so gut wie in Westdeutschland. Gleiches gilt für die Kinderbetreuung.
Allerdings verzeichnet Ostdeutschland nach wie vor eine massive Exportschwäche, und beim Pro-Kopf-Einkommen haben die Ostdeutschen nur 70 Prozent des Einkommens ihrer Landsleute im Westen erreicht. Ob sich Willy Brandt das so nach 28 Jahren vorgestellt hat? Was ist die richtige Perspektive? Wo ist der richtige Vergleichsansatz?
Der westdeutsche Tourist in Weimar, Erfurt, Görlitz oder Stralsund stellt berechtigt fest: Hier sieht es ja besser aus als bei uns, die Straßen, die Fassaden, die Verkehrsmittel. Und da jammert der Ossi? Und dann der ungenierte Rechtsextremismus, der sich auf der Straße äußert und stark mit Ostdeutschland verbunden wird, obwohl er ein gesamtdeutsches Phänomen ist.
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Alle diese Eindrücke bilden die Realität, eine vielschichtige, mit Erfolgen und Scheitern. Wir müssen kluge Politik aus diesen Erkenntnissen machen.
Seit gestern gibt es die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ der Bundesregierung. Meine Fraktion hofft, dass dadurch an der Herstellung dieser gleichen Lebensverhältnisse konsequent gearbeitet wird. Und warum? Weil auch nach 28 Jahren der Einheitsprozess nicht abgeschlossen ist, den wir für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und unserer Demokratie so dringend brauchen. Deshalb wollen wir als Sozialdemokraten diesen Prozess der Angleichung auch fortsetzen: durch die Ansiedelung von Behörden, durch Ausgleichsmaßnahmen für den Wegfall von Industrie und Bergbau und vor allen Dingen durch die Gewährleistung der Daseinsvorsorge im Osten, vom öffentlichen Nahverkehr über den Landarzt bis zur erreichbaren Behörde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe heute die Realität nach 28 Jahren deutscher Einheit in meiner Heimat geschildert und die Gründe dafür, warum der 3. Oktober, der Tag der Deutschen Einheit, eben nicht für jeden Bundesbürger ein Feiertag ist. Wenn wir aber weiter an gleichwertigen Lebensverhältnissen und Chancen in den Regionen arbeiten, können wir das Vertrauen in die Politik und unsere Demokratie stärken und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland festigen. Ich hoffe, dass eine junge Kollegin in 30 Jahren hier nicht länger über Risse und Unterschiede zwischen Ost und West sprechen muss. Lassen Sie uns kluge Politik machen!
Ich danke Ihnen.
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Weitere Wortmeldungen zu diesem Tagesordnungspunkt liegen mir nicht vor. Ich schließe damit die Aussprache.
Es ist interfraktionell vereinbart worden, die Vorlage auf der Drucksache 19/4560 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 19/4566 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Türkei ist ein Land, in dem Freiheit und Sicherheit völlig aus der Balance geraten sind; ein Land, in dem Tausende Menschen unter Generalverdacht gestellt werden und digitale Gestapo-Methoden gegen die eigene Bevölkerung angewandt werden; ein Land, in dem Menschen ohne Anklage und Beweismittel auf unbestimmte Zeit eingekerkert werden; ein Land, in dem Presse- und Meinungsfreiheit massiv eingeschränkt werden, mit mehr als 150 Journalisten im Gefängnis.
Meine Damen und Herren, Präsident Erdogan lässt keinen Zweifel daran, dass er freie Meinungen als Gefahr begreift, diese angreift und unterdrückt und die Axt an die Grundwerte von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit legt. Beim Staatsbesuch des türkischen Präsidenten müssen daher die Menschenrechtslage und die Erosion des türkischen Rechtsstaates als zentrales Thema angesprochen werden.
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Deniz Yücel hat es sehr treffend gesagt: Mit Gangstern muss man die Sprache sprechen, die sie selbst sprechen. – Die Bundesregierung macht jedoch genau das Gegenteil. In vorauseilendem Gehorsam stellt Bundesfinanzminister Olaf Scholz der Türkei sogar Finanzhilfen in Aussicht, ohne dass die Türkei überhaupt nach deutscher Hilfe gefragt hätte, ohne dass es eine Verbesserung der demokratischen Qualität und Rechtsstaatlichkeit gegeben hätte. Ganz im Gegenteil: Die Bundesregierung spielt ohne einen klaren Wertekompass das Spiel eines Despoten mit und bietet einem Antidemokraten eine Plattform für dessen politische Machtspiele. Wenn das Ihre Haltung ist, kann der Staatsbesuch nicht der Anfang einer Normalisierung der Beziehungen sein, sondern das ist die Pervertierung des Gastrechts durch einen ausländischen Staatsgast.
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Dialog und Austausch – sehr gerne bei einem Arbeitstreffen. Staatsbankett und militärische Ehren – in diesem Fall nicht.
Meine Damen und Herren, über 3 Millionen türkischstämmige Bürgerinnen und Bürger nennen Deutschland ihre Heimat. Gerade daraus erwächst eine besondere Verantwortung auch für uns – für die Menschen, die eine andere Türkei wollen.
Ich selbst habe diese andere Türkei erlebt, die andere Hälfte des Landes, die trotz Präsident Erdogans ununterbrochener Unterdrückungskampagne den Weg ins Sultanat ablehnt. Während der Wahlbeobachtung habe ich verfolgt, wie Tausende Menschen in Izmir, in Istanbul für Freiheit und Demokratie auf die Straßen gegangen sind. Diese Menschen haben gezeigt, wie Demokratie in der Türkei aussehen kann. Es sind diese Menschen in der Türkei, die Sie beiseiteschieben. Sie machen Präsident Erdogan den Hof. Es geht schon lange nicht mehr darum, noch den EU-Beitritt zu realisieren, es geht vielmehr darum, die zunehmende Polarisierung zwischen Demokratie und Despotie anzusprechen.
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Es geht um Reformen auf der Grundlage einer realistischen Partnerschaft. Es geht darum, gemeinsam universelle Werte zu verteidigen; denn Europa ist für viele Türken weiterhin der Kontinent jener Regeln, die in ihrem eigenen Land mit Füßen getreten werden, der Kontinent für Pressefreiheit, für Bürgerbeteiligung, für Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit der Geschlechter, Gewaltenteilung, Demokratie und auch Säkularisierung.
Meine Damen und Herren, diese Menschen müssen wir verstehen und nachvollziehen, welche Auswirkungen autokratische Regime auf die Schicksale Einzelner haben. Zum Schluss meiner Rede möchte ich von solch einem Schicksal berichten, das mich sehr berührt hat.
Der Autor Ahmet Altan wurde wegen regierungskritischer Artikel ohne Beweise und ohne die Möglichkeit einer Bewährung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Gestern erschien sein in Haft geschriebenes Buch, das den Titel „Ich werde die Welt nie wiedersehen“ trägt. Mit Erlaubnis des Präsidenten möchte ich gerne zehn Zeilen aus diesem Buch mit Ihnen teilen:
Durch das vergitterte Fenster des Saals sah man in einen kleinen gepflasterten Hof. Ich streckte mich auf dem Bett aus. Stille. Eine tiefe, dunkle Stille. Kein Ton, keine Bewegung. Das Leben hatte plötzlich haltgemacht. Es war erstarrt. Kalt und leblos. Das Leben war gestorben. Unversehens gestorben. Ich lebte, aber das Leben war tot. Während ich geglaubt hatte, ich würde sterben, das Leben aber weitergehen, war das Leben gestorben, aber ich war noch da.
Danke schön.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas Nick, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den letzten Jahren zweifellos eine immer weiter gehende Zuspitzung der innenpolitischen Situation in der Türkei erleben müssen: von den Gezi-Park-Protesten 2013, den Wahlen 2015 und dem Wiederaufflammen des Konflikts mit der PKK über den Putschversuch im Juli 2016 und den nachfolgenden Ausnahmezustand bis zum Referendum über die Verfassungsänderung und zu den vorgezogenen Parlaments- und Präsidentenwahlen 2018. Es ist nicht zu bestreiten, dass sich die Türkei dabei zunehmend in Richtung eines autoritären Regierungs- und Staatsmodells entwickelt hat.
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Zahlreiche Aspekte dieser Entwicklung haben wir hier und an anderer Stelle immer wieder in aller Deutlichkeit kritisiert: die Inhaftierungen von Parlamentariern und Journalisten, die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit ebenso wie die Entlassung von über 100 000 Staatsbediensteten – Verwaltungsbeamte, Richter, Soldaten, Lehrer und Professoren.
Bei einem Besuch in Ankara Ende 2016 habe ich selbst miterleben müssen, dass es bereits im Vorfeld zu Verhaftungen von Redakteuren der Zeitung „Cumhuriyet“ kam und eine vorgesehene Gesprächspartnerin, die damalige Co-Vorsitzende der HDP, Frau Yüksekdag, in der Nacht vor unserem Termin verhaftet wurde.
Die am 7. September erfolgten Verurteilungen des früheren Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtas, und des früheren HDP-Abgeordneten Önder zu mehreren Jahren Haft für Aussagen, die sie im Jahr 2013 getroffen haben, sind besonders problematisch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in aller Klarheit: Parlamentarier gehören ins Parlament und nicht ins Gefängnis!
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Die freie Meinungsäußerung von Abgeordneten und Journalisten ist Kernbestandteil einer freiheitlichen Demokratie und muss uneingeschränkt geschützt werden.
Auch die teils willkürlichen Verhaftungen deutscher Staatsbürger in der Türkei haben die bilateralen Beziehungen schwer belastet. Noch immer sind deutsche Staatsbürger aus offenbar politischen Gründen in der Türkei in Haft.
Wir begrüßen aber ausdrücklich die erfolgreichen Bemühungen der Bundesregierung, die, wie in den Fällen Yücel und Steudtner, zur Freilassung deutscher Staatsbürger beigetragen haben, auch durch rechtsstaatliche Entscheidungen türkischer Gerichte. Ebenso begrüßen wir die kürzlich erfolgte Freilassung von Taner Kilic, des Ehrenvorsitzenden von Amnesty International in der Türkei.
Das Referendum zur Verfassungsänderung und die vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen markieren einen Einschnitt in der Entwicklung der Türkei. Die hohe Wahlbeteiligung von 88 Prozent und die Vielfalt der angetretenen Parteien verdeutlichen die Wertschätzung für die pluralistische Demokratie in der türkischen Bevölkerung. Diese bedarf aber eines festen Fundaments durch die uneingeschränkte Ausübung von Grundrechten und die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit.
Auch wenn die Wahlen unter den Bedingungen des Ausnahmezustands mit kurzer Vorlauffrist sowie einer einseitigen medialen Berichterstattung zum Wahlkampf stattfanden, werden die Ergebnisse auch von der Opposition in der Türkei akzeptiert. Diese Realität muss auch unsere Außenpolitik zur Kenntnis nehmen; denn die Türkei bleibt für uns auch künftig ein wichtiger Partner.
Wir stehen deshalb im Umgang mit der Türkei auf absehbare Zeit vor der Herausforderung einer schwierigen Doppelstrategie: auf der einen Seite klar und deutlich Stellung zu beziehen im Hinblick auf grundlegende Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit und Menschenrechte, auf der anderen Seite aber gerade deshalb die Türkei und ihre Menschen nicht aufzugeben, sondern dort, wo es machbar und notwendig ist, Dialog und Zusammenarbeit fortzusetzen, vor allem mit Blick auf die türkische Zivilgesellschaft.
Eine zentrale Plattform zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit ist der Europarat, in dem die Türkei fast von Beginn an Mitglied ist. Gerade der Europarat verfügt über geeignete Instrumente, um bei den zentralen Fragen des Schutzes der Menschenrechte, der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und der pluralistischen Demokratie Einfluss auf die Türkei auszuüben.
So hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats 2017 das sogenannte Monitoringverfahren bezüglich der Türkei neu eingeleitet. Dabei überwacht ein Ausschuss kontinuierlich die Einhaltung der Verpflichtungen, welche die Türkei als faktisches Gründungsmitglied des Europarats eingegangen ist.
Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind ein zentraler Bezugspunkt für die Sicherung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Die Unabhängigkeit des obersten Verfassungsgerichts der Türkei muss auch in Zukunft sichergestellt sein, und seine Urteile müssen auf allen Ebenen der türkischen Justiz anerkannt und umgesetzt werden.
Auf Empfehlung des Europarates wurde in der Türkei eine staatliche Kommission eingerichtet, die entlassenen Staatsbediensteten erstmals ein Rechtsmittel eröffnet, ihre Entlassung überprüfen zu lassen, auch wenn dort erst wenige Fälle entschieden worden sind.
Wir begrüßen die Aufhebung des Ausnahmezustands in der Türkei als ersten wichtigen Schritt. Allerdings bleiben durch das Sicherheitsgesetz vom 25. Juni zahlreiche Maßnahmen weiterhin in Kraft. Das muss ebenso wie die Herausforderungen, die sich durch das neue Präsidialsystem ergeben, Thema bleiben. Dabei wird es entscheidend darauf ankommen, wie sich die Türkei künftig zu Empfehlungen der Venedig-Kommission des Europarates verhält.
Meine Damen und Herren, die innere Verfasstheit der Türkei darf nicht weiter in einen Gegensatz zu ihren eigenen strategischen Interessen geraten. Dazu gehören zweifelsohne gute Beziehungen mit dem Westen – politisch wie wirtschaftlich.
Wir in Deutschland haben unsererseits weiterhin ein vitales Interesse an einer prosperierenden Türkei mit einer stabilen Demokratie und einer lebendigen Zivilgesellschaft, mit einer starken Orientierung nach Westen und Anbindung an Europa. Dies gilt nicht zuletzt angesichts von mehr als 3 Millionen Menschen türkischer Herkunft, die in unserem Land zu Hause sind.
Es gilt daher, die Beziehungen zwischen Deutschland, der EU und der Türkei in einem veränderten Umfeld neu zu vermessen. Dazu bedarf es des Dialogs, und dazu trägt auch die Einladung des Bundespräsidenten an Präsident Erdogan bei.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Abgeordneten Armin Hampel, AfD.
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Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Liebe Gäste im Deutschen Bundestag! Liebe Medienvertreter! Unser Antrag bezieht sich auf den völkerrechtswidrigen militärischen Einsatz der Türkei in Syrien. Ich stelle mit Erstaunen und Befremden fest: Obwohl alle Fraktionen im Deutschen Bundestag die Völkerrechtswidrigkeit dieser militärischen Maßnahmen der Türkei anerkannt, erwähnt und bekundet haben, gibt es keine Reaktion der Bundesregierung. Das scheint kein Thema für Sie zu sein. Herr Maas hat dieses Thema ja bei seinem letzten Kuscheltreffen mit Herrn Erdogan und auch anschließend mit keinem Wort öffentlich erwähnt. Noch einmal, meine Damen und Herren: Alle Fraktionen des Deutschen Bundestages haben diese militärischen Maßnahmen als völkerrechtswidrig verurteilt, und sie haben keine einzige Antwort der Bundesregierung darauf bekommen. Das nenne ich eine Missachtung des Parlaments, wie sie meines Erachtens selten in diesem Hause vorkommt.
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Dieses Verhalten zeigt darüber hinaus, dass unser Einfluss am Bosporus dramatisch geschwunden ist. Herr Nick hat gerade angesprochen, dass es früher aufgrund unserer alten und vertrauten Beziehungen zur Türkei möglich war, in alle gesellschaftlich relevanten Gruppen hineinzuwirken und dort auch deutsche Interessen zur Geltung zu bringen. Heute ist es genau umgekehrt: Wir wirken nicht mehr in die Türkei hinein, sondern Herr Erdogan wirkt nach Deutschland hinein, und zwar kräftig.
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Damit sind deutsche Interessen massiv bedroht. Die Einmischungen von Herrn Erdogan in die innerdeutsche Politik – ich verweise nur auf die Türken und die Kurden hier in Deutschland und auf ihre teilweise gewalttätigen Auseinandersetzungen – wirken auf die innenpolitische Stabilität Deutschlands, und der Druck, den Herr Erdogan damit aufbauen kann, ist den meisten von Ihnen bekannt.
Die Türkei war einmal im Sinne des Staatsgründers Kemal Atatürk der Eckpfeiler der NATO, der Eckpfeiler Europas hin zum Orient. Kemal Atatürk hat die Frage, warum er die Türkei nach Europa ausrichten will, einmal mit dem Spruch beantwortet: Es gibt viele Kulturen in der Welt, aber es gibt nur eine Zivilisation; das ist die europäische. – Das sagte Kemal Atatürk. Wenn Sie das heute in Ankara oder Istanbul sagen, dann werden Sie andere Antworten bekommen.
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Die türkischen Einmischungen, wie wir sie jetzt in Syrien erleben, erschweren die Situation dort vor Ort. Sie erschweren eine Beendigung des Bürgerkriegs. Mir ist es unbegreiflich, dass die Bundesregierung dies zumindest indirekt unterstützt. Wir wissen, dass die türkische Regierung den IS unterstützt hat; es gibt Belege dafür. Wir erkennen, dass die Kurden in Syrien bekämpft werden, und wir unterstützen sie im Irak. Das soll uns mal einer erklären! Das Flüchtlingsabkommen – das wissen wir alle – hat uns erpressbar gemacht; der Kuschelkurs der Bundesregierung weist ja darauf hin.
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Wir haben bezüglich Syrien heute einen Schulterschluss mit Herrn Erdogan, Herr Grosse-Brömer, und zwar, indem wir die Eroberung von Idlib verhindern wollen – weil es ja das Assad-Regime ist. Wir fragen uns: Warum? Im deutschen Interesse muss es doch sein, den Bürgerkrieg so schnell wie möglich zu beenden, auch schon deshalb, weil wir in unserem Interesse keine weitere Flüchtlingswelle in die Türkei und damit nach Europa und nach Deutschland haben wollen.
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Wir wollen das übrigens auch nicht noch einmal mit Milliarden Euro finanziell unterstützen. Wir wollen, dass die Flüchtlinge, die sich zurzeit in Deutschland aufhalten, in ein gesichertes Syrien zurückkehren können, und wir wollen den Wiederaufbau Syriens durchaus unterstützen, wenn Herr Assad dafür die Voraussetzungen schafft, nämlich die Straffreiheit und die Eigentumsgarantie der zurückgekehrten Flüchtlinge zu gewährleisten; das ist doch klar.
Die Politik der Bundesregierung, meine Damen und Herren, hat einen gegenteiligen Effekt: Die türkische Unterstützung des IS hat den Bürgerkrieg in Syrien verschärft. Sie zeigt die dunkle Seite unseres heutigen Staatsgastes. Was will Herr Erdogan? Er will natürlich von seinen innenpolitischen und wirtschaftlichen Problemen und Spannungen ablenken. Sie kennen die alte Lehre: Wenn Sie innenpolitische Schwierigkeiten haben, dann suchen Sie eine Einigung über außenpolitische Erfolge bzw. militärische Aktivitäten. Genau das tut die Türkei in Syrien derzeit.
Zurück zu den deutschen Interessen. Der Krieg in Syrien, meine Damen und Herren – ob man das nun gut oder schlecht findet –, ist entschieden. Es gibt noch eine letzte kleine Enklave, Idlib. Aber ansonsten ist das Land von einem verheerenden Kriegszustand in einen halbwegs stabilen Zustand zurückgekehrt. Das Regime von Herrn Assad – ob es Ihnen gefällt oder nicht – hat gewonnen. Je eher Idlib fällt, desto eher ist der Bürgerkrieg in diesem Land beendet und desto eher sterben dort keine Menschen mehr. Das muss doch für uns das Allerwichtigste sein!
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Die Bundesregierung unterstützt durch ihre Politik indirekt die islamistischen Terroristen.
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Wir wissen, dass es drei Korridore aus Idlib heraus gibt – von den syrischen Streitkräften geschaffen –, und wir wissen auch, dass die Terroristen auf der anderen Seite die Zivilbevölkerung daran hindern, diese Korridore zu benutzen. Da kann es doch nicht in unserem Interesse sein, dies auch noch durch Schutzzonen zu stabilisieren, um den militärischen Erfolg derjenigen, die einmal mit dem IS zusammengearbeitet haben, zu sichern. Al-Nusra – erinnern Sie sich? – hat mit dem IS zusammengearbeitet, und die unterstützen wir heute. Welch ein Wahnsinn, meine Damen und Herren!
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Die Bundesregierung macht sich damit zum Handlanger von Islamisten,
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die auch noch Zivilisten – wie schäbig und furchtbar – als menschliche Schutzschilde verwenden. Es ist völlig irrational, diejenigen zu unterstützen, die wir übrigens in Afghanistan seit 2001, seit 17 Jahren, bekämpfen. Auch das ist eindrucksvoll.
Was ist die deutsche Strategie? Nach außen hin heißt es, man wolle Syrien als Ganzes erhalten. Ich habe den Eindruck, dass man alles tut, um die Stabilisierung in Syrien zu verhindern, und dass damit eine Teilung und eine Abspaltung eines islamistischen Staates in Idlib und anderswo erst möglich gemacht wird. Meine Damen und Herren, das kann doch nicht im Interesse der Bundesregierung und schon gar nicht im Interesse Deutschlands sein!
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Alles sieht danach aus, dass dieser Status quo in Idlib eingefroren werden soll. Das Gegenteil wäre richtig: Verhältnisse schaffen, damit endlich Frieden in Syrien einkehrt.
Was bewirken Sie in Wirklichkeit? Sie bewirken – willentlich und wissentlich – eine Teilung Syriens durch die Abspaltung eines islamistischen Terrorstaates. Warum ist das so? Ich habe manchmal den Eindruck, dass dahinter andere Gedanken stehen. Herr Weil, Herr Pistorius und auch Sie, Herr Präsident, haben es ja unlängst erwähnt: Angeblich können wir nicht anerkannte Flüchtlinge in dieser Größenordnung gar nicht zurückschicken, sondern Deutschland ist auf Integration angewiesen; anders würden wir es nicht schaffen. Daraus folgt: Auch nicht anerkannte Asylbewerber oder Flüchtlinge sollen in Deutschland bleiben.
Meine Damen und Herren, wir wollen das nicht. Die AfD wird sich diesem Bruch der bestehenden deutschen Gesetze und der deutschen Verfassung heute und in Zukunft energisch entgegenstellen.
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Glauben Sie nicht, dass Sie mit den Aktivitäten der Bundesregierung in den vergangenen und zukünftigen Monaten Fakten werden schaffen können. Dieser Prozess ist nicht unumkehrbar, er ist umkehrbar. Eine AfD-geführte Bundesregierung,
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meine Damen und Herren, wird diese Mutter aller Probleme sofort und entschieden angehen.
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Ich verspreche Ihnen eines: Wir schaffen das!
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege Hampel. – Zu Ihrer Kenntnis: Der Präsident ist jetzt eine Präsidentin, aber das konnten Sie natürlich nicht sehen.
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Schönen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, von mir! Nächster Redner: Frank Schwabe für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein besonderes Verhältnis, das Deutschland und die Türkei haben, zum einen als NATO-Partner, zum anderen, weil die Türkei der östliche Teil Europas ist, eine Brücke Richtung Asien, Richtung Nahem und Mittlerem Osten. Wir haben in der Tat eine besondere Zuwanderungsgeschichte eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung in diesem Land. Deswegen gibt es gemeinsame Herausforderungen, und deswegen macht es auch Sinn, sich regelmäßig darüber auszutauschen.
Ich will sagen, dass es in der Vergangenheit sicherlich auch Fehler gab, aufseiten der Europäischen Union und, wie ich finde, ebenso in Deutschland. Wir waren nicht offen genug, und das zu einem Zeitpunkt, als Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in der Türkei bessere Chancen hatten, als es heute der Fall ist.
Wir sind heute dabei, eine Bestandsaufnahme zum Thema „Rechtsstaat, Demokratie und Menschenrechte“ vorzunehmen. Hier sind wir bis heute mit einem massiven Abbau und mit einer dramatischen Situation in der Türkei konfrontiert. Wir nehmen wahr, dass es den Versuch gibt, durch einen solchen Besuch Signale der Entspannung zu senden. Aber ich halte es da mit dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der davon gesprochen hat, dass man sich in dieser Situation keinen Illusionen hingeben sollte. Deswegen glaube ich: Es ist richtig, zu reden, aber es ist auch richtig, Klartext zu reden. Ich finde, was immer man tut, man sollte einen vernünftigen Umgang miteinander pflegen. Es kommen gleich noch Redner, die an dem Bankett teilnehmen oder eben auch nicht teilnehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Debatte hilft niemandem. Wir müssen überlegen, welche Debatte hilft. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir ein gemeinsames Signal heute aus diesem Deutschen Bundestag senden.
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Ich habe heute einen Gastbeitrag des türkischen Präsidenten in der „FAZ“ gelesen. Es ist eine Art Brief an uns, in dem er sagt, dass er die deutsch-türkischen Beziehungen weiterentwickeln möchte. Ich kann nur sagen: Das ist sicherlich unser gemeinsames Ziel. Aber dass wir ein angespanntes Verhältnis haben, hat eben einen Grund, und ich finde, die gemeinsame Antwort des Deutschen Bundestages – bei allen Nuancen, die wir in der Debatte haben – sollte sein: Herr Präsident Erdogan, wenn Sie eine Entspannung des Verhältnisses wollen, dann achten Sie die Regeln der Demokratie, des Rechtsstaats und der Menschenrechte, zu denen Sie sich selbst in der Europäischen Menschenrechtskonvention verpflichtet haben,
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und unterlassen Sie das, was Deniz Yücel erst vor ein paar Tagen so beschrieben hat: „erst verhaften, dann Beweise suchen und schließlich schmoren lassen“ – und dann, dann ist es eigentlich auch schon egal.
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Das muss man, glaube ich, auch mal in Zahlen deutlich machen – es ist legitim, sich gegen Putschversuche zu wehren; was nicht legitim ist, ist, sich Sonderregeln zu schaffen, um Hunderttausende Menschen massenhaft zu unterdrücken –: Es gab fast 120 000 vorläufige Festnahmen, aktuell sind noch 53 000 inhaftiert. Über 170 000 Menschen wurden aus dem öffentlichen Dienst entlassen, ohne die Möglichkeit, das gerichtlich überprüfen zu lassen. Amnesty International stellt fest, dass 120 Journalisten inhaftiert sind, 180 Medienunternehmen geschlossen sind und über 100 Journalisten ihre Akkreditierung verloren haben. Deswegen wird die Türkei beim Index der Pressefreiheit auf Platz 157 von 180 geführt.
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Das sind die nackten Zahlen.
Aber man kann auch über konkrete Fälle reden, über Fälle wie die gerade angesprochenen, von Taner Kilic von Amnesty International, von Can Dündar, der hier in Berlin, ich sage, im Exil sitzen muss. Wir haben schon den Fall von Selahattin Demirtas angesprochen, dem Chef der HDP, der in Haft sitzt. Ich will an der Stelle noch mal untermauern, was gerade gesagt wurde: Abgeordnete gehören ins Parlament und nicht ins Gefängnis! Auch das ist, glaube ich, das gemeinsame Signal dieses Parlaments am heutigen Tag.
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Ich will mich ausdrücklich bei denjenigen bedanken, die bei unserem Parlamentarischen Patenschafts-Programm mit dabei sind – man kann das sicherlich noch weiterentwickeln –, die Patenschaften für verfolgte Parlamentarier in der Türkei übernommen haben. Deswegen die herzliche Bitte: Wer noch nicht mit dabei ist, kann sich gerne an diesem Programm beteiligen.
Es gibt deutsche Staatsbürger, die zum Teil heute schon angesprochen worden sind, wie Peter Steudtner, Mesale Tolu und Deniz Yücel, die zwar frei sind, die nicht im Gefängnis sitzen, aber denen immer noch keine Gerechtigkeit widerfahren ist, die noch immer nicht entschädigt worden sind, bei denen die Verfahren noch anhängig sind; das sind die prominenteren Fälle. Es gibt weitere Dutzende Deutsche, die in Haft sind oder die nicht ein- oder ausreisen können, über die kaum gesprochen wird.
Ich will einen Fall besonders beleuchten, und zwar den von Mehmet Y., „Y.“ deshalb, um ihn zu schützen, wenn er wieder nach Deutschland kommen kann. Wir haben die absurde Situation, dass Herr Y. in einem EU-Mitgliedstaat, nämlich in Bulgarien, in einem Hotel in Warna in Hausarrest sitzt – eine für mich eigentlich absurde Vorstellung –, weil er mit einer sogenannten Red Notice gesucht wurde, die Interpol aussprechen kann. Ich finde, es kann nicht sein und ist einfach inakzeptabel, dass die Türkei versucht, deutscher Staatsbürger so habhaft zu werden. Was aber auch inakzeptabel ist, ist, dass ein EU-Mitgliedstaat wie Bulgarien gemeinsame Sache mit der Türkei macht. Ich denke, wir sollten fordern, dass Mehmet Y. sofort nach Deutschland zurückkehren kann.
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Noch einmal: Erstens. Respekt, ja, den muss es geben; der wird eingefordert. Zweitens. Es muss auch Anerkennung geben für das, was die Türkei zum Beispiel im Hinblick auf die Geflüchteten leistet. Drittens. Klar, wenn Probleme angesprochen werden – Rassismus beim Umgang mit den NSU-Morden –, dann ist das berechtigt und dann müssen wir darüber reden. Viertens. Dialog muss es geben, sowieso und wo immer möglich, aber eben auch Klarheit in der Sache.
Der Europarat ist gerade angesprochen worden. Die Türkei ist seit 1949 Mitglied und hat sich durch ihre Unterschrift zu bestimmten Dingen verpflichtet, zum Beispiel dazu, die Venedig-Kommission zu achten und die Empfehlungen umzusetzen, zum Beispiel dazu, die Gerichtsurteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen. Wir fordern, dass die Berichte des Antifolterkomitees veröffentlicht werden, und wir fordern einen freien Zugang für Berichterstatter des Europarates, aber auch der Vereinten Nationen zu allen Teilen der Türkei.
Noch einmal: Den „FAZ“-Artikel habe ich aufmerksam gelesen. Ich versuche, ihn zu verstehen, versuche auch, zu überlegen, wo man Brücken bauen kann. Ich hätte auch einen konkreten Vorschlag: Lassen Sie uns auf der kleinen Ebene nutzen, was wir an Kontakten haben, zum Beispiel die Städtepartnerschaften. Wir sollten überlegen, wie wir die entsprechend ausbauen und auch institutionalisieren können, zum Beispiel so, wie wir es mit Griechenland gemacht haben. Also: Kennenlernen, Austausch, Dialog, Empathie, Arbeiten an gemeinsamen strategischen Interessen, ja. Aber beim Thema „Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit“ kann es keine Kompromisse geben. Das ist die klare Ansage des heutigen Tages und der heutigen Debatte.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frank Schwabe. – Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke: Sevim Dağdelen.
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Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Herr Kollege Schwabe, Sie fragen sich, was Sie mit dem Gastbeitrag des türkischen Staatspräsidenten Erdogan in der „FAZ“ machen sollen. Ich sage Ihnen dazu etwas. Er fordert eine Normalisierung der Beziehungen. Ich finde, die Bundesregierung und auch der Bundestag müssen ein klares Signal setzen: Eine Normalisierung darf es nur geben, wenn sich auch die Verhältnisse in der Türkei normalisieren. Das ist die Antwort, die Erdogan verdient.
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Vor mehr als einem Jahr, im Juli 2017, versprach der damalige deutsche Außenminister Sigmar Gabriel in Absprache mit Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Neuausrichtung der deutschen Türkeipolitik. Die Bundesregierung versprach uns klare Kante gegen Erdogan. Zahlungen der Europäischen Union an Ankara sowie die Hermesbürgschaften für Investitionen deutscher Unternehmen in der Türkei sollten auf den Prüfstand. Das Außenministerium verschärfte die Sicherheitshinweise für Türkeireisende deutlich. Kanzlerin Merkel sagte, diese Maßnahmen seien notwendig und unabdingbar. Ja, ich finde, das war überfällig.
Aber diese von der Großen Koalition versprochene Neuausrichtung war nur Wahlkampfgetöse, wenn man sich mal anschaut, was nach einem Jahr geblieben ist. Ein Jahr danach entpuppt sich die von Union und SPD zugesagte Neuausrichtung der deutschen Türkeipolitik als Wählertäuschung. Mit dem Erdogan-Besuch wird diese vermeintliche Neuausrichtung jetzt auch offiziell beerdigt. Die Bundesregierung rollt Erdogan den roten Teppich aus, obwohl sich an seinem Handeln seit Juli 2017 nichts, rein gar nichts verbessert hat in der Türkei. Deshalb halte ich es für ein falsches Signal, diesen Staatsbesuch jetzt zu veranstalten.
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Erdogan hält weiter deutsche Geiseln in Haft. Er geht brutaler denn je gegen die Opposition vor, lässt Gewerkschaftsproteste blutigst niederknüppeln. Erdogan führt Krieg gegen die Kurden und überfällt die Nachbarländer Syrien und Irak an der Seite von islamistischen Mörderbanden wie Ahrar al-Scham und geriert sich jetzt auch in der Provinz Idlib als Schutzmacht der Al-Qaida-Schergen. Und was tun Sie? Sie reden von einer Normalisierung der Beziehungen; Herr Außenminister Maas hat das getan. Ich finde, wer sich derart als moralischer Bankrotteur zeigt, der muss sich doch wirklich nicht wundern, dass sich immer mehr Menschen schaudernd von dieser Koalition schier endloser Schrecken abwenden.
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Ich frage mich: Wieso unterstützen Sie den türkischen Präsidenten mit millionenschweren Finanz- und Kredithilfen? Warum sichern Sie so diesem korrupten System eines Autokraten, der seine Weggefährten und auch seine eigenen Verwandten aus dem türkischen Volksvermögen alimentiert, das Überleben? Ich finde, es ist ein Skandal ohnegleichen, dass, wie es Frau Nahles einmal vorgeschlagen hat, jetzt auch noch sauer verdiente Steuergelder dafür eingesetzt werden sollen, jemanden wie Erdogan zu unterstützen, der, wie die Bundesregierung selbst eingeräumt hat, die Türkei in eine zentrale Aktionsplattform für den islamistischen Terrorismus in der ganzen Region verwandelt hat. Ich finde, es ist nichts anderes als Veruntreuung, wenn Steuergelder zur Stabilisierung des Regimes Erdogan verwendet werden.
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Es ist richtig: Natürlich braucht man einen Dialog. Man braucht einen Dialog auch mit Autokraten, selbst mit dem türkischen Staatspräsidenten.
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Es gibt schließlich viel zu besprechen, auch das furchtbare Wirken von Herrn Erdogan in Deutschland. „Report Mainz“ hat erst vorgestern darüber berichtet, dass Erdogan auch in Deutschland Regimegegner per Spitzel-App mit faschistoiden Methoden verfolgen lässt. Im „Tagesspiegel“ stand gestern, dass Berliner Behörden nun gegen einen Polizisten des Landes ermitteln, weil er hier für den türkischen Geheimdienst gespitzelt und die Meldeadressen von ausgemachten Erdogan-Kritikern gemeldet haben soll. Das ist nichts anderes als Gefahr für Leib und Leben für jeden in Deutschland, der sich kritisch zu Erdogan oder seiner Regierung äußert. Ich finde, damit muss Schluss gemacht werden. Da muss es ein Signal vonseiten der Bundesregierung geben.
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Warum werden Erdogan-Spitzel nicht ausgewiesen? Gerade vor diesem Hintergrund, finde ich, darf es keine Zugeständnisse an Erdogan geben.
Ich finde das wirklich befremdlich – und das ist die Frage, die uns alle in Deutschland umtreibt –: Warum konnte es nicht ein einfacher Arbeitsbesuch sein? Warum muss es ein großes Tamtam für Erdogan geben, damit er sich hier als anerkannter Staatsmann vor seiner Anhängerschaft und in der Türkei präsentieren kann? Warum hat die Bundesregierung ihm – neben dem Tamtam – zur Machtdemonstration auch noch eine große Bühne zur offiziellen Eröffnung der DITIB-Zentralmoschee in Köln-Ehrenfeld erlaubt? Das versteht doch kein normaler Mensch mehr. Auf der einen Seite überlegen Sie, die DITIB, den außenpolitischen Vorposten von Erdogan, vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen, und auf der anderen Seite hofieren Sie den Chef dieser Behörde. Das ist wirklich ein Stück aus dem Tollhaus. Ich kann überhaupt keinen Kompass mehr in dieser Politik erkennen.
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Nicht genug, dass die Bundesregierung Herrn Erdogan mit millionenschweren Hilfen über Wasser hält. Jetzt kommt auch noch heraus – das berichtet der „Stern“ –, dass die türkischen Leopard-2-Panzer offenbar mit deutscher Hilfe nachgerüstet werden. Da frage ich mich: Sind die Panzer, mit denen die Kurden in Afrin niedergewalzt wurden, jetzt mit deutscher Technologie modernisiert worden? Ich finde den Gedanken wirklich unerträglich, dass mit unserer Hilfe, also mit der Hilfe von der Bundesrepublik Deutschland, Waffen für Mord und Angriffskriege geliefert werden. Damit rüstet man jemanden auf, der mit islamistischen Mörderbanden Syrien überfallen hat. Hören Sie als Bundesregierung auf mit dieser gefährlichen Politik! Hören Sie auf mit den Waffenexporten und dem Bau der Panzerfabrik von Rheinmetall!
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Es darf nur eine Botschaft geben: Weder Waffen noch Geld an Erdogan!
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Vielen Dank, Sevim Dağdelen. – Nächster Redner für Bündnis 90/Die Grünen: Cem Özdemir.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann sich seine Gesprächspartner nicht immer aussuchen. In dieser Welt gibt es leider auch die Orbans, die Putins, die Trumps und eben auch die Erdogans.
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Deshalb ist es nicht falsch, dass die Bundesregierung mit Erdogan redet. Im Gegenteil: Die Liste der Gesprächsthemen könnte kaum länger sein. Aber ob es denn gleich ein Staatsbesuch mit all dem Tamtam sein muss, da kann man, glaube ich, berechtigterweise ein Fragezeichen dahinter machen. Ich glaube, gerade angesichts der langen Liste von Themen wäre ein Arbeitsbesuch besser geeignet gewesen.
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Aber ich will jetzt den Blick nach vorne richten. Wir sollten es mit Can Dündar halten, dem ehemaligen Chefredakteur der türkischen Tageszeitung „Cumhuriyet“, der mittlerweile wie so viele in der Bundesrepublik Deutschland im Exil leben muss. Er hat, an uns alle gerichtet, gesagt: Deutschland ehrt die Türkei, nicht Erdogan. – Ich hoffe, das ist ein Satz, den wir alle unterschreiben können.
Wir sollten uns aber auch keine Illusionen darüber machen, wer da kommt. Es kommt der Machthaber eines Landes, in dem es praktisch keine Pressefreiheit mehr gibt, in dem immer mehr Menschen mittlerweile Angst haben, ihre Meinung frei zu äußern, weil sie Angst haben, ihre Arbeit oder gar ihre Freiheit zu verlieren. Erdogan kommt nicht nach Deutschland, weil er jetzt plötzlich die Liebe und die Sympathie für unser Land wiederentdeckt hat. Er hat vielmehr abgewirtschaftet; er braucht Geld, er braucht Investitionen unserer Wirtschaft. Die Leidtragenden von Inflation und der Wirtschaftskrise sind die einfachen Menschen in der Türkei. Darum ist es wichtig, dass wir bei aller Kritik an Erdogan auch deutlich machen: Dem Teil der Türkei, der Leidtragender der Politik Erdogans ist, gilt die Solidarität der Demokraten in der Bundesrepublik Deutschland. Diese Menschen lassen wir nicht allein, wenn sie sich dort für Freiheit, für Demokratie, für Menschenrechte und für Europa einsetzen.
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Übrigens, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, halte ich deshalb auch nichts davon, dass man die Beitrittsverhandlungen jetzt ein für alle Mal beendet.
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Sie liegen sowieso, lieber Kollege Alexander Graf Lambsdorff, auf Eis. Jeder von uns hier weiß: Solange Erdogan Präsident ist und solange diese Politik fortgesetzt wird, gibt es keine Mitgliedschaft für die Türkei in der Europäischen Union.
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Aber der andere Teil der Türkei braucht das Signal, dass eine demokratische Türkei selbstverständlich eine europäische Perspektive hat.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser anderen Türkei mit ihren Menschen, die wie alle anderen in der Welt nach Freiheit hungern, müssen wir, die wir jetzt Erdogan sehen und sprechen können
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– dazu komme ich gleich –, in den Gesprächen eine Stimme verleihen. Das soll nicht nur in unserem Namen geschehen, sondern im Namen all derer, die er verstummen lassen möchte, im Namen von Osman Kavala, im Namen von Selahattin Demirtas, im Namen vom bereits zitierten Ahmet Altan, um nur einige wenige zu nennen. Er muss diese Namen so oft hören, dass er, wenn er nach Ankara zurückreist, weiß: Ohne dass sie das Licht der Freiheit erblicken, kann es keine Normalisierung im Verhältnis zur Türkei geben.
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Ich habe noch einen Wunsch – ich sage dies auch im Namen vieler Leute, die sich nicht nur an mich, sondern wahrscheinlich auch an viele von Ihnen hier im Hohen Haus wenden – : Die zunehmend beschleichende Angst in Deutschland erreicht durch Denunziantentum, durch Spitzeleien, durch Spionage gegenüber Andersdenkenden ihren Höhepunkt. Ich bitte Sie, dass Sie Herrn Erdogan klarmachen: Wer als Gastgeschenk auf dem Weg nach Deutschland eine App freischalten lässt, in der man Andersdenkende denunziert und in der Türkei ans Messer liefert, der kommt nicht mit guten Absichten. Auch das sollte man ihm in aller Deutlichkeit sagen.
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In diesem Land mit unserer Geschichte hat Denunziantentum nichts verloren. Alle, die diese App runterladen und sie nutzen, stellen sich gegen den deutschen Rechtsstaat. Da darf es keine Nachsicht geben.
Erdogan will die Menschen in Deutschland spalten. Machen wir uns aber nichts vor: Damit ist er ja nicht ganz alleine. Die Fraktion, die hier rechts im Hause sitzt,
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kritisiert Erdogan zwar, aber wenn sie ehrlich wäre, würde sie doch zugeben, dass sie vieles von dem, wofür Erdogan steht – seine Haltung zur Pressefreiheit, seine Ablehnung der liberalen Demokratie – im Kern teilt. Darum will ich im Namen des demokratischen Teils dieses Hauses sagen: Uns stehen die Menschen aus der Türkei nahe, Ihnen offensichtlich die Politik Erdogans.
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Wer dieses Land liebt, wer sich hier einbringt, wer die Ärmel hochkrempelt, wer die Werte unseres Landes teilt, ist selbstverständlicher Teil unseres Landes. Wir lassen dieses Land nicht spalten, weder von Erdogan noch von anderen.
Ich kann sehr gut verstehen, dass viele Kollegen hier im Haus, namentlich die Kollegen von der FDP-Fraktion, von der Linkspartei, aber auch meine eigene Fraktionsspitze, sich aus guten Gründen dafür entschieden haben, nicht zum morgigen Staatsbankett zu gehen. Für mich ist die Situation eine andere. Ich möchte gerade durch meine Teilnahme deutlich machen: Hier, in der Bundesrepublik Deutschland gehört auch die Opposition dazu. Und Erdogan muss es aushalten, dass einer seiner Kritiker anwesend ist. In der Türkei kann man sie mundtot machen, hier in Deutschland nicht, und darum gehe ich da hin.
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Ich würde mir zum Schluss wünschen – bei allem Streit in der Sache, der sein muss –: Zeigen wir Herrn Erdogan gemeinsam, dass unsere Demokratie in Deutschland stark ist! Zeigen wir ihm unseren republikanischen Stolz auf unser Demonstrationsrecht, auf die Meinungsfreiheit und auf den Zusammenhalt in der liberalen Demokratie.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Cem Özdemir. – Nächster Redner ist Jürgen Hardt für die CDU/CSU-Fraktion.
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Danke schön. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Verlauf der Debatte wie auch die Beifallsbekundungen über die Grenzen der Fraktionen hinweg zeigen, dass wir als Demokraten eigentlich schon einen klaren Kompass, eine klare Haltung zur gegenwärtigen Situation in der Türkei haben. Das, finde ich, ist gut so.
Ich finde gut, dass Erdogan nach Deutschland kommt. Die Ehre eines Staatsbesuchs bedeutet die Ehrerweisung des deutschen Volkes gegenüber dem türkischen Volk – in erster Linie verstehe ich das so –, und es gehört zu den Gepflogenheiten, dass wir uns wechselseitig diese Ehre erweisen. Deswegen nehme ich keinen Anstoß an der Form des Besuches. Dass die Möglichkeiten, kritische Themen einzubringen, die wir gegenüber der Türkei ansprechen wollen und müssen, durch die Form des Besuches nicht beeinträchtigt werden und wir gleichwohl vielfältige Gelegenheiten haben, diese Dinge vorzutragen, das finde ich wichtig. Das hat mit der Form des Besuches nichts zu tun.
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Ich glaube, dass dieser Besuch tatsächlich die Chance für eine Wende in den deutsch-türkischen Beziehungen ist und dass der Schlüssel dazu ganz eindeutig bei Präsident Erdogan liegt. Die Türkei muss sich zurückbesinnen auf die von ihr freiwillig mitunterschriebenen europäischen Werte von Unabhängigkeit der Justiz, Pluralismus, individueller Freiheit, Freiheit der Medien. Das sind die Statuten des Europarates. Die Türkei ist seit dem ersten Jahr der Gründung des Europarates Mitglied. Es gibt also eine ganz einfache Basis, auf die die türkische Politik zurückkehren kann.
Wir haben in den letzten Jahren in Reden von Erdogan in der Türkei immer wieder gehört, dass die Europäische Union die Türkei ja eigentlich gar nicht wolle und dass deswegen die Türkinnen und Türken darauf angewiesen seien, sich auf Erdogan und die AKP zu verlassen, wenn es um ihre Zukunft gehe. Dies ist eine Legende, die Erdogan vielleicht auch deshalb erzählt, weil jemand, der so regiert wie er, letztlich selbst am meisten Angst davor haben muss, dass die Europäische Union eines Tages möglicherweise dichter an die Türkei heranrückt. Das würde nämlich bedeuten: Kopenhagener Kriterien, Unabhängigkeit der Gerichte, Pluralismus, Demokratie, Meinungsfreiheit. Wer so regiert wie Präsident Erdogan, muss befürchten, dass unter diesen Bedingungen eines Tages der Staatsanwalt vielleicht auch bei ihm zu Hause anklopft und nachsieht, was dort so alles ist. Deswegen glaube ich, dass die Legende, die er erzählt, Europa wolle die Türkei nicht, in Wirklichkeit sein Programm ist, damit er selbst nicht zu dicht mit den europäischen Werten konfrontiert wird.
Deswegen bin ich auch dagegen, dass wir als Europäische Union unsererseits die Zugbrücke hochziehen und die Beitrittsverhandlungen abbrechen. Der gegenwärtige Status ist: Die Beitrittsverhandlungen sind eingefroren. Aber alle Türkinnen und Türken sollen wissen: Wir werden unsererseits die Brücken nicht abbrechen, unsere Hand bleibt ausgestreckt für eine freie und demokratische Türkei.
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Ich möchte nun etwas zu dem Programmpunkt von Präsident Erdogan am Samstag in Köln sagen. Ich fände es falsch, wenn wir unsererseits einen solchen Auftritt verbieten würden; denn dann würden wir nämlich genau das tun, was wir Erdogan vorwerfen, was er in seinem eigenen Land tut. Bei uns sind die Meinungsfreiheit und das Recht, freie Rede zu führen, ein hohes Gut. Deswegen ist es okay, dass er dort spricht. Ich möchte aber die Türkinnen und Türken, die bei diesem Besuch dabei sind, schon daran erinnern, dass wir in Deutschland gerade in solchen Dingen eine Toleranz und Freiheit und Offenheit präsentieren, die derjenige, den sie vielleicht bewundern, den sie bei den letzten Wahlen vielleicht auch gewählt haben, in seinem eigenen Land seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern vorenthält, und dass dies ein offener Widerspruch ist. Ich muss mich als Unterstützer Erdogans, der hier in Deutschland lebt, schon fragen lassen, warum ich in Deutschland diese Freiheitsrechte schätze und in Anspruch nehme, mich aber nicht dafür einsetze, dass sie auch in der Türkei zur Geltung kommen. Ich glaube, über dieses Thema sollten wir im Zusammenhang mit dem Auftritt Erdogans in der Kölner Moschee am Samstag sprechen.
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Ich würde mir auch wünschen, dass Erdogan die politischen Gefangenen freilässt.
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Ich denke speziell an die deutsch-türkischen Journalisten, die in der Türkei in Haft sitzen. Ich nenne sie „politische Gefangene“, weil sie nach unseren rechtsstaatlichen Maßstäben nicht aufgrund von richterlichen Entscheidungen oder nach Vorlage entsprechender Anklagen rechtmäßig im Gefängnis sitzen, sondern zum Teil bereits über viele Monate ohne gerichtliche Entscheidung durch eine unabhängige Justiz. Der Staat, die Exekutive, nimmt hier ein Recht in Anspruch, das ihm nicht zusteht. Deswegen fordere ich die Freilassung dieser politischen Gefangenen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Jürgen Hardt. – Nächster Redner in der Debatte: Alexander Graf Lambsdorff für die FDP-Fraktion.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Nach Auffassung meiner Fraktion ist die Türkei eine stolze Nation mit einer großen Geschichte, die es verdient hat, mit Respekt behandelt zu werden. Deswegen sind wir sehr dafür, dass der Dialog geführt wird, sehr dafür, dass wir das Gespräch suchen. Aber gibt es nicht andere Gelegenheiten als einen Staatsbesuch? Hatten wir nicht gerade einen NATO-Gipfel? Läuft nicht gerade in New York die Generalversammlung der Vereinten Nationen auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs? Gibt es nicht Möglichkeiten, mit Präsident Erdogan in einen produktiven Dialog einzutreten über Dinge, die man konkret hier oder da verbessern kann? Nein, es muss ein Staatsbesuch sein, ein Staatsbesuch mit rotem Teppich, militärischen Ehren, Kronleuchtern und dem besten Silber der Republik im Palais Bellevue.
Meine Damen und Herren, in der Türkei gibt es ein ausgeprägtes Gespür für Gastfreundschaft und die Bedeutung von Protokoll. Ganz klar werden diese Bilder das Signal senden: Es ist der Segen dieser Bundesregierung für die Politik von Präsident Erdogan in der Folge des Verfassungsreferendums, mit der er die Türkei zu einem autoritären Regime umwandelt. Das ist falsch.
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Was sind denn die Maßnahmen, die jetzt im Rahmen seiner Politik umgesetzt werden? Gesetze kann er per Dekret erlassen, Beamte kann er ohne Anhörung entlassen, Ausreisesperren willkürlich verhängen, Menschen in langen Polizeigewahrsam nehmen, alle Regelungen aus der Notstandsgesetzgebung sind jetzt reguläre Gesetzgebung geworden. Meine Damen und Herren, so etwas muss man doch hier im Hohen Hause debattieren!
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Da wundere ich mich schon sehr, wenn die SPD sagt, so eine Debatte nütze ja gar nichts. Das wird der großen Tradition der Sozialdemokratie als Menschenrechtspartei nicht gerecht. Natürlich nützt eine solche Debatte! Die Menschen dort, die drangsaliert werden, die inhaftiert werden, die ins Exil gejagt werden, die müssen wissen, dass sie nicht vergessen sind, die müssen wissen, dass dieser Deutsche Bundestag an sie denkt – ihre Namen sind hier zum Teil genannt worden –: Can Dündar, der hier bei uns im Exil ist, Yavuz Baydar, Demirtas. Für sie und all die anderen, auch die weniger prominenten, gilt: Free them all! Sie müssen alle freigelassen werden. Es kann nicht sein, dass in einem Land, das NATO-Partner, das EU-Beitrittskandidat ist, politische Gefangene gemacht werden, Journalisten wegen journalistischer Tätigkeit inhaftiert werden. Wir rufen Präsident Erdogan zu: Lassen Sie diese Menschen frei! Lassen Sie freie Debatte in der Türkei endlich wieder zu!
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Das gilt übrigens auch für deutsche Staatsbürger. 35 deutsche Staatsangehörige sind zurzeit mit einer Ausreisesperre belegt. Ich hätte nichts dagegen, wenn Präsident Erdogan diese heute in sein Flugzeug setzen und mitbringen würde. Das wäre ein Gastgeschenk, nicht das Freischalten einer Spionage-App gegen türkische Migrantinnen und Migranten, türkische Mitbürgerinnen und Mitbürger hier bei uns.
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Lassen Sie mich einen letzten Punkt sagen. Cem Özdemir hat hier gesagt, man solle die EU-Verhandlungen nicht abbrechen. Die Grünen sind in dieser Hinsicht total konsequent. Das respektiere ich. Wir haben einfach unterschiedliche Auffassungen. Was ich überhaupt nicht verstehen kann, ist die Haltung der CDU, die in all ihren Programmen beschlossen hat, sie sei gegen eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union, aber nicht den Mut hat, zu sagen, dann müssten wir den vergifteten, im Grunde völlig überholten Verhandlungsprozess endlich beenden, uns ehrlich machen und die Beziehungen zur Türkei, zu diesem großen und stolzen Land, auf die Grundlage eines neuen Vertrages stellen, in dem wir die Zusammenarbeit auf den Gebieten Wirtschaft, Kultur, Umwelt usw. regeln. Machen Sie sich endlich ehrlich, meine Damen und Herren von der CDU!
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Graf Lambsdorff. – Nächster Redner in der Debatte: Dr. Nils Schmid für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich Ende August in Istanbul war, habe ich die Zeitung „Cumhuriyet“ und Chefredakteur Murat Sabuncu besucht. Eine Woche später waren Murat Sabuncu und viele andere Redakteure nicht mehr im Amt, nachdem die türkische Justiz die Eigentumsverhältnisse der Stiftung, zu der „Cumhuriyet“ gehört, völlig auf den Kopf gestellt hatte. Das ist nur der letzte Baustein einer Entwicklung von Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit, der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei direkt und indirekt durch Gesetzgebung, durch Handeln von Verwaltung und leider auch Versagen der eigentlich unabhängigen Justiz.
Spätestens seit dem Abbruch des Friedensprozesses mit den Kurden im Sommer 2015 und dem Putschversuch 2016 hat sich die Türkei, die türkische Regierung unter Erdogan immer mehr von den europäischen Werten, von den gemeinsam vereinbarten Zielen des Beitrittsprozesses, nämlich der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien, und von den eingegangenen Verpflichtungen der Europäischen Menschenrechtskonvention entfernt. Alle Redner haben das festgestellt.
Wir in Deutschland verfolgen das aufgrund unserer engen Beziehungen zur Türkei mit großer Empörung und mit großer Sorge um diejenigen, die in den Gefängnissen ungerechtfertigt, ohne Anklage, ohne Aussicht auf ein faires Verfahren festgehalten werden. Das gilt nicht nur für die westlichen Staatsbürger. Das gilt auch für die Tausenden und Abertausenden von Akademikern, von Journalisten, von Staatsbediensteten und anderen Bürgerinnen und Bürgern der Türkei, die unter dieser autoritären Wende leiden. Deshalb ist klar: Die Einhaltung der Menschenrechte, Fortschritte hin zu mehr Demokratie und mehr Rechtsstaatlichkeit stehen bei jedem Gespräch mit der türkischen Regierung ganz oben auf der Tagesordnung.
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Ich will noch zwei besonders besorgniserregende Entwicklungen erwähnen, die hier bislang nicht diskutiert worden sind: Wir haben eine Rückkehr der Folter in der Türkei.
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Und: Es verschwinden wieder spurlos Menschen in der Türkei, vor allem im Südosten. All das, von dem wir hofften, dass es hinter uns, hinter der Türkei liegt, kommt wieder. Das eigentlich Beunruhigende ist, dass in der Breite der Gesellschaft, in der Breite der demokratischen Entwicklung, in der Breite der Verfassungswirklichkeit der Türkei Menschenrechte unter Druck geraten sind und nicht mehr geachtet werden. Deshalb gibt es mit der türkischen Regierung, mit türkischen Parlamentariern und natürlich auch mit Staatspräsident Erdogan sehr viel zu bereden.
Ich muss schon sagen: Die Debatte über das Format des Besuchs von Herrn Erdogan, über das Staatsbankett und den roten Teppich, wird dem, was wir mit der Türkei zu besprechen haben, und der strategischen Bedeutung unserer Beziehung zur Türkei nicht gerecht. Sie scheint mir manchmal geradezu billig und lächerlich zu sein.
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Es geht darum, dass wir mit der Türkei und mit Herrn Erdogan über all die Dinge im Dialog sind, die zwischen uns und die Türkei geraten sind. Eine Annäherung zwischen beiden Ländern kann nur geschehen, wenn bei den uns berührenden Themen substanzielle Fortschritte erreicht werden. Für Gespräche kann es nie zu spät sein.
Natürlich sind wir bereit, der Türkei einen Weg zu zeigen, der ihr die Chance für eine europäische Perspektive lässt. Dazu reicht es aber nicht, die interministerielle Arbeitsgruppe der türkischen Regierung zum EU-Beitritt einfach einzuberufen. Wir messen die türkische Regierung nicht an ihren Worten, sondern an ihren Taten. Das bedeutet: Freilassung von kritischen Journalisten, Freilassung der westlichen Staatsbürger, Fortschritte bei der Medienfreiheit, unabhängige Justiz. Das bedeutet auch, dass wir die Gespräche nicht nur mit der regierungsoffiziellen Seite führen. Selbstverständlich hat gerade auch Bundesminister Maas Gespräche mit der Zivilgesellschaft geführt. Wenn Vertreter der HDP, einer wichtigen Oppositionspartei, nach Berlin kommen, werden sie selbstverständlich von der deutschen Regierung empfangen. So funktioniert Dialog mit schwierigen Partnern: indem wir die ganze Breite der Partnerschaft pflegen.
Ich will eines sagen, gerade auch aus den Gesprächen mit der Zivilgesellschaft in der Türkei, mit denjenigen, die nicht auf der Seite von Präsident Erdogan stehen – das sind bei den Wahlen durchgängig etwa 50 Prozent gewesen –: Diese Leute setzen auf uns. Sie wollen den Austausch in Kultur, in Wissenschaft, den Studierendenaustausch. Sie suchen ganz verzweifelt das Gespräch mit uns. Deshalb ist es so dramatisch, dass die Zahl der deutschen Erasmus-Studierenden in der Türkei rückläufig ist, dass Hochschulen den Austausch mit der Türkei eingestellt haben.
Ich war in der Kulturakademie Tarabya – Michelle Müntefering ist da –: eine tolle Einrichtung. Die deutschen Kulturschaffenden mussten sich in Deutschland anhören: Warum geht ihr in die Türkei? – Ich sage: Es ist richtig, dass deutsche Kulturschaffende in die Türkei gehen, dort den Kulturaustausch pflegen
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und ihre Counterparts in der Kultur ermuntern, diesen Austausch zu pflegen.
Ich will noch eines sagen: Wir sollten die Verflechtung der Türkei mit europäischen Institutionen, Europarat, Venedig-Kommission, Beitrittsgespräche, Zollunion, als Instrument sehen, um europäische Werte und europäische Standards in der Türkei durchzusetzen. Deshalb ist es falsch, die Türkei aus diesen Formaten rauszudrängen. Wir brauchen weiterhin die kritischen Fortschrittsberichte der EU-Kommission zur Lage der Türkei.
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Das alles würden Sie abschneiden, Graf Lambsdorff, wenn Sie die Beitrittsgespräche abbrechen würden.
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Deshalb ist es der völlig falsche Weg, die Türkei aus solchen Formaten rauszudrängen.
Herzlichen Dank.
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Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Graf Lambsdorff.
Lieber Kollege Schmid, ich wollte zu dem, was Sie zum Schluss gesagt haben, eine Zwischenfrage stellen, aber da waren Sie mit Ihrer Rede schon fertig.
Mir ist eines ganz wichtig – ich will hier kein Missverständnis aufkommen lassen –: Der Beitrittsprozess zwischen der Türkei und der Europäischen Union ist aufgrund formalisierter Verfahren in den Verhandlungen inzwischen völlig zum Erliegen gekommen. Die Beziehungen, die sich im Rahmen eines solchen Prozesses eigentlich verbessern sollten, haben sich in den 15 Jahren, in denen der Prozess ungefähr läuft, dramatisch verschlechtert.
Der Ratschlag der Venedig-Kommission im Vorfeld der Verfassungsreform: richtig; die Türkei im Europarat: richtig; die Türkei als wichtiger Verbündeter in der NATO: richtig; Gespräche mit der Türkei auf allen Ebenen: alles richtig, gar kein Thema. Ich finde es ausgesprochen gut, dass Sie Tarabya erwähnt haben. Für den zivilgesellschaftlichen Dialog steht das geradezu exemplarisch.
Aber ich glaube, wir müssen uns an einer Stelle wirklich klarmachen: Weder in Brüssel noch in Ankara gibt es irgendjemanden, der noch ernsthaft davon ausgeht, dass ein Beitritt der Türkei zur Europäischen Union eines Tages erfolgen wird. Dann ist es aus Sicht meiner Fraktion besser, wir beenden einen gescheiterten Prozess und ersetzen ihn durch Gespräche über ein Grundlagenabkommen zwischen der Türkei und der Europäischen Union – das kann auch die Vertiefung der Zollunion enthalten –, damit wir anschließend einen Umgang miteinander pflegen, der die Beziehungen nicht weiter vergiftet, sondern sie endlich wieder verbessert.
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Vielen Dank. – Herr Schmid, wollen Sie antworten?
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Danke schön. – Dann hat das Wort Michael Frieser für die CDU/CSU-Fraktion als nächster Redner.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Graf Lambsdorff, Sie hatten schon darum gebeten, wir sollten uns bei diesem Prozess ehrlich machen. Dass ein Beitrittsprozess, der zum Erliegen gekommen ist, wenig Ansatzpunkte bietet, um noch etwas Neues sprießen zu lassen, ist uns allen bewusst und klar. Aber die entscheidende Frage ist im Augenblick doch die: Durch was ersetzen wir ihn? Da hilft Einseitigkeit nicht weiter.
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Einen Strang abzutrennen, der uns tatsächlich noch helfen kann, führt uns nicht weiter. Das gehört alles zusammen.
Ja, wir erwarten einen speziellen Gast. Aber der Theaterdonner, der hier zu hören ist, die Fragen in dieser sehr überhitzten Debatte werden der Realität nicht ganz gerecht. Wann, wenn nicht jetzt, ist der Zeitpunkt, um dem türkischen Volk unseren Respekt zu bezeugen, um die Hand auszustrecken und deutlich zu sagen: „Dieser Staatsbesuch ist Ausdruck des Respekts gegenüber dem türkischen Volk“? Respekt ist eine Vorleistung, die wir übrigens auf der anderen Seite im selben Maße einfordern.
Wann, wenn nicht jetzt, kann man für die Freilassung der illegal Inhaftierten eintreten? Wann, wenn nicht jetzt, kann man dafür eintreten, dass dieser Staat, dass dieser Präsident zum Rechtsstaat zurückkehrt? Wann, wenn nicht jetzt, kämpfen wir tatsächlich offen im Sinne der türkischen Bevölkerung in Deutschland, der deutschen Mitbürger mit türkischen Wurzeln, wenn es um den Einsatz für die Meinungsfreiheit geht? Wann, wenn nicht jetzt, können wir diese militärischen Irrwege, die die Türkei geht, tatsächlich anprangern, auch vor der Weltöffentlichkeit? Und wann, wenn nicht jetzt, muss man trotzdem zu der Erkenntnis gelangen: „Die Türkei ist ein wichtiger Partner für uns“? Das bleibt sie, egal welche Irrwege der Staatspräsident an welchen Stellen geht.
Klar ist: Die Türkei ist ein strategischer Partner. Die NATO und das Militär wurden schon angesprochen. Die Türkei ist aber auch ein wesentlicher strategischer Partner, wenn es um den Kampf gegen den Terror geht. Deshalb, glaube ich, ist es unsere Aufgabe, auch dafür zu sorgen, die Türkei, dieses Volk, diese Bürger nicht in die falschen Arme zu treiben, indem wir Offenheit signalisieren, den Gesprächsfaden aufrechterhalten und uns jeweils auch Respekt erweisen.
Selbst der Staatspräsident hat bemerkt, dass seine Weltfantasien einer Islamführung zu bröseln beginnen und dass die Politik, die er dem Land verordnet hat, im Augenblick in eine extreme Wirtschafts- und Währungskrise führt. Wir können kein Interesse daran haben, dass die Türkei weiter destabilisiert wird. Sie muss ein Stabilitätsanker in dieser Region bleiben. Dafür können und müssen wir alles tun, selbst manchmal sogar unsere Scheu überwinden, mit Menschen zu reden, die nach unserer Auffassung keine lupenreinen Demokraten sind. Das ist die Aufgabe einer demokratischen, offenen Gesellschaft.
In diesem Sinne ist auch die Respektsgeste eines Staatsbesuches zu verstehen. Glauben Sie allen Ernstes, dass das Ausschlagen einer Einladung zum Abendessen auch nur einem Inhaftierten oder einem Flüchtling helfen wird? Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass man tatsächlich die Form wahren muss, damit man am Ende mit dem richtigen Maß zum Inhalt gelangt. Deshalb halte ich es für richtig, das Staatsbankett abzuhalten.
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Die Wahrheit liegt wie immer in der Mitte. Die übereilte Zusage von Finanzhilfen hilft uns nicht weiter. Wer waren denn diejenigen, die gar nicht früh genug die Türkei in die EU holen konnten? Nein, die Wahrheit liegt tatsächlich in der Mitte. Wir müssen dem türkischen Präsidenten zurufen: Bitte kehren Sie zu rechtsstaatlichen Prinzipien und zur Freiheit zurück! Lassen Sie politisch illegal Inhaftierte frei! Vor allem: Hören Sie bitte auf, die deutschen Mitbürger mit türkischen Wurzeln als Spielball Ihrer Interessen in Deutschland zu benutzen! Das sind die Botschaften dieses Staatsbanketts.
Danke.
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Vielen Dank, Michael Frieser. – Der letzte Redner in der Debatte: Nikolas Löbel für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Beste an den vorliegenden Anträgen ist genau diese Debatte. Es ist gut und richtig, dass sich der Deutsche Bundestag im Vorfeld des Berlin-Besuchs des türkischen Staatspräsidenten mit der Türkei und den dortigen negativen Entwicklungen beschäftigt. Politik bedarf manchmal diplomatischer Worte, manchmal deutlicherer Worte. Dabei ist die Rollenverteilung manchmal im Vorfeld definiert. Ich finde, die Bundesregierung hat in den letzten Jahren seit dem Putschversuch in der Türkei stets zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Worte gefunden. Auch wir als deutsches Parlament finden heute die richtigen Worte. Wenn der türkische Staatspräsident nach Berlin kommt, dann wird er wie jeder andere Staatsgast willkommen geheißen; denn wir empfangen alle unsere Gäste höflich, freundlich und mit einem Lächeln im Gesicht. Bei uns in Deutschland gilt: Der Gast ist König, aber auch nur König, kein Kaiser.
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Ich sage Ihnen aber auch meine ganz persönliche, meine ehrliche Meinung. Ich halte es für nicht richtig, gleich für jeden Gast den roten Teppich auszurollen und das gute Silberbesteck aus dem Schrank zu holen. Es gibt Gäste, die können diese Geste der reinen Höflichkeit falsch interpretieren. Präsident Erdogan könnte diese Geste der reinen Höflichkeit als Zeichen eines türkischen Triumphs verstehen, und das darf nicht passieren. Dennoch ist es die Entscheidung unseres Bundespräsidenten, und diese haben wir zu akzeptieren.
Aber als Mitglied des Deutschen Bundestags wundere ich mich schon, dass Präsident Erdogan heute in einem Gastbeitrag der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Empfehlungen ausspricht, wie wir uns das Wohlgefallen des türkischen Volkes verdienen könnten. Bei allem Respekt, aber als Mitglied des Deutschen Bundestags und als Bürger dieses Landes habe ich eine klare Erwartungshaltung gegenüber dem türkischen Staatspräsidenten. Wenn Präsident Erdogan morgen über den roten Teppich läuft, dann schreitet er auf dem Boden von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit. Diese Grundwerte werden nicht durch den roten Teppich verdeckt oder gar versteckt, sondern werden durch ihn betont. Wer auf diesem Teppich läuft, von dem verlangen wir ein klares Bekenntnis zu diesen Grundwerten, ohne Wenn und Aber, lieber Herr Präsident.
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Halten wir fest: Die Türkei ist und bleibt ein strategisch wichtiger Partner. Die Türkei ist ein wichtiger NATO-Partner. Die Türkei war und ist auch ein Lieblingsziel vieler deutscher Urlauber. Die Türkei ist auch Heimat von über 3,5 Millionen in Deutschland lebenden Türken. Daher ist und darf uns die Entwicklung der Türkei schon aus innenpolitischen Gründen nicht egal sein. Sie ist uns auch nicht egal. Deswegen betonen wir Prinzipien, die für uns gelten und die in einer Partnerschaft auch immer gelten sollten: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Das sind Werte, die für uns Deutsche unverhandelbar sind. Wenn sich die Türkei von dem Weg dieser Werte wegbewegt, dann müssen wir als Freund, als Partner und als Deutschland das anmahnen, und zwar immer und immer wieder. Genau das tut die Bundesregierung, wie ich finde, in dem gebotenen Maß, wie es sich gehört. Kritik trägt man nicht nur medial vor. Kritik trägt man am besten auch im persönlichen Gespräch vor. Deswegen ist es gut, dass die deutsche und die türkische Regierung miteinander im Gespräch sind. Dazu kann auch dieser Staatsbesuch von Präsident Erdogan in den nächsten Tagen dienen.
Wir müssen der Türkei eigentlich nur ihre wirtschaftliche Situation vor Augen führen. Der Türkei steht, wirtschaftlich gesehen, das Wasser bis zum Hals. Die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei hängt unmittelbar mit dem politischen Wandel des Landes zusammen. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind keine Garanten für wirtschaftlichen Wohlstand, wohl aber noch immer der beste Weg, um Wohlstand für alle zu ermöglichen. 60 Prozent der Wirtschaftsleistung der Türkei sind abhängig von der Europäischen Union. Deswegen hat die Europäische Union, deswegen hat Deutschland ein elementares Interesse, dass die Türkei der europäischen Wertegemeinschaft nicht endgültig den Rücken zukehrt. Aber das liegt allein an der Türkei.
Ein Kollege von den Grünen wies schon darauf hin, dass Präsident Erdogan auf dem Weg zu uns die App, die das Erstatten von Anzeigen erleichtert, freigegeben hat. Man muss sich das einmal auf der Zunge zergehen lassen: Mithilfe einer Smartphone-App können Kritiker der türkischen Regierung bei der Zentralbehörde der türkischen Polizei EMG weltweit angezeigt werden. Die App wurde extra entwickelt, um Anzeigen zu erleichtern. Nun kann man vermeintliche Vaterlandsverräter ganz einfach und kostenlos anklagen sowie Daten und Bilder hochladen. Der Beschuldigte bekommt davon überhaupt nichts mit. Erst bei seiner Einreise in die Türkei wird er über ein laufendes Verfahren informiert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer die Idee des Rechtsstaats so mit Füßen tritt und das Ganze auch noch digitalisiert, statt es zu reformieren, braucht sich nicht zu wundern, dass er über das erste Kapitel der EU-Beitrittsverhandlungen nicht hinauskommt und dass er kein Teil der europäischen Wertegemeinschaft ist.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Nikolas Löbel. – Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/4528 mit dem Titel „Erosion des Rechtsstaats in der Türkei stoppen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist abgelehnt. Zugestimmt hat die Fraktion der FDP. Dagegen waren die SPD-Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU. Enthalten hat sich die Fraktion Die Linke und die AfD.
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– Entschuldigung, Teile. Danke schön. Aber ich muss jetzt nicht noch einmal abstimmen lassen?
Teile der AfD haben also zugestimmt. Und was haben die anderen gemacht?
({1}): Die anderen haben gepennt!)
– Ein Teil hat sich enthalten, und ein Teil hat abgelehnt, oder? – Jetzt will ich es noch einmal wissen. Darf ich die AfD noch einmal bitten, ihre Position zu dem Antrag auf Drucksache 19/4528 kundzutun? – Was macht die AfD? Möchten Sie zustimmen? – Zwei Zustimmungen. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich?
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– Jetzt seien Sie einmal still! Das ist das Recht. – Zwei haben also dem FDP-Antrag zugestimmt. Der Rest der AfD-Fraktion hat sich enthalten. Damit ist der Antrag abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 27 b. Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/4527 mit dem Titel „Keine Unterstützung für den türkischen Präsidenten Erdoğan“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist abgelehnt. Zugestimmt hat die Fraktion Die Linke. Dagegen waren die SPD-Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP. Die Fraktion der AfD hat sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 27 c. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „‚Operation Olivenzweig‘ der Türkei in Syrien als völkerrechtswidrigen Angriffskrieg verurteilen und Rüstungsexporte in die Türkei stoppen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/1926, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/1173 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion, der CDU/CSU und von großen Teilen der AfD-Fraktion angenommen. Gegenstimmen kamen von der Fraktion Die Linke, vom Bündnis 90/Die Grünen und von einem Kollegen, von Herrn Hampel, von der AfD. Enthaltungen gab es keine. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Gesundheits-, in der Pflegepolitik lösen wir ein, was wir zu Beginn dieser Koalition gemeinsam vereinbart haben, und konzentrieren uns auf die Sacharbeit. Wir haben angekündigt, gemeinsam in den ersten gut sechs Monaten drei Pakete auf den Weg zu bringen, die die Versorgung in Deutschland konkret im Alltag verbessern sollen. Dieses Pflegepersonal-Stärkungsgesetz, das wir heute in erster Lesung beraten, ist ein ganz entscheidender Teil dabei.
Es geht um konkrete Verbesserungen in der Pflege, konkrete Verbesserungen in der Situation, in der Menschen erkennen, erkennen müssen, im Alltag ohne Unterstützung nicht mehr durchzukommen, Hilfe zu brauchen, Pflege beim alltäglichen Tun zu brauchen. Das ist erst einmal eine schwerwiegende Erkenntnis für den Pflegebedürftigen selbst, aber natürlich auch für die Familie, für die Angehörigen. Das ist vor allem eine Situation, die jeden mal betreffen kann, entweder selbst als Pflegebedürftigen, als Elternteil von pflegebedürftigen Kindern, als Kind von pflegebedürftigen Eltern, oder es geht um den eigenen Partner, der zu pflegen ist. Das Thema ist mittlerweile in jeder Familie angekommen.
Eines – das ist auch die Wahrheit – geht nicht: Diesen Schicksalsschlag, den es bedeutet, pflegebedürftig zu werden, können wir nicht wegreformieren. Wenn auf einmal, weil der Mensch die Treppe nicht mehr hoch kann, ein Pflegebett im Wohnzimmer steht, was in vielen Familien der Fall ist, verändert sich ziemlich viel im Familienleben. Jetzt geht es darum, dass wir als Gesellschaft – das ist das, wofür wir die Pflegeversicherung als Sozialversicherung vor gut 20 Jahren gegründet haben – diesen Familien helfen. Wir können es nicht ungeschehen machen, aber wir können helfen, so gut es geht: durch Unterstützung im Alltag durch ambulante Dienste, durch pflegerische Versorgung, durch finanzielle Anerkennung an so vielen Stellen wie möglich.
Ich finde, das ist genau der Auftrag, den wir mit diesem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz angehen wollen: Menschen, die pflegebedürftig sind, Patienten und ihren pflegenden Angehörigen im konkreten Leben, im konkreten Alltag zu helfen. Dafür treten wir an, und dafür ist dieses Gesetz ein wichtiger Baustein.
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Es gibt viele Pflegekräfte, die sagen: Intensive Begegnungen, die dieser Beruf mit sich bringt dadurch, dass man Menschen begleitet, insbesondere in der Altenpflege, oft auf dem letzten Lebensweg, dass man sehr intime, sehr persönliche, sehr existenzielle Situationen miteinander erlebt, geben auch Kraft, auch durch das, was man von den Menschen zurückbekommt, die man pflegt, die man unterstützt.
Es ist so, dass diese Begegnungen, diese Kraft vielen auch durch die Anstrengungen des Alltags helfen. Deswegen finde ich es übrigens wichtig, dass wir bei allen Problemen, die wir im Fokus haben, auch über diese schönen, kraftgebenden Seiten dieses Berufes reden.
Aber diese Anstrengungen und Überlastungen sind zu oft dann doch zu viel. Wenn Dienstpläne zu oft nicht mit dem Familienleben zusammengehen, wenn man zwölf Tage am Stück gearbeitet hat, Schicht hatte, dann eigentlich ein paar Tage frei hat, aber der Anruf kommt „Eine Kollegin/ein Kollege ist ausgefallen. Kannst du noch mal einspringen?“ – natürlich springt man ein –, wenn es eine körperliche oder seelische Dauerbelastung wird, wenn zu viel Arbeit sich auf zu wenig Schultern verteilt – das ist die Situation, wie sie sich zu oft – nicht überall, aber zu oft – in Krankenhäusern, in der Altenpflege, ambulant wie stationär, entwickelt hat, und da steuern wir ganz konkret gegen: mit 13 000 neuen Stellen in der stationären Altenpflege, mit dem Versprechen und der gesetzlichen Umsetzung, dass jede zusätzliche Pflegestelle in den Krankenhäusern voll finanziert wird und eingestellt werden kann, dass wir ab diesem Jahr, ab 2018, Tariferhöhungen in der Pflege in den Krankenhäusern voll refinanzieren, dass wir in einem nächsten Schritt die Pflegebudgets, also die Pflegekosten eines Krankenhauses, in die Selbstkostenfinanzierung überführen, aus den Fallpauschalen ausgliedern.
Mit alldem – betriebliche Gesundheitsförderung, Unterstützung bei den Investitionen in Digitalisierung in der Pflege, was übrigens auch gerade ambulanten Pflegediensten helfen wird – wollen wir konkret die Arbeitsbedingungen in der Pflege verbessern. Wir wollen ganz konkret, dass spürbar wird: Ja, es gibt wieder mehr Kolleginnen und Kollegen. Ja, die Bezahlung verbessert sich. – Auch das ist ein Thema, an dem wir arbeiten. Ich glaube, die allermeisten Pflegekräfte haben nichts davon, wenn hier ein Wettbewerb läuft „Wer bietet mehr?“ und Zahlen – 50 000, 80 000, 120 000 Pflegekräfte – und Milliarden nur so durch die Luft fliegen. Die haben etwas davon, wenn wir konkret im Alltag die Dinge verbessern, und das ist genau das, was wir mit diesem Gesetz vorschlagen. Das ist genau der Teil, der dann am Ende auch die Dinge besser macht und hilft, Vertrauen zurückzugewinnen.
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Wir wollen die Arbeitsbedingungen so verbessern, dass die Pflegekräfte, die aus der Pflege ausgestiegen sind, aus welchen Gründen auch immer – Frust, Familie, ganz andere Gründe –, möglicherweise sagen: Ich kehre in diesen Beruf zurück. – Wir brauchen jeden. Der Pflegearbeitsmarkt ist leergefegt in ganz Deutschland.
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Aber wir wollen uns auch an diejenigen wenden – da will ich etwas aus der letzten Woche aufgreifen –, die in Teilzeit arbeiten, oft wegen der Familie. In vielen persönlichen Begegnungen sagt man mir aber auch: Das habe ich gemacht, weil die Arbeitsbedingungen so sind, die Arbeitsbelastung so ist, dass ich so viele Stunden in der Woche nicht mehr schaffe. – Deswegen geht es darum, dass wir die Arbeitsbedingungen so verbessern, auch die Bezahlung verbessern – daran arbeiten wir in der Konzertierten Aktion Pflege –, dass Pflegekräfte, die aus diesen Gründen in Teilzeit gegangen sind, sagen: Ja, es wird besser; dann möchte ich wieder zwei, drei, vier Stunden mehr in der Woche machen. – Das war übrigens das, was ich gesagt habe.
Daraus haben einige eine Kampagne gemacht. Einige Redner werden gleich darauf eingehen – deswegen will ich es gleich ansprechen – und sagen: Der Minister will doch nur: Pflegekräfte sollen mehr arbeiten. – Dann gab es gleich Empörung, einen Shitstorm. Wissen Sie, meine Damen und Herren, wenn das das Niveau ist, auf dem wir die Debatte über die Frage führen, wie wir für Hunderttausende Pflegekräfte in diesem Land die Arbeitsbedingungen verbessern, dann wird das nur Enttäuschung und Frust produzieren, aber am Ende nicht helfen. Denn ich finde, dass die Frage, wie wir Arbeitsbedingungen konkret verbessern können für Menschen, die in Teilzeit arbeiten, weil sie sagen: „Sonst ist das zu anstrengend unter den gegenwärtigen Arbeitsbedingungen“, ziemlich legitim ist. Die sollten wir konkret beantworten, anstatt immer überall Empörung aufkommen zu lassen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Präsidentin, mit diesem Gesetzentwurf, dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz, setzen wir in ganz vielen Bereichen an, mit denen wir die Arbeitsbedingungen konkret verbessern wollen, und senden damit, denke ich, ein starkes Signal, auch durch die nächsten Beratungen in den kommenden Monaten. Die Politik, die Bundesregierung, aber auch diese Koalition, hat die Situation der Pflegekräfte im Krankenhaus, in der stationären und der ambulanten Pflege voll im Blick. Wir wollen sie konkret verbessern.
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Vielen Dank, Jens Spahn. – Nächster Redner: Dr. Axel Gehrke für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir begrüßen es sehr, dass nach zwölf Jahren des Stillstandes nun endlich wieder Leben in die Gesundheitspolitik kommt. So viel Lob, Herr Minister, muss sein – auch von der Opposition. Aber Quantität – vier Gesetze in kurzer Zeit – hat auch ihren Preis, und dies in Form von handwerklichen Fehlern, mal mehr und mal weniger.
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Das heute von Ihnen vorgelegte Pflegepersonal-Stärkungsgesetz gehört leider zu der ersten Gruppe.
Meine Kritik beginnt da, wo dieses Gesetz ungerechterweise so gut wie gar nicht greift: im ambulanten Sektor. In diesem Bereich kommt auf die Pflegekraft im Rahmen der sogenannten medizinischen Behandlungspflege genau die gleiche Arbeit zu wie in der stationären Pflege – also Injektionen, Verbände, Katheterisieren usw. Aber hier gibt es keine Stelle dazu; für den ambulant gepflegten Patienten wird das Pflegepotenzial nicht erhöht und seine betreuende Pflege nicht gestärkt. Lediglich die betriebliche Gesundheitsförderung der Pflegekraft wird etwas angehoben.
Und noch ein kurioses, für Heimbewohner oder deren Angehörige finanziell meist sehr schmerzhaftes Erlebnis: Während in der ambulanten Pflege die gesamte medizinische Behandlungspflege von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt wird und es zusätzlich eine Pauschale der Pflegekasse gibt, bekommt der stationär zu Pflegende von der GKV gar nichts und von der Pflegekasse nur die entsprechende Pauschale – und das, obwohl der Heimbewohner sein Leben lang Beiträge für die gesetzliche Krankenversicherung gezahlt hat und diese im Heim auch weiterhin bezahlt. Er wird also doppelt benachteiligt; denn sein Eigenanteil steigt wegen der fehlenden Kassenbeiträge, und die Pflegekosten muss er bezahlen, ob er nun medizinische Behandlungspflege in Anspruch nimmt oder nicht.
Insgesamt läuft das auf eine persönliche Mehrbelastung der Angehörigen von knapp 4 000 Euro pro Jahr hinaus – Geld, das sich umgekehrt die Krankenversicherung im Schutze dieses Gesetzes einverleiben kann. Das ist eine Ungerechtigkeit, meine Damen und Herren, die wir auf keinen Fall gutheißen werden.
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Aber das ist nicht alles. Als dritte Säule gibt es ja auch noch die häusliche Pflege, also zum Beispiel Kinder, die ihre Eltern pflegen – Sie, Herr Minister, sind ja gerade darauf eingegangen. Das taten die Angehörigen bisher nahezu für Gotteslohn. Aber nun verspricht ihnen dieses Gesetz einen festen Anspruch auf Leistungen der medizinischen Rehabilitation, damit sie sich von ihren Strapazen der Pflege erholen können. Das ist sehr edel.
In der Praxis gibt es allerdings dabei ein paar kleine Einschränkungen. Der Anspruch entsteht entsprechend dem Koalitionsvertrag unmittelbar „nach ärztlicher Verordnung“, muss also zeitnah nach dieser Verordnung erfolgen. Aber halt: Hier besteht nach SGB V weiterhin der Vorbehalt der Genehmigung durch die gesetzliche Krankenkasse. Diese Schwelle gilt es zu überwinden, und das zeitnah.
Aber selbst für den Fall, dass das gelingt, bleibt die Frage: Wohin mit den zu pflegenden Eltern? Es gibt die Kurzzeit- oder Verhinderungspflege. Aber dort jemanden zeitnah unterzubringen, ist praktisch unmöglich. Warum? Weil freie Kapazitäten in solchen Einrichtungen so gut wie nie zu haben sind, da die Pflegekassen für diese Einrichtungen für eine wirtschaftliche Betreibung eine Dauerbelegung von 97 Prozent vorsehen.
Man sieht, dass der Gesetzgeber in aller Ruhe dieses Zuckerl den häuslich Pflegenden zugestehen konnte. Ausnutzen kann das nur jemand, der auch sonst schon mal einen Sechser im Lotto gewonnen hat.
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Es ist leider wieder ein Versuch, dem Bürger Sand in die Augen zu streuen; und das werden wir nicht hinnehmen.
Dieses Pflegepersonal-Stärkungsgesetz ist bestenfalls ein Teilpflegepersonal-Stärkungsgesetz für den stationären Sektor. Es ist zu befürchten, dass es sich für die Pflegekräfte im ambulanten und häuslichen Bereich zu einem „Frust-Stärkungsgesetz“ entwickelt. Wir fordern deshalb die Nachbesserung in fast allen Bereichen und den Verweis an den Gesundheitsausschuss.
Vielen Dank.
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Danke schön, Dr. Gehrke. – Nächster Redner: Dr. Karl Lauterbach für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst einmal ganz ausdrücklich bei dem Kollegen Gehrke für seine Rede bedanken. Das war, soweit ich mich erinnern kann, in diesem Themenbereich die erste rein fachlich orientierte Rede.
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– Ich höre gerade, es war die zweite. – Es war eine Rede, die nicht über einen Umweg direkt zum Thema Flüchtlinge und Ausländerhass gekommen ist, sondern es war eine fachliche Rede von der AfD. Dafür vielen Dank.
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Das ist die Debatte, die wir hier benötigen. Ich bin zwar nicht in jedem Punkt Ihrer Meinung – wir haben zum Beispiel in der letzten Legislaturperiode keinen Stillstand gehabt, sondern wir haben die Personalmindeststandards in der Altenpflege eingeführt –, nichtsdestotrotz möchte ich das nicht unerwähnt lassen.
Wir haben in der Pflege eine sehr schwierige Situation angesichts dessen, dass wir Anfang der 2000er-Jahre die Fallpauschalen in der Krankenpflege eingeführt haben, wodurch die Krankenhäuser für jeden Fall, den sie behandeln, eine Pauschale bekommen. Das hatte zur Folge: Wenn ein Krankenhaus das Geld für mehr Ärzte oder für mehr Geräte ausgab, bedeutete das mehr Umsatz; gab ein Krankenhaus dieses Geld für mehr Pflege aus, bedeutete das mehr Kosten, aber keinen zusätzlichen Umsatz. Daher sind Pflegekräfte abgebaut worden; 50 000 bis 80 000 Pflegekräfte in der Krankenhauspflege haben wir durch diese Maßnahme verloren.
Hinzu kommt, dass der Bedarf an Pflegekräften gestiegen ist. Mittlerweile gibt es Hygieneprobleme in den Krankenhäusern, weil die Krankenhäuser das Pflegepersonal nicht mehr vorhalten können. Zudem unterscheidet sich die Sterblichkeitsrate in den einzelnen Häusern, auch abhängig davon, wie viel Pflegepersonal eingestellt ist.
Wir müssen dies dringend und sofort ändern. Dafür sind in diesem Gesetzentwurf fünf Maßnahmen vorgesehen, die allesamt notwendig und richtig sind.
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Es ist wirklich ein Gesetzentwurf, der einen Neuanfang in der Krankenhauspflege beschreibt. Das Wort „Neuanfang“ wird heute sehr häufig verwendet, aber es ist hier tatsächlich angemessen.
Der Neuanfang ist wie folgt zu beschreiben: Zum Ersten werden wir Personaluntergrenzen einführen. Das heißt, Krankenhäuser, die in bestimmten Bereichen das Personal nicht nachweisen, können nicht abrechnen und die Leistung auch nicht anbieten. Das schulden wir sowohl der Sicherheit der Versorgung in diesen Bereichen als auch dem Personal, das wir vor Überlastung schützen müssen.
Zum Zweiten werden wir klarmachen, wie viel die Krankenhäuser tatsächlich für Pflege ausgeben. Denn obwohl alle Krankenhäuser das Geld für Pflege bekommen haben, haben viele es nicht dafür ausgegeben. Darüber werden sich der Patient, der Bürger, aber auch die Krankenkassen demnächst ein Bild machen können, indem wir den sogenannten Pflegequotienten ausweisen: Wie viel Geld für die Pflege ist tatsächlich in die Pflege geflossen?
Zum Dritten. Wir werden dafür sorgen, dass Krankenhäuser, die jetzt Pflegekräfte einstellen, diese zu 100 Prozent bezahlt bekommen. Das heißt, es ist gar nicht möglich, mit Pflege jetzt noch Verluste zu machen. Wenn es mir gelingt, Pflegekräfte einzustellen, dann habe ich eine bessere Pflege und keine höheren Verluste, weil ich diese zu 100 Prozent bezahlt bekomme. Das ist ein Durchbruch, der den Anreiz schafft, dass alle Krankenhäuser so viele Pflegekräfte einstellen können, wie sie verfügbar haben. Das ist ein wichtiger Schritt nach vorne. Es gibt jetzt keine Begründung mehr dafür, aus wirtschaftlichen Gründen auf zusätzliche Pflegekräfte zu verzichten.
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Wir werden dafür sorgen, dass die Tarife voll refinanziert werden, und zwar zum einen der lineare Anteil, also ein Anstieg der Vergütung, zum Zweiten der Strukturanteil, also dass die Tarife der niedrigeren Berufsgruppen insbesondere in der Pflege überproportional angehoben werden, und zum Dritten die Teile des sogenannten Mantelteils, also Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, die in den Tarifen verhandelt werden.
Wenn das zu 100 Prozent refinanziert wird, werden sich die Arbeitsbedingungen in der Pflege drastisch verbessern. Der Beruf wird viel attraktiver werden; denn die Krankenhäuser sind dann nicht mehr in der Situation, dass sie auf der einen Seite etwas für ihre Pflegekräfte erreichen wollen, auf der anderen Seite das Geld dafür aber nicht von den Krankenkassen bekommen. Dieser Konflikt geht weg durch die Refinanzierung der Verbesserungen in der Tarifstruktur und die Weitergabe dieser Kosten an die Versicherten. Die Löhne, aber auch die Arbeitsbedingungen in der Pflege werden sich dramatisch verbessern. Das brauchen wir; denn sonst werden wir junge Leute in Zukunft nicht für diesen Beruf gewinnen können. Das ist ein Schritt, den wir sofort ergreifen müssen.
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Ich komme zum Abschluss. Ich will einen Punkt nennen, wo Minister Spahn und ich unterschiedlicher Meinung sind, und zwar bei den 13 000 Stellen. Das haben wir gemeinsam errungen, und es ist auch richtig, dass diese Stellen für die medizinische Behandlungspflege sofort kommen müssen; das brauchen wir. Ich halte es aber für falsch, dass man diese medizinische Behandlungspflege, die von Fachkräften erbracht werden muss, durch Assistenzberufe ersetzen kann, wenn man die Fachkräfte nicht bekommt.
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Das würde dazu führen, dass viele Pflegeeinrichtungen sich nicht ausreichend bemühen, Fachkräfte einzustellen und auch die Fachkräfte wieder ins Haus zu bringen, die jetzt in Teilzeit arbeiten oder ausgeschieden sind. Daher: Der Ersatz von Fachkräften durch Assistenzkräfte – das gibt es ja jetzt schon: in Berlin sind nur noch 30 Prozent der Pflegekräfte in den stationären Einrichtungen Fachkräfte – muss gestoppt werden. Daher wünschen wir eine komplette Umsetzung des Aufbaus durch Fachkräfte und nicht durch Assistenzberufe.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Lauterbach. – Nächste Rednerin für die FDP-Fraktion: Nicole Westig.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, ein Pflegepersonal-Stärkungsgesetz legen Sie hier vor. Das ist gut gemeint, aber noch lange nicht gut gemacht. Denn: Um Pflegepersonal wirksam stärken zu können, muss Pflegepersonal erst einmal vorhanden sein. Und das ist eben das größte Problem: der Fachkräftemangel – Sie haben es eben selbst gesagt. Über 30 000 Stellen sind in der Pflege unbesetzt. Der Gesetzentwurf will 13 000 neue Stellen schaffen, verliert jedoch kein Wort darüber, woher die Pflegekräfte kommen sollen. Um mehr Menschen für die Pflege zu gewinnen, tun Sie zu wenig, Herr Minister.
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Sie sind nun bereits ein halbes Jahr im Amt und haben viele einzelne Maßnahmen angestoßen. Aber wo ist Ihr Gesamtkonzept? Wie schaut Ihr Masterplan aus? Die Konzertierte Aktion Pflege hat bislang nichts als Willensbekundungen hervorgebracht. Ein Schlüssel zur Lösung des Fachkräftemangels – Dr. Lauterbach hat es gerade angesprochen – liegt bei den jungen Menschen, bei den Auszubildenden. Deswegen wird die Pflegeausbildung reformiert, allerdings unter Benachteiligung der Altenpflege. Mit Ihrem Gesetz hätten Sie die Möglichkeit, sich klar zu den Auszubildenden in der Altenpflege zu bekennen und festzuschreiben, dass diese nicht auf den Personalschlüssel angerechnet werden dürfen.
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Aber Fehlanzeige; denn das gilt nur für die Krankenpflege. Immer wieder werden Pflege-Azubis im Alltag wie examinierte Pflegekräfte eingesetzt. Die Zeit für gute Praxisanleitung fehlt; das berichten mir jedenfalls Pflegeschülerinnen und -schüler. Das schafft Frust und erzeugt alles Mögliche, nur keine Freude an der Arbeit. Azubis sind Lernende und keine voll einsetzbaren Arbeitskräfte, auch in der Altenpflege. Und sie sind wichtige Botschafter nach draußen. Was sie erzählen, prägt das Bild des Pflegeberufs, und das wollen wir ja gerade verbessern.
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Aber das größte Problem dieses Pflegepersonal-Stärkungsgesetzes ist, dass es für die ambulante Altenpflege ein Pflegepersonalschwächungsgesetz ist: Krankenhäusern mit Honorarkürzungen zu drohen, wenn sie nicht mehr Personal einstellen, heißt doch nichts anderes, als der eh schon benachteiligten Altenpflege einmal mehr den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
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Im Wettbewerb um die Pflegekräfte sind die Krankenhäuser durch bessere Bezahlung bereits jetzt im Vorteil. Das verschärft sich durch dieses Gesetz noch. Pflegedienste müssen schon heute Pflegebedürftige aus Personalmangel abweisen. Übrigens: Wenn Pflegedienste ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anständige Löhne zahlen sollen, müssen Sie ihnen auch die Chance geben, Gewinne zu erwirtschaften.
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Ambulant vor stationär: Dieser Grundsatz findet sich in diesem Gesetzentwurf jedenfalls nicht wieder. Und das ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht der ambulanten Pflegedienste. Das trifft ebenso die hohe Zahl der pflegenden Angehörigen, die dringend mehr ambulante professionelle Hilfe benötigen, damit sie ihren Pflegealltag bewältigen können.
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Pflegen kann eben nicht jeder. Dabei zeigt sich der Wert unserer Gesellschaft darin, wie wir mit denen umgehen, die Hilfe benötigen: mit den Pflegebedürftigen, aber auch mit denen, die pflegen.
Sie haben von einem starken Signal gesprochen, Herr Minister. Gehen Sie über das Signal hinaus: Tun Sie etwas! Setzen Sie das Projekt „mehr Menschen in den Pflegeberuf“ endlich um, zum Beispiel mit einer großangelegten Kampagne, wie wir das auch von der Bundeswehr kennen. So können Sie Menschen für die Pflege begeistern und gleichzeitig für mehr Wertschätzung und gesellschaftliche Anerkennung für Pflegerinnen und Pfleger werben.
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Fangen Sie heute damit an, nicht erst morgen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Westig. – Nächster Redner: Harald Weinberg für die Fraktion Die Linke.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da draußen, außerhalb dieses Parlaments, tut sich einiges in Sachen Pflege. Mir ist wichtig, das noch einmal deutlich zu machen hier unter dieser Kuppel. In den letzten Jahren haben die Kämpfe gegen Personalmangel und Pflegenotstand in Krankenhäusern eine bemerkenswerte Dynamik entwickelt.
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Das öffentliche Problembewusstsein nimmt ebenso zu wie das Selbstbewusstsein der Betroffenen. Da entsteht eine Dynamik, die der Profitorientierung und dem Kostendruck in der Pflege ein Ende bereiten kann.
Schauen wir zurück: Ausgehend von der Tarif- und Streikbewegung für mehr Personal an der Berliner Charité gingen andere Kliniken in die Auseinandersetzung. Zuletzt haben die Kolleginnen und Kollegen am Universitätsklinikum des Saarlands und an den Unikliniken Düsseldorf und Essen mit Streikbereitschaft und Urabstimmungsergebnissen von über 98 Prozent beachtliche Ergebnisse erzielt,
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die eine Entlastung der Beschäftigten und eine Verbesserung der Patientenversorgung in Aussicht stellen. Die Leitungen der Universitätskliniken sind jetzt in der Pflicht, das auch entsprechend umzusetzen.
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Nach dem Tarifabschluss an der Charité im Frühjahr 2016 entwickelte das Berliner Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus einen Gesetzentwurf, mit dem die tariflich vereinbarten Personalvorgaben der Charité verpflichtend für alle Berliner Krankenhäuser gemacht werden sollen. Zur Durchsetzung wurde ein Volksbegehren angestoßen. Diese Initiative wurde im Übrigen in Hamburg ebenfalls aufgegriffen. In Berlin wurden in der ersten Phase fast 50 000, in Hamburg knapp 30 000 Unterschriften gesammelt – weit mehr, als notwendig gewesen wäre. Ein grandioses Ergebnis.
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Auch in Bayern – erstmals in einem Flächenland – sind wir diesen Schritt gegangen und haben ein breites Bündnis geschaffen, an dem sich neben Linken, SPD und Grünen auch die Gewerkschaft Verdi, die Ärztegewerkschaft Marburger Bund, der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe, die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung und viele Patientenorganisationen beteiligt haben.
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Seit Anfang August sammelt das Volksbegehren „Stoppt den Pflegenotstand an Bayerns Krankenhäusern“ Unterschriften. Als Beauftragter dieses Volksbegehrens freue ich mich sehr über die enorme Resonanz. Bisher sind fast 35 000 Unterschriften bei uns eingegangen.
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Und wir werden die 40 000‑Unterschriften-Marke knacken, mit Sicherheit, wobei wir zur Zulassung des Volksbegehrens nur 25 000 Unterschriften brauchen.
Gleichzeitig demonstrierten in Hamburg über 1 000 Menschen. Sie fordern, dass der Hamburger Senat den Volksentscheid anerkennt, anstatt ihn politisch zu bekämpfen und für juristisch unzulässig zu erklären. Das, liebe SPD, ist schon ein wenig schizo: In Bayern unterstützt ihr das Volksbegehren, und in Hamburg bekämpft ihr es. An dieser Stelle müsst ihr mal in euch gehen, denke ich.
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Der immense Zuspruch für das Volksbegehren ist angesichts des existierenden Pflegenotstands nicht verwunderlich. Im ARD-Deutschlandtrend gaben 79 Prozent der Befragten an, dass die Situation in der Pflege zu wenig Raum in der politischen Auseinandersetzung einnimmt. Und im aktuellen Deutschlandtrend vom August verneinen 84 Prozent der Befragten die Frage, ob das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz eine spürbare Verbesserung für die Situation der Patienten bringen wird. An den gewerkschaftlichen Kampagnen, betrieblichen Kämpfen, Volksbegehren und Demonstrationen gegen den Pflegenotstand kommt auch die Große Koalition nicht mehr vorbei.
„Wir haben verstanden“, behauptete Gesundheitsminister Jens Spahn im Mai und versprach, die Arbeitsbedingungen in der Pflege spürbar zu verbessern. Was jetzt als Gesetzentwurf unter dem sperrigen Titel „Pflegepersonal-Stärkungsgesetz“ vorliegt und was in einer Rechtsverordnung zu den Personaluntergrenzen in pflegesensitiven Bereichen des Krankenhauses vorgelegt wurde, ist leider das Gegenteil von „verstanden“. Die Regelungen zu den Personaluntergrenzen führen zur Entstehung eines Verschiebebahnhofs für das Personal von den anderen Bereichen in die pflegesensitiven Bereiche – das sind nur vier Bereiche in den Krankenhäusern –, was dann in den anderen Bereichen die Situation noch schlimmer machen wird.
Die Regelungen im Pflegepersonal-Stärkungsgesetz setzen an der DRG-Kalkulation an und nehmen das, was wir an Ist-Kosten für die Pflege haben, entsprechend zum Soll-Standard für alle Krankenhäuser. Mit einer wissenschaftlich fundierten und am Pflegebedarf der Patientinnen und Patienten ausgerichteten Personalbemessung hat das nichts zu tun. Hinzu kommt, dass die Bezugsgrößen nicht die Station und nicht die Schicht, sondern das gesamte Krankenhaus und der Monatsdurchschnitt sein sollen.
Von einer Ausweitung der Untergrenzen auf alle Bereiche sind wir auch weit entfernt. Was im Koalitionsvertrag noch reingeschrieben wurde, finden wir jetzt nicht mehr. Abschläge als Sanktionsmöglichkeit halten wir in der Tat nicht für zielführend. Wenn, dann müsste es zu entsprechenden Bettensperrungen kommen.
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Auch in der Altenpflege wird dieses Gesetz kaum spürbare Verbesserungen bringen. Die Finanzierung von 13 000 zusätzlichen Stellen entspricht nicht ansatzweise dem Bedarf. Bei der neuen Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Pflegeberufe ist die Bundesregierung im Juni vor den profitorientierten Pflegeheimbetreibern eingeknickt. Im Ergebnis wird die Altenpflege entwertet und dequalifiziert. Es ist eine Abwanderung der Pflegekräfte aus der Altenpflege in die Krankenhauspflege zu erwarten. Das wird uns alle noch vor riesengroße Probleme stellen. Hier ist Widerstand notwendig.
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Der Gesundheitsminister handelt nach dem Motto: Nicht das Erreichte zählt, sondern das Erzählte reicht. – Das ist das Gegenteil von: „Wir haben verstanden.“ Verstanden haben die Pflegekräfte, die Patientinnen und Patienten, die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen. Sie kämpfen für eine bessere Versorgung und bessere Arbeitsbedingungen. Es muss dringend eine gesetzliche Personalbemessung eingeführt werden, die sich am Pflegebedarf orientiert.
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Die Bundesregierung wird nur handeln, wenn der Druck entsprechend groß wird. Es gibt mit Arbeitskämpfen und Volksbegehren die Möglichkeit, Verbesserungen nicht nur zu fordern, sondern tatsächlich durchzusetzen. Das erhöht den bundespolitischen Druck. Wir brauchen einen Pflegeaufstand, der der Bundesregierung Beine macht. Und wir sind auf einem guten Weg dahin.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Harald Weinberg. – Nächste Rednerin: Kordula Schulz-Asche für Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Situation in der Pflege ist bitterernst, und mit dem sogenannten Pflegepersonal-Stärkungsgesetz hat die Große Koalition versprochen, die Situation in der Pflege zu verbessern. Da rufen wir Grünen Ihnen zu: Endlich! Ja, das ist gut; das ist überfällig. Handeln lohnt sich. – Doch der Versuch, mit dem Gesetzentwurf, den Sie jetzt vorgelegt haben, diese Situation wirklich zu verbessern, greift zu kurz.
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Es gibt so viele offene Fragen zu diesem Gesetzentwurf, es gibt so viele Risiken in diesem Gesetzentwurf, die dringend in der Beratung geklärt werden müssen. Vieles ist nicht zu Ende gedacht, und einige Vorschläge enthalten unserer Auffassung nach enorme Risiken. Lassen Sie mich das an einigen Beispielen festmachen.
Erstens: Thema Personaluntergrenzen. Die Auswahl der Fachabteilungen, die jetzt – im Gegensatz zu dem im Koalitionsvertrag Vereinbarten – vorgenommen wurde, enthält keine fachlich nachvollziehbaren Kriterien. Bei der Intensivmedizin stimme ich Ihnen zu; sie gehört hinein. Aber bei den anderen Fachabteilungen ist gar nicht erkenntlich, warum sie in diese Auswahl der Fachabteilungen aufgenommen wurden. Es besteht die Gefahr, dass diese Untergrenzen zum Standard werden. Und durch die Reduzierung auf bestimmte Fachbereiche besteht sogar noch die Gefahr, dass innerhalb eines Krankenhauses Fachpersonal aus anderen Abteilungen in diese ausgewählten Abteilungen abgezogen wird. Dann verschärft sich die Personalsituation in den anderen Abteilungen noch. Das kann doch nicht das sein, was wir wollen.
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Wir brauchen ein Personalbemessungsinstrument, meine Damen und Herren, für alle Fachabteilungen im Krankenhaus. Und: Der Personalbedarf muss sich am tatsächlichen Pflegebedarf ausrichten. Da muss in diesem Gesetzentwurf dringend nachgebessert werden.
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Zweitens. Wir halten es für richtig, dass jede zusätzliche und jede aufgestockte Pflegestelle im Krankenhaus finanziert wird; aber wir müssen sicherstellen – und das passiert bisher nicht –, dass diese zusätzlichen Stellen, diese zusätzlichen Hände tatsächlich am Bett der Patienten landen, und nicht prekäre Situationen auf anderen Stationen verschärft werden. Da muss ebenfalls nachgebessert werden.
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Drittens. Wir reden über die Herauslösung der Pflegepersonalkosten aus den jetzigen Fallpauschalen, also dem DRG-System. Wir halten das für richtig, weil es ein systemischer Ansatz ist. Es ist positiv, Pflegepersonal und Pflegeleistungen zu stärken und zu finanzieren. Aber wenn man das tut, meine Damen und Herren, muss man auch dafür sorgen, dass eine Zweckentfremdung dieser Mittel ausgeschlossen ist. Das fehlt bisher in diesem Gesetz.
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Viertens. Es ist auch gut, dass Sie sich der Verbesserung der praktischen Ausbildung im Krankenhaus widmen und Auszubildende im ersten Jahr der Ausbildung nicht auf den Personalschlüssel angerechnet werden. Ich frage Sie aber: Wäre es nicht sinnvoll, auch für Auszubildende im zweiten Ausbildungsjahr zumindest anteilige Loslösung vom Personalschlüssel durchzuführen? Denn auch im zweiten Ausbildungsjahr gibt es natürlich noch große Bedarfe, die eigenen Kenntnisse zu verbessern.
Und auch ich stelle die große Frage, die schon angesprochen wurde: Warum, um Himmels willen, gilt diese Regelung nicht auch für die Ausbildung in der Altenpflege?
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Nach der Degradierung der Altenpflege in der Ausbildungsreform machen Sie die Altenpflege erneut zum Stiefkind der Großen Koalition. Sie, Herr Minister, haben vorhin viel Empathie für diesen Bereich gezeigt. Deshalb frage ich Sie: Warum erfolgt die Anrechnung von Auszubildenden auf den Personalschlüssel in der Altenpflege? Wir wollen doch die Ausbildung gerade interessanter und attraktiver machen.
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Fünfter Punkt. Pflegeeinrichtungen – auch in der Altenpflege – können auf Antrag zusätzliche Stellen refinanziert bekommen. Aber der Schlüssel, den Sie vorschlagen, berechnet sich nach der Zahl der Bewohner und richtet sich nicht nach dem Pflegebedarf. Letztendlich ist doch die Personalmenge, die wir an den Betten, die wir bei den Patienten brauchen, die wir zur Unterstützung der Angehörigen brauchen, vom Pflegebedarf abhängig und nicht von der einfachen Zahl der zu Pflegenden.
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Da muss nach meiner Ansicht nachgebessert werden; denn der gewaltige Druck auf das Personal, der hier entsteht, ist nicht auszuhalten.
Wir werden eine weitere Verwerfung haben, die ich für ganz dramatisch halte. Drei Viertel aller Pflegebedürftigen in Deutschland werden zu Hause gepflegt. Wenn wir durch die Finanzierung allein des stationären Bereichs dafür sorgen, dass Personal aus dem ambulanten in den stationären Bereich abgezogen wird, dann wird die ambulante Pflege, die sowieso schon unter einem enormen Druck steht, weiter ausbluten und am Ende zusammenbrechen. Wir können doch die Pflegebedürftigen, wir können doch die Menschen und ihre Angehörigen nicht alleinlassen; deswegen muss hierbei nachgebessert werden.
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Ein Punkt, bei dem mir, ehrlich gesagt, inzwischen jedes Verständnis fehlt, wenn wir über die Altenpflege reden, ist das Thema der Pflegehilfskräfte. Meine Damen und Herren, heute brauchen Heime aufgrund des Fachkräftemangels ungefähr 5,5 Monate, um Pflegefachkraftstellen zu besetzen. Dieser Gesetzentwurf sieht vor, dass der Arbeitgeber, wenn eine Stelle nicht besetzt werden kann, bereits nach drei Monaten eine Pflegehilfskraft einstellen kann. Ist es das, was Sie sich unter Attraktivität des Altenpflegeberufes vorstellen?
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Ich kann mir das nicht vorstellen. Sie setzen hier erneut einen Hebel an, um die Fachlichkeit in der Altenpflege abzuwerten. Meine Damen und Herren, pflegen kann eben nicht jeder und jede. Vielmehr braucht man eine fundierte Ausbildung, die gerade in der Altenpflege ganzheitlich menschenorientiert ist. Das sollten wir nicht kaputtmachen.
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Deswegen fordere ich Sie auf – wir haben ja jetzt dieses Gesetzgebungsverfahren, können ganz offen über alles diskutieren –: Stopfen Sie diese Löcher! Wir brauchen eine sachliche Auseinandersetzung über dieses Gesetz. Wir brauchen aber auch ein Gesamtkonzept. Wir brauchen echte Sofortprogramme für mehr Personal. Wir müssen Anreize setzen, damit Menschen diese Berufe tatsächlich ergreifen. Und wir brauchen spürbar bessere Arbeitsbedingungen und eine bessere Bezahlung – und zwar sofort. Wir haben nicht mehr viel Zeit, in diesem Bereich Personal zu gewinnen, um zu erreichen, was die Menschen in diesem Land verdient haben, nämlich bestmögliche Pflege.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Kordula Schulz-Asche. – Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, möchte ich im Namen des gesamten Hauses Dr. Kühne ganz herzlich zum Geburtstag gratulieren.
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Ich würde Ihnen ja ein Lied singen, aber ich bin wirklich erkältet.
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– Nein, nein, nein. Wenn ich gesund bin, dann hört sich das gut an. Ich tue es aber lieber nicht; das wäre zu krächzig.
Ich wünsche Ihnen alles, alles Gute, Herr Dr. Kühne. Sie haben jetzt ungefähr fünf Minuten Redezeit.
Frau Präsidentin! Es hat ja schon einmal jemand im Deutschen Bundestag versucht, zu singen. Das war sehr unterhaltsam.
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– Gerne.
Liebe Frau Präsidentin, erst einmal herzlichen Dank für die vielen Glückwünsche des Hauses. Es ist natürlich für mich auch eine Ehre, an meinem heutigen Geburtstag über ein Thema zu sprechen, das, glaube ich, viele in Deutschland momentan sehr bewegt. Junge Menschen sind im Vorteil; denn sie können noch darüber nachdenken, ob sie das Thema heute oder morgen angehen. Aber glauben Sie mir: Eines Tages wird es auch Sie treffen, den einen vielleicht früher aufgrund von Unfällen, den anderen vielleicht später aufgrund von Alterserscheinungen. Aber wir kommen alle irgendwie nicht drumherum. Das ist ein Thema. Deshalb sollten wir uns rechtzeitig damit beschäftigen.
Ich bin unserem Minister sehr dankbar, dass er das Thema wirklich progressiv in einem guten Tempo aufgegriffen hat. Sicherlich – das ist der Punkt, über den wir reden können – ist in der Politik, glaube ich, unbestreitbar, dass immer alles irgendwo zum Schluss besser machbar ist. Aber ich glaube, auch in diesem Haus wurde – jedenfalls solange ich mich mit Politik beschäftige – noch keine perfekte Lösung gefunden. Insofern, denke ich, dass hier auch dem Minister Dank gebührt.
Wir müssen schauen, wie wir das weiter ausbauen. Es ist bewusst gesagt worden: Es ist der erste Schritt. Wir haben in der Koalition darüber beraten, und wir wissen genau, dass momentan 3,3 Millionen Menschen täglich pflegebedürftig sind. Aber wir reden ja nicht nur über Pflege an sich, sondern wir reden ja auch über ein ganz wichtiges Ziel, das wir im Grunde genommen mit Pflege bewerkstelligen wollen: Das ist Teilhabe, meine Damen und Herren. Jeder, der wie ich seinen Vater mit Liebe zu Hause gepflegt hat, weiß, was es bedeutet, wenn ein Mensch lächelt, weil er sauber liegt, weil er trocken liegt und weil sich jemand mit ihm beschäftigt. Noch mal: Es gibt, glaube ich, in diesem Moment nichts Wertvolleres. Auch viele Pflegekräfte sagen dann: Das Lächeln dieses Patienten, der warme Händedruck sind ein ganz wichtiger Punkt im Bereich der Pflege. Ich glaube, das, was ich in diesen zwei eben nur angedeuteten Merkmalen zum Ausdruck gebracht habe, ist leider in den letzten Jahren verloren gegangen. Deshalb arbeiten wir daran, Zeit, Empathie für diesen Beruf zu erhalten und Motivation bei jungen Menschen oder bei Quereinsteigern oder, wie es der Minister auch gesagt hat, bei Rückkehrern hervorzurufen.
Wir möchten selber keine Überlastung der Pflegekräfte in Deutschland. Wir wissen ganz genau, wie das endet. Wir haben die höchste Drop-out-Rate in diesem Beruf; theoretisch verlassen 50 Prozent der Pflegekräfte nach drei bis acht Jahren diesen Beruf. Wir haben die höchste Krankheitsrate in diesem Beruf. Und wir haben dadurch natürlich eine schlechte Motivation. Wir wissen ganz genau – es wird auch immer ausreichend in den Zeitungen beschrieben –, was passiert, wenn schlecht gepflegt wird. Dann ist der Aufschrei von allen groß, über alle Parteigrenzen hinweg. Dann sind sich auf einmal alle einig: Es muss etwas getan werden.
Meine Damen und Herren, wir haben jetzt die Möglichkeit, etwas zu tun. Wir haben den ersten Schritt getan. Lassen Sie uns weiter daran arbeiten, dass wir das Ganze gut voranbringen. Es wurden verschiedenste Punkte angesprochen, die dazu geführt haben, dass die Situation dort so ist; die will ich gar nicht wiederholen. Aber ich denke, wir tun gut daran, das, was wir jetzt machen, nicht gleich wieder schlechtzureden.
Wir reden über Refinanzierung; es wurde bereits angesprochen. Es wurde aber auch offen gesagt, dass wir hier beachten müssen, dass dies gerade die Krankenhäuser in der ländlichen Gegend betrifft; denn – das wurde auch schon gesagt – 60 bis 70 Prozent werden in der Fläche gepflegt. Wenn es um den Grundsatz „ambulant vor stationär“, um die Familie geht, dann wollen wir natürlich schauen – das müssen wir in der Tat beachten –, dass kein Absaugeffekt aus der Fläche entsteht. Da gebe ich Ihnen völlig recht; das müssen wir beachten. Aber das sind Stellwerkzeuge, die wir auch diskutieren werden. Es ist ja nicht so, dass wir jetzt etwas beschließen, was dann nicht angefasst wird. Vielmehr ist Politik ein atmender und – das muss man als Politiker auch ehrlicherweise zugeben – ein lernender Prozess. Deshalb bin ich froh, dass wir dieses Thema diskutieren, in aller Kritik, in aller Würzigkeit. Das gehört dazu. Aber es nützt nichts, wenn wir jetzt schon wieder etwas schlechtreden; denn es kommt dann auch draußen schlecht an. Lassen Sie uns bitte auch Sachen, die wir gut machen, gut darstellen, und an den Punkten, die schlecht sind, weiter arbeiten. Nobody is perfect!
Ein weiterer Punkt, der ja in vielen Bereichen lange diskutiert wird, ist das betriebliche Gesundheitsmanagement; ich will es noch einmal anführen. Ich kenne viele Pflegekräfte, die sagen: Dafür habe ich keine Zeit, dafür habe ich keine Lust, ich schaffe das nicht, ich bin einfach alle nach acht Stunden, neun Stunden, zehn Stunden Pflege. Ich habe für dieses betriebliche Gesundheitsmanagement keine Zeit mehr. – Ja, darauf müssen wir achten, dass wir den Leuten Zeit geben. Da müssen wir schauen, ob es, wie zum Beispiel bei Volkswagen, die Möglichkeit gibt, das innerhalb der Arbeitszeit zu machen. Aber wir haben den ersten Schritt gemacht mit der Regulierung.
Es wurde die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung angesprochen. Ja, erste Worte sind darin, die ich gut finde. Das sind die Worte „Diagnose“ und „Bewertung“. Denn eines ist in diesem Beruf ja auch wichtig: Respekt vor Verantwortung. Wir sind doch in einem Bereich, wo wir sagen: Pflegekraft, tue bitte deinen Job. – Wir setzen durch diese ersten Schritte, auch im Bereich der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung, Herr Minister, ganz klar das Signal: Wir wollen Verantwortung von ihnen. Ich glaube, da können wir die Pflegekräfte auch in Zukunft gut abholen. Denn eines ist sicher: 2035, 2045 werden wir nicht mehr die Ärzteabdeckung in Deutschland haben, die wir jetzt haben. Wir müssen uns also international umschauen und sehen, was passiert, wie das andere Staaten bereits erfolgreich machen.
Ich bin elf Sekunden über der Redezeit.
Ist okay.
Danke.
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– Nein.
Sie dürfen heute ein bisschen länger reden.
Das kostet ja nur wieder eine Runde für meine eigene Fraktion.
Nein, das wird nicht verrechnet.
Lange Rede, kurzer Sinn – das ist dann auch der Abschluss –: Die Wege, die wir jetzt gehen, sind gut. Wege sind manchmal unterschiedlich, und wir müssen schauen, was sich auf diesen Wegen noch einstellt. Noch mal: Politik ist ein lernender Prozess. Ich glaube, daran sollten wir uns ausrichten. Deshalb bin ich auch sehr froh über das, was Herr Lauterbach gesagt hat: Wir müssen schauen, was wir in Zukunft an Einfluss bekommen, und dann können wir justieren. Aber niemand macht doch jetzt darunter einen Schlussstrich und sagt: So ist es, und so bleibt es.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank, Dr. Kühne, und noch einen schönen Geburtstag. – Nächster Redner: Dr. Robby Schlund für die AfD-Fraktion.
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Ab jetzt gilt wieder die Redezeit ohne Wenn und Aber.
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Spahn! Sehr geehrte Kollegen!
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Werte Gäste auf den Rängen! Die Situation in der Krankenpflege im Krankenhaus spitzt sich weiter und immer dramatischer zu. Laut aktuellen Zahlen kommen auf 100 offene Stellen bundesweit nur 41 Arbeitslose. Vor allem in den Bundesländern Sachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen sprechen wir von einer außergewöhnlich kritischen Lage. Hier gibt es im Bereich der Altenpflege sogar nur noch 13 bis 14 Arbeitsuchende auf 100 offene Stellen. Welch ein Drama, besonders für meine Region und meine Heimat!
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13 000 neue Stellen sollen es im Bereich der Altenpflege sein. Ja, sicher ein dynamischer Anfang. Das muss man loben; aber am Ende ist es doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Nach einer Hochrechnung des Statistischen Bundesamtes braucht es aber bis 2025 sage und schreibe ungefähr 940 000 Pflegekräfte. Was nützen dann 13 000 Stellen, die nicht einmal zu 25 Prozent besetzt werden können, weil keine oder zu wenig Fachkräfte verfügbar sind. Aber okay, zugegeben: Die Stellen zu besetzen, ist sicher dann der zweite Schritt.
Zur besseren Finanzierung der Pflegestellen am Bett wollen Sie nun die anteiligen Pflegekosten am Relativgewicht der DRGs herauslösen und komplett separat vergüten. Seien wir doch mal ehrlich: Damit führen wir doch das komplette DRG-System ad absurdum, meine Damen und Herren. Seit der Einführung des DRG-Systems in Deutschland 2003 verursachte dieses German-DRG-System eine Verdreifachung der Kosten im Gesundheitswesen. Das DRG-System führte zu einer beispiellosen Abwertung des Patienten, zu Profitmaximierung und Kapitalisierung im Gesundheitswesen und zu einem abenteuerlichen Desaster in der Sicherstellung der Krankenhauspflege.
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Statt sich dafür zu entscheiden, ein unehrliches DRG-System abzuschaffen, doktern Sie weiter an den Symptomen herum. Was zunächst wie ein Befreiungsschlag aussieht, verkümmert dann zum Rohrkrepierer. Statt ein eigenes, moderneres, faireres und leistungsorientierteres Kostenvergütungssystem einzuführen, was auch die Pflege besser berücksichtigt, amputieren Sie an dem eh schon angeschlagenen DRG-System.
Aber was passiert denn eigentlich in den Krankenhäusern, meine Damen und Herren? Es führt bei den Krankenhäusern zur Reduktion der Fallpauschale und zur Reduktion des Case-Mix-Index. Das bedeutet, dass das Krankenhaus pro Fall weniger Vergütung erhält.
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Ab 2020 entfällt dann auch noch der Pflegezuschlag, eine Förderung. Spätestens hier merken wir, dass Ihre Initiative zu einer Mogelpackung verkommt, die das Problem nur verschiebt und nicht löst. Der Krankenhausversorgung werden damit jährlich 500 Millionen Euro entzogen. Das wollen wir nicht und das werden wir auch nicht mittragen, meine Damen und Herren.
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Die Krankenhäuser indes werden dazu veranlasst und ermutigt, weiterhin noch freudiger und noch atemberaubender Patienten blutig in die Reha zu verlegen. Aber dort, in der Reha, Herr Spahn, wirkt Ihr Pflegepersonal-Stärkungsgesetz erst gar nicht. Haben Sie den dadurch massiv zunehmenden Pflegeaufwand einfach übersehen? Inwieweit gedenken Sie, den dadurch entstehenden Tarif-, Rationalisierungs- und Kostendruck von anderen im Krankenhaus tätigen Berufsgruppen wie zum Beispiel Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden sozialverträglich zu gestalten?
Wir freuen uns schon jetzt über die Vorschläge zur Nachbesserung und die Diskussion im Gesundheitsausschuss. Einer Überweisung stimmt die AfD zu.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Danke schön, Dr. Schlund. – Nächste Rednerin: Sabine Dittmar für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz geht heute ein wichtiges Gesetz in die parlamentarische Beratung, das die Situation der Pflege in den Seniorenheimen und Krankenhäusern deutlich verbessern wird. Das ist auch dringend notwendig; denn wir alle wissen aus den vielfältigen Kontakten, die wir haben, dass viele, viele Pflegekräfte ausgebrannt sind, frustriert sind von kurzfristigen Dienstplanänderungen, von dem Holen aus der freien Zeit, was eine planbare Freizeitgestaltung überhaupt nicht mehr möglich macht. Dabei brauchen wir zufriedene, qualifizierte und motivierte Mitarbeiter. Die sind das A und O und die wichtigste Ressource, die wir in der professionellen Pflege haben.
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Genau dieses Thema gehen wir mit dem Gesetz an. Für die SPD spricht noch die Pflegebeauftragte, deshalb werde ich mich auf den Krankenhaussektor konzentrieren. Hier haben wir ja auch einiges zuwege gebracht. Jede zusätzliche und aufgestockte Pflegefachkraftstelle wird vollständig refinanziert. Ich meine hier wirklich jede; es gibt keinen Deckel nach oben. Die Tariflohnerhöhungen werden zu 100 Prozent refinanziert, und zwar rückwirkend für 2018. Die Finanzierung der Ausbildungsvergütung wird verbessert, Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird gefördert, und, was auch wichtig ist – der Kollege Roy Kühne hat es gesagt; übrigens herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag –, die betriebliche Gesundheitsförderung wird weiter ausgebaut. Mit dieser Verbesserung der Rahmen- und Arbeitsbedingungen werden wir eine ganze Menge erreichen.
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Ein ebenso starkes Signal ist das Herausrechnen der Pflegepersonalkosten aus den Fallpauschalen. In Zukunft wird im Rahmen von krankenhausindividuellen Pflegebudgets das vorhandene Pflegepersonal von den Krankenkassen vollständig refinanziert. Es wird also zukünftig nicht mehr möglich sein, an der Pflege zu sparen, um Rendite oder Geld für Investitionen zu erwirtschaften. Ich hoffe, dass wir mit diesen Maßnahmen erheblich zur Stärkung der Pflege beitragen. Dass wir dabei natürlich die ambulante Pflege oder auch die Rehabilitationskliniken – das ist von einigen Vorrednern schon angesprochen worden – nicht aus dem Blick verlieren dürfen, ist uns in der SPD-Fraktion klar. Wir werden im parlamentarischen Verfahren einen verschärften Blick auf diese Debatte haben, um Abwanderungen aus diesen Bereichen in die Krankenhäuser zu verhindern.
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Meine Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen, mit dem Gesetzentwurf führen wir auch ein neues Instrument für mehr Transparenz in der pflegerischen Versorgung ein. Der Pflegepersonalquotient wird für jedes einzelne Krankenhaus aufzeigen, ob es das Geld, das es rechnerisch für Pflege erlöst, auch tatsächlich für Pflege ausgibt. Schwarze Schafe werden dadurch sehr schnell identifiziert werden.
Allerdings denke ich, dass der Quotient lediglich den kalkulatorischen Durchschnitt abbildet und noch nicht den tatsächlichen Pflegebedarf der zu versorgenden Patientinnen und Patienten.
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Deshalb bin ich auch davon überzeugt, dass der Personalquotient allein nicht ausreichen wird, um eine qualitativ hochwertige pflegerische Versorgung zu gewährleisten. Er sorgt für mehr Transparenz – das ist gut –, genauso wie die Pflegepersonaluntergrenzen gefährliche Zustände in der Pflege vermeiden. Aber weder das eine noch das andere kann an sich das sicherstellen, was uns das Krankenhausfinanzierungsgesetz garantiert, nämlich eine hochwertige qualitative Versorgung. Deshalb meine ich, dass wir im parlamentarischen Verfahren sehr intensiv darüber diskutieren müssen, ob die Zusage des Gesetzgebers, alle Pflegestellen vollumfänglich zu finanzieren, tatsächlich ausreicht, um diese qualitativ hochwertige Pflege zu gewährleisten, oder ob wir weitere Personalbemessungsinstrumente brauchen, so wie wir sie in der Altenpflege und in der Psychiatrie auch schon haben.
({4})
Ich bin davon überzeugt: Hierüber werden wir sehr leidenschaftlich diskutieren.
Ich sehe, meine Redezeit ist abgelaufen. Ich hätte gerne noch den Krankenhausstrukturfonds gelobt, –
Nein.
– aber das mache ich dann bei der zweiten und dritten Lesung.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dittmar. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion: Dr. Andrew Ullmann.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Freunde im Gesundheitswesen! Ja, die gesundheitspolitischen Themen sind richtig gesetzt, und die Probleme sind auch erkannt. Aber wie sehen die Lösungen aus? Es muss unser politisches Ziel sein, stabile Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Pflegekräfte Zeit für ihre Patienten haben. Mit der Personaluntergrenze setzt das Gesundheitsministerium jedoch einen weiteren Stein auf die Mauer der Planwirtschaft,
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die unser Gesundheitssystem in Ineffizienz, in Inflexibilität und in Innovationsangst gefangen hält.
({1})
Ich will einmal versuchen, das zu erklären. Die Personaluntergrenze setzt ganz klar die falschen Anreize. Sie gefährdet den Personalmix in den Krankenhäusern und begünstigt vor allem die Schließung von Intensivbetten. Das ist kein Weg in eine zukunftsorientierte und vor allem nachhaltige Gesundheitsversorgung.
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Die Finanzierung, meine Damen und Herren, der Pflege ist ein wichtiger Punkt. Aber die Streichung des Pflegezuschlags macht die gesamte Berechnung zu einem Nullsummenspiel. Was ist mit den anderen, die im Gesundheitssystem, vor allem im Krankenhaus, arbeiten? Prekär wird es nicht nur in der Kranken- und Altenpflege, sondern auch bei Physiotherapeuten, Hebammen, medizinisch-technischen Assistenten, Ärzten und vielen anderen.
Sie, Herr Spahn, versetzen mit Ihrem Gesetzentwurf dem System der Fallpauschalen den Todesstoß,
({3})
indem Sie die Pflegekosten herausnehmen. Für mich ist es absolut nicht nachvollziehbar, dass stattdessen nicht dafür gesorgt wurde, die Fehlanreize der Fallpauschalen zu beseitigen
({4})
und wirklich ein lernendes System im Interesse der Patientinnen und Patienten zu schaffen.
Letztens sagte eine Krankenhausdirektorin in verschiedenen Diskussionsrunden über Personaluntergrenzen und Sanktionen zu mir: Stellen Sie mir die Pflegekräfte vor die Tür. Ich stelle sie alle ein. – Aber das kann die Bundesregierung nicht. Es gibt sie einfach nicht. Der Arbeitsmarkt ist leergefegt. Die Krankenhäuser werden daher Intensivbetten schließen müssen, um Sanktionen zu vermeiden. Das kann doch nicht die Lösung sein.
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Sehr geehrte Damen und Herren, in der Medizin unterscheiden wir zwischen kausaler und symptomatischer Therapie. Was hier aber vorliegt, ist das reine Herumdoktern an den Symptomen. Woher kommt eigentlich das Problem der Arbeitsverdichtung und die hiermit verbundene Unzufriedenheit des Krankenhauspersonals? Das liegt klar am Versagen der dualen Krankenhausfinanzierung. Dadurch, dass diese versagt, werden die Krankenhäuser daran gehindert, Investitionen vernünftig zu finanzieren. Das wiederum führt zu dem Druck, beim Personal und auch bei den Patienten zu sparen. Aber das ist kein Problem, das plötzlich aufgetaucht ist; denn seit Jahren drücken sich die Länder davor, ihrer finanziellen Verpflichtung für die Krankenhäuser vollständig nachzukommen.
Wir, die Fraktion der Freien Demokraten, wollen eine kausale und nachhaltige Finanzierung, das heißt eine solide und verlässliche Finanzierung der Krankenhäuser.
({6})
Wenn diese auf Länderebene weiterhin scheitert, dann müssen wir konsequenterweise über die Kompetenz der Länder in diesem Bereich nachdenken.
Alles in allem muss ich leider diagnostizieren: Was Sie hier vorlegen, Herr Minister, hat die nachhaltige Wirksamkeit von Globuli. Deswegen hoffe ich auf massive Nachbesserung für unsere Patientinnen und Patienten und alle im Gesundheitswesen Tätigen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Ullmann. – Nächster Redner: Dr. Georg Nüßlein für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst bin ich Herrn Ullmann, meinem Vorredner, durchaus dankbar, dass er deutlich unterstrichen hat, dass das problematische Verhalten der Länder im Grunde einen wesentlichen Teil der Schwierigkeiten ausmacht, über die wir hier diskutieren. Es ist ja so, dass die Länder ihrer Finanzierungspflicht nicht in dem Ausmaß nachkommen, wie sie es tun sollten. Das muss man vorab an einer solchen Stelle einmal deutlich sagen.
Nun bringt es nichts, wenn man hier Krisenszenarien aufmacht, wie das gelegentlich die Opposition tut. Man könnte das Thema auch von einer anderen Seite betrachten; dann würde man feststellen, dass trotz der konjunkturellen Ausnahmelage, in der der Arbeitsmarkt nicht nur im Pflegebereich, sondern auch in anderen Bereichen leergefegt ist, die Zahl der Beschäftigten in der Pflege und die der Auszubildenden steigt. Das zeigt doch deutlich: Ein Beruf, bei dem es in besonderer Weise auf Empathie ankommt, hat auch dann Zukunft, wenn die Wirtschaft gut läuft.
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Die Ausgangslage ist: Mit den Maßnahmen, die wir ergreifen wollen, haben wir eine Chance, das Thema voranzubringen. Wir haben in der letzten Legislatur viel Gutes getan für diejenigen, die gepflegt werden, und wir werden in dieser Legislatur die andere Seite nachziehen und eine ganze Menge dafür tun, dass die Arbeitsbedingungen und auch die Bezahlung von Pflegekräften besser werden.
Wir sind noch ganz am Anfang. Wir werden das miteinander diskutieren. Ich möchte in diesem Zusammenhang deutlich machen, dass das Herzstück der Reform, über die wir heute debattieren, die Herausnahme der Pflegepersonalkosten aus den DRGs darstellt. Ich fand es bemerkenswert, wie der Kollege von der AfD die Kurve gekriegt hat, nach seiner Kritik an den DRGs im Allgemeinen diesen Schritt trotzdem zu kritisieren; das ist schon eigentümlich, muss ich ganz ehrlich sagen. Er hätte auch lobend sagen können: Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, nämlich überzugehen in eine Selbstkostenfinanzierung des Pflegepersonals, die Herausnahme aus dem wirtschaftlichen Druck, der von den DRGs ausgehen soll. Mit Verlaub: Das mit dem Druck funktioniert nicht; die DRGs haben an der Stelle jedenfalls nicht zur Kostenreduzierung beigetragen. Das muss man an dieser Stelle deutlich so sagen.
Wir finanzieren die Pflegekräfte auf Selbstkostenbasis und sorgen dafür, meine Damen und Herren, dass wir die einzelnen Pflegekräfte auch tatsächlich bezahlen können. Und weil immer sofort gesagt wird, dass das zu ausufernden Kosten führen wird: Das Limit ist der Arbeitsmarkt. Das muss man in aller Klarheit sagen. Die Problematik, dass man nicht jede gewünschte Stelle besetzen kann, ist uns klar.
Ich gehe davon aus, dass die Personalkosten in der Patientenversorgung künftig besser und unabhängig finanziert werden. Mir liegt daran, im parlamentarischen Verfahren dafür zu sorgen, dass wir kein paralleles, separates DRG-System für die Pflegepersonalkosten aufbauen.
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Ich bin sehr kritisch in Bezug auf die Rolle, die das InEK in Zukunft spielen soll.
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Das halte ich auch unter Bürokratiegesichtspunkten für unnötig, wenn man sich einig ist, wie man das Ganze bezahlen soll. Im Gegenteil: Ich gehe davon aus, dass man über den Pflegezuschlag, der, kommend vom Versorgungszuschlag, 500 Millionen Euro ausmacht, noch einmal diskutieren muss. Zunächst mag es naheliegend sein, die 500 Millionen Euro für Personal zu verwenden. Aber im Sinne der Reform bringt es nichts, wenn wir am Ende feststellen, dass die Mehraufwendungen durch die 500 Millionen Euro überkompensiert werden.
Wir werden im parlamentarischen Verfahren an mancher Stelle noch diskutieren müssen, um am Schluss mit der Reform einen Beitrag dazu zu leisten, dass wir Personalkosten ordentlich und umfassend finanzieren können und sich niemand Sorgen machen muss, dass es an den Kosten scheitert, meine Damen und Herren.
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Das Wort hat der Abgeordnete Mario Mieruch.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Beitragszahler! Liebes Pflegepersonal! Vollmundig wird dieser Tage verkündet, was man alles tut und dass doch alles besser wird. Und ja, es ist schön, dass Themen angepackt werden, und gerade Gesundheit ist einfach so wichtig für uns alle, für jeden persönlich, dass es sich lohnt, ganz genau hinzuschauen.
Zuerst sei noch einmal daran erinnert, dass auch das Gesundheitswesen eine Dienstleistung gegenüber dem Steuer- und dem Beitragszahler ist. Er hat heute aber kaum mehr eine Chance, den Dschungel an Gesetzen und Regularien zu verstehen, und auch der vorliegende Entwurf trägt nicht unbedingt dazu bei, dass sich das ändert. Nur eins ist klar – das hat der Herr Minister Spahn unlängst deutlich artikuliert –: Die Beiträge werden am Ende für alle steigen.
Das so vereinnahmte Geld soll also in allererster Linie zusätzlich den aufgestockten Stellen zugutekommen. Nur: Was ist eigentlich mit den Zigtausenden bereits vorhandenen offenen Stellen, die es schon gibt, die gar nicht mehr geschaffen werden müssen, die aber entweder nicht besetzt werden konnten, weil das Personal fehlte, oder die man nicht besetzen wollte, weil man Kosten sparen und das Ganze auf Effizienz trimmen wollte? Was ist mit den vielen Tausend MTAs, den OTAs, den ATAs usw., von denen im Alltag faktisch das Gleiche erwartet wird wie von den examinierten Kräften, deren Ausbildung aber auch nach gut 25 Jahren immer noch nicht staatlich anerkannt ist? Da geht es nicht immer nur um Geld, da geht es auch um Wertschätzung des Personals.
Mehr Geld für die Azubis ist sicherlich begrüßenswert. Aber was bringt es, wenn man durch gesunkene Anforderungen aufgrund der jüngsten Änderungen der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung einfach mehr Abschlüsse erreichen will und echte Spezialisierung eher verhindert als sie fördert? Dahin gehend ist im Gesetzentwurf völlig realitätsfremd formuliert, dass Pflegekräfte innerhalb desselben Einrichtungsträgers flexibel eingesetzt werden können sollen. Die Unterschiede in den Fachfunktionsbereichen, von der Station über Neurochirurgie, Herz-Thorax-Chirurgie, moderne Hybrid-OPs usw., sind so gravierend, dass es die entsprechenden Spezialisten einfach braucht. Auf die kann nicht verzichtet werden, will man die hohen qualitativen Standards halten. Während es Fachärzte mit entsprechender Spezialisierung gibt, soll das Pflegepersonal wieder möglichst pauschal alles abdecken können. Wären hier echte Praktiker am Werk, wäre Ihnen spätestens an dieser Stelle etwas aufgefallen.
Will man wirklich etwas für die derzeitigen Pflegekräfte verbessern, sei dem Ausschuss angeraten, die zahlreichen sinnvollen Anregungen, die heute schon vorgetragen worden sind, und auch die Themen, die ich gerade genannt habe, eingehend zu beleuchten und wirkungsvoll anzupacken.
Vielen Dank.
Das Wort hat für die SPD-Fraktion die Kollegin Heike Baehrens.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir gehen als Koalition konsequent weiter den Weg, Schritt um Schritt für bessere Rahmenbedingungen in der Pflege zu sorgen.
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Da vorhin kritisiert wurde, dass es diesmal nicht um die ambulante Pflege geht, sei Ihnen gesagt: In allen Gesetzen bisher war der Schwerpunkt „ambulant vor stationär“, und jetzt ist tatsächlich mal der stationäre Bereich mit den Krankenhäusern und Pflegeheimen dran.
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Auf dem Fundament der Pflegestärkungsgesetze I bis III, die wir in der letzten Legislaturperiode auf den Weg gebracht haben, lässt sich aufbauen; denn wir haben mehr und flexiblere Leistungen in der ambulanten Pflege geschaffen, wir haben den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt, wir haben eine große Ausbildungsreform auf den Weg gebracht, um den Pflegeberuf für die Zukunft fit zu machen, und jetzt konzentrieren wir uns darauf, das Pflegepersonal in den Krankenhäusern und Pflegeheimen zu stärken.
Ja, es ist notwendig, den Arbeitsalltag und die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte Schritt um Schritt zu verbessern. Darum wird es Mittel geben für die Prävention und Gesundheitsförderung in den Einrichtungen. Wir fördern die Digitalisierung in den ambulanten Diensten und Einrichtungen; denn so lässt sich die Arbeit in Zukunft besser und einfacher dokumentieren. Es geht um weniger Bürokratie und um mehr Zeit für die Pflege. Darauf warten die Pflegekräfte.
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Darum fördern wir auch Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf. Ob es richtig ist, dies aus Versichertenmitteln zu finanzieren, oder ob wir an der Stelle nicht eigentlich Steuermittel einsetzen sollten, darüber werden wir noch weiter diskutieren müssen. Aber vor allem schaffen wir 13 000 neue Stellen in den Pflegeheimen. Das ist gut für die Menschen, die gepflegt werden, und das ist gut für die Pflegekräfte.
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Das Entscheidende bei diesen 13 000 Stellen ist, dass sie aus Mitteln der Krankenversicherung finanziert werden. Es ist ein erster Schritt, um einen Webfehler im Pflegeversicherungsgesetz ein Stück weit zu flicken. So wird eine Urleistung der Krankenversicherung, die medizinische Behandlungspflege, zukünftig tatsächlich aus der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert. Das ist wichtig, weil dann die Pflegebedürftigen durch diese 13 000 Stellen nicht zusätzlich finanziell belastet werden.
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Wir wollen die Fachkräfte stärken. Deshalb müssen wir – es ist vorher schon erwähnt worden; und, Herr Minister, es ist uns wichtig, Ihnen das ans Herz zu legen – intensiv über die Regelung reden, die Sie jetzt noch in den Gesetzentwurf hineingebracht haben, über die Regelung, dass die neugeschaffenen Stellen gegebenenfalls auch durch Hilfskräfte besetzt werden können. Das halten wir nicht für sachgerecht; denn während es einen Mangel an Fachkräften gibt, haben wir keinen Engpass bei den Hilfskräften. Bundesweit kommen auf ungefähr 100 Stellen für Altenpflegehelfer 522 Arbeitsuchende. Das heißt, diese Stellen würden automatisch mit Hilfskräften besetzt. Das kann aber nicht sein, weil es um Leistungen der medizinischen Behandlungspflege geht, die von Fachkräften zu erbringen sind.
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Deshalb: Bleiben Sie lieber bei Ihrem Vorschlag zur Aufstockung von Teilzeitarbeit; denn es geht darum, die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in der Pflege dazu zu bewegen, ihrem Personal auch Vollzeitstellen anzubieten. Noch immer werden fast alle Stellen als Teilzeitstellen ausgeschrieben, obwohl viele Menschen gerne mehr arbeiten möchten. Da liegt der Schlüssel für die Lösung zumindest mancher Probleme. Ich bin sicher, auf diesem Wege können wir die 13 000 Stellen tatsächlich besetzen.
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Ich komme zum Schluss. Das Vertrauen in die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege wächst dann, wenn es gelingt, Schritt um Schritt voranzukommen. Pflege braucht ein starkes Signal der politischen Handlungsfähigkeit. Dieser Gesetzentwurf – davon gehe ich fest aus – ist ein starkes Signal für die Öffentlichkeit und für die Pflege. Lassen Sie uns im parlamentarischen Verfahren an weiteren Verbesserungen arbeiten. – Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Lothar Riebsamen für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Obwohl wir das Pflegepersonal in Deutschland seit Einführung der Pflegeversicherung verdoppelt haben, haben wir nach wie vor ein Problem, und da stehen wir aufgrund der demografischen Entwicklung eigentlich erst am Anfang. Deswegen ist es wichtig, dass wir mit diesem Gesetz einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Lösung des Problems gehen.
In drei Ansätzen wird das in diesem Gesetz adressiert. Zunächst geht es darum, den Pflegeberuf noch attraktiver zu machen; mit der Ausbildung haben wir schon einiges getan. Es geht darum, flächendeckend in ganz Deutschland eine bessere Bezahlung für das Pflegepersonal zu gewährleisten. Es geht darum, mehr Personal auf die Stationen zu bekommen. Das dient in erster Linie den Patientinnen und Patienten, aber genauso auch dem Pflegepersonal, das dann wieder weiß: Wir können den Dienstplan verlässlich einhalten, wir werden nicht aus der Freizeit, aus dem Urlaub oder aus dem Wochenende zurückgerufen. – Das ist ein ganz entscheidender Punkt, um Pflegeberufe attraktiver zu machen.
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Der zweite Punkt: Pflegekräfte sind ein knappes Gut. Deswegen wird in diesem Gesetz adressiert, dass wir sie nur für adäquate Aufgaben einsetzen und nicht für Hilfsaufgaben und für Serviceleistungen.
Der dritte Punkt: All dies muss finanziert werden. Deswegen ist es richtig, dass wir die Krankenhäuser mit diesem Gesetz in die Lage versetzen, die von mir angesprochenen Punkte auch zu finanzieren: durch einen vollen Tarifausgleich in der Pflege, durch die Finanzierung jeder zusätzlichen Kraft, die wir in der Pflege einstellen.
Aber es stellt sich auch die Frage: Warum ist in dieser Weise Handlungsbedarf entstanden, von der Demografie einmal abgesehen? Ja, wir müssen schon einräumen – ich bin bekanntlich kein Gegner des Fallpauschalensystems –, dass das Fallpauschalensystem im Bereich der Pflege ein zu scharfes Schwert war und insbesondere die Pflege darunter gelitten hat.
Wenn wir nun die Kosten der Pflege in ein Budget überführen, das hausindividuell ermittelt wird, dann können wir die Fehler auf diese Weise korrigieren – das ist richtig –; aber wir müssen auch aufpassen – das gehört schon zur Wahrheit –, dass wir die Dinge, die in der Vergangenheit positiv waren – Fallpauschalen hin oder her –, nicht vergessen.
Dabei denke ich insbesondere an das Thema Verweildauern. Man stelle sich vor, wir hätten heute noch die Verweildauern, die Pflegetage von vor 15 Jahren. Dann würden wir nicht von einem Pflegenotstand reden, sondern von einer Pflegekatastrophe.
({1})
Deswegen müssen wir auch in der neuen Welt der Pflegefinanzierung die richtigen Anreize setzen, damit wir zukünftig nicht wieder umgekehrt unterwegs sind.
Es ist richtig, dass wir Prozesse optimieren, dass wir das fortsetzen, was wir in den letzten 15 Jahren gemacht haben. Ich habe es schon anklingen lassen: Durch Digitalisierung, durch Arbeitsteilung, durch Prozessinnovationen in der Pflege können wir den Pflegeberuf entlasten.
Strukturen wurden verbessert. Wir haben die Länder angesprochen, die ihrer Verpflichtung bei der Finanzierung von baulichen Maßnahmen nicht nachkommen. In dem Gesetz haben wir eine Vervielfachung des Strukturfonds vorgesehen. Wir werden uns nicht bei baulichen Maßnahmen, aber bei der Strukturverbesserung und der Digitalisierung einbringen.
Ich bitte sehr darum, dass wir – das müssen wir im parlamentarischen Verfahren ganz klar diskutieren – all die Krankenhäuser, die geliefert haben, die gut unterwegs sind, jetzt nicht im Stich lassen, weil sie Dinge auch aus Einsparungen finanziert haben. Das muss in den Krankenhäusern bleiben. Und für die, die bisher noch nichts getan haben – die gibt es auch –, müssen wir zukünftig entsprechende Anreize setzen, damit sie ihren Aufgaben und Verpflichtungen nachkommen.
Das Gesetz bietet die Möglichkeit dafür. Ich freue mich auf das weitere parlamentarische Verfahren, um vor allem in diesen Punkten vielleicht noch eine Nachsteuerung in dem Gesetz zu erreichen. – Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/4453, 19/4537, 19/4523 und 19/4524 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Klimakrise ist nichts Abstraktes, das irgendwo weit weg passiert. Spätestens seit diesem Sommer ist deutlich: Sie ist bei uns in Deutschland angekommen. Die Dürre, ausgefallene Ernten, Waldbrände, all das sind Vorboten einer drohenden Heißzeit. Doch wo bleiben die politischen Konsequenzen, um diese Krise zu bekämpfen? Wo bleibt der Krisengipfel? Wo bleibt das Rettungsprogramm für unser Klima, unsere Lebensgrundlagen? Wo sieht man Handlungen dieser Bundesregierung?
({0})
Warum demonstrieren jeden Sonntag Tausende vor allem junger Menschen am Hambacher Wald? Weil sie sich Sorgen machen um den Klimaschutz und damit um ihre eigene Zukunft. Weil sie frustriert sind, dass der Klimaschutz nicht konsequent umgesetzt wird.
({1})
Wer heute jung ist, wird, wenn wir nicht konsequent umsteuern, noch in einer Welt leben müssen, in der erhebliche Teile unseres Planeten unbewohnbar werden,
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in der Dürren, Waldbrände und Überflutungen alltäglich werden, in der Millionen von Menschen zu Klimaflüchtlingen werden, in der Kriege und Konflikte durch die Klimakrise angeheizt werden.
({3})
Leider steuern wird gerade in voller Fahrt auf eine solche Welt zu.
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Denn obwohl sich die Weltgemeinschaft auf die Bekämpfung der Klimakrise verständigt hat, steigt die Verschmutzung der Atmosphäre mit Treibhausgasen weiter an. Obwohl Deutschland sich zum Klimaschutz verpflichtet hat, ist Deutschland Weltmeister beim Verbrennen von Braunkohle, der schmutzigsten aller Energieformen. Und obwohl sich die Bundesregierung zum Klimaschutz verpflichtet hat, wird sie ihr selbstgesetztes Klimaschutzziel 2020 krachend verfehlen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen beweisen, dass wir etwas tun wollen und tun können
({6})
gegen diese so vorhersehbare wie vermeidbare Krise. Noch – noch! – haben wir alle Chancen, deutlich unter 2 Prozent zu bleiben. Deshalb schlagen wir Ihnen vor, den Klimaschutz im Grundgesetz zu verankern.
({7})
Der Klimaschutzvertrag von Paris ist einer der bedeutendsten Verträge, die die Weltgemeinschaft je geschlossen hat.
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Er muss jetzt schnell umgesetzt werden.
({9})
Es sind sich doch hier im Haus alle – außer ein paar Realitätsverweigerer von ganz rechts außen – einig, dass wir dieses Ziel erreichen wollen und erreichen können.
({10})
Wenn andere Staaten sich aus internationalen Abkommen zurückziehen, können wir zeigen, dass wir die internationale Zusammenarbeit ernst nehmen.
Kollege Hofreiter, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung?
Ja.
({0})
Vielen Dank, Herr Hofreiter, und vielen Dank, Frau Präsident. – Ihnen ist sicherlich bekannt, dass für den Einstieg ins Erneuerbare-Energien-Gesetz bereits 130, 140 Milliarden Euro aufgewendet worden sind. Derzeit werden von den deutschen Stromverbrauchern 27 Milliarden Euro jährlich aufgewendet. Eine Auswirkung im Hinblick auf den Anstieg des CO 2 -Ausstoßes ist nicht nachweisbar. Das heißt, nach 18 Jahren Energiewende müssen wir konstatieren, dass wir nicht den geringsten Effekt der Bemühungen erkennen können. Nachdem jetzt also quasi das Scheitern der Bemühungen erkennbar ist, wollen Sie die Anstrengungen in die falsche Richtung verdoppeln. Sehe ich das richtig?
Das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das dafür gesorgt hat, dass sauberer Strom bezahlbar wird, ist einer der größten Erfolge, den die Bundesrepublik je erzielt hat.
({0})
Denn Sie müssen sich vorstellen: Damals, als das Erneuerbare-Energien-Gesetz eingeführt worden ist, hat die Kilowattstunde Strom noch 99 Pfennig gekostet.
({1})
– 99 Pfennig die Kilowattstunde Photovoltaikstrom; das war nahezu unbezahlbar.
({2})
– Ja, Sie lachen, weil Sie sich offensichtlich nicht auskennen.
({3})
99 Pfennig, so hoch war damals – auch wenn Sie das nicht wissen – die Einspeisevergütung pro Kilowattstunde Photovoltaik. Niemand hätte gedacht, dass das Erneuerbare-Energien-Gesetz ein solch gigantischer Erfolg werden kann.
({4})
Denn was ist innerhalb von nur 15 Jahren passiert? Die Kilowattstunde Photovoltaikstrom wird bei uns inzwischen für 5 bis 6 Cent je Kilowattstunde produziert,
({5})
in sonnenreichen Ländern für 1,5 Cent. Noch nie konnte Strom irgendwo auf der Welt so kostengünstig produziert werden.
({6})
Da sehen Sie, was man durch kluge Rahmensetzung erreichen kann. Da sehen Sie, was man erreichen kann, wenn man klugen Ingenieurinnen und Ingenieuren die entsprechenden Möglichkeiten gibt. Seien Sie nicht immer so defätistisch und feige! Trauen wir uns gemeinsam an eine kluge Rahmensetzung heran! Dann sind die Probleme der Welt lösbar.
({7})
Damit kommen wir zu einer weiteren klugen Rahmensetzung, nämlich zu Klimaschutz im Grundgesetz. Klimaschutz im Grundgesetz wird helfen, die Klimaschutzziele der Bundesregierung zu erreichen. Es wird helfen, die Klimaziele 2020, 2030 und 2050 zu erreichen. Es wird die Arbeit der Kohlekommission unterstützen. Die Verankerung von Klimaschutz im Grundgesetz führt zu Klarheit und Planungssicherheit.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, durch diese Klarheit und Planungssicherheit ist es sogar eine Unterstützung für die Arbeiterinnen und Arbeiter im Bereich der Kohle.
({9})
Wir haben doch Erfahrungen mit Grundgesetzänderungen. Denken wir an die Schuldenbremse: Sie war umstritten, und man kann darüber streiten, ob sie klug ausgestaltet ist. Aber sie führt dazu, dass nachfolgende Generationen weniger Schulden haben. Hier geht es darum, dass wir nachfolgenden Generationen keinen Planeten im Zustand der Dauerkrise hinterlassen.
({10})
Damit ist Klimaschutz eine der zentralen Fragen der Generationengerechtigkeit.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ich glaube, wir sind uns doch darin einig, dass wir den nachfolgenden Generationen keine zerstörte Heimat hinterlassen wollen, oder?
({12})
Die Klimakrise, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist neben dem Artensterben die größte ökologische Bedrohung für unsere Lebensgrundlagen. Es ist deshalb eine der vorrangigsten Aufgaben unserer Generation und die Verantwortung aller, die wie hier tätig sind, zu verhindern, dass diese Klimakrise zur Klimakatastrophe wird, und die Klimakatastrophe abzuwenden. Deshalb: Klimaschutz ins Grundgesetz!
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind, wie man in diesem Sommer merken konnte, die erste Generation, die die Auswirkungen der Klimakrise spürt.
({14})
Wir sind gleichzeitig die letzte Generation, die etwas dagegen unternehmen kann. Gemeinsam können wir – die demokratisch gesinnten Abgeordneten in diesem Haus; Sie von der AfD zähle ich nicht dazu – etwas erreichen.
({15})
Deshalb bitte ich Sie wirklich von Herzen: Einigen wir uns im folgenden Verfahren darauf, dass Sie dem Vorschlag „Klimaschutz ins Grundgesetz“ zustimmen.
Vielen Dank.
({16})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Abgeordnete Philipp Amthor das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach Ihrer Rede, Herr Hofreiter, wende ich mich jetzt erst einmal dem Inhalt Ihres Gesetzentwurfes zu; dazu haben Sie nämlich nicht so viel gesagt. Sie haben hier heute eine große Predigt für den Klimaschutz gehalten. Das ist ja schön und gut. Aber Sie haben einen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes eingebracht. Damit möchte ich mich etwas näher auseinandersetzen. Denn ich finde: So emotional die Debatte sicherlich noch wird, sollten wir uns mit Blick auf Ihren Gesetzentwurf fragen: Worüber sollten wir hier eigentlich streiten und worüber nicht?
Für uns ist völlig klar: Wir brauchen nicht darüber zu streiten, dass Klimaschutz eine wichtige staatliche Aufgabe ist, und wir brauchen auch nicht darüber zu streiten, dass er eine wichtige Bedeutung für die Gesellschaft hat. Aber wir sollten über den Inhalt Ihres Gesetzentwurfes streiten; das ist nämlich eine verfassungspolitische Fragestellung.
({0})
Immer wenn man das Grundgesetz ändern will, sollte man sich vielleicht die Frage stellen: Braucht man das, und was bringt das? Ich greife gleich vorweg – Sie haben zum Inhalt Ihres Gesetzentwurfes ja nichts gesagt –: Damit wir über die Änderungen des Grundgesetzes reden können, möchte ich für die Kollegen noch einmal zusammentragen, was genau Sie wollen.
Sie wollen vier Dinge: Sie wollen erstens die Staatszielbestimmung in Artikel 20a des Grundgesetzes konkretisieren – mit Klimaschutz – und wollen völkerrechtlichen Verträgen eine neue Verbindlichkeit geben.
({1})
Sie wollen zweitens die Gesetzgebungskompetenz des Bundes im Bereich Klimaschutz ausweiten.
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Sie wollen drittens den Verbrauchsteuerbegriff in Artikel 106 Grundgesetz verändern, weil Sie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Kernbrennstoffsteuer irgendwie nicht so richtig akzeptiert haben. Und Sie wollen sich viertens dann noch ein schönes Denkmal setzen, indem Sie ins Grundgesetz schreiben: Ja, die Erzeugung von Kernenergie ist verboten.
({3})
– Das ist schön. Ich finde es gut, dass ich noch dazu beitragen konnte, dass Sie wissen, was in Ihrem Gesetzentwurf steht.
({4})
Bei dem Gesetzentwurf fragt man sich ja: Braucht man das? Was bringen Ihre Vorschläge? Ich sage Ihnen eines: Ihre Vorschläge bringen nichts. Ihre Vorschläge bringen in der Umsetzung null Verbrauch von CO 2 weniger. Das, was Sie uns hier vorlegen, ist eigentlich nur ein von reiner Ideologie geprägter Schaufensterantrag. Ich sage Ihnen, für Ihre Ideologie ist uns unser Grundgesetz zu schade, liebe Kollegen.
({5})
Dass das reine Symbolpolitik ist, kann man ziemlich klar erklären, wenn man sich mal rechtsdogmatisch damit auseinandersetzt.
Kollege Amthor – –
Ja?
Ich habe die Uhr angehalten. Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?
Ja, gerne.
({0})
Lieber Kollege Amthor, ist Ihnen bekannt, dass der bayerische Ministerpräsident, an dessen Seite Sie ja sicher im Wahlkampf stehen, heute verkündet hat, dass er den Klimaschutz in die bayerische Verfassung aufnehmen will? Unterstützen Sie sein Anliegen?
Ja.
Unterstützen Sie heute unseren Gesetzentwurf? Das wäre ja die Linie Ihres Ministerpräsidenten.
({0})
Ich finde es sehr gut, dass Sie Markus Söder ansprechen; er ist in der Tat ein sehr kluger Kollege.
({0})
Er hat sich im Gegensatz zu Ihnen mit der bayerischen Landesverfassung auseinandergesetzt. Die bayerische Landesverfassung ist etwas anderes als das Grundgesetz. Die Aufnahme der Staatszielbestimmung Klima und Umwelt in die Landesverfassung ist nicht so umfangreich wie die ins Grundgesetz. Deswegen ist es eine kluge Sache, dass Markus Söder das vorschlägt. Aber Markus Söder ist Jurist, er kennt das Grundgesetz und die bayerische Landesverfassung – Sie scheinbar nichts von beidem.
({1})
Deswegen will ich Ihnen das auch noch mal erklären.
({2})
Herr Hofreiter, Sie haben gesagt, wir müssen den Klimaschutz ins Grundgesetz aufnehmen. – Der steht da längst drin, und das seit vielen Jahren. Das steht sogar in Ihrem eigenen Gesetzentwurf. Wir haben mit Artikel 20a des Grundgesetzes als Staatszielbestimmung Nachhaltigkeit und Schutz der natürlichen Ressourcen. All das wird jetzt schon durch das Grundgesetz geschützt, steht selbst in Ihrem eigenen Gesetzentwurf.
Die Neuerung ist nicht, den Klimaschutz aufzunehmen – der steht schon drin; das folgt auch aus den Grundrechten; hätte man einfach mal zur Kenntnis nehmen können –, der entscheidende Punkt, den Sie jetzt wollen, ist, das Pariser Klimaabkommen oder völkerrechtliche Verträge zum Klimaschutz auf eine verfassungsrechtliche Ebene zu heben.
({3})
Das klingt ja sehr schlau.
({4})
Aber wissen Sie, was das Gute ist? Die gelten auch heute schon. Denn natürlich haben wir durch das Ratifikationsgesetz zum Pariser Klimaabkommen schon heute eine vollständige Übernahme in unser Rechtssystem, und wir haben gleichzeitig, weil die Europäische Union dem Klimaabkommen beigetreten ist, sozusagen eine doppelte Bindung über das Europarecht.
({5})
Ich kann Ihnen sagen, das bringt von der Sache her gar nichts, das ist eine völlig überflüssige Klarstellung. Sie wollen sich hier nur im Grundgesetz verewigen. Das bringt in der Sache niemanden voran, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Ich sage Ihnen noch eines: Das Völkerrecht ist die richtige Ebene, um das Thema Klimawandel anzugehen. Sie sind doch selbst immer so weltoffen. Dann sehen Sie vielleicht, dass man ein Phänomen wie den Klimawandel nicht isoliert auf nationaler Ebene lösen kann, sondern die richtige Ebene dafür sind völkerrechtliche Konventionen. Ich kann Ihnen nur sagen: Das, was Sie dort machen wollen, passt überhaupt nicht in das System des Völkerrechts und des Grundgesetzes. Denn warum sollen Klimaabkommen einen verfassungsrechtlichen Rang haben und alle anderen Abkommen wie beispielsweise die Genfer Flüchtlingskonvention, die Ihnen sonst so wichtig ist, dann normhierarchisch darunter stehen?
({7})
Das macht überhaupt keinen Sinn. Sie hätten sich damit vorher mal beschäftigen können. Das ist reine Symbolpolitik. Sie wollen diese Debatte heute führen, damit Sie ein kleines Schmankerl für Ihre grüne Parteibasis haben. Das sei Ihnen gegönnt. Schlau ist die Debatte nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({8})
Ich will das, vielleicht jenseits des Staatsziels, noch mal an anderen Stellen deutlich machen.
({9})
Sie wollen ein Verbot der Kernenergie in der Verfassung regeln.
({10})
Noch mal: Die Verfassung ist keine Pinnwand für Ihre ideologischen Ideen!
({11})
Wir brauchen das nicht. Wir haben es auch so geschafft, den Ausstieg aus der Kernenergie zu beschließen. Hier mit einer Übergangsregelung in den Verfassungstext einzugreifen, da kann ich Ihnen nur sagen: Haben Sie ein bisschen mehr Respekt vor der Verfassung! Das würde Ihnen guttun! Die Verfassung taugt nicht für Symboldebatten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({12})
Das geht im Prinzip immer so weiter. Bei der Verbrauchsteuer ist das ja genauso ein Thema. Wenn Sie sich mal näher damit beschäftigt haben,
({13})
wie es mit der Besteuerung von CO 2 aussieht, dann hätten Sie vielleicht auch zur Kenntnis genommen, dass Sie dafür keine Grundgesetzänderung brauchen. Ich habe den Eindruck, Sie schlagen das einfach noch mal vor, um solche tollen Thesen aufzustellen wie etwa, dass man den Verbrauch von Luft besteuern muss. Das ist nämlich Ihre Lebensrealität. Wir sind für Klimaschutz, aber mit den Menschen; das ist der Unterschied zwischen uns.
({14})
Ich will Ihnen zum Abschluss noch mal sagen: Ihre Änderungsvorschläge greifen in die Verfassung ein, ohne dass sie für den Klimaschutz einen konkreten Mehrwert bringen. Sie führen nicht zu einer Reduzierung der CO 2 -Emissionen. Und Sie wecken Erwartungen bei der Bevölkerung, die Sie gar nicht einhalten können. „Wir schreiben Klimaschutz in die Verfassung und dann wird alles gut“, das können Sie nicht einlösen. Das ist nur Schaufensterpolitik.
({15})
Sie hätten etwas Konkretes beitragen können, wenn Sie kreative Vorschläge gemacht hätten, wenn Sie Vorschläge auf einfachgesetzlicher Basis machen und sagen würden: So wollen wir Verfassungsschutz konkret.
({16})
Das Grundgesetz ist jedenfalls nicht das Parteiprogramm von Bündnis 90/Die Grünen. Das soll auch so bleiben. Wir wollen Fakten, wir wollen Haltung in der Verfassung, aber nicht Ihre grüne Ideologie. Wir können Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Herzlichen Dank.
({17})
Das Wort hat der Abgeordnete Thomas Seitz für die AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Seit der Wiedervereinigung Deutschlands sind in der Präambel des Grundgesetzes 16 Länder, von Baden-Württemberg bis Thüringen, also auch das von vielen von Ihnen so verachtete Dunkeldeutschland aufgezählt, die Länder eben, die den Geltungsbereich des Grundgesetzes bilden. Warum diese Einleitung?
({0})
Es geht mir darum, den Kollegen von den Grünen ins Gedächtnis zu rufen, dass unsere Verfassung räumliche Grenzen hat. Das Grundgesetz gilt in Deutschland, aber nicht in Frankreich, China oder den USA und vor allem auch nicht auf dem Mittelmeer.
({1})
Wir als AfD fordern den wirksamen Schutz unserer Staatsgrenzen. Aber so hoch und dicht, dass Luftströme und Wolken hängen bleiben, wollen auch wir keinen Zaun, keine Mauer bauen –
({2})
versprochen.
({3})
Das Klima dagegen kennt keine Grenzen. Deswegen kann Ihre Politik des Klimanationalismus einfach nicht funktionieren.
({4})
Sie, die Grünen, haben keinerlei Verständnis für die Systematik unserer Verfassung. Oder, schlimmer noch: Vermutlich wissen Sie sehr genau, wie durch und durch fragwürdig Ihr gesamter Gesetzentwurf in staatsrechtlicher Hinsicht ist. Jede neue Staatszielbestimmung – und hier geht es nicht nur um eine Ergänzung, sondern wirklich um die Einführung einer neuen Staatszielbestimmung – ist ein Trojanisches Pferd mit dem Ziel, neue Einfallstore zur Beschränkung der Grundrechte der Bürger zu schaffen. In einem Grundrechtskommentar heißt es zu Recht: „Die Funktion der Staatsziele des Artikel 20a besteht nicht zuletzt in einer Legitimation von Grundrechtseingriffen.“ – Zitat Ende.
({5})
Im Klartext: Es geht Ihnen von den Grünen darum, dass es in Zukunft einfacher sein soll, für den Bau einer neuen Windkraftanlage den betroffenen Grundstückseigentümer zu enteignen. Und es soll noch einfacher sein, die Betriebserlaubnis für Kraftfahrzeuge, Maschinen und ganze Produktionsstätten zu verweigern oder sogar zu entziehen.
Zurück zum Staatsrecht. Den Unterschied zwischen Völkerrecht, Völkergewohnheitsrecht und Völkervertragsrecht haben Sie auch nicht verstanden.
({6})
Artikel 25 Grundgesetz dient der Harmonisierung: Das innerdeutsche, das innerstaatliche Recht soll nicht in Widerspruch zu den Bestimmungen des universellen Völkerrechts stehen, zu deren Einhaltung die Bundesrepublik Deutschland als Subjekt des Völkerrechts verpflichtet ist. Rechtsquellen des Völkervertragsrechts haben dagegen gerade keine universelle Geltung, wie nicht zuletzt das Abrücken der USA vom Pariser Abkommen zeigt. Völkerrechtliche Verträge bedürfen deshalb zu Recht einer innerstaatlichen Transformation oder Adoption, und dann sind sie aber auch gültig.
Nach den Vorstellungen der Grünen sollen völkerrechtliche Verträge zum Klimaschutz in Zukunft den Inhalt unserer Verfassung durch die Hintertür unmittelbar ändern, womit das im Grundgesetz mit gutem Grund vorgesehene Verfahren für Verfassungsänderungen unterlaufen würde. Nach Artikel 79 Absatz 2 Grundgesetz bedürfen Verfassungsänderungen einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag wie Bundesrat, völkerrechtliche Verträge werden dagegen nur mit einfacher Mehrheit ratifiziert.
Aber denken wir Ihre Vorstellungen einmal zu Ende: So wie die Autofahrer jetzt schon mit Fahrverboten traktiert werden, genauso soll die Industrie in den Würgegriff genommen werden. Die Folgen wären Produktionsverlagerungen ins Ausland, um dort mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einem niedrigeren Umweltschutzlevel zu produzieren als zuvor in Deutschland. Die Bilanz für den von Ihnen so vergötzten Umweltschutz wäre genauso negativ wie die für die deutsche Wirtschaft.
({7})
Was hinter Ihrer Politik steht, erklärt ein Zitat:
Deutschland ist ein Problem, weil die Deutschen fleißiger, disziplinierter und begabter als der Rest Europas (und der Welt) sind. … Dem kann aber gegengesteuert werden, indem so viel Geld wie nur möglich aus Deutschland herausgeleitet wird. Es ist vollkommen egal wofür, es kann auch radikal verschwendet werden – Hauptsache, die Deutschen haben es nicht. Schon ist die Welt gerettet.
Dieses Zitat stammt von einer gescheiterten Existenz ohne Berufsabschluss aus Ihren Reihen.
Herr Seitz, kommen Sie bitte zum Schluss.
Nein, es geht nicht um Claudia Roth, sondern vielmehr um einen gewissen Joseph Martin Fischer. Eine bessere Beschreibung Ihrer wahren Absichten wäre auch der AfD nicht möglich.
Vielen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Dr. Nina Scheer das Wort.
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Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unstrittig ist, dass der von den Menschen verursachte Temperaturanstieg, der Klimawandel, eine existenzielle Bedrohung für die gesamte Menschheit darstellt. Die Folgewirkungen des Ausstoßes von Treibhausgasen führen zur Häufung von immer mehr Wetterextremen und Umweltkatastrophen. – Herr Hilse, dass Sie bei so etwas grinsen, finde ich schon abartig.
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– Ich verwechsle hier überhaupt nichts. – Der Meeresspiegelanstieg betrifft Millionen von Menschen, und Ernteausfälle führen zu Problemen für Millionen von Menschen – ganz zu schweigen von der enormen Gesundheitsbelastung, die auch mit dem Ausstoß von CO 2 verbunden ist. Diese Thematik hat verschiedene Bezüge, daher haben wir sie zurzeit in verschiedenen Sektoren auf dem Tisch. Der Diesel-Skandal wird jedoch an einer anderen Stelle behandelt.
Ich bin der festen Überzeugung, dass weder ein freies noch gerechtes noch solidarisches Leben zwischen den Völkern und in den Völkern denkbar ist, wenn wir nicht massive Anstrengungen unternehmen, die Klimafolgeschäden und natürlich auch den Klimawandel einzudämmen. Man kann sich nicht darauf ausruhen, nur die Folgen zu behandeln, sondern natürlich muss man alles daransetzen, den Klimawandel so viel es irgendwie geht einzugrenzen, um das nackte Überleben von Menschen zu retten und damit auch Fluchtursachen zu bekämpfen. Wir verleugnen schnell, dass 25 Millionen Menschen bereits heute als Klimawandelflüchtlinge gelten. 25 Millionen Menschen! Denen sind wir als Völkergemeinschaft verpflichtet, und deswegen gibt es ja auch die völkerrechtliche Verpflichtung, den Klimawandel zu bekämpfen.
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Kollegin Scheer, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung?
Nein, gestatte ich nicht; vielen Dank. – Der Klimawandel ist somit ein eklatantes Armutsrisiko. Insofern ist es auch richtig, dass die Große Koalition ein Klimaschutzgesetz im Visier hat, das im nächsten Jahr verabschiedet werden soll. Ich finde, wir sollten parlamentarisch alles daransetzen, dass dieses Klimaschutzgesetz genau das in den Fokus rückt und ein durchschlagendes Schwert zur Vermeidung der weiteren Verschlimmerung des Klimawandels wird – auch hier in Deutschland.
Herr Amthor, lassen Sie mich sagen: Ich finde es schon etwas erstaunlich, dass Sie die nationalen Bemühungen, den Klimawandel anzugehen, gänzlich verleugnen.
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Sie haben gesagt, die nationalen Bemühungen sind nicht nötig.
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Wenn Sie meinen, es sei nicht zu bewerkstelligen, auf nationaler Ebene ein Klimaschutzgesetz zu verabschieden, dann ist das ein schlechtes Vorzeichen. Ich bitte Sie, in der Koalition nicht von vornherein das Vorhaben ad absurdum zu führen, sondern tatsächlich anzuerkennen, dass wir auch die nationale Verpflichtung haben, den Klimaschutz ernst zu nehmen.
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Jetzt komme ich zu dem Gesetzentwurf im Einzelnen. Ich finde es durchaus richtig, dass wir uns Gedanken darüber machen, wie zum Beispiel eine Schadstoffbepreisung etwa in Form einer Schadstoffsteuer, einer Verschmutzungssteuer, einer Abgabe oder dergleichen so ins Gesetz aufgenommen werden kann, dass es nicht wieder vom Verfassungsgericht angekreidet wird. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Brennelementesteuer vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurde. Das muss nicht heißen, dass es nicht eine verfassungsgemäße Brennelementesteuer auf der jetzigen rechtlichen Grundlage geben könnte. Aber wir haben eben auch erlebt, dass es gar nicht so einfach ist, Verbrauchsteuern bzw. Verschmutzungs- oder Schadstoffsteuern so zu erheben, dass sie tatsächlich verfassungsgemäß sind. Insofern finde ich es gut, wenn wir uns auch im parlamentarischen Verfahren – dieser Gesetzentwurf soll ja überwiesen werden – damit auseinandersetzen, wie und ob eine solche Schärfung möglich sein könnte. Das, finde ich, sollten wir in der Tat genau prüfen.
Zu der Kernforderung Ihres Gesetzentwurfs, den Artikel 20a zu ergänzen, möchte ich Folgendes sagen: Sie haben ja in dem Gesetzentwurf formuliert:
Für die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich verbindliche Ziele und Verpflichtungen des Klimaschutzes binden alle staatliche Gewalt unmittelbar.
So soll die Ergänzung lauten. Damit ist eine Formulierung gewählt worden, die an sich keine konkrete Klimaschutzverpflichtung bzw. keine konkrete Klimaschutzmaßnahme definiert, sondern an eine völkerrechtliche Verbindlichkeit anknüpft.
In dem Anknüpfen an eine völkerrechtliche Verbindlichkeit sehe ich eine Schwierigkeit. In der Begründung des Gesetzentwurfs führen Sie aus, dass diese völkerrechtliche Verbindlichkeit durchaus auch für zukünftige Verbindlichkeiten gilt. In der Begründung heißt es:
Die gewählte Formulierung ist jedoch zukunftsoffen, so dass auch künftige völkerrechtliche Vereinbarungen – etwa mit strengeren Zielen – an der Wirkung der Regelung teilhaben können.
Da sehe ich durchaus das Einfallstor und das Risiko, dass man sich bei einer Verschlechterung völkerrechtlicher Verabredungen – da möchte ich mit Verweis auf Donald Trump durchaus in Rede stellen, dass wir uns nicht so sicher sein können, was da noch so passiert; immerhin hat Donald Trump schon so einiges aufgekündigt in kürzerer Zeit – möglicherweise eine Blaupause ins Grundgesetz holt, die nach hinten losgehen kann. Ich finde es problematisch, eine solche reine Verweisung auf die völkerrechtliche Verpflichtung in einen Grundgesetzpassus zu überführen. Es wäre tatsächlich zu überlegen, ob so etwas nicht möglicherweise hinterher genau das Gegenteil dessen bewirken könnte, was Sie in dem Gesetzentwurf unterstellen.
Der Verweis auf die Schuldenbremse ist dort, finde ich, auch nicht unbedingt so zielführend. Wir alle wissen, dass die Schuldenbremse – auch wenn das Bekenntnis der Großen Koalition weiter besteht – durchaus ihre Tücken hat und auch schon zu Investitionsstagnation geführt hat, die uns heute auf die Füße fällt. Insofern finde ich, an Ihrem angeführten Beispiel kann man erkennen, dass es schwierig ist, die Entwicklungen vorauszusehen.
Ich möchte schließen mit dem Satz – ich habe nur noch wenige Sekunden –, dass ich mir erhoffe, in Bezug auf diesen Gesetzentwurf im parlamentarischen Verfahren doch noch einmal genauer zu eruieren, inwieweit die einfachgesetzlichen Regelungen in den Mittelpunkt gerückt werden sollen. Das Klimaschutzgesetz sollte unsere aktuelle Maßnahme sein. Sie als Grüne haben das schon lange gefordert. Vielleicht sollte man einfach dabei bleiben und nicht jetzt etwas fordern, was in hoher Höhe hängt und vielleicht auch kontraproduktiv wirkt.
Wenn es etwas Grundgesetzliches gibt, dann sollten wir übrigens auch überlegen: Sind die Ressourcen nicht auch zu schützen? Sind Kinderrechte nicht auch mit aufzunehmen?
Kollegin Scheer, bitte kommen Sie zum Schluss.
Ich bin am Ende meiner Redezeit und danke Ihnen.
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Zur einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Dr. Kraft das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Scheer, Sie haben angesprochen, dass es nötig ist, Anstrengungen zu unternehmen, um den Folgen des Klimawandels entgegenzuwirken – da sind wir nicht im Dissens –, aber auch, um dem Klimawandel an sich entgegenzuwirken. Der Klimawandel an sich ist zusammengesetzt aus zwei Komponenten, nämlich aus dem anthropogenen Anteil, über dessen Größe wir im Dissens sind, und natürlich aus dem großen Batzen natürlicher Klimaschwankungen, die seit Hunderten von Millionen Jahren bestehen; darüber sind wir im Übrigen auch nicht im Dissens.
Die Frage ist: Glauben Sie, dass die Menschheit eine Technologie, eine Terraforming-Technologie besitzt, um den natürlichen Klimawandel, den es seit Hunderten von Millionen Jahren gibt, in irgendeiner Art und Weise zu beeinflussen?
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Möchten Sie erwidern? – Dann haben Sie das Wort.
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Das Tückische an Ihren Fragen ist, dass sie so viele Unwahrheiten enthalten, dass man gar nicht weiß, wo man da ansetzen soll.
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Sie unterstellen immer wieder, dass der Klimawandel die nichtanthropogene Sphäre betreffend von Ihnen gar nicht geleugnet würde. Wenn man aber Ihre Anträge ernst nimmt, wenn man Ihren Reden zuhört, dann merkt man, dass Sie genau das doch tun. Immer wieder reden Sie vom imaginären Weltklima und solchen Dingen. Seien Sie doch ehrlich: Sie verleugnen den Klimawandel in Gänze.
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Insofern ist es Quatsch, dass Sie mir die Frage stellen, ob wir da irgendeinen Konsens haben könnten. Fangen Sie erst einmal an, den Klimawandel nicht weiter zu leugnen!
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Flüchten Sie sich nicht ständig in Ihre Ausreden, dass es bei Ihnen eine Differenzierung gäbe zwischen menschgemacht und sonst was. Das behaupten Sie immer, das stimmt aber doch gar nicht. Insofern: Fangen Sie erst einmal an, die richtigen Fragen zu stellen, dann kommen wir ins Gespräch.
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Wir setzen die Debatte fort. Das Wort hat die Kollegin Judith Skudelny für die FDP-Fraktion.
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Meine Damen und Herren! Es wurde schon mehrfach gesagt: Die Mehrheit in diesem Hause steht hinter dem 2‑Grad-Ziel und steht vor allem hinter dem Pariser Klimaabkommen. Der einzige Dissens, den wir haben, ist: Wie halten wir unsere nationalen Ziele ein? Wie schaffen wir es, national CO 2 -Emissionen einzusparen?
Liebe Grüne, Ihr Umgang mit diesem Thema ist ein bisschen so, wie man in den 60er-Jahren mit dem Thema Krankheiten umgegangen ist: Erstens, eine Medizin muss bitter sein, damit sie wirkt. Zweitens, wenn sie bitter ist und trotzdem nicht wirkt, dann muss man einfach ein bisschen mehr davon nehmen. – Es ist doch nicht so, dass wir nicht eine ausreichende Zahl an Gesetzen, Verordnungen und Verfahrensvorschriften in Deutschland hätten, die den Klimawandel und das Einsparen vor allem von CO 2 -Emissionen betreffen. Vielmehr ist es doch so, dass die Maßnahmen, die wir haben, nicht die erhoffte Wirkung entfalten, und das aus den unterschiedlichsten Gründen. Ich möchte Ihnen drei Beispiele nennen.
Kollegin Skudelny, ich habe die Uhr angehalten. Gestatten Sie eine Frage oder eine Bemerkung?
Wir machen eine Kurzintervention am Ende, bitte.
Das entscheide immer noch ich, ob jemand das Wort bekommt.
Wir machen es dann so. – Nein.
Gut. – Nein.
Wir haben zum Beispiel die Flottengrenzwerte für Pkw. Diese haben dazu geführt, dass der Verbrauch im Verkehr für das einzelne Fahrzeug gesunken ist, die Kosten für die Menschen in Deutschland für den Individualverkehr mit dem eigenen Pkw niedriger sind. Das ist toll. Das ist toll für die Menschen, die auf dem Land wohnen, es ist toll für die älter werdende Generation, deren Lebensqualität mit der Mobilität steigt. Allerdings: Durch den Mehrverkehr, den wir dadurch schaffen, verpassen wir es, in dem Bereich CO 2 -Emissionen so einzusparen, wie wir es uns wünschen würden.
Das zweite Beispiel betrifft Baden-Württemberg, wo man versucht, mit Zwang Gebäudesanierung zu erreichen. Sie wissen, dass es im Bereich Gebäude am teuersten und am schwierigsten ist, CO 2 -Emissionen einzusparen. Deswegen geht Baden-Württemberg unter der grünen Landesregierung dabei stark voran. Unter dem Strich hat es aber nicht dazu geführt, dass die Heizungsanlagen dort nun zu den modernsten und effizientesten zählen würden. Vielmehr sehen es die Menschen nicht ein, dafür Geld einzusetzen. In Baden-Württemberg werden alte Ölheizungen sogar noch länger genutzt als in anderen Bundesländern, beispielsweise in Bayern. Durch das Gesetz hat es sich dort also ins Gegenteil verkehrt.
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Ein drittes Beispiel ist das Thema Carbon Leakage. Carbon Leakage bedeutet, dass beispielsweise aufgrund der erhöhten Industriestrompreise, die wir hier in Deutschland haben, Produktionsstandorte ins Ausland verlegt werden. Damit werden nicht nur Arbeitsplätze ins Ausland verlegt, wird nicht nur Wertschöpfung ins Ausland verlegt, sondern wir schieben so vor allem auch den Umweltschutz, den wir selber nicht schaffen, die Umweltverschmutzung, die wir selber nicht reduzieren können, ins Ausland ab. Dieses Problem müssen wir mindestens genauso ernst nehmen.
Ein Mehr an gleichen Instrumenten wird also wahrscheinlich nicht das bringen, was wir wollen, sondern immer mehr Gesetze, immer mehr Zwang werden letztendlich nur immer mehr Frust erzeugen.
Ein ganz aktuelles Beispiel für Frust sieht man an der aktuellen Debatte über Stickoxide. Dort gibt es genau das, was Sie wollen, nämlich einen knallharten Grenzwert, der auf europäischer Ebene verhandelt worden ist.
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Über Jahre hinweg haben die Gesellschaft und die Politik gemeinsam es verpasst, dafür zu sorgen, dass diese Grenzwerte eingehalten werden.
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Jetzt hat die Deutsche Umwelthilfe die Städte und Kommunen verklagt und zwingt sie, diese Grenzwerte absolut einzuhalten. Gegen den Willen der Mehrheit dieses Hauses und gegen den Willen der Bevölkerung werden Millionen von Dieselfahrern enteignet. Das verstehen die Menschen nicht.
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Zwang führt zu Frust. Die Menschen verstehen Europa in dem Bereich nicht, die Menschen verstehen den nationalen Gesetzgeber nicht, und vor allem verlieren die Menschen den Bezug zum Umweltschutz, den wir in diesem Bereich eigentlich brauchen.
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Liebe Grüne, wir sind ja bei Ihnen, was die Ziele betrifft.
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Wir würden Sie aber gerne mit auf dem Weg zu sinnvollen Lösungsvorschlägen nehmen. Nehmen wir das Thema Verkehr. Hier haben wir vorgeschlagen, einen marktwirtschaftlichen Weg zu gehen und die Emissionen von CO 2 auf nationaler Ebene zu begrenzen, indem wir den Verkehr national in den ETS-Handel kostenneutral mit aufnehmen. Das würde bedeuten, dass die Menge an CO 2 , die wir in Deutschland emittieren, zum ersten Mal begrenzt würde. Wir würden uns wahnsinnig freuen, wenn Sie uns auf diesem Weg begleiten würden.
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Thema Landwirtschaft. Landwirtschaft kann effizienter gemacht werden, indem wir sie digitalisieren, indem wir moderne Anbauverfahren und neue Sorten und Arten zulassen würden. Wir möchten den Ausstoß von Methan und anderen Klimagasen einsparen.
Letztes Thema, die steuerliche Absetzbarkeit von Sanierungsmaßnahmen im Gebäudebereich.
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Das würde die Menschen, die in die energetische Gebäudesanierung investieren wollen, endlich tatsächlich entlasten. Ganz ehrlich, die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland ist mehr als überfällig.
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Zum Abschluss. Zwang führt zu Frust. Noch mehr Zwang führt zu noch mehr Frust. Deswegen ist die Einführung des Klimaschutzes ins Grundgesetz, wodurch noch mehr Druck und noch mehr Zwang ausgeübt würde, eben nicht dazu geeignet, CO 2 -Emissionen einzusparen, sondern am Ende nur dazu geeignet, den Frust bei den Bürgerinnen und Bürgern zu erhöhen.
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Wir laden Sie ein, gemeinsame Wege zu gehen, Klimaschutz neu zu denken, marktwirtschaftlich, auf neuen Wegen mit neuen Ideen. Wir werden Klimaschutz in Deutschland und vor allem international nur dann schaffen, wenn wir technologisch die Vorreiter sind, wenn wir bei originellen Ideen die Vorreiter sind. Wir dürfen nicht die Vorreiter sein mit den meisten Gesetzen, wir müssen die Vorreiter sein mit dem besten Weg. Da möchten wir mit Ihnen zusammenarbeiten. Klimaschutz neu denken, da stehen wir an Ihrer Seite, aber bei Ihrem Gesetzentwurf leider nicht.
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Das Wort hat der Abgeordnete Niema Movassat für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte von hier aus alle Menschen grüßen, die im Hambacher Forst ganz praktisch gegen den Klimawandel kämpfen.
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Statt Polizeiknüppel verdienen sie Respekt!
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Grotesk ist nicht nur, dass dort bis zu 3 500 Polizisten verheizt werden, um 300 Aktivisten im Auftrag des Energieriesen RWE zu verjagen.
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Grotesk ist auch, dass Bundeswaldministerin Klöckner in einem Video für die Deutschen Waldtage wirbt – Zitat –:
Ich liebe den Wald. Hier kann ich durchatmen.
Dann, verdammt noch mal, schützen Sie den Hambacher Forst!
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Der Kampf um den Hambacher Wald zeigt, dass die heutige Debatte um die Änderung des Artikels 20a Grundgesetz nicht abstrakt ist. Dieser formuliert als Staatsziel, dass alle hoheitlichen Stellen die natürlichen Lebensgrundlagen schützen sollen. Es handelt sich nicht um einen unverbindlichen Satz, sondern um eine Verpflichtung. Der Staat muss dieses Ziel umsetzen.
Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in Artikel 20a Grundgesetz beinhaltet auch heute schon den Klimaschutz; da hat Herr Kollege Amthor recht. Allerdings – das wissen Sie ganz genau – ist unklar, was der Maßstab ist, also was der Klimaschutz genau beinhalten muss, welche staatlichen Verpflichtungen genau bestehen. All das beantwortet Artikel 20a Grundgesetz leider nicht. Klarheit entsteht erst, wenn in Artikel 20a Grundgesetz fixiert wird, dass die völkerrechtlichen Verpflichtungen zum Klimaschutz alle staatliche Gewalt unmittelbar binden.
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Damit wird eine zentrale Frage des Klimaschutzes, die Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs, eine verfassungsrechtliche Aufgabe.
Deutschland hat sich im Pariser Abkommen völkerrechtlich verpflichtet, die menschengemachte Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad Celsius zu halten und dafür seinen CO 2 -Ausstoß herunterzufahren. Aber laut dem Öko-Institut hat Deutschland bereits Ende März 2018 so viel CO 2 ausgestoßen, wie es im ganzen Jahr hätte ausstoßen dürfen, um die Vorgaben des Pariser Abkommens zu erreichen.
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Die Bundesregierung versagt beim Klimaschutz. Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zum Klimaschutz würde jede Bundesregierung dazu zwingen, den CO 2 -Ausstoß deutlich zu reduzieren. Das ist heute nötiger denn je, will die Menschheit eine lebenswerte Zukunft haben.
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Kollege Movassat, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der AfD-Fraktion?
Ich finde, die Klimawandelleugner haben heute genug Redezeit gehabt, daher nein.
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Ich finde, es müssen drei Dinge passieren, um den Klimaschutz durchzusetzen: Erstens. Die Energiekonzerne, die jährlich tonnenweise CO 2 in die Umwelt spucken, müssen endlich angemessen besteuert werden. Zweitens. Wir brauchen den Braunkohleausstieg. Braunkohle macht immer noch 22 Prozent des Strommixes aus, ist aber der größte Klimakiller. Drittens. Der Ausstieg muss sozial verträglich sein. Wir brauchen zum Beispiel staatliche Unterstützung bei der Umwandlung der Arbeitsplätze.
Wir als Linke werden dem Gesetzentwurf der Grünen zustimmen. Wir brauchen einen sozialen und ökologischen Wandel in diesem Land. Der Klimaschutz gehört in die Verfassung.
Danke schön.
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Das Wort hat die Kollegin Dr. Anja Weisgerber für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ja, der Klimawandel ist eine globale Herausforderung und ein existenzielles Thema. Deswegen müssen und werden wir dem Klimawandel entgegentreten. Wir können ihn abmildern; denn er ist auch menschengemacht, auch wenn das die AfD ständig verleugnet.
Deshalb ist es wichtig, dass wir den Weg der Treibhausgasminderung konsequent weitergehen. Aber dafür brauchen wir doch die Maßnahmen in allen Sektoren, die die Ressorts gerade erarbeiten und die wir umsetzen werden. Genau darauf wollen wir sachlich unseren Schwerpunkt legen und nicht auf langwierige Debatten über mögliche Grundgesetzänderungen. Auf die Maßnahmen kommt es an, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen.
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Ja, der Sommer 2018 hat gezeigt, dass der Klimawandel mitten in unserer Gesellschaft angekommen ist. Entscheidend ist, wie wir darauf reagieren. Lassen Sie uns doch mal über die Maßnahmen reden;
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das ist mir als Klimaschutzbeauftragte ganz besonders wichtig. Da müssen wir doch erst einmal feststellen, dass wir in unserem Koalitionsvertrag ganz konkrete Arbeitsaufträge haben, die wir umsetzen. Zum einen wollen wir das Klimaziel 2020 so schnell wie möglich erreichen. Zum anderen wollen wir unser nationales Klimaziel 2030 in jedem Fall einhalten. Es besteht kein Zweifel, dass dazu die Kohle einen nennenswerten Beitrag leisten muss. Das Ob ist also keine Frage mehr. Es geht jetzt um die Vorschläge zum Wie. Diese erarbeitet die Strukturwandelkommission gerade.
Neben dem Plan zur schrittweisen Reduzierung der Kohleverstromung wird die Kommission – auch das steht in unserem Koalitionsvertrag – ein Abschlussdatum bezüglich der Nutzung der Kohle erarbeiten und den Abgeordneten Vorschläge unterbreiten, die wir bewerten und aus denen wir dann Schlüsse ziehen werden.
Meine Damen und Herren, zu diesen Schlüssen zählen auch unsere festen Leitplanken. Dazu ist uns ganz besonders wichtig, dass es in den betroffenen Regionen nicht zu Strukturbrüchen kommt; denn die Regionen müssen bei diesem Strukturwandel mitgenommen werden. Sie müssen finanziell unterstützt werden. Und, meine Damen und Herren von den Grünen, die Energieversorgungssicherheit und die bezahlbaren Energiepreise müssen gesichert sein.
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Das ist nicht nur für die Menschen in unserem Land wichtig, sondern auch für unsere Wertschöpfungskette, für den Industriestandort Deutschland. Das müssen Sie bei all Ihren Forderungen bedenken, meine sehr verehrten Kollegen von den Grünen.
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Es ist auch ganz klar, dass nicht nur der Energiesektor, sondern auch alle anderen Sektoren ihren Beitrag leisten müssen. Neben der Energiewirtschaft brauchen wir deshalb auch den Verkehrssektor. Ja, wir brauchen auch die Landwirtschaft. Ja, wir brauchen auch den Gebäudebereich. Da setze ich auf Sie, dass wir gemeinsam mit den Ländern zum Beispiel die steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung durchsetzen, wie es die Frau Kollegin Skudelny bereits erwähnt hat.
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Alle Ressorts sind schon dabei – da sind wir auch für Vorschläge offen –, die Maßnahmenpakete in ihren Sektoren zu erarbeiten. Sie werden diese Maßnahmen zeitnah vorlegen.
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Für den Gebäude- und Verkehrsbereich ist ein paralleles Vorgehen zur Strukturwandelkommission vorgesehen. Deswegen hat das Kabinett vergangene Woche die Einsetzung der nationalen Plattform „Zukunft der Mobilität“ beschlossen, die auch für den Bereich Verkehr ganz konkrete Maßnahmen erarbeiten und vorlegen wird, mit denen wir hier die Klimaschutzziele erreichen können. Diese Maßnahmen bilden dann die Grundlage für unsere Diskussion im Bundestag über eine einfachgesetzliche Regelung, die auch der Kollege Amthor erwähnt hat, um unser Artikelgesetz zum Klimaschutz – das haben wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen – zu verabschieden. Darauf kommt es doch an.
Für uns ist dabei auch wichtig, dass die Maßnahmen, die wir erarbeiten, technologieoffen sind. Da geht es eben nicht, dass man nur einseitig auf eine Technologie setzt, zum Beispiel nur auf die Elektromobilität, sondern wir brauchen auch die synthetischen Kraftstoffe.
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Wir brauchen die Elektromobilität, und wir brauchen die synthetischen Kraftstoffe. Wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen, müssen wir mit jedem eingesetzten Euro auch eine möglichst große Wirkung erzielen.
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Dafür brauchen wir Anreize statt Verbote.
Entscheidend für die Frage – das sage ich als Klimaschutzbeauftragte –, ob wir erfolgreich dabei sind, dem Klimawandel entgegenzutreten, weil er eben auch menschengemacht ist, ist doch, dass wir die Akzeptanz der Bevölkerung haben. Dazu zählt auch, dass die Energiepreise nicht ins Unermessliche steigen und dass die individuelle Mobilität zu bezahlbaren Preisen weiterhin möglich ist. Ich habe den Eindruck, dass die Opposition, gerade auch die Antragsteller,
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diese Fragen viel zu wenig in ihre Forderung miteinbeziehen.
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Wir brauchen die Akzeptanz der Bevölkerung, sonst werden wir nicht erfolgreich sein, meine Damen und Herren.
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Ein langwieriger Gesetzgebungsprozess zur Änderung des Grundgesetzes und dazu ewige rechtstheoretische Diskussionen – nicht zu vergessen: wir brauchen dafür eine Zweidrittelmehrheit –: Das steht für uns nicht im Vordergrund. Wir wollen unsere Zeit und unsere Energie lieber weiterhin in die Erarbeitung der Maßnahmen stecken.
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– Frau Verlinden, dann machen Sie uns doch konstruktive Vorschläge. Die Sektoren erarbeiten gerade die Maßnahmen.
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– Vielleicht wäre es gut, Sie würden sich wieder etwas beruhigen und uns lieber eine E‑Mail mit Ihren Vorschlägen schicken. Wir erarbeiten die Maßnahmen.
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Diese werden in ein Artikelgesetz zum Klimaschutz einfließen.
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Es ist die einfachgesetzliche Regelung, die Sie übrigens – Sie haben es vorhin hineingeschrien – ebenfalls fordern, die wir – so fair muss man sein – auch angehen. Das muss die Opposition sehen, und sie darf sich nicht hinter Schaufensterdebatten verstecken. Es geht um die Sache. Es geht um die Maßnahmen.
Wir sind ja erst gestern Vormittag wieder bei einem konstruktiven Treffen zusammengesessen. Glauben Sie mir, Frau Verlinden: Wir arbeiten an diesen Maßnahmen. Helfen Sie lieber mit, anstatt Schaufensterdebatten zu führen.
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Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Abgeordnete Karsten Hilse für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte Zuschauer! Zu Beginn eine Richtigstellung: Herr Lenkert von der Linken und Herr Koeppen von der CDU/CSU haben hier im Plenum bzw. im Ausschuss gesagt, die AfD nehme nun offensichtlich zur Kenntnis, dass es einen Klimawandel gibt, und leugne ihn nicht mehr. Tatsächlich haben einige von Ihnen endlich zur Kenntnis genommen – Frau Scheer begreift das noch immer nicht –, dass wir den Klimawandel nicht leugnen und auch nicht bestritten haben, sondern dass wir die Ursachen anders verorten. Schon der Begriff „leugnen“
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deutet darauf hin, dass der menschengemachte Klimawandel für einige – ich betone extra: für einige – eine Art Ersatzreligion ist.
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Kommen wir zum Thema. Sie wollen jetzt den Klimaschutz im Grundgesetz verankern und – weil es gerade so schön für Sie läuft – per Grundgesetz verbieten, dass Strom aus Kernenergie in Deutschland jemals wieder erzeugt wird. Mit diesen völlig absurden Forderungen zeigen die Grünen in diesem Hohen Hause wieder einmal, dass sie nicht auf faktenbasierte Wissenschaft setzen, sondern allein und ausschließlich ihre grüne Ideologie im Grundgesetz verankern wollen.
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– Schreien Sie ruhig! Kein Problem!
Im Gesetzentwurf wird die sehr moderate natürliche Rückerwärmung nach dem Ende der Kleinen Eiszeit zur „existenziellen Bedrohung“. Eigentlich sind alle Grünen spezielle Experten für alles. Einer ihrer Spezialexperten, der Kollege Krischer, behauptete hier unlängst sogar, dass Kohlendioxid die Atmosphäre zerstöre. Das Einzige, was Sie versuchen zu zerstören, ist die deutsche Wirtschaft.
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Auf meine Nachfrage konnte er natürlich keine wissenschaftliche Begründung geben und zog sich auf die Erderwärmung seit der Kleinen Eiszeit zurück. Übrigens: Hätte es diese natürliche Rückerwärmung seit dem Ende der Kleinen Eiszeit nicht gegeben, wären wir noch immer in einer ziemlich unbehaglichen, teilweise für Flora und Fauna sehr lebensfeindlichen Kaltzeit. Natürlich beziehen Sie sich auf das Pariser Übereinkommen, das niemanden ernsthaft bindet. Deswegen ist es auch kein Abkommen, und nur deswegen wurde es auch angenommen. Aber Sie wollen, dass sich Deutschland – wie so oft – lammfromm per Grundgesetz an dieses Abkommen bindet. Es ist Ihnen dabei völlig egal, dass, selbst wenn man der Ideologie und den Berechnungen der Computermodellierer glaubte – das tun die AfD und viele unabhängige Wissenschaftler nicht –, bei einem völligen Verzicht Deutschlands auf alle fossilen Energieträger in allen Bereichen irgendwann in ferner, unbekannter Zukunft nur eine Minderung der Welttemperatur von 0,000653 Grad Celsius herauskäme. Für diese 0,000653 Grad Celsius wollen Sie, Ihrer Ersatzreligion, wie ich vorhin beschrieb, folgend, unseren Wohlstand opfern. Sie wollen die Zukunft Deutschlands Ihrer Ideologie, die im Gewand der Wissenschaft auftritt, zwangsweise unterordnen.
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Was kommt als Nächstes, falls Sie mit dieser Attacke auf unsere Freiheit Erfolg haben sollten? Kommt dann die gesetzlich garantierte Verfolgung der Leute, welche heute schon von Ihnen als Klimaleugner diffamiert werden? Sind dann alle kriminell, die wissenschaftliche Beweise für eine Hypothese fordern, die die Steuerzahler schon mehrere Hundert Milliarden Euro gekostet hat? Zuzutrauen wäre es Ihnen, wenn man sieht, wie Sie – auch heute – die kriminellen Baumschützer im Hambacher Forst bejubelnd unterstützen.
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Jubeln können die Polizeibeamten vor Ort nicht. Sie werden mit Molotowcocktails beworfen und mit Kot überschüttet. Menschen, die anderer Meinung sind, werden durch den Wald gejagt. Genau diese Kriminellen bejubeln Sie. Gleichzeitig lassen Sie es zu bzw. ordnen teilweise selber an, dass für Windräder ein Vielfaches dessen gerodet wird, was im Hambacher Forst vorgesehen ist.
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Übrigens, liebe Grüne, mit Ihren Bemühungen müssen Sie sich ein wenig sputen. Die Zeit Ihrer Unterstützer läuft ab, zumindest die der Klimakanzlerin; das durften wir vorgestern erleben. Wir von der AfD werden die Kanzlerin nicht daran hindern, weiter an ihrem eigenen Sturz zu arbeiten. Dieser ist unserer Meinung nach längst überfällig. Aber Sie werden wir daran hindern, unser Grundgesetz zu missbrauchen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Klaus Mindrup für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden in dieser Woche zweimal über Änderungen des Grundgesetzes, beide Male in erster Lesung. Die Hürden für eine Änderung des Grundgesetzes sind hoch. Man braucht eine Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag und im Bundesrat. Dies bedeutet, dass neben den Regierungsfraktionen hier im Deutschen Bundestag mindestens zwei weitere Fraktionen zustimmen müssen, wenn man eine notwendige Mehrheit erreichen will. Morgen bringt die Bundesregierung eine Vorlage ein, die zum Ziel hat, dass wir das Grundgesetz in drei Punkten ändern: erstens dass wir als Bund den sozialen Wohnungsbau weiter fördern können, zweitens dass wir als Bund Fördermittel für den öffentlichen Nahverkehr zur Verfügung stellen können und drittens dass wir als Bund den Gemeinden Fördermittel für Schulen zur Verfügung stellen können. Über diese drei Themen wird seit Monaten im Hintergrund intensiv diskutiert. Das Ganze wird sehr ernsthaft angegangen. Es gibt Hintergrundgespräche mit verschiedenen Fraktionen hier im Haus, weil man die erforderliche Mehrheit sichern will und weil wir als Fraktion dafür kämpfen.
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Nun habe ich am Dienstag in der Zeitung gelesen, dass die Grünen einen Gesetzentwurf einbringen wollen, um den Klimaschutz im Grundgesetz zu verankern. Dann wurde er angekündigt. Am Dienstagabend kam er dann. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wenn Sie wirklich eine breite Mehrheit haben wollen, dann müssen Sie das anders machen. Dann müssen Sie Hintergrundgespräche führen und mit uns anders kommunizieren. Für Schaufensterpolitik ist Klimaschutz viel zu wertvoll.
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Ich will mich nun auf das konzentrieren, was politisch und praktisch zu tun ist. Wir haben einen klaren internationalen Rechtsrahmen; das wurde schon deutlich gemacht. Deutschland und die EU sind dem Pariser Klimaschutzabkommen beigetreten. Weiterhin hat die EU verbindliche Regeln zum Klimaschutz beschlossen. Diese schauen wir uns nun einmal genauer an. Was Großindustrie und Kraftwerke betrifft, ist europäisch geregelt. Sie unterliegen dem europäischen Emissionshandel, ETS genannt. Hier müssen die Rechte zum Ausstoß von CO 2 erworben werden. Mit diesen Rechten kann auch gehandelt werden.
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Innerhalb eines Jahres sind die Preise für CO 2 -Zertifikate an der Börse um das Vierfache gestiegen. Das ist eine sehr dramatische Steigerung. Ich halte es aber für fahrlässig, sich darauf zu verlassen, dass das so weitergeht. Man kann der Börse allein diese wichtige Zukunftsaufgabe nicht überlassen. Deswegen ist ein Mindestpreis für CO 2 -Emissionen auch an der Börse sinnvoll, genauso wie die Briten das machen. Dafür werde ich mich weiter einsetzen.
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Weiterhin muss gelten: Wenn Kraftwerke in Deutschland frühzeitig stillgelegt werden, müssen die entsprechenden Emissionsrechte aus dem Markt genommen werden; denn es macht keinen Sinn, dass dann bei uns entsprechend weniger Kohlendioxid ausgestoßen wird, dass aber in den Nachbarstaaten mehr emittiert wird.
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Für diese Reform des Emissionshandels hat die alte Bundesregierung gekämpft und hat sie mit Barbara Hendricks als Umweltministerin durchgesetzt. Der EU-Emissionshandel ist entsprechend geändert. Hoffentlich wird das auch so gemacht.
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Dieses Thema und die Kohlekraftwerke wird die Strukturwandelkommission weiterhin intensiv behandeln. Wir werden sehr viel Zeit haben, darüber intensiv zu diskutieren. Deswegen möchte ich auf einen anderen Bereich zu sprechen kommen, den wir national regeln müssen. Wir sind für die Emissionen von Haushalten, Gewerbe, Verkehr und Landwirtschaft national verantwortlich. Aber auch hier gilt europäisches Recht. Bis 2020 müssen wir in Deutschland unsere Emissionen im Vergleich zu 2005 um 14 Prozent reduzieren und bis 2030 um 38 Prozent. – Alle Prognosen besagen, dass Deutschland ohne eine konkrete Politikänderung diese Ziele verfehlen wird. Das ist tatsächlich dramatisch; denn wir rechnen mit erheblichen Zahlungen. Die Denkfabrik Agora Energiewende sagt, dass Deutschland zwischen 2020 und 2030 eventuell 30 Milliarden bis 60 Milliarden Euro an andere Länder zahlen muss, die ihre Emissionsrechte nicht ausschöpfen. Es ist natürlich absurd, dass wir im Prinzip nicht im eigenen Land investieren, nicht im eigenen Land gute Arbeitsplätze schaffen und nicht im eigenen Land für Klimaschutz sorgen, sondern anderen Ländern das Geld überweisen. – Darauf müssen wir uns konzentrieren.
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Das ist der augenblicklich geltende Rechtsrahmen. Es ist doch ganz klar, dass wir als SPD sagen: Wir müssen hier etwas tun. – Das besagt auch die Klimaschutzstudie des BDI. BDI und SPD in dieser Frage Hand in Hand! Für die anderen Parteien müsste es dann doch möglich sein, hier mitzugehen.
({7})
– Meine Parteivorsitzende ist da, glaube ich, mit mir einer Meinung.
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– Das ist keine Frage der Frömmigkeit, sondern eine Frage der politischen Ziele. Wie Sie wissen, haben wir uns für den Klimaschutz sehr stark eingesetzt und haben im Koalitionsvertrag dementsprechend einiges durchgesetzt.
Wichtig ist: Wir müssen die erneuerbaren Energien in Deutschland stark ausbauen. Es gibt einen Mythos, dass wir das nicht weiter könnten. Das stimmt nicht. Wir haben gigantische Möglichkeiten im Bereich von PV, gebäudeintegriert. Wir haben Möglichkeiten bei Wind, onshore, wenn wir die Akzeptanz schaffen, indem die Gemeinden stärker beteiligt werden. Wir haben Möglichkeiten, indem wir Wind offshore ausbauen, und das ist ein ganz wichtiges Signal für die Küste; das ist nämlich auch Industriepolitik. Es gibt einen ganz wichtigen Punkt: PV und Wind werden immer billiger.
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Deswegen ist Klimaschutz etwas, was sinnvoll ist, bei dem wir im Prinzip nicht so tun müssen, als würde er unsere industrielle Basis gefährden, meine Damen und Herren.
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Wir müssen des Weiteren die dezentrale Energieversorgung stärken. Wir müssen die Quartiersansätze stärken. Wir müssen die Nahwärme stärken. Wir wissen, dass andere Länder wie Dänemark und Schweden es schaffen, die Klimaschutzziele einzuhalten, auch im Nicht-Emissionshandel-Bereich. Wie machen sie das? Sie bauen die Fernwärme aus. Sie bauen die Kraft-Wärme-Kopplung aus. Sie defossilisieren die Energieerzeugung. Lassen Sie uns das gemeinsam machen! Wir brauchen ein integriertes Gesamtsystem, und für dieses System müssen wir streiten.
Das können wir in einem Klimaschutzgesetz regeln, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union. Wir müssen gucken, dass dieses Klimaschutzgesetz ein sinnvolles Gesamtkonzept abbildet. Dafür müssen wir streiten. Das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Ich glaube, dann bekommen wir etwas Gutes hin. Dann nehmen wir auch gern die Anregungen von den Grünen auf; da gibt es ja auch vernünftige Anregungen. Und – da bin ich ebenfalls sicher; da sind wir leider noch nicht einig –: Wir brauchen auch eine vernünftige Bepreisung von CO 2 -Emissionen; sonst wird das nicht funktionieren. Da haben wir uns in der Koalition nicht einigen können. Da hoffe ich, dass der neue Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU das vielleicht anders sieht. Insofern: Glück auf! Lassen Sie uns streiten!
Danke schön.
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Nächster Redner ist der Kollege Lorenz Gösta Beutin für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Wir haben viele Argumente gehört, warum es nicht notwendig sei, den Klimaschutz ins Grundgesetz zu schreiben. Ich will Ihnen aber einmal in Erinnerung rufen, warum wir gerade jetzt entschiedeneres Handeln für einen wirksamen Klimaschutz brauchen,
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warum wir als Linke-Fraktion den Gesetzentwurf unterstützen, nach dem der Klimaschutz ins Grundgesetz geschrieben werden soll.
Die Staaten der Welt haben 2015 in Paris verabredet, die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Der Weltklimarat berichtet nun darüber, dass wir aktuell mit allen klimaschutzpolitischen Maßnahmen, die momentan geplant sind, auf 3 bis 4 Grad Erderwärmung zusteuern, und sagt: Selbst 1,5 Grad bringen unumkehrbare Folgen für unser Klima und für die Menschheit.
Das bedeutet: Wir haben es jetzt schon zu tun mit der Fluchtursache Klimawandel. Das ist mittlerweile die Fluchtursache Numero eins.
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Wir haben es im globalen Süden jetzt schon zu tun mit Überschwemmungen, mit Dürren, damit, dass Menschen infolge des Klimawandels sterben. Der Hitzesommer 2018 hat uns vor Augen geführt, welche Auswirkungen der Klimawandel auch für unsere Breitengrade haben könnte.
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Aber was tut diese deutsche Bundesregierung? Die deutsche Bundeskanzlerin kuschelt mit der Autoindustrie. Sie setzt sich dafür ein, schärfere Maßstäbe für den Verkehrssektor nicht aufzustellen. Sie pfeift die Ministerin Schulze öffentlich demütigend zurück. Das ist ein Skandal.
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Wir haben mit dieser Großen Koalition jetzt ein Jahr klimapolitischen Stillstand erlebt.
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Wer zynisch ist, der könnte ganz einfach sagen: Diese Große Koalition hat ihre Zukunft längst hinter sich. – Das haben wir in dieser Woche eindrucksvoll vor Augen geführt bekommen.
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Aber das Nichthandeln der Großen Koalition hat Folgen für uns alle, und das ist das große Drama.
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Ich freue mich darüber, dass mittlerweile drei Viertel der deutschen Bevölkerung die Proteste im Hambacher Forst unterstützen,
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und fast genauso viele in der deutschen Bevölkerung unterstützen einen Kohleausstieg bis 2030.
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Die deutsche Bevölkerung ist längst viel weiter als Sie, liebe Bundesregierung. Hören Sie doch einmal darauf, was die deutsche Bevölkerung in ihrer Mehrheit zu diesem Thema zu sagen hat!
Deswegen sage ich: Kommen Sie am 6. Oktober in den Hambacher Forst, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer!
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Lassen Sie uns gemeinsam demonstrieren für einen wirksamen Kohleausstieg und für die Erhaltung des Hambacher Forsts!
Vielen Dank.
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Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege Axel Müller für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir nehmen alle natürlich zur Kenntnis, dass gerade eine Einladung zu einem Wandertag in den Hambacher Forst ausgesprochen wurde. Ich weiß aber nicht, ob wir da alle Zeit haben; das ist meines Wissens am Ende einer Sitzungswoche.
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Meine Damen und Herren, mit dem Gesetzentwurf der Grünen zur Stärkung des Klimaschutzes soll eine Grundgesetzänderung vorgenommen werden, genau genommen an vier Stellen. Zentraler Bestandteil ist dabei die Änderung des Artikels 20a Grundgesetz in zwei Punkten: erstens die unmittelbare Bindung aller staatlichen Gewalt hinsichtlich völkerrechtlich verbindlicher Ziele – Pariser Klimaschutzabkommen – und Verpflichtungen des Klimaschutzes und zweitens die Untersagung der Stromerzeugung aus Kernenergie.
Garniert wird das Ganze dann mit zwei weiteren Punkten. Zum einen soll Artikel 74 Grundgesetz geändert werden, nämlich um die Gesetzgebungskompetenz für den Klimaschutz erweitert werden. Zum anderen soll es eine Neufassung bei den Verbrauchsteuern geben. Der Kollege Amthor hat dazu schon gesagt: Möglicherweise soll nun auch noch der Verbrauch der Luft besteuert werden. – Wie das Ganze vonstattengehen soll, weiß ich allerdings nicht, und Sie bleiben eine Erklärung dazu auch schuldig.
Zu guter Letzt wollen Sie als Übergangsbestimmung einen neuen Artikel 143h ins Grundgesetz einfügen und möchten damit die Laufzeitbegrenzung der Kernkraftwerke bis 31. Dezember 2022 in Verfassungsrang erheben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es liegt mir fern, hier eine Nachhilfestunde geben zu wollen,
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aber ich möchte doch ein paar grundsätzliche Dinge zum Grundgesetz sagen. Das bekennt sich zum einen in den Grundrechten zu den Menschenrechten; zum anderen legt es die Kompetenzen der Verfassungsorgane fest. Es regelt das Verhältnis von Bund und Ländern und zu überstaatlichen Einrichtungen und nicht zuletzt die Finanzverfassung dieses Staates. Das sind die Grundzüge des demokratischen Rechtsstaats.
Es gibt darüber hinaus fünf Staatszielbestimmungen – und nicht mehr –: zum Ersten die Verwirklichung des geeinten Europas, zum Zweiten das Streben nach einem wirtschaftlichen Gleichgewicht in der Bundesrepublik Deutschland, zum Dritten die Durchsetzung der Gleichberechtigung, zum Vierten den Tierschutz und zum Fünften den Umweltschutz in Artikel 20a Grundgesetz.
In Artikel 20a Grundgesetz, dessen aktuelle Fassung Sie ändern wollen bzw. ergänzen wollen, bekennt sich der Staat genau zu dem, was Sie wollen, nämlich zum Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen für Mensch und Tier durch entsprechende Gesetze, die entstehen sollen, durch Verwaltungshandeln und durch eine entsprechende Rechtsprechung. Ihr Anliegen, das Staatsziel des Klimaschutzes, ist davon bereits mit erfasst.
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Die Bundesrepublik Deutschland erkennt den Klimawandel selbstverständlich an, wenngleich auch nicht alle Mitglieder dieses Hauses.
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Die Debatte erinnert manchmal schon etwas an die um die Evolutionslehre; da gab es auch Leute, die das nie geglaubt haben. – Die Bundesrepublik Deutschland bekennt sich zu den Zielen des Klimaschutzes im Pariser Klimaschutzabkommen und will dazu beitragen, dass die Erderwärmung um 2 Grad zurückgeht.
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Es gibt dazu – das wurde auch von der Kollegin Weisgerber ausgeführt – zahlreiche Initiativen auf nationaler wie internationaler Ebene.
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Insofern trifft es doch gerade nicht zu, Herr Kollege Hofreiter, dass die Bundesregierung hier nichts tut. Es trifft auch nicht zu, Frau Kollegin Scheer, dass der Kollege Amthor das außer Acht gelassen hat. Er hat nämlich ausdrücklich gesagt, dass die nationalen Anstrengungen in diesem Bereich nicht ausreichend sind, dass es vielmehr internationaler Anstrengungen bedarf.
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Es besteht also gar kein Regelungsbedarf und schon gar nicht die Notwendigkeit einer Grundgesetzänderung. Das bringen Sie sogar in Ihrer eigenen Entwurfsbegründung zum Ausdruck. Sie haben darin festgeschrieben – ich zitiere aus der Begründung –, dass Artikel 20a Grundgesetz selbstverständlich auch den Klimaschutz umfasse. Ja, was machen Sie dann mit dem Entwurf? Was soll er dann noch?
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Mit immer detaillierteren Staatszielbestimmungen – das ist das Ziel, das Sie haben: eine Staatszielbestimmung, der Verfassungsrang zukommen soll – schränken Sie die Gestaltungsmöglichkeiten dieses Parlaments im Endeffekt immer weiter ein; denn Sie verschieben die Entscheidungsgewalt vom Parlament in den Gerichtssaal. Gestaltet wird im Plenarsaal und nicht im Gerichtssaal. Das sage ich Ihnen als ehemaliger Richter.
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Unter Staatsrechtlern besteht daher auch weitestgehend Einigkeit darüber, dass eine wachsende Anzahl von Staatszielbestimmungen im Grundgesetz mehr zu Unsicherheit und zu Unübersichtlichkeit, zu Konkurrenzen vieler Staatszielbestimmungen führt – und das gerade dann, wenn man, wie Sie das tun, die Staatszielbestimmungen immer weiter differenziert.
Diesen von Ihnen, meine Damen und Herren von den Grünen, eingeschlagenen falschen verfassungsrechtlichen Weg setzen Sie am Ende fort. Sie gehen ihn ja noch bis zum Schluss; denn in Artikel 143h Grundgesetz, den Sie auch noch aufnehmen wollen, wollen Sie festlegen, dass das Enddatum für die Stromerzeugung aus Kernenergie in den Verfassungsrang erhoben werden soll, und zwar soll das der 31. Dezember 2022 sein.
Doch auch das ist bereits im Atomausstiegsgesetz geregelt. Der frühere Bundesminister und ehemalige Generalsekretär der CDU, der Kollege Hermann Gröhe, hat einmal ganz klar gesagt: Wir befinden uns auf einem unumkehrbaren Weg ohne Hintertür, was den Ausstieg aus der Atomenergie anbelangt. – Indem Sie dieses Ausstiegsdatum in den Verfassungsrang erheben, bringen Sie dieses Land und seine Menschen unter Umständen in die größten Schwierigkeiten. Sie verursachen möglicherweise den energiepolitischen Super-GAU. Was ist denn, wenn wir es nicht schaffen, trotz aller Anstrengungen, innerhalb der vorgegebenen Zeit diese Ziele, den Ausstieg aus der Kernenergie, zu erreichen? Was ist dann?
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Dann brauchen wir Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat, um den Ausstieg noch verlängern zu können.
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Ich bringe es abschließend in Anlehnung an den früheren Bundesminister Franz Josef Jung auf einen Punkt: Das Grundgesetz ist doch kein Warenhauskatalog. – Und ich füge hinzu: … den man je nach Saison gerade mit dem bestückt, was angesagt zu sein scheint.
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Daher unterstützen wir Ihren Antrag nicht.
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Bevor ich die Aussprache schließe, halten wir für das Protokoll fest, dass eine Fraktion einen Verstoß gegen die Geschäftsordnung während des Beitrages des Abgeordneten Beutin bemerkt haben möchte, während der Abgeordnete Müller das als Einladung zum „Wandertag“ in seinen ersten Worten hier qualifizierte. Natürlich wird das Präsidium prüfen, inwieweit ein Regelverstoß vorliegt und wie das Ganze zu behandeln ist. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/4522 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Inneres und Heimat, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: – Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der AfD-Fraktion und der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: – Federführung beim Ausschuss für Inneres und Heimat. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen.
Sehr geehrte Präsidentin! Geehrte Abgeordnete! Was ist das für ein Staat! Tatort Chemnitz. Von einem der vielen migrantentypischen Messermorde muss abgelenkt werden. Eine Demonstration Tausender empörter regierungskritischer Bürger muss schlechtgeredet werden. Was tun? Die Spalterin Deutschlands, Europas und ihrer Partei, die Mutter aller Probleme, übernimmt nicht die sachgerechten Einschätzungen der Sicherheitsbehörden; sie verbreitet lieber, quasi als Sprachrohr der Antifa, einer kriminell agierenden Vereinigung, regierungsamtlich die volksverhetzende Lüge: Menschenjagd in Chemnitz.
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Sie gießt damit Öl in ein Feuer, das erst sie so richtig entzündet. Sie setzt sich damit in Widerspruch zur sächsischen Polizei, Bundespolizei, sächsischem Verfassungsschutz und Generalstaatsanwaltschaft, die übereinstimmend bekunden: Keine Hetzjagden, kein Mob, keine Pogrome.
Ein Verfassungsschutzpräsident stellt die Falschmeldung pflichtgemäß richtig, soll das aber nicht dürfen. Gab es also keine Hetzjagd? Doch – nur nicht in Chemnitz, sondern auf Maaßen.
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Der verfeindete Dreierklub der GroKo ergreift ohne Rechtsgrund eine Disziplinarmaßnahme. Der zur Bekämpfung von Desinformation verpflichtete Aufklärer muss gehen; die Desinformantin bleibt, regiert weiter.
Danach heißt es: Nun dürften wir wieder vertrauen. Und wem? Diesem implodierenden Dreierklub, der seine Beschlüsse über Nacht gemäß Umfragen kippt und ändert.
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Soll Deutschland darüber nun weinen oder lachen? Die Akteure haben ein schlechtes Gewissen ob des Unrechts der Maßregelung. Aber das finanzielle Trostpflaster wird nach fleißig aufgeputschtem Volkszorn eilfertig wieder entfernt. Und für dieses Affentheater presst sich die Regierungschefin doch tatsächlich das Tränchen einer Entschuldigung ab. Sensationell!
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Hat sie je in einer lebenswichtigen Frage Deutschlands auf berechtigten Unwillen des Volkes gehört? Hat sie je sich für die katastrophalen Folgen ihrer Migrationspolitik entschuldigt, zum Beispiel im Fall des inzwischen gern vergessenen Messermords von Chemnitz, wieder die Tat eines nicht Abgeschobenen? Nein, darüber soll Gras wachsen – ein willkommener Nebeneffekt der Maaßen-Inszenierung. Nein, sie diffamiert lieber zu Recht empörte Demonstranten, als die Gewalttaten zu verhindern, derentwegen demonstriert wird.
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Ihr Programm: Ablenken von Existenzfragen der Bürger: milliardenschwere Sparerenteignung, Kollaps von Gerichten, Recht und Ordnung, ein Zukunft vernichtender wachsender Bildungsnotstand. Seit Jahren hält es diese Kanzlerin nicht für nötig, an den Sitzungen zur Sicherheitslage teilzunehmen, regiert gegen die Empfehlungen der Sicherheitsbehörden. Ergebnis: Anis Amri. Maaßen hatte frühzeitig vor den Folgen der unkontrollierten Masseneinwanderung gewarnt. Er muss gehen, weil er sich nicht linker Deutungshoheit unterwirft. Wer an Merkels Wahrheitsmonopol rüttelt, wird abserviert.
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Wichtigste Sicherheitsbehörden sind unter Merkel offenbar nur noch als Echoraum der eigenen Propaganda erwünscht.
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Der neue Verfassungsschutzchef wird dann wohl unmittelbar auf die Kanzlerin vereidigt.
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Der Verfassungsschutz, meine Damen und Herren, muss doch dringend entpolitisiert werden. Er hat weder Merkel noch der SPD noch überhaupt der Politik zu dienen. Er muss unabhängig agieren und darf nicht zum Spielball politischer Interessen werden, wie hier geschehen.
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Und die SPD: Im Innenausschuss mit Herrn Maaßen hatten Ihre Fachpolitiker keine Abberufungswünsche. Die spätere Forderung war eine faktenfrei nachgeschobene, rein politische Agitation, wohl in der Hoffnung auf Umfragepunkte oder gar auf Dienstbarmachung des zukünftigen Verfassungsschutzes – etwa vielleicht zur Ausschaltung von Parteikonkurrenz?
Nein, diese SPD muss sich an einem politisch so mageren Knochen wie der Höhe eines Abfindungsgehalts festbeißen, nur um zu beweisen, dass sie überhaupt noch Zähne hat.
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Für ihren bloßen Existenznachweis in dieser GroKo wird die Republik tagelang lahmgelegt. Aber, meine Damen und Herren, wenn das Herzversagen des zu Tode getretenen Mordopfers von Köthen nichts mit den beigebrachten Verletzungen zu tun hat, dann hat auch das demoskopische Absaufen der GroKo-Parteien wohl nichts mit diesem desaströsen Regierungsstil zu tun. Was für ein Staat!
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Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Stephan Mayer.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auf Antrag der AfD beschäftigen wir uns in dieser Aktuellen Stunde mit den Geschehnissen in Chemnitz am Abend des 26. August am Rande des dortigen Stadtfestes. Wie Sie alle wissen, kam bei diesen in ihrer Dimension unglaublichen Auseinandersetzungen ein 35-jähriger Deutscher zu Tode. Das ist eine neue Stufe der Gewalt,
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die wir – hoffentlich – alle in diesem Hohen Haus zutiefst bedauern und verurteilen. Ich erwähne den Umstand, dass ein Mensch ums Leben kam, nur noch einmal ausdrücklich, weil er in der Folge in der Diskussion aus meiner Sicht etwas zu sehr in den Hintergrund geraten ist.
Einer der beiden Tatverdächtigen sitzt in Untersuchungshaft, nach einem weiteren dringend Tatverdächtigen wird noch gefahndet. Da die beiden Tatverdächtigen nach allem, was wir bisher wissen, ein Syrer und ein Iraker sind, war die tödliche Auseinandersetzung Anlass für mehrere, zum Teil sehr gewaltsame, rechtsgerichtete Proteste und Gegenveranstaltungen in Chemnitz. Es zeigt sich in der Folge eine deutliche Nähe und eine Anschlussfähigkeit der Rechtsextremisten an einen im üblichen Rahmen selbstverständlich gerechtfertigten bürgerlichen Protest.
Ein solcher Protest ist unter dem Gesichtspunkt der Demonstrations- und der Versammlungsfreiheit natürlich auch verfassungsrechtlich geschützt. Ich sage das auch noch einmal ausdrücklich: Natürlich muss man Verständnis für die Menschen haben, die dem Opfer nahestanden oder auch nicht, aber die aufgrund dieses Todes betroffen waren und deshalb ihre Trauer und ihr Mitgefühl zum Ausdruck bringen wollten.
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Besonders erschreckend war dann allerdings die Mobilisierungsfähigkeit der Rechtsextremisten und der Neonazis. Aufrufe in den sozialen Medien sorgten für eine geradezu virale Verbreitung der Protestaufrufe rechtsgerichteter Organisatoren. So gab es am 26. August nach dem Aufruf von Kaotic Chemnitz eine Spontanversammlung mit etwa 800 bis 1 000 Teilnehmern. In deren Verlauf kam es auch zu Straftaten. Am Abend des 27. August versammelten sich dann um die 6 000 Demonstranten vor dem Karl-Marx-Monument anlässlich einer Kundgebung von Pro Chemnitz. Bei beiden Veranstaltungen kam es zu Vorfällen, die eindeutig als fremdenfeindlich oder rechtsextremistisch einzustufen sind.
Augenzeugen berichteten, dass Menschen durch Teilnehmer der Versammlungen verfolgt wurden, bei denen aufgrund ihres Aussehens ein Migrationshintergrund vermutet werden kann. Es kam zu Gewalt, zu Pöbeleien, zu Bedrohungen und zum Zeigen des Hitlergrußes. Diese Vorfälle, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, sind durch nichts zu rechtfertigen, müssen konsequent verfolgt und bestraft werden.
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Besonders verabscheuenswert war der antisemitische Angriff auf das jüdische Restaurant „Schalom“ am Abend des 27. August. Das Restaurant wurde von einer Gruppe vermummter Personen angegriffen und mit Flaschen, Steinen und einer Eisenstange beworfen. Dadurch wurde der Inhaber des Restaurants verletzt. Der Inhaber wurde beschimpft mit dem Satz – ich zitiere –: „Hau ab aus Deutschland, du Judensau!“ – Ende des Zitats.
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Ich muss sagen – das ist meine persönliche Auffassung –: Es ist eine Schande für Deutschland, wenn derartige höchst verwerfliche und unwürdige Sätze wieder skandiert werden können.
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Auch das muss man deshalb auf das Schärfste verurteilen.
Die sächsische Polizei war innerhalb von nur einer Minute vor Ort. Sie hat durch ihr schnelles Eingreifen Schlimmeres verhindert, da die Täter von der weiteren Tatausführung abließen. Derartige Ausschreitungen und Straftaten haben mit einem legitimen demokratischen Protest und dem Wahrnehmen des Grundrechts auf Demonstrations- und Versammlungsfreiheit nichts mehr zu tun.
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Dieses Grundrecht zu gewährleisten und zu schützen, ist unser aller Auftrag, ganz besonders hier im politischen Raum.
Die Bundesregierung hat in der Regierungspressekonferenz am 27. August zu diesen Ereignissen politisch Stellung genommen und sie sehr deutlich verurteilt. Persönlich bin ich der festen Überzeugung, dass die Ereignisse in Chemnitz nicht nur uns, sondern der gesamten Bevölkerung in Deutschland bewusst gemacht haben, wie weit die von mir eingangs erwähnte Anschlussfähigkeit rechtsextremer Bewegungen an bürgerlichen Protest bereits fortgeschritten ist.
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Das Zusammenstehen der demokratischen Kräfte in unserem Land über die Grenzen verschiedener politischer Ansichten hinweg ist deshalb dringend notwendig.
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Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich möchte diese Aktuelle Stunde auch zum Anlass nehmen, um auf die Rolle der Sicherheitsbehörden des Bundes und des Freistaates Sachsen einzugehen. Die Bewältigung des Einsatzes in Chemnitz zur Abwehr von Gefahren und zur Verfolgung von Straftaten oblag zu jeder Zeit den zuständigen Sicherheitsbehörden des Freistaates Sachsen. Gleiches gilt jetzt für die Strafverfolgung, die der sächsischen Justiz obliegt. Sachsen und der Bund haben in Chemnitz – das möchte ich ausdrücklich betonen – in vorbildlicher Weise zusammengearbeitet und tun dies auch weiterhin, bis heute. Der Bund hat mit der Bundespolizei Amtshilfe unter der Verantwortung des Freistaates Sachsen geleistet. Insgesamt waren dabei rund 1 400 Einsatzkräfte der Bundespolizei im Einsatz.
Das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz sind an der Auswertung und Bewertung der Ereignisse in Chemnitz eng beteiligt. Insbesondere werden Erkenntnisse, sowohl aus dem Bereich Rechts- als auch aus dem Bereich Linksextremismus, im Zusammenhang mit den Ausschreitungen und den Veranstaltungen in den nachfolgenden Tagen durch das Bundesamt für Verfassungsschutz bewertet. Die Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder haben die weitere Entwicklung im Zusammenhang mit den Ereignissen in Chemnitz sehr wachsam im Blick und stehen hierzu über die zuständigen Gremien in einem stetigen und intensiven Austausch. Ihnen gelten hierfür – das möchte ich auch ausdrücklich betonen – meine Anerkennung und mein Dank.
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Dies gilt insbesondere für die Beamtinnen und Beamten der Bundespolizei, aber auch für die Beamtinnen und Beamten der sächsischen Landespolizei.
Auch die sächsische Justiz hat durch ihr schnelles und konsequentes Vorgehen gegen die Straftäter von Chemnitz die Entschlossenheit und die schnelle Reaktionsfähigkeit unseres Rechtsstaates unter Beweis gestellt.
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Schon zweieinhalb Wochen nach den Ausschreitungen erfolgte die erste Verurteilung wegen des Zeigens des Hitlergrußes. Das Strafmaß: immerhin acht Monate auf Bewährung und dazu 2 000 Euro Geldstrafe. Inzwischen gibt es mindestens drei Verurteilungen wegen des Zeigens nationalsozialistischer Symbole und Kennzeichen, aber auch wegen Straftaten gegen die Polizistinnen und Polizisten im Einsatz. Aus meiner Sicht sendet die sächsische Justiz hier genau die richtigen Signale in Richtung rechtsextremistischer Chaoten. Im Falle des antisemitischen Angriffs auf das jüdische Restaurant „Shalom“ wird inzwischen auch wegen der Straftat des Landfriedensbruchs gegen die Angreifer ermittelt. Ich möchte nochmals betonen: Der Schutz der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit ist für uns, die Bundesregierung ein zentrales Anliegen, das wir gegen Angriffe von rechts wie von links konsequent und entschieden verteidigen werden.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, eine umfassende Bewertung der Ereignisse von Chemnitz durch den Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Herrn Dr. Hans-Georg Maaßen, ist in der Sondersitzung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 12. September dieses Jahres erfolgt. Aufgrund der weiteren Geschehnisse im Anschluss, die Ihnen allen bestens bekannt sind, haben sich die drei Parteivorsitzenden der Regierungskoalition am vergangenen Sonntag politisch darauf geeinigt, das Amt des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz neu zu besetzen und Herrn Hans-Georg Maaßen in das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat wechseln zu lassen. Ich möchte noch einmal ausdrücklich betonen, dass Dr. Hans-Georg Maaßen aus meiner Sicht ein außerordentlich verdienter, erfahrener und hochkompetenter Sicherheitsexperte ist und ich es persönlich außerordentlich begrüße, dass er uns im Bundesinnenministerium erhalten bleibt.
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Der Bundesinnenminister hat am 19. September 2018 in einer Pressekonferenz das weitere Verfahren zur Umsetzung dieser Einigung erläutert. Diesen Ausführungen habe ich nichts weiter hinzuzufügen.
Ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Stephan Mayer. – Nächster Redner: Wolfgang Kubicki für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Bilder in der Geschichte, die mehr ausgesagt haben, als Worte es je fassen können. Dazu gehören beispielsweise das junge, von Napalm zerfetzte Mädchen in Vietnam oder die Mutter, die am Zaun der Prager Botschaft steht und sich von ihrer Tochter verabschiedet, weil sie nicht über den Zaun kommen kann. Das waren Aufforderungen an die Politik: So etwas darf sich nicht wiederholen; das wollen wir nicht wieder sehen. Und es gab ein Bild in Chemnitz, wo grölende Neonazis mit Hitlergruß und nationalsozialistischen Parolen durch die Gegend gelaufen sind; ich will über die Anzahl gar nicht diskutieren. Ob das nun Hunderte oder Tausende waren:
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Sie mahnen uns, dass wir solche Bilder nicht wieder sehen wollen.
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Ich finde, Herr Gauland, dass die AfD eine besondere Verantwortung hat, und zwar deshalb, weil die AfD den Resonanzboden dafür abgegeben hat, dass diese Leute glaubten, sich öffentlich so präsentieren zu dürfen.
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Sie haben zu einem Trauermarsch aufgerufen. In Wahrheit ging es Ihnen gar nicht um das Opfer.
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Es ging Ihnen nicht um das Opfer. Es ging Ihnen darum, dass Täter ausländischer Herkunft dieses Opfer produziert haben. Es ging Ihnen um die Täter und nicht um das Opfer. Der Inhalt der Botschaft, die Sie senden wollten, war: Ein Deutscher ist von Ausländern getötet worden.
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Ich erinnere daran, Herr Gauland – viele in Ihrer Partei haben keine Geschichtskenntnisse; Sie haben sie; ich weiß das, wir haben darüber miteinander diskutiert –, dass am 9. November 1938 die Nazis die Reichspogromnacht damit begründet hatten, dass ein Deutscher in Paris von einem Ausländer, von einem Juden, erschossen worden sei. Deshalb ist mein Appell an Sie: Beachten Sie die Geschichte, und passen Sie auf, was Sie tun;
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denn Sie untergraben mit dem, was Sie momentan tun, wesentliche Grundlagen unseres Gemeinwesens.
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Damit sage ich nicht, dass Sie an den Ausschreitungen schuld sind. Damit sage ich nur, dass Sie eine besondere Verantwortung haben, der Sie sich gerecht erweisen müssen, wenn Sie weiter im politischen Diskurs mit uns bleiben wollen.
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– Es ist kein Vergleich mit der Nazizeit, Herr Braun. Wenn Sie das nicht begreifen, tut es mir leid. Es ist der Hinweis auf Ihre besondere Verantwortung, der Sie bisher nicht gerecht geworden sind.
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Als sei das nicht genug, dass wir uns insgesamt mit der Frage beschäftigen, wie wir diesen rechtsradikalen Pöbel wieder zurückdrängen können,
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leisten wir uns eine Debatte über die Frage, was denn eine Hetzjagd ist. Es ist doch völlig egal, ob jemand 3, 15 oder 20 Meter laufen muss, ob es einer ist oder ob es mehrere sind.
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Es gibt Bilder, die wir nicht sehen wollen.
Bevor meine sozialdemokratischen Freunde zu euphorisch klatschen: Ich habe einige der anschließenden Verhaltensweisen bis heute nicht verstanden. Ich verstehe, dass die auseinanderfallende Sozialdemokratie als Klammer den Kampf gegen rechts braucht. Das verstehe ich gut. Aber dass man deshalb besonders schrill sein muss, verstehe ich nicht. Man kann über Herrn Maaßen diskutieren, wie man will. Er hat viele Anlässe geboten, ihn zu entlassen.
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Das Gute ist, dass man gar keine Begründung braucht für die Entlassung eines politischen Beamten. Das geht einfach so. Man kann ihn in den einstweiligen Ruhestand versetzen. Das muss der Dienstherr entscheiden.
Aber dass die Causa Maaßen so aufpoppen konnte, wie sie aufgepoppt ist, zeigt mir, dass der politischen Spitze der SPD der Instinkt verloren gegangen ist, was sie ja selbst eingestanden hat.
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– Moment. – Drei Parteivorsitzende treffen sich – man muss sagen: die Dilettantengruppe war unter sich –, um die Causa Maaßen zu erörtern. Andrea Nahles fordert die Entlassung von Herrn Maaßen, und alle drei einigen sich darauf, dass er nicht nur entlassen, sondern auch noch befördert wird zum Staatssekretär im Innenministerium. Ohne Zustimmung von Andrea Nahles an diesem Dienstag hätte es gar nicht zu einer solchen Lösung kommen können. Wer anderes erzählt, verdummt die Bevölkerung.
Jetzt geht es weiter: Nun merken alle drei, dass die Bevölkerung – nicht nur die SPD-Mitglieder, sondern auch die Bevölkerung – auf der Zinne ist, weil sie es nicht mehr verstehen kann, einen Mann, von dem man sagt, man habe kein Vertrauen zu ihm, anschließend noch zu befördern. Die Einkehr ist dann: Man trifft sich erneut. Dazu will ich sagen: Horst Seehofer hat schon am vergangenen Freitag, also vor dem Sonntag, erklärt, dass es einen dritten Vorschlag gegeben habe, nämlich den, Herrn Maaßen als Sonderbeauftragten ins Innenministerium zu holen, und dass das von Andrea Nahles abgelehnt worden sei, nachzulesen in der „Bild“-Zeitung vom Samstag, den 22. September.
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– Es geht ja weiter. Mensch, ich bin ja so froh, dass ihr euch mal einmischt.
Dann treffen sich die drei und kommen jetzt zu der Lösung, die Horst Seehofer bereits in der „Bild“-Zeitung veröffentlicht hat. Der sagt am selben Tag: Ich verstehe die ganze Aufregung gar nicht. Das habe ich doch schon einmal vorgeschlagen, und Nahles ist dagegen gewesen. – Was sagt die SPD? Ein solcher Vorschlag habe nie auf dem Tisch gelegen, es habe nur zwei Vorschläge gegeben. Und am Dienstag kommt mein besonderer Freund Ralf Stegner und erklärt in der „taz“: Alles völliger Quatsch. Dieser Vorschlag komme von Andrea Nahles, er habe schon Dienstag auf dem Tisch gelegen, nur die anderen beiden, Merkel und Seehofer, seien dagegen gewesen.
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Ihr müsst euch mal entscheiden, liebe Sozialdemokraten, was denn nun richtig ist. Die Wirklichkeit zu stutzen, je nachdem, welche Zielgruppe angesprochen werden soll, ist keine richtige Herangehensweise.
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Liebe Freunde, was wir machen müssen, ist – das sage ich in allem Ernst –, bei unserem Kampf gegen rechts nicht glauben zu dürfen, Haltung allein sei eine Problemlösung. Wir müssen den Rechten argumentativ den Boden entziehen. Es ist unsere Aufgabe, die Menschen zu überzeugen. Insofern bin ich froh, dass Herr Brinkhaus, der neue Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, der mit dem „System Merkel“, Konflikte auszusitzen statt auszutragen, aufhören will, gesagt hat: Wir müssen auf die Menschen zugehen, die sich in ihrem Wahlverhalten von den demokratischen Parteien abgewandt haben. Wir dürfen nicht den Rechten nachlaufen, sondern müssen mit den anderen diskutieren; denn es ist unsere Aufgabe als Demokraten, möglichst viele Menschen in den demokratischen Diskurs zurückzubringen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Wolfgang Kubicki. – Nächster Redner: Uli Grötsch für die SPD-Fraktion.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kubicki, ich will an dieser Stelle einmal klarstellen, dass es traurig genug ist, dass es zu den von Ihnen in aller Breite dargestellten Treffen überhaupt kommen musste. Der Grund dafür war, dass der Bundesinnenminister keine Konsequenzen daraus gezogen hat, dass sein Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz die Ereignisse von Chemnitz ganz offensichtlich verharmlost hat. Das war ja der Auslöser für diese Gespräche.
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Ich sage Ihnen aber: Es ist durchaus bezeichnend, dass sich auch der Titel dieser Aktuellen Stunde vor allem mit der Personalie befasst und dass die Personalie die Ereignisse von Chemnitz, die ja der Auslöser dafür waren, auch hier wieder überstrahlt. Es ist bezeichnend, dass wir die Ereignisse von Chemnitz noch in keinem Gremium des Bundestages ausführlich erörtert haben. Es stimmt nämlich nicht, Herr Mayer, dass der Verfassungsschutzpräsident das im Innenausschuss dargelegt hat. Er hat vielmehr sein mediales Handeln gerechtfertigt. Das war es, was im Innenausschuss über weite Strecken passiert ist.
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Diejenigen, die diesem Haus schon länger angehören, werden sich noch an die letzte Wahlperiode erinnern, als wir hier Aktuelle Stunden zu den Ereignissen von Clausnitz und anderswo hatten, in denen wir uns alle miteinander Gedanken darüber gemacht haben, wie wir als Vertreter der demokratischen Parteien dem erstarkenden Rechtsextremismus in Deutschland gemeinsam entgegentreten können. Mein Eindruck ist, dass es in diesem Haus inzwischen zu viele gibt, die nicht mehr darüber reden wollen, die es akzeptieren, dass so etwas in Teilen dieses Landes alltäglich geworden ist, und die, aus welchen Gründen auch immer, diesem Thema und solchen Ereignissen nicht die Aufmerksamkeit schenken, die dringend notwendig wäre.
({2})
Wir haben auch nirgends darüber diskutiert, was denn eigentlich die Aufgabe des Verfassungsschutzes ist, nämlich die Vorfeldaufklärung, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ganz gewiss gehört es nicht zu den Aufgaben des Verfassungsschutzes, Politik zu machen, schon gar nicht tendenziöse Politik.
({3})
Ich sage Ihnen: Die SPD-Bundestagsfraktion wird nicht zuschauen, wenn seitens der Führungsebene des Bundesamtes für Verfassungsschutz auch zukünftig weiter tendenziell Bericht erstattet wird. Es ist meiner Wahrnehmung nach in den letzten Wochen nicht zu leugnen, dass von den tatsächlichen Gefahren, aus welchen Gründen auch immer, abgelenkt wird. Die Gefahr in diesem Land kommt nämlich von rechts. Der Rechtsruck in diesem Land, der wiedererstarkte Rechtsextremismus ist eine Gefahr für den sozialen Frieden in diesem Land.
({4})
Die rechten Hetzer sind die Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung und das friedliche und moderne Zusammenleben in diesem Land und in ganz Europa, meine Damen und Herren.
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Ich will Ihnen sagen, was ich von dem neuen Präsidenten oder auch gerne der neuen Präsidentin des Bundesamtes für Verfassungsschutz erwarte: Ich erwarte, dass die neue Hausspitze einen Geist im Amt etabliert, der dem rechtsnationalen Zeitgeist, den wir in Teilen dieses Landes haben, spürbar entgegenwirkt. Und es muss um die Wiederherstellung von Vertrauen im Verfassungsschutzverbund gehen. Das NSU-Desaster, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat uns gezeigt, was dabei herauskommt, wenn im Bereich des Verfassungsschutzes nicht vertrauensvoll und Hand in Hand zwischen Bund und Ländern zusammengearbeitet wird.
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Deshalb steht die SPD-Bundestagsfraktion für einen Verfassungsschutzverbund, in dem vertrauensvoll zusammengearbeitet wird zwischen dem Bundesamt als Zentralstelle und allen Bundesländern, für einen Verfassungsschutz, in dem ernsthafte Bedrohungen früh erkannt werden und der durch seine Arbeit dafür sorgt, dass der soziale Frieden, der Zusammenhalt im ganzen Land und am besten in ganz Europa gestärkt wird.
Am Ende will ich sagen: Die größte Gefahr für den Zusammenhalt in diesem Land sitzt neuerdings hier in diesem Haus. Wir wollen, dass ein Bundesamt für Verfassungsschutz das zukünftig erkennt. Deshalb fordern wir zukünftig die Beobachtung der AfD durch das Bundesamt für Verfassungsschutz.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der erstarkende Rechtsnationalismus in Deutschland und in ganz Europa kann zum Ende des vielleicht größten Friedensprojekts in der Geschichte der Menschheit führen, zum Ende der Europäischen Union. Aber gegen den erstarkenden Rechtsnationalismus und für Europa wird es auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ein Bollwerk geben, seien Sie sich dessen ganz sicher, und dieses Bollwerk sitzt hier.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Uli Grötsch. – Nächster Redner in der Debatte: Jan Korte für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal: Ich bin gegen eine Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz.
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Dass Sie ein Rechtsextremismusproblem haben, kann man in jeder Sitzungswoche begutachten. Dafür brauche ich keinen Verfassungsschutz, der ansonsten eh nichts mitbekommt.
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Jetzt zu einigen grundsätzlichen Überlegungen. Erstens. Der Tod eines Menschen, egal woher er kommt, bietet sich nicht an, ihn politisch zu instrumentalisieren. Das ist abartig.
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Zweitens. Man muss das in diesen Zeiten hin und wieder sagen: Es gibt erfreulicherweise eine unabhängige Justiz. Zuvor wird durch die Polizeibehörden ermittelt, und dann fällt die Justiz ein Urteil. Es ist gut, dass diese Urteile eben nicht in einer Versammlung gefällt werden, von wem auch immer, sondern von einer unabhängigen Justiz. Daran muss man hin und wieder erinnern in diesen bekloppten Zeiten.
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Die Klärung dessen, was in Chemnitz abgelaufen ist, ist, wie ich lesen konnte, Aufgabe des Generalbundesanwalts. Er wird sich der Sache annehmen. Darüber sollte man einmal nachdenken.
Eines will ich schon noch einmal deutlich sagen: Die Verfassung in diesem Land mit ihrem Kernbestandteil, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, wird und wurde nicht von Herrn Maaßen verteidigt und auch nicht von dem Verfassungsminister Horst Seehofer. Diese Verfassung wird jeden Tag durch Tausende Menschen auf den Straßen und in den Dörfern verteidigt, die sich dem rechten Schwenk entgegenstellen und real etwas tun. Das ist die Wahrheit.
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Ich kann verstehen, dass vor allem die Freunde der Sozialdemokratie nicht weiter darüber reden wollen, aber zur Causa Maaßen muss man schon ein paar Anmerkungen machen. Sie haben da etwas aufgeführt, was selbst für Ihre Verhältnisse wirklich nicht schlecht war. Das kann man sich nicht ausdenken, was da abgelaufen ist.
Zunächst einmal zur Personalie Maaßen. Er ist in seiner Amtszeit vor allem aufgefallen durch Vertuschen bei der Aufklärung der NSU-Morde, völlige Fehlleistungen bei der Aufklärung des schrecklichen Attentats auf dem Weihnachtsmarkt und Verbreiten von Halb- und Unwahrheiten. All das ist schon Grund genug, ihn rauszuschmeißen, um das einmal klar zu sagen.
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Das ist doch nicht irgendeine Petitesse. Wenn man einmal mit diesen Leuten in diesem Land redet, dann merkt man doch, dass gerade etwas passiert, dass etwas ins Rutschen kommt. Das müssten selbst Sie doch irgendwie mitbekommen. Und dann kommt die Lösung: Maaßen soll Staatssekretär bei Horst Seehofer werden – bei wem sonst? – und noch mehr Geld bekommen.
Ich will einmal übersetzen, wie das im realen Leben bei den Menschen ankommt, wenn man mit ihnen redet. Ich will daran erinnern, dass Kassiererinnen gefeuert werden, wenn sie Pfandbonds in Höhe von 70 Cent einstecken. In Ihrer Logik müsste die Kassiererin, die diese 70 Cent eingesteckt hat, sofort zur Marktleiterin befördert werden.
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Wenn dann eine Kollegin sagt: „Marktleiterin ist aber ein bisschen viel“, wird sie eben zur stellvertretenden Marktleiterin gemacht. – Das kann doch nicht allen Ernstes Politik sein. Das Problem dieser an sich aberwitzigen Causa ist, dass Sie die Politik und den Laden hier insgesamt in einer Art und Weise beschädigt haben, wie man es sich nicht schlimmer ausdenken kann. Das ist die grundsätzliche Frage, um die es geht.
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Ich möchte noch etwas zur Rolle der Bundesregierung sagen; die Aufführung ging ja weiter. Immerhin haben sich die Bundeskanzlerin und Andrea Nahles entschuldigt. Das ist anzuerkennen. Es ist ja schon nicht schlecht in diesen Zeiten, wenn man einen Fehler einsieht.
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Interessant ist, wer sich nicht entschuldigt hat, nämlich der Bundesinnenminister Horst Seehofer. Der größte Troublemaker von allen macht einfach so weiter. Ich meine, da stimmt doch im Koordinatensystem irgendetwas nicht mehr.
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Horst Seehofer hat ja zwei Kumpels, zum einen Hans-Georg Maaßen, logischerweise, und zum anderen Sie von der AfD. Das ist an sich schon traurig genug. Aber ich will noch etwas Ernstes zu Horst Seehofer sagen, was politisch durchaus dramatische Züge hat: Es gibt nicht nur eine Gefahr von rechts, es gibt auch eine Gefahr aus der Mitte der Gesellschaft,
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nämlich wenn Menschenfeindlichkeit und Vokabulare der Unmenschlichkeit in der Mitte und bei den Eliten Einzug halten, und bei Horst Seehofer kann man das exemplarisch nachvollziehen. Horst Seehofer redet so wie Sie von der AfD vor einem Jahr. Nun müssen Sie die Hetzdosis jede Woche erhöhen, weil Horst Seehofer so weit nach vorne prescht.
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Das ist eine Gefahr aus der Mitte der Gesellschaft, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Zum Schluss. Wir müssen endlich die Ursachen dafür, dass etwas ins Rutschen gekommen ist, angehen. Das hat etwas mit dem Sozialstaat zu tun. Das hat etwas mit der Panik der Mittelschicht vor dem Abstieg zu tun, und das hat etwas damit zu tun, dass es früher das Versprechen gegeben hat: Meinem Kind wird es einmal besser gehen. Dieses Versprechen ist im neoliberalen Zeitalter politisch aufgekündigt worden, indem gesagt wurde: Kümmert euch selber! Egal was euch passiert, ihr seid auf euch selber gestellt! – Das ist die Grundlage für die Erosion, die wir derzeit erleben. Wenn wir das aufhalten wollen, müssen wir substanziell etwas ändern und den Menschen endlich ihre Würde zurückgeben, ihnen ihre Unsicherheit nehmen und für mehr Planbarkeit sorgen. Das ist Aufgabe der Politik, und man kann die entsprechenden Entscheidungen treffen.
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Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. – Letzte Anmerkung. Heute wurde über die deutsche Einheit gesprochen. Es gab eine Demokratiebewegung und übrigens auch die Arbeiterbewegung, und die hatten ein Ziel, nämlich dass alle Menschen Brüder und Schwestern sein sollen. In dieser Bewegung heißt es nicht, dass die Schwachen gegen die Schwachen ausgespielt werden. Wir brauchen eine neue Ära der Solidarität in dieser Tradition.
Kommen Sie bitte zum Schluss!
Nur dann werden wir das aufhalten, was gerade auf uns zurollt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Jan Korte. – Nächste Rednerin: Monika Lazar für Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die letzten vier Wochen haben Chemnitz aufgewühlt. Ich hoffe, dass besonders die Bürgerinnen und Bürger, die noch nicht aktiv sind, merken, dass es um etwas geht, nämlich um den Erhalt unserer Demokratie.
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Fast unmittelbar nach Bekanntwerden des Tötungsdelikts begannen verschiedene rechtsextreme Gruppen, die Gewalttaten gegen Geflüchtete und generell gegen Migrantinnen und Migranten zu instrumentalisieren. In Chemnitz eskalierte die Situation. Seit dem 26. August kam es an mehreren Tagen zu Demonstrationen und massiven Ausschreitungen gewaltbereiter Neonazis. Ausländisch aussehende, als politisch links bewertete Menschen sowie Journalistinnen und Journalisten wurden beschimpft, eingeschüchtert, körperlich angegriffen und durch die Straßen gejagt.
Am 27. August kamen auf einer Demonstration der extrem rechten Gruppierung „Pro Chemnitz“ rund 6 000 Menschen zusammen, darunter viele gewaltbereite Hooligans. Es wurden mehrfach Hitlergrüße gezeigt. Auch die aktive Zivilgesellschaft versammelte sich an diesem Abend in Chemnitz; ich selber war mit dabei. Wir haben die aufgeheizte rassistische Stimmung unmittelbar erlebt. Durch den zahlenmäßig völlig unzureichenden Polizeieinsatz kam es zu gefährlichen Situationen. Die öffentliche Sicherheit im Stadtzentrum war nicht gewährleistet, und vom Gewaltmonopol konnte man an diesem Abend nicht immer ausgehen.
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Den gewaltbereiten, hasserfüllten Neonazis ging es nicht um das Gedenken an den Toten oder um das Leid der Angehörigen. Ganz offensichtlich sollte sein Tod für rechte Propaganda missbraucht werden. Die Opferberatungsstellen berichten, dass nach den rechten Ausschreitungen in Chemnitz die rassistischen Gewalttaten deutlich zugenommen haben: 93 Taten deutschlandweit, davon allein 34 in Chemnitz.
Die Vorkommnisse in Chemnitz haben erneut gezeigt, wie reformbedürftig die Sicherheitsbehörden gerade im Hinblick auf das Agieren rechtsextremer Strukturen sind. Immer wieder hat der Verfassungsschutz in den letzten Jahren versagt und Vertrauen verspielt: bei dem Oktoberfestattentat, den Morden des NSU und durch Leugnen der Existenz von V‑Leuten im Umfeld von Anis Amri. In der entstandenen Krise gilt es nun, die Chance für eine echte Zäsur und einen Neuanfang beim Verfassungsschutz zu nutzen.
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Mit einem Wechsel an der Behördenspitze allein ist es jedenfalls nicht getan. Wir wollen den Verfassungsschutz in seiner bisherigen Form abschaffen und mit einem institutionellen Neustart grundlegend umgestalten. Ein eigenständiges Institut zum Schutz der Verfassung soll Strukturen und Zusammenhänge verfassungsfeindlicher Bestrebungen erkennen, wissenschaftlich analysieren, beobachten und die Sicherheitsbehörden auf mögliche Zuständigkeiten hinweisen.
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Ein Amt zur Gefahrenerkennung und Spionageabwehr soll für die Aufklärung verfassungsfeindlicher Bestrebungen im Vorfeld konkreter Gefahren zuständig sein, die durch die Analyse offen zugänglicher Quellen nicht mehr geleistet werden kann.
Aber eines darf nicht vergessen werden: Mit Repression allein lässt sich keine Sicherheit schaffen.
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Alle demokratischen Parteien stehen in der Verantwortung, das Problem des Rechtsextremismus angesichts der massiven Angriffe auf unsere Demokratie endlich konsequent und entschieden anzupacken.
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Die Prävention gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit müssen wir auf allen Ebenen verstärken. All diejenigen, die sich für unsere Demokratie engagieren, müssen verlässlich unterstützt werden, zum Beispiel durch ein Demokratiefördergesetz;
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denn eine starke, aktive demokratische Zivilgesellschaft ist der beste Verfassungsschutz.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Monika Lazar. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Dr. Mathias Middelberg.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär Mayer hat eben das Richtige gesagt zur Bewertung des ursprünglichen Verbrechens, das in Chemnitz stattgefunden hat. Er hat auch das Richtige gesagt zu den durchaus legitimen Protesten, die es dort gegeben hat. Herr Kubicki hat eben das Richtige gesagt zu der Frage, inwieweit sich die AfD von dem, was dort dann an Ausschreitungen und Ausfällen stattgefunden hat, abgrenzen sollte.
Ich sage es noch einmal für meine Fraktion: Bei Ausländerhass, Hitlergrüßen, Naziverehrung und Ähnlichem gibt es für uns keine Nachsicht.
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Egal ob Hetze oder Hetzjagden auf andere Menschen: Beides hat in unserem Rechtsstaat keinen Platz.
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Die Durchsetzung des Rechts und das Gewaltmonopol als die entscheidenden Elemente unseres Rechtsstaats stehen für uns nicht zur Diskussion und sind nicht relativierbar. Das betrifft auch die Rolle des Verfassungsschutzes. Aber – und da spreche ich Sie an, Frau Lazar – es kann natürlich nicht einen Verfassungsschutz geben, der nur in eine Richtung schützt.
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Die Gesetze in unserem Land gelten für alle. Es spielt auch überhaupt keine Rolle, wer Gewalt ausübt: Sie gelten nach links, aber auch nach rechts, in beide Richtungen.
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Es spielt überhaupt keine Rolle, auf wen Steine, Flaschen oder Molotowcocktails geworfen werden; ich habe das in der vergangenen Sitzungswoche schon gesagt. Es spielt überhaupt keine Rolle, ob sie auf Flüchtlinge oder auf Polizeibeamte geworfen werden. Beides sind schwere Straftaten und in diesem Land nicht zu dulden.
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Wir haben uns auch heute einige sehr deutliche Kommentare zu den Exzessen in Chemnitz angehört. Diese Kommentare sind richtig ausgefallen, gerade vom linken Spektrum dieses Parlaments.
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Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass es solche klaren und deutlichen Worte auch im letzten Jahr zu den G‑20-Krawallen in Hamburg gegeben hätte.
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Wenn wir uns jetzt die Ereignisse im Hambacher Forst ansehen: Man kann politisch anderer Meinung sein, man kann demonstrieren, man kann protestieren – das alles ist in Ordnung, das ist in diesem Staat verfassungsrechtlich geschützt –,
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aber das Werfen von Molotowcocktails, das Präparieren von Fallen, Zwillenschüsse mit Stahlkugeln auf Menschen, Fäkalienwürfe auf Polizeibeamte und Brandstiftung sind – das sage ich ganz ehrlich – keine Aktionen, sondern Straftaten. Dafür sind auch keine Aktivisten verantwortlich, sondern Straftäter, die verfolgt gehören.
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Diese Einseitigkeit – das war im Kern auch das Plädoyer von Herrn Kubicki, wie Sie feststellen konnten, wenn Sie sorgfältig zugehört haben – müssen wir uns abschminken und knallhart gegen alle sein, die da Gewalt ausüben, die die Grenzen dieses Rechtsstaats überschreiten, ganz gleich, ob die Leute von links oder von rechts kommen. Nach unserem jüngsten Verfassungsschutzbericht haben wir 24 000 Rechtsextreme in diesem Land, davon gewaltorientiert 12 700. Wir haben 28 000 Linksextreme, davon gewaltorientiert 9 000. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Bis auf geringe zahlenmäßige Differenzen kann ich da keinen Unterschied erkennen.
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Das sind auf der einen wie auf der anderen Seite Extremisten, die wir knallhart bekämpfen müssen, genauso wie andere Extremisten oder Islamisten, die diesen Staat und unsere Werte infrage stellen.
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Die Durchsetzung des Rechts muss schneller, konsequenter und sichtbarer werden, und zwar in allen Fällen, was das Ursprungsverbrechen in Chemnitz angeht, was aber auch die Taten angeht, die darauf folgten und die heute hier zu Recht verurteilt wurden.
Abschließende Bemerkung zu Herrn Dr. Maaßen: Herr Dr. Maaßen hat einen Fehler gemacht; das sehen auch wir so.
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Vor allen Dingen hätte er sich besser nicht an die Medienöffentlichkeit gewandt, sondern hätte seine Bedenken intern seinem zuständigen Minister vorgetragen. Das wäre der klügere Weg gewesen.
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Alle weiteren Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden, sind gegenstandslos. Der Vorwurf, er hätte die AfD gecoacht, ist Quatsch. Er hat sich mit allen getroffen, auch mit Sahra Wagenknecht und Gregor Gysi. Es ist wirklich Tinnef, ihm das vorzuhalten.
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Wir waren der Meinung, dass die Vorwürfe nicht ausreichend waren, um ihn abzulösen. Die Beteiligten haben in einem Kompromiss einen anderen Weg gefunden.
Was allerdings nachher über Herrn Maaßen hereingebrochen ist bzw. was dann verbal mit ihm veranstaltet wurde, das war wirklich vollkommen unangemessen.
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Dass das dann darin gemündet ist, dass eine Fernsehredaktion, ein Satiremagazin ihn schließlich als „Schädling“ bezeichnete – die Beteiligten haben sich dafür später glücklicherweise entschuldigt –, das darf in diesem Land – das sage ich ganz ehrlich – nicht vorkommen. Da schließe ich mich ganz den Ausführungen von Herrn Kubicki an. Wir müssen die entscheidenden Grenzen beachten. Eine solche Sprache und Titulierung dürfen wir auf keinen – keinen! – unserer Mitmenschen anwenden.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Dr. Middelberg. – Nächster Redner für die AfD-Fraktion: Leif-Erik Holm.
({0})
Liebe Bürger! Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Grötsch, Sie haben soeben die Katze aus dem Sack gelassen: Sie wollen die AfD politisch vom Verfassungsschutz beobachten lassen. Damit ist klar: Sie wollen den Verfassungsschutz politisch instrumentalisieren, um einen unliebsamen Konkurrenten loszuwerden. Nur darum geht es.
({0})
– Nein. – Das ist aus Ihrer Sicht wahrscheinlich notwendig; denn wenn wir auf Ihre aktuellen Umfragezahlen schauen, dann sehen wir: Ihr sogenanntes Bollwerk steht bei 16 Prozent – hinter der AfD. Bei den anderen Regierungsparteien sieht es nicht besser aus: Die Union ist bei 27 Prozent, die CSU in Bayern vor der Wahl bei 34 Prozent. Alle Parteien Ihrer Zwergenkoalition sind im Eimer. Schuld daran ist nicht die böse AfD, schuld ist Ihre eigene gemeingefährliche Politik.
({1})
Chemnitz und der Fall Maaßen sind weitere Belege dafür. Sie haben es offensichtlich immer noch nicht verstanden: Sie selbst haben all das zugelassen, was die Bürger heute ängstigt. Sie verweigern uns seit 2015 einen Grenzschutz, der seinen Namen verdient.
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Sie haben zugelassen, dass wir heute mit immer größeren Parallelgesellschaften, mit Terror und mit Messerangriffen leben müssen. Das ist Ihre Verantwortung. Sie regieren dieses Land in Grund und Boden.
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In Chemnitz hatten wir einen Toten zu beklagen, umgebracht offensichtlich durch einen Migranten, der illegal in unser Land spaziert ist. Die Messertat von Chemnitz hätte eigentlich ein Weckruf sein müssen. Stattdessen versuchen Sie bis heute, Nebelkerzen zu zünden. Tagelang fiel Ihnen nichts anderes ein, als über angebliche Hetzjagden zu reden, und das, obwohl die Generalstaatsanwaltschaft, die Polizei, der Ministerpräsident und eine Regionalzeitung schnell abgewunken hatten. Es gab keine Hetzjagden.
Wie wir durch meine Anfrage an die Regierung erfahren haben, beriefen Sie sich dabei tatsächlich auf tolle Quellen: auf Schilderungen in sozialen Netzwerken und auf das allseits bekannte Video, das maximal eine kurze Verfolgungsszene zeigt, aber jedenfalls keine Hetzjagd. – Wo bleibt eigentlich Ihre Entschuldigung bei den Chemnitzern, Frau Merkel? Die ist mehr als überfällig.
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Dann kam der Verfassungsschutzchef Maaßen ins Spiel und erdreistete sich, vorsichtig auf die Wahrheit hinzuweisen. Ergebnis: Der Mann musste weg. Was für ein unwürdiges Schauspiel! Da wird ein Behördenleiter rasiert, weil er der Kanzlerin widersprochen hat – ein Mann, der sich um unsere Sicherheit gekümmert hat, von dem Otto Schily, SPD, einmal sagte, er sei einer der besten Beamten, die er je kennengelernt hätte.
Ich finde das Verhalten dieser Koalition zum Fremdschämen. So geht man nicht mit einem verdienten Mann wie Hans-Georg Maaßen um.
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Und dann wundern Sie sich, dass sich die Bürger mit Grausen von Ihnen abwenden. Mich wundert das nicht. Hat eigentlich irgendjemand über die Folgen nachgedacht? Sie haben damit praktisch einen Maulkorb erlassen. Jeder Spitzenbeamte wird in Zukunft Widerspruch vermeiden, um ja nicht den Job zu verlieren.
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Zu einer Regierung aber, die sich nur mit Jasagern umgibt, sagen wir Nein.
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Mit den aufgebrachten Bürgern, die auf die Straße gehen, machen Sie es ähnlich. Statt endlich für die Sicherheit der Bürger zu sorgen, versuchen Sie, unterschiedslos jeden in die Ecke zu stellen, der der Merkel-Doktrin vom grenzenlosen Kunterbuntland widerspricht.
Herr Mayer, es ist ja richtig – da sind wir uns völlig einig –: Jede Straftat muss natürlich verfolgt werden. Da herrscht völlige Einigkeit. Die AfD distanziert sich von jeder Gewalt.
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Im Fall Chemnitz aber haben Sie alle über einen Kamm geschoren. Ich erinnere an die Demo am Montag. Da waren über 800 Chemnitzer Bürger auf der Straße, 50 Extremisten hatten sich daruntergereiht. Mehr als 800 friedliche Chemnitzer Bürger haben zu Recht protestiert, und das können Sie nicht von der Hand weisen.
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Das ist es eben, das Unterschiedlose, das Sie dort machen. Sie begehen praktisch Hetze beim normalen Bürger. Ich kann das ertragen, meine Kollegen hier können das ertragen, aber Sie diffamieren Millionen normaler Menschen, die sich kaum wehren können. Das ist mehr als schäbig und zeigt Ihre mangelnde Demokratiefähigkeit.
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Mir konnte noch niemand erklären, warum ein Bürger, der einfach keine illegale Massenzuwanderung nach Deutschland will, ein Fremdenfeind sein soll. Das ist ein unzulässiger Schluss. Das ist Mumpitz, und das wissen Sie auch.
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Sie höhlen damit Demokratie und Meinungsfreiheit aus. Es traut sich kaum noch jemand, offen seine Meinung zu sagen, weil er Angst davor hat, von Politik und Gesellschaft denunziert zu werden.
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Sie faseln nur, auch von Toleranz, während Sie gleichzeitig versuchen, jeden Andersdenkenden mit der Nazikeule zu erschlagen.
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Das, meine Damen und Herren, ist der Skandal in dieser hysterischen Republik. Genau das erinnert uns Ossis an unselige DDR-Zeiten. Damit spalten Sie die Gesellschaft und nicht wir.
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Solange Sie die Ursachen für die Spaltung unseres Landes nicht erkennen und abstellen, wird sich nichts ändern. Ich habe bei der Merkel-Regierung wirklich keine Hoffnung mehr, dass da noch irgendeine Erkenntnis reift. Insofern hoffe ich sehr, dass das kürzliche Aufbäumen in der Union nicht verpufft, sondern weitergeht, vielleicht auf den nächsten Krisensitzungen nach der Bayern- und der Hessenwahl.
Meine Damen und Herren –
Kommen Sie bitte zum Schluss.
– ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin –, das Agieren der Bundesregierung in den Fällen Chemnitz und Maaßen war katastrophal. Es zeigt einmal mehr, dass die Merkel-Seehofer-Nahles-Truppe es nicht kann.
Deutschland hat das Gewürge satt. Es wird höchste Zeit für einen Neuanfang. Die AfD steht dafür bereit.
Herzlichen Dank.
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Danke schön. – Nächste Rednerin: Susann Rüthrich für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was in Chemnitz geschehen ist, kann keiner rückgängig machen. Erlebt haben wir Vereinnahmungen durch Menschen, die scheinbar nur auf einen Anlass gewartet haben, um eine ganze Stadt in den Ausnahmezustand zu versetzen. Und was hören wir dann von rechts außen? Na ja, mal die Kurzfassung: „Merkel muss weg“ und „Ausländer raus“. Wissen Sie was? Es hängt mir so zum Hals raus!
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Ich frage mich stattdessen: Wie geht es denn den Leuten in Chemnitz jetzt, und was hat das eigentlich mit uns hier zu tun?
Werfen wir einen Blick zurück: Welches Mitglied der Bundesregierung war denn da, als es besonders schwierig war? Richtig, unsere Familienministerin Franziska Giffey. Sie hat getan, was zu tun ist, wenn ein Mensch zu Tode gekommen ist: innehalten, in sich gehen, Beileid zeigen. So zeigt man Trauer und Mitgefühl.
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Danach hat sie sich mit Menschen getroffen, die sich für das friedliche Zusammenleben engagieren, und mit Menschen, die in ihrer Stadt leider Angst erleben müssen, weil sie aufgrund von Äußerlichkeiten bedroht werden. Die hat sie bestärkt, weil das Leute sind, die etwas für ihre Stadt tun wollen. Denn sie wissen: Wir haben die internationalste Uni in ganz Sachsen – ein Drittel ausländische Studierende. Insgesamt bleiben etwa 57 Prozent der Studierenden nach dem Studium in der Stadt. Es sind also noch 43 Prozent übrig, die fürs Bleiben gewonnen werden können; denn die meisten werden bei knapp 7 Prozent Arbeitslosigkeit gebraucht.
Etwa 115 000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze gibt es in Chemnitz, und davon werden alleine in den nächsten zehn Jahren 30 000 durch die Verrentung derjenigen, die da jetzt arbeiten, frei. Das sind gute Jobs, vor allem in der Industrie. Diese Betriebe brauchen Leute, die bei ihnen in Chemnitz arbeiten wollen. Diese Betriebe brauchen Weltoffenheit, weil sie weltweit wirtschaften und exportieren. Deswegen machen die Betriebe – genauso wie die Kammern und die Gewerkschaften – bei Initiativen wie „Chemnitz ist weder grau noch braun“ mit.
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Die erwarten auch etwas von uns, nämlich dass wir den Leuten, die zu uns kommen, und deren möglichen Arbeitgebern keine Steine in den Weg legen. Einwanderungsgesetz, Anerkennung von Abschlüssen, „Spurwechsel“: So etwas haben wir hier zu tun, anstatt irgendwelche Scheindebatten um Überschriften eines Videos oder über die Frage zu führen, wer denn nun Mutter oder Vater irgendwelcher Probleme ist.
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Der größte Arbeitgeber in Chemnitz ist übrigens das Städtische Klinikum. Menschen aus 45 Nationen arbeiten da. Die brauchen eine weltoffene Stadt; sonst kann das Krankenhaus dichtmachen, und die Patientinnen und Patienten gucken in die Röhre.
Es geht aber nicht nur um Wirtschaft und Arbeit. Schauen wir einmal auf die Kultur. Klar, „Kraftklub“ kennt man. Die besingen die Seele der Stadt sehr treffend, nämlich stolz: „Ich komm aus Karl-Marx-Stadt.“ Die Industriestadt Chemnitz hat aber auch eine Industriekultur zu bieten, die einfach faszinierend ist. Oder eine Kunstsammlung. Oder ein Fünfspartentheater. Oder – ich liebe es besonders – das internationale Kinder- und Jugendfilmfest „Schlingel“. Oder die beeindruckende Gedenkstätte auf dem Kaßberg, das Kaßberg-Gefängnis – und, und, und. Damit wird sich Chemnitz um den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt 2025 bewerben, und zwar unter dem Motto „Aufbrüche“.
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Das klingt in Ihren Ohren jetzt vielleicht total absurd – „Kulturhauptstadt“ –, aber das ist es nicht. Der Titel ist nämlich kein Schönheitspreis für die möglichst perfekte Stadt. Die Idee der Kulturhauptstadt und das Wissen um die Brüche, das lebt Chemnitz.
Im Sieben-Punkte-Plan der Oberbürgermeisterin steht dazu:
Die Antwort auf die Frage, wie wir in Zukunft miteinander leben wollen, wird im Prozess der Kulturhauptstadtbewerbung … mit den Chemnitzern erstritten und erarbeitet. Wir reden … darüber, wie Chemnitz wurde, was es heute ist. Mit allen Höhen und Tiefen, Stärken und Schwächen.
Ich würde mich riesig freuen, wenn das mit dem Titel klappen würde, gerne mit der Unterstützung aus Land und Bund.
Brüche: Ja, die haben wir in den vergangenen Wochen in dieser Stadt wie unter einer Lupe gesehen. Aber die gibt es nicht nur da, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir tun gut daran, die Brüche zu lindern, statt sie zu vertiefen, bei uns zu Hause, aber auch im ganzen Land und in der Stadt Chemnitz selbst. Deswegen wird die Stadtgesellschaft am 3. Oktober zusammen mit der Bundesregierung als eine von vielen Veranstaltungen im Rahmen der aktuell laufenden Interkulturellen Wochen ein Fest geben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, es gibt in Chemnitz seit Jahren gewachsene rechte Netzwerke, es gibt Hass und Hetze, es gibt Angriffe auf Menschen und auf unsere Demokratie, und es gibt alles andere eben auch. Ich lade Sie ein: Kommen Sie uns besuchen, sehen Sie, was ist, und erzählen Sie dann, dass Sachsen vielfältig und trotzdem eigen ist, genauso wie Ihre eigene Heimat auch.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Susann Rüthrich. – Nächster Redner: Armin Schuster für die CDU/CSU-Fraktion.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich habe sehr genau aufgepasst bei den Reden von Staatssekretär Mayer, Wolfgang Kubicki, Mathias Middelberg, und ich finde, da gehört auch Frau Rüthrich dazu, die gerade gesprochen hat.
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Ich habe immer wieder fast fraktionsübergreifenden Applaus registriert,
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wenn es um die Fragen ging: Wie notwendig ist die Bekämpfung des Rechtsextremismus? Wie unnachgiebig müssen wir da sein? Was ist mit diesem Tötungsdelikt?
Ich glaube, Herr Grötsch, da muss man nicht bewusst einen Keil zwischen diese vier Fraktionen treiben.
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Ich habe gehört, was Sie gesagt haben. Ich sage Ihnen ganz offen: Es gehört mit zu den schlimmsten Verletzungen, die Sie mir antun können, wenn Sie auch nur annähernd so tun, als hätte ich den Wunsch nach einer Verharmlosung des Rechtsextremismus. Dass Sie das der BfV-Leitung hier am Mikrofon unterstellen, tut mir schon weh, geschweige denn den Mitarbeitern in Köln. Das geht nicht.
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Ich möchte mich – das ist vielleicht ungewöhnlich – bewusst auf die Causa Maaßen konzentrieren, weil alles andere sehr würdig gesagt worden ist. Einige Zitate: „Wenn die Union aber stur bleibt, weiter einen Beamten deckt, der rechtsextreme Verschwörungstheorien verbreitet“, „Schädling“ – das wurde schon genannt –, „Maaßen muss weg“, „Maaßen wurde ... entsorgt.“ Er wurde in ein braunes Fass getunkt, über Wochen. Meine Damen und Herren, ich entschuldige mich hier nicht als Unionsabgeordneter für diese Sprache. Ich entschuldige mich als Bundestagsabgeordneter bei dem Menschen Hans-Georg Maaßen für das, was hier passiert.
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Das waren Zitate von Parteispitzen und von Medien. Ich glaube, dass man sich auch bei den Mitarbeitern von Bundessicherheitsbehörden, insbesondere des BfV, entschuldigen muss. Das nehmen die sehr sensibel wahr. Deswegen bin ich dem Bundesinnenminister dankbar, dass er sich völlig kerzengerade vor Herrn Dr. Maaßen gestellt hat.
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Es war notwendig, dass das ein paar tun.
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Ich gehöre zu denen, die Herrn Dr. Maaßen wahrscheinlich sogar als einer der Ersten aus der Union ziemlich stark kritisiert haben. Das war noch an dem Freitag, als das „Bild“-Interview kam, und an dem Samstag. Ich habe ihn sehr scharf kritisiert: für einen groben handwerklichen Fehler, ja. Aber ich habe wie viele von uns – die Innenpolitiker und die PKGr-Mitglieder – die fünf Stunden erlebt, in denen er befragt wurde, und ich habe verstanden, was seine Motivation war, wie sehr er das bedauert hat und dass er dieses Zitat so niemals wiederholen würde.
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Ich bedanke mich bei den SPD-Innenpolitikern, und ich bedanke mich bei den FDP-Innenpolitikern – was die Union angeht, ist das sowieso klar – für die abgewogene Haltung nach diesen fünf Stunden. Beeindruckend abgewogen war die Haltung, beeindruckend konstruktiv in den beiden Gremien. Da spürte man, dass Maaßen auch überzeugen konnte
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mit dem, was er eigentlich tun wollte, einen großen Fehler eingestehend. Dass dann andere, die nicht an diesen Anhörungen teilgenommen haben, es zur politischen Instrumentalisierung nutzen, halte ich für absolut nicht in Ordnung. Jetzt an die SPD gerichtet: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ihr habt auch Behördenleiter, die ihr besetzt habt, und die sagen manchmal Dinge, da machen wir vier Fäuste in der Tasche,
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und zwar sind die sehr politisierend. Wir würden im Traum nicht auf die Idee kommen, ihren Rücktritt zu fordern. Als Koalitionspartner hat man auch einmal Friede zu wahren. Das hätte ich mir gewünscht.
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Zu den Vorwürfen gegen das BfV, die da angesammelt werden: Meine sehr verehrten Damen und Herren – damit meine ich jetzt wirklich alle –, schließen Sie sich bitte nicht notorischen Misstrauensattacken von Grünen und Linken an, die seit Jahren laufen, egal wie der BfV-Präsident heißt; die finden auch nächste Woche wieder statt, wenn wir einen neuen haben. Das dürfen wir uns nicht zu eigen machen.
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Das BfV ist eine Behörde, die für die Sicherheit in diesem Land kämpft – damit wir gut schlafen können –, die Maaßen beim Thema Proliferation, Bekämpfung von Rechtsextremismus/Linksextremismus in ein ganz neues Zeitalter geführt hat. Nach dem NSU-Debakel hat gerade Maaßen diese Behörde fachlich wie mental neu aufgerichtet.
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Ihm zu unterstellen, er sei auf dem rechten Auge blind, ist ein Stück bösartig, meine Damen und Herren.
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Herr Maaßen ist ein ausgewiesener Experte. Ich bin dem Innenministerium dankbar, dass wir diese Expertise weiter nutzen dürfen.
Ich möchte bei uns schließen, hier wieder: Statt zu teeren und zu federn, rhetorisch, wäre Vergebung auch eine Haltung gewesen.
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Vielen Dank, Armin Schuster. – Nächster Redner: Helge Lindh für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Chemnitz sind wir alle – das meine ich sehr ernst –; denn es geht um das Eingemachte unserer politischen Kultur und um deren Verwerfungen, es geht um unseren Umgang und das, was eingerissen ist im Umgang mit Menschen und Umgang mit Wahrheit. Juli Zeh hat das ziemlich gut beschrieben mit den Worten: Jeder lebt in seinem eigenen Universum, in dem er von morgens bis abends recht hat.
Unsere Aufgabe ist es aber, erst recht nach Chemnitz, eine Klärung in dieser politischen Kultur herbeizuführen. Auftraggeberin dieser Klärung ist unter anderem eine Deutschkubanerin aus Chemnitz, die eine gute Bekannte des Erstochenen war und die jetzt aktuell um die Sicherheit ihres dunkelhäutigen Kindes auf der Straße fürchtet; sie ist unsere Auftraggeberin.
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Wie kann diese Klärung aussehen? Ich denke, wir müssen unterscheiden zwischen den Begriffen „populär“ und „populistisch“. Populär ist es, der Bevölkerung im Ganzen zu dienen. Populistisch ist es, das Volk zu missbrauchen, wie Sie es tun, zu benutzen, zu instrumentalisieren, und das in jeder Sitzung dieses Hohen Hauses.
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Im Übrigen sollten auch einzelne Mitglieder unserer Regierung, die wir mittragen, verstanden haben – spätestens nach Chemnitz –, dass der Versuch, populistisch zu sein, um populär zu werden, kein Erfolgskonzept ist.
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Populär hingegen und im besten Sinne demokratisch ist es, aufgrund von Kritik und demokratischem Druck aus weiten Teilen der Bevölkerung Fehler, klare Fehler, auch zu benennen, zu bekennen, sie zu korrigieren und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Das ist populär und gerade nicht populistisch.
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Populistisch ist anderes: Wenn man sich über Gewalt nur aufregt, sofern sie von Ausländern und Flüchtlingen verübt wurde, ist dies ein Verrat an den Werten dieses Landes.
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Wenn man sich empört über Antisemitismus nicht etwa in den eigenen Reihen, aber nur, wenn man damit Muslime denunzieren kann, dann ist das eine Verhöhnung dieses Landes.
({5})
Und wenn man plötzlich die Frauenrechte für sich entdeckt, aber nur in dem Fall, wenn man Stimmung gegen Araber oder Afrikaner machen kann, zeitgleich aber in den eigenen Papieren Frauenrechte schleift und einschränkt, dann ist das eine Verachtung gegenüber diesem Land.
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Wir alle kennen den Ausdruck „Wir schaffen das“, und wir wissen fast alle, dass er noch mehr durch eine gesamtgesellschaftliche Integrationspolitik hätte unterlegt werden müssen. Aber will denn ernsthaft irgendeiner in diesem Hause infrage stellen, dass die Alternative zu einem „Wir schaffen das“ eine nicht denkbare Alternative wäre? Eine moderne, eine offene Gesellschaft lebt vom Sein und nicht vom Nichtsein. Sie lebt davon, dass wir verliebt sind ins Gelingen und nicht eine zynische Freude, wie zum Beispiel die AfD-Fraktion, am Scheitern haben. Sie lebt davon, dass wir wollen, dass Zusammenleben funktioniert, und dass wir uns nicht daran ergötzen, wenn Gruppen gegeneinander aufgehetzt werden. Das ist der Kern einer demokratischen zivilen Gesellschaft, wie wir sie übergreifend verteidigen müssen.
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Ich hätte nie gedacht, dass ich Folgendes einmal hier in diesem Hohen Hause sagen muss – aber ich tue es ganz bewusst –: Ich spreche vor Ihnen als stolzer bundesrepublikanischer Deutscher und als stolzer Patriot dieses Landes. Ich kann nicht mehr ertragen, wie vor und nach Chemnitz Patriotismus verhunzt wird durch Rechtspopulisten inner- und außerhalb des Parlaments,
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wie der Begriff der Heimat verhunzt, reduziert und denunziert wird durch Rechtspopulisten inner- und außerhalb dieses Parlaments. Nicht sie haben einen Alleinvertretungsanspruch auf Nation und erst recht nicht auf Heimat, nein, wir gemeinsam entscheiden darüber, und unser Heimatbegriff, erst recht nach Chemnitz, ist ein offener und einschließender und kein ausschließender Begriff.
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Deshalb sage ich auch ganz bewusst und selbstbewusst, dass wir die Leitkultur dieses Landes auf unserer Seite haben. Denn was ist die Leitkultur dieses Landes? Die Leitkultur dieses Landes ist das Grundgesetz und auch die kulturellen Traditionen des Abendlandes,
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die aber von Beginn an christlich-jüdische waren und – jetzt werden Sie sich noch mehr aufregen – früh geprägt durch die Begegnung mit dem Orient und dem Islam.
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Wenn Sie es mir nicht glauben: Lesen Sie einen urdeutschen Nachwuchsschriftsteller, sein Name ist Goethe und das Buch heißt „West-östlicher Divan“.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, –
Kommen Sie bitte zum Ende.
– wir brauchen jetzt nicht nur einen Aufstand der Anständigen, wir brauchen endlich einen demokratischen Aufstand
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derjenigen, die dieses Land lieben, gegen diejenigen, die es offensichtlich und erkennbar hassen und verachten. Nur wenn wir diesen gemeinsam, fraktionsübergreifend schaffen, dann kann die Deutschkubanerin, die ich erwähnte, wieder unverbrüchlich dieses Land lieben, mit ihm versöhnt sein und ihr Kind ohne Angst in die Schule schicken.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank, Helge Lindh. – Nächster Redner: Mario Mieruch.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Dieser Zusatzpunkt hätte eigentlich auch super zum Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit gepasst. Denn was passiert um uns herum hier eigentlich und mit unserer Gesellschaft? So stellte die Regierung schon im letzten Jahr fest, dass Globalisierung, demografischer Wandel, regionale Unterschiede die gesellschaftliche Spaltung und die Radikalisierung verschärfen könnten. Die Antwort darauf war in vielen Fällen, die Menschen fühlten sich nur so. Nein, niedrige Einkommen, höhere Arbeitslosenquoten, Hartz‑IV-Teufelskreis, höchste Steuer- und Abgabenlast, höchste Strompreise, Angst der Pendler, ob sie ihren Diesel weiter fahren können usw. usf., eine elend lange Aufzählung, das ist für die Menschen nicht gefühlt, das ist knallharte Realität.
Wer als parlamentarischer Dienstleister der Steuerzahler diesen, dem eigenen Arbeitgeber, die Fähigkeit der eigenen Wahrnehmung abspricht, der braucht sich nicht zu wundern, wenn die sich einen neuen Dienstleister suchen. Das ist auch schon lange kein reines Ost-West-Problem mehr und das ist auch kein Problem, das wir nur in Chemnitz haben, das ist zu einem veritablen gesamtgesellschaftlichen Problem geworden. So brüllen die einen „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“, verbünden sich mit Antifa und Co und machen Party, während ein Vater zu Grabe getragen wird, und die anderen schreien „Merkel muss weg!“, demonstrieren mit Rechtsextremen und Pegida und fragen sich, ob sie den Björn nicht einfach nur falsch verstanden haben.
Dazwischen ist man maximal mit sich selbst beschäftigt, um Posten, Macht und Versorgungsstrukturen zu sichern. Glaubwürdigkeit und persönliche Integrität scheinen überhaupt keine Rolle mehr zu spielen. Man redet trefflich übereinander statt miteinander. Der Fall Maaßen hat sehr schön gezeigt, wie schnell die eigentliche Ursache keine Rolle mehr spielt. Ich danke an dieser Stelle dem Kollegen Middelberg für seinen wirklich sehr sachlichen Beitrag zu diesem Thema. Er hat gezeigt, wie man die Schärfe aus der Diskussion herausnehmen kann.
Als Blaue Partei haben wir für Chemnitz einen runden Tisch vorgeschlagen, damit dieses Land endlich wieder zu einem demokratischen Diskurs zurückkommt, in dem man miteinander spricht; denn so wie keiner für sich die alleinige Wahrheit gepachtet hat, hat auch keiner mehr die absolute Mehrheit in diesem Land hinter sich, und wenn wir den Andersdenkenden nicht mehr mit dem gebotenen Anstand und dem gebotenen Respekt behandeln, dann steht es schlecht um unsere Demokratie. Ich würde sie sehr gerne behalten.
Vielen Dank.
Danke schön, Herr Kollege. – Nächster Redner: Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion über die Causa Maaßen ist für mich genauso wie die Diskussion über Chemnitz eine Versinnbildlichung der aktuellen politischen Diskussionen in diesem Land.
Alles beginnt mit einem Ereignis. Ja, das war in Chemnitz ein tragisches, ein furchtbares Ereignis: der Tod eines jungen Mannes. Ich glaube aber, dass wir alle gut daran tun, wenn wir in den auf ein solches Ereignis folgenden Debatten Wert darauf legen, dass gerade ein solches Ereignis im ewigen Bemühen um Empörung nicht zu sehr in den Hintergrund tritt. Nach diesem Ereignis beginnt sofort ein Streit um die Deutungshoheit, in Chemnitz losgetreten von den Rechten. Dieser Streit wird erwidert vom linken Rand. Ich nehme mir die Freiheit, heute einfach einmal zu sagen: Wer die heutige Debatte erlebt hat und die Wortbeiträge der AfD und die Wortbeiträge der Linken gehört hat, der sieht genau das bestätigt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir sehen einen eskalierenden Streit um die Deutungshoheit, der am Schluss beiden Rändern hilft,
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weil er die bürgerliche Mitte, die demokratische Mitte in unserem Land destabilisiert und aufreibt.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch folgende Frage muss uns beschäftigen: Welche Rolle spielen eigentlich die Medien in diesem Streit um die Deutungshoheit? Ich bin der Auffassung, dass der Streit durch die Medien dynamisiert wird. In einem Zeitalter, in dem nur die Schlagzeile zählt, in dem die objektive Berichterstattung allzu oft in den Hintergrund tritt, traue ich mich, das hier als Faktum festzustellen; denn anders ist nicht zu erklären, dass auch bezüglich Chemnitz von den Medien ein Video in Umlauf gebracht wurde, ohne es zuvor auf Echtheit zu überprüfen.
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Anders ist auch nicht zu erklären, dass die „Tagesthemen“ über den Samstag in Chemnitz berichten und dabei kommentierte Bilder von einem Montag einspielen.
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Deswegen will ich als Zwischenfazit für uns alle feststellen: Ich glaube, wir tun gut daran, mehr Mut und mehr Kraft zu weniger Eskalation und für mehr Objektivität aufzubringen.
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Genau in dieser Stimmungslage äußert sich Herr Maaßen, zugegebenermaßen – daraus mache ich kein Geheimnis – sehr ungeschickt, aber sachlich, wenn wir ehrlich sind, eigentlich nachvollziehbar;
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denn es ist in der Tat ein Problem für die Sicherheitsarchitektur in unserem Land, wenn Bilder, die nicht verifiziert sind, zum Zwecke der Berichterstattung gleich um den Globus gejagt werden. Ein Blick in die digitale Welt zeigt uns, dass es gerade solche Bilder sind, mit denen heute die Gesellschaft gespalten wird.
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Nach diesem Ereignis passiert wieder genau das, was ich vorhin skizziert habe – emotional war das ja auch gerade wieder angelegt –: Nach diesem Ereignis – Äußerung von Maaßen – beginnt der Streit über die Deutungshoheit, diesmal losgetreten von den Linken. Und wieder wird der Streit befeuert von den Medien, mit Unterstellungen, Behauptungen, Entschuldigungen – der Kollege Middelberg hat es aufgearbeitet –, die einfach nicht haltbar sind: Maaßen würde die AfD beraten, er würde Informationen an die AfD weitergeben.
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Besonders tragisch ist aus meiner Sicht – auch das sage ich hier –, dass die SPD auf diesen Zug einfach aufgesprungen ist.
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Ich glaube, zusammenfassend sollten wir Folgendes feststellen: Herr Maaßen ist ein hochkompetenter und integrer deutscher Spitzenbeamter. Er hat sich hochverdient gemacht um die Terrorismusbekämpfung in diesem Land, und er hat eine solche Kampagne nicht verdient.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist eine Kampagne gewesen. Ich bin dankbar, dass vorhin ein Eindruck aus der Sondersitzung des Innenausschusses vermittelt worden ist: Es waren alle kritischen Fragen geklärt. Es gab laut Protokoll keine kritischen Nachfragen mehr. – Dann verging ein halber Tag, an dem nichts passiert ist, bis sich die Ersten überlegt haben: Oh, wir legen noch mal nach; das könnte uns bei den Umfragewerten etwas bringen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das darf nicht passieren; denn es ist ein fatales Signal für die Sicherheitsarchitektur in unserem Land, wenn wir unsere Spitzenbehörden am Schluss für solche Kampagnen preisgeben, sie einer Diskussion unterwerfen, die angeführt wird von den Linksalternativen in unserem Land, von denen wir wissen, dass sie den Verfassungsschutz seit Jahren am liebsten abschaffen würden. Wir sollten ihnen genau diesen Gefallen nicht tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Ende meiner Rede fordere ich deshalb mehr Mut zur Objektivierung und weniger Emotionalisierung.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Alexander Hoffmann. – Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde: Marian Wendt für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Ereignisse in Bezug auf Chemnitz und den Fall Maaßen haben in den letzten Wochen Empörung in der Bevölkerung und auch bei vielen politisch engagierten Menschen ausgelöst, auch bei mir. Ich bedauere, dass es in der Causa Maaßen nicht um Sachpolitik, nicht um Fakten, sondern um Hysterie und Emotion ging.
Zusammenfassend kann man eines sagen: Die vom Verfassungsschutz in die linksextremistische Szene eingeordnete Internetseite der „Antifa Zeckenbiss“ veröffentlichte ein Video, in dem sie behauptete, dass am 26. August 2018 in Chemnitz eine Menschenjagd auf Ausländer stattgefunden habe. Das Video stammt ursprünglich von einer rechtsextremistischen Plattform. Daraufhin äußerte sich Bundesverfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen über den Fall in der „Bild“-Zeitung und versuchte, klarzustellen, dass es sich hierbei um Authentizitätsprobleme handelt.
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Auch wenn man seine Kommunikationsentscheidung sicherlich infrage stellen kann, unterstütze ich die inhaltlichen Aussagen in Bezug auf die Authentizität des Videos und den Versuch der Unterstellung einer Hetzjagd auf Menschen in Chemnitz ausdrücklich. Ich unterstütze auch die Aussagen des Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, dass es in Chemnitz keinen Mob gegeben hat. Nach gründlicher Aufklärung durch die sächsische Polizei und die Justiz können wir das heute so feststellen. Das hat etwas mit Sachpolitik zu tun.
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– Wir haben das so festgestellt. Wenn wir den Behörden nicht mehr vertrauen würden – das tue ich aber –, dann könnten wir gleich Ihrer politischen Polemik folgen. Das werden wir aber nicht machen.
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Es geht auch gar nicht darum, ob wir bezweifeln, dass rechtsextremistische Straftaten stattgefunden haben. Ja, die gab es. Es gibt ganz konkret 150 Ermittlungsverfahren dazu. Die sächsische Justiz hat es geschafft – es mag noch andere Beispiele dafür geben; ich glaube, das sind sehr wenige –, innerhalb von zweieinhalb Wochen die ersten Straftäter zu verurteilen. Jemand geht fünf Monate ins Gefängnis in Sachsen, weil er den Hitlergruß gezeigt hat. Ich glaube, im Kampf gegen den Rechtsextremismus und zur Bekämpfung dieser Straftaten kann man nun wirklich nicht mehr tun, als die Menschen hinter Schloss und Riegel zu sperren.
Der im Video dargestellte Ausschnitt entspricht nicht der gesamten Realität. Das und nichts weiter hat Bundesverfassungsschutzpräsident Maaßen gesagt. Er wollte aufklären, er wollte die Desinformation beseitigen. Das ist sein Job, und dem ist er nachgekommen.
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Ja, ich muss auch sagen: Ich bedauere das Hin und Her und die ganze öffentliche Empörung. Sicherlich war es auch nicht hilfreich, dass jeder der Handelnden in den letzten Wochen gleich eine Absolutposition eingenommen hat. Aber ich möchte auch sagen – und deswegen bin ich stolz auf die Kanzlerin –, dass die nun gefundene Lösung auch der staatlichen Fürsorgepflicht der Regierung gegenüber ihren Beamten entspricht. Ich halte es für sehr angemessen, dass ein kompetenter Mann
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wie Hans-Georg Maaßen, der Einsatz zeigt, nun seine Erfahrungen im Innenministerium einbringen darf. Ich glaube, er ist ein wirklicher Gewinn für die innere Sicherheit in Deutschland.
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Meine Damen und Herren, nach tagelangem Ringen sollte nun Schluss sein mit der Frage, ob jemand nach B 11, B 12 oder B 13 vergütet wird, ob er auf- oder absteigt. Es geht um die Frage einer nachgeordneten Behörde.
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Wir müssen zu einer Versachlichung zurückkommen. Wir müssen die zunehmende Politikverdrossenheit, zu der dieser Fall ehrlicherweise beigetragen hat, bekämpfen. Und wir sollten uns darauf konzentrieren, was alles in den letzten Tagen nebenbei passiert ist. Da haben nämlich die Ministerien und auch unsere Fraktionen fleißig weitergearbeitet, um unser Land in Gänze voranzubringen.
Wir haben mehrere Gesetzentwürfe erarbeitet und bereits in den Bundestag eingebracht: das Pflegestärkungsgesetz, das Gute-Kita-Gesetz. Das Wohngeld wird erhöht, das Baukindergeld eingeführt, mehr Bauland zur Verfügung gestellt, der Breitbandausbau geht voran, und wir reden aktuell auch über mehr Einwanderung von Fachkräften, die wir so dringend brauchen. Meine Damen und Herren, mein Appell: Lassen Sie uns wieder darüber reden; denn das braucht dieses Land und auch dieses Haus.
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Ich habe nämlich einen Wunsch – den hat die gesamte Große Koalition auch –: dass wir in Deutschland als Gastgeber der Fußball-EM 2024 ganz Europa, die ganze Welt zu einem neuen Sommermärchen empfangen,
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dass wir uns als gute Gastgeber präsentieren können, dass die Leute nicht in Zeitungen lesen, wie wir uns über eine Person hin und her streiten, sondern die Gäste weltoffen aufnehmen, dass hier schnelles Internet vorhanden ist, dass die Züge pünktlich fahren,
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dass genügend Autobahnen vorhanden sind, um von A nach B zu kommen, und dass wir gemeinsam einen schönen Sommer haben. Darum sollte es gehen.
Vielen herzlichen Dank.
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Vielen herzlichen Dank, Marian Wendt. – Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Frau Präsidentin! Es ist mir eine besondere Freude, heute schon meine zweite Rede unter Ihrer Präsidentschaft halten zu dürfen.
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Denn es zeigt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir sind im Bereich Gesundheit und Pflege in der konkreten Umsetzung dessen, was wir uns – etwa mit dem vorhin eingebrachten Pflegepersonal-Stärkungsgesetz, mit dem wir konkret die Situation im Arbeitsalltag von Hunderttausenden Pflegekräften in Deutschland verbessern wollen – vorgenommen haben. Mit dem GKV-Versichertenentlastungsgesetz haben wir ein weiteres von drei größeren Gesetzesprojekten im ersten halben Jahr der Großen Koalition angestoßen. Ziel ist es auch hier, im Alltag zu spürbaren Verbesserungen zu kommen. Es geht um konkrete Lebenssituationen, in denen wir entlasten. Und wir können entlasten, weil die wirtschaftliche Lage der Krankenkassen in Deutschland, der gesetzlichen Krankenversicherung, insgesamt sehr gut ist. Deswegen freut sich im Übrigen auch jeder Gesundheitsminister, wenn die Wirtschaft gut läuft. Die Voraussetzung für eine gute Sozial-, Pflege- und Gesundheitspolitik ist am Ende eine gute Wirtschaftspolitik,
({1})
die erst den wirtschaftlichen und finanziellen Spielraum schafft, um in der gesetzlichen Krankenversicherung gestalten oder, wie in diesem Fall, entlasten zu können.
Wenn ich „konkrete Lebenssituationen“ sage, will ich nur ein Beispiel bringen: das Beispiel einer selbstständigen Webdesignerin mit zwei kleinen Kindern. Sie kann nur kleinere Aufträge annehmen, um flexibel genug für die Familienaufgaben zu sein, die sich ihr eben auch stellen. Sie hat bisher im Schnitt gut 1 000 Euro im Monat verdient und darauf den Mindestbeitrag zur Krankenversicherung für hauptberuflich Selbstständige gezahlt. Das waren bisher gut 360 Euro. Den halbieren wir jetzt mit diesem Gesetz. Das ist eine soziale Frage. Für diese alleinerziehende Mutter heißt das: 180 Euro weniger Beitrag zur Krankenversicherung, 180 Euro mehr Haushaltseinkommen pro Monat ab dem 1. Januar. Das ist für etwa eine halbe Million Versicherte, denen es genauso geht, für die der Mindestbeitrag für Selbstständige zur gesetzlichen Krankenversicherung eine soziale Frage ist, eine enorme Entlastung. Deswegen ist es gut, dass wir das heute hier in erster Lesung beraten können.
({2})
Wir sorgen mit dem Versichertenentlastungsgesetz für eine Entlastung aller gesetzlich versicherten Angestellten, deren Beitrag direkt vom Lohn abgezogen wird, indem wir Arbeitgeber und Arbeitnehmer wieder zu gleichen Teilen die Beiträge zur Krankenversicherung zahlen lassen. Dadurch werden Millionen Beitragszahler in Deutschland entlastet, im Übrigen auch alle Rentnerinnen und Rentner in Deutschland um einen Milliardenbetrag entlastet.
Ich finde, wenn wir – erstens – die gute wirtschaftliche Ausgangslage nehmen, wenn wir – zweitens – den Umstand nehmen, dass wir dort, wo es nötig ist – in der Pflege, in der Frage einer besseren Versorgung im ländlichen Raum, den wir mit finanziellen Anreizen attraktiver machen wollen –, Geld zur Verfügung stellen, um zu gestalten und die Versorgung zu verbessern, dann sollten wir – drittens – diejenigen, die den Laden am Laufen halten, die sich jeden Tag darum kümmern, dass die Einnahmen überhaupt erst da sind, auch im Blick haben und sie entlasten. Deswegen ist der heutige Tag mit dem Gesetz, das wir einbringen, ein guter Tag für viele Millionen Menschen in Deutschland, die dann ein paar Euro netto mehr haben. Man kann sagen, ein paar Euro sind nur ein paar Euro; aber ein paar Euro sind dann eben auch ein paar Euro. Für jemanden, der 3 000 Euro verdient, sind es 8 bis 9 Euro mehr im Monat. Das ist spürbar, das macht einen Unterschied. Genau das bringt dieses Gesetz mit sich. Deswegen ist es ein gutes Gesetz.
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– Ein bisschen mehr Freude hätte ich eigentlich angesichts des Umstandes erwartet, dass Sie ungefähr 20 Jahre lang dafür gekämpft haben, dass die Parität wieder eingeführt wird.
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– Kommt gleich noch. Dann bin ich ja beruhigt, dass der Teil dann auch noch kommt. Aber so wird das halt nichts: Wenn Sie sich nicht ab und zu über das freuen, was Sie erreicht haben, dann merkt es halt auch keiner.
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Wir kommen zur Frage der Krankenkassen mit hohen Finanzreserven. Es ist bei den Kassen, die besonders hohe Rücklagen haben, Spielraum dafür vorhanden, zusätzliche Entlastung zu gewähren. Wer Rücklagen in Höhe von drei oder vier Monatsausgaben hat, braucht das Geld auch nicht für Versorgung. Ich höre, dass der eine oder andere sagt: Gebt diese Rücklagen doch lieber in die Versorgung! – Aber dieses Geld wird offensichtlich für Versorgung nicht gebraucht;
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sonst könnten bei einer einzelnen Kasse nicht so hohe Rücklagen entstehen. Deswegen wird es ab 2020 bei solchen Kassen gezielt zu weiteren Entlastungen kommen.
Davor steht ohne Zweifel die Reform des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs an – ein Wortungetüm, bei dem es im Kern um die Frage geht, wie wir alle Krankenkassen, egal wie viel kränkere oder ältere Versicherte sie haben, in eine gleiche Startposition bringen, um eine gute Versorgung leisten zu können. Das wird ein größeres Reformprojekt, das sich an das heute eingebrachte anschließt.
Das Versichertenentlastungsgesetz bringt konkrete Entlastung, konkrete Hilfe für Millionen Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. Ich freue mich auf die anstehenden Beratungen.
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Vielen Dank, Minister Spahn. – Nächster Redner: Jörg Schneider für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! 53 Seiten Versichertenentlastungsgesetz – das ist ziemlich viel Papier für ziemlich wenig Entlastung.
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Und wenn Sie sagen: „Wir führen jetzt wieder die Parität in der gesetzlichen Krankenversicherung ein, wir entlasten dadurch die Versicherten“, dann ist das doch eine Mogelpackung. Den Entlastungen der Versicherten stehen quasi in gleicher Höhe Belastungen der Arbeitgeber gegenüber. Das mag vielleicht zunächst egal sein, aber es wird unter Umständen dazu führen, dass Arbeitsplätze verloren gehen, es wird vielleicht dazu führen, dass neue Arbeitsplätze nicht in dem Maße geschaffen werden. Zumindest aber wird es den Spielraum von Arbeitgebern bei zukünftigen Lohnabschlüssen einengen.
Auf der anderen Seite – ganz egal, wie sich das auf den Arbeitsmarkt auswirkt –: Wir haben noch andere Sozialversicherungen. Da drohen uns Erhöhungen. Für den Versicherten kommt unterm Strich eine Nullsumme heraus. Meine Damen und Herren, mehr Netto vom Brutto? Fehlanzeige! Eine Entlastung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten? Fehlanzeige, meine Damen und Herren!
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Wir haben im Moment eine günstige Konjunktur. Die Sozialkassen sind relativ prall gefüllt. Das verleitet natürlich dazu, dass man Kosten, die eigentlich aus dem Steueraufkommen gedeckt werden sollten, über die Sozialkassen finanziert. Ich nenne einmal zwei Beispiele.
Es ist richtig, wenn wir die Selbstständigen durch Senkung der Beitragsbemessungsgrenzen entlasten. Es ist gesamtgesellschaftlich wünschenswert, dass Menschen den Weg in die Selbstständigkeit gehen. Nur, wenn dadurch auf der anderen Seite den Krankenkassen eine Lücke von 800 Millionen Euro entsteht: Wer trägt das? Nun, das tun die übrigen Versicherten. Das halte ich an dieser Stelle für nicht ganz fair.
Ein zweites Beispiel – das ist noch viel dramatischer –: Wir haben die Belastung durch die Arbeitslosengeld‑II-Empfänger. Für jeden Hartz‑IV-Empfänger werden monatlich knapp 100 Euro an die gesetzlichen Krankenversicherungen abgeführt. Das reicht aber längst nicht aus. Die tatsächlichen Kosten liegen mehr als dreimal so hoch. Das haben Sie im Koalitionsvertrag auch festgestellt. Das sind keine Peanuts. Da sprechen wir über eine Lücke von ungefähr 10 Milliarden Euro. Sie schreiben im Koalitionsvertrag: Das werden wir stufenweise abbauen. – In Ihrem Versichertenentlastungsgesetz finde ich dazu noch nicht einmal ein Stüfchen.
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Wissen Sie, Möglichkeiten für Entlastungen böte ein echter Wettbewerb. Nur, wo findet der Wettbewerb im Moment statt? Im Risikostrukturausgleich. Da werden dann von den Krankenversicherungen Listen eingereicht. Darauf finden sich Namen von Saisonarbeitern, die schon längst nicht mehr in Deutschland sind. Nun gut, diese kosten kein Geld und zahlen auch nichts ein. Aber die Krankenkassen bekommen dann über den Risikostrukturausgleich eine Kopfprämie. Wissen Sie, ich nehme den Krankenversicherungen nicht einmal übel, dass sie auf diese Art und Weise versuchen, einen Wettbewerb zu führen. Welche andere Möglichkeit zum Wettbewerb haben sie denn in diesem einschnürenden Korsett des Sozialgesetzbuchs V?
Ich mache Ihnen einmal einen Vorschlag. Ich persönlich bin privat krankenversichert. Das ist gar nicht so teuer, weil ich im Jahr bis zu 2 000 Euro selber bezahle. Das bedeutet: Wenn ich jetzt nicht gerade schwer erkranke oder einen Unfall habe, zahle ich sämtliche Arztrechnungen und Medikamente selber.
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Warum bieten wir so etwas nicht auch gesetzlich Krankenversicherten an? Warum schaffen wir nicht tatsächlich eine Entlastung für die Versicherten und auch für die Kassen, indem wir den Versicherten passgenauere Lösungsmöglichkeiten anbieten? Dann könnten wir uns vielleicht diesen Pseudowettbewerb zwischen 110 verschiedenen gesetzlichen Krankenversicherungen sparen.
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Wenn Sie jetzt sagen: „Nein, wir brauchen diese 110 Krankenversicherungen“, dann gucken Sie mal nach Österreich.
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Dort wurde Folgendes gemacht: von 21 Krankenversicherungen runter auf 4. Ersparnis für die Versicherten – das ist eine echte Ersparnis – von 1 Milliarde Euro pro Jahr. Wenn ich das vom kleinen Österreich auf das viel größere Deutschland übertrage, dann ist das ein Potenzial von 5 bis 10 Milliarden Euro, das wir hier haben.
Herr Minister Spahn, es wäre doch eine ehrgeizige Aufgabe, auf diese Art und Weise wirklich für eine Entlastung der Versicherten zu sorgen und nicht nur mit einem Gesetz, das gerade mal so heißt.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank, Jörg Schneider. – Nächster Redner: Dr. Karl Lauterbach für die SPD-Fraktion.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Auch ich habe heute zum zweiten Mal die Ehre, unter Ihrer Präsidentschaft vorzutragen. Zunächst einmal ein Wort an den Kollegen von der AfD zu den Kosten. Die Verwaltungskosten im Rahmen der 110 gesetzlichen Krankenkassen liegen bei ungefähr 5 Prozent der Einnahmen. Bei den privaten Krankenversicherungen sind es fast 20 Prozent. Das heißt, die Effizienzreserven liegen bei Ihrer Versicherung, nicht bei den gesetzlichen Krankenkassen.
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Darüber hinaus muss man auch sagen: Es gibt sehr viele Menschen, die sich 2 000 Euro pro Jahr Selbstbeteiligung nicht leisten können.
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Da müssen Sie sich in Erinnerung rufen: Nicht jeder ist so privilegiert wie wir.
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Also, wir brauchen ein System, das auch für die ärmeren Menschen funktioniert und die gleiche gute Versorgung für alle vorhält.
Wir haben in Zukunft erhebliche Mehrkosten zu erwarten: der technische Fortschritt, die Menschen werden älter. Und die Babyboomergeneration, diese riesige Kohorte, kommt in das Alter der chronischen Erkrankungen. Wenn man nach vorne blickt, dann kann man sagen: Die Kosten werden in den nächsten Jahren wahrscheinlich um 40 bis 60 Milliarden Euro steigen.
All dies wäre in Zukunft allein von Arbeitnehmern zu zahlen, wenn wir die Parität nicht einführen würden. Wenn wir die Parität nicht wieder einführen würden, müssten die Kostensteigerungen der Arbeitnehmer von den Arbeitnehmern gezahlt und die Kostensteigerungen der Arbeitgeber ebenfalls von den Arbeitnehmern gezahlt werden. Das wäre ungerecht und falsch gewesen.
({3})
Von daher ist es sehr wichtig, dass wir das heute machen. Herr Spahn hat angemahnt: Darüber muss man sich freuen; wir haben dafür gekämpft. Das ist richtig. Aber um ganz ehrlich zu sein: Ich freue mich, dass wir das durchgesetzt haben – Sie haben es angesprochen –, auch in Erwähnung dessen, dass Sie es immer abgelehnt haben. Das war ja bis zum Schluss umstritten.
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Wir haben es in der Koalitionsvereinbarung durchgesetzt. Somit ist das, was wir hier erreicht haben, ehrbar. Dass Sie das mit – sagen wir mal – Enthusiasmus vortragen, ist richtig. Aber wir sind erst einmal stolz darauf, dass wir das durchsetzen konnten. Wir müssen uns darüber nicht freuen. Das ist kein Geschenk, sondern etwas, das wir mit den Arbeitnehmern und den Gewerkschaften gemeinsam erkämpft haben, auch gegen den Widerstand in Ihren Reihen.
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Richtig ist – das ist auch wichtig –, dass wir die kleinen Selbstständigen im Sinne von kleinen Einkommen unterstützen. So mancher, der als Selbstständiger am Anfang ein kleines Einkommen hat, ist nachher ein großer Erfinder. Jeder hat einmal klein angefangen. Die meisten großen Entdecker haben einmal klein angefangen. Aber die Leute werden derzeit abgeschreckt, und sie werden über Gebühr belastet. Daher geht auch die Zahl der Angestellten mit kleinem Einkommen hoch, und die Zahl der Selbstständigen mit kleinem Einkommen geht zurück. Wir haben keine Gründerkultur.
Ein wichtiger Faktor war tatsächlich die übermäßige Belastung bei der Krankenversicherung. Dort wurde ein fiktives Einkommen zugrunde gelegt; ein Einkommen, das es gar nicht gab. Somit wurde der Krankenkassenbeitrag an einem Einkommen gemessen, das der Selbstständige gar nicht hatte. Das führte zu den Belastungen von 350 bis 360 Euro pro Monat in Abhängigkeit von der Krankenkasse. Das ist natürlich ungerecht.
Wenn dieser Betrag jetzt halbiert wird, dann hat das zwei Effekte. Zum Ersten: Wir werden mehr Gründer haben, weil der eine oder andere sich dann zutraut, ein kleines Gewerbe mit 1 000 oder 900 Euro Gewinn pro Monat anzumelden. Zum Zweiten ist es so: Wir vermeiden, dass viele der Gründer den Fehler machen, in die private Krankenversicherung zu gehen, sodass sie nachher damit konfrontiert sind, 2 000 Euro aus eigener Tasche zu zahlen. Wie gesagt, das kann sich nicht jeder leisten, auch nicht jeder kleine Gründer.
Von daher sind das zwei wichtige Regelungen, die in die richtige Richtung gehen und über die wir uns freuen, aber auch mit einem gewissen Stolz sehen, weil hier SPD-Forderungen umgesetzt werden. Auch daran darf man erinnern.
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Vielen Dank, Karl Lauterbach. – Nächste Rednerin: Christine Aschenberg-Dugnus für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ja, Selbstständige, insbesondere Gründerinnen und Gründer, sind ein wichtiger Bestandteil unserer leistungsstarken und innovativen Wirtschaft. Herr Lauterbach, auch wir wollen mehr Gründer in Deutschland haben.
Aber dazu müssen wir sie auch fair behandeln. Tun wir das bei den Krankenversicherungsbeiträgen? Sie haben es eben schon richtig gesagt: Nein. Gegenüber denjenigen, die abhängig beschäftigt sind und bei denen sich der Versicherungsbeitrag nach dem tatsächlichen Einkommen richtet, wird bei Selbstständigen ein fiktives Einkommen angenommen und daraus der Beitrag errechnet. Diese Ungleichbehandlung wollen wir mit unserem vorliegenden Antrag beseitigen.
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Meine Damen und Herren, im November 2017 hat mir Herr Andreas Müller, ein Blumenhändler aus dem Saarland, eine Petition mit 105 000 Unterschriften zu diesem Thema übergeben. Aus Gesprächen habe ich herausgehört: Die Selbstständigen wollen ja Krankenversicherungsbeiträge entrichten. Aber die Betroffenen empfinden es zu Recht als unfair, wenn sie nicht nach ihrem tatsächlichen Einkommen verbeitragt werden, sondern nach einem fiktiven Einkommen, das sie überhaupt nicht erzielen.
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Aber, liebe GroKo, da hilft es auch nicht, wenn Sie die Mindestbeitragsbemessungsgrenze um die Hälfte absenken. Von 100 Prozent unfair auf 50 Prozent unfair: Da bleibt immer noch 100 Prozent unfair, nämlich für diejenigen Menschen, die weniger als 1 140 Euro verdienen.
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Weil wir eine faire, einkommensorientierte Regelung wollen, fordern wir in unserem Antrag,
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die Mindestbeitragsbemessungsgrenze auf die Geringfügigkeitsgrenze in Höhe von derzeit 450 Euro abzusenken. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, da sind wir überraschenderweise einmal einer Meinung. Aber freuen Sie sich bitte nicht zu sehr und seien Sie nicht zu sehr enttäuscht, dass wir dann, wenn es so weit kommt, Ihrem Antrag nicht zustimmen können;
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denn unter Ziffer II fordern Sie einen Erlass der Beitragsschulden. Das wäre ein Affront gegenüber denjenigen Selbstständigen, die sich das vom Mund abgespart oder bei ihren Verwandten Kredite aufgenommen haben. Bei einem solchen Freifahrtschein wollen wir nicht mitgehen. Deswegen können wir nicht zustimmen. Ich kann Sie aber nur ermuntern, unserem Antrag zuzustimmen.
Ich komme zum nächsten Thema: Parität. Das wurde ja schon angesprochen. Die kassenindividuellen Zusatzbeiträge werden ebenfalls ab Januar nächsten Jahres paritätisch finanziert. Ja, Sie stellen in Ihren Reden immer die Entlastung der Arbeitnehmer heraus. Wir sind ebenfalls immer für Entlastung der Menschen, zum Beispiel der Bürger, indem wir den Soli abschaffen; auch das ist ja eine gute Möglichkeit.
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Aber man muss eben auch einmal sagen: Die Kehrseite der Medaille ist, dass Sie die Arbeitgeber um 4,9 Milliarden Euro jährlich belasten und die Rentenversicherung ebenfalls um 1,5 Milliarden Euro jährlich. Es muss auch einmal gesagt werden, dass die Regierung wieder einmal an der Arbeitskostenschraube nach oben dreht. Liebe CDU, was sagt eigentlich Ihr Wirtschaftsrat dazu? Sagt der überhaupt etwas dazu?
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Ich kann nur feststellen, dass die Sozialdemokratisierung der CDU immer weiter zunimmt.
Lassen Sie mich noch kurz zum Morbi-RSA, zu dem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich, kommen. Eine Reform dieses Ausgleichs haben wir mehrfach angemahnt. Wie schön, dass sich endlich auch bei der Regierung diese Meinung durchgesetzt hat! Denn natürlich ist es richtig, dass man erst dann an ein Abschmelzen der Reserven denken kann, wenn vorher der Morbi-RSA reformiert wurde und diese Aktion Wirkung gezeigt hat. Es kann doch nicht sein, dass seit Jahren bestimmte Kassenarten mehr Geld aus dem Fonds bekommen, als sie benötigen, während die anderen zu wenig erhalten. Der Ausgleich muss doch der tatsächlichen Versorgung folgen.
Was wir jetzt benötigen, meine Damen und Herren – da müssten wir uns doch einig sein –, sind kurzfristige Maßnahmen, um die bestehenden Wettbewerbsverzerrungen, die es unzweifelhaft gibt, zu beseitigen und die bestehenden Manipulationen, die es auch unzweifelhaft gibt, wirksam auszuschließen. Wir brauchen eine regelmäßige Evaluation und Transparenz. Ich bitte die Regierung – ich komme zum Schluss –, Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Als konstruktive Opposition sind wir natürlich jederzeit bereit, Sie dabei tatkräftig zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner: Dr. Achim Kessler für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Entwurf des sogenannten Versichertenentlastungsgesetzes zeigt, dass endlich auch im Gesundheitsministerium Vorschläge der Linken als richtig anerkennt werden.
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Ich finde, dass das lange genug gedauert hat. Es ist richtig, dass es Selbstständigen mit niedrigem Einkommen erleichtert wird, sich in gesetzlichen Krankenkassen zu versichern. Bisher musste ein Selbstständiger mit 800 Euro Einkommen Beiträge zahlen, als hätte er 1 500 Euro. Sie wollen jetzt dieses angenommene Mindesteinkommen auf 1 140 Euro senken. Das geht noch immer an der Realität vorbei. Es muss auf 450 Euro gesenkt werden. Letztendlich sollte jeder Beiträge genau für das Einkommen zahlen, das er oder sie tatsächlich hat. Ich verstehe überhaupt nicht, was daran so schwierig ist.
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Sie sollten sich, Herr Spahn, ein Beispiel an der FDP nehmen. Diese ist nämlich schon weiter. Die Kollegen von der FDP haben gerade einen Antrag von uns aus dem letzten November abgeschrieben,
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allerdings mit einem gewichtigen Unterschied: Nicht nur für Selbstständige, sondern auch für Rentnerinnen und Rentner, Studierende und alle anderen freiwillig Versicherten sollte gelten, dass sie nur Beiträge auf das real erzielte Einkommen zahlen und nicht auf irgendwelche fiktiven Beiträge, die sich die Bundesregierung mal eben so ausdenkt, die die Menschen aber gar nicht in der Tasche haben.
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Herr Spahn, wir begrüßen, dass Zusatzbeiträge künftig paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert werden sollen. Auch da haben Sie von uns gelernt; das muss man ja mal anerkennen. Aber ein echtes Halbe-Halbe von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ist damit noch längst nicht erreicht. Die Versicherten mussten 2017 für Zuzahlungen in Höhe von 4 Milliarden Euro alleine aufkommen. Dazu kommen noch einmal Milliardenbeträge für notwendige, aber von den Kassen nicht bezahlte Leistungen, wie zum Beispiel Brillen und Zahnersatz. An diesen Kosten beteiligen Sie die Arbeitgeber nach wie vor nicht.
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Die Ausgaben für Zahnersatz und auch für Brillen sollten endlich in vollem Umfang erstattet werden, weil es einfach medizinisch notwendige Ausgaben sind. Das könnte aus den Überschüssen der Krankenkassen finanziert werden, anstatt diese in Form von Beitragssenkungen auszuzahlen.
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Herr Minister, Sie inszenieren sich mit Ihrer Ankündigung von Beitragssenkungen als Heilsbringer und Interessenvertreter der Versicherten. Aber warum wollen Sie dann auch den Arbeitgebern von dem Geld etwas zurückgeben, das die Versicherten ganz alleine eingezahlt haben? Die Versicherten haben in den letzten 14 Jahren 145 Milliarden Euro alleine eingezahlt. Wenn davon jetzt noch 30 Milliarden übrig sind, dann sollte das Geld komplett den Versicherten zugutekommen und nicht für Beitragssenkungen zugunsten der Arbeitgeber aufgewendet werden.
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Das, Herr Spahn, wäre nichts anderes als eine gesetzlich verordnete Lohnsenkung. Angesichts dieser politischen Geschenke an die Wirtschaft ist es kein Zufall, dass die Hälfte aller großen Parteispenden nach wie vor an die CDU geht; da ist die CSU noch gar nicht berücksichtigt. Machen Sie endlich Gesundheitspolitik im Interesse der Menschen und nicht im Interesse der Wirtschaft!
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Ich fasse die Position der Linken zusammen: mehr soziale Gerechtigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für Selbstständige, aber auch für Erwerbslose, eine echte Parität der Finanzierung. Das, Herr Spahn, wäre tatsächlich ein Versichertenentlastungsgesetz. Das wäre aber auch ein Signal gegen die aggressiven Angriffe auf die Demokratie von rechts; Jan Korte hat das vorhin sehr treffend ausgeführt. Vor allem wäre es ein Schritt in Richtung einer wirklich solidarischen Gesellschaft. Dafür steht Die Linke bereit.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Achim Kessler. – Die nächste Rednerin in der Debatte: Maria Klein-Schmeink für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister! Ich bin ein bisschen erstaunt über den Verlauf dieser Debatte. Man muss ja ehrlich sagen: Hier ist gerade ein sehr guter Gesetzentwurf eingebracht worden, zwar mit kleinen Abstrichen, aber im Kern ist das ein sehr gutes Gesetz.
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Es ist ein Gesetz, das tatsächlich die Solidarität und den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft wieder stärkt.
Eine zentrale Stellschraube, um die zehn Jahre lang gerungen wurde, ist dabei die Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung der Gesundheitsausgaben, nämlich Hälfte Arbeitnehmer, Hälfte Arbeitgeber. Das ist doch ein riesiger Schritt.
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Ich muss sagen: Herzliche Gratulation, liebe SPD, dass Sie das durchgesetzt haben. Sie tun vielen Menschen in Deutschland damit einen Gefallen. Das ist nicht nur ein materieller Gefallen, sondern das hat auch für die Zukunft eine große Wirkung; denn es geht darum, dass wir sicher sein können, dass gemeinsam die Kosten und die Herausforderungen der demografischen Entwicklungen gestemmt werden. Deshalb ist das ein ganz wichtiges Signal. Das gehört gewürdigt und darf nicht in Petitessen und im üblichen Hin und Her untergehen. Das ist ganz klar ein wichtiger Schritt. Ich bin sehr froh, dass dieser nun gegangen wird.
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Wenn wir über Solidarität reden, müssen wir natürlich auch über den nächsten Schritt reden. Wir müssen in die Solidarität auch all diejenigen einbeziehen, die heute noch nicht Teil sind. Das sind im Wesentlichen die Beamten, die sehr gut Verdienenden sowie Unternehmer und Selbstständige, die sich nicht gesetzlich versichern, meistens dann nicht, wenn sie viel verdienen. Die anderen begeben sich nämlich in den solidarischen Schutz der gesetzlichen Krankenversicherung. Auch da werden wir die nächsten Schritte gehen. Wir werden weiter fordern, dass wir weiter in Richtung Bürgerversicherung gehen oder, man könnte auch sagen, weiter in Richtung gesetzliche Krankenversicherung für alle,
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unter Beteiligung von allen und gemeinsam mit allen gehen.
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Wir reden hier nicht über eine Petitesse, sondern wir reden über eine Entlastung in Höhe von 6,9 Milliarden Euro. Da möchte ich mal sehen, durch welche Steuerentlastungspakete Sie diese Summe bei den Versicherten, bei den kleinen Einkommen, in den Familien ankommen lassen wollen. Das ist ein erheblicher Schritt, und das ist gut so.
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Gut ist auch, dass wir eine Regelung für die Selbstständigen schaffen; denn natürlich ist es so, dass gerade die kleinen Selbstständigen überfordert waren. Aber, Frau Aschenberg-Dugnus, man muss ganz klar sagen, auch in Richtung der Linken: Man kann nicht mit einer Mindestbemessungsgrundlage von 450 Euro arbeiten. Das heißt, dass die kleine angestellte Friseurin für ihre Chefin zahlt, und das kann auch nicht angehen.
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Wir müssen Vergleichbarkeit haben. Denn jeder Versicherte, der angestellt ist, bezahlt auf Grundlage seines Bruttoeinkommens. Die Selbstständigen müssen ihr Nettoeinkommen verbeitragen. Deshalb ist der Vorschlag der Bundesregierung gar nicht unklug. Wir hätten einen ein klein wenig anderen Weg gewählt, aber der jetzt gewählte ist im Kern gut und klug,
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und von daher gehen wir diesen Weg mit.
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Aber gehen wir noch ein anderes Thema an: Wir haben zehn Jahre hinter uns, wo es nur um Dumpingpreise, um die billigste Krankenkasse ging und nicht darum, dass eine Krankenkasse dafür belohnt wird, dass sie gute Leistungen, gute Versorgung und erstklassigen Service für ihre Versicherten anbietet. Dahin müssen wir kommen; davon sind wir leider noch weit entfernt. Das ist der Teil, der uns in diesem Gesetz tatsächlich fehlt. Wir möchten gern, dass man als Versicherter sehr schnell sehen kann: Setzt sich die Versicherung für mich ein? Tut sie etwas für die gute Versorgung eines Diabetikers? Tut sie etwas dafür, dass ich meine Antragsleistungen schnell bekomme? Habe ich eine gute Qualität bei der Hilfsmittelversorgung? Das wären die Fragen, die wir klären sollten. Wir sollten die Krankenkassen dafür belohnen, wenn sie sich einsetzen, wenn sie gute Qualität abliefern, wenn sie sich an die sozialen Bürgerrechte halten. Das würden wir gerne sehen, und das werden wir auch in die weiteren Beratungen mit einbringen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Maria Klein-Schmeink. – Nächster Redner: Stephan Pilsinger für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe mich heute über zwei Sachen besonders gefreut: Erstens. Ich habe trotz Erdogan das Parlament erreicht. Zweitens. Die EM kommt nach Deutschland, und darüber freue ich mich besonders.
Die Anträge der Opposition sind wahrscheinlich nach dem Motto gemacht, das in der Fußballwelt bekannt ist: Wenn wir nicht gewinnen können, dann treten wir wenigstens den Rasen kaputt. – Deswegen, denke ich, müssen wir heute über das Gesetz sprechen und die Tatsache, dass die Anträge der Opposition in vielfältiger Weise einfach das Thema verfehlen.
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Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Beitragsentlastung der Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung setzt Bundesminister Spahn die im Koalitionsvertrag zugesagten Schritte zur Beitragsentlastung in der gesetzlichen Krankenversicherung richtig um. Die Forderungen in den Anträgen der Fraktion der FDP sowie der Fraktion Die Linke sind daher eigentlich nicht nachvollziehbar.
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Die Forderung der beiden Fraktionen, den Grenzwert für die Mindestbeitragsbemessung für alle freiwillig Versicherten einheitlich auf 450 Euro monatlich zu reduzieren, ist überflüssig; denn bei der Bestimmung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit müssen mindestens die Einnahmen des freiwilligen Mitglieds berücksichtigt werden, die bei einem vergleichbaren versicherungspflichtig Beschäftigten der Beitragsbemessung zugrunde zu legen sind. Dies ist jetzt schon in § 240 Absatz 2 SGB V geregelt.
Die Forderung der Fraktion Die Linke, Aktienspekulationen und ‑anlagen mit Beitragsgeldern zu verbieten, ist ebenfalls überflüssig. Durch die Möglichkeit, einen begrenzten Anteil des Deckungskapitals von bis zu 20 Prozent in Altersrückstellungen anzulegen, können – im Hinblick auf die langfristige Anlage – höhere Erträge erzielt werden. Außerdem kann dadurch das Anlageportfolio stärker diversifiziert werden. Etwaige Verlustrisiken werden durch die Vorgabe eines passiven, indexorientierten Anlagemanagements begrenzt.
Die Forderung der Fraktion Die Linke, Zusatzbeiträge in der GKV ganz abzuschaffen, finde ich kontraproduktiv. Zum einen sind diese notwendig, damit die Krankenkassen kostendeckend arbeiten können; denn der allgemeine Beitragssatz ist für viele Krankenversicherungen nicht kostendeckend. Würde man nun den Zusatzbeitrag abschaffen, würde dies zu einer Erhöhung der allgemeinen Beitragssätze führen, damit die Kassen auch weiterhin kostendeckend arbeiten können. Dies kann nicht gewollt sein, da damit keine Entlastung der Versicherten, sondern eher eine Belastung erreicht werden würde. Zum anderen finde ich Zusatzbeiträge sinnvoll, um den Wettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen zu fördern.
Der Gesetzentwurf zum Versichertenentlastungsgesetz geht richtigerweise noch über das im Koalitionsvertrag Vereinbarte hinaus. Er enthält Regelungen zum Abbau von Finanzreserven bei Krankenkassen, um die Beitragszahler zu entlasten. Die gesetzlichen Maßnahmen sind angesichts der Entwicklung der Überschüsse und Finanzreserven der Krankenkassen notwendig. Sie sind leider aber auch nötig, weil zahlreiche Krankenkassen keine Bereitschaft erkennen lassen, vorhandene Spielräume für Beitragssenkungen im Sinne ihrer Versicherten zu nutzen.
Gut und richtig finde ich in diesem Zusammenhang auch die im Gesetzentwurf angelegte Reformierung des Risikostrukturausgleichs. Die Rücklagen der einzelnen Krankenkassen verteilen sich sehr unterschiedlich. Einige Krankenkassen haben deutlich höhere Rücklagen als gesetzlich vorgeschrieben. Andere Krankenkassen verfügen kaum über die gesetzliche Mindestreserve. Die Ursachen hierfür finden sich im Risikostrukturausgleich. Einige Kassen haben in kurzer Zeit von diesem Mechanismus profitiert und bei sinkenden Zusatzbeiträgen erhebliche Rücklagen angehäuft. Gleichzeitig geraten andere Krankenkassen zunehmend unter Druck, müssen ihren Zusatzbeitragssatz anheben und können kaum Reserven bilden.
Deshalb ist es so wichtig, dass der Risikostrukturausgleich als Ursache für die unterschiedlich hohen Rücklagen angegangen wird. Ansonsten ist zu befürchten, dass der Abbau der Rücklagen die Unterschiede zwischen den Kassenarten noch weiter verschärft und zu einer weiteren Verzerrung im Wettbewerb führt.
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Und ich finde es wichtig, dass es einen fairen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen gibt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Pilsinger. – Es gab hier die Frage, was „EM“ heißt. Das war schlecht zu verstehen. Sie als Münchner meinten die Europameisterschaft im Fußball. Ich kann mir schon denken, warum.
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Da gab es hier oben eine Irritation.
Die nächste Rednerin: Bärbel Bas für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich tatsächlich bedanken, nachdem wir lange über die Parität diskutiert haben: einmal beim Koalitionspartner, weil hieran deutlich wird, dass diese Koalition in der Tat auch gute Sacharbeit machen kann und auch zu vernünftigen Entscheidungen kommt.
In Richtung AfD kann ich nur sagen: Die Arbeitgeber werden entsprechend beteiligt. Wenn sie zum Beispiel in Selbstverwaltungsorganen zu gleichen Anteilen über die Gesundheitspolitik mitreden, dann haben sie sich gefälligst auch zu gleichen Teilen an der Finanzierung zu beteiligen.
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Das hat die Union erkannt. Dafür herzlichen Dank.
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Ich bedanke mich aber auch bei der Kollegin Maria Klein-Schmeink, weil sie deutlich gemacht hat, dass mit diesem Gesetz, wenn auch in der Tat keine umfangreiche Reform drinsteckt, dennoch eine Milliardenentlastung kommt.
Wir haben Dinge angepackt. Der Bereich der Selbstständigen ist gerade schon von anderen Kollegen angesprochen worden. Die Anträge liegen vor. Da kann man sich sicherlich noch über das eine oder andere unterhalten.
Wir als SPD-Fraktion haben auch noch einen Punkt: das Krankengeld bei Selbstständigen. Darüber kann man im Laufe des Verfahrens auch noch mal reden. Das bedeutet eine Entlastung für viele, und damit berücksichtigen wir auch, dass sich die Arbeitswelt verändert hat, dass es zunehmend Selbstständigkeit gibt, die gewollt ist und die trotzdem vom Einkommen her eher im Bereich der Einkommen von Arbeitnehmern ist. Trotzdem soll dieses Modell unterstützt werden. Deshalb ist der Schritt genau richtig, hier Krankenversicherung nicht zu verhindern, indem man die Mindestbeitragsbemessungsgrenze zu hoch ansetzt. Wir haben sie halbiert. Das hilft ganz, ganz vielen Selbstständigen.
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Ich will einen Bereich nennen, der hier noch gar nicht angesprochen worden ist und der sich im Moment vielleicht klein anhört: Es geht um die Zeitsoldaten. Es gibt Soldaten und mittlerweile auch Soldatinnen, die, bevor sie Zeitsoldaten wurden, in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert waren, dann während der Dienstzeit privat versichert waren und hinterher keine Möglichkeit hatten, in die gesetzliche Krankenversicherung zurückzukommen. Das war auch ein Anliegen der Kolleginnen und Kollegen aus dem Verteidigungsausschuss. Es ist für die Soldatinnen und Soldaten eine wirkliche Errungenschaft, dass wir ihnen ermöglichen, wieder in die gesetzliche Krankenversicherung zurückzukommen.
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Zum Schluss möchte ich zu den Finanzen auch noch kurz was sagen. Ja, Rücklagen sind angehäuft worden. Wir wissen alle, dass das möglicherweise auch in dem derzeitigen Risikostrukturausgleich begründet liegt. Den wollen wir reformieren. Deshalb ist es richtig, dass der Minister sich darauf eingelassen hat, zu sagen: Wir schmelzen die Rücklagen nicht sofort ab, sondern wir schauen erst, wie der Risikostrukturausgleich nach der Reform aussieht.
Für die SPD-Fraktion will ich hinzufügen: Möglicherweise müssen wir uns im Rahmen der Anhörung und weiterer Debatten auch noch mal anschauen, ob es klug ist, direkt zum 1. Januar 2020 mit der Abschmelzung zu beginnen. Denn wir wissen dann möglicherweise noch nicht, wie der neue Strukturausgleich bei den Kassen wirken wird. Vielleicht müssen wir noch mal darüber nachdenken, ob wir nicht ein Jahr später damit beginnen, um zu gucken – weil es eine größere Reform werden wird –: Wie wird dieser Finanzausgleich auf alle Kassen wirken? Das würden wir im Zweifel noch mal in die Diskussion einbringen wollen. Das müssen wir uns anschauen.
Ansonsten ist dieses Gesetz wirklich eine Errungenschaft. Es hat den Namen verdient: Es ist ein Entlastungsgesetz. 6,9 Milliarden Euro sind keine Kleinigkeit.
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Vielen Dank, Bärbel Bas. – Der letzte Redner in der Debatte: Tino Sorge für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren in der heutigen Plenarsitzung schon das zweite Mal ein Gesetzesvorhaben aus dem Gesundheitsbereich. Das zeigt: Im Ministerium von Jens Spahn herrscht eine hohe Schlagzahl. Die Regierungskoalition kümmert sich um die Themen, und die Regierungskoalition arbeitet gut zusammen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Versichertenentlastungsgesetz zeigt aber auch, dass wir eine verantwortungsvolle Gesundheitspolitik machen; denn es ist eine solide Kassenlage vorhanden. Es ist schon viel zum Gesetz gesagt worden. Wir haben tatsächlich eine sehr gute Arbeitsmarktlage. Dies führt dazu, dass wir Themen wie die Wiederherstellung der Parität bei den Versicherungsbeiträgen gemeinsam angehen können. Das entlastet Arbeitnehmer auch vor dem Hintergrund steigender Krankenversicherungsbeiträge, zu denen es durchaus kommen kann. Wir bereiten gleichzeitig eine Entlastung der Selbstständigen bei den Versicherungsbeiträgen vor. Wir senden damit ein klares Signal, dass wir in diesem Bereich diejenigen entlasten wollen, die den Laden am Laufen halten, das heißt diejenigen, die jeden Tag unsere Gesellschaft tragen, die Leistungsträger; und das ist gut so.
Es ist schon ein bisschen befremdlich, wenn Sie, lieber Herr Kollege Schneider von der AfD, zur Entlastung sagen, das sei gar nichts und das sei nur eine Mogelpackung. Wir reden hier über 8 Milliarden Euro pro Jahr. Wenn das in Ihren Augen eine Mogelpackung bzw. gar nichts ist, dann, glaube ich, ist das ein Ausdruck davon, dass die Realitäten sehr stark verschoben wurden.
Das Gesetz zeigt aber auch, dass Jens Spahn sein Leitmotiv „Entschlossenheit“ verfolgt. Ich bin ihm wirklich dankbar dafür, dass er die Debatte im Gesundheitsbereich viel stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt hat.
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Man kann sich darüber streiten, ob wir die Debatte in der einen oder anderen Frage so kontrovers führen müssen. Aber ich glaube, es ist gut, dass wir die Debatte führen und dass wir gerade im Bereich der Gesundheitspolitik über diese Dinge sprechen.
Wir reden beispielsweise bei der Pflege über die Frage: Wie können wir im Pflegebereich die Situation der Pflegefachkräfte, aber auch der Pflegebedürftigen verbessern? Wir haben dazu heute schon das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz debattiert.
Gestern hat das Kabinett das Terminservice- und Versorgungsgesetz beschlossen, also Eckpunkte dafür, dass wir den Patienten schneller und mehr Sprechstunden anbieten können.
Wie wir mit anderen Berufsgruppen umgehen und wie wir eine bessere Vernetzung zwischen den Berufsgruppen herstellen können, haben wir im Eckpunktepapier zur Heil- und Hilfsmittelversorgung festgehalten. Das ist auch ein wichtiger Bereich, den wir uns angucken müssen, und wir müssen natürlich auch in diesem Bereich die Gesundheitsberufe unterstützen.
Und wir haben heute, vor einigen Stunden, die Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“ konstituiert. Das ist, glaube ich, ein Bereich, in dem wir perspektivisch noch mehr schauen müssen, wie wir die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz, digitaler Anwendungen und Digitalisierung viel stärker in den Gesundheitsbereich übertragen können. Wir reden hier über selbstlernende Algorithmen, über neue radiologische Diagnosemöglichkeiten, durch die wir die Versorgung von Menschen, von Patienten ganz konkret verbessern können.
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Das sind Punkte, an denen wir weiterarbeiten wollen. Wir wollen die Digitalisierung vorantreiben. Wir wollen aber auch ermöglichen, dass Wirtschaft, dass Industrie gute neue Ansätze in die Versorgung integrieren kann.
Insofern – nehmen Sie es mir nicht übel, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition –: Wir müssen uns nicht immer im Klein-Klein darüber ergehen, was vielleicht hätte noch mehr oder besser gemacht werden können. Lassen Sie uns doch gemeinsam mal sagen, was gut gelaufen ist. In diesem Sinne wünsche ich mir eine gute Diskussion, freue mich auf die Diskussion zum Gesetzentwurf und bedanke mich für konstruktive Vorschläge.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Tino Sorge. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/4454, 19/4552, 19/4538, 19/4320, 19/102 und 19/4244 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind offensichtlich damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Meine Damen und Herren! Es geht noch mal um das Grundgesetz; das hatten wir heute schon einmal. Aber diesmal wollen wir es nicht mit ideologischem Unsinn überfrachten, so wie vorhin die Grünen bei Tagesordnungspunkt 6 der Klimahysterie, sondern wir wollen es behutsam weiterentwickeln und den aktuellen Herausforderungen anpassen – so wie wir von der AfD nun einmal sind.
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Es geht – das muss vorausgeschickt werden, da ich nachfolgend mal wieder unterirdische Reden von Ihnen befürchte – um den bereits existierenden Artikel 18 unseres Grundgesetzes, der dem Bundesverfassungsgericht – und niemand anderem – das Recht gibt, die Verwirkung von Grundrechten auszusprechen. Wer Grundrechte wie beispielsweise die Meinungs- oder die Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit und – man höre und staune – das Asylrecht zum Kampf gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung missbraucht, der verwirkt diese Grundrechte. Das ist geltendes Verfassungsrecht in Deutschland; und das ist auch gut so.
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Wer aber sein Grundrecht aus Artikel 2 Grundgesetz, also das Grundrecht auf ungestörte Religionsausübung,
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zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt dieses Grundrecht bisher nicht. Und nur das wollen und müssen wir ändern. Es geht also nicht, wie gleich die Folgeredner hier vorne wahrscheinlich wieder hetzerisch und wahrheitswidrig behaupten werden, um die Infragestellung der Religionsfreiheit oder sogar darum, dass wir von der AfD irgendetwas verbieten wollen. Nein, es geht darum, unseren Staat und unsere Demokratie wehrhafter gegenüber ihren Feinden zu machen. Und das, meine Damen und Herren, ist weiß Gott dringend erforderlich.
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Übrigens: Bereits die Mütter und Väter des Grundgesetzes hatten dies 1948 erkannt, letztendlich aber davon Abstand genommen, die Religionsausübungsfreiheit in den Verwirkungstatbestand aufzunehmen, weil sie damals noch Erinnerungen an den Kulturkampf hatten, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter Reichskanzler Bismarck die Gesellschaft beschäftigte. Meine Damen und Herren, das ist 150 Jahre her und sollte uns hier und heute im Bundestag des Jahres 2018 – natürlich im Gegensatz zu den Vätern und Müttern des Grundgesetzes vor etwa 70 Jahren – nicht weiter beeinflussen, weil es nicht mehr aktuell ist.
Was aber äußerst aktuell ist und uns sehr wohl beeinflussen sollte, ist die Tatsache, dass von einigen, und zwar immer zahlreicher werdenden, in zunehmend gefährlichem Maße die Religionsausübungsfreiheit zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung missbraucht wird, meine Damen und Herren.
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Und das dürfen alle, denen unser Gemeinwohl und unsere Gesellschaft am Herzen liegen, nicht zulassen.
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Die fraglos schon bestehenden Möglichkeiten müssen ergänzt werden, ganz aktuell zum Beispiel mit der Folge, Auftrittsmöglichkeiten von Personen, die unter Missbrauch der Religionsausübungsfreiheit gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung eifern und geifern, zu verhindern. Also wenn wir das einschränken, können Auftritte verhindert werden. Das geht bisher nicht. Und genau darum geht es und um nichts anderes. Unserem Staat als wehrhafter Demokratie und hier konkret dem Bundesverfassungsgericht soll die Möglichkeit eingeräumt werden, vorbeugend tätig zu werden.
Und um das zu erreichen, meine Damen und Herren, erweitern wir auch den Kreis derjenigen, die das Bundesverfassungsgericht anrufen können; bislang sind das lediglich der Bundestag, der Bundesrat und die Landesregierungen. Das hat bislang nicht funktioniert; schauen Sie auf die mageren vier Fälle, die es bisher zu Artikel 18 gab. Zukünftig sollen auch die ordentlichen Gerichte – das werden dann die Strafgerichte und die Verwaltungsgerichte sein – die Möglichkeit bekommen, bei Verdacht Fälle dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen. Ich bin sicher, dass diese Norm dann eine scharfe Norm wird in Zukunft, wenn sie so geändert wird, wie wir das wollen.
Dass eine Norm selten zur Anwendung kommt – das wird wahrscheinlich auch gleich von Ihnen eingewandt –, spricht natürlich nicht gegen diese Norm. Wir haben vier Fälle zu Artikel 18 herausgefunden. Es gab erst drei Fälle, was das Parteienverbot nach Artikel 21 Absatz 2 Grundgesetz angeht. Und auch da kommt ja niemand ernsthaft auf die Idee, diese Vorschrift abzuschaffen, meine Damen und Herren. Allein die Existenz von Normen wirkt manchmal schon sehr erzieherisch.
Meine Damen und Herren, abschließend noch mal: Jeder soll und kann, auch nach Meinung der AfD, nach seiner Fasson glücklich werden und vor allem glauben, an was er will. Daran soll nichts geändert werden, und daran wollen wir auch nichts ändern. Wer aber unter Missachtung unserer Werteordnung, unter dem Deckmantel der Religion sein Grundrecht auf ungestörte Religionsausübung zum Kampf gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung missbraucht, der darf in Deutschland nicht glücklich werden, der muss verfolgt werden, dessen Taten müssen geahndet werden, und der darf sich schon gar nicht auf unsere Grundrechte berufen.
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Wer also seinen Kampf gegen das Grundgesetz hinter Grundrechten versteckt, ihn quasi dahinter verschleiert, meine Damen und Herren, verwirkt diese Grundrechte; und deshalb dieser Antrag.
Sie merken, ich war ganz unaufgeregt. Ich habe auch versucht, keine Religion zu erwähnen,
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weil wir ja generell und abstrakt vorgehen wollen und nicht etwa eine Religion im Blick haben. Das, was wir fordern, gilt für alle. Die AfD will ein starkes, nach außen und innen wehrhaftes Deutschland und eine starke wehrhafte Demokratie. Wir werben um Ihre Zustimmung. Lassen Sie uns die gefährliche Lücke in Artikel 18 Grundgesetz gemeinsam schließen.
Vielen Dank.
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Als Nächstes hat das Wort der Kollege Ingmar Jung, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Brandner, auch wenn Sie schon erklärt haben, dass alle Reden nach Ihnen hetzerisch und aufgeregt sind,
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will ich versuchen, trotzdem die Ruhe zu bewahren. Aber man muss vielleicht mit dem einen oder anderen doch mal aufräumen, was Sie eben erklärt haben.
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– Ja, „wahrheitswidrig“ hat er auch gesagt. Das habe ich mir noch aufgehoben, aber das hätte ich jetzt auch sagen können.
Ich will mit ein paar Dingen aufräumen, die wir eben gehört haben. Die AfD macht das, was sie oft macht: Sie fängt mit einem Antrag an, der irgendwie ganz interessant klingt, und stellt dann hier Dinge so dar, wie sie einfach nicht sind. Sie haben gerade so getan, als könne man unter dem Deckmantel der Religionsausübungsfreiheit in Deutschland alles tun. Das ist aber einfach nicht richtig. Darin, dass Sie gesagt haben, dass man unter dem Deckmantel von Religionsausübungsfreiheit in Deutschland doch nicht zulassen kann, dass Straftaten begangen werden, dass gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung vorgegangen wird, stimmen wir Ihnen vollkommen zu. Das geht aber auch heute nicht, weil Artikel 4 Grundgesetz nicht schrankenlos gilt. Vielmehr ist es so wie bei allen Grundrechten: Wenn die Grundrechte anderer berührt sind, wird abgewogen – praktische Konkordanz nennt man das bei Normenkollision –, und die Grundrechte werden nur so weit gewährt, wie andere nicht verletzt werden. Da gibt es immer eine Abwägung. Da dürfen keine Straftaten begangen werden. Das ist durch Artikel 18 auch nicht anders oder besser oder schlechter; daran ändert sich überhaupt nichts.
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Wenn Sie, Herr Brandner, jetzt erklären – ich glaube, ich habe es mir richtig aufgeschrieben –, die Demokratie muss wehrhaft sein und deshalb brauchen wir eine Änderung, dann haben Sie mit Artikel 18 aber ein richtig scharfes Schwert gefunden. Das ist eine Norm, deren Entstehung sich überhaupt nur historisch erklären lässt. Sie haben jetzt von vier Fällen gesprochen, die es gab. Ja. Aber wissen Sie denn eigentlich auch, in wie vielen Fällen das Bundesverfassungsgericht eine Grundrechtsverwirkung tatsächlich ausgesprochen hat?
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Es sind exakt null. Was für ein scharfes Mittel zur Verteidigung der Demokratie Sie da gefunden haben! Und das wollen Sie jetzt hier mit einer kleinen Erweiterung zur Hand nehmen, um irgendwelche Straftaten, von denen Sie erzählen, zu verhindern. Das wird nicht funktionieren an dieser Stelle.
Ich kann Ihnen jetzt nicht alle Fälle runterbeten. Sie werden auch viele Fälle kennen, in denen gerade aufgrund dieser Abwägung die Religionsausübungsfreiheit natürlich nicht schrankenlos gewährt wird. Nehmen Sie als Beispiel die Rechtsreferendarin – das war eine Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichtes aus dem letzten Jahr –, der das Tragen des Kopftuches in der Sitzungsvertretung verboten wurde, weil das Recht auf Religionsausübung eben nicht schrankenlos ist, weil es eine Neutralitätspflicht des Staates gibt.
Herr Brandner, Sie sagen, es gehe gar nicht um eine bestimmte Religion, Sie meinten alle damit. Nehmen wir mal mein Lieblingsbeispiel, den Anhänger der Sikh-Religion – ich weiß nicht, ob Sie den Fall kennen –, der auf die Helmtragepflicht verzichten wollte. Tatsächlich hat sich am Ende die einfache Straßenverkehrs-Ordnung, § 21, gegen diesen uferlosen Artikel 4 Grundgesetz durchgesetzt. Man mag es kaum glauben.
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Die Normenkollisionen, die es überall gibt, werden gelöst. Sie haben aber ganz am Ende noch etwas anderes angesprochen. Sie wollen nämlich die Antragsberechtigung erweitern.
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– Herr Brandner, es könnte sein, dass ich eingeschlafen bin vorhin, aber ich war relativ wach, und für mich war es am Ende, zumindest am Ende der Redezeit. Vielleicht haben Sie etwas überzogen, sodass es Ihnen so vorkam, als sei es in der Mitte gewesen. Für mich war es am Ende.
Sie wollen Artikel 100 Grundgesetz ändern, dort einen neuen Absatz einfügen, dass jetzt jedes Gericht den Antrag ans Bundesverfassungsgericht stellen kann. Wie soll das denn eigentlich gehen, meine Damen und Herren?
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Wir werden doch über eine Grundrechtsverwirkung nicht in einem Einzelfall reden wollen. Da müsste man wirklich wiederholt, nachhaltig und oft irgendwelche Grundrechte missbräuchlich genutzt haben, damit wir überhaupt von einer Verwirkung sprechen können. Wie soll das ein einzelnes Gericht, das immer einen einzelnen Sachverhalt zu beurteilen hat, eigentlich feststellen? Oder geht es Ihnen darum, dass es schon im ersten Fall passiert? Dann, muss ich sagen, sind wir in einem Bereich, in dem es für unsere Verfassung kritisch wird. Das würde zum Beispiel bedeuten, dass ein Gericht in jedem Fall, in dem jemand verurteilt wird wegen einer Volksverhetzung, den Antrag stellen müsste, das Grundrecht auf allgemeine Meinungsäußerung zu verwirken.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Bitte schön.
Herr Kollege Jung, Sie haben eingangs gesagt, dass alle nötigen Maßnahmen gegen einen Missbrauch der Religionsfreiheit auch nach der geltenden Rechtslage schon getroffen werden können; das sei alles völlig überflüssig, was wir hier beantragen. Stimmen Sie mir immerhin dahin gehend zu, dass das Grundrecht der Religionsausübungsfreiheit in Artikel 4 Grundgesetz nach dem Wortlaut derzeit vorbehaltlos gewährleistet ist und dass deswegen im Einzelfall eine relativ komplizierte Abwägung anzustellen ist zwischen diesem Grundrecht und möglicherweise konfligierenden Grundrechten,
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dass diese Abwägung im Einzelfall auch einem effektiven Vorgehen gegen den Missbrauch durchaus entgegenstehen kann und dass durch eine Verwirkung des Grundrechts bezogen auf Einzelpersonen dieses Vorgehen gegen den Missbrauch deutlich erleichtert werden würde?
Danke.
Ich habe am Anfang nicht ausgeführt, dass für alle Probleme alles einfach ist. Das mag für Sie gerne so sein. Ich habe ausgeführt, dass genau diese Abwägung, wie Sie sie eben beschrieben haben, vorgenommen wird, dass wir keine schrankenlosen Grundrechte haben, auch wenn sie nach Wortlaut zunächst vorbehaltlos gewährt sein mögen. Wir haben immer die Abwägung, und in der Tat: Manchmal ist sie einfacher. Aber ich glaube, bei Grundrechten ist es die Mühe eben wert.
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Deswegen ist es so und bleibt auch so.
Ich will zu der Änderung zu Artikel 100, die Sie vorschlagen, abschließend noch ausführen: Wenn das ernst gemeint ist, dann müsste es ja im Einzelfall möglich sein, die Verwirkung zu beantragen, weil jemand einmal ein Grundrecht nach Meinung eines Gerichts unzulässig ausgeübt hat. Sie haben eben sogar gesagt, der Verdacht würde genügen. Also da, meine Damen und Herren, sind wir von einer verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeit und einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung einer solchen Regelung weit entfernt.
Jetzt habe ich gedacht, darüber könnte ich mal was nachlesen in der Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes, die die AfD in Auftrag gegeben hat. Aber ich habe festgestellt: Da steht nur was zu Artikel 18 Grundgesetz drin. Artikel 100 haben Sie offenbar vergessen – vielleicht weil Sie die Antwort nicht haben wollten.
Abschließend kann ich sagen: Bei so wenigen Anwendungsfällen und so geringen Auswirkungen, die der Artikel 18 hat, hätten wir darüber reden können, ob wir ihn überhaupt brauchen.
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Von mir aus hätten wir die Abschaffung beantragen können. Meine Damen und Herren, eine Ausweitung brauchen wir an der Stelle wirklich nicht. Und Sie sollten sich über Ihren Antrag auch noch mal Gedanken machen.
Herzlichen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Stefan Ruppert.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erst mal will ich – anders, als man es von einem Redner der FDP vielleicht erwartet – sagen: Ich finde es richtig und wichtig, dass ein solches Thema, so verfassungsmäßig-technisch es auch erscheinen mag, bei uns diskutiert wird. Ich finde es auch richtig, dass die AfD hierzu – anders als in vielen anderen Fragen – einen Antrag stellt, der sich sozusagen im System bewegt und sich nicht gegen das System richtet. Insofern, finde ich, ist die sachgemäße Behandlung eine Aufgabe aller Redner dieser Debatte.
Wenn man sich aber Ihren Antrag anschaut, stellt man fest: Immer dann, wenn Sie etwas Inhaltliches beitragen wollen, scheitern Sie schon an einfachsten handwerklichen Gegebenheiten.
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Sie stellen die wichtige Frage, wie sich die freiheitlich-demokratische Grundordnung gegen ihre Feinde wehrt. Wir Liberale haben ein Konzept – wir haben damals auch das NPD-Verbotsverfahren abgelehnt –, was vielleicht den meisten anderen hier widerspricht. Wir glauben daran, dass eine Gesellschaft so stark sein muss, solche Immunkräfte durch ihre Pluralität, durch ihre demokratische Gesinnung, durch ihre innere Stärke haben muss, dass es eines Verbots – eines Parteiverbots, einer Grundrechtsverwirkung, die einer Minderheit, einer Einzelperson gilt – nicht bedarf. Vielmehr glauben wir, dass eine Gesellschaft Immunkräfte entwickeln muss, damit solche Vorkommnisse mit dem Strafrecht und mit dem Polizeirecht behandelt und verfolgt werden können, nicht aber mit einer Grundrechtsverwirkung.
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Jetzt sagen Sie: Ein Gericht kann das vorlegen. – Sie erweitern den Kreis derer, die die Grundrechtsverwirkung aussprechen können. Sie haben aber schon einfachste handwerkliche Fähigkeiten nicht und schreiben bei der Änderung des Artikels 100 nicht mehr „kann“, sondern „hat“ vorzulegen. Sie sind also nicht mal in der Lage gewesen, handwerklich aufzulösen, ob es für die Frage der Antragstellung einen Ermessensspielraum gibt oder ob es eine Verpflichtung gibt, einen solchen Antrag zu stellen.
Sie haben in Ihrer Pressekonferenz behauptet, die Religionsfreiheit sei das einzige schrankenlos gewährte Grundrecht. Damit wären Sie nicht mal durch den Kleinen Schein „Öffentliches Recht“ gekommen.
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Herr Kollege Ruppert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner?
Ja, gerne.
Es geht um eine konkrete Behauptung, die Sie aufgestellt haben. Wo finden Sie in unserem Gesetzentwurf Ausführungen dazu, dass einfache Gerichte die Verwirkung aussprechen können? Ich verstehe unseren Gesetzentwurf so, dass einfache Gerichte die Frage der Entscheidung dem Bundesverfassungsgericht vorlegen können. Also entweder habe ich tatsächlich einen Fehler im Gesetzentwurf – den kann ich aber nach wie vor nicht finden –, oder Sie haben schlicht und ergreifend Unsinn erzählt, Herr Kollege.
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Das kann ich Ihnen sagen, Herr Brandner. Die Entscheidung über die Frage, ob das Grundrecht verwirkt wird, fällt auch in Ihrem Antrag das Bundesverfassungsgericht.
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Aber Sie schreiben in § 36 Bundesverfassungsgerichtsgesetz, dass es dafür eine Möglichkeit geben soll, während Sie in Artikel 100 schreiben: Das Gericht „hat“ diesen Antrag beim Bundesverfassungsgericht zu stellen. Sie können also diesen Wertungswiderspruch zwischen der einen Seite mit einer reinen Ermessensentscheidung und der anderen Seite mit einer bestehenden Verpflichtung nicht auflösen. Das ist eine handwerkliche Schwäche, die eklatant ist. Wenn nämlich ein Richter bei Gericht sagen kann: „Ich kann mich jetzt entscheiden, ob ich gegen die Äußerungen von Herrn Brandner einen Antrag auf Grundrechtsverwirkung stelle,
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kann mich aber auch entscheiden, das nicht zu tun“, dann ist das eine Ermessensentscheidung. Wenn Sie dem Gericht aufgeben, gegen jeden Ihrer Fraktionskollegen vorzugehen, wenn er sich entsprechend äußert, dann ist es eine Verpflichtung, das zu tun. Diesen Wertungswiderspruch haben Sie handwerklich geschaffen, ohne ihn auflösen zu können. Das tut mir leid.
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Der zweite handwerkliche Punkt: Sie haben in Ihrer Pressekonferenz behauptet, die Religionsfreiheit sei das einzige schrankenlos gewährte Grundrecht. Das ist schlicht falsch. Die Versammlungsfreiheit in geschlossenen Räumen ist genauso schrankenlos gewährt, und auch andere Freiheiten sind ebenso schrankenlos gewährt.
In Ihrer Rede fiel mir das Missverständnis auf, dass ein schrankenlos gewährtes Grundrecht in der Praxis nicht einzuschränken ist. Dazu hat der Kollege Jung ja das Richtige gesagt: Selbst der Turban muss dem Helm weichen; so verlangt es die Straßenverkehrs-Ordnung. Es stimmt eben nicht, dass Sie eine solche Religionsausübung nicht durch einfaches Gesetz, wenn es kollektive Rechte und Grundrechte anderer zum Gegenstand hat, untersagen können.
Wir werden diesen Antrag ja in den Ausschüssen noch mal beraten. Insofern gibt es für Sie auch noch die Möglichkeit, die gravierendsten Mängel zu beheben.
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Am Ende haben wir ein unterschiedliches Konzept bei der Frage, wie die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen ist. Wir wollen keine Toleranz gegenüber den Feinden der Freiheit und wollen das Gesetz dafür auch anwenden; aber wir glauben nicht, dass eine Grundrechtsverwirkung, ein Parteienverbot etwas ist, was die freiheitlich-demokratische Grundordnung am Ende stärkt, sondern wir sind gegenüber dieser Konzeption eher skeptisch.
Eins muss man Ihnen lassen: Wenn ein einfacher Amtsrichter Sie – als die Gruppe, die wahrscheinlich den häufigsten Anwendungsfall des Artikel 18 darstellen würde – dafür vor dem Bundesverfassungsgericht in ein Verfahren verwickeln könnte, als diese Gruppe hätten Sie Mut im Umgang mit sich selbst bewiesen;
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denn Ihr Umgang mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist eben nicht über jeden Zweifel erhaben.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion der SPD hat das Wort der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man eigentlich sagen: Haben wir in diesem Land nicht Wichtigeres zu tun, als über so einen Antrag zu debattieren,
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so einen Antrag zu behandeln und die Zeit damit totzuschlagen?
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– Ich kann die acht Minuten ausnutzen oder nicht ausnutzen, und von Ihnen brauche ich mich nicht belehren lassen. – Ich habe am heutigen Tage etwas gelernt. Ich habe nämlich heute seit den frühen Morgenstunden an der Sitzung im Plenarsaal teilgenommen und habe festgestellt: Politik ist tatsächlich eine Querschnittsaufgabe. Es ist gut, wenn man den unterschiedlichen Redebeiträgen zu unterschiedlichen Themen, auch zu Themen, bei denen man nicht Fachpolitiker ist, aufmerksam und sorgsam zuhört.
Ich musste heute feststellen, dass das Wort eines bekannten Politikers, der sagte: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern“, auch für Sie, die Antragsteller, gilt. Bei Ihnen gilt eine noch kürzere Halbwertzeit; denn in den heutigen Morgenstunden haben Sie bei dem Gesetzentwurf der Grünen zur Grundgesetzänderung hinsichtlich des Klimaschutzes erklärt, dass Sie, die Antragsteller, die diesen Antrag hier einbringen, Grundrechtseinschränkungen vehement ablehnen. Das finde ich im Grundsatz vielleicht gar nicht so schlecht.
Jetzt, ein paar Stunden später, erleben wir die vollständige Kehrtwende, denn Sie wollen mit diesem Antrag das Grundrecht auf Religionsfreiheit – ich sage das ganz bewusst – radikal schleifen. Nichts anderes wollen Sie mit diesem Antrag.
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Ich sage Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Der Antrag, den wir heute debattieren, ist wieder einmal ein Beispiel dafür, wie versucht wird, Stimmung gegen bestimmte Minderheiten zu machen; denn dieser Antrag ist vollkommen unnötig. Der Kollege Jung hat das treffend – ich würde sogar sagen: sehr pikant – dargestellt. Artikel 4 Absatz 2 Grundgesetz findet nämlich bereits heute seine Schranken in der Rechtsprechung. Es bedarf keiner Erweiterung durch Einbeziehung in Artikel 18 Grundgesetz.
Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, mit dem Sie argumentieren, steht für einen Rechtsstaat wie den unseren sowieso an erster Stelle. Wenn Sie sich mit den vielen Urteilen der vergangenen Jahre zum Konflikt „Grundrecht und Strafrecht“, „Grundrecht und öffentliches Recht“ auseinandergesetzt haben, müsste Ihnen das aufgefallen sein. Wir haben auch ein prominentes Beispiel dafür, nämlich das Beschneidungsverbot. Hier haben Gerichte, solange es die Rechtslage zuließ, geurteilt, dass die Unversehrtheit des Kindes höher steht als die religiösen Überzeugungen der Eltern. Wir als Gesetzgeber haben gehandelt und haben gesagt: Der Bund, der zwischen den Menschen und Gott im jüdischen und muslimischen Glauben geschlossen wird, hat einen höheren Stellenwert in dieser Abwägung. Wir haben dies zugelassen. Strafprozesse als Ehrenmorde, von denen wir sprechen, haben nichts mit religiöser Überzeugung zu tun, sondern sind kriminelle Handlungen. Sie waren es, sie werden es immer sein, und sie passieren in allen Religionen, aber nicht in allen Kulturen, sondern nur in archaischen.
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Rechte Dritter, meine sehr verehrten Damen und Herren, können nicht durch das Recht auf freie Religionsausübung beschnitten werden. Stellt sich also die Frage, warum wir so einen Antrag überhaupt debattieren müssen. Was ist die Intention? Wem soll es nützen? Ich kann es Ihnen sagen: Sie wollen die Grundrechte einschränken,
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bestimmten Menschengruppen Grundrechte aberkennen, tragische Schicksale ausschlachten, um Religionsgemeinschaften, die Ihnen nicht gefallen, auszugrenzen.
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Sie wollen genau das, was die Mütter und Väter des Grundgesetzes verhindern wollten, nämlich einen Kampf anzetteln, der sich mit unserer Kultur, mit unserer DNA und mit unseren Grundsätzen auseinandersetzt. Diesen Kulturkampf wollten die Mütter und Väter des Grundgesetzes mit Artikel 18 ausdrücklich verhindern, indem sie genau diese exemplarische Aufzählung gewählt haben.
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Sie verkennen, sage ich an dieser Stelle, dass Artikel 4 Absatz 1 und 2 Grundgesetz zu dieser Vermeidung Eingang in unsere Verfassung fand. Seit 70 Jahren, so sage ich, ist der Grundrechtskatalog bei uns gesellschaftlicher Konsens. Das ist gut so. Das ist akzeptiert. Und ich sage: Unsere Grundrechte, wie sie definiert sind, sind unsere DNA. An diese DNA die Axt zu legen, ist verwerflich.
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Sie benutzen die Ängste vieler Menschen, um diese DNA zu modifizieren. Sie vereinen das Land dadurch nicht, Sie spalten es.
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Sie wollen es ideologisch aushöhlen. Sie persönlich widert es vielleicht an, dass unsere Verfassung auch diese Menschen schützt, die in unserem Land leben, und ihnen die gleichen Rechte und Pflichten gibt, die Ihnen nicht gefallen.
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Aber wir haben als Staat nicht das Recht, in Glaubensfragen einzugreifen. Wir haben das Recht, die Menschen in diesem Staat rechtsstaatlich zu schützen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum Schluss noch einen Hinweis auf das Wesen des Artikels 18 Grundgesetz, den Sie gerne erweitern möchten. Er hat im Vergleich zu anderen Vorschriften des Grundgesetzes eine mahnende Funktion. Er verpflichtet uns, uns daran zu erinnern, dass Grundrechte in diesem Land beschnitten werden konnten, dass Menschen diese Grundrechte verloren, weil Menschen, die das menschenverachtende Gedankengut in sich trugen, die Demokratie bekämpften und letztendlich abschafften. Daher mahnt uns Artikel 18 gegenüber jeder Bestrebung, die sich gegen den Rechtsstaat, gegen die Demokratie und gegen die Freiheit richtet. Daher fordere ich Sie nicht auf, den Antrag abzuändern, sondern ich fordere Sie auf, ihn zurückzuziehen und sich ernsthaft mit Artikel 18 Grundgesetz zu befassen.
Eine kleine Hilfe von mir: Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit, die Lehrfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, das Eigentums- oder das Asylrecht zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt die Grundrechte. Nach meinem Empfinden missbrauchen auch Sie regelmäßig einige dieser genannten Grundrechte. Wer Schulter an Schulter mit hitlergrußzeigenden Nazis in Chemnitz marschiert, zeigt offen, was er von diesem Staat, von dieser Demokratie und von diesem Grundgesetz hält.
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Für Die Linke hat das Wort der Kollege Niema Movassat.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heutige Gesetzentwurf der AfD dient der Spaltung der Gesellschaft, und er ist völlig überflüssig.
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Worum geht es? Sie wollen Artikel 18 des Grundgesetzes erweitern. In Artikel 18 sind einige Grundrechte wie zum Beispiel die Meinungsfreiheit aufgeführt, die man verwirken kann, wenn sie zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung eingesetzt werden. Darüber entscheidet das Bundesverfassungsgericht. Artikel 18 wurde als Lehre aus der nationalsozialistischen Diktatur geschaffen. Die Feinde der Demokratie sollen die Grundrechte nicht gegen sie wenden können.
In der Praxis ist der Artikel belanglos. Viermal gab es Fälle vor dem Bundesverfassungsgericht. Alle Anträge wurden abgelehnt. Immer ging es um rechtes Gedankengut, also um die Frage, ob Rechtsextremisten ihre Meinungsfreiheit verwirkt haben, wenn sie aggressiv die Demokratie bekämpfen. Eigentlich ist Artikel 18 also ein Artikel für die AfD und ihre Freunde.
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Sie wollen in Artikel 18 nun die Religionsausübungsfreiheit als weiteres verwirkbares Grundrecht aufnehmen. Das ist aus zwei Gründen überflüssig und absurd.
Erstens. Sie behaupten, dass der Staat schutzlos gegenüber verfassungsfeindlichen Bestrebungen sei, wenn der Verfassungsfeind sich auf die Religionsfreiheit berufe, nach dem Motto: Der religiöse Fanatiker muss nur sagen: „Ich übe meine Religionsfreiheit aus“, und schon hat er freie Fahrt. Das ist völlig falsch. Sie von der AfD haben einfach keine Ahnung von Grundrechtsdogmatik.
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Wenn zum Beispiel Ihre Anhänger in Chemnitz den Hitlergruß zeigen, dann ist das strafbar und nicht durch die Meinungsfreiheit geschützt. Dafür brauchen wir Artikel 18 gar nicht. Auch ein gewaltbereiter Anhänger des IS wird nicht durch die Religionsfreiheit geschützt, sondern strafrechtlich verfolgt. Grundrechte haben immer auch Grenzen. Dafür braucht man Artikel 18 nicht. Haben die Juristen in Ihrer Fraktion eigentlich alle die Grundrechtsvorlesungen geschwänzt?
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Wer die Verfassung bedroht, der wird über die bestehenden Gesetze zur Rechenschaft gezogen. Es ist auch absurd, zu behaupten, erst durch eine Änderung des Artikels 18 würde man Schutz schaffen. Wir haben seit 69 Jahren das Grundgesetz. Seit 69 Jahren kann man die Religionsausübungsfreiheit nicht verwirken. Nach Ihrer beschränkten Logik wären wir seit 69 Jahren schutzlos, und das ist natürlich kompletter Unsinn.
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Richtig absurd ist es, zu behaupten, man würde Schutz herstellen, indem man eine praktisch irrelevante Norm heranzieht. Auch wenn man die Religionsausübungsfreiheit in Artikel 18 aufnähme, würde Artikel 18 nicht relevanter. Die Begründung Ihres Gesetzentwurfes ist wirklich absurd, und deshalb kann man ihm schon gar nicht zustimmen.
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Zweitens. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben sich etwas dabei gedacht, die Religionsfreiheit nicht in Artikel 18 aufzunehmen.
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Man wollte eine unnötige und symbolische Spaltung der Gesellschaft vermeiden. Da war man vor 69 Jahren klüger, als es die AfD im Jahr 2018 ist.
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Ihnen geht es doch in Wirklichkeit darum, Muslime und möglicherweise auch Juden gesellschaftlich auszugrenzen. Die Änderung des Artikels 18 Grundgesetz ist dafür eine symbolische Tat, die Sie wollen. Sie wollen noch mehr gesellschaftliche Spaltung, und das ist etwas, was Sie ständig tun. Sie behaupten, Sie wollen mit Ihrer Grundgesetzänderung die Verfassung verteidigen. Dabei ist es doch Ihre Partei, für die der Nationalsozialismus mit den Worten von Herrn Gauland ein „Vogelschiss“ ist. Ständig versuchen Sie, nationalsozialistische Rhetorik salonfähig zu machen. Sie haben nicht einmal ein Problem, gemeinsam mit Nazis auf der Straße zu marschieren. Und Sie wollen uns heute erzählen, Sie wollen das Grundgesetz verteidigen? Sie sind die größten Gefährder für das Grundgesetz.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun das Wort der Kollege Dr. Konstantin von Notz.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Kolleginnen und Kollegen der AfD, ich möchte zu Ihrem Gesetzentwurf dreierlei Dinge sagen. Erstens: Es geht nicht. Zweitens: Es nutzt nichts. Und drittens: Es geht Ihnen weder um erstens noch um zweitens.
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Es geht Ihnen um Stimmungsmache gegen religiöse Minderheiten. Das ist genau der Grund, Herr Brandner, warum Sie so süffisant darauf anspielen, dass Sie ja gar keine Religion meinen. Es geht Ihnen allein darum, und da machen wir nicht mit.
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Die drei Punkte im Einzelnen.
Erstens: Es geht nicht. Sie wollen die in Artikel 4 Absatz 2 geschützte Religionsausübung in den Katalog der nach Artikel 18 Grundgesetz verwirkbaren Grundrechte aufnehmen. Hierfür haben Sie sich zur Vorbereitung des Wissenschaftlichen Dienstes dieses Hohen Hauses bedient. So weit, so gut; immerhin, möchte man meinen. Aber es ist schon maximal kurios, wenn schon auf Seite 1 des von Ihnen in Auftrag gegebenen Dossiers ein Problem skizziert wird, welches dann in Ihrer Initiative selbst schlichtweg verschwiegen wird;
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denn der Wissenschaftliche Dienst führt völlig zu Recht aus, dass nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit des Artikels 4 Absatz 1 Grundgesetz und die Religionsausübung nach Artikel 4 Absatz 2 Grundgesetz ein einheitliches Grundrecht bilden. Die Aufnahme der Religionsausübung in den Verwirkungskatalog ist dann aber schon rechtsdogmatisch überhaupt nicht möglich. Deswegen, meine Damen und Herren, ist es schon rechtspolitisch ein Offenbarungseid, was Sie hier abliefern.
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Sie greifen mit dieser Initiative in die Substanz des Grundrechts ein.
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– Herr Brandner, ich möchte keine Zwischenfrage haben, Sie haben wirklich viel geredet und viel gefragt.
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– Ach, ich bitte Sie. – Sie verstehen offensichtlich das Menschenbild nicht – dass Ihnen das peinlich ist, kann ich ja verstehen –, das sich im Grundgesetz manifestiert. Die Religionsausübung betrifft den sogenannten Intimbereich, sie betrifft die Menschenwürde und ist insofern mit den in Artikel 18 GG genannten Entäußerungsrechten nur sehr, sehr begrenzt vergleichbar. Ihr ganzer Vorschlag geht fehl.
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Zweitens. Es nutzt nichts: Die Agitation zur Verfolgung und Unterstützung verfassungsfeindlicher Ziele – im Übrigen ohne Rücksicht auf religiöse und weltanschauliche Bekenntnisse – ist – Kolleginnen und Kollegen haben es hier gesagt – im einfachen Recht, namentlich im Strafrecht, bereits ausreichend und sehr effektiv geregelt. Es hat in der ganzen Geschichte der Bundesrepublik – das wurde hier mehrfach gesagt – vier Fälle bzw. Verfahren gegeben. Keines hat zum Erfolg geführt. Und der Treppenwitz: Alle sind bereits in der Vorprüfung gescheitert. Es ist noch nicht einmal zu einer materiellen Prüfung gekommen.
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– Ja. – Es ist deshalb völlig offensichtlich: Ihr Vorschlag hätte keine Wirkung, außer dass Sie die Justiz, auch das Bundesverfassungsgericht, zusätzlich mit Arbeit überhäufen. Ihr Vorschlag geht völlig fehl.
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Drittens. Was Sie eigentlich wollen: Ihre Initiative gibt uns einen schönen Einblick darin, woran Ihnen in Wahrheit gelegen ist: der Einschränkung der Grundrechte derjenigen, die Ihnen nicht in den Kram passen.
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Die Mutter und die Väter des Grundgesetzes waren sehr klug. Sie hatten die Erfahrungen des Kulturkampfes aus der Bismarckzeit – Herr Brandner, das haben Sie selbst gesagt –, aber eben auch – das haben Sie nicht gesagt – des Kulturkampfes aus der Zeit des Nationalsozialismus noch sehr stark vor Augen. Einen neuen Kulturkampf wollten sie vor diesem Erfahrungshorizont gerade nicht.
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Sie aber wollen nichts anderes als genau diesen Kulturkampf.
Wenn man einen Plenartag mit Ihnen erlebt, sieht man: Es geht Ihnen nur darum, Menschen zu spalten, Leute gegeneinander aufzubringen und dieses Land schlechtzuquatschen. Deshalb passt es absolut in das Bild. Sie wollen den Aufruhr in der Gesellschaft und die Menschen gegeneinander aufbringen. Sie wollen die gesellschaftlichen Konflikte weiter anheizen und Ihre Religions- und Freiheitsfeindlichkeit in unsere Verfassung schreiben. Das ist geschmacklos. Es ist ein Popanz. Das machen wir nicht mit.
Ganz herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Professor Heribert Hirte, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer! Ich möchte zunächst einmal festhalten: Die Religionsfreiheit ist für uns ein ganz wichtiges, herausragendes Grundrecht. Sie gilt für den Glauben aller Religionen. Sie gilt für Christen, sie gilt für Juden, sie gilt für Moslems, Aleviten, Bahai, Hindus, Buddhisten, und sie gilt auch für diejenigen, die an nichts glauben, nämlich für die Atheisten.
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Es ist ein Grundrecht der Menschen, zu glauben. Es ist – das muss man deutlich sagen – nicht ein Grundrecht irgendwelcher religiöser Organisationen oder Einheiten. Es ist ein Grundrecht der Menschen.
Diese Religionsfreiheit – das haben wir schon mehrfach gehört – unterliegt, auch wenn es nicht ausdrücklich im Grundgesetz steht, impliziten Schranken. Das gilt im Übrigen auch für andere Grundrechte. Das Stichwort „praktische Konkordanz“ ist schon mehrfach gefallen. Diese Schranken werden seit Jahrzehnten, seit wir das Grundgesetz haben, von den Gerichten in Rechtsprechung konkretisiert, insbesondere vom Bundesverfassungsgericht. Wir als Gesetzgeber tun dies auch. Den Gerichten, die das in einer intensiven Arbeit in zahlreichen Einzelfällen machen, bin ich deshalb ausdrücklich dankbar dafür, dass sie sich dieser Mühe annehmen und für eine ausdifferenzierte Rechtsprechung jedes Mal den Einzelfall vors Auge nehmen.
Wenn wir uns vor diesem Hintergrund Ihren Vorschlag ansehen, frage ich mich, genauso wie der Kollege von Notz das gerade getan hat: Ist er überhaupt erforderlich? Da heißt es in der Begründung, die man sich genau ansehen muss:
Aufgrund der unterlassenen Aufnahme des Rechts der ungestörten Religionsausübung in die Verwirkungsregelung des Artikel 18 GG besitzt der Rechtsstaat keine Handhabe, um offensichtliche Verstöße gegen die Rechtsordnung im Allgemeinen … zu unterbinden.
Wir haben es mehrfach gehört: Das ist schlicht falsch, weil die Gerichtsbarkeit und insbesondere die Strafgerichtsbarkeit in ihren Abwägungsentscheidungen sagt, wo die Religionsausübung ihre Grenze findet. Deshalb: Wir brauchen diese Änderung des Grundgesetzes nicht. Es ist nicht so, dass wir wegen des Fehlens in Artikel 18 GG irgendeinen Handlungsbedarf hätten. Im Gegenteil: Die vier Verfahren, die alle erfolglos waren, zeigen, dass wir eine Änderung in diesem Punkte nicht brauchen.
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Sie sprechen in Ihrem Gesetzentwurf davon, dass wir eine sehr weite Auslegung der Religionsfreiheit durch das Bundesverfassungsgericht haben. Ja, das ist richtig so. Wenn das Bundesverfassungsgericht über die Anträge entscheiden soll, die Sie ihm zukommen lassen wollen, dann ändert sich doch nichts an der Rechtsprechung, liebe Kolleginnen und Kollegen von AfD.
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Wenn Sie – das steht implizit im Gesetzentwurf – die Entscheidungen der Gerichte und insbesondere des Bundesverfassungsgerichts nicht akzeptieren wollen, dann kann ich gerade an Ihre Adresse nur sagen: Entscheidungen zu akzeptieren, ist ein Teil des Rechtsstaats, auch dann, wenn sie Ihnen nicht passen.
Dann kommen wir noch einmal zu der Frage – Kollege von Notz hat es gerade zum Schluss noch einmal angesprochen –, ob eine solche Änderung verfassungsrechtlich zulässig wäre. Er hat darauf hingewiesen, dass gerade die Religionsausübung auch im Hinblick auf die Menschenwürde, die da mitbetroffen ist, ein Grundrecht ist, was nicht einfach so entzogen werden kann. Deshalb ist nicht der Wissenschaftliche Dienst derjenige, der darüber zu entscheiden hat, ob es geht, sondern das wäre das Bundesverfassungsgericht. Das würde das wahrscheinlich anders sehen.
Knüpfen wir noch einmal an die Rechtstechnik an: Wenn Sie schon sagen, es fehlen Grundrechte, dann müsste man unter dem Gesichtspunkt des Artikel 3 Grundgesetz sagen, vielleicht fehlen auch noch andere Grundsätze.
Die Änderung, die Sie vorschlagen, wäre verfassungswidrig. Nach Ihrem Vorschlag – Kollege Ruppert hat es gesagt – muss das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Das würde für einfache Gerichte quasi eine Sperrwirkung entfalten, die praktische Konkordanz heute zu verwirklichen. Sie gehen zurück, was die Kontrolle der Grenzen der Religionsausübung angeht. Das können wir nicht akzeptieren.
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Einen letzten Punkt möchte ich noch sagen. Wenn wir hier ein solches Gesetz verabschieden würden, wäre es eine Steilvorlage für viele Länder, in denen wir uns mit großer Energie dafür einsetzen, dass solche Gesetze nicht geschaffen werden.
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Für die Christen in diesen Ländern wäre es eine Bedrohungssituation. Die wollen wir nicht verschärfen.
Vielen Dank.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Alexander Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion.
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– Herr Brandner, ich bestimme, was ich muss und was ich nicht muss.
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Das Wort hat jetzt der Kollege Alexander Hoffmann, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir uns Gedanken machen und die Frage stellen: Gibt es in unserem Land extremistische religiöse Bewegungen, die die verfassungsgemäße Ordnung im Land gefährden?
Kollege Brandner, Sie haben gesagt, Sie heben keine Religion heraus. Wenn man aber Ihre Redebeiträge in diesem Haus in der Vergangenheit anschaut, wenn man Ihr Wahlprogramm liest, dann weiß man, dass es Ihnen ganz konkret um den Islam geht. Sie gehen sogar so weit, zu sagen: Wir bekennen uns zur Religionsfreiheit, aber nicht zur Freiheit des Islam.
Ich will etwas Persönliches vorwegschicken: Ich bin ein Befürworter der Tatsache, dass wir bestimmte Gemeinden, zum Beispiel auch muslimische, vom Verfassungsschutz beobachten lassen. Ich gehöre zu denjenigen, die der Auffassung sind, dass es wichtig ist, dass wir auf der Unabhängigkeit von Imamen bestehen. Ich glaube auch, dass es durchaus richtig ist, dass wir in diesem Schutzgefüge Rechtsstaat immer wieder prüfen und sagen: Gibt es dort eine Regelungslücke?
Jetzt schreiben Sie in Ihrem Gesetzentwurf: Jawohl, in Artikel 18 Grundgesetz gibt es eine Regelungslücke. Für die Zuhörer ganz kurz erklärt: Artikel 18 Grundgesetz will erzielen, dass der Missbrauch von Grundrechten nie zur Gefährdung der verfassungsgemäßen Ordnung in unserem Land führen darf. Dazu sieht Artikel 18 Grundgesetz die Möglichkeit der Verwirkung, also das schärfste Schwert, vor. Diese muss, weil es ein scharfes Schwert ist, vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochen werden.
Auch die praktische Relevanz des Artikels ist schon angesprochen worden. Nun kann man darauf hinweisen, dass es bislang nur vier Fälle gegeben hat, in denen ein entsprechender Antrag gestellt worden ist. Aber viel interessanter ist: Alle vier Fälle – letztmalig 1992 zwei Fälle im Kontext des Brandanschlages in Mölln – sind zurückgewiesen worden. Das zeigt, wie hoch das Anforderungsprofil für die Anwendung dieses Artikels ist, und deshalb stellt sich die Frage: Ist die Änderung der Norm verfassungsrechtlich überhaupt umsetzbar? Denn die Anforderungen an eine Änderung des Artikels 18 sind mindestens genauso hoch.
Artikel 18 muss Ultima Ratio sein. Das, was ich dort ändere, muss immer geeignet, erforderlich und angemessen sein. Ich glaube, es fehlt schon an der Geeignetheit – das klingt auch im Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes an –; denn ein Blick in Artikel 18 Grundgesetz zeigt, dass die schwachen Grundrechte, also jene, bei denen im Gesetzestext eine Schranke aufgeführt ist, eher von der Möglichkeit der Verwirkung betroffen sind. Die Religionsfreiheit ist nicht betroffen; denn sie ist gemäß dem Grundgesetz schrankenlos gewährt.
Ein weiterer Punkt ist wichtig. Alle in Artikel 18 Grundgesetz genannten Grundrechte betreffen die äußere Sphäre. Das heißt, das Gebrauchmachen dieser Grundrechte tritt nach außen in Erscheinung. Das ist aber bei der Religionsausübung nicht immer so. In diesem Bereich gibt es nämlich sowohl die äußere Sphäre – wenn ich mich nach außen merklich zu einer Religion bekenne –, es gibt aber auch die innere Sphäre, die innere Freiheit, eine Religion zu haben oder sie eben nicht zu haben. Das ist ein signifikanter Unterschied.
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Wir haben es mit einem Gesetzentwurf zu tun, der das System AfD ganz gut beschreibt. Sie setzen auf ein Thema, das die Menschen an den Stammtischen bewegt,
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und dann gaukeln Sie eine Lösung vor, obwohl Sie genau wissen, dass sie nicht umsetzbar ist. Deswegen werden wir Ihrem Vorschlag nicht folgen können.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, dass wir nach aktuellem Stand bei einem Plenumsende von 1.40 Uhr sind. Ich bitte also, bei den nächsten Tagesordnungspunkten zügig zu beraten.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/4484 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Digitalisierung und Globalisierung nehmen immer mehr Raum in unserem Leben ein. Wir alle genießen es wahrscheinlich, dass es mittlerweile fast aus allen Ecken der Welt Waren bei uns vor Ort zu kaufen gibt. Eine weitere Entwicklung, die wahrscheinlich auch sehr viele von Ihnen, ich auch, genießen, ist, dass wir solche Waren nicht nur beim Händler vor Ort kaufen können, sondern auch im Internet. Diese Internetkäufe nehmen zu, insbesondere über Plattformen. Das ist eine sehr angenehme Angelegenheit; denn dort bekomme ich von verschiedenen Händlern Waren angeboten, die ich mir ansonsten zusammensuchen müsste. – So weit, so gut, eine positive Entwicklung.
Was damit allerdings einhergeht, ist, dass leider nicht alle diese Händler, die ihre Waren im Internet auf solchen Plattformen anbieten, die anfallende Umsatzsteuer entrichten. Das ist sehr ärgerlich, weil dadurch eine Wettbewerbsverzerrung zwischen den Händlern, die ihre Umsatzsteuer entrichten, und denen, die sich dieser Verpflichtung entziehen, entsteht. Das stellt die Steuerbehörden vor eine große Herausforderung. Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir diese Lücke schließen; denn es kann nicht sein, dass es Händler gibt, die ihrer Umsatzsteuerpflicht nachkommen, und andere, die sich dadurch einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, dass sie sich dieser Verpflichtung entziehen.
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Deswegen gibt es – der Name sagt es – jetzt einen Gesetzentwurf zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet.
Wie wollen wir das jetzt machen? Wir wollen eine sogenannte Plattformhaftung einführen; allerdings nicht sofort und nicht in einem Schritt. Den Plattformbetreibern soll durchaus die Möglichkeit gegeben werden, Händler, die Waren auf ihrer Plattform anbieten, aber ihrer Umsatzsteuerpflicht nicht nachkommen, von ihrer Plattform zu nehmen. Wenn sie das nicht tun, wenn sie sagen: „Mir ist es wichtig, dass dieser Händler auf meiner Plattform anbietet“, auch gut, aber dann müssen die Plattformbetreiber die Steuerschuld übernehmen. Das ist der Weg, den wir vorschlagen, den auch die Länder in einem entsprechenden Prozess erarbeitet haben. Ich glaube, das ist der richtige Schritt, um für mehr Steuergerechtigkeit zu sorgen und um die Wettbewerbsverzerrung zu beenden. Wir werden im Gesetzgebungsverfahren darüber zu sprechen haben, wie genau das weitere Vorgehen ausgestaltet werden soll, das heißt, welche Daten in welcher Form übermittelt werden; je schneller wir zu einer digitalen Erfassung kommen, umso besser.
Jetzt geht es darum, dass sich die Plattformbetreiber nicht aus ihrer Verantwortung stehlen können, sondern in die Pflicht genommen werden, zu handeln, wenn sie von den Finanzbehörden das Signal bekommen: Diese Händler zahlen keine Umsatzsteuer. Ich glaube, das ist eine sehr sinnvolle Angelegenheit.
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Meine Damen und Herren, das ist ein Gesetz mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen, mit zahlreichen, insgesamt über 30 einzelnen steuerlichen Regelungen. Wir setzen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichtshofs um, aber wir passen auch an europäische Rechtsnormen an.
Ich will noch auf einen Punkt zu sprechen kommen, der allerdings nichts mit der Umsetzung von Rechtsprechung zu tun hat, sondern mit konkretem politischen Gestalten, und zwar die Förderung von E-Mobilität. Das ist ein Ziel, das sich diese Große Koalition auf die Fahnen geschrieben hat. Ein Vorschlag dazu ist in diesem Gesetz ebenfalls enthalten, und zwar geht es darum, dass wir die Bemessungsgrundlage bei der Dienstwagenbesteuerung von Elektro- und Hybridelektrofahrzeugen halbieren wollen, damit der Anreiz geschaffen wird, auf diese sinnvolle, nachhaltige Form der Mobilität umzusteigen. Das ist ein Schritt, um E-Mobilität zu fördern. Es gibt noch einen ganzen Strauß von Maßnahmen, was man darüber hinaus machen kann, aber diese Maßnahme ist im Gesetz enthalten.
Meine Damen und Herren, wir werden umfassende Berichterstattergespräche führen, weil sehr detailscharfe Fragen aus ganz anderen Bereichen ebenfalls in diesem Gesetz enthalten sind. Ich freue mich darauf. Wir werden die nächsten Wochen und Monate nutzen, damit das Gesetz zum 1. Januar 2019 in Kraft treten kann.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Der nächste Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Albrecht Glaser.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Gesetz trägt das Etikett „Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen“ und beinhaltet eine ganze Fülle von Maßnahmen. Es hat mehr als 15 Ziffern und betrifft neun völlig unterschiedliche Gesetze, vom Einkommensteuerrecht bis zur Grunderwerbsteuer. Deshalb ist es kaum möglich, über das Gesetz in sinnvoller Breite zu diskutieren. Die Vorlage ist erst am Montag erschienen. Deshalb war bis heute eine Befassung in der notwendigen Tiefe kaum möglich.
Ich will trotzdem versuchen, zwei, drei Aspekte herauszunehmen und aufzuspießen. Zum einen geht es um den § 6 Einkommensteuergesetz – Sie haben es dankenswerterweise aufgespießt, Frau Lambrecht –, konkret um die unterschiedliche Behandlung bei der privaten Nutzung von Unternehmensfahrzeugen, je nachdem, ob einer ein Hybridauto oder ein anderes Auto fährt.
Apropos Verfassung: Es fällt einem viel zu der Frage ein, ob man diese Art der Verhaltenslenkung über das Einkommensteuerrecht machen kann oder – vorsichtiger ausgedrückt – machen soll. Das ist eine ganz komplizierte Geschichte. Nach dem Religionsunterricht zur Klimakatastrophe von Herrn Hofreiter heute Morgen müsste man sich eigentlich umbringen. Denn der Untergang wird so fest vorhergesehen, da helfen auch die Dienstwagenregelungen nicht.
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Wir gehen davon aus, dass die Privilegierung dieses Fahrzeugtyps gegenüber allen anderen, somit eine Form der Verhaltenslenkung, wie es sie früher schon einmal für den Weg zum Arbeitsplatz gab, weder gerichts- noch verfassungsfest ist. Spätestens vor dem Bundesverfassungsgericht wird sie nicht standhalten.
Lassen Sie mich zum zweiten Punkt kommen, den Sie relativ verharmlosend dargestellt haben. Es war wieder viel von der Freiheit der Persönlichkeit die Rede. § 25e Umsatzsteuergesetz im Gesetzentwurf lautet:
Der Betreiber eines elektronischen Marktplatzes … haftet für die nicht entrichtete Steuer aus der Lieferung eines Unternehmers …
Es ist – apropos scharfes Schwert – ein sehr scharfes Schwert, wenn man einen Menschen, eine Organisation, ein Unternehmen für die Steuerlast eines anderen in Steuerhaftung nimmt. Der Unternehmer, der eine Plattform zum Handeln zur Verfügung stellt, hat mit diesem Steuerverhältnis gar nichts zu tun, sondern die Umsatzsteuer schuldet nun einmal der Unternehmer, der handelt, und sonst niemand. Dieses Instrument unter dem Aspekt der Freiheitsrechte so locker einzusetzen: „Du zahlst die Steuern, weil ein anderer etwas nicht richtig gemacht hat“, das ist schon starker Tobak.
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– Ja, wir kommen zur Kontrolle. Die Kontrolle besteht keineswegs, wie geschildert, so dicht nach dem Motto: „Du musst aber Daten einsammeln.“ – Jedes Unternehmen muss sehr viele Daten einsammeln, bis zum Geburtsdatum desjenigen, der da handelt, wenn er keine gesellschaftsrechtliche Form hat, also keine Kapitalgesellschaft, sondern Einzelunternehmer ist. Dann muss dem Plattformbetreiber die Geburtsurkunde vorgelegt werden.
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– Wenn es ein privater Anbieter ist, klar.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie im Gesetzentwurf lesen, welche Verpflichtungen in § 22f Umsatzsteuergesetz stehen,
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die Sie dem Plattformbetreiber zumuten, dann müssen Sie sich klarmachen: Es gibt etwa 130 Plattformbetreiber, die in größerem Stil Handel betreiben. Denen bürden Sie das alles auf. Wir haben also wieder, wie mir Fachleute aus der EDV erklärt haben, das Problem „großes Unternehmen – kleines Unternehmen“. Alle kleinen Unternehmen bekommen dieselben Bürokratiepflichten aufgedrückt wie vielleicht Amazon, der das kann und der eine ganze Abteilung aufbaut, um all dies zu erledigen. Der kleine Betreiber muss beispielsweise die Umsatzsteuernummern der Unternehmer, die bei ihm handeln, einsehen und gucken, wie lange sie gelten.
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Um ein plastisches Beispiel zu nennen: Auch wenn er das alles macht, kann er sich noch nicht einmal von der Haftung freizeichnen. Denn wenn er beispielsweise die Sorgfaltspflicht eines ordentlichen Kaufmanns nicht beachtet, § 25e Absatz 2, und sich keine Kenntnisse darüber verschafft, ob es sich um einen soliden Unternehmer handelt, wenn er also nicht jeden Morgen das Konkursverzeichnis oder das Handelsregister liest, dann haftet er. Er muss praktisch seine gesamten Anbieter und Akteure ständig im Fokus haben, jenseits der Frage, ob er die Mitteilungen gesammelt hat oder nicht.
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Das ist ein starker Eingriff in das Geschäft eines am Steuerverhältnis zunächst nicht Beteiligten. Wir gehen davon aus, dass das in der Anhörung, die wir durchführen werden, kritisch beleuchtet wird, sowohl von Wirtschaftspraktikern als auch von Juristen, und dass diese Vorschrift kaum halten wird.
Das Etikett: „Wir wollen Steuerhinterziehung vermeiden“, ist immer gut, da sind wir alle einer Meinung. Klar, das muss man. Sie reden dauernd von Wettbewerbsverzerrung. Sie werden sich erinnern, dass ich gefragt habe: Gibt es empirisches Material zu der Frage, ob dies ein Thema ist?
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Darauf haben Sie ehrlicherweise geantwortet: Nein, es gibt kein empirisches Material dazu.
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– Es soll Schätzungen geben, ja. Wer die gemacht hat und wie die ausgefallen sind, das wissen wir nicht so genau. Derzeit ist es die Bekämpfung eines Übels, das wir noch gar nicht kennen.
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In diesem Sinne melden wir große Skepsis im Hinblick auf die Regelung an und werden uns wahrscheinlich dagegen aussprechen.
Herzlichen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Fritz Güntzler das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte mich gefreut, mal wieder über ein Jahressteuergesetz debattieren zu dürfen. Jahrelang hatten wir die Begrifflichkeit nicht. Leider musste ich dann doch zur Kenntnis nehmen, dass auch dieses Gesetz wieder einen anderen Namen bekommen hat.
Lieber Herr Kollege Glaser, der Kabinettsbeschluss ist vom 1. August dieses Jahres. Wieso Sie sich erst seit Montag mit dem Text beschäftigen konnten, erschließt sich mir nicht. Ich habe die Sommerpause schon nutzen können, um einiges nachzulesen. Sie scheinen aber wirklich nur eine kurze Zeit gehabt zu haben; denn das, was Sie zu den Umsatzsteuerfragen gesagt haben, war schlicht falsch.
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Daher gönnen Sie sich die Zeit der Beratungen, damit wir Sie vielleicht noch mitnehmen können auf dem Weg, etwas Vernünftiges gegen Steuerbetrug zu tun – das haben wir im Koalitionsvertrag festgelegt –, gegen Steuerbetrug allgemein, aber insbesondere auch gegen Umsatzsteuerbetrug.
Das Thema beschäftigt uns schon sehr lange. Die Umsatzsteuer macht ungefähr 220 Milliarden Euro aus. Das ist circa ein Drittel unseres gesamten Steueraufkommens. Daher ist es in unserem eigenen Interesse, das Steueraufkommen zu sichern.
Die Staatssekretärin hat darauf hingewiesen: Es geht auch um Wettbewerbsgerechtigkeit, um fairen Wettbewerb. Der Händler – meist ist es der kleine Einzelhändler, Herr Kollege Glaser – weiß nämlich: Wenn jemand etwas über eine Plattform erwirbt und das ist viel günstiger als woanders, dann ist der Grund, dass keine Umsatzsteuer abgeführt wird. Das ist ein Vorteil von 19 Prozent. Das ist kein fairer Wettbewerb. Wir schützen mit diesem Gesetz gerade die kleinen Einzelhändler, die kleinen Unternehmer. Daher sollten Sie wirklich überlegen, ob Sie im Ergebnis nicht doch zustimmen.
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Ich möchte auch noch darauf hinweisen, dass das nicht unsere erste Maßnahme gegen den Umsatzsteuerbetrug ist:
Wir haben, um Steuerkarusselle zu verhindern, dafür gesorgt, dass bei Gründungen die Voranmeldungen monatlich abzugeben sind, weil Neugründungen immer wieder dafür genutzt wurden.
Wir haben die Umsatzsteuernachschau eingeführt, ergänzt um die Kassennachschau.
Wir haben die Angaben auf den Rechnungen erweitert.
Wir haben die Haftung bei bösgläubigen Unternehmen geregelt. Die Haftungsfrage hatten wir also schon einmal in § 25d UStG.
Wir haben in verschiedenen Bereichen Reverse-Charge-Verfahren eingesetzt, wonach die Steuerschuldnerschaft auf den Leistungsempfänger übergeht, ein Modell, mit dem wir viel mehr machen wollten. Die Bundesrepublik Deutschland ist aber daran gescheitert, es noch umfangreicher einzuführen. Wir haben also schon viele Maßnahmen ergriffen.
Nun haben wir den Onlinehandel in den Fokus genommen. Herr Glaser, wenn Sie davon sprechen, dass es keine empirischen Daten gibt, dann können Sie vielleicht manche Hinweise berücksichtigen. Nach einer Recherche der „Süddeutschen Zeitung“ sind bei Amazon Marketplace – das ist die Basis – insgesamt 4 000 gewerbliche Anbieter allein aus China und Hongkong registriert, die aber in Deutschland steuerlich nicht registriert sind. Wir wissen auch, dass immer mehr Verkäufe laufen. Über die Daten des Zolls können wir nachweisen, dass mittlerweile 100 Millionen Päckchen aus Nicht-EU-Staaten hier ankommen. Da liegt die Vermutung schon nahe, dass das auch zu einem steuerlichen Schaden führt. Die genaue Dunkelziffer zu benennen, ist schwierig. Aber seriöse Einschätzungen gehen davon aus, dass es sich um bis zu 1 Milliarde Euro handeln kann. Daher ist es richtig und klug, dass wir in diesem Punkt handeln.
Andere europäische Länder haben uns das schon vorgemacht. In UK gibt es ähnliche Regelungen, das war ein Vorbild für uns. Daher bin ich sehr dankbar, dass wir hier als Bundesregierung und Koalition handeln.
Im Übrigen hat die CDU/CSU-Fraktion ein Fachgespräch mit Händlern und Plattformanbietern geführt. Interessanterweise – damit hatte ich nicht unbedingt gerechnet – haben alle die Zielsetzung dieses Gesetzes gelobt. Natürlich wird es Detailfragen geben. Wir hatten heute ein Berichterstattergespräch, in dem wir fast jeden Satz abgewogen haben. Es wird wahrscheinlich auch noch Veränderungen geben können. Aber die Zielsetzung und die Richtung sind genau richtig. Daher bin ich froh, dass wir hier die Lösung gefunden haben.
Ich bin sehr froh, dass wir, wie gesagt, die Unterstützung der Plattformbetreiber und auch der Händler haben, weil sie selber nur mit seriösen Leuten zusammenarbeiten wollen, die sich in Deutschland registrieren lassen, die in Deutschland ihren steuerlichen Pflichten nachkommen. Alles andere, wenn Geld hinterzogen wird, ist asozial in größtem Umfang. Das geschieht beim Umsatzsteuerbetrug. Daher: Gut, dass wir hier handeln.
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Die Staatssekretärin hat weiterhin darauf hingewiesen, wie es eigentlich in einem Jahressteuergesetz ist, dass wir noch viele andere schöne Dinge haben, über die wir noch umfassend diskutieren werden. Ich will auf zwei kurz eingehen.
Das ist einmal die sogenannte Dienstwagenbesteuerung – auch das haben Sie angesprochen, Frau Lambrecht – mit der Halbierung der Bemessungsgrundlage für Elektro- und Hybridfahrzeuge. Natürlich lautet die Diskussion: Will man eine Lenkungsnorm im Steuerrecht? Das haben wir überall. Als Steuerdogmatiker bin ich da, zugegebenermaßen, auch sehr vorsichtig. Aber nun haben wir das hier, und es steht auch im Koalitionsvertrag, dass wir etwas machen wollen. Ich gebe aber zu bedenken, dass wir – auch das haben wir schon angesprochen – noch einmal darüber diskutieren sollten, ob wir die reinen Elektrofahrzeuge genauso privilegieren und unterstützen wie die Hybridfahrzeuge oder ob wir dort nicht Kriterien einführen wie zum Beispiel im Elektromobilitätsgesetz, wo wir genaue Lösungen dafür gefunden haben, welche Hybridfahrzeuge in den Genuss der Begünstigung kommen.
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Das macht man entweder am Ausstoß oder an der Elektroreichweite fest, dass man also vielleicht 40 Kilometer fahren kann. Ich glaube, wir sollten da ein bisschen differenzierter herangehen. Dazu gibt es aber schon erste Überlegungen.
Ich bedaure ein bisschen, dass ich die Sonderabschreibung für gewerblich genutzte Elektrofahrzeuge, die es geben sollte – das haben wir im Koalitionsvertrag nämlich auch geregelt –, in diesem Gesetzentwurf noch nicht gesehen habe. Ich hoffe, dass dieses Vorhaben zügig umgesetzt wird; denn das wäre eine weitere wichtige Maßnahme.
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Ein weiterer Punkt, den ich nur kurz ansprechen möchte, sind die Regelungen zur sogenannten Verlustnutzung; da geht es um § 8c Körperschaftsteuergesetz. Hier müssen wir aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts handeln, das uns ins Stammbuch geschrieben hat, dass die Regelungen, die wir dort haben, zum Teil verfassungswidrig sind. Ich bedaure ein wenig, dass im Gesetzentwurf derzeit nur vorgesehen ist, dass wir diese Regelung für eine gewisse Zeit aussetzen, nämlich bis einschließlich des Veranlagungszeitraumes 2015.
Ich glaube, wenn man sich das Urteil anguckt, muss man feststellen: Da springen wir ein bisschen kurz. Denn es ist nicht gesagt, dass diese Regelung ab dem Veranlagungsjahr 2016 tatsächlich verfassungsgemäß ist, weil wir den § 8d KStG eingeführt haben. Ich glaube, wir müssen uns das noch einmal ansehen. Dass das ein wichtiges Thema ist, steht außer Frage. Wenn man den Statistiken glauben kann, haben wir ungefähr 700 Milliarden Euro Verlustvorträge bei den Körperschaften. Sie sehen: Wenn man da mit 15 Prozent herangeht, entspricht das einer latenten Steuererstattung von 105 Milliarden Euro. Das ist nicht ganz trivial. Wir wollen, dass nur wirtschaftlich gleiche Einheiten den Verlust nutzen können. Das müssen wir vernünftig definieren. Von daher sind wir, glaube ich, am Anfang der Diskussion darüber, wie wir das Thema insgesamt noch einmal aufgreifen können.
Das wird eine spannende Debatte. Wir haben ja schon ein paar Berichterstattergespräche geführt. Ich freue mich, dass ich mich als Steuerpolitiker in diesen verschiedenen Themen richtig ausbreiten kann, und ich freue mich auf die Beratung. Das wird ja nicht das Ende der steuerlichen Themen sein. Wir haben ja noch einige andere Punkte auf der Agenda, den Solidaritätszuschlag und andere Fragen, Herr Dürr. Auch darüber werden wir diskutieren.
Herzlichen Dank.
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Die Kollegin Katja Hessel hat das Wort für die FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Jahressteuergesetz 2018 zeigt wieder einmal eindrucksvoll, wie unambitioniert die Bundesregierung in der Steuerpolitik ist.
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Von einem Gestaltungswillen kann keine Rede sein.
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Das einzig wirklich Neue ist der Name, Kollege Güntzler, also alter Wein in neuen Schläuchen. Steuerliche Entlastung, Bürokratieabbau: Fehlanzeige. Aber immerhin: Wir haben ja gestern im Finanzausschuss vom Minister, der nach 197 Tagen zu seinem Antrittsbesuch zu uns gekommen ist, erfahren, dass die Koalition an einer steuerlichen Forschungsförderung arbeitet. Das ist ja schon mehr als das, was wir vorher erfahren haben, weil alle schriftlichen Anfragen dazu nicht wirklich beantwortet wurden. Sie wissen ja: Wir sind eine Serviceopposition.
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Wir haben schon einmal einen Antrag mit den aus unserer Sicht wichtigen Eckpunkten für eine steuerliche Forschungsförderung erarbeitet.
Aber zurück zu dem Gesetzentwurf, der uns diesen neuen Namen eingebracht hat: „zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet“. Wir sind uns alle einig, dass wir eine gesetzliche Regelung brauchen, damit die Erfüllung der umsatzsteuerlichen Pflichten von Händlern, insbesondere aus Drittstaaten, die ihre Waren über Onlineplattformen vertreiben, sichergestellt wird.
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Dieser Umsatzsteuerbetrug muss dringend bekämpft werden, und das nicht nur, um Steuerausfälle zu vermeiden, sondern vor allem auch, um Wettbewerbsverzerrungen zulasten der steuerehrlichen Händler auszuschließen.
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Dazu ist der aktuelle Gesetzentwurf aber nur bedingt geeignet. Er vermittelt meines Erachtens auch eine sehr merkwürdige Rechtsauffassung der Bundesregierung; denn hier werden von den Finanzämtern hoheitliche Aufgaben, die sie haben, an Dritte übertragen. Wenn der Gesetzgeber eigentlich sicherstellen will, dass Händler aus Drittländern keinen Steuerbetrug begehen, dann wäre erst einmal der Staat gefragt.
Die geplanten neuen Vorschriften sehen besondere Pflichten und Sonderregelungen für die Betreiber von elektronischen Marktplätzen vor. So sollen die Marktplatzbetreiber steuerrelevante Daten für sämtliche Händler, also auch für die inländischen, mit einer Bescheinigung nachweisen, und dies in Papierform.
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Die Bundesregierung wälzt nicht nur hoheitliche Aufgaben ab, sondern sie sorgt auch noch dafür, dass Händler und Plattformbetreiber diese ihnen so zugeschusterten Aufgaben nur mit einem hohen bürokratischen Aufwand erledigen können. Es ist schlicht ein Unding, dass es bislang keine digitale Lösung gibt und sie in absehbarer Zeit auch nicht in Sicht ist.
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Die Bundesregierung verlangt von den Unternehmen, die ihre Geschäfte ausschließlich online, also digital, betreiben, dass sie den zusätzlichen bürokratischen Aufwand analog erledigen. Hier zeigt sich ganz deutlich, dass die Bundesregierung noch in den digitalen Kinderschuhen steckt. Es zeigt sich, dass das wichtige Thema „Digitalisierung der Verwaltung“ jahrelang sträflich vernachlässig wurde. Weil der Staat bei der Digitalisierung nicht in die Puschen kommt, wird den Unternehmern jetzt unnötige Bürokratie aufgebürdet. Aber wir haben ja nun im Beratungsverlauf die Möglichkeit, den Gesetzentwurf praxistauglich zu gestalten. Dazu wird auch die Anhörung im Finanzausschuss beitragen.
Es sind noch einige Punkte offen: die erweiterte Haftung über die Bescheinigung hinaus, die Fristen zur Erteilung der notwendigen Bescheinigungen und auch die Übergangsfristen. Die Bundesregierung hatte das Thema schon sehr lange auf der Agenda, es aber schlicht verschlafen oder sich nicht herangetraut. Jetzt wird hier im Hauruckverfahren bis Ende des Jahres ein schlechter Gesetzentwurf durchgeboxt.
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Aber wir haben dann ja auch noch die Möglichkeit, Kollege Güntzler, uns mit einigen anderen Punkten zu befassen: mit der Neuregelung der Sanierungsgewinne, mit dem Verlustabzug, den Sie angesprochen haben, aber auch mit der Anpassung der Vollverzinsung; auch die habe ich vermisst. Auch hier – Sie werden sich nicht wundern – gibt es schon einen Antrag von uns. Wir bleiben eben Serviceopposition.
Vielen Dank.
({8})
Für Die Linke hat das Wort der Kollege Jörg Cezanne.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich kurz zu den zwei Punkten aus dem Artikelgesetz, die auch die Frau Staatssekretärin angesprochen hat, etwas sagen. Wo liegt das Problem mit der Umsatzsteuer? Es ist ja schon angesprochen worden: Auf Internetplattformen bieten Händler, auch aus dem Ausland, ihre Waren an. Bei Amazon ist das offensichtlich schon mehr als die Hälfte der dort aktiven Händler. Nicht wenige dieser Händler sind aber bei deutschen Finanzämtern gar nicht registriert und führen die mit der Rechnung einbehaltene Umsatzsteuer nicht an deutsche Finanzämter ab.
Der Bundesrechnungshof hat deshalb schon 2016 von einer „Steueroase Internet“ gesprochen. Dass es dazu keine Zahlen gebe, Herr Glaser, ist natürlich – aber da muss man dann vielleicht auch einmal etwas dazu lesen – nicht ganz wahr. Eine konservative Schätzung geht davon aus, dass sich der Einnahmeverlust auf mindestens 800 Millionen Euro im Jahr beläuft. Das schon angesprochene Vereinigte Königreich geht davon aus, dass dort 1,7 Milliarden Pfund im Jahr an Steuerausfällen zu verzeichnen sind. Das wollen wir Linke, so wie die Bundesregierung ja offensichtlich auch, nicht hinnehmen.
Wir finden den Ausgangspunkt, Plattformanbieter wie eBay oder Amazon dazu zu verpflichten, die Händler auf ihren Plattformen zwecks korrekter Umsatzsteuerabführung zu erfassen, richtig. Auch richtig ist es, die Plattformanbieter beim Verstoß gegen die Aufzeichnungspflichten für nicht gezahlte Umsatzsteuer der Händler selbst in Haftung zu nehmen. Mehr Finanzbeamte, die diese Umsatzsteuerhinterziehung gezielt verfolgen, würden im Übrigen auch helfen.
Ich will noch zwei Bedenken anmelden:
Erstens müssen die Anforderungen an die Plattformbetreiber ausreichend scharf und der Regress beim Verstoß bedrohlich genug sein, damit die Plattformanbieter die Händler auch wirksam kontrollieren.
Zweitens müssen diese Anforderungen so gestrickt sein, dass sie auch für kleinere oder neue Plattformbetreiber erfüllbar bleiben. Die weitere Konzentration in den Händen der Großkonzerne wie eBay oder Amazon ist auch nicht in unserem Interesse.
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Der zweite Punkt im Hinblick auf das Artikelgesetz, den ich heute ansprechen möchte, ist die vorgesehene Steuersenkung für die private Nutzung von Elektrodienstwagen. Was sich zunächst wie die sinnvolle Förderung der sauberen und klimafreundlichen E-Mobilität anhört, ist aber in unseren Augen gleichzeitig auch die Fortführung eines alten Ärgernisses. Denn mit der Dienstwagenregelung werden vor allen Dingen große und teure Dienstwagen mit überdurchschnittlichem Verbrauch und CO 2 -Ausstoß begünstigt. Dieses Modell jetzt auf große und teure Autos mit Elektroantrieb -mit enorm hohem Ressourceneinsatz bei der Produktion, bei der Herstellung – zu übertragen, halten wir nicht für sinnvoll.
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Unser verkehrspolitisches Ziel ist eine grundlegende Verkehrswende. Da reicht es nicht, den einen Antrieb im Auto – Verbrennungsmotor – durch den anderen – Elektroantrieb – zu ersetzen. Über die besondere Problematik der Hybridautos hat auch Herr Güntzler schon gesprochen. Die steuerliche Behandlung der privaten Nutzung von Dienstwagen muss grundsätzlich überdacht werden.
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Eine vernünftige ergänzende Anregung hinsichtlich der Berücksichtigung umweltfreundlicher Verkehrsmittel findet sich in der Stellungnahme des Bundesrates zu dem Gesetzentwurf. Der Bundesrat schlägt nämlich vor, zumindest auch Dienstfahrräder mit Elektroantrieb auf gleiche Weise wie E-Autos besserzustellen. Das ist zumindest sinnvoll, auch wenn es nicht so schrecklich viele sind, und sollte in den weiteren Beratungen berücksichtigt werden.
Vielen Dank.
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Stefan Schmidt.
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Danke sehr. – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In unseren Städten bleibt die Luft dick. Allein der Verkehr verursacht hierzulande 22 Prozent des CO 2 -Ausstoßes, Tendenz steigend. Aber warum erzähle ich das? Ich erzähle das, weil die Bundesregierung in dem hundertseitigen Steuerpaket einfach dürftige Vorschläge zur Dienstwagenbesteuerung macht. Mich wundert das nicht; denn mein Eindruck ist, Ihnen geht es nicht wirklich darum, unsere Luft oder gar das Klima zu verbessern, nein, Ihnen geht es offensichtlich wieder einmal darum, die Autoindustrie zu subventionieren.
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Sie möchten, dass Elektroautos bei der Dienstwagenbesteuerung stärker begünstigt werden; so weit, so gut. Aber erklären Sie mir doch bitte mal: Warum sollen ausgerechnet Hybridautos genauso stark begünstigt werden wie alle anderen Elektroautos? Hybride fahren – das wurde in der Debatte schon gesagt – allerhöchstens 50 Kilometer elektrisch. Das sind keine Elektroautos mit ein bisschen fossiler Verbrennung, sondern das sind fossile Verbrenner mit ein bisschen Elektro, und die verbessern eben nicht die Luft und das Klima. Das ist doch Augenwischerei.
({1})
Fragen Sie da doch mal ganz konkret die Autoindustrie, die bei Ihnen ja doch häufig Gehör findet – ich habe gestern erst einen Brief bekommen –: Selbst die sind dafür, Elektroautos steuerrechtlich besserzustellen als Hybride.
Die Dienstwagenbesteuerung muss grundsätzlich geändert werden, sie muss eine echte Lenkungswirkung entfalten: weg von spritfressenden Prestigekarossen, hin zu emissionsarmen und klimafreundlichen Fahrzeugen.
({2})
Das geht allerdings nur, wenn sich die Dienstwagenbesteuerung am CO 2 -Ausstoß orientiert. Je mehr ein Auto das Klima schädigt, desto weniger dürfen wir das steuerlich fördern. Und noch mehr: Dienstautos, die einen bestimmten CO 2 -Wert übersteigen, müssen wir grundsätzlich von allen Steuervorteilen ausschließen. Nur so funktioniert Luftreinhaltung und Klimaschutz.
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Es ist nur logisch, dass auch Dienstfahrräder und Dienstelektrofahrräder stärker begünstigt werden. Wie sich Radfahren im Vergleich zum Autofahren auf die Gesundheit, auf das Klima, auf die Umwelt und auf den Geldbeutel auswirkt, das ist doch glasklar, das wissen wir alle. In dieser Regierung denkt man anscheinend aber immer nur ans Autofahren; anders kann ich mir nicht erklären, dass Sie nicht mal einen Gedanken daran verschwenden, Fahrräder stärker zu begünstigen.
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Übrigens sagt das auch der Bundesrat. Selbst die Union – ich höre das gerne – zweifelt an den Plänen des SPD-Finanzministeriums. Zu Recht, hier muss der Gesetzentwurf nachgebessert werden.
„Nachbessern“ ist auch richtig; denn an Ihrem Gesetzentwurf ist ja nicht alles verkehrt.
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Dass Sie dem Umsatzsteuerbetrug auf elektronischen Marktplätzen wie bei Amazon oder eBay endlich den Kampf ansagen, finden wir richtig. Onlinehändlerinnen und Onlinehändler aus aller Welt verkaufen ihre Waren dort; aber nur ein Teil davon zahlt eben auch Umsatzsteuer, viele außereuropäische Unternehmen hingegen zahlen keinen Cent. Das ist Steuerhinterziehung, und diese Steuerhinterziehung kostet uns, die öffentliche Hand, 1 Milliarde Euro – und das jedes Jahr.
Während Sie diesem Treiben jahrelang zugesehen haben, haben wir bereits in der letzten Legislaturperiode in einem Antrag dazu aufgefordert, diesen Steuerbetrug zu beenden. Ich freue mich und finde es gut, dass Sie aus Ihrem Dornröschenschlaf erwacht sind und endlich auch unsere Forderungen aufgreifen; es wurde wirklich höchste Zeit.
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Lassen Sie mich zum Schluss noch mal kurz zurückkommen zum Ausgangspunkt meiner Rede. Der Verkehr bietet so viele Möglichkeiten, CO 2 einzusparen. Wir Grüne helfen gerne dabei. Mit Ihrem Gesetzentwurf gibt es die Möglichkeit, steuerlich einzugreifen. Lassen Sie uns diese Möglichkeit ergreifen.
Vielen Dank.
({7})
Der nächste Redner: der Kollege Lothar Binding, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben schon oft gehört, dass das Jahressteuergesetz diesmal Umsatzsteuerausfälle beim Handel mit Waren im Internet vermeiden will. Das deutet schon in eine ganz spezielle Richtung und macht deutlich, dass sich die Welt verändert.
Ingrid Arndt-Brauer hat heute Mittag zu mir gesagt: Wie ist das eigentlich mit Wish Shopping? Diese Wish-Shopping-App kann man nicht mit einem Zollstock messen, die ist viel dramatischer. Dieses virtuelle Unternehmen ist ein Onlineunternehmen, das zur Hälfte einem Chinesen gehört, mit Sitz in San Francisco. Sie bezahlen per Sofortüberweisung über Klarna, einen schwedischen Online-Payment-Anbieter. Jetzt würde ich gerne von Ihnen, Frau Hessel, wissen: Wie würden Sie denn Ihrem Anspruch, dort die Umsatzsteuerumgehung zu vermeiden, genügen? Dazu interessiert uns Ihre Idee; das ist nämlich etwas richtig Kompliziertes. Dieser Gesetzentwurf ist deshalb so gut, weil er sich erstmals um so etwas kümmert. Das BMF hat versucht, der virtuellen Welt Herr zu werden. Wir haben neue Wettbewerber. Es gibt neue Steuerumgehungen. Die virtuelle Welt konkurriert mit der realen Welt, und das hat etwas mit uns zu tun – wir haben es schon gehört –, mit dem Einzelhandel, mit den Innenstädten, ja mit unserem Leben im Land.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich führe es jetzt zu Ende; ich denke, das ist eine ganz geschickte Sache. Sie hatten schon auf die Zeit verwiesen; wir haben noch eine lange Debatte darüber.
Fairer Wettbewerb geht verloren. Auf elektronischen Marktplätzen verletzen Anbieter aus Drittstaaten unser Steuerrecht. Das kann nicht sein.
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Auf die Details in diesem Zusammenhang gehe ich jetzt gar nicht mehr ein. Aber es ist völlig klar: Die Plattformbetreiber trifft erst mal keine Schuld. So ist es auch gar nicht gemeint. Nur, wenn sie in dieser Welt anbieten, müssen sie auch versuchen, sich sozusagen fair gegenüber der realen Welt zu verhalten. Deshalb: Wenn Betrug vorliegt, Steuerhinterziehung in dieser Welt an die Grenze der Normalität gerückt wird, dann sollen die Plattformen sich beteiligen, sollen Aufzeichnungspflichten erfüllen, sollen Steuernummern erheben, sollen Zeitpunkt und Höhe der Umsätze festhalten. Es muss klar sein: Hier gibt es eine Verantwortung derjenigen, die dort Geld verdienen; sie sollen auch helfen, die Steuer zu erheben.
({1})
Von daher ist das ein sehr guter Ansatz.
Zu Firmenwagen will ich nicht viel sagen.
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Natürlich kann man die bisherige Firmenwagenregelung kritisieren. In diesem Gesetzentwurf wird zumindest ein starkes Signal gesetzt in Richtung E-Mobilität – mit Sicherheit nicht für alle Zukunft, aber es ist ein starker Einstieg. Und wer in die richtige Richtung geht, der hat ein Lob verdient und keinen Tadel!
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Was wir noch machen und was sehr wichtig ist: Wir unterstützen Sanierungen. Das ist uns sehr wichtig; denn es geht um Arbeitsplätze. Wir sagen: Wenn Sanierungen gut gemacht werden, kann man Arbeitsplätze erhalten. Da geht es einmal – das haben wir schon gehört – um die Verlustnutzung, die wir neu regeln. Nun ist es ja so: Wenn ein Unternehmen Probleme hat, hat es Schulden. Wenn man Schulden hat, hat man Gläubiger. Wenn jetzt der Gläubiger auf die Begleichung der Schuld verzichtet, ist das praktisch ein Gewinn für das Unternehmen. Den müssten wir eigentlich besteuern, wollen ihn aber nicht besteuern. Denn derjenige, der auf die Begleichung der Schuld verzichtet, will das Unternehmen retten und Arbeitsplätze erhalten. Deshalb ist es ein guter Ansatz, zu sagen: Wir verzichten auf die Besteuerung dieser Sanierungserträge. Das ist eine gute Sache. Da merkt man schon, dass dieser Gesetzentwurf einen ganzen Strauß von neuen Bedingungen in den Blick nimmt.
Last, but not least: Wir lösen auch Probleme, die im Sportbereich entstanden sind. Dachverbände können gemeinnützig und steuerbefreit sein. Wenn aber die Mitglieder steuerlich wirtschaftliche Tätigkeiten ausüben, dann könnte es sein, dass ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb entsteht. Dann muss natürlich der Dachverband diese Entwicklung bei seinen Mitgliedern berücksichtigen und kann nicht so tun, als ob gar nichts war. Der Bundesfinanzhof hat gesagt: Vorsicht, da habt ihr nicht aufgepasst, ihr habt etwas versäumt, da muss was passieren. – Jetzt sind wir in der Falle und müssen uns was Kluges überlegen, damit die Vereine und auch die Dachverbände eine handhabbare Lösung bekommen. Daran lasst uns arbeiten! Das wird keine leichte Sache.
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Ich denke dabei nicht nur an die Dachverbände des Sports. Gerechtigkeit heißt, auch an Kultur-, Sozial- und humanitäre Vereine sowie deren Dachverbände zu denken. Es ist immer klug, wenn man alles in den Blick nimmt.
Schönen Dank, alles Gute und schönen Abend.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Lambrecht, ich glaube, das deutsche Steuerrecht ist natürlich immer auch ein Abbild – das merken wir jetzt auch beim Jahressteuergesetz 2018 bzw. beim „Gesetz zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften“, wie es jetzt heißt – der gesamten gesellschaftlichen Diskussion des gesamten Jahres. Es enthält viele Dinge – Sie kritisieren, es sei kein großer Wurf –, die die gesellschaftliche Realität abbilden und zeigen, dass es notwendig und wichtig ist, dass wir unter dem Jahr in einem Jahressteuergesetz auch kleinere Anpassungen vornehmen.
Ein Beispiel ist in diesem Jahr – das ist natürlich nicht für alle spannend – die Umsetzung des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes. Nur damit man mal sieht, wie das funktioniert: Mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz wurden drei Pflegestufen in fünf Pflegegrade geändert, und schon hatte das Auswirkungen auf die Einkommensteuer, auf die Gewerbesteuer und auf die Umsatzsteuer. Insofern sind solche Anpassungen auch notwendig. Daneben gibt es zahlreiche weitere notwendige redaktionelle Änderungen im Jahressteuergesetz 2018.
Wussten Sie, dass es im Jahr 2017 2 571 Urteile des Bundesfinanzhofs gab? Diese haben natürlich auch wieder unterschiedliche Auswirkungen und müssen unterschiedlich verarbeitet werden. Deswegen ist es notwendig, dass viele kleine Schritte gemacht werden, um ein sinnvolles und gutes Jahressteuergesetz vorzulegen.
Herr Kollege von den Linken, ich glaube, Ihr Wunsch, dass wir scharf und bedrohlich gegen unsere Unternehmer vorgehen, ist absolut falsch. Ich glaube, wenn man sich heute die deutschen Unternehmen anschaut und sieht, wer in Deutschland Steuern zahlt, dann kann man feststellen, dass wir in Deutschland überwiegend ehrliche Steuerzahlerinnen und Steuerzahler haben. Es gilt an so einem Tag auch einmal, Dankeschön an diejenigen zu sagen, die Steuern zahlen, weil sie unsere Volkswirtschaft ermöglichen. Sie sind das finanzielle Rückgrat unseres Staates.
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Deshalb ist es umso wichtiger – die Diskussion um die Umsatzsteuer hat das ja auch gezeigt, und das zeigt sich auch in der ganzen Diskussion zum Jahressteuergesetz 2018 –, dass man diejenigen, die Steuerzahlungen vermeiden oder Steuern umgehen, mit einer klugen und guten Gesetzgebung herausfiltert. Gerade im unternehmerischen Bereich ist es für einen fairen Wettbewerb notwendig, dass wir diejenigen, die keine Steuern abführen oder Steuern hinterziehen, herausfiltern und dementsprechend benennen.
Gerade bei den Marktplatzanbietern im Internet gibt es ganz viele Händler – vor allem im außereuropäischen und insbesondere im asiatischen Bereich –, die die Umsatzsteuer nicht abführen, verkürzen oder hinterziehen – wir sprechen hier von 1 Milliarde Euro –, weil sie einfach in Deutschland nicht gemeldet bzw. registriert sind. Deswegen ist es richtig, dass wir das Jahressteuergesetz auf den Weg bringen.
Bei den Gesprächen mit den Marktplatzbetreibern war erstaunlich, dass sie uns auf diesem Weg unterstützen. Auch die Marktplatzbetreiber in Deutschland wollen steuerehrlich sein und ihre Abgaben richtig entrichten. Insofern ist es richtig, dass die Unternehmer, die ihre Ware über Internetplattformen anbieten, zukünftig eine Bescheinigung vom Finanzamt anfordern müssen, die sie dem Marktplatzbetreiber geben. Dann sind diese auch aus der Haftung raus.
Allerdings gibt es in der Gesetzeslage noch zwei, drei Dinge, die man regeln muss. Es gibt noch Rückausnahmen in zwei Paragrafen, die risikoreich sind, und zwar meines Erachtens ungewollt. Deswegen müssen wir hier noch nachschärfen.
Kollege Fritz Güntzler hat die Neuregelung des § 8c Körperschaftssteuergesetz ausgeführt. Die volle Verlustnutzung ist ein richtiges und gutes Signal. Er hat auch den Sanierungsgewinn erwähnt. Ich glaube, es gibt viele, die seit Jahren in einer rechtsunsicheren Situation sind. Gerade bei einem Sanierungsgewinn gab es ja europäische Restriktionen. Deswegen hat man die Regelungen neu beschließen müssen. Ich glaube, dass das ein wesentliches Signal aus diesem Jahressteuergesetz 2018 ist.
Als Letztes bin ich der Meinung – auch wenn man steuersystematisch natürlich immer wieder hinterfragen kann, ob es richtig ist –, dass es richtig ist, Begünstigungen für Elektromobilität vorzusehen, weil man damit einen Prozess anstößt, neue Technologien auf dem Markt fördert und es dem Steuerbürger, dem Unternehmensleiter oder auch dem Mitarbeiter ermöglicht, günstiger ein Dienstfahrzeug zu nutzen. Insofern werden wir über die Details noch reden, aber der Schritt geht in die richtige Richtung.
Bei Elektrofahrrädern bin ich übrigens der Meinung, dass man keine 1-Prozent-Versteuerung vorsehen sollte. Bei einem Rad im Wert von 3 000 Euro wären das 30 Euro im Monat. Ich glaube, das kann man weglassen. Ich rege an, dass man das Radfahren völlig freistellt.
({1})
Ich glaube, es sind viele Dinge geregelt. Natürlich geht es dabei um viele kleine Fragen.
Ich komme nun zum letzten Punkt – hier brauchen wir keine Serviceopposition der FDP, sondern wir werden sie natürlich selber einbringen –: Ich glaube, wir brauchen auch eine sinnvolle Unternehmensteuerreform für den Mittelstand. Das ist im Jahressteuergesetz 2018 nicht drin, aber ich glaube, wenn man betrachtet, wie die Länder um uns herum den Steuerwettbewerb gestaltet haben, dann wird klar, dass wir ein Unternehmensteuergesetz brauchen, das niedrigere Steuersätze für Unternehmen und eine Anpassung der Hinzurechnung bei der Gewerbesteuer beinhaltet. Bei der Abschaffung des Soli sollte man vielleicht auch überlegen, die kleineren und mittleren Kapitalgesellschaften mit einzubeziehen. Wir brauchen daneben eine angemessene Forschungsförderung und eine rechtsformneutrale Besteuerung bei den Unternehmen.
({2})
Wir müssen also eine ganze Latte von Dingen auf den Weg bringen, und deswegen werbe ich dafür, dass wir nicht nur in die Diskussion über das Jahressteuergesetz 2018, sondern auch in diesen Dialog eintreten.
Alles Gute und herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Brehm. – Ich darf die Aussprache hierzu schließen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/4455 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es gehört aus meiner Sicht mit zu einem der vornehmsten Rechte, die ein Staat gegenüber einem Drittstaatsangehörigen auszusprechen hat, das Recht auf Asyl bzw. den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen. Deutschland war hier in den letzten Jahren bekanntermaßen außerordentlich großzügig. Ich glaube, wir brauchen uns von keiner Seite Kritik gefallen zu lassen. Deutschland hat in den letzten drei Jahren, was die Aufnahme von Flüchtlingen und Asylbewerbern anbelangt, eine ausgesprochen humanitäre Visitenkarte abgegeben.
Wir haben aber auch feststellen müssen, dass wir teilweise vielleicht zu großzügig waren. Wir waren vor allem in einer Zeit zu großzügig, als der Flüchtlingszustrom sehr massiv war. Gerade auch auf Druck der Länder hat man sich dann darauf verständigt, neue Verfahren anzuwenden, beispielsweise wurden insbesondere Anträge von syrischen Staatsangehörigen ohne Anhörung im Rahmen des sogenannten Fragebogenverfahrens bewertet.
Wir haben jetzt gesehen, dass es natürlich nicht nur wichtig ist, in einem Asylverfahren ordentliche rechtsstaatliche Qualitätsanforderungen zur Geltung kommen zu lassen, sondern dass es natürlich auch darauf ankommt, in regelmäßigen Abständen zu überprüfen, ob der Flüchtlingsstatus überhaupt noch rechtmäßig gewährt wird. Gerade in der Hochphase der Flüchtlings- und Migrationskrise Ende 2015, Anfang 2016 kam es natürlich auch zu Fehlentscheidungen, die darauf zurückzuführen sind, dass nicht ausreichend intensiv und qualitativ hochwertig beispielsweise geprüft wurde, wo jemand herkam, welche Staatsangehörigkeit und welche Identität jemand hat und ob er tatsächlich verfolgt wird.
Vor diesem Hintergrund ist es aus meiner Sicht auch sehr wichtig, dass wir die Bescheide in regelmäßigen Abständen überprüfen. Das Asylgesetz sieht vor, dass spätestens nach drei Jahren ein Widerrufsverfahren eingeleitet werden kann. Wir haben jetzt feststellen müssen, dass es hier bedauerlicherweise rechtliche Defizite gibt. Anders als beim Ausgangsverfahren, wo eine Mitwirkungspflicht des Betroffenen besteht, besteht diese Mitwirkungspflicht beim Widerrufs- oder Rücknahmeverfahren bedauerlicherweise nicht. Die Folge ist, dass im Jahre 2017 lediglich 421 Bescheide aufgehoben wurden. Das ist deutlich zu wenig.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat mittlerweile immerhin 13 192 Betroffene, die im Rahmen des schriftlichen Fragebogenverfahrens beschieden wurden, angeschrieben und aufgefordert, an dem Rücknahme- und Widerrufsverfahren mitzuwirken. Leider ist die Beteiligungsquote ausgesprochen gering; denn nur 34 Prozent der Angeschriebenen sind der Aufforderung des BAMF nachgekommen, bei einer BAMF-Außenstelle vorstellig zu werden.
Ich bin der festen Überzeugung, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, dass wir – gerade auch im Lichte der Erfahrungen und Vorkommnisse in der BAMF-Außenstelle Bremen – wirklich noch mehr dafür tun müssen, höhere Qualitätsmaßstäbe zur Geltung kommen zu lassen, insbesondere auch bei den notwendigen Widerrufs- und Rücknahmeverfahren. Deshalb legt die Bundesregierung Ihnen heute einen Gesetzentwurf zur Befassung vor, der vorsieht, dass der § 73 des Asylgesetzes dahin gehend geändert wird, dass zukünftig auch im Widerrufsverfahren für den Betroffenen eine Mitwirkungspflicht besteht.
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Es kann aus meiner Sicht nicht angehen – ich sage das hier ganz deutlich –, dass bislang die Versuche, die Betroffenen zur Mitwirkung aufzufordern, teilweise – wie gesagt: in 66 Prozent der Fälle – komplett ins Leere gegangen sind. Und es kann aus meiner Sicht auch nicht angehen, dass es letzten Endes im Ermessen oder im Belieben des Betroffenen steht, ob er überhaupt an dem Rücknahmeverfahren, an dem Widerrufsverfahren mitwirkt oder nicht.
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Deshalb ist es aus meiner Sicht dringend erforderlich, dass wir diese Mitwirkungspflicht in § 73 des Asylgesetzes festschreiben. Der Entwurf, den wir Ihnen vorlegen, sieht zwei Alternativen vor: Wenn der Betroffene nicht mitwirkt, gibt es – erstens – die Möglichkeit des Verwaltungszwanges. Zweite Möglichkeit: Wenn er seiner Mitwirkungspflicht nicht ausreichend nachkommt, dann wird nach Aktenlage entschieden. Aber dann – um dies klar zu sagen – muss sich die fehlende Mitwirkung im Widerrufs- oder im Rücknahmeverfahren zukünftig, anders als bisher, negativ niederschlagen. – Das sind die beiden Alternativen, die wir vorsehen.
Am vergangenen Freitag hat der Bundesrat eine Stellungnahme zu diesem Gesetzentwurf abgegeben. Die Bundesregierung begrüßt die Vorschläge des Bundesrates ausdrücklich, weil vor allem zwei Vorschläge sehr sinnhaft sind: Zum einen will der Bundesrat eine Erweiterung der Möglichkeiten der erkennungsdienstlichen Behandlung, zum anderen eine Erweiterung der Möglichkeiten der Datennutzung. Ich möchte hier für die Bundesregierung ausdrücklich sagen, dass wir diese Vorschläge aus der Stellungnahme des Bundesrates ausdrücklich begrüßen.
Ich freue mich auf eine qualitativ hochwertige und – das sage ich auch ganz bewusst – eine zeitnahe Behandlung dieses wichtigen Gesetzentwurfes; denn in absehbarer Zeit – darauf möchte ich auch noch hinweisen – stehen über 500 000 Widerrufsverfahren an. Gerade vor dem Hintergrund dieser halben Million kommender Widerrufsverfahren ist es aus meiner Sicht von dringender Notwendigkeit, dass wir endlich die Mitwirkungspflicht für die Betroffenen gesetzlich festschreiben.
Ich danke Ihnen ganz herzlich für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Der nächste Redner für die Fraktion der AfD ist der Kollege Lars Herrmann.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung macht tatsächlich mal was Sinnvolles – halleluja!
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Aber trotzdem: Nichts scheint für die Bundesregierung so überraschend zu kommen wie Weihnachten und Silvester. Und so hat man auch hier ganze vier Jahre gebraucht, um eine eklatante Lücke im Asylgesetz zu erkennen und zu schließen, nämlich die bisher fehlende Mitwirkungspflicht von Flüchtlingen im Widerrufs- und Rücknahmeverfahren.
Dazu muss man wissen, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge per Gesetz dazu verpflichtet ist, eine sogenannte Regelüberprüfung durchzuführen, also zu überprüfen, ob die Schutz- bzw. Anerkennungsgründe bei Flüchtlingen tatsächlich auch noch vorliegen. Diese Prüfung hat spätestens nach drei Jahren zu erfolgen. Auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion hin wurde im Februar dieses Jahres bekannt, dass es im Jahr 2013 gerade einmal 369 solcher Regelüberprüfungen gegeben hat. Davon ist in sechs Fällen der Schutzgrund entfallen. Und bei den immerhin schon 1 293 durchgeführten Regelüberprüfungen im Jahr 2014 wurden gerade einmal acht Fälle festgestellt. Diese mageren Zahlen mögen nicht wirklich verwundern; schließlich gab es für die Betroffenen keinerlei Pflicht, an dieser Überprüfung mitzuwirken.
Auch scheint in der Führungsetage des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge der gesetzliche Auftrag zur Überprüfung eher vernachlässigt worden zu sein, wie eine weitere Anfrage ergab. Demnach wurden von den Ausländerbehörden an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gemeldete Sachverhalte über relevante Tatbestände, die die Einleitung eines solchen Widerrufsverfahrens veranlassen könnten, überhaupt gar nicht erfasst, also beispielsweise die Feststellung der Ausländerbehörden, dass ein anerkannter Flüchtling im mutmaßlichen Verfolgungsland einfach mal schnell Urlaub gemacht hat und sich bei dieser Gelegenheit einen neuen Pass des Staates hat ausstellen lassen, aus dem er noch wenige Monate zuvor angeblich fliehen musste. Solche Erkenntnisse gelten beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als nicht erfassungswürdig. Vielmehr wurden die Mitarbeiter des BAMF dazu verpflichtet, die „Wir schaffen das“-Doktrin von Frau Merkel mit positiven Asylbescheiden umzusetzen. Die skandalösen Vorgänge in der BAMF-Außenstelle in Bremen geben da ein trauriges Beispiel.
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Aber nun soll ja alles besser werden, und der Prüfungsmaßstab lautet nicht mehr Masse statt Klasse, sondern Qualität vor Quantität – so zumindest der neue Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Herr Dr. Sommer. Übrigens, ich bin schon auf den nächsten Präsidenten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge gespannt; denn derzeit haben ja die Präsidenten von Bundesbehörden eine kürzere Halbwertszeit als SPD-Vorsitzende.
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Man kann sich die vielen Namen gar nicht merken.
Leider spiegelt sich das Ansinnen von Herrn Dr. Sommer – Qualität statt Quantität – nicht in dem hier vorgelegten Gesetzentwurf wider. Die vorgeschlagenen Mitwirkungspflichten sind maximal ein erster zaghafter Schritt in die richtige Richtung, werden jedoch nicht ausreichen. So ist ein Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht weder straf- noch bußgeldbewehrt und der Verwaltungszwang nur eine Kannvorschrift.
Auch bleibt es das große Geheimnis der Bundesregierung, warum man auf die erkennungsdienstlichen Maßnahmen zur Sicherung der Identität bei Personen verzichtet, die zum Zeitpunkt der Asylantragstellung das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten und von denen daher noch keine Fingerabdrücke vorliegen. Gerade bei diesem Personenkreis wäre die Sicherung der Fingerabdrücke im Widerrufsverfahren dringend geboten und angezeigt.
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Hier verwehrt man sich selbst die Möglichkeit, nunmehr im Rücknahmeverfahren an neue Erkenntnisse mittels Fingerabdrücken zu gelangen und insbesondere mehrere oder gefälschte Identitäten aufzudecken. Zum Glück hat das wenigstens der Bundesrat erkannt und darauf hingewiesen. Und ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Normalerweise hätte jeder Streifenpolizist erkannt, dass das Blödsinn ist. Aber egal!
Auch die weichgespülten und unbestimmten Begriffe im Gesetzentwurf lassen mich an der Ernsthaftigkeit des Anliegens zweifeln. Nur ein Beispiel aus Absatz 3a:
Kommt der Ausländer den Mitwirkungspflichten nicht oder nicht vollständig nach, kann das Bundesamt nach Aktenlage entscheiden, sofern … der Ausländer die Mitwirkungspflichten ohne genügende Entschuldigung verletzt hat.
Was ist denn eine „genügende Entschuldigung“? Wenn der Betroffene Flüchtling nicht zur Anhörung kommen kann, weil er gerade Urlaub im Irak oder in Syrien macht?
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Das ist ein bisschen seltsam und sehr unklar formuliert. Wir brauchen hier klare und deutliche Formulierungen.
Ich hoffe auch, dass die Bundesregierung künftig ihre Reaktionszeit bei derartigen gesetzlichen Regelungslücken erheblich verkürzen wird. Meine Fraktion und ich stehen gern zur Verfügung, um hier hilfreich zur Hand zu gehen. Ich freue mich auf die Beratung im Ausschuss.
Herzlichen Dank.
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Der nächste Redner ist der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben ja dieser Tage immer, dass das Thema Asylrecht leider das emotionalste und auch strittigste ist. Das war nicht immer so. Es waren nicht die schlechtesten Zeiten, in denen häufig konsensual und sachlich diskutiert wurde. Vielleicht ist so ein praktischer Veränderungsvorschlag auch mal ein Anlass, mit mehr Nüchternheit, mit dem Pathos der Nüchternheit praxisorientiert zu argumentieren, anstatt eine starke Emotionalisierung hineinzubringen, wie wir es tagtäglich erleben. Mein Wunsch wäre es wenigstens.
Ich halte den vorliegenden Vorschlag für einen, der den Ansprüchen eines menschlichen, eines humanitären Pragmatismus genügt. Wir haben in der Vergangenheit, in der letzten Legislatur, in der es eine große Dynamik bei den Änderungen am Asylrecht gab, erlebt, dass einige, die die Änderungen zwar mitgetragen haben, denen aber manches vielleicht nicht liberal genug war, die Verschärfungen nicht wirklich benannt haben, und andere wiederum, die sich mehr Verschärfungen gewünscht hatten, Liberalisierungen nicht benannt haben. Ich glaube, wir tun gut daran, ganz sachlich zu benennen, was ist. In dem Fall ist es eine Erhöhung der Anforderungen an Schutzberechtigte im Rahmen einer Mitwirkungspflicht im Widerrufs- und Rücknahmeverfahren, aber eine, die aus unserer Sicht, aus der Sicht unserer Fraktion, durchaus zumutbar und richtig ist.
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Wovon reden wir? Herr Staatssekretär Mayer hat es geschildert: Es geht darum, das, was bisher auch schon im Asylantragsverfahren galt, jetzt im Widerrufs- und Rücknahmeverfahren zu etablieren, und zwar mit den zwei Sanktionsmechanismen: Verwaltungszwang und Entscheidung nach Aktenlage.
Aus Sicht unserer Fraktion gibt es ja noch ein Parlament, und es macht Sinn, im parlamentarischen Verfahren zu prüfen, ob es noch andere Möglichkeiten, vielleicht praktikablere Möglichkeiten, bessere Möglichkeiten gibt, ob gegebenenfalls eine Vermutungsregelung sinnvoll ist. Aber das wird das parlamentarische Verfahren erweisen. Wir werden das besonnen, sachlich und, wie gesagt, sehr nüchtern zu prüfen haben.
Vier Gründe motivieren den Vorgang. Ein ganz profaner Grund: Es steht im Koalitionsvertrag, und es macht Sinn, Koalitionsverträge umzusetzen. Das wird von uns erwartet.
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Zum Zweiten gibt es eine Uneinheitlichkeit. Bisher bestand schon diese Pflicht im Antragsverfahren. So macht es durchaus Sinn, dies auch im Widerrufs- und Rücknahmeverfahren zu ermöglichen und zur Pflicht zu machen.
Zum Dritten ist eine Erkenntnis, die wir aus den Sondersitzungen zum BAMF gewonnen haben, dass tatsächlich Handlungsbedarf besteht, dass in diesem Zusammenhang große Unklarheiten bestehen und dass wir damit auch die Arbeit des BAMF auf eine sinnvolle Weise erleichtern können.
Der vierte Punkt ist, dass wir es – das muss man offen so benennen – in den Jahren 2015 und 2016 aufgrund des schriftlichen Verfahrens für viele Syrerinnen und Syrer mit einer Sondersituation zu tun hatten, in der im Einzelfall Fragen der Identität und Informationsgewinnung nicht immer ganz wasserdicht – salopp formuliert – beantwortet werden konnten.
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Daher ist diese Maßnahme aus unserer Sicht eine Zumutung, die aber durchaus im Sinne der Betroffenen sein kann. Ich erinnere an den Anfang meiner Ausführungen: Es ist für diejenigen, die nichts zu befürchten und ganz korrekte Angaben gemacht haben, eine Frage der Gerechtigkeit, dass diejenigen, bei denen der Asylgrund nicht mehr besteht, oder solche, die getäuscht haben, mit Sanktionen rechnen müssen.
Darüber hinaus aber gibt es noch einen ganz anderen Grund. Wir haben alle erlebt, wie die Frage der Unklarheit von Identitäten zu einer erheblichen Erhitzung der Atmosphäre geführt hat; ein unbefriedeter Zustand, der häufig gerade auf Kosten berechtigt Geflüchteter ausgetragen wird. In diesem Zusammenhang ist es durchaus in ihrem Sinne, dass wir Ordnung und Klarheit in diesem Bereich schaffen, um dieses Feld, soweit es geht, zu befrieden, um diese Emotionalisierung und diese Unsicherheit durch mehr Ordnung herauszunehmen. Ich denke, auch dieses Argument ist valide und legitim.
Da alles in einem rechtsstaatlichen Verfahren erfolgt, muss man nicht die Unterstellung wagen, es sei ein Instrument, um jetzt möglichst viele Verfahren einfach ungeprüft zu widerrufen. Nein, das ist nicht der Fall. Es ist Ausdruck von Pragmatismus und Praktikabilität und steht auch nicht im Widerspruch zu dem, was Herr Schäuble richtigerweise gesagt hat, dass wir nämlich, wenn wir ehrlich sind, nicht behaupten können, dass alle oder der überragende Prozentsatz derer, die bei uns Schutz gefunden haben, schnell zurückkehren werden, sondern dass viele in diesem Land bleiben werden. Das ist kein Widerspruch zu einem menschlichen und pragmatischen Asylrecht, das wir in diesem Sinne verbessern wollen.
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin ist für die FDP-Fraktion die Kollegin Linda Teuteberg.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der heute von der Koalition eingebrachte Gesetzentwurf ist nicht der große Sprung nach vorn. Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Endlich, muss man dazu sagen; denn nach monatelangem Theater und schier endlosem Ringen um einen Masterplan, der bislang eher zahnlose Absichtserklärung geblieben ist, liegt uns hier im Deutschen Bundestag jetzt ein konkreter Gesetzentwurf von der Regierung vor, der uns in der Sache weiterbringt.
Der Vorschlag, den Sie hier unterbreiten, ist notwendig. Seine Umsetzung ist dringend erforderlich. Denn in den kommenden Jahren stehen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge tatsächlich Hunderttausende Widerrufsverfahren ins Haus, mit denen die seit 2015 bewilligten Aufenthaltstitel turnusmäßig überprüft werden. Aber während man solche Entscheidungen in der Vergangenheit guten Gewissens nach Aktenlage treffen konnte, ist das nach der Entwicklung der vergangenen Jahre nicht mehr möglich; denn – so muss man die Zahlen wohl lesen – in rund 60 Prozent der 500 000 Fälle, die jetzt zur Prüfung anstehen, sind die Angaben zur Identität der Antragsteller nicht hinreichend erfasst oder geprüft worden. Das gilt besonders auch für die zahlreichen Anträge, die 2015 und 2016 im schriftlichen Verfahren entschieden wurden.
Das stellt die Koalition in seltener Klarheit im vorliegenden Gesetzentwurf fest:
Angaben zu Identität, Staatsangehörigkeit sowie zum Fluchtgeschehen konnten … nicht immer hinreichend überprüft ... werden.
Deshalb müssen wir dafür sorgen – auch das sagen Sie in aller Deutlichkeit –, bei den anstehenden Überprüfungen alle zu Unrecht erteilten Schutztitel wieder aufzuheben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen bei SPD und Union, ich sage das ganz ohne Häme, ohne Zynismus: Diese Offenheit und Ehrlichkeit, auch im Umgang mit gemachten Fehlern von 2015 und 2016, würde ich mir öfter wünschen. Denn dann wären wir in der Debatte auch bei den politischen Lösungen längst viel weiter.
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Um eine gründliche Überprüfung nach Recht und Gesetz durchzuführen, ist es notwendig, dass die Identität auch noch nachträglich überprüft werden kann. Dabei ist die Mitwirkung des Schutzberechtigten ebenfalls notwendig. Sie sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Wer in Deutschland Schutz genießt, der darf sich doch nicht verweigern, wenn es darum geht, seine Identität festzustellen.
Uns Freien Demokraten geht es hier wie immer um Vertrauen in ordnungsgemäße Asylverfahren. Eine gründliche Überprüfung ist dazu sowohl im Ausgangs- als auch im Widerrufs- und Rücknahmeverfahren erforderlich; denn zugunsten ebenso wie zuungunsten eines Schutzsuchenden ist geltendes Recht konsequent und fair anzuwenden.
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Eine entsprechende Verpflichtung nun gesetzlich festzuschreiben, sollte daher eigentlich konsensfähig sein. Auch wenn es im Detail noch Verbesserungsbedarf gibt. Über die Hinweise des Bundesrates sollten wir gründlich nachdenken.
Aber unabhängig von der Frage, wie wir zu dem konkreten Gesetzentwurf in diesem Hause jetzt stehen, ist es gut, dass wir endlich wieder über Lösungen in der Sache diskutieren. Hierzu würde ich mir sehr wünschen, dass uns die Bundesregierung öfter mit konkreten Gesetzentwürfen und Initiativen Anlass dazu gibt. Denn nur mit Diskussionen in und Arbeit an der Sache kommen wir weiter und werden Menschen von der Lösungskompetenz der Politik und dem Wert unserer Demokratie überzeugen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Die nächste Rednerin ist Gökay Akbulut, Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung soll eine neue Mitwirkungspflicht von Geflüchteten im Widerrufsverfahren eingeführt werden.
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Schon wieder hat die Bundesregierung sich eine neue Schikane
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und bürokratische Hürden für Geflüchtete ausgedacht.
Bei sogenannten Widerrufsprüfungen, die im Übrigen EU-weit nur in Deutschland und in Österreich existieren, wird der Schutzstatus von bereits anerkannten Flüchtlingen anlasslos erneut überprüft. Das bindet enorme Arbeitskapazitäten im BAMF und führt in der Regel zu nichts –
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außer zur Verunsicherung der betroffenen Geflüchteten und ihrer Familien.
Ich will Ihnen das Ganze mal anhand einiger Zahlen erläutern. Bei 43 000 Entscheidungen in Widerrufsverfahren im ersten Halbjahr 2018 wurde in 99,3 Prozent der Fälle der Schutzstatus bestätigt. Ganz ähnlich ist die bisherige Bilanz bei den vorgezogenen Widerrufsprüfungen, die in Reaktion auf den Skandal um den rechtsextremen Soldaten Franco A., der sich als Flüchtling ausgab, eingeleitet wurden. In nur 1,2 Prozent der bislang überprüften 11 000 Anerkennungsbescheide gab es einen Widerruf oder eine Rücknahme. Wie viele davon anschließend einer gerichtlichen Überprüfung standhielten, ist nicht bekannt.
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Anstatt mit diesem Unsinn Schluss zu machen, will die Bundesregierung die Überprüfung sogar noch ausweiten. Das grenzt doch schon an Bösartigkeit.
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In ihrem Gesetzentwurf kündigt die Bundesregierung für dieses und das folgende Jahr jeweils 250 000 Widerrufsprüfungen an.
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Neu ist, dass Flüchtlinge künftig zur sogenannten Mitwirkung verpflichtet werden. Wer nicht mitwirkt, soll bestraft werden, bis hin zur Aberkennung des Schutzstatus.
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Bedenkt man, dass die allermeisten Verfahren den Schutzstatus erneut bestätigen, ist das doch reine Schikane für die Betroffenen.
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Zur Begründung stellt die Bundesregierung die falsche Behauptung auf, viele Geflüchtete hätten in den Jahren 2015 und 2016 zu Unrecht einen Schutzstatus bekommen. Dazu hat der Deutsche Anwaltverein in einer Pressemitteilung vom 7. August treffend erklärt, der Gesetzentwurf stütze sich auf einen – ich zitiere – „gefühlten Rechtsmissbrauch“, der in keiner Weise belegbar ist. Auf Grundlage einer gefühlten Wahrheit darf aber keine Politik gemacht werden,
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schon gar nicht, wenn damit die Rechte von Asylsuchenden weiter beschnitten werden sollen.
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Wir alle haben doch gerade beim Fall BAMF Bremen gesehen, wie sich ein angeblicher Skandal, der wochenlang hochgekocht wurde, hinterher als schamlose Kampagne zur weiteren Demontage des Asylrechts entpuppte. Statt dumpfe Ressentiments von Flüchtlingsfeinden zu bedienen, sollten endlich die echten Probleme beim BAMF angegangen werden. Das Problem beim BAMF ist nicht die Anerkennung, sondern die Ablehnung von Asylanträgen. Während der erteilte Schutzstatus Überprüfungen fast immer standhält, erweisen sich jedoch Ablehnungen 10 000-fach als unrechtmäßig. 40 Prozent der inhaltlich geprüften BAMF-Bescheide haben die Verwaltungsgerichte im letzten Jahr einkassiert; das muss man sich doch mal vorstellen. Das ist doch der wahre Skandal.
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Die anlasslosen Widerrufsprüfungen gehören unserer Meinung nach abgeschafft. Stattdessen gilt es, endlich die Qualität der Entscheidungen im BAMF zu verbessern, und das Ganze im Sinne der Schutzsuchenden und nicht gegen sie.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Filiz Polat.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den Jahren 2015 und 2016 vertrat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die zutreffende Auffassung, dass nahezu alle Geflüchteten aus Syrien und viele aus dem Irak, hier insbesondere die Jesiden, im Fall einer Rückkehr auf asylrelevante Weise gefährdet sind. Sie erhielten deshalb im schriftlichen Verfahren, also ohne persönliche Anhörung, den Flüchtlingsstatus zuerkannt. Das ist nicht auf Druck der Länder geschehen, Herr Staatssekretär, sondern deshalb, weil das BAMF, wie wir alle wissen, aufgrund der personellen Situation überfordert war. So weit, so gut.
In den letzten Monaten erhielten nun unter anderem diese anerkannten syrischen und irakischen Flüchtlinge Post vom Bundesamt, in der sie zu einem freiwilligen Gespräch eingeladen wurden. Mit dieser Aktion sollen die positiven Entscheidungen überprüft werden; Frau Akbulut ist auf die rechtliche Lage eingegangen. Das BAMF gibt allerdings selbst an, dass es nicht Zweck dieses Verfahrens ist, den Status der Betroffenen herabzustufen. Wir fragen uns daher: Wozu dann der Aufwand?
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Die Situation in Syrien ist noch immer schrecklich. Schauen Sie nur nach Idlib! Auch im Irak hat sich die Lage nicht erheblich verbessert. Abgesehen davon ist diese Praxis menschlich unerträglich und verunsichert die ohnehin vulnerablen Menschen noch mehr.
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Ich glaube, dass auch Sie, liebe Kollegen, von einer Vielzahl von Menschen angeschrieben wurden, die über dieses Schreiben irritiert waren. Obendrein ist dieses Vorgehen rechtlich fragwürdig; die Kollegin hat die verschiedenen Schreiben – auch des Deutschen Anwaltvereins – zitiert. Denn in der Sache handelt es sich um eine Statusüberprüfung.
Herr Staatssekretär Mayer, mit Ihrem Gesetzentwurf gehen Sie noch einen Schritt weiter. Wir beraten heute nicht nur über die zwölfte Gesetzesverschärfung im Asylrecht seit 2015. Dieser Gesetzesvorschlag ist – das wurde in Ihren Reden deutlich – Folge des angeblichen Skandals um das BAMF, um die Außenstelle Bremen, welcher kein Skandal ist; ich glaube, darin sind wir uns einig. Zumindest ist das so im Ausschuss und in den Presseveröffentlichungen Ihres Ministeriums eindeutig zum Ausdruck gekommen. Trotzdem führen Sie die Tradition Ihrer Flüchtlingspolitik fort. Sie machen abermals die Flüchtlinge zum Problem, um vom eigenen Versagen Ihres Hauses abzulenken.
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Im Fall BAMF Bremen hat diese Tradition aber eine neue Dimension erfahren. Sie haben nicht nur die Geflüchteten kriminalisiert, indem Sie ihnen – auch in Ihrer Begründung – wieder vorwerfen, getäuscht zu haben oder nicht mitzuwirken. Nein, jetzt kriminalisieren Sie auch die komplette Belegschaft des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, indem Sie sie unter Generalverdacht stellen. Ich muss nicht das Zitat wiederholen, Herr Mayer. Ich glaube, dass Sie sich noch heute für die Aussagen schämen. Sie haben bei „Anne Will“ gesagt, die Vorgänge in Bremen seien auch deshalb möglich gewesen – ich zitiere –, „weil hochkriminell, kollusiv und bandenmäßig mehrere Mitarbeiter mit einigen Rechtsanwälten zusammengearbeitet haben“. Ein unverfrorener Vorwurf, der weiterhin im Raum steht!
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Dabei waren es die Innenminister der Union – das hat meine Kollegin Amtsberg mehrfach betont –, die über Jahre die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im BAMF im Stich gelassen haben. Seit Juni 2016 beschäftigt sich der Innenausschuss intensiv mit dem BAMF. Obwohl der neue Präsident Sommer und vor allem der Innenminister selbst vom Versagen der Amtsvorgänger gesprochen haben und von der mangelnden Rechts- und Fachaufsicht, der fehlenden Fürsorgepflicht gegenüber den eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, sollen jetzt die Geflüchteten wieder für dieses Versagen verantwortlich gemacht werden. Das ist für uns überhaupt nicht nachvollziehbar.
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Allein bei den Widerrufs- bzw. Rücknahmeverfahren im Zusammenhang mit den Vorkommnissen in Bremen wurden von den bisher geprüften 1 287 Akten nur 26 – 26! – tatsächlich mit einem Widerruf oder einer Rücknahme – diese Differenzierung nehmen Sie noch nicht einmal vor – abgeschlossen; das sind nur 2 Prozent. Ich wette mit Ihnen: Wenn das noch beklagt wird, wird diese Zahl weiter sinken; denn die Erfahrung bzw. die Fakten zeigen, dass vor den Verwaltungsgerichten die eine oder andere Entscheidung garantiert korrigiert wird. Das BAMF wird zudem mit Hunderttausenden Widerrufsverfahren konfrontiert werden, 500 000 Widerrufsverfahren, in der Mehrzahl syrische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, deren Asylgrund – das haben Sie selber gesagt – nach wie vor Berechtigung hat! Sie verursachen erneut ein Bürokratiemonster.
Lassen Sie mich noch etwas sagen. Wir haben lange – nicht nur in den letzten Sondersitzungen – die Aufstockung des Personals beim BAMF gefordert. Sie haben das über Jahre ignoriert.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Jetzt stocken wir endlich das Personal auf. Aber nun führen Sie die Situation ad absurdum, weil sich die Asylentscheiderinnen und Asylentscheider mit den Widerrufsverfahren beschäftigen müssen.
Frau Kollegin, die Zeit ist zu Ende.
Das ist die verfehlte Flüchtlingspolitik, die Sie seit Jahren auf Kosten der Geflüchteten und im Übrigen auch auf Kosten ihrer Helferinnen und Helfer führen. Letztere sind nicht überfordert wegen der Geflüchteten, sondern wegen Ihrer Bürokratie und Ihrer Integrationspolitik.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Der nächste Redner ist der Kollege Marian Wendt für die CDU/CSU-Fraktion.
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Lieber Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle erinnern uns an die große Flüchtlingswelle des Jahres 2015. Die riesige Anzahl von Asylanträgen hat unsere Behörden auf eine harte Probe gestellt. Wir wissen – das gehört zur Ehrlichkeit –, dass nicht immer ein ordentliches Asylverfahren gewährleistet werden konnte. Die obligatorische Anhörung entfiel mitunter. Ein rein schriftliches Verfahren wurde durchgeführt. Angaben zum Fluchtgeschehen, zur Staatsangehörigkeit, aber vor allem zur Identität konnten leider nicht hinreichend überprüft werden. Wir haben gehandelt und – das lässt sich heute feststellen – die Lücken geschlossen. Ein vermeintliches Chaos besteht nicht. Der Rechtsstaat ist seit zwei Jahren wiederhergestellt; das belegen die Zahlen. Das liegt an der erfolgreichen Politik unserer Bundesregierung und meiner Fraktion.
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Es ist nicht hinnehmbar, dass die regelmäßige Überprüfung des Schutzgrundes, also ob der Grund der Flucht noch besteht, ins Leere läuft, weil die Personen nicht korrekt mitwirken und weil die Identität nicht bestätigt werden kann. Die Mitwirkungspflicht, die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eingeführt werden kann, ist total wichtig und richtig, um ein rechtsstaatliches Verfahren durchzuführen. Ordentliche und rechtsstaatlich saubere Asylverfahren haben nicht nur die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land verdient, sondern auch die Asylbewerber selber.
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Es ist doch auch gar kein Problem, wenn man einen Schutzgrund hat, zu sagen: Jawohl, ich bin derjenige, welcher, ich habe die und die Identität, und ich verlange Schutz. – Wenn das entsprechend bestätigt ist, hat das nichts mit Demokratie, sondern einfach mit Ehrlichkeit zu tun.
Wenn derjenige, der ein schriftliches Verfahren durchlaufen hat, merkt: „Oh, ich habe da nicht ganz die Wahrheit geschrieben“, dann kann das aus meiner Sicht nicht das Problem des Gastlandes sein. Derjenige, der Schutz sucht, muss sich dann an die eigene Nase fassen und die Konsequenzen tragen.
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Wenn ich bei meiner Steuererklärung lüge und falsche Angaben mache – Klammer auf: die Steuererklärung ist auch ein schriftliches Verfahren; da kommt nur alle zehn Jahre der Steuerprüfer –, dann werde ich auch zur Rechenschaft gezogen. Das gehört sich so in einem Rechtsstaat und in einem Land, wie wir es sind. Deswegen ist diese Regelung richtig.
Es hilft auch denjenigen Menschen, die wirklich Schutz brauchen. Die angesprochenen Jesiden-Gruppen, auch die Menschen aus dem Irak haben es verdient, nicht in einen Topf geworfen zu werden mit den Menschen, die unser Asylsystem missbrauchen wollen.
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Wer vorsätzlich täuscht oder sich der Mitwirkungspflicht entzieht, wird also künftig mit entsprechenden Konsequenzen rechnen müssen.
Ja, wir müssen überlegen, ob wir das Gesetz auch dahin gehend verschärfen, dass wir bei bewiesener Identitätsverschleierung den Schutzstatus aberkennen und diese Person konkret ausweisen. Für uns ist klar: Wer unseren Gastgeberstatus und unser Asylrecht missbraucht, der muss auch wieder ausreisen.
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Ein ganz wichtiger Aspekt sei noch erwähnt, weil das auch mit den Kollegen im Bundesrat gemeinsam besprochen wurde. Die erkennungsdienstliche Behandlung wird künftig durchgeführt, wenn die Identität bei Antragstellung nicht gesichert war. Hier gibt es künftig eine klare Regelung. Wir können die Daten, die bei der Identitätsfeststellung erhoben werden, künftig auch zur Gefahrenabwehr und zur Strafverfolgung nutzen. Die Identifizierung vermisster Personen, vor allen Dingen unbekannter Personen, wird dadurch einfacher. Das ist eine gute und sinnvolle Regelung, die wir hier im Verfahren noch einführen.
Letztendlich bleibt mir nur, zu wünschen, dass wir diesen mehr als notwendigen Gesetzentwurf zügig beraten und darüber bald in zweiter und dritter Lesung abstimmen.
Danke.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Lars Castellucci.
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Danke. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes haben Artikel 16 – „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ – aufgeschrieben, und das ist ein Artikel, der mich auf unser Land stolz sein lässt. Es war wahrlich keine Selbstverständlichkeit für ein Land, das in Trümmern lag, dass es sich bereit erklärt und sagt: Wir haben die Lehren aus dieser Diktatur gezogen und wollen politisch Verfolgten auf dieser Welt in unseren Grenzen Schutz gewähren. – Es ist ein guter Artikel, und hinter dem müssen wir uns alle versammeln.
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Ich glaube, die Bevölkerung ist dazu auch bereit, und zwar unter der Bedingung, dass wir es schaffen, dieses Asyl tatsächlich auf Schutzbedürftige zu konzentrieren. Das ist es, was ich immer wieder höre: Wir sind selbstverständlich bereit, denjenigen, die Schutz brauchen, in Deutschland Schutz zu gewähren.
Wir erarbeiten beispielsweise ein Einwanderungsgesetz – das haben wir uns vorgenommen –, weil wir wissen, dass viel zu viele, die eigentlich hier arbeiten wollen oder auf der Suche nach einem besseren Leben sind, was man ihnen nicht verdenken kann, in unseren Asylverfahren landen, wo sie gar nichts zu suchen haben und wo sie am Ende auch keine Chance haben. Deswegen überprüfen wir nach drei Jahren, ob denn die Schutzgründe noch vorhanden sind, aus denen heraus jemand in diesem Land Asyl beantragt und dann gewährt bekommen hat. Ich halte das für eine gute Konsequenz, weil wir dann nach drei Jahren sicherstellen können: Die Schutzgründe sind noch da. – Bei der überwiegenden Zahl der Fälle ist es so, dass die Schutzgründe leider nicht entfallen sind. Wer dann im Land ist, der ist schutzbedürftig. Das ist eine Klärung, die uns in diesem Land hilft, auch gegenüber der Bevölkerung zu vertreten, dass die richtigen Menschen den Schutz von uns gewährt bekommen.
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Es geht hier nicht um Schikane. Ich weise diesen Vorwurf zurück. „Schikane“ heißt: böswillig. „Schikane“ heißt: Man mutet den Leuten etwas zu, was man ihnen nicht zumuten kann. – Ich bitte Sie! Da bekommt jemand nach drei Jahren einen Brief, in dem steht: Guten Tag! Sie haben bei uns Asyl gewährt bekommen. Es sind drei Jahre vergangen. Regelmäßig wird überprüft, ob die Gründe für Sie noch vorliegen. Bitte erscheinen Sie dafür auf dem Amt und stehen Sie für ein Gespräch zur Verfügung. – Das ist doch eine pure Selbstverständlichkeit, und deswegen müssen wir zurückweisen, wenn hier von Schikane oder Generalverdacht gesprochen wird.
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Es hat auch etwas mit Qualitätssicherung zu tun; das ist angesprochen worden. Ja, Frau Teuteberg, da haben Sie, weil Sie hier nicht saßen, vier Jahre nicht zugehört. Wir haben immer gewusst, dass es schwierig ist. Wir haben immer gesagt: Natürlich ist es nicht optimal, wie unsere Verfahren laufen.
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Wir haben den Innenminister getriezt, und er hat sich auch selber getriezt, um das alles besser hinzubekommen. Weil wir nicht von jedem die Fingerabdrücke haben – das hat Bremen wieder erwiesen –, nicht bei jedem sicher sein können, wer das eigentlich ist, ist es gut, dass wir sagen: Das wird jetzt im Rahmen des regulären Prüfungsverfahrens beim Widerruf konsequent erhoben. Damit können wir vor die Menschen treten und endlich sagen: Wir wissen, wer in diesem Land ist, und wir wissen, wer schutzbedürftig ist. – Das ist etwas, was die Menschen zu Recht von uns erwarten.
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Ein letzter Aspekt. Es gibt immer wieder Stimmen, die sagen: Aber wenn die Leute vielleicht nur drei Jahre hier sind, warum integrieren wir sie dann eigentlich? Ich möchte die Gelegenheit nutzen, auch hier für die SPD-Fraktion klarzumachen: Diese drei Jahre haben in der Regel zur Folge, dass die Menschen noch länger hier sind, weil die Schutzgründe weiterbestehen. Deswegen heißt für uns die Maxime: Bevor die Menschen hier nichts zu tun haben und perspektivlos sind, sagen wir: Arbeit, Sprache und Bildung von Anfang an! Das ist das Richtige, was wir tun müssen. So können die Menschen, die herkommen, auch einen Beitrag zum Wohlstand und Zusammenleben in unserem Land leisten. Das ist auf jeden Fall der richtige Weg.
({5})
Wir haben uns vorgenommen, zu steuern und zu ordnen
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und die Asylverfahren kontinuierlich zu verbessern. Das Gesetz, das hier im Entwurf vorliegt, wird einen weiteren Beitrag dazu leisten. Wir gehen in die Beratungen und sind sehr froh, dass diese Gesetzeslücke dann geschlossen wird.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Marc Henrichmann von der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher! Seit circa drei Jahren diskutieren wir relativ leidenschaftlich und kontrovers über Migration und Flüchtlingspolitik, und die Union arbeitet seit Jahren an glasklaren, aber auch grundrechtskonformen Regeln im Asylrecht. Wir ordnen und strukturieren das Verfahren neu.
Bei der kontroversen Debatte haben wir, glaube ich, gelegentlich aus dem Blick verloren, dass es einen großen gesellschaftlichen Konsens im Bereich Flucht/Migration gibt, nämlich Humanität und Hilfe auf der einen Seite und ganz konsequente Durchsetzung des Rechtsstaats auf der anderen Seite. Dieser Gleichklang bestimmt die Politik der Union. Das zeigt der Masterplan Migration des Innenministers, und das zeigt auch der vorliegende Gesetzentwurf.
Das C in unserem Namen ist mir Verpflichtung. Ich sage aus ganz tiefer Überzeugung: Wer Hilfe braucht, der bekommt sie auch in Deutschland. Ich sage aber mit der gleichen Überzeugung, dass Menschen, die zu uns kommen und Hilfe in Anspruch nehmen, sich wie jeder andere an Werte, Regeln und Normen unserer Gesellschaft halten müssen.
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Dazu gehört für mich ganz klar auch die umfangreiche Mitwirkung im Asylverfahren. Menschlichkeit und konsequente Durchsetzung des Rechtsstaats sind zwei Seiten derselben Medaille. Dabei ist mir wichtig, dass Herkunft und Kultur dabei keine Rolle spielen können. Der Rechtsstaat gilt für jeden; Abstriche und falsche Toleranz schaden nur.
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Aber nun zum Gesetzentwurf. Wir wollen natürlich auch ein Stück weit das verlorene Vertrauen in die Effizienz und die Rechtmäßigkeit mancher Asylverfahren zurückgewinnen. Ich glaube, dass wir auf Dauer nur so die Akzeptanz unserer Gesellschaft für das Asylrecht als Ganzes bewahren. Die ganze Gesellschaft – Antragsteller, aber auch Bürger, Polizei, Sicherheitsbehörden – muss sich auf Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten und damit auch Asylbescheiden verlassen können. Die umfangreiche Mitwirkungspflicht der Asylbewerber auch im Widerrufs- und Rücknahmeverfahren ist meines Erachtens das Mindeste, wenn es darum geht, dem BAMF schnelle und vor allem richtige Entscheidungen, notfalls auch spätere Korrekturen an der getroffenen Entscheidung, zu ermöglichen.
Wir sollten meines Erachtens im weiteren parlamentarischen Verfahren sogar über zusätzliche Änderungen sprechen, etwa dass eine unterlassene Mitwirkung, wenn die Aktenlage nicht klar dagegenspricht, immer auch zwingend zum Widerruf und zur Rücknahme eines Asylbescheids führen muss. Rechte und Freiheiten sind immer auch mit Pflichten verbunden. Der unverhandelbare Maßstab ist der Respekt vor dem Grundgesetz.
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Was Integration bedeutet, darüber streiten wir auch in unserer Fraktion sehr leidenschaftlich. Für mich heißt es auf der einen Seite Respekt und Weltoffenheit, auf der anderen Seite aber auch ein ganz klares Bekennen zu Werten, Normen und Regeln. Zu diesen Normen gehört selbstverständlich auch, dass derjenige, der einen Schutzanspruch gegenüber unserem Staat geltend macht, in jeder Verfahrenslage und auf Aufforderung der Behörden vollständig und wahrheitsgemäß mitzuwirken hat. Wer das nicht tut oder dabei täuscht, der verweigert Integration und kann für mich genauso wie Gefährder oder Straftäter kein Teil dieser Gesellschaft sein.
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Das sehe nicht nur ich alleine so. Mir wird auch von vielen Ehrenamtlichen aus dem Wahlkreis mit auf den Weg gegeben, zu separieren zwischen denen, die guten Willens sind, und denen, die sich nicht integrieren wollen. Unser Anspruch als Union ist deswegen: Es darf keinen Zweifel an den Asylentscheidungen geben. Auch umfassende Prüfungen müssen jederzeit möglich sein. Die getroffenen Entscheidungen müssen dann konsequent durchgesetzt werden; das gilt in letzter Konsequenz auch für Abschiebungen. Dafür braucht es einen handlungsfähigen Rechtsstaat, ein schlagkräftiges BAMF und gute Gesetze. Das BAMF ist wieder gut aufgestellt. Der Pakt für den Rechtsstaat ist auf dem Weg, und mit diesem Gesetz, das hier als Entwurf vorliegt, erhöhen wir Qualität und Effizienz der Asylverfahren weiter.
Wir stehen für den realistischen Blick auf die Dinge. Humanität und Ordnung sind für uns kein Gegensatz, sondern ein Gleichklang – ohne linkes Wunschdenken, ohne blauen Schaum vorm Mund. Wir erhöhen so Stück für Stück Akzeptanz und Ordnung. Ich freue mich auf die weitere Debatte im Ausschuss.
Vielen Dank.
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Damit sind wir am Ende der Debatte. Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 19/4456 und 19/4548 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es abweichende Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir so. Die Überweisung ist beschlossen.
Meine Damen und Herren! Liebe Gäste! Die Fraktion Die Linke hat gemeinsam mit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einen Antrag aufgesetzt, der zu keinem besseren Zeitpunkt als heute, während des Besuchs des türkischen Präsidenten Erdogan in Deutschland, debattiert werden könnte;
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denn während diesem Despoten von der Bundesregierung der rote Teppich ausgerollt wird – die halbe Stadt ist deswegen lahmgelegt und abgesperrt –, wird es in den Gesprächen mit der Kanzlerin unter anderem auch um Rüstungsexporte und deutsche Technologie für türkische Panzer gehen, wie Berater Erdogans bereits wissen ließen.
Präsident Erdogan unterdrückt nicht nur die Opposition im eigenen Land, sondern führt auch blutige Kriege in Syrien und im Irak, auch mit deutschem Kriegsgerät. Im Frühjahr überfiel die Türkei völkerrechtswidrig den Norden Syriens und die Region Afrin; Hunderttausende Kurden, Jesiden, Aleviten und viele andere wurden vertrieben. Die Bundesregierung hat dies bis heute nicht als völkerrechtswidrig verurteilt, trotz Dauerbesetzung von Afrin. Das alleine ist schon eine skandalöse Außenpolitik.
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Aber es kommt noch dicker: Dabei wurden auch Leopard-Panzer aus deutscher Produktion eingesetzt. Aktuell gibt es Meldungen im Nachrichtenmagazin „Stern“ von gestern, dass diese Panzer trotz des völkerrechtswidrigen Krieges anscheinend bereits aufgerüstet, also noch besser kriegstauglich gemacht werden, obwohl die Bundesregierung dies bisher doch immer dementiert hat. Das ist wirklich unfassbar.
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Die Aufrüstung führt die türkische Panzerbaufirma BMC durch, mit der der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall in einem Joint Venture verbunden ist. Bisher gab es offiziell für diese Panzernachrüstung keine Genehmigung der Bundesregierung, aber Rheinmetall könnte hier ein Schlupfloch in der Außenwirtschaftsverordnung nutzen. Das betrifft in gleicher Weise den von Rheinmetall geplanten Bau einer ganzen Panzerfabrik in der Türkei und auch in anderen Ländern. Diese Gesetzeslücke ermöglicht es, Experten zur technischen Unterstützung eines Rüstungsunternehmens ohne Genehmigung der Bundesregierung ins Ausland zu entsenden, sofern es sich nicht um chemische, biologische oder Atomwaffen handelt. Damit wäre die Bundesregierung rein rechtlich aus der Verantwortung. Aber politisch ist die Bundesregierung natürlich verantwortlich, weil sie bis heute nichts gegen diese Gesetzeslücke unternommen hat und damit ermöglicht, dass Panzerfabriken mit deutscher Unterstützung in anderen Ländern wie Pilze aus dem Boden schießen. Dies muss endlich ein Ende haben. Genau deshalb bringen wir gemeinsam mit den Grünen diesen Antrag ein.
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Es kann doch nicht sein, dass Rheinmetall-Chef Papperger im „Tagesspiegel“ sagen kann – ich zitiere –:
Aber wenn wir mit Partnern in der Türkei einen türkischen Panzer entwickeln und bauen, dann ist die Bundesregierung daran nicht beteiligt.
Zitat Ende. – Die Bundesregierung muss das Primat der Politik zurückholen und ihren Kniefall vor der deutschen Rüstungsindustrie beenden.
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Es wäre laut Wissenschaftlichem Dienst des Bundestages relativ unkompliziert, den Genehmigungsvorbehalt in der Außenwirtschaftsverordnung zu erweitern – das haben wir gemeinsam mit den Grünen vorgeschlagen –, sodass er auch Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgüter umfasst. Das wäre auch mit unserer Verfassung vereinbar; das hat die Anhörung im Wirtschaftsausschuss zu Rüstungsexporten gestern ergeben.
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Damit besteht natürlich noch keine Garantie, die Entsendung von Rüstungsfachleuten aktiv zu verhindern, wenn man sich die laxe Genehmigungspraxis der Bundesregierung für Rüstungsgüter anschaut. Aber zumindest muss der Bundestag hierüber informiert werden, und damit kann auch der öffentliche Druck erhöht werden. Für die Fraktion Die Linke gilt allerdings nach wie vor: Nur ein Verbot ist ein wirksamer Schritt, um Rüstungsexporte und einen Export von Fachpersonal zur Rüstungsproduktion im Ausland zu verhindern.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Abgeordnete Klaus-Peter Willsch für die CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Frau Hänsel, es ist ja lobenswert, dass Sie überhaupt zur Kenntnis genommen haben, dass gestern eine Anhörung zu diesem Themenkomplex stattgefunden hat. Sie hätten aber einmal zuhören müssen. Was Sie hier vorgetragen haben, hat nichts mit dem, was wir dort lernen konnten, zu tun.
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Eine Anhörung zu beantragen und sie dann durchzuführen, ist das eine. Aber wenn keine minimale Bereitschaft vorhanden ist, zuzuhören und sich etwas von den Experten, die eingeladen worden sind, sagen zu lassen, dann können wir uns den Aufwand auch sparen.
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Wir hatten glücklicherweise diese öffentliche Anhörung. Ich möchte allen, die an dem Thema interessiert sind, empfehlen, sie sich einmal in der Mediathek des Bundestages anzuschauen; denn sie war wirklich erkenntnisstiftend und sehr informativ. Wir haben dort gute Informationen bekommen und vor allen Dingen feststellen können: Es gibt keine Regelungslücke in Deutschland. Wenn wir alles zusammenfassen, was wir in diesen zwei Stunden gehört haben, können wir sagen: Viele der Märchenstunden, die Sie hier veranstalten, sind überflüssig. Es ist uns in dieser Expertenanhörung bestätigt worden, dass eine Regelungslücke nicht besteht und dass wir eine sehr restriktive Rüstungsexportpolitik in Deutschland betreiben.
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Wenn Sie einigermaßen lernbereit wären, liebe Kollegen von den Grünen und auch Sie von den Linken, hätten Sie den Antrag heute eigentlich zurückziehen müssen; denn gestern ist nachgewiesen worden, dass es dafür überhaupt keinen Bedarf in unserem Land gibt.
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Wissen Sie, Frau Hänsel, wenn man sich hier an den Türken abarbeitet, kann man viele Gründe dafür haben. Ihre Co-Antragsteller sind immer noch leidenschaftliche Befürworter der Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU; das haben wir als Union ja nie gemacht. Dann müssen Sie eben mal das Thema wechseln. Versuchen Sie doch nicht jedes Thema, das Sie stört, an den Punkten Rüstungsexporte und Rüstungsexportkontrollpolitik aufzuhängen. Das ist wirklich ermüdend.
Ich will einfach einmal aufzählen, welche Ammenmärchen, die uns zum Thema Rüstungsexportpolitik in den vergangenen Jahren von der Linken erzählt worden sind, gestern entlarvt und entkräftet wurden:
Die Rüstungsexportpolitik in Deutschland ist äußerst restriktiv; das hat selbst die IG Metall bestätigt, deren Vertreter ja nun nicht im Rufe stehen, von uns bestellte Experten zu sein, sondern politisch häufig eher anders zu verorten sind.
Auch wenn die Einschätzungen über die Genehmigungspraxis der Bundesregierung unterschiedlich sind, so bleibt doch festzuhalten, dass die Rüstungsexportkontrolle in Deutschland im internationalen Vergleich restriktiv gestaltet ist.
So der O-Ton des Vertreters der IG Metall.
Der renommierte Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, Professor Dr. Joachim Krause, räumte mit dem Märchen auf, dass Deutschland zum drittgrößten Waffenexporteur der Welt geworden sei. Ich zitiere wiederum:
Der Hinweis auf das finanzielle Volumen deutscher Rüstungsexporte ist ohne die entsprechende Kontextualisierung weitgehend sinnlos. Die Behauptung, wonach Deutschland drittgrößter Waffenexporteur der Welt sei, lässt sich nach einer kritischen Sichtung der verfügbaren und belastbaren Zahlen ohnehin nicht aufrechterhalten.
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Die Bundesregierung liefert einfach Zahlen, während andere das eben nicht machen. Wenn Sie sich die Kriegsschauplätze dieser Welt anschauen – auch das ist gestern in der Anhörung von den Experten ausdrücklich so dargestellt worden –, dann sehen Sie, dass diese Konflikte überwiegend mit chinesischen, russischen, ukrainischen oder iranischen Waffen ausgetragen werden. Deutsche Waffen spielen in diesen Konflikten überhaupt keine Rolle. Diese Scheinriesenposition – auch das ist gestern deutlich geworden – entsteht schnell mal, wenn ein oder zwei Schiffe in einem Jahr weggehen, die mit großem Volumen zu Buche schlagen. Dadurch wird die statistische Wahrnehmung verzerrt.
Wenn Sie ein bisschen zugehört haben, wissen Sie, dass Dr. Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik gesagt hat, dass unsere inkonsistente, weil zu restriktive Exportpraxis den eigenen politischen Zielen und Interessen Deutschlands schadet. Ein wiederum wörtliches Zitat:
Deutsche Rüstungsexporte sind essentiell, um die heimische Rüstungsindustrie zu erhalten. Diese wiederum ist wesentliche Grundlage der eigenen militärischen Handlungsfähigkeit.
Nun ein ganz wichtiger Punkt, der von mehreren hervorgehoben wurde: Das gewünschte Zusammenwachsen der EU im Verteidigungsbereich ist ohne die Möglichkeit, dass sich deutsche Unternehmen an Rüstungskooperationen und gemeinsamen Exporten beteiligen, praktisch nicht mehr möglich. Deutschland hat keine politische Gestaltungsmöglichkeit mehr in diesem Prozess, weil es seine Industrie schrittweise verliert.
Das alles riskieren wir. Man kann das ja wollen. Man kann auch sagen: Wir brauchen keine Soldaten und keine Armeen. – Wir von der Union sind leidenschaftlich dafür, dass wir eine eigene Armee unterhalten, weil wir wissen: Wer keine eigene Armee hat, hat eine fremde im Land. Dass man im Bündnis auch bündnisfähig sein muss und dort auch etwas einbringen können muss, ist für uns eine Selbstverständlichkeit.
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In Frankreich – ich zitiere erneut – ist ein enormer Vertrauensverlust in die Ernsthaftigkeit der deutschen Absichten zu beobachten. Die derzeitige Debatte um Exporte in Deutschland lassen in Paris Zweifel aufkommen, ob Berlin der richtige Partner ist. – Ich erinnere an das Beispiel, das uns genannt wurde: Hubschrauberei geht nicht rein militärisch; das ist immer ein Dual-use-Projekt. Der Airbuskonzern musste ein Redesign machen, weil ein deutscher Schleifring, der in den Hubschrauber eingebaut war, keine Exportgenehmigung bekommen hat. Die Leute arbeiten nicht mehr mit einem zusammen, wenn man sich so anstellt und ein so schwieriger Geschäftspartner ist. Sie sagen dann lieber gleich: „German free“ und „Wir machen das allein“. Das Ergebnis wäre, dass wir selbst irgendwo in der Welt unsere Waffen einkaufen müssen, weil wir mit unserer geringen Nachfrage durch die Bundeswehr unmöglich Spitzentechnologie in nötigen Losgrößen abnehmen können. Die Losgrößen gibt es eben nur, wenn der Export prinzipiell offen ist in dem Rahmen, den wir gesetzt haben, nämlich in einem sehr restriktiven.
Auf die ausdrückliche Frage, ob es eine Regelungslücke gibt, ob Bedarf besteht für ein zusätzliches Kriegswaffenexportgesetz, ist von mehreren Experten bestätigt worden: Es gibt keine Regelungslücke. Der Spielraum zwischen exekutivischem Kernbereich und der Möglichkeit des Parlaments, zu gestalten – –
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. Es ist ja auch schlimm, dass ich die Erkenntnisse aus den zwei Stunden wiederholen muss, weil die Kollegen nicht zugehört haben.
Wie gesagt: Schauen Sie sich die Anhörung noch einmal an! Ich kann Ihnen nur sagen: Ziehen Sie Ihren gemeinsamen Antrag zurück! Sie müssen sich sowieso mal Gedanken darüber machen, in welche Gesellschaft Sie sich da begeben und ob das richtig ist.
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Wir als Union stehen sowohl zu unserer Armee als auch zu unserer eigenen Rüstungsindustrie. Wir glauben, dass wir sie weiterhin brauchen und sie nicht mit überzogenen Forderungen oktroyieren dürfen.
Danke schön.
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Kollegin Hänsel erhält Gelegenheit für eine Kurzintervention.
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Herr Willsch, Sie haben jetzt viel erzählt,
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aber eigentlich nichts Substanzielles zu dem Problem, um das es eigentlich geht. Natürlich gibt es eine Gesetzeslücke. Sie zitieren ja Ihre Experten; es waren aber mehrere Experten dort. Es ist ein grundsätzliches Problem bei Anhörungen, dass jede Fraktion Experten und Expertinnen einlädt, und dann gibt es natürlich auch unterschiedliche Meinungen. Sie müssen hier aber schon das gesamte Spektrum nennen und dürfen sich nicht nur auf Ihre Experten berufen.
Ich frage mich, ob es für Sie als verantwortlicher Parlamentarier eigentlich ein akzeptabler Zustand ist, dass deutsche Rüstungskonzerne – ohne dass wir überhaupt irgendwie damit befasst sind, geschweige denn die Bundesregierung – in der Türkei und in Algerien Panzerfabriken bauen und Tochterkonzerne, zum Beispiel von Rheinmetall, Bomben in Sizilien und Südafrika bauen, die sie nach Saudi-Arabien schicken. Das läuft alles an der Bundesregierung und am Parlament vorbei. Halten Sie es für einen akzeptablen Zustand, wenn diese Bomben zum Beispiel im Krieg im Jemen verwendet werden? Halten Sie es für einen akzeptablen Zustand, dass wir hier Meldungen bekommen, dass deutsche Panzer in der Türkei aufgerüstet und in einem blutigen Krieg eingesetzt werden, und Sie davon nichts wissen? Entspricht das Ihrem Verständnis eines Parlamentariers, eines Abgeordneten?
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Darauf hätte ich gerne eine Antwort.
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Kollege Willsch.
Frau Hänsel, Sie werden uns schon nachsehen, dass wir Experten benennen, die auch etwas von der Sache verstehen, und nicht reine Ideologen, wie Sie das getan haben. Ich fand es schon bemerkenswert, dass außer einem „Waffen sind pfui, bäh“ nichts Substanzielles von Ihrer Expertin in der Anhörung kam. Auf Nachfragen musste sie selbst einräumen, dass sie eben nicht weiß, welche Konflikte beispielsweise in Afrika von deutschen Waffen angeheizt werden, wie immer wieder gern behauptet wird.
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Ich denke, Sie sollten sich neben dem Zuhören-Lernen in Anhörungen auch ein bisschen in die Texte vertiefen. Dann werden Sie feststellen, dass heute schon der Technologietransfer in Teilen genehmigungsbedürftig ist und nicht automatisch genehmigt wird.
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Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Technologietransfer so läuft, dass einer in der Badehose dahin fliegt und das, was er im Kopf hat, benutzt. Wenn es nur irgendeine eine Anmutung von offizieller Zusammenarbeit hat, ist es genehmigungsbedürftig und strafbewehrt, wenn dagegen verstoßen wird.
Zu der Frage, ob wir es uns weiterhin gefallen lassen, dass die Regierung handelt, sage ich Ihnen: Ja, das lassen wir uns gefallen; denn das ist die Kompetenzzuweisung unseres Grundgesetzes. Sie weist der Regierung ausdrücklich einen exekutivischen Kernbereich zu, und wir haben weitreichende Parlamentskontrollen. Wir diskutieren nach jeder einzelnen Entscheidung des Bundessicherheitsrats, über die uns berichtet wird, in einer Aktuellen Stunde. Uns liegen der Halbjahresbericht und der Jahresbericht für das Folgejahr vor, den es jetzt schon vor der Sommerpause gibt. Es wird über jede einzelne Patronenhülse dreimal in diesem Parlament diskutiert. Da ist genügend Gelegenheit, all den Quatsch, den Sie hier ständig äußern wollen, zu äußern.
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Dann fahren wir fort in der Debatte. Als Nächster redet der Abgeordnete Steffen Kotré für die AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Linke und Grüne wollen Rüstungsexporte weiter einschränken. Mit einem Genehmigungsvorbehalt sollen Joint Ventures, wie das von Rheinmetall und einem türkischen Unternehmen, verhindert werden. Auch wir wollen, dass Rüstungsexporte nur in sichere Staaten erfolgen dürfen. Auch wir wollen nicht, dass mit deutschen Waffen unschuldige Menschen getötet oder Krisen oder Kriege angefacht werden. Also: natürlich keine Waffen in Krisen- oder Kriegsgebiete. Wir wollen aber auch nicht in Hysterie verfallen. So gibt es zum Beispiel keine Verbindung, wie immer behauptet wird, von deutschen Rüstungsexporten und Flüchtlingsströmen.
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Die Bundesrepublik Deutschland muss sich verteidigen können. Das ist ein grundgesetzliches Recht. Zur Verteidigung gehört auch die Produktion eigener Rüstungsgüter. Die eigene Rüstungsproduktion ist ein elementarer Bestandteil der Verteidigung. Die eigene Rüstungsindustrie sichert eine für den Steuerzahler kostengünstige und effektive Verteidigung und Wehrsouveränität.
Rüstungsimporte dagegen würden die Verteidigungsfähigkeit herabsetzen, weil man selber nicht mehr über Wartung, Pflege oder Ersatzteillieferungen bestimmen könnte. Rüstungsgüter „made in Germany“ nutzen der Bundeswehr und ihren verbündeten Armeen. Doch die Rüstungsindustrie kann von der Bundeswehr allein nicht leben. Wenn wir unsere wehrtechnischen Schlüsseltechnologien behalten wollen, dann sind wir gezwungen, zu exportieren. Rüstungsexport ist für sich genommen erst einmal weder gut noch schlecht; erst der Einsatz dieser Güter bedingt eine Bewertung.
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So können Waffen terrorisieren; sie können aber auch zur Beendigung von Konflikten beitragen, wie zum Beispiel in Syrien im Kampf gegen den IS.
Deutschland hat sehr restriktive Rüstungsexportgesetze. Wir haben einen Stand erreicht, bei dem deutsche Waffen in den Krisenherden dieser Welt seltener vertreten sind als Waffen anderer Staaten. Jede weitere Restriktion würde dazu führen, dass unsere Rüstungsindustrie abwandert oder – wie heute schon erwähnt – die Zusammenarbeit in internationalen Projekten nicht mehr möglich ist. Bei weiteren Restriktionen würden sich europäische Partner andere Partner suchen. Dann würde Deutschland Gefahr laufen, in Isolierung zu geraten.
Was ich an dieser Stelle vermisse, ist eine deutsche und europäische Strategie zum Schutz deutscher und europäischer Rüstungsindustrie und der damit zusammenhängenden Schlüsseltechnologien. Wie wir in der Anhörung hören konnten, ist es geboten, eine solche Strategie schnell auf die Schiene zu bringen; denn ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in die Abhängigkeit anderer Staaten gelangen wollen, die dann über unsere Verteidigung bestimmen. Das wollen wir nicht.
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Leider schließt sich der Tatenlosigkeit auf diesem Gebiet die Tatenlosigkeit auf anderem Gebiet an. Die Bundesregierung versäumt es ja auch, die nationalen Interessen ausreichend zu formulieren und wahrzunehmen, wenn es darum geht, den Kauf deutscher Unternehmen in der Schlüsseltechnologie durch ausländische Unternehmen zu verbieten. Ich erinnere an die Drucksache 19/645. Dort gibt es von der Bundesregierung leider nur einen lapidaren Hinweis auf das Außenwirtschaftsrecht, welches hier ein Verbot vorsieht. Das hilft aber nicht, wenn es nicht zur Anwendung gelangt. Andere Staaten schützen ihre Schlüsseltechnologien. Warum sollten wir das nicht tun? Wir haben ein Recht dazu; das ist legitim.
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Nun wollen auch wir nicht, dass die Türkei deutsche Waffen erhält. Sie ist völkerrechtswidrig in Syrien einmarschiert, und Erdogan erweckt leider nicht den Eindruck, als wolle er seine Außenpolitik wirklich nur politisch und nicht auch militärisch umsetzen. Deshalb sagen auch wir, dass der Bau dieser Panzerfabrik in der Türkei gestoppt werden sollte. Es gibt darüber hinaus natürlich die Gefahr des Know-how-Abflusses. Ich weiß an dieser Stelle nicht, ob die Bundesregierung dazu eine Handhabe hat; aber sie sollte sich auf jeden Fall dafür einsetzen, dass das gestoppt wird.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner für die SPD.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt schon einige Reden zu diesem Tagesordnungspunkt gehört. Ich war ein bisschen überrascht, dass wir von der Kollegin Hänsel, die diesen Antrag mit eingebracht hat, überwiegend etwas zur Frage der Türkei und zu Rüstungsexporten gehört haben und dass der Kollege Willsch etwas zur Anhörung gesagt hat; denn wir haben heute auf der Tagesordnung einen eigenen Antrag von Linken und Grünen zur Genehmigungspflicht für die technische Unterstützung von Rüstungsproduktion im Ausland, im Volksmund Joint Venture genannt.
Dazu möchte ich eigentlich gerne sprechen; denn ich denke, dass der Ansatz der Linken und Grünen mit diesem Antrag – gerade im Hinblick auf unseren Koalitionsvertrag, der eine Schärfung des Rüstungsexports vorsieht – sicherlich Nachdenkenswertes für unser Bundeswirtschaftsministerium und die Bundesregierung beitragen kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben dabei drei Komponenten zu berücksichtigen. Wir haben einmal die industriepolitische Komponente zu berücksichtigen, die jeder von uns, der einen Rüstungsbetrieb oder einen sicherheitspolitischen Betrieb bzw. einen Betrieb der Luftfahrt in seiner Region hat, mit den Betriebsräten und den Unternehmern zur Frage der Arbeitsplätze und deren entsprechender Weiterentwicklung und Konversion in andere Arbeitsplätze diskutieren darf.
Wir sind uns in der Bundesrepublik Deutschland alle darüber im Klaren, dass der Erhalt von hochqualifizierten Arbeitsplätzen – deshalb ist das Thema vermutlich derzeit auch noch beim Bundeswirtschaftsministerium angesiedelt – eine große Aufgabe ist, der wir uns stellen und die wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen dürfen.
Es gibt aber, meine Kolleginnen und Kollegen, eine zweite Komponente, die wir zu berücksichtigen haben. Das ist die wissenschafts- und technologieorientierte Komponente. Nur mit guten Unternehmen, mit guter Forschung, mit guter Entwicklung und mit hervorragender Leistung unserer Ingenieure und unserer Akademiker kann der Technologievorteil der Schlüsseltechnologie, auch der Sicherheitstechnologie in der Bundesrepublik Deutschland gehalten werden.
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Es gibt eine dritte Komponente, nämlich unsere eigene sicherheitspolitische Komponente. Wer möchte in diesem Hause wohl in Fragen der Sicherheit, bei der Ausrüstung seiner eigenen Armee, seiner eigenen Luftwaffe oder seinem eigenen Heer allein auf Material, EDV und Sicherheitskomponenten aus anderen Ländern angewiesen sein? Gerne will man auch hierbei Herr im eigenen Haus sein.
Es ist angesichts der industriepolitischen, wissenschafts- und technologiepolitischen und sicherheitspolitischen Komponente nicht so einfach, zu sagen: Wir kommen zu einer einfachen und klaren Lösung; wir verbieten das alles. – Damit wäre alles weg. Dann wären die Arbeitsplätze weg, auch die universitären Arbeitsplätze. Dann wäre die Wirtschaftskraft weg; dann wäre die Sicherheitspolitik weg.
Deshalb, glaube ich, ist es ganz richtig, dass wir unsere Rüstungsexportkontrolle, wie es im Koalitionsvertrag vereinbart ist, zu schärfen haben und weitere Verschärfungen vornehmen müssen, insbesondere um den Bereich des Joint Ventures in den Griff zu bekommen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es kann nicht sein, dass es Schlupflöcher gibt und deutsche Unternehmen Wissenstransfer in andere Länder vornehmen und in diesen anderen Ländern das Wissen nutzen, das wir mit guten Steuergeldern und vor allen Dingen mit unseren guten Menschen geschaffen haben.
Man kann sicherlich der Auffassung sein, dass Entscheidungen des Bundessicherheitsrates ausreichen würden. Joint Ventures sind zum Teil genehmigungspflichtig. Ich glaube aber, dass es gerade in unserem ureigenen Interesse liegt, deutsche Sicherheitspolitik zu gestalten, Sicherheitstechnologie in unserem Lande zu behalten und Industriepolitik in unserem Land zu betreiben, und dass es Regelungen bedarf, die über allgemeine Grundsätze hinausgehen. Ob es ein Gesetz, eine Verordnung oder irgendetwas anderes sein muss, lasse ich einmal offen. Man muss darüber nicht nur nachdenken, sondern man muss es auch machen. Denn im Zuge dieser Diskussion können wir, glaube ich, zu guten Ergebnissen kommen, unsere Arbeitsplätze zu stärken, unseren Technologiestandort zu stärken und gleichzeitig Sicherheitspolitik in diesem Lande mit einer Wertigkeit zu belassen.
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Ich weiß, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, dass in all diesen Fragen manchmal länger, manchmal kürzer diskutiert wird und der Fortschritt in der Regel als Schnecke gilt. Dies wird auch in diesem Fall so sein. Dennoch sind wir in Deutschland eigentlich doch regelrechte Sprinter gewesen im Vergleich zu unseren europäischen Partnern in der Art und Weise, wie wir Rüstungsexportkontrolle durchgeführt haben, wie wir Transparenz erreicht haben, wie wir – das sage ich mit Stolz – mit sozialdemokratischer Beharrlichkeit und Kontinuität – Außenminister Sigmar Gabriel, Außenminister Heiko Maas, nunmehr auch mit den Erklärungen unseres Vizekanzlers und Finanzministers Olaf Scholz – europäische, deutsche Sicherheits- und Rüstungsexportpolitik machen.
In diesem Sinne glaube ich, dass der Auftrag gut ist, mit diesem Antrag in die Diskussion einzutreten, vernünftige Ergebnisse zu erreichen, um, wie ich sagte, die drei Ziele zu erreichen: Industriepolitik, Wissenschafts- und Technologiepolitik und unsere sicherheitspolitische Komponente.
Vielen herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die Fraktion der FDP ist die Kollegin Sandra Weeser.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Antrag der Linken- und der Grünenfraktion zielt darauf ab, § 49 der Außenwirtschaftsverordnung zu erweitern und einen weiteren nationalen Genehmigungsvorbehalt einzuführen. Es lohnt sich natürlich immer, darüber zu diskutieren. Aber um ehrlich zu sein: Ich habe große Zweifel, ob die Forderung des Antrags hier die richtige Herangehensweise ist. Denn wir müssen uns ja die Frage stellen, ob es immer noch zeitgemäß ist, Rüstungsexporte und technische Unterstützung von Rüstungsproduktion rein national zu betrachten und zu bewerten.
Globalisierung und weltweite Lieferketten sind mittlerweile überall Standard, und ich glaube, es ist kein Geheimnis, dass auch die Verteidigungsindustrie in Zukunft daran nicht vorbeikommen wird. Dafür ist aber unser nach wie vor sehr national ausgerichtetes Rüstungsexportrecht nicht gemacht. Hier besteht tatsächlich Änderungsbedarf. Meiner Meinung nach ist es aber eine totale Illusion, zu glauben, dass rein national aufgestellte Unternehmen hier noch wettbewerbsfähig sein können.
Ich bleibe dabei: Eine deutsche Verteidigungsindustrie wird es in Zukunft entweder in einem europäischen Rahmen geben, oder es wird sie überhaupt nicht mehr geben. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Auf diese fundamentale Herausforderung gibt der vorliegende Antrag keine Antwort. Laut dem Antrag soll lediglich ein konkreter Fall durch ein allgemeines Gesetz geregelt werden. Das ist ein Ansatz, dem Freie Demokraten grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen.
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Gesetze sind keine Einzelfallregelungen, und die heute relevanten Fragen der Rüstungsexportpolitik lassen sich weder rein national noch rein juristisch lösen. Wir müssen auf europäischer Ebene für eine gemeinsame politische Linie werben. Herr Willsch hat eben, wenn auch ein bisschen polemisch,
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ja schon erzählt, was gestern bei der Anhörung des Wirtschaftsausschusses deutlich wurde: Um Rüstungsexporte oder auch Rüstung im In- und Ausland generell bewerten zu können, muss systematisches und empirisches Wissen über die Folgen und die Auswirkungen von Rüstung erarbeitet werden. Nur so kann eine fundierte Bewertung stattfinden. In Ihren üblichen Anträgen und Debattenbeiträgen wuchert leider immer Ideologie mit statt systematisches Wissen.
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Verstehen Sie mich nicht falsch: Wir wollen eine strikte Rüstungsexportkontrolle. Wir halten es aber nicht für wünschenswert, die Rüstungsexportkontrolle so zu organisieren, dass es am Ende überhaupt nichts mehr zu regulieren und zu kontrollieren gibt. Deshalb werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.
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Vielmehr halten wir es für sinnvoll, dem Vorschlag aus der Anhörung zu folgen. Lassen Sie uns doch ein Forschungsprogramm zur empirischen Erhebung auf den Weg bringen und damit eine gemeinsame Wissens- und Entscheidungsgrundlage für die Zukunft erstellen. In dieser Debatte sind mit Sicherheit schwierige Abwägungsprozesse notwendig und zu bestreiten. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass die Ausweitung auf ein funktionierendes europäisches Rüstungssystem und eine entsprechende Kontrolle ein lohnendes Ziel sind.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächstes spricht Katja Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Willsch, wenn Sie gestern so gut zugehört hätten, wie Sie behauptet haben, wäre Ihnen aufgefallen, dass alle Experten, auch die Ihren, sich in einem Punkt einig waren, nämlich dass dies eine sicherheitspolitische Debatte ist. Wenn es danach ginge, würden Sie hier zu diesem Thema gar nicht reden, sondern Ihre Kollegen aus dem Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, die ich hier heute leider gar nicht sehe.
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Aber zum Thema. Man muss Rheinmetall wirklich dankbar sein, dankbar, weil sie es mit ihrer skrupellosen Exportstrategie so übertrieben haben, dass wir alle quasi mit der Brechstange auf eine Lücke im deutschen Exportkontrollrecht aufmerksam geworden sind, die uns vorher so gar nicht bewusst war. Inzwischen kennen wir die Wege, auf denen deutsches Recht umgangen wird: Sardinien, Türkei, Südafrika, Saudi-Arabien. So berichtete uns die ARD über einen Vorfall im Jemen, bei dem ein ganzes Dorf bombardiert und viele Zivilisten, ganze Familien ums Leben gekommen sind. In den Trümmern fanden Mitarbeiter einer jemenitischen Menschenrechtsorganisation Bombenteile mit dem Code des Herstellers: RWM Italia, Rheinmetall Weapon Munition. Die Bundesregierung fühlt sich nicht zuständig, weil diese hundertprozentige Tochter von Rheinmetall die Munition ja in Sardinien produziert.
Ein anderes Beispiel sind die Pläne von Rheinmetall, sich am Bau einer Panzerfabrik in der Türkei zu beteiligen, damit der arme Erdogan nicht immer von Genehmigungen der Bundesregierung abhängig ist, wenn er moderne Panzer braucht, und diese ohne nervige Auflagen auch für völkerrechtswidrige Angriffskriege und Menschenrechtsverletzungen einsetzen kann. Hier führt der Weg über ein Joint Venture, diesmal mit der türkischen Fahrzeugfabrik BMC, deren Eigentümer Mitglied des Parteivorstandes der AKP ist und über gute Beziehungen zu Erdogan verfügt. Diese Eigenproduktion von Panzern durch die Türkei mit finanzieller Unterstützung aus Katar und die geplanten Weiterexporte in die Region des Nahen und Mittleren Ostens bedrohen nicht nur Menschenrechte in Krisenregionen, sondern gefährden auch unsere eigenen deutschen Sicherheitsinteressen.
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Diesen Kontrollverlust beim Export sicherheitsrelevanter Technologie kann und darf die Bundesregierung nicht einfach hinnehmen. Statt gleich zu Beginn klar Stellung zu nehmen, spielt die Bundesregierung bis heute Vogel Strauß nach dem Motto „Kopf in den Sand, geht mich nichts an, ich bin ja nicht zuständig“. Sie sind aber zuständig für die Sicherheitsinteressen dieses Landes. Die Standardantwort, die Sie uns an dieser Stelle immer geben: „Wir genehmigen im Einzelfall nach Recht und Gesetz“ usw., reicht eben nicht aus, wenn es kein entsprechendes Gesetz gibt.
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Das Zauberwort heißt „technische Unterstützung“ und umfasst jeden nicht verkörperten Technologietransfer. Wenn also deutsche Ingenieure ins Ausland entsandt werden und dort an der Entwicklung von Kriegswaffen ohne irgendwelche Blaupausen im Gepäck mitwirken, dann bedarf das keiner deutschen Genehmigung, ganz anders übrigens als in Frankreich oder den USA, die da überhaupt keinen Spaß verstehen, wenn ihre eigenen Staatsbürger wehrtechnisches Know-how verkaufen. Nur bei uns ist diese technische Unterstützung genehmigungsfrei, selbst bei der Produktion von Kriegswaffen.
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Das verstehen einige Hersteller wie Rheinmetall als Einladung, ihre Kriegsgerätschaften im Ausland fertigen zu lassen und ihr Personal dorthin zu versenden, wenn sie wissen, dass sie für die unmittelbare Lieferung aus Deutschland keine Genehmigung erhalten würden. Kurz gesagt: „made by Germans“ statt „made in Germany“. Da moralische Appelle an Rheinmetall ganz offensichtlich sinnlos sind, müssen wir eben gesetzlich nachsteuern.
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Unser Antrag zeigt, wie diese Lücke geschlossen werden kann. In § 49 der Außenwirtschaftsverordnung ist technische Unterstützung bereits für andere Fälle geregelt. Hier müsste nur ein Halbsatz ergänzt werden, der die Rüstungsproduktion in Drittländern betrifft. Das hat uns, Herr Willsch, auch gestern bei der Anhörung im Wirtschaftsausschuss der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, Herr Dr. Wallraff, bestätigt. Er ist ja dann offensichtlich aus Ihrer Sicht auch einer der vielen Ideologen. Ich hoffe, dass Sie ihm auch zugehört haben. Scheinbar nicht.
Wir könnten darüber hinaus auch von den Amerikanern lernen und die Mitwirkung eigener Staatsangehöriger bei Exporten von Kriegswaffen durch ausländische Tochterunternehmen unter Strafe stellen. Wir könnten auch Konzerngesellschaften in die gesetzliche Pflicht nehmen, Rüstungsexporte ihrer Tochtergesellschaften zu unterbinden. Seit zwei Jahren kennen wir diese Regelungslücke. Bis heute haben wir nicht das geringste Argument von der Bundesregierung gehört, warum sie nicht im eigenen Interesse, im Sicherheitsinteresse dieses Landes diese Regelungslücke schließt.
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Sie müssen jetzt trotzdem zum Ende kommen.
Ich höre immer, Sie wollen mehr Verantwortung übernehmen. Dann tun Sie das endlich. Sich an dieser Stelle wegzuducken, ist schlicht verantwortungslos.
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Der letzte Redner in der Debatte ist Bernhard Loos für die Fraktion der CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kennen Sie den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“, liebe Linke und liebe Grüne?
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– Die Argumente kommen ausreichend, keine Angst. – Ein Film, in dem sich ein Ereignis immer und immer wiederholt, die meisten beteiligten Personen dies aber nicht wahrnehmen wollen oder können. Auch die heutige Debatte hat leider starke Züge davon; denn Sie von den Linken und von den Grünen erkennen offenbar nicht, dass Sie sich in einer Dauerwiederholungsschleife befinden.
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Immer wieder aufs Neue das gleiche Thema, immer wieder mit den alten gleich falschen Argumenten.
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Das nervt. Aber nerven ist offensichtlich der einzige Inhalt Ihres Politikverständnisses.
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Was aber wirklich ärgerlich ist, ist doch, dass Ihre grundsätzlichen Forderungen bereits in Ihren Bundestagsanträgen 19/1173 und 19/1177 enthalten waren. Diese Anträge wurden von CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung der AfD bereits im Wirtschaftsausschuss abgelehnt. Aber meine Damen und Herren von der links-grünen Opposition, ständige Wiederholungen ändern an der Sache nichts, machen Ihre Forderungen auch nicht richtiger.
Gerne wiederhole ich Ihnen unsere Position – hören Sie gut zu, dann können Sie uns weitere Wiederholungen ersparen! –: Unsere heutige Rüstungsexportkontrolle ist ausreichend. Wir brauchen kein zusätzliches Rüstungsexportkontrollgesetz.
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Wir brauchen auch kein generelles Verbot des Exports von Rüstungsgütern. Wir brauchen keine Verschärfung des § 49 der Außenwirtschaftsverordnung, worauf Sie in Ihrem heutigen Antrag abzielen.
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Die Bundesregierung betreibt auf der Grundlage der geltenden Regelungen eine verantwortungsbewusste Rüstungsexportpolitik, die einen Ausgleich schafft zwischen notwendiger, strenger Exportkontrolle, der Wahrung der außen- und sicherheitspolitischen und auch wehrtechnischen Interessen unseres Landes sowie der Wahrnehmung der wachsenden sicherheitspolitischen Verantwortung Deutschlands in der Welt.
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Unser Verhältnis zur Türkei: In Wirklichkeit geht es Ihnen doch überhaupt nicht um eine angebliche Lücke in der Außenwirtschaftsverordnung. Sie wollen die Bundesregierung gerade jetzt im Zusammenhang mit dem Besuch des türkischen Präsidenten populistisch anprangern. Das ist zutiefst heuchlerisch, gerade von Ihnen. Wer wollte denn bis vor kurzem sogar den vollen EU-Beitritt der Türkei? Das waren doch Sie. Das ist Ihnen jetzt wohl unangenehm.
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– Dazwischenreden können Sie ein anderes Mal.
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Bei allen politischen Differenzen, die unsere Bundesregierung auch in Menschenrechtsfragen offen anspricht, hat Deutschland ein Interesse an den Beziehungen zur Türkei, vor allem auch im sicherheitspolitischen Bereich.
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– Einfach einmal zuhören, dann nimmt man auch etwas auf. – Die Türkei ist und bleibt unser Partner in der NATO in einer sicherheitspolitisch fragilen Region.
Ihr Antrag ist rechtlich höchst fragwürdig. Mit Ihrem Antrag wollen Sie doch letztlich eine Einzelfallregelung treffen. Sie nennen sogar explizit die betroffenen Firmen. Wie jeder Jurastudent im Erstsemester weiß, ist so etwas unzulässig. Weiter schreiben sie in Ihrem dünnen Antrag – ich zitiere –:
Experten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags haben in zwei Gutachten festgestellt, dass eine Erweiterung des Genehmigungsvorbehalts aus § 49 der Außenwirtschaftsverordnung (AWV) für technische Unterstützung bezüglich chemischer oder biologischer Waffen oder Kernwaffen mit dem Zusatz „Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ mit dem Unionsrecht und der Verfassung vereinbar wäre.
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Ich habe mir die Mühe gemacht und die beiden Gutachten wirklich gelesen, und – oh Wunder! – da steht etwas ganz anderes. Vielleicht habe ich etwas anderes gelesen.
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Der in Ihrem Antrag zitierte Satz geht nämlich nach einem Komma so weiter:
…, ist mangels diesbezüglicher Rechtsprechung die Verhältnismäßigkeit solcher Maßnahmen ungeklärt und eine abschließende Feststellung daher nicht möglich.
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Das können Sie auf Seite 16 nachlesen, letzter Satz des Gutachtens. Das ist dann auch das wirklich abschließende Fazit des Gutachtens.
Schon zuvor heißt es aber – ich zitiere –: Es
kann nicht
– „nicht“!; dieses Wort ist wichtig –
abschließend festgestellt werden, ob ein nationaler Genehmigungsvorbehalt für die technische Unterstützung der Entwicklung und Produktion von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern in Drittstaaten durch deutsche Staatsbürger und Inländer mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
Ebenfalls auf Seite 16. Im Vorteil ist, wer lesen kann, oder Sie hatten wieder Märchenstunde.
In dem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes, das Ihren Antrag angeblich stützen soll, heißt es weiter:
Ein Verbot bzw. ein Genehmigungsvorbehalt für die Mitwirkung deutscher Staatsbürger und Inländer an der Entwicklung und Produktion von Rüstungsgütern in anderen Mitgliedstaaten beschränkt die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Dienstleistungsfreiheit und die Niederlassungsfreiheit …
Eine solche Maßnahme dürfte
nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels angemessene und erforderliche Maß hinausgehen. …
Es ist fraglich, ob es zur Wahrung nationaler Sicherheitsinteressen erforderlich ist, die Unterstützung der Rüstungsproduktion in anderen EU-Mitgliedstaaten zu verbieten bzw. einem Genehmigungsvorbehalt zu unterwerfen.
Und in dem anderen Gutachten wird eine weitere interessante Frage aufgeworfen, nämlich die des Schutzes des Eigentums und einer möglichen finanziellen Entschädigung.
Das alles klingt ganz anders als in Ihrem Antrag. In Amerika würde man zu Ihrer Interpretation „alternative Fakten“ oder auf Neusächsisch „Fake News“ sagen. Ist das wirklich das Niveau, auf dem wir hier im Hohen Hause debattieren wollen? Nein.
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Ich stelle daher fest: Ihr Antrag ist erstens rechtlich höchst fragwürdig, beinhaltet zweitens unkalkulierbare Entschädigungsrisiken, schadet drittens unserer Sicherheit und dem NATO-Bündnis.
Daher fordere ich Sie auf: Hören Sie auf mit dem Tricksen, machen Sie sich nicht weiter lächerlich! Ziehen Sie den Antrag zurück!
Danke für die Aufmerksamkeit.
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Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
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Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/2697 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Strittig ist aber die Federführung. Deshalb müssen wir jetzt abstimmen. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie, die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen wünschen Federführung beim Auswärtigen Ausschuss.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, also Federführung beim Auswärtigen Ausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Das sind die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der AfD. Enthaltungen? – Keine Enthaltungen. Damit ist der Überweisungsvorschlag abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, also Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Es ist somit bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke mit der übrigen Mehrheit des Hauses beschlossen. Damit ist der Überweisungsvorschlag angenommen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Ungefähr 4,7 Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland sind im öffentlichen Dienst beschäftigt. Ich bin der festen Überzeugung: Der Umstand, dass unser Zusammenleben in Deutschland gut organisiert ist, dass Deutschland – ich glaube, das kann man mit Fug und Recht behaupten – gut funktioniert, dass Deutschland eine der erfolgreichsten Wirtschaftsnationen auf unserem Globus ist, haben wir vor allem auch dem Umstand zu verdanken, dass diese 4,7 Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger außerordentlich engagiert, kompetent und einsatzfreudig sind.
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Ich bin der festen Überzeugung: Wir haben in Deutschland einen qualitativ außerordentlich hochwertigen, engagierten und motivierten öffentlichen Dienst, dem wir auch zu Dank verpflichtet sind, und nicht nur hinsichtlich der Bewältigung der Flüchtlings- und Migrationskrise, sondern auch in vielen anderen Bereichen: ob es die Müllabfuhr ist, ob es die Organisation der Krankenhäuser ist, ob es die Organisation der Sozialverwaltung, der Arbeitsverwaltung oder der Steuerverwaltung ist. Wir haben einen hervorragenden öffentlichen Dienst, und wir sind es aus meiner Sicht gerade deshalb auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im öffentlichen Dienst schuldig, dass wir ihnen Wertschätzung entgegenbringen.
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Wertschätzung vollzieht sich durchaus auch durch die finanzielle Alimentierung. Aber Geld ist nicht alles. Natürlich ist der öffentliche Dienst auch insoweit attraktiv, als dass er vielfältige, unterschiedliche und interessante Einsatzmöglichkeiten bietet, als dass vor allem auch flexible Rahmenbedingungen geschaffen werden. Ich erlebe es auch persönlich bei vielen Besuchen von Einrichtungen des öffentlichen Dienstes immer wieder: Gerade die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben einen besonderen Anspruch, dem Gemeinwohl zu dienen. Deshalb sind wir es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schuldig, dass wir, was die Bundesebene anbelangt, das Ergebnis des Tarifabschlusses vom April dieses Jahres zeitgleich und systemgerecht übertragen. Die Bundesregierung legt Ihnen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, deshalb heute den Entwurf eines Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes für die Jahre 2018 bis 2020 vor.
Der Bundesinnenminister und der Dienstrechtsminister, Horst Seehofer, hält Wort in seiner Zusage, dass wir das Ergebnis des Tarifabschlusses eins zu eins – mit einer kleinen Änderung, ich komme darauf noch zu sprechen – für die Bezieher von Beamtenbesoldung und Versorgungsbezügen übertragen. Es wird eine deutliche Erhöhung geben, zum einen rückwirkend zum 1. März dieses Jahres in Höhe von 2,99 Prozent, zum 1. April nächsten Jahres in Höhe von 3,09 Prozent und in Höhe von 1,06 Prozent zum 1. März 2020. Das ist in der Summe betrachtet eine sehr ordentliche Erhöhung.
Mir persönlich ist es darüber hinaus noch sehr wichtig, dass wir insbesondere auch die Bezieher geringerer Besoldung stärker in den Blick nehmen. Deshalb sieht dieser Gesetzentwurf eine zusätzliche einmalige Zahlung in Höhe von 250 Euro für alle vor, die in den Besoldungsgruppen bis einschließlich A 6 eingruppiert sind. Darüber hinaus – auch das ist ein wichtiges Zeichen – werden die Anwärterbezüge zusätzlich erhöht: zum 1. März dieses Jahres eine einmalige Zahlung um 50 Euro und zum 1. März nächsten Jahres nochmals, dann auch fortgeschrieben, um weitere 50 Euro.
Das alles ist aus meiner Sicht ein klares Signal: Wir lassen die Beamtinnen und Beamten und die Versorgungsbezieher des Bundes teilhaben an der wirtschaftlichen und finanziellen Entwicklung in unserem Land. Diese Entwicklung ist positiv. Vor diesem Hintergrund ist es nur billig und gerecht, dass wir die Bundesbeamtinnen und -beamten und die Versorgungsbezieher entsprechend an der erfolgreichen, prosperierenden Entwicklung teilhaben lassen.
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Darüber hinaus setzen wir die bisherigen Möglichkeiten der vorzeitigen Altersruhe entsprechend fort. Auch das FALTER-Modell wird entsprechend fortgesetzt.
Man muss vielleicht noch eines erwähnen: Ich habe gesagt, dass es eine zeitgleiche und eine systemgerechte Umsetzung des Ergebnisses des Tarifabschlusses gibt. Nun wird sich der eine oder andere fragen: Warum nicht eine wirkungsgleiche? Eine wirkungsgleiche deshalb nicht, weil die Regierungskoalition schon in der letzten Legislaturperiode beschlossen hat, dass auch weiterhin 0,2 Prozentpunkte für die sogenannte Versorgungsrücklage abgezogen werden. Ich erachte es aber als ausgesprochen positiv, dass dieser Abzug von 0,2 Prozentpunkten mit Rückwirkung zum 1. März dieses Jahres nur einmal erfolgt, bei den weiteren Erhöhungen zum 1. April nächsten Jahres und zum 1. März 2020 nicht mehr. Die Regierungskoalition in der vergangenen Legislaturperiode hat sich darauf verständigt, die Versorgungsrücklage zumindest bis zum Jahr 2024 fortzusetzen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, mit diesem Gesetzentwurf senden wir ein wichtiges Signal. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir gerade im Bereich des öffentlichen Dienstes mit diesem Gesetzentwurf ein sehr positives Zeichen bringen, gerade in einer Zeit, in der der öffentliche Dienst vor großen Herausforderungen steht, in der die Ansprüche besonders groß sind und die Entwicklung im gesellschaftlichen Bereich natürlich auch am öffentlichen Dienst nicht vorbeigeht.
Ich möchte abschließend sagen: Natürlich geht es auch darum, dass wir auch in Zukunft den öffentlichen Dienst attraktiv halten, dass wir einerseits die, die sich schon über Jahre hinweg engagiert für unser Gemeinwesen einbringen, teilhaben lassen, dass wir aber auch die Zukunft, wenn es darum geht, den Kampf um die besten Köpfe, gerade auch gegenüber der Privatwirtschaft, weiterhin erfolgreich zu bestreiten, gut angehen können mit einer attraktiven und einer gut ausgestatteten Besoldung unserer Beamtinnen und Beamten. Deshalb bitte ich um eine konstruktive Befassung mit diesem Gesetzentwurf und um eine zeitnahe Beschlussfassung.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist Christian Wirth für die AfD.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Die Bezüge unserer Bundesbeamten entsprechend den Tarifverhandlungen vom April 2018 anzupassen, ist eine Selbstverständlichkeit, die dennoch nicht als Formsache betrachtet werden sollte. An dieser Stelle sei den vielen Beamten, Richtern und Soldaten gedankt, denen wir verdanken, dass dieser Staat funktioniert.
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Heute sollen die Zuständigen der Bundesregierung, Herr Mayer, ausnahmsweise von der AfD-Fraktion gelobt werden; denn es ist keine Selbstverständlichkeit, dass beide Tarifparteien mit dem Ergebnis zufrieden sind, wie es dieses Jahr der Fall ist.
Die Erhöhung der Gehälter im öffentlichen Dienst, nach der wir uns hier richten, war notwendig und ist offensichtlich auch mit gutem Willen vonseiten des Innenministeriums gestaltet worden, zumal der Staat durch sprudelnde Steuereinnahmen nicht die Probleme der durch Sozialabgaben klammen Kommunen hat. Positiv hervorzuheben ist dabei die besondere Erhöhung der Bezüge in den Bereichen, in denen der große Abstand zu den Gehältern der freien Wirtschaft die Anwerbung von Fachkräften erschwert. Um seine Funktionsfähigkeit zu gewährleisten, muss der Staat ein konkurrenzfähiger Arbeitgeber bleiben.
In einem Gehalt, Sold oder Bezug schwingt allerdings mehr mit als nur der reine materielle Wert, so wichtig er auch ist. Die Wertschätzung des Dienstherrn für die Beamten und Angestellten ist ein nicht unwesentlicher ideeller Bestandteil der Vergütung. Und es gab nun wirklich genug, was es zu wertschätzen gab in den vergangenen Jahren: Die außergewöhnliche Belastung der Beamten zahlreicher Behörden bei dem Versuch, die von der Regierung losgetretene Einwanderungswelle zu bewältigen, die andauernden Einsätze zahlreicher tapferer Soldaten von Afghanistan bis Mali und ebenso die gefährlichen und anstrengenden Einsätze der Bundespolizei an deutschen Bahnhöfen, beim G-20-Gipfel bis hin zum Hambacher Forst.
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Nur muss ich an dieser Stelle kritisch fragen: Warum hat es die Gewerkschaften gebraucht? Durch die illegale Grenzöffnung
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sind gerade Beamte, Richter und Polizisten bis an die Grenze der Belastbarkeit geführt worden. Es ist schön und gut, anfallende Überstunden zu entlohnen oder im Schnellverfahren Personal nachzuschießen wie im BAMF. Die Anerkennung der außergewöhnlichen Leistungen und Zeiten außergewöhnlicher Überlastung durch eine eigene Initiative des Bundes wäre ein ehrenwertes Zeichen gewesen, nicht zuletzt auch eine Entschuldigung.
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Schließlich möchte ich noch einmal auf den scharfen Kontrast zu der Diätenerhöhung in diesem Hohen Haus hinweisen. Wo der öffentliche Dienst, stellvertretend auch für die Beamten, streiken und lange verhandeln muss, greift bei uns ein Automatismus. Auch hier wäre es eine Sache des Respektes, wenn auch wir uns in Zukunft nicht vor diesem einen Tagesordnungspunkt drücken würden, indem wir uns genauso rechtfertigen müssen wie die Männer und Frauen in den Behörden, welche die hier beschlossenen Gesetze umzusetzen haben.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Abgeordnete Mahmut Özdemir für die Fraktion der SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Übertragung des Tarifabschlusses im öffentlichen Dienst auf die Beamtinnen und Beamten ist aus gutem Grund in diesem Hause unwidersprochene Tradition, die fast schon ritualisiert zeit- und nahezu inhaltsgleich erfolgt. Die regelmäßige Anpassung des Besoldungs- und Versorgungsrechts ist unsere gesetzgeberische Pflicht gegenüber unseren Staatsdienern, von den Sicherheitsbehörden bis in die Verwaltungseinheiten an den Schreibtischen. Sie halten diesen Staat durchsetzungsfähig und vor allen Dingen leistungsfähig.
Der Gesetzentwurf besteht aus – ich habe nachgesehen – 44 Seiten Tabellen und einigen Seiten mit vielen Zahlen und Prozentzeichen. Unzählige beamtenrechtliche Vorschriften werden dabei angepasst.
Vereinfacht gesagt passiert aber Folgendes: Wir geben unseren Beamtinnen und Beamten mehr verdientes und mehr erdientes Geld. So passen wir die Alimentation der Beamtinnen und Beamten auch an die wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse im Land am. Ich denke, es ist ein guter und vertretbarer Abschluss, der auf die Bediensteten im Beamtenstatus übertragen wird und auch – das füge ich hinzu – übertragen werden muss. Es ist ein ausgewogenes Paket, das die Interessen des öffentlichen Dienstes einerseits und die des Bundes andererseits in Einklang bringt.
Die konkreten Zahlen haben wir schon von Herrn Staatssekretär Mayer gehört. Das zeigt, dass unsere Beamtinnen und Beamten es uns wert sind. Eine Zahl möchte ich Ihnen dann doch nicht ersparen: Von 2018 bis 2020 nehmen wir im Bundeshaushalt 3,5 Milliarden Euro in die Hand, um diese Wertschätzung in Geld auszudrücken und auf diese Art und Weise ein Stück Respekt zu zollen und Dank zu sagen.
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Die Herausforderungen für einen künftigen leistungsfähigen und durchsetzungsstarken öffentlichen Dienst müssen uns dabei aber auch klar sein. Wir müssen die Ursachen von Überstunden bekämpfen. Das ist unsere Wohl- und Weheverpflichtung gegenüber den Beamtinnen und Beamten. Ich kenne viele Behördenleiter, die sehr sorgfältige Anordnungen dazu getroffen haben. Aber wenn wir mehr staatliche Aufgaben durch Gesetze aufrufen, dann müssen wir am Ende des Tages auch für eine ausreichende Personaldecke sorgen.
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Die Gewerkschaft der Polizei hat nicht zuletzt deshalb ausgerechnet – Stand Juli 2018 –, dass die Bundesbeamtinnen und ‑beamten der Polizei 2 Millionen Überstunden vor sich herschieben. Darum haben maßgeblich wir Sozialdemokraten in der vergangenen Wahlperiode die Voraussetzungen für 6 000 neue Stellen bei den Bundessicherheitsbehörden geschaffen. Den Weg gehen wir auch in dieser Wahlperiode in Tausenderschritten weiter.
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Wenn man mit den Kolleginnen und Kollegen spricht, fällt der Abbau dieser Überstunden tatsächlich schwer. Jetzt auf den Abbau der neuen Überstunden innerhalb eines Jahres zu drängen, ist, gelinde gesagt, das Verlangen einer Unmöglichkeit. Im Übrigen ist es eingedenk dieser Unmöglichkeit auch nicht die feine englische Art, den Verfall von Überstunden anzuordnen.
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Ich erwarte vom Bundesministerium des Innern eine zeitnahe fürsorglichere Lösung für diese Überstunden.
Kurzum: Mehr Personal für die öffentliche Verwaltung führt zum Rückgang von Überstunden. Kluge Arbeitszeitmodelle führen am Ende des Tages aber auch zu höherer Motivation bei den Beamtinnen und Beamten.
Auch über bessere Beförderungsmöglichkeiten und eine bessere Personalplanung müssen wir gemeinsam reden, damit aus Ausbildung und Beförderung angesichts der bevorstehenden Pensionierungen Erfahrung und Sachkenntnis in unseren Verwaltungen bestehen bleiben. Diese Punkte könnten aus meiner persönlichen Sicht sehr gut mit einer Debatte rund um die Modernisierung des Bundespersonalvertretungsgesetzes aufgegriffen und aufgerufen werden.
Ein Gesichtspunkt ist mir an dieser Stelle noch besonders wichtig: Die zunehmende Zahl von Übergriffen auf unsere Staatsdiener in Uniform ist äußerst beunruhigend. Ich war jüngst zu Gast bei der Duisburger Feuerwehr und den dortigen Sanitätern. Sie waren Opfer eines Übergriffs geworden, obwohl sie zu Hilfe gerufen worden sind. Nun arbeitet der Rechtsstaat, und am Ende des Tages steht die Verfügung einer Staatsanwaltschaft, die in unverständlicher Weise für die Betroffenen sagt, dass an der Verfolgung dieser Straftat kein öffentliches Interesse bestehe. Hier müssen wir eine konsequentere Gangart zum Schutz unserer Staatsdiener finden. Wenn wir Menschen zur Verrichtung eines öffentlichen Dienstes auf die Straße schicken, dann müssen wir auch für ihre Sicherheit garantieren und dafür sorgen, dass sie nicht mit Gesundheitsschäden zurückkehren.
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Ein letztes Wort zu den Kommunen: Wir haben im Deutschen Bundestag in den vergangenen vier Jahren Pakete geschnürt, die den Städten und Gemeinden Fördergelder und Entlastungen in zweistelliger Milliardenhöhe beschert haben. Das ist richtig und wichtig gewesen.
Wenn wir die Bundesländer und die Mitglieder in den Stadträten – bei allem gebotenen Sparzwang – nicht ermuntern, ihren öffentlichen Dienst angemessen auszustatten, dann bringen all die Investitionspakete des Bundes relativ wenig. Denn das energetisch sanierte Freibad bleibt geschlossen, und die schönen neuen barrierefreien Wege im Stadtpark werden auch nicht gepflegt, wenn die Kommunen, wenn die Länder nicht angemessen Personal bereitstellen.
Dieses Gesetz und die damit verbundene Redezeit sind eine regelmäßige Würdigung unseres öffentlichen Dienstes. Aber warme Worte in Plenarreden genügen aus meiner Sicht nicht. Wir müssen die Würdigung mit einer Modernisierung und einer Stärkung des öffentlichen Dienstes vorantreiben. Die Herausforderungen, die ich benannt habe, liegen auf dem Tisch. Ich lade alle Fraktionen herzlich dazu ein, diese Herausforderungen anzupacken und zügig einer sachgerechten Lösung zuzuführen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Konstantin Kuhle.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der im April 2018 gefundene Tarifabschluss für die Tarifbeschäftigten im öffentlichen Dienst ist aus gutem Grund Anlass, auch über die Besoldung der Beamtinnen und Beamten auf Bundesebene nachzudenken. Es ist ein Gebot der Verfassung, es ist ein Gebot des geltenden Besoldungsrechts, dass hier eine Übertragung erfolgt.
Es ist aber auch richtig, dass eine solche Übertragung erfolgt; denn wenn man sich die besonderen Belastungen in den vergangenen Jahren anschaut – Migration und Sicherheit sind schon genannt worden –, dann ist es ein Ausdruck des Respekts und der Wertschätzung für alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst, dass es zu einer Übertragung des Ergebnisses für die Tarifbeschäftigten kommt.
Fragen von Respekt und Wertschätzung für die Beschäftigten, für die Beamtinnen und Beamten im öffentlichen Dienst hängen aber nicht nur an der schieren Zahl auf dem Gehaltsscheck. Die haben nicht nur etwas mit der Höhe der Besoldung zu tun, sondern auch damit, wie sich das Verhältnis zwischen der Politik auf der einen Seite und den Beschäftigten, den Beamtinnen und Beamten, im öffentlichen Dienst auf der anderen Seite gestaltet.
Angesichts der Ereignisse in den letzten Wochen und Monaten können wir uns alle getrost an die eigene Nase fassen und fragen, ob das Bild der parlamentarischen Demokratie, der Großen Koalition, der Bundesregierung, ob das unerträgliche Gewürge um die Personalie Hans-Georg Maaßen zu einer Annäherung von öffentlichem Dienst und Politik geführt hat oder eher zu einer Entfremdung von Politik und öffentlichem Dienst. Da tut der Politik ein bisschen mehr Selbstkritik und Selbstreflexion ganz gut.
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Es ist bemerkenswert, dass der Kollege Özdemir die Arbeitsreduzierung von 41 auf 39 Stunden gar nicht angesprochen hat. Das hätte mir die Gelegenheit gegeben, darauf zu reagieren.
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Möglicherweise hängt es aber damit zusammen, dass innerhalb der Großen Koalition keine Einigkeit hinsichtlich einer Reduzierung der Arbeitszeit von 41 auf 39 Stunden für Bundesbeamte besteht.
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Die Verbände der Bundesbeamten wollen gerne wissen: Was ist denn aus dem Versprechen geworden, dass nach erfolgter Haushaltskonsolidierung eine Reduzierung der Arbeitszeit stattfindet? Hier besteht Uneinigkeit in der Großen Koalition. Es scheint so, als hätte sich das BMI durchgesetzt. Darüber wird es jetzt noch eine Debatte im Petitionsausschuss geben.
Die Fraktion der Freien Demokraten sagt: Für einen attraktiveren öffentlichen Dienst kommt es nicht allein auf die Arbeitszeit an. Lassen Sie uns gerne über einen modernen öffentlichen Dienst sprechen. Dazu gehört die Frage der Verbeamtungspraxis. Dazu gehört die Frage des Wechsels zwischen Privatwirtschaft und öffentlichem Dienst. Dazu gehört die Frage von Fortbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten. Wenn wir das alles miteinander besprechen, dann kann man auch über die Arbeitszeit reden. Aber eine isolierte Betrachtung der Arbeitszeit ist an dieser Stelle nicht angebracht.
Insofern schließen wir uns dem Gesetzentwurf an und werben um Zustimmung.
Vielen Dank.
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Als Nächste spricht die Kollegen Petra Pau für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegen haben den Inhalt des Gesetzentwurfs dankenswerterweise schon vorgestellt, das muss ich jetzt nicht wiederholen. Deshalb vorab: Die Linke stimmt dem Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz zu. Das heißt, wir begrüßen, dass damit der Tarifabschluss für die Angestellten, die Arbeiterinnen und Arbeiter des öffentlichen Dienstes auf die Beamtinnen und Beamten übertragen wird. Allerdings finden wir, das hätten wir durchaus noch vor der Sommerpause erledigen und auch auf diese Art und Weise unsere Wertschätzung für die dort Beschäftigten ausdrücken können. Der Tarifabschluss erfolgte am 15. Mai dieses Jahres. Es wäre also noch genügend Zeit gewesen.
Aber wir üben auch inhaltlich Kritik. So sind mit dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst auch die Erschwerniszulagen für die Angestellten angepasst worden. Warum das aber für die Beamtinnen und Beamten unterbleibt, können wir nicht nachvollziehen. Deshalb ein Vorschlag: Eine Dynamisierung der Erschwerniszulagen würde das Problem dauerhaft lösen. Die Gewerkschaften, zum Beispiel die GdP, haben dazu entsprechende Vorschläge unterbreitet.
Dann, Kollege Kuhle, nehme ich das Stichwort auf:
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Ja, die Linke findet, Versprechen müssen eingehalten werden. Daraus folgt, dass auch die Arbeitszeit der Beamtinnen und Beamten, so wie es versprochen wurde, auf 39 Stunden zu verkürzen ist.
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Sie haben allerdings recht: Eine Arbeitszeitverkürzung allein macht es nicht, sondern es geht auch – da sind wir ja fraktionsübergreifend mit den Beschäftigten im öffentlichen Dienst und auch mit den Beamtinnen und Beamten in der Debatte – um Arbeitsbedingungen, um Fragen der Digitalisierung, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und vieles mehr. Das muss damit einhergehen, um tatsächlich auf der Höhe der Zeit zu sein. Wir haben die Verantwortung, neben der Übertragung des Tarifabschlusses auch diesen Prozess zu organisieren.
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Vielen Dank. – Als Nächste spricht Dr. Irene Mihalic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute die Tarifeinigung im öffentlichen Dienst auf die Beamtinnen und Beamten, die Richterinnen und Richter und die Soldatinnen und Soldaten übertragen, dann ist das zweifellos ein sehr gutes Zeichen, und zwar für den öffentlichen Dienst insgesamt. Wir brauchen ja auch den öffentlichen Dienst in seiner gesamten Breite. Attraktive Arbeitsbedingungen sind zweifellos wichtig, aber Attraktivität geht eben nicht ohne eine flächendeckend gute Bezahlung in allen Gehaltsstufen.
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Aber wenn ich das hier richtig interpretiere, auch in dieser Debatte, dann will die Bundesregierung noch ein zweites Zeichen setzen: Es soll der Eindruck vermittelt werden, dass im Ressort von Bundesinnenminister Horst Seehofer die notwendige Sacharbeit stattfindet, die wir in den letzten Wochen so schmerzlich vermisst haben. Aber man muss sich natürlich die Frage stellen: Stimmt das überhaupt? Hat denn die Bundesregierung die Zeit, die sie zur Verfügung hatte, gut genutzt, um Projekte voranzubringen, die der öffentliche Dienst dringend braucht? Welche Konzepte wurden denn vorgelegt, um zum Beispiel gegen die Überlastung vorzugehen, um die Vereinbarkeit von Familie und Dienst wirklich voranzubringen oder um für eine gute Vorsorge für die Zukunft zu sorgen? Ich habe da nichts wahrgenommen.
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Im Koalitionsvertrag steht, dass Arbeitszeitkontenmodelle im öffentlichen Dienst eingeführt werden sollen, die „einen planbaren Überstunden- und Mehrarbeitsabbau unter Berücksichtigung besonders belasteter Bereiche ermöglichen“. Ich hoffe, dass damit auch gemeint ist, die Flexibilität zu schaffen, die Menschen so dringend brauchen, wenn sie zum Beispiel Familienmitglieder pflegen müssen oder auch nur Kinder zu Hause haben. Die Diskussion über Arbeitszeitkonten im öffentlichen Dienst dauert inzwischen schon so lange, dass in manchen Familien, die davon hätten profitieren können, die Kinder inzwischen mit der Schule fertig sind. Hier muss also endlich etwas vorangebracht werden, meine Damen und Herren. So kann es nicht weitergehen.
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Laut Koalitionsvertrag will sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass der Staat im Wettbewerb um die besten Köpfe bestehen kann. Das hat auch Stephan Mayer vorhin in seiner Einführung so gesagt. Das ist ja auch ein sehr gutes, erstrebenswertes Ziel. Aber dann sollten Sie zum Beispiel auch die Digitalisierung in der Verwaltung so voranbringen, dass der Fortschritt für alle spürbar wird und dass die Menschen Arbeitsmittel an die Hand bekommen, die das Arbeiten nicht unnötig verkomplizieren, sondern es – im Gegenteil – wesentlich erleichtern.
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Sie haben ja richtigerweise festgestellt, dass die Attraktivität des öffentlichen Dienstes eben nicht nur eine Frage des Geldes ist, sondern auch mit Arbeitsabläufen und Arbeitsmitteln zu tun hat. Aber solche Aufgaben lassen sich nun einmal nicht im Krisenmodus bewältigen. Dafür muss Zeit da sein: für die normale Arbeit, für Planung, Ausbildung und auch für die Konzeption. Dass die Bundesregierung auf dem Weg wäre, dies auf allen Ebenen zu fördern, kann ich bedauerlicherweise nicht erkennen. Ich wünsche es mir aber: für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes,
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für die Funktionsfähigkeit des Staates und damit natürlich auch im Interesse aller Menschen in diesem Land.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Petra Nicolaisen für die Fraktion CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem uns hier vorgelegten Entwurf eines Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes wird das gute Ergebnis der Tarifverhandlungen 2018 zeitgleich und systemgerecht – der Staatssekretär hat es vorhin bereits erwähnt – auf die Bezüge der Beamtinnen und Beamten des Bundes übertragen. Entsprechend dem gesetzlichen Auftrag nach § 14 des Bundesbesoldungsgesetzes und § 70 des Beamtenversorgungsgesetzes werden die Besoldung und die Versorgung regelmäßig an die Entwicklung der allgemeinen und auch der wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse angepasst. Darüber hinaus haben wir im Koalitionsvertrag auch ausdrücklich festgehalten, dass wir die Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst grundsätzlich gleich auf die Bundesbeamtenbesoldung übertragen wollen.
Ausgehend davon sieht der Gesetzentwurf folgende Anpassung an den Tarifabschluss vom 18. April 2018 vor:
Erstens werden die Dienst- und Versorgungsbezüge linear angehoben, zum 1. März 2018 um 2,99 Prozent, zum 1. April 2019 um 3,09 Prozent und zum 1. März 2020 um 1,06 Prozent.
Zweitens erhalten die Empfängerinnen und Empfänger von Dienstbezügen bis einschließlich Besoldungsgruppe A 6 im Jahr 2018 ergänzend eine einmalige Zahlung in Höhe von 250 Euro.
Drittens. Die Anwärterbezüge erhöhen sich entsprechend dem Ergebnis der Tarifverhandlungen zum 1. März 2018 um 50 Euro und zum 1. März 2019 um weitere 50 Euro.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der demografische Wandel und die Altersstruktur im öffentlichen Dienst stellen aktuell eine Herausforderung dar, die es zu bewältigen gilt. Denn auch der öffentliche Dienst steht natürlich im Wettbewerb um die besten Köpfe unseres Landes. Er muss daher in Zukunft attraktiv gestaltet sein. Das heißt, er muss selbstverständlich auch finanziell attraktive Rahmenbedingungen bieten.
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Die Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge ist daher nicht zuletzt vor allem auch ein richtiges und wichtiges Zeichen an alle Beamtinnen und Beamten und diejenigen, die planen, in den öffentlichen Dienst einzutreten. Zugleich ist diese Anpassung Ausdruck der Wertschätzung für den täglichen Einsatz und das Engagement der Beamtinnen und Beamten. Mein herzliches Dankeschön gilt dem öffentlichen Dienst.
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Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, bekennen uns zu einem modernen öffentlichen Dienst. Auch zukünftig werden wir uns weiterhin dafür einsetzen, dass der öffentliche Dienst mit seinen Beschäftigten seine Aufgabe gut, zuverlässig und effizient erledigen kann. Ich denke – darin sind wir uns hier wohl alle einig –, der öffentliche Dienst insgesamt muss attraktiver gestaltet werden. Als zuständige Berichterstatterin im Ausschuss für Inneres und Heimat begrüße ich die Anpassung des Besoldungs- und Versorgungsgesetzes daher ausdrücklich.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Damit sind wir am Ende der Debatte. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung, und zwar über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes 2018/2019/2020. Der Ausschuss für Inneres und Heimat empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/4569, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 19/4116 und 19/4468 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen sofort zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen?
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– Waren das Gegenstimmen? – Nein; Sie haben nur nicht schnell genug wieder Platz genommen. Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Tragödie Afghanistan hat sich zu einem nicht endenden Albtraum entwickelt. Inzwischen kann kein Propagandanebel mehr darüber hinwegtäuschen, dass wir am Hindukusch eine völlige politische Niederlage erlitten haben.
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Die Korruption sollte bekämpft werden; aber laut Amnesty International ist Afghanistan auf Platz 177 der korruptesten Staaten dieser Welt vorgerückt; die Liste endet bei 180.
Die Drogenproduktion sollte bekämpft werden; aber unter den Augen der NATO ist Afghanistan weltweit zum führenden Opiumproduzenten aufgestiegen. 90 Prozent der globalen Opiumproduktion stammt heute aus Afghanistan.
Die Taliban sollten bekämpft werden; aber heute sind die Taliban mächtiger als vor ihrem Sturz im Jahr 2001. 44 Prozent der afghanischen Distrikte sind nicht unter Kontrolle der Regierung, und die Zahl der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate und Anschläge erreicht Jahr für Jahr neue Rekordwerte.
Kein Ziel wurde erreicht. Dafür wurden Fluchtursachen geschaffen. Die Binnenmigration ist von 400 000 Personen im Jahr 2011 auf 1,5 Millionen Personen im Jahr 2017 gestiegen. Gestiegen ist auch die Zahl der Afghanen, die in Europa und nicht zuletzt in Deutschland Zuflucht suchen.
Dieser verheerenden Bilanz zum Trotz will Verteidigungsministerin von der Leyen die Bundeswehr auf unbestimmte Zeit am Hindukusch stationieren. Und gerade erst im März hat die Große Koalition, auch mit den Stimmen der Grünen und der FDP, eine Aufstockung der deutschen Truppen in Afghanistan beschlossen. Wenn aber Erfolge ausbleiben und wir seit Jahren offensichtlich im Nebel stochern, dann kann und darf das Motto nicht lauten: „Weiter so!“ bzw. „Mehr davon!“.
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Im Gegenteil: Dann muss dieses Parlament innehalten, einen Schritt zurücktreten und den Mut haben, das kritisch zu hinterfragen, was wir erreichen wollten und was wir tatsächlich erreicht haben.
Welche finanziellen, personellen und materiellen Mittel wurden seit 2001 zur Erreichung welcher politischen, militärischen und ökonomischen Ziele eingesetzt? Wie haben sich die Handlungen der Bundesregierung konkret auf die politischen, militärischen, soziokulturellen und ökonomischen Verhältnisse im Land ausgewirkt? Anhand welcher Kriterien ist eine konkrete Aussage über Erfolg oder Misserfolg bisheriger Strategien möglich? – Fragen wie diese kann man nicht einfach ignorieren, man muss sie beantworten. Es kann nicht sein, dass die Bundesregierung 432-seitige Evaluationsberichte zur Deutschen Welle anfertigt, aber nach 17 Jahren Afghanistan-Einsatz keine einzige halbwegs umfassende Wirkungsanalyse vorweisen kann.
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Dabei ist das Anliegen nicht neu: Bereits 2010 forderten SPD und Grüne hier im Bundestag, das deutsche Engagement in Afghanistan zu evaluieren. Aber der Antrag scheiterte, weil das Parteien-Klein-Klein – wie so oft in diesem Haus – wichtiger war als verantwortungsvolles Handeln. Als AfD-Fraktion greifen wir diese sinnvolle Initiative, die inzwischen acht Jahre alt ist, wieder auf und fordern die Einsetzung einer Enquete-Kommission zur ehrlichen und schonungslosen Bilanzierung des deutschen politisch-militärisch-zivilen Engagements in Afghanistan.
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Es geht um den ernsthaften Versuch, aus der Geschichte des umfangreichsten zivil-militärischen Einsatzes der Bundesrepublik zu lernen und daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. Das sind wir nicht nur der deutschen Öffentlichkeit schuldig, sondern auch den Soldaten der Bundeswehr und den Zivilexperten, die jetzt und zukünftig in Afghanistan ihren Dienst tun. Vor allem aber schulden wir das den Hinterbliebenen der 3 deutschen Polizeibeamten, der 7 deutschen Entwicklungshelfer und der mindestens 57 deutschen Soldaten, die für die hier im Bundestag getroffenen politischen Entscheidungen mit dem Leben bezahlen mussten.
Vielen Dank.
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Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Thorsten Frei für die Fraktion CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will gleich zu Beginn sagen, dass wir die Oppositionsanträge ablehnen werden – nicht weil sie gänzlich falsch wären, sondern weil wir der Auffassung sind, dass wir natürlich seit 2001 in vielfacher Hinsicht diesen Einsatz überwacht haben, evaluiert haben, uns mit Wirkungsanalysen beschäftigt haben.
Wir haben 2014 eine umfassende Anhörung im Auswärtigen Ausschuss zu den „lessons learned“ aus Afghanistan gemacht, und wir haben neben den vielen regelmäßigen Berichten der Bundesregierung insbesondere am 23. Februar dieses Jahres einen Perspektivbericht der Bundesregierung bekommen,
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der nicht nur das in der Vergangenheit Getane evaluiert hat, nicht nur eine Basis in der Gegenwart gelegt hat, sondern auch perspektivisch in die Zukunft geblickt hat. Deswegen möchte ich eindeutig sagen: Natürlich kann man immer noch mehr evaluieren, natürlich kann man immer noch mehr untersuchen. Aber den Eindruck zu erwecken, wir wären hier im Blindflug unterwegs, ist jedenfalls falsch.
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Wir wissen sehr genau, was wir hier tun. Und wir sind uns auch bewusst, dass wir denen verantwortlich sind, die als Soldaten, als Polizisten, als zivile Experten dort im Einsatz sind oder gar ihr Leben gelassen haben, und dass wir denen Rechenschaft schuldig sind – genauso wie den deutschen Steuerzahlern, deren Geld wir dort einsetzen.
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Lassen Sie mich an der Stelle aber auch sagen: Man darf auch nicht den Eindruck erwecken, als wären wir in Afghanistan nur altruistisch unterwegs.
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Natürlich vertreten wir dort auch unsere Interessen – weil es stimmt, was Peter Struck bereits im Jahr 2002 gesagt hat,
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dass nämlich die deutsche Freiheit auch am Hindukusch verteidigt wird,
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weil es auch darum geht, in Zeiten der Globalisierung nicht den Kopf in den Sand zu stecken, sondern die Herausforderungen zu sehen.
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Herr Springer, das, was Sie angesprochen haben, nämlich dass Fluchtursachen gesetzt werden, dass Flüchtlingsströme in Gang gesetzt werden, das ist doch komplett falsch. Tatsache ist, dass dort bis 2001 ein gescheiterter Staat war, der Rückzugsgebiet für islamistische Terroristen war, die ihre Anschläge bei uns ausgeübt haben.
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Deswegen ist es Schutz unserer Bevölkerung, wenn wir dagegen vorgehen.
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Das ist genauso richtig, wie dass wir Fluchtursachen dort bekämpfen. Wenn Sie das negieren, dann glauben Sie tatsächlich, dass an den deutschen Grenzen die Welt zu Ende wäre; dem ist mitnichten so.
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Ein zweiter Punkt, den ich sagen möchte: Man darf ja durchaus auch auf die Veränderungen vor Ort eingehen. Natürlich sind die Probleme nach wie vor groß. Auch wir wissen, dass dort im ersten Halbjahr dieses Jahres 1 700 Menschen gestorben sind, dass der Blutzoll, insbesondere der afghanischen Sicherheitskräfte, enorm ist. Das ist richtig. Trotzdem spüren wir auch Veränderungen und Verbesserungen.
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Wenn ich mir anschaue, dass im Juli etwa 200 Generale, 1 250 Obristen in den Ruhestand versetzt wurden, dass Denkschablonen aufgebrochen worden sind, dass neue Wege auch im Sicherheitssektor gegangen werden, dann muss ich sagen: Dort bewegt sich etwas. – Genauso ist wichtig, festzuhalten, dass sich die Sicherheitslage trotz des Einschnittes im Jahr 2014 jedenfalls seit 2017 nicht mehr verschlechtert hat. Die Aufständischen halten 13 Prozent von Afghanistan, die Regierung immerhin etwa 60 Prozent. All das darf man nicht negieren.
Wenn wir über Nachhaltigkeit und Stabilisierung sprechen, ist es auch wichtig, zu schauen, wie die sozioökonomische Entwicklung im Land ist. Da muss man sehen, dass seit 2001 die Lebenserwartung in Afghanistan von 44 auf 61 Jahre gestiegen ist, dass 55 Prozent der Menschen Zugang zu sauberem Wasser haben,
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dass nicht 1 Million Schüler in die Schule gehen, sondern 8 Millionen Kinder – davon ein Drittel Mädchen –, dass sich sowohl das Bruttosozialprodukt als auch das Einkommen der Afghanen in diesen Jahren mehr als verfünffacht hat. All das ist eben auch richtig, wenn es um Fortschritte geht.
Lassen Sie mich an der Stelle auch sagen: Ja, wir brauchen hier auch strategische Geduld. Langfristige Stabilisierung geht nicht bis morgen.
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Deswegen ist es, glaube ich, auch angesichts der politischen Rahmenbedingungen – am 20. Oktober sind Parlamentswahlen, am 20. April nächsten Jahres Präsidentschaftswahlen – richtig, dass wir die Afghanen auch darin unterstützen, möglichst faire, freie und akzeptierte Wahlen abzuhalten, um damit auch die Grundlage dafür zu legen, dass sich der Staat weiter positiv entwickeln kann. Dafür braucht man in der Tat Geduld. Dafür muss man auch die Energie aufbringen, Rückschläge in Kauf zu nehmen und zu überwinden.
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Die politischen Rahmenbedingungen sind übrigens nicht nur innenpolitisch besser geworden, sondern auch außenpolitisch, beispielsweise mit der Wahl von Imran Khan zum neuen Ministerpräsidenten von Pakistan, was von zentraler Bedeutung ist, wenn es darum geht, die politischen Parteien, also Taliban und Regierung, für eine politische Lösung in Afghanistan zu gewinnen. Die erste Reise des pakistanischen Außenministers ist nach Kabul gegangen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. Sie können nur dann weiterreden, wenn Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hampel akzeptieren.
Ja, das mache ich selbstverständlich. Vielen Dank, Herr Präsident.
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Schön, dass ich jetzt noch hier reden kann während Ihrer Redezeit. – Bei dem malerischen Bild, das Sie gerade vom Hindukusch gezeichnet haben, müsste doch die logische Schlussfolgerung sein, dass sämtliche Afghanen in Deutschland sofort wieder nach Hause fahren können. Denn die Zustände, die Sie beschrieben haben, sind für den Hindukusch ja fast paradiesisch, Herr Frei.
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Erstens, Herr Kollege Hampel, ist es so, dass ich darüber spreche, dass wir in einem Prozess sind, dass wir in Afghanistan große Probleme haben, aber dass es durchaus viele Ansatzpunkte dafür gibt, wie sich die Dinge verbessern. Wie Sie wissen, finden Abschiebungen nach Afghanistan statt, und ich bin der Auffassung – das habe ich vorhin erläutert –: Es gibt natürlich auch in Afghanistan Bereiche, in denen man gut leben kann
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und in die deswegen auch Rückführungen möglich sind. Deswegen muss man das sehr differenziert betrachten.
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Jetzt haben Sie noch den Schlusssatz.
Dann weise ich noch mal darauf hin, dass wir die Anträge der Opposition ablehnen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht für die FDP der Kollege Bijan Djir-Sarai.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan zieht sich seit vielen Jahren hin. Zuletzt stand bei der Mission Resolute Support die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte an erster Stelle.
Unzählige Maßnahmen und Strategien sind in den letzten Jahren ausprobiert worden, und es ist viel Geld und Engagement der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan zum Einsatz gekommen. Trotzdem gibt es heute keine abschließende Antwort auf den Zeitraum des Einsatzes und keine hinreichende Evaluation der dort seit 2001 andauernden Aktivitäten. Es ist daher absolut notwendig und höchste Zeit, den Afghanistan-Einsatz systematisch zu bewerten, meine Damen und Herren.
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Wir als FDP haben diesen Einsatz in den letzten Jahren mitgetragen, weil es für uns wichtig war, im Rahmen der internationalen Gemeinschaft Verantwortung für mehr Sicherheit und Stabilität in dieser Region zu übernehmen. Wir als FDP sind aber nicht bereit, dass aus diesem Einsatz eine Generationenaufgabe oder eine unendliche Geschichte wird.
Fest steht allerdings auch, dass die Sicherheitslage in Afghanistan nach wie vor nicht als umfassend stabil zu bezeichnen ist. Einige Gegenden gelten heute als kontrollierbar, andere nicht. Selbstmordanschläge stehen weiter auf der Tagesordnung. Die Gefechte und Auseinandersetzungen mit den Taliban werden nicht weniger. Vor diesem Hintergrund ist das deutsche und internationale Engagement in diesem Land gegenwärtig leider nicht wegzudenken. Wir stehen hinter unseren Soldatinnen und Soldaten, die einen wichtigen Beitrag zu Frieden und Stabilität in dieser Region leisten, meine Damen und Herren.
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Fakt ist: Afghanistan darf nicht wieder Opfer des totalitären Dschihadismus im Nahen Osten werden. Die Auswirkungen eines kopflosen Abzuges brauche ich niemandem in diesem Raum zu erklären. Trotzdem muss dieser Einsatz umfassend bewertet werden – und vielleicht sogar neu bewertet werden. Ja, in den vergangenen Jahren wurde damit nachlässig umgegangen. Aber eine Enquete-Kommission bietet sich dafür aus meiner Sicht nicht an. Wir brauchen eine Evaluation, die sachlich und nüchtern zurückblickt,
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das Vergangene systematisch bewertet und daraus Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen erlaubt.
Meine Fraktion hat bereits vor einiger Zeit vorgeschlagen, den altbewährten Fortschrittsbericht wieder einzuführen. Dieser Bericht aus Zeiten des ISAF-Mandates informierte regelmäßig über die Lage und Entwicklung in Afghanistan. Leider wurde er mit Beginn von Resolute Support eingestellt.
Der Bericht der Bundesregierung zu Stand und Perspektiven des deutschen Afghanistan-Engagements vom März 2018 stellt Ziele und Maßnahmen des Einsatzes dar. Dass die Bundesregierung somit nun nach langer Pause wieder an den Fortschrittsbericht anschließt, ist zunächst einmal erfreulich.
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Aber: Der reine Bericht klärt zwar auf, bietet aber zu wenige Informationen, um Schlüsse über möglichen Verbesserungsspielraum zu ziehen. Eine durch den Bundestag in Auftrag gegebene unabhängige und regelmäßige Evaluation kann hier deutlich mehr Abhilfe schaffen.
Meine Damen und Herren, unabhängig davon, in welcher Form eine Bewertung am Ende des Tages erzielt werden wird, ist es umso wichtiger, dass die Bundesregierung eine klare Strategie für Afghanistan und den gesamten Nahen und Mittleren Osten entwickelt. Deutschland und Europa müssen sich in dieser Region mehr engagieren – nicht militärisch, sondern zivilgesellschaftlich. Denn eins sollten alle inzwischen ganz klar wissen: Die Probleme dieser Region sind militärisch definitiv nicht zu lösen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Josip Juratovic für die Fraktion der SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Afghanistan muss sicherer, demokratischer und friedlicher werden. Unser Ziel bei der Beteiligung am NATO-Einsatz Resolute Support ist es, ein Land zu unterstützen, das gravierende Sicherheits- und Stabilitätsprobleme hat. Konkret ist unser Auftrag, die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte in die Lage zu versetzen, ihrer Sicherheitsverantwortung nachzukommen. Deshalb sind wir vor Ort: um auszubilden und zu beraten. Wir tun dies zur Unterstützung des afghanischen Volkes, aber auch aus unserem eigenen außen- und sicherheitspolitischen Interesse. Und – man mag es bei der Schwarzmalerei, die die AfD in ihrem Antrag betreibt, kaum glauben – wir haben durchaus auch Erfolge vorzuweisen.
Unser 17 Jahre andauerndes Engagement gemeinsam mit der afghanischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft
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hat wichtige und greifbare Ergebnisse hervorgebracht.
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Zum einen ist Afghanistan nicht mehr das zentrale Ausbildungslager für weltweit agierende islamistische Terroristen. Außerdem wurden nach dem Sturz der Taliban die Lebensbedingungen in Teilen des Landes maßgeblich verbessert. Insbesondere Frauen werden in Berufs- und Weiterbildungskursen unterstützt. Es gibt vielfältige Medien und freie politische Debatten. Lebenswichtige Transport- und Versorgungsinfrastruktur wurde wiederhergestellt.
Und vor allem entwicklungspolitisch macht das Land große Fortschritte: Dank unserer Hilfe wurden seit 2013 30 000 Haushalte mit Wasser versorgt. 68 Krankenhäuser und Gesundheitszentren wurden gebaut oder saniert. Davon profitieren 3 Millionen Anwohner. 763 Kilometer elektrische Leitungen wurden eingerichtet. 405 Ausbildungsstätten wurden neu errichtet oder erweitert. Bildungsmöglichkeiten wurden durch neue Schulen und Universitäten und die Ausbildung von Lehrern verbessert. Schulbildung, Gesundheitsversorgung und Lebenserwartung sind auf einem höheren Niveau, als es je zuvor in der afghanischen Geschichte der Fall war.
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Insgesamt 22 Millionen Menschen profitieren von der deutschen Zusammenarbeit mit Afghanistan. Das hat sicherlich auch zu den Migrationsbewegungen – das Lieblingsthema der AfD – beigetragen: Seit 2002 sind 6,5 Millionen Menschen in ihre Heimat Afghanistan zurückgekehrt, davon 4,7 Millionen über freiwillige Rückkehrprogramme des UNHCR. Afghanistan erlebt damit die größte Rückkehrbewegung der Welt. Daher halte ich es für an den Haaren herbeigezogen, wenn Sie, meine Damen und Herren von der AfD, in Ihrem Antrag schreiben, es ließen sich derzeit keine belastbaren Aussagen über den politisch-militärisch-zivilen Einsatz Deutschlands in Afghanistan treffen.
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Dies ist ein Affront gegenüber allen Hilfskräften vor Ort, die seit Jahren unter schwierigsten Bedingungen, ja unter Lebensgefahr alles dafür geben, dass Deutschland an Ansehen und Anerkennung gewinnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin dabei durchaus nicht blind für die schwierige innenpolitische Lage in Afghanistan. Und es gibt definitiv einige Bereiche, in denen noch Fortschritte erzielt werden müssen: Anschläge und bewaffnete Angriffe gehören in Teilen des Landes immer noch zum Alltag, ebenso Korruption und organisierte Kriminalität, die zu langsam bekämpft werden. Die Etablierung eines unabhängigen Justizsystems kommt nur schleppend voran. Daneben braucht Afghanistan dringend eine gut funktionierende Polizei. Deswegen ist es gut, dass Deutschland Trainingskurse für Polizeikräfte unterstützt und sein Know-how an den Flughäfen sowie bei der Bekämpfung illegaler Migration einbringt.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Jahrzehnte bewaffneter Konflikte in Afghanistan und der dadurch entstandene Rückstand bei der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung lassen sich nicht ohne Weiteres aufholen. Und gerade die letzten Jahre haben gezeigt, wie brüchig auch bereits erzielte Ergebnisse noch sind. Doch all dies ist für uns kein Grund, in unseren Anstrengungen nachzulassen. Im Gegenteil: Wir haben eine Verantwortung, und wir lassen die Menschen in Afghanistan nicht im Stich. Denn auch das ist ganz wichtig: Die Bundesrepublik schickt ihre Soldatinnen und Soldaten nicht ohne Grund dorthin. Wir sind dort als Unterstützung unseres gemeinsamen Militärbündnisses und auf Wunsch der afghanischen Regierung.
Um das Land bei der Stabilisierung weiter zu unterstützen, haben wir im März dieses Jahres beschlossen, unser Engagement in Afghanistan zu verstärken und zu verstetigen. Und wir hören zu, wenn wir regelmäßig, in unzähligen Lageberichten, in der wöchentlichen Unterrichtung des Parlaments, in den Ausschüssen, durch die dortige Zivilgesellschaft und durch Menschenrechtsaktivisten, über die Lage in Afghanistan unterrichtet werden – mit allen Erfolgen und Rückschlägen. Dennoch fordern auch wir Sozialdemokraten eine darüber hinausgehende unabhängige Evaluation des Afghanistan-Einsatzes – eine Forderung, über die wir uns mit unserem Koalitionspartner im Gespräch befinden. Dazu brauchen wir keine Enquete-Kommission. Eine solche Kommission bedeutet enorm viel personellen Aufwand, der in keinem Verhältnis zum Nutzen steht. Es handelt sich hier offensichtlich um Effekthascherei, die wir nicht unterstützen.
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Kolleginnen und Kollegen, polizeiliches und ziviles Engagement sind ohne militärischen Schutz nur schwer realisierbar. Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten da einen unverzichtbaren Beitrag. Ich spreche heute allen Soldatinnen und Soldaten meinen herzlichen Dank für ihren hochprofessionellen Einsatz in Afghanistan aus,
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aber auch den Entwicklungshelfern und Polizisten, allen militärischen und zivilen Kräften, die vernetzt vor Ort arbeiten. Sie müssen wir unterstützen mit dem Ziel, Afghanistan so weit zu stabilisieren, dass sie bald mit dem Gefühl heimkehren können, dass sich ihre Leistung und ihr Opfer gelohnt haben. Dazu brauchen wir keine aufwendige Enquete-Kommission. Viel wichtiger ist, dass alle Beteiligten vor Ort die Gewissheit haben, dass wir, die Parlamentarier, hinter ihnen stehen und alles uns Mögliche tun, um ihnen den Einsatz zu erleichtern.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist Tobias Pflüger für die Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute um die Evaluierung des deutschen Engagements in Afghanistan, vor allem des militärischen.
Vor kurzem hat die Parlamentariergruppe Südasien, der ich vorstehe, gemeinsam mit der Iran-Delegation des Bundestages eine Delegation aus Afghanistan und dem Iran empfangen. Vertreterinnen und Vertreter fast aller Fraktionen waren dabei. Besonders beeindruckt hat mich dabei Frau Alema Alema. Sie ist stellvertretende Ministerin in Afghanistan, zuständig für Flüchtlinge. Sie hat im Übrigen in Leipzig studiert. Diese beeindruckende Frau hatte mehrere sehr eindeutige Botschaften an uns: Erstens. Die Situation in ganz Afghanistan ist sehr unsicher. Zweitens. Abschiebungen nach Afghanistan sind völlig unverantwortlich. – Dem schließe ich mich ausdrücklich an. Ich halte Abschiebungen nach Afghanistan für völlig unverantwortlich.
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In diesem Zusammenhang war die Äußerung von Innenminister Seehofer, dass 69 Menschen an seinem 69. Geburtstag nach Afghanistan abgeschoben wurden, nur noch zynisch.
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Denn in Afghanistan herrscht Krieg. Verschiedenste Talibangruppen kontrollieren derzeit mindestens die Hälfte Afghanistans. Seit Januar 2012 zählt das OCHA, das UN-Nothilfebüro, mehr als 2 Millionen Binnenflüchtlinge. Im Übrigen sind derzeit nur circa 255 000 afghanische Staatsangehörige in Deutschland. Trotzdem geht es der AfD vor allem um Flüchtlinge, wenn sie den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr kritisiert. Sie schreiben:
Afghanistan ist derzeit eines der Hauptherkunftsländer von Flüchtlingen und Migranten für Deutschland.
Mal wieder dreht sich bei Ihnen alles nur um das eine Thema. In der Psychologie nennt man das Fixierung.
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Der AfD-Kollege René Springer meinte im Übrigen gegenüber den gerade benannten afghanischen und iranischen Gästen, dass der AfD Stabilität in den Ländern wichtig sei – –
Herr Pflüger, gestatten Sie eine Zwischenfrage vom Kollegen der AfD?
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Ich mache den Satz fertig. Dann kann er reagieren.
Gut. Dann fahren Sie fort.
Der AfD-Kollege René Springer meinte gegenüber den genannten Gästen, dass der AfD Stabilität in den Ländern wichtig sei, aber dass das mit der Demokratie nicht so wichtig sei –
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eine unglaubliche und entlarvende Aussage, die wir hier alle zusammen zurückweisen sollten.
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Ich halte das für einen Skandal.
So, jetzt darf der Kollege die Frage stellen, auf die er möglicherweise die Antwort schon bekommen hat.
Herr Pflüger, ganz herzlichen Dank, dass Sie die Frage zulassen. Sie haben ja gerade gesagt, uns als AfD würde es nur um Flüchtlinge gehen. Sie zitierten eine Stelle aus dem Antrag und behaupteten, dass unsere Aussage sei, Afghanen bildeten hier in Deutschland eine der größten Flüchtlingsgruppen. Sie stellen es so dar, als würden wir mit diesem Antrag gegen Flüchtlinge hetzen. Ist Ihnen klar, dass wir dort – und das haben wir auch benannt – einfach nur den Perspektivbericht der Bundesregierung zitiert haben, und zwar eins zu eins?
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Was Sie in dem Fall machen, ist, dass Sie eine Aussage treffen und dann quasi zu dem Bundeswehrengagement übergehen, und das bewerten Sie dann. Insofern: Ich habe den Text schon gelesen – keine Sorge!
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Es wäre Ihnen im Grunde genommen egal, ob die Menschen am Hindukusch seit Jahrzehnten unter Krieg leiden, wenn nur niemand nach Deutschland käme. Deshalb fordert die AfD auch, die Wirkung – ich zitiere – „unter besonderer Berücksichtigung deutscher außen- und sicherheitspolitischer Interessen“ zu analysieren.
Im Übrigen habe ich den Eindruck, dass die AfD die Evaluierung des Einsatzes lieber anderen überlässt. Es ist nämlich auffallend vage, was Sie da formulieren: „Die Frage, ob das deutsche Engagement ein Erfolg war, ist schwierig zu beantworten“, schreiben Sie. Wenn jemand der Bundeswehr schon die schlechte Nachricht überbringen muss, dass sie gescheitert ist, dann soll das eben eine Kommission machen. Ganz schön feige, kann ich da nur sagen.
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Dabei wäre eine richtige Evaluation des Bundeswehreinsatzes im Übrigen durchaus wünschenswert. Die Linke hat gerade die Bundesregierung danach gefragt. Auf unsere Frage in einer Kleinen Anfrage, wie viele Afghaninnen und Afghanen seit Beginn der Intervention kriegsbedingt ihr Leben verloren haben, antwortete die Bundesregierung, dass ihr neben presseähnlichen Informationen keine belastbaren eigenen Erkenntnisse vorliegen. Das ist wirklich ein Armutszeugnis.
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Immerhin wusste die Bundesregierung wenigstens, was der Bundeswehreinsatz bisher insgesamt gekostet hat: unglaubliche 9 Milliarden Euro. Ich sage klipp und klar: 9 Milliarden Euro zu viel.
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Was den Antrag der Grünen angeht: Sie schreiben in Ihrem Antrag:
Trotz neuer Konzepte und mehr Mitteln konnte ein nachhaltiger Gesamterfolg bisher nicht erzielt werden …
Wohl wahr! Ich verstehe dann aber nicht, warum Sie als Grüne immer noch Befürworterinnen und Befürworter des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan in Ihren Reihen haben.
Sie müssen zum Ende kommen, Herr Kollege.
Haben Sie die Zeit für die Antwort mitgezählt? – Dazu noch die Frage: Wer hat uns eigentlich diesen Afghanistan-Einsatz eingebrockt? Ich erinnere daran, welche Regierung das damals war. Es war eine rot-grüne Regierung, und Herr Schröder sprach davon, nach einem halben Jahr wäre man wieder weg.
Ich fasse zusammen: Die militärische Intervention in Afghanistan hat dem Land keinen Frieden gebracht. Die Stationierung der Bundeswehr bringt de facto fast nichts. Nach 17 Jahren ist die Lage dort so unsicher, dass zum Beispiel Abschiebungen nicht zu verantworten sind. Die Linke setzt sich für einen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan ein.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Omid Nouripour für Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich zitiere:
Alarmierend ist auch die prekäre Sicherheitslage. So ist die Zahl ziviler Opfer durch Selbstmordattentate und Anschläge in Afghanistan auf einen Rekordwert gestiegen. Laut den Vereinten Nationen wurden 2017 bei Anschlägen fast 2.300 Zivilisten getötet oder verletzt. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr in Afghanistan 10.500 Zivilisten getötet oder verletzt.
Das sind die wenigen richtigen Sätze aus dem AfD-Antrag, die mit Drucksachennummer zeigen, warum die Menschen bei uns Schutz suchen, die mit Drucksachennummer zeigen, wie zynisch es ist, dass die Bundesregierung Sammelabschiebeflieger nach Afghanistan schickt, nächste Woche schon wieder den nächsten Flieger.
Sie zeigen auch, wie absurd es ist, was nicht heute, aber im März dieses Jahres der Kollege Springer von diesem Pult aus gesagt hat. Ich zitiere:
Die mangelnde Rückkehrbereitschaft der Afghanen in Deutschland hat nichts mit der Lage in ihrer Heimat zu tun.
Doch, das hat sie, und das haben Sie selbst in Ihrem Antrag geschrieben.
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Diese Widersprüche zeigen, dass Sie es mit der Evaluation des Einsatzes nicht besonders ernst meinen. Aber auch das Format, das Sie gewählt haben, zeigt das. Es ist nicht richtig, Herr Kollege Springer, dass Sie einfach unseren Antrag, den wir 2010 gestellt haben und den wir im Übrigen auch in der letzten Legislaturperiode noch einmal gestellt haben, neu einbringen. Sie fordern die Einsetzung einer Enquete-Kommission. Wir wollen keine Enquete-Kommission – das haben wir auch damals nicht gefordert –, weil eine Enquete-Kommission immer politisch besetzt ist. Wir wollen eben keine politische Nabelschau, sondern wir wollen eine echte Evaluation:
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unabhängig, wissenschaftlich und umfassend. „Umfassend“ bedeutet im Übrigen, dass wir nicht nur den Bundeswehreinsatz, sondern alles, was wir an Engagement in Afghanistan an den Tag gelegt haben, bewerten. Zum Beispiel kann durch DEval bewertet werden, was an Entwicklungszusammenarbeit geleistet worden ist.
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion zu?
Sehr gern.
Sehr geehrter Herr Nouripour, danke, dass Sie die Frage zulassen. – Sie sagen gerade, dass die Enquete-Kommission nicht das geeignete Instrument wäre, weil sie politisch besetzt sei. Das ist nicht ganz zutreffend. Sie ist zwar politisch besetzt, aber eben auch mit Sachverständigen.
Sie fordern in Ihrem eigenen Antrag zugleich, dass das Deutsche Evaluierungsinstitut diese Evaluation vornehmen soll. Nun ist aber die alleinige Gesellschafterin dieses Instituts die Bundesrepublik Deutschland. Wie objektiv, glauben Sie, kann eine Evaluation eines absolut gescheiterten Engagements in Afghanistan sein?
Herr Kollege, das, was Sie da sagen, ist extrem entlarvend. Sie wollen eine Evaluation und sagen jetzt schon: Es ist alles gescheitert. – Also wollen Sie gar keine Evaluation. Ihr Urteil ist ja schon gefällt.
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– Ich bin mit meiner Antwort noch nicht fertig. Sie können aber sitzen bleiben. Es geht nur um meine Redezeit.
Im Übrigen wollen wir nicht, dass DEval die Evaluation alleine macht. Aber wir wollen, dass bei einer umfassenden Evaluation beispielsweise – das ist im Antrag beispielhaft beschrieben – auch DEval draufschaut, was an Entwicklungszusammenarbeit geleistet worden ist, wo es geklappt hat und was alles nicht geklappt hat.
Damit bin ich bei unserem Antrag. Eine Evaluation ist genau das, was wir wollen. Noch einmal: unabhängig, umfassend und wissenschaftlich. Dafür braucht es eine Kommission, die eben nicht mit Leuten besetzt ist, die aus den einzelnen Fraktionen gewählt wurden.
Wir haben diesen Antrag als Erste gemeinsam mit der Sozialdemokratie 2010 gestellt. Ich bin guten Mutes gewesen, dass die Sozialdemokratie, die diesen Antrag damals mit uns zusammen formuliert hat, dazu auch steht. Dann kam 2013 die Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratie; seitdem wollen Sie es nicht mehr wissen. Das ist sehr bedauerlich. Ich hoffe, dass sich das heute ändert.
Dann kommt der Kollege Frei und sagt – das macht auch die Sozialdemokratie, wenn man darüber spricht –: Es gibt doch die Fortschrittsberichte. – Aber der Name zeigt doch schon, was das Problem ist. Ja, es gibt Fortschritte in Afghanistan. Ja, wenn man evaluiert, muss man den Fortschritt benennen. Es ist gerade vom Kollegen Juratovic vieles an Statistiken vorgetragen worden. Aber das Entscheidende ist doch, dass man, wenn man evaluiert, nicht nur den Fortschritt, sondern auch den Rückschritt anführt, und den finden wir im Fortschrittsbericht einfach nicht.
Wenn die FDP jetzt die weitere Verlängerung von RSM an eine Evaluation knüpft, was mich sehr freut und wozu ich sagen würde, das klingt gut – das heißt, dass wir an einem Strang ziehen; der Kollege Djir-Sarai hat sehr viel gesagt, was ich sehr richtig finde –, dann empfinde ich das als Korrektur Ihrer damaligen Ablehnung unseres gemeinsamen Antrages von 2010.
Was ich hier noch einmal sagen will: Wenn man regiert, aber eine Evaluation nicht will, dann ist es nicht besonders glaubhaft, wenn man sie in der Opposition will. Ich kann sagen, dass wir eine Evaluation wollen. Ich weiß, dass es schmerzhaft ist. Wir wissen, dass es sehr viel Mut braucht. Das hat man bei unserem Partnerstaat Norwegen gesehen, der eine unabhängige und wissenschaftliche Untersuchung hat durchführen lassen. Dabei wurden sehr viele Fehler aufgezeigt.
Wir wollen unbedingt, dass auch die Zeit bis 2005 – da waren wir mit in der Regierung – beurteilt wird, wissenschaftlich und unabhängig. Wir würden auch zu unseren Fehlern stehen. Aber es ist offenkundig, dass diese Evaluation endlich kommen muss. Das ist es, was wir vielen Menschen schulden, die so viel geleistet und so viele Opfer in Afghanistan gebracht haben: Soldatinnen und Soldaten, Polizistinnen und Polizisten, Beamte, Menschen, die in der Entwicklungszusammenarbeit teilweise ihr Leben in Afghanistan gelassen haben. Wir sollten wenigstens diesen Leuten klarmachen, dass wir bereit sind, aus unseren Fehlern zu lernen, damit sie sich in Zukunft nicht wiederholen.
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Vielen Dank, Herr Kollege Nouripour.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da Sie mittlerweile gesehen haben, dass die Sitzungsleitung gewechselt hat, und ich gerne möchte, dass mir die Herzen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundestages sowie der Restaurationsbetriebe zufliegen, will ich darauf hinweisen, dass meine Sitzungsleitung darin besteht, etwas Beschleunigung ins Verfahren zu bringen, damit die Sitzung nicht erst um 1.40 Uhr zu Ende ist. Das trifft auch bei vielen Mitgliedern der Fraktionen auf Zuneigung.
Deshalb gilt ab dem nächsten Tagesordnungspunkt, wie gehabt um diese Tageszeit, dass ich Zwischenfragen nur noch sehr begrenzt zulassen werde, Kurzinterventionen gar nicht mehr, auf die Redezeit wirklich achten werde und darum bitte, dass Sie, wenn ich sage: „Kommen Sie zum Schluss“, wirklich zum Schluss kommen; denn ansonsten müsste ich wieder von den technischen Möglichkeiten Gebrauch machen, die mir das Pult hier oben bietet. Ich muss das ankündigen, damit niemand überrascht ist. Das gilt ab dem nächsten Tagesordnungspunkt.
Als Nächstes hat der Kollege Ziemiak das Wort.
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Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst einmal daran erinnern: Was war eigentlich der Grund, dass wir deutsche Streitkräfte nach Afghanistan geschickt haben? Das war der Verteidigungsfall der NATO nach 9/11. Das ist hier bisher überhaupt noch nicht erwähnt worden. Diejenigen von Ihnen, die damals dabei waren, wissen, wie schwierig diese Debatte auch hier im Deutschen Bundestag war.
Herr Springer, Sie haben in Ihrer Aufzählung zur Situation in Afghanistan alle Probleme angesprochen. Ich habe sogar genickt, als Sie über die Korruption gesprochen haben, über die Sicherheit, über die Frage, welche Perspektiven junge Menschen in so einem Land haben. Das ist alles richtig. Aber wir dürfen hier im Deutschen Bundestag kein Zerrbild zeichnen und sagen, dass die Lage heute schlechter ist als 2001, als wir das erste Mal nach Afghanistan gegangen sind.
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Das ist doch der entscheidende Punkt: Wir müssen Probleme benennen und gleichzeitig sagen, was in dieser Zeit alles passiert ist. Thorsten Frei hat das eindrucksvoll gemacht, etwa in der Frage, dass Mädchen zur Schule gehen dürfen, dass die Lebenserwartung um fast zehn Jahre gestiegen ist. Das muss man sich einmal vorstellen – in dieser kurzen Zeit.
Natürlich braucht Afghanistan eine Perspektive. Wir dürfen dieses Land nicht aufgeben, auch weil es in unserem Interesse liegt, uns in Afghanistan zu engagieren. Trotzdem kann kein Abgeordneter, kann kein Deutscher sagen: Das war ein toller Einsatz, das war ein guter Einsatz. – In diesem Einsatz sind Soldaten, Entwicklungshelfer und viele andere gefallen. Deshalb ist es wichtig, darüber zu sprechen: Was ist in diesem Einsatz eigentlich schiefgelaufen? Was hätte man besser machen müssen, damit es sich in diesem Einsatz oder in anderen Einsätzen nicht wiederholt? Aber Sie erwecken den Eindruck, als ob das nicht geschehen würde. Ich meine nicht nur den Fortschrittsbericht oder die Staatssekretärsrunde zu Afghanistan. Sie erwecken den Eindruck, als ob es irgendein Geheimnis im Zusammenhang mit diesem Einsatz gäbe und wir hier gar nicht darüber sprechen wollten. Ich sage Ihnen: Das Gegenteil ist richtig.
Ihr Antrag ist falsch. Eine Enquete-Kommission ist der völlig falsche Weg, um diesen Einsatz zu evaluieren. Was wir machen müssen, ist, Evaluation im Verteidigungsausschuss und auch im Auswärtigen Ausschuss zu betreiben. Aber über das, was in Afghanistan kommen wird, und über das, was in Afghanistan war, müssen wir im Plenum des Deutschen Bundestags sprechen, in aller Öffentlichkeit, vor den Medien und vor den Angehörigen unserer Soldatinnen und Soldaten. Das sind wir ihnen schuldig. Ich will, dass diese Debatte hier stattfindet, mit allen Problemen, die es gab, mit allen Punkten, die Sie benannt haben. Aber die Anträge der Opposition sind falsch. Deswegen lehnen wir sie ab.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Ziemiak. – Als nächstem und letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kollegen Christian Schmidt, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist sehr viel Richtiges – auch über die Entwicklung in den letzten 17 Jahren – gesagt worden, sei es vom Kollegen Frei oder vom Kollegen Juratovic. Es gab viele Erfolge. Natürlich kann man angesichts der letzten 17 Jahre von einem Programm der Veränderung sprechen. Wir haben völlig unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Aber eines muss uns doch sehr klar sein: Das ist kein Werkstück, das man betrachtet, bewertet und ausmisst, um festzustellen, ob es reicht oder nicht für die Fortsetzung. Wir sind hier in einem Prozess, und zwar nicht in vitro, in einem Reagenzglas. Hier geht es vielmehr um die Stabilität einer Region in der Welt.
Ich stimme zu, Omid Nouripour: Natürlich müssen wir untersuchen, was die Konsequenzen sind. Wenn ich aber den Blick auf uns selbst richte, stelle ich fest, dass wir politische Entscheidungen keiner Kommission überlassen können. Diese müssen wir treffen. Welche Fraktion im Deutschen Bundestag hätte denn mehr zu berichten als die Grünen, die sich, von einer rein pazifistischen Position kommend, unter vielen Windungen, Häutungen und Schwierigkeiten mit großer Mehrheit dafür entschieden haben, einen militärischen Einsatz zu unterstützen, bei aller Zurückhaltung – diese hatten wir alle in diesem Haus – gegenüber einer strategischen Entwicklung? Ich will das nur feststellen; denn das zeigt, dass die Entwicklung von 2001 bis heute andere Fragen aufwirft. Natürlich sind welche dazugekommen. Aber zu sagen: „Wir machen eine politische Evaluierung, und ich weiß sowieso schon vorher, dass das alles falsch war“, hilft uns überhaupt nicht weiter.
Wir müssen bei der Frage, wie sich die Sicherheit in Afghanistan entwickelt, differenzieren. Es gibt natürlich Regionen, in die – bei allem Respekt vor der afghanischen Kollegin – abgeschoben werden kann.
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Da ist nicht das Paradies auf Erden. Aber wir dürfen schon die Frage stellen, wo diejenigen sind, die helfen sollen, das Land aufzubauen. Das sind wir auch denen schuldig, die sich als Deutsche, als deutsche Soldaten und Entwicklungshelfer und wir in der Politik, eingebracht haben, um die Situation in Afghanistan zu verbessern.
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Wir haben kein Nullsummenspiel. Das ist kein Wahl-O-Mat, bei dem das Richtige unten rauskommt. Wir müssen feststellen, dass wir manche Dinge falsch verstanden und falsch reagiert haben. Ein Beispiel: Als sich der Konflikt zum Krieg entwickelt hat, war es die Entscheidung des damaligen Bundesverteidigungsministers Franz Josef Jung, zu sagen: Kein deutscher Soldat geht mehr in einem ungeschützten Fahrzeug aus dem Feldlager heraus – zu Zeiten, als andere Staaten das noch getan haben. Das waren Entwicklungen, die auch zum Schutz unserer Soldaten notwendig waren.
Ein weiterer Punkt, der mir aufstößt, ist, dass wir hier reden, als ob es allein eine deutsche Entscheidung wäre, ob evaluiert werden soll oder nicht. Nein, wir sind Teil einer internationalen Entwicklung. Wir sind eingebunden in internationale Entscheidungen und beschreiten gemeinsam den Weg nach Afghanistan. Diesen müssen wir auch gemeinsam bewerten. Ich bin für Bewertungen. Aber ich bin dagegen, dass wir uns mithilfe von Kommissionen politische Entscheidungen zurechtlegen, die wir selbst treffen müssen.
Herr Präsident, das beendet meine Rede.
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Vielen Dank, Kollege Schmidt. Ich habe gesehen, dass Sie zum Ende kamen. Deshalb habe ich nicht eingegriffen.
Damit beende ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/4539 und 19/4553 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 53 Milliarden Euro Lkw-Mauteinnahmen seit 2005! Allein im letzten Jahr betrugen die Einnahmen aus der Lkw-Maut 4,7 Milliarden Euro, die abzüglich der Kosten für die Mauterhebung und -kontrolle sowie der Mittel für die Mautharmonisierung zweckgebunden für die Bundesfernstraßen verwendet werden. Damit ist die Lkw-Maut der größte Einnahmeposten für die Verkehrsinfrastrukturfinanzierung und eine echte Erfolgsgeschichte. Das sage ich sehr deutlich vor dem Hintergrund mancher Presseberichte in den vergangenen Wochen. Wir können stolz sein auf das Lkw-Mautsystem, das wir in Deutschland haben.
Auch durch die Lkw-Mauteinnahmen konnten wir den Investitionshochlauf finanzieren, den wir in den vergangenen Jahren konsequent begonnen und umgesetzt haben. Diese grundsätzliche Erfolgsgeschichte Lkw-Maut hatte ein großes Problem, nämlich die beiden Schiedsgerichtsverfahren. Erfreulicherweise kann nun diese negative Seite ad acta gelegt werden. Jetzt können wir uns wieder den Zukunftsthemen zuwenden.
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Wie überall geht es auch beim Verkehr häufig um das Thema Nummer eins, nämlich um das liebe Geld. Wer stellt die Infrastruktur bereit, und wer finanziert? Klar, der Staat ist für die Bereitstellung einer intakten Infrastruktur verantwortlich. Die Finanzierung muss aber mehr und mehr durch diejenigen erfolgen, die die Straßen nutzen und mit ihren Lkws Geld verdienen. Mit der Ausweitung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen seit dem 1. Juli 2018 haben wir einen weiteren Schritt zur Verstetigung und Verstärkung der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung gemacht. Mit der Mautausweitung hat sich das mautpflichtige Streckennetz in unserem Land von vorher 15 000 Kilometer auf 52 000 Kilometer mehr als verdreifacht. Trotz der großen technischen Herausforderungen hat die Mautausweitung reibungslos geklappt.
Bei der Erhebung von Mautgebühren müssen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Vorgaben des EU-Rechts beachten. Danach müssen sich die Infrastrukturgebühren an den Kosten für Bau, Betrieb und Instandhaltung sowie den Ausbau des betreffenden Verkehrswegenetzes orientieren. Die jeweils geltenden Mautsätze werden durch wissenschaftlich fundierte Wegekostengutachten ermittelt. Das neue Gutachten liegt seit Frühjahr vor und deckt den Zeitraum 2018 bis 2022 ab. Mit dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf sollen zum 1. Januar 2019 die Mautsätze an die Ergebnisse des neuen Wegekostengutachtens angepasst werden.
Mit der Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes schaffen wir Planungssicherheit für die Branche, aber auch für unsere Infrastrukturfinanzierung. In den nächsten Jahren, meine Damen und Herren, können wir mit Mauteinnahmen von durchschnittlich 7,2 Milliarden Euro planen. Diese große Summe verteilen wir auf alle Regionen Deutschlands. Damit gewährleisten wir eine moderne, sichere, leistungsstarke Verkehrsinfrastruktur in ganz Deutschland.
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Ich kann an den ersten Debattenpunkt heute Morgen im Plenum anknüpfen, bei dem es um den Stand der deutschen Einheit ging. Gleichwertige Lebensverhältnisse in unserem Land spielen eine große Rolle. Dazu leisten die Einnahmen aus der Lkw-Maut in der Verkehrsinfrastruktur einen großen Beitrag.
Auch zukünftig soll es einen einheitlichen Mautsatz für Autobahnen und Bundestraßen geben. Das war eine wichtige Forderung von Vertretern des mittelständischen Gewerbes und aus dem ländlichen Raum, der wir aus guten Gründen gefolgt sind.
Mit der Einführung von drei Gewichtsklassen bei der Lkw-Maut sollen zudem zwei Entschließungen des Deutschen Bundestages umgesetzt werden. Insbesondere im Hinblick auf leichtere Nutzfahrzeuge mit einem zulässigen Gesamtgewicht zwischen 7,5 und 18 Tonnen soll die Gesetzesänderung für mehr Gerechtigkeit bei den Tarifen sorgen, indem wir schwerere Fahrzeuge, die unsere Straßen stärker beanspruchen, finanziell mehr belasten. Ich kann mich gut erinnern an viele Berichterstattergespräche, die wir dazu in der letzten Legislatur geführt haben, und ich bin froh, dass wir uns als Abgeordnete hier durchsetzen konnten und das jetzt umsetzen können.
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Wir schaffen Anreize für die Nutzung klima- und umweltfreundlicher sowie leiser Lkw: Wir befreien Elektro-Lkw von der Maut und rechnen bei den Mautsätzen erstmals die Lärmkosten mit ein. Die Befreiung der Elektro-Lkw von der Maut leistet einen Beitrag als Signal an die Branche, dass wir auf alternative Antriebe setzen, aber auch zur Luftreinhaltung in den Städten.
Bei den Diskussionen im Bundesrat gab es zwei Themenkomplexe, die eine besonders große Rolle gespielt haben: die Mautbefreiung für land- und forstwirtschaftliche Fahrzeuge sowie für kommunale Fahrzeuge der Abfallentsorgung. Wir unterstützen den Vorschlag des Bundesrates, land- und forstwirtschaftliche Unternehmen von Bürokratie und Kosten zu entlasten. Der Bundesrat hat etwas andere Vorstellungen gehabt. Wir sind uns aber, glaube ich, im Grundsatz einig. Eine weitere Forderung war, dass Fahrzeuge zur Müllentsorgung von der Maut befreit werden. Dieser Ausnahme wollen wir nicht zustimmen. Wir lehnen weitere Ausnahmen ab.
Meine Damen und Herren, uns liegt ein guter Gesetzentwurf vor. Wir liefern. Wir haben die Ziele, die wir uns für diese Legislaturperiode bei der Lkw-Maut vorgenommen haben, damit so gut wie umgesetzt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche gute Beratungen.
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Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Als Nächstes für die AfD-Fraktion der Kollege Wolfgang Wiehle.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Fernstraßenmaut ist spannender, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, vor allem, wenn man über die Frage der reinen Höhe der Maut hinausblickt. Es soll eine neue Ausnahme von der Maut geben, nämlich für Elektrolaster. Wird diese Technologie, die schon bei Pkw an knapper Reichweite krankt, aber wirklich die Lösung für den Lkw-Verkehr sein? Und warum gibt es dann, technologieneutral gesehen, nicht dieselbe Ausnahme für Lkw, die CO 2 -neutrale E-Fuels tanken?
An anderer Stelle gehen die Mautausnahmen zu weit. Warum zahlen eigentlich Fernbusse immer noch keine Maut, während ihre Konkurrenz auf der Schiene Trassenpreise zahlen muss? Die Schonfrist für die Markteinführung von FlixBus und ähnlichen Unternehmen ist doch längst vorbei.
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Wenn man schon Kosten der Umweltbelastung erhebt, dann muss man es wenigstens auf gerechte Weise tun. Fachleute sagen, dass eine große Anzahl von Lkw, zum Beispiel aus osteuropäischen Ländern, mit abgeschalteter Abgasreinigung über unsere Autobahnen rollt.
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Die belasten unsere Luft stärker als nötig, zahlen aber trotzdem den niedrigen Mautsatz. Wir finden in dem Gesetzentwurf keinen einzigen Ansatz, der auf diese Problematik eingeht.
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Nicht minder wichtig ist die Entscheidung darüber, wie die Maut erhoben wird, also ob durch ein staatliches Unternehmen oder ein privates. Toll Collect befindet sich, wenn man so will, durch eine Laune des Vergaberechts seit dem 1. September in staatlicher Hand. Die einen – die von der Koalition – scheinen schon sicher zu wissen, dass Toll Collect wieder privatisiert werden soll; jedenfalls stehen Verkaufserlöse in Höhe von 350 Millionen Euro bereits als Einnahmen im Haushaltsentwurf für 2019. Die anderen – Grüne und Linke – legen uns heute Abend Anträge auf den Tisch, nach denen schon jetzt sonnenklar sein soll, dass das Unternehmen unbedingt in Staatshand bleiben muss.
Im Ministerium verstaubt derweil in den Schubladen ein Gutachten, das in dieser Frage Aufklärung leisten könnte. Selbst wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages bekommen zu hören, dass die Herausgabe dieses Papiers während des laufenden neuen Vergabeverfahrens nicht möglich sei. Wenn wir eine bewusste Entscheidung treffen wollen, brauchen wir aber eine kompetente Bewertung dieser Frage. Das Nein des Ministeriums kann nicht das letzte Wort bleiben. Ich hoffe, meine Damen und Herren, sehr, dass wir bis zur Ausschussberatung mehr wissen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Wiehle. – Als Nächstes spricht zu uns für die SPD-Fraktion die Kollegin Kirsten Lühmann.
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Sehr verehrte Kollegen! Liebe Kolleginnen! Als die Koalition vor gut drei Jahren gesagt hat, sie wolle die Autobahnmaut auf alle Bundesstraßen ausweiten, also von 15 000 Kilometern auf 52 000 Kilometer, haben uns das viele nicht zugetraut. Ich glaube, seit diesem Jahr wissen sie, dass wir das sehr erfolgreich umgesetzt haben.
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Genauso hat man uns nicht zugetraut – das war das Zweite, über das geunkt wurde –, dass wir in der Lage sind, mit einem qualifizierten Wegekostengutachten die Mauthöhe sowohl für die Autobahn als auch für die Bundesstraße gleich hoch zu machen, was sehr wichtig ist, um dort Verwerfungen zu vermeiden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch diesen Unkenrufern haben wir gezeigt, dass gutes Regieren das richtig machen kann. Deshalb legen wir Ihnen hier heute diesen Gesetzentwurf vor.
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Die Frage ist: Warum brauchen wir das überhaupt? Warum gibt es immer wieder ein neues Wegekostengutachten wie dieses für 2018 bis 2022? Nun, der Grund ist recht einfach: Die EU hat sinnvollerweise gesagt: Man darf den Lkw nur solche Kosten in Rechnung stellen, die diese auch tatsächlich verursachen. – Es ist klar, dass diese Kosten sich verändern. Also müssen wir regelmäßig schauen, ob die Höhe unserer Lkw-Maut noch richtig ist. Wir legen Ihnen jetzt etwas vor, was an diese Kosten angepasst ist. Als Folge werden wir im Jahr etwa 1 Milliarde Euro Lkw-Maut mehr einnehmen.
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Wir haben in dieser Vorlage auch die Kostenzurechnung wesentlich fairer gemacht. Vorher haben wir lediglich auf die Anzahl der Achsen abgestellt. Das konnte zum Beispiel bedeuten, dass man bei einer Fahrzeugkombination mit drei Achsen insgesamt 28 Tonnen schwer war. Wenn man einen 7,5-Tonner mit einem Anhänger hat, kommt man nur auf 14 Tonnen. Ich glaube, es ist relativ leicht einsehbar, dass der eine mehr Schaden verursacht als der andere. Bis jetzt mussten aber beide gleich viel zahlen. Das war ungerecht, und das ändern wir. Wir weiten die Zahl der Mautsätze von 24 auf 66 aus und schaffen damit deutlich mehr Gerechtigkeit.
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Seit 2011 gibt uns die EU die Möglichkeit, sogenannte externe Kosten anzulasten. 2015 haben wir schon Kosten der Luftverschmutzung erhoben. In diesem Gesetzentwurf legen wir Ihnen jetzt auch eine Berechnung für die Lärmbelastung vor. Das heißt, wir tragen auch dem Rechnung, dass größere Fahrzeuge unsere Umwelt und auch die Menschen stärker belasten, und dafür müssen sie bezahlen.
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Es wurde schon angesprochen, dass wir eine Ausnahme für Elektrofahrzeuge machen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Ausnahme ist nicht unbegrenzt. Was haben wir damit vor? Wir wissen sehr wohl, dass ein 40-Tonner auf Dauer nicht elektrisch fahren wird, aber wir haben – wer bei der Nutzfahrzeugmesse war, hat das gesehen – schon sehr gute Fahrzeuge in der Größe von 7,5 Tonnen und auch Fahrzeuge, die mit Wasserstoff fahren, die in Kürze in Serienreife gehen. Natürlich haben wir als Koalition das Interesse, diese Fahrzeuge zu fördern, einen Markthochlauf hinzubekommen. Darum haben wir gesagt: Wir befreien sie in den ersten Jahren von der Lkw-Maut, nach drei Jahren schauen wir uns das Ganze an und prüfen, ob das noch erforderlich ist. Das ist die richtige Politik; die ist sachgerecht.
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In der Diskussion – wir haben am Mittwoch im Ausschuss ja schon vorausschauend eine Expertenanhörung beschlossen – sind natürlich noch einige Punkte, mit denen wir uns auseinandersetzen sollten.
Beim ersten Punkt geht es um die Fragestellung: Wenn wir Elektrofahrzeuge zum Zwecke des Markthochlaufes von der Maut befreien, dann könnten wir das auch mit mit Erdgas betriebenen Lkws machen, die durchaus auch für größere Fahrzeuge, also auch für Fahrzeuge deutlich über 7,5 Tonnen, zur Verfügung stehen und gegenüber einem normalen Euro-6-Lkw 15 Prozent CO 2 und bis zu 85 Prozent Stickoxide sparen und auch nur halb so viel Lärm verursachen. Hier stellt sich die Frage: Wollen wir hier genauso begrenzt wie bei den Elektrofahrzeugen einen Markteintritt befördern, oder ist das systemisch nicht möglich? Dafür werden wir die Anhörung haben.
Das Gleiche gilt auch für Fahrzeuge der Daseinsvorsorge, also zum Beispiel für Restmülltransporte. Ich sage hier bewusst Restmülltransporte; denn Müll ist kein Wirtschaftsgut, im Gegensatz zum Beispiel zu Papier, mit dem man als Ware durchaus Geld machen kann. Beim Restmüll ist das nicht so. Es wurde die Frage an uns herangetragen: Sollten solche Fahrzeuge befreit werden? Hier stellen sich die Fragen: Ist das sinnvoll? Können wir das systemisch machen? Dafür haben wir die Anhörung.
Als Letztes – es ist angesprochen worden –: Was machen wir mit den land- und forstwirtschaftlichen Fahrzeugen? Natürlich will niemand von uns, dass die Landwirte und Landwirtinnen ihre Arbeit nicht mehr machen können. Es geht uns hier um landwirtschaftliche Fahrzeuge, die zum Gütertransport eingesetzt werden, und zwar für Dritte. Ich glaube, auch hierfür ist es gut, dass wir die Anhörung beschlossen haben; denn dort können wir noch mal darüber diskutieren, wie wir unser Ziel, die bäuerliche Landwirtschaft in Deutschland bürokratiearm weiterführen zu können, erreichen können, ohne dass wir Friktionen mit dem Bereich Güterverkehr bekommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin sehr gespannt auf die Anhörung.
Herzlichen Dank und viel Spaß bei den Beratungen.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Lühmann. – Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Oliver Luksic für die FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Güterverkehrsaufkommen wächst. Ich glaube, wir sind uns alle im Haus einig, dass wir davon mehr auf Wasserstraße und Schiene verlagern müssen. Deswegen ist es richtig, dass Sie die Trassenpreise senken wollen, dass Sie die Schifffahrtsgebühren hoffentlich bald – es steht ja noch nicht im Haushalt drin – senken.
Aber: Derzeit ist die Wasserstraße noch nicht aufnahmefähig. Es gibt einen riesigen Investitionsstau. DB Cargo fehlt es an Personal, an Material, lehnt es ja ab, mehr Verkehre zu fahren. Wenn es keine Alternative zur Straße gibt, kann es nicht sein, dass man gleichzeitig eine doppelte Verteuerung vorschlägt: Zum einen die Ausweitung der Maut auf die Bundesstraßen und zum anderen die Erhöhung der Mautsätze. 70 Prozent höhere Kosten, 3 Milliarden Euro mehr pro Jahr für Logistik, für Wirtschaft – das zahlen am Ende ab 1. Januar 2019 die Verbraucher. Das ist falsch, das lehnen wir ab, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Wie kommen Sie eigentlich zu dieser massiven Erhöhung? Sie gehen im Wegekostengutachten von einem kalkulatorischen Zins von 3,3 Prozent aus. Wie kommen Sie zu diesen 3,3 Prozent – zumal Sie im Bundesverkehrswegeplan, den ebenfalls die Regierung macht, von 1,7 Prozent bis 2030 ausgehen und sich der Staat derzeit zu 1 Prozent finanziert? Das zeigt ganz klar: Sie wollen hier nur abkassieren. Was Sie machen, ist falsch. Es ist auch rechtlich angreifbar und deswegen Murks. Dementsprechend lehnen wir es ab.
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Auch umweltpolitisch setzen Sie falsche Anreize, weil die Spreizung zwischen Euro 6 und Euro 5 nicht groß genug ist – das führt dazu, dass von Euro 5 eben nicht auf Euro 6 umgerüstet werden wird –, weil Sie den Lkw die externen Kosten bei den neuen Euro-6-Fahrzeugen voll anlasten, sich der Umstieg nicht lohnt und Sie die höchsten Erhöhungen bei den Mautsätzen – bis zu 60 Prozent – ausgerechnet bei den neuen Euro-6-Fahrzeugen vornehmen.
Das ist ein falscher Anreiz, genauso wie die einseitige Ausnahme für den E-Lkw. Der ist gut und richtig bei den Lieferverkehren, aber für die lange Distanz gibt es derzeit noch keine Angebote am Markt. Deswegen halte ich das, was Kollegin Lühmann angedeutet hat, für richtig: Wir müssen darüber nachdenken, technologieoffen alle alternativen Antriebe zu fördern. Sie setzen derzeit noch die falschen Anreize. Wir wollen hier technologieoffen rangehen und Anreize für die Umrüstung von Euro 5 auf Euro 6 schaffen.
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Positiv ist die Lösung im Schiedsverfahren. Das sehen wir anders als Linke und Grüne. Wir halten es für gut und richtig, dass hier eine Einigung vom BMVI gefunden wurde. Das ist ein richtiger Schritt.
Wir halten es nicht für sinnvoll, dass das Toll-Collect-System in staatlicher Hand bleibt, aber hinsichtlich der Mautsätze bleiben wir dabei: Diese doppelte Erhöhung ist ein Doppelschlag gegen die Verbraucher, gegen die Wirtschaft. Deswegen lehnen wir das in dieser Form ab.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Luksic. – Als Nächstes der Kollege Jörg Cezanne für die Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Luksic, man könnte es ja auch anders sehen. Man könnte sagen: Schön, dass wir die 8 Milliarden Euro jährlich zur Verfügung haben. Mit diesen 8 Milliarden Euro könnte man das Schienennetz kräftig ausbauen.
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Man könnte überalterte Schleusen instand setzen. Man könnte also, wie das in vielen Sonntagsreden gefordert wird, eine ökologische Verkehrswende auf den Weg bringen.
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Der Haken an der Sache: Das wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf natürlich genau nicht passieren, weil das Bundesfernstraßenmautgesetz noch immer an der Vorstellung eines Finanzierungskreislaufs Straße festhält,
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durch den jeder mit der Maut eingenommene Euro wieder in die Straße investiert werden muss.
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Mit dieser unter den heutigen Bedingungen vorsintflutlichen Regelung wird der gesamte Mautbetrieb zu einem Perpetuum mobile umweltschädlichen Lkw-Verkehrs.
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Ich will das hier zugespitzt sagen: Von der ein oder anderen Ortsumgehung vielleicht abgesehen, gibt es kein Verkehrsproblem in diesem Land, das mit mehr Straßen gelöst werden könnte.
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Von daher muss das Mautgesetz nach unserer Auffassung den ökologischen Erfordernissen entsprechen, angepasst werden und dieser Finanzierungskreislauf endlich durchbrochen werden.
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Meine Damen und Herren, genauso durchbrochen werden muss der, man könnte beinahe sagen, Irrglaube des Verkehrsministers, dass ein Mautbetrieb wie Toll Collect in privaten Händen am besten aufgehoben sei. Das grenzt ja schon an Realitätsverlust.
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Wenn man über mehr als ein Jahrzehnt milliardenschwere Schiedsverfahren führt, wenn man sich von Wirtschaftsprüfern vorrechnen lassen muss, dass der Bund allein in drei Jahren um 300 Millionen Euro geprellt worden ist, dann sollte man seine Lektion doch eigentlich gelernt haben.
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Ein Mautbetrieb ist kein Selbstbedienungsladen für Großkonzerne, sondern dient dem Einzug von Mitteln für die öffentliche Daseinsvorsorge. Deshalb sollte Toll Collect nicht erneut privatisiert werden, sondern der Mautbetrieb dauerhaft von einem öffentlichen Unternehmen erbracht werden.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege Cezanne. – Als Nächstes für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Stephan Kühn.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Maut für die Lkws soll 2019 erhöht werden. Schwerere Lkws sollen mehr zahlen; denn sie beanspruchen die Infrastruktur am meisten. Seit Mitte dieses Jahres wird auch auf allen Bundesstraßen die Maut für Lkws ab 7,5 Tonnen fällig. Das waren überfällige verkehrspolitische Schritte.
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Die bisherige Politik dieser Bundesregierung hat nicht dazu beigetragen, dass Verkehr von der Straße auf die umweltfreundliche Schiene verlagert werden konnte; denn zwischen 2010 und 2017 sind die Lkw-Mautsätze real um 20 Prozent gesunken. Im gleichen Zeitraum stiegen die Trassenpreise, also die Schienenmaut, um 18 Prozent. Das wird nun durch die beschlossene Senkung der Trassenpreise für den Güterverkehr und die geplante Erhöhung der Lkw-Maut ein Stück weit korrigiert.
Doch, meine Damen und Herren, von Kostenwahrheit im Verkehr sind wir immer noch meilenweit entfernt. Die steigenden Lkw-Verkehre verursachen Luftverschmutzung und Lärm. Ab dem nächsten Jahr müssen nun endlich Lkw je nach Schadstoffklasse für die Luftverschmutzung zahlen. Allerdings führt die pauschale Bemautung, so wie sie jetzt vorgeschlagen ist, dazu, dass zum Beispiel ein Diesel-Lkw und ein Erdgas-Lkw die gleiche Maut zahlen, obwohl Erdgasfahrzeuge emissionsärmer sind.
Verkehrslärm nervt und macht krank, besonders nachts. Der geplante pauschale Aufschlag auf die Maut für den Lärm ist mit 0,2 Cent lächerlich niedrig.
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Damit die Menschen nachts ruhig schlafen können und Unternehmen einen Anreiz haben, in leise Fahrzeuge zu investieren, müssen die Aufschläge für den Lärm zumindest nachts deutlich höher sein.
Verkehrsminister Scheuer will nun E-Lkws von der Lkw-Maut befreien. Andere alternative Antriebe wie Wasserstoff oder Erdgas sollen weiterhin mit dem vollen Mautsatz belegt werden. Mit technologieoffener Förderung hat das nichts zu tun.
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Wo wir hinmüssen, wenn wir es mit Klimaschutz ernst meinen, hat übrigens Verkehrsstaatssekretär Dr. Schulz bei einer Veranstaltung des Speditions- und Logistikgewerbes beschrieben: Er kündigte eine echte CO 2 -Bemautung in naher Zukunft an. Das ist ein richtiger Vorschlag; denn der Verkehrssektor hat bisher zum Klimaschutz nichts beigetragen. Wenn wir das ändern wollen, müssen wir auch die Mautlücke für Lkw zwischen 3,5 und 7,5 Tonnen schließen; denn immer mehr kleine Lkws sind auf unseren Straßen unterwegs und zahlen nichts für die Nutzung der Infrastruktur. Und wir müssen den Finanzierungskreislauf Straße durch das Credo „Verkehr finanziert Verkehr“ ersetzen, so wie es bei der Einführung der Lkw-Maut auch der Fall war.
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Steigende Mauteinnahmen führen zu immer mehr neuen Straßen. Für mehr Klimaschutz brauchen wir hingegen eine zukunftsgerichtete Verkehrspolitik, das heißt, mehr Investitionen in die Schiene und in die Wasserstraßen.
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Lassen Sie mich abschließend etwas zu Toll Collect sagen, der Firma, die das Mautsystem betreibt.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Das tue ich. – Die Mauterhebung ist keine Rocket Science; deshalb kann die Erhebung wirtschaftlicher durch ein bundeseigenes Unternehmen erfolgen. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung muss das Vergabeverfahren zur Privatisierung von Toll Collect unverzüglich stoppen.
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Vielen Dank. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Karl Holmeier, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Jahr 2005 wurde die Lkw-Maut auf Autobahnen in Deutschland eingeführt. Seither werden der Ausbau und der Erhalt der Verkehrsinfrastruktur zunehmend durch diejenigen finanziert, die die Straße am meisten belasten: die Lkw. Der Umstieg von der Steuerfinanzierung hin zur Nutzerfinanzierung, vor allem in der letzten Wahlperiode, ist ein Erfolg von Verkehrsminister Dobrindt, der hier Zeichen gesetzt hat. Ein wichtiger Meilenstein für die Weiterentwicklung der Nutzerfinanzierung ist zum 1. Juli 2018 erfolgt mit der Einführung der Lkw-Maut auf allen Bundesstraßen.
Wir haben derzeit ein mautpflichtiges Streckensystem von 13 000 Kilometern Autobahnen und 38 000 Kilometern Bundesstraßen. Wir setzen somit konsequent um, was wir im Koalitionsvertrag angekündigt und auch vereinbart haben. Auch mit dem neuen Bundesfernstraßengesetz setzen wir nun zwei Beschlüsse aus der letzten Wahlperiode um und schreiben die Erfolgsgeschichte der Lkw-Maut fort. Zum 1. Januar 2019 soll auf Basis des neuen Wegekostengutachtens ein einheitlicher Mautsatz für Autobahnen und Bundesstraßen gelten. Das ist gerade für den ländlichen Raum von ganz entscheidender Bedeutung.
Wir führen neue Mautklassen ein: 7,5 bis 12 Tonnen, 12 bis 18 Tonnen und größer als 18 Tonnen mit drei bzw. vier oder mehr Achsen. Mit dieser Umsetzung ist die Achszahl eines Lkw künftig nicht mehr das alleinentscheidende Merkmal für die Mauthöhe. Ab dem 1. Januar 2019 ist vielmehr auch das Gesamtgewicht für die Bemessung von Bedeutung. Die Mauthöhe richtet sich damit, wie im Jahr 2015 gefordert, künftig auch nach Gewichtsklassen. Dies kommt den Nutzern von leichteren Fahrzeugen, insbesondere unserem Handwerk, zugute.
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Erstmals werden auch die Lärmbelastungskosten mit eingerechnet. Die Differenzierung für die Mauterhebung nach Schadstoffklassen hat gezeigt, dass eine Lenkungswirkung hin zu umweltfreundlichen Fahrzeugen entfaltet wurde. So gab es beispielsweise im Jahr 2005 – bei der Einführung der Lkw-Maut – einen Marktanteil von Euro-3-Fahrzeugen von 64 Prozent. Dieser Anteil ist zwischenzeitlich auf 1,73 Prozent gesunken. Die Fahrzeuge der Schadstoffklassen 5 und 6 haben zwischenzeitlich einen Marktanteil von 90 Prozent. Fahrzeuge mit elektrischem Antrieb, auch das wurde schon angesprochen, werden unabhängig von ihrer Reichweite künftig von der Maut befreit. Wir sollten aber auch prüfen, ob wir nicht Gaslastkraftwagen, wie zum Beispiel neuartige LNG-Fahrzeuge, von der Maut etwas entlasten könnten.
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Die Ausweitung der Mautbefreiung auf landwirtschaftliche Fahrzeuge ist ein positives Signal für unsere Landwirte. Wir setzen uns für die Landwirte ein und entlasten sie von unnötigen Kosten und auch von unnötiger Bürokratie.
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Die Lkw-Maut ist eine Erfolgsgeschichte. Sie leistet einen wesentlichen Beitrag zu den Verkehrsinvestitionen des Bundes. Mit der Anpassung der Mautsätze auf Bundesstraßen stehen uns nunmehr etwa 7,2 Milliarden Euro jährlich für Erhalt und Ausbau unseres Verkehrsnetzes zur Verfügung. Die Nutzerfinanzierung zur Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur wird somit konsequent ausgebaut.
Abschließend vielleicht noch ein paar Worte zu Toll Collect: Dank des Einsatzes unseres Verkehrsministers Scheuer konnte das Schiedsverfahren zur verspäteten Mauteinführung vor kurzem abgeschlossen werden. Das ist ein Riesenerfolg. Herzlichen Dank an unseren Minister.
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Ich bin zuversichtlich, dass das Vergabeverfahren zu einem guten Abschluss kommen wird. Ob in Zukunft ein Privater oder der Bund die Mautgebühren erhebt, wird das abschließende Wirtschaftlichkeitsgutachten zeigen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Ende. – Auf Basis dessen wird eine Entscheidung getroffen, sodass die Lkw-Maut auch in Zukunft einen wichtigen Beitrag zum Ausbau und Erhalt der Infrastruktur in unserem Land leisten wird. Die Erfolgsgeschichte Lkw-Maut wird fortgeschrieben.
Vielen Dank.
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Herr Kollege Holmeier, herzlichen Dank. – Damit ist die Aussprache geschlossen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/3930, 19/4526 und 19/4547 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor sechs Monaten hat die FDP-Bundestagsfraktion eine Große Anfrage gestartet, um die Strategie der Bundesregierung zur Verhinderung von Fahrverboten herauszufinden. Wir warten bis heute auf eine Antwort, genauso wie Millionen Dieselfahrer in Deutschland, nicht nur in den betroffenen Städten Stuttgart, Hamburg und jetzt auch Frankfurt. Bald sind es noch 20 weitere Städte. Es kann nicht sein, dass die Industrie und die Politik die Dieselfahrer weiter im Regen stehen lassen. Wir wollen eine Mobilitäts- und Wertgarantie für die Dieselfahrer in Deutschland.
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Was bisher auf den Weg gebracht wurde, reicht objektiv nicht aus, sonst gäbe es ja nicht weiterhin diese Urteile. Und das, was auf dem nationalen Dieselgipfel von Verkehrsminister Scheuer auf den Weg gebracht wurde, reicht nicht: Das Softwareupdate betrifft zu wenige Fahrzeuge und führt nur zu 20 Prozent NO x -Reduktion. Gleichzeitig kommt das „Sofortprogramm Saubere Luft“ zu langsam auf den Weg. Es kann auch nicht sein, dass ausgerechnet Städte wie Frankfurt hier keine Gelder abrufen. Deswegen ist klar: Hier muss sich etwas tun. Es kann nicht sein, dass seit sechs Monaten in der Bundesregierung gestritten wird: Die SPD will die Nachrüstung, die CSU steht auf der Bremse. Zum Glück kommt jetzt wegen der Wahl in Hessen Bewegung rein. Das, was wir vorschlagen, zeichnet sich ab. Es sieht so aus, als ob das Kanzleramt den Verkehrsminister ein Stück weit entmachtet hätte. Seitdem scheint es ja zu laufen. Das ist spät, aber es geht jetzt immerhin in die richtige Richtung.
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Wir schlagen zudem vor, auch die Grenzwerte noch mal kritisch zu hinterfragen. Das ist notwendig; wir wollen ein Moratorium auf europäischer Ebene. Wir wollen dafür sorgen, dass das, was auf der Verkehrsministerkonferenz beschlossen wurde, nämlich die Überprüfung der Messstellen, auch konsequent umgesetzt wird. Die Anfrage der FDP hat ergeben, dass knapp die Hälfte der Messstellen nicht korrekt betrieben wird.
Wenn um uns herum in Europa die Fahrzeuge gleicher Bauart keine Fahrverbote auslösen und wir in Hamburg direkt neben dem Hamburger Hafen messen und aufgrund dieser Messwerte ein Fahrverbot folgt, müssen wir uns fragen, ob wir in Deutschland nicht wirklich die Messidioten in Europa sind, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Es ist ein notwendiges Übel. Weil es jetzt aber diese Urteile gibt, müssen wir reagieren. Deswegen machen wir einen pragmatischen Vorschlag für eine begrenzte Hardwarenachrüstung, wo es technisch möglich und wirtschaftlich sinnvoll ist. Wir sagen also im Gegensatz zu anderen: Euro-6-Fahrzeuge, die bisher von den Urteilen nicht betroffen sind, bleiben außen vor. Euro-4-Fahrzeuge haben einen sehr niedrigen Restwert. Bei diesen würde es wirtschaftlich keinen Sinn machen, nachzurüsten. Aber eine begrenzte Hardwarenachrüstung für Euro-5-Fahrzeuge, gezielt in den betroffenen Städten, ist notwendig, um den Wertverlust und Fahrverbote zu verhindern. Wir wollen, dass die Industrie das dort, wo betrogen wurde, übernehmen muss. Für Nachrüstung von Fahrzeugen ausländischer Hersteller wird man eventuell einen Fonds brauchen. Das schlagen wir vor. Wir wollen, dass alle Dieselfahrer Hilfe bekommen. Dass sich, wie es sich jetzt andeutet, nur für Fahrer deutscher Autos eine Lösung abzeichnet, kann nicht sein.
Wir begrüßen ausdrücklich, dass die Automobilindustrie, übrigens genau so, wie wir es vorschlagen – es kommt spät, geht aber in die richtige Richtung –, Schritte in die richtige Richtung gemacht hat. Das ist ein guter Ansatz, den wir unterstützen.
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Wir bringen mit unserem Antrag offensichtlich Bewegung in die Debatte. Wir begrüßen, dass es nach sechs Monaten und einigem Hickhack endlich in die richtige Richtung geht.
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Wir brauchen die Mobilitäts- und Wertgarantie. Wir müssen vor allem dafür sorgen, dass über den Diesel endlich nicht mehr so viel diskutiert wird. Wir brauchen Sicherheit für die Arbeitnehmer und müssen ein Zeichen in Richtung der Industrie setzen. Der Diesel hat Zukunft. Auch das muss ein Ergebnis dieser Debatte sein. Deswegen brauchen wir jetzt die Lösung für die betroffenen Bürger, für die 5 Millionen Euro-5-Dieselfahrer. Dafür tritt die FDP ein, und ich begrüße es ausdrücklich, dass die Regierung mit sehr viel Verspätung langsam auch in die gleiche Richtung geht.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Luksic. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Felix Schreiner, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Menschen stellen sich und uns allen zu Recht die Frage nach der Zukunft des Diesels. Dabei geht es zunächst um die Frage, wie wir es schaffen, dass die Luft in unseren Städten noch sauberer wird. Es geht aber auch um existenzielle Fragen, wenn plötzlich Hunderttausende Dieselfahrer nicht mehr zu ihrem Arbeitsplatz in der Großstadt fahren können.
Meine Damen und Herren, wir alle haben auch eine Verantwortung. Deshalb möchte ich vor allem eines, nämlich dass wir endlich beginnen, sachlich und auf der Grundlage der Fakten über diese Frage zu diskutieren, die die Menschen draußen zu Recht interessiert.
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Zu den Fakten gehört: Seit 2000 ist die NO X -Belastung im Straßenverkehr um 60 Prozent gesunken. 2017 wurde der Grenzwert noch in 66 Städten überschritten. Es gibt nach wie vor Schwierigkeiten; das stellt gar keiner infrage.
Wenn man aber einen Blick auf den Antrag der AfD wirft, bekommt man fast den Eindruck, lieber Kollege Luksic, man müsste nur die Messstellen und am Ende auch die Grenzwerte verändern, dann hätte wir alle Probleme gelöst.
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So einfach ist es eben nicht. Der Applaus aus dieser Richtung, rechts von mir, beweist es.
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Die CDU-geführte Bundesregierung hat vieles auf den Weg gebracht. Es gibt das „Sofortprogramm Saubere Luft“. Es wurde bereits vieles umgesetzt. Es werden Softwareupdates für Diesel-Pkw in den Schadstoffklassen 5 und 6 durchgeführt. Damit erreichen wir übrigens eine Reduktion der NO x -Emissionen um 30 Prozent. Bei der Softwarenachrüstung haben 6,3 Millionen Fahrzeugnutzer einen Antrag gestellt.
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Bei einem Ziel von 5,3 Millionen, das wir uns gesetzt haben, ist das, glaube ich, ein Wert, über den man an dieser Stelle, in diesem Haus, in dieser Debatte auch mal reden muss, sehr geehrte Damen und Herren von der Opposition.
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– Kollege Kühn, ich komme gleich auf Sie zu sprechen.
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Bei der technischen Nachrüstung geht es vor allem um eines: Die pauschale Forderung, man könnte alle Dieselfahrzeuge nachrüsten, ist doch faktisch nicht erfüllbar. Wir müssen festhalten, dass die Hardwarenachrüstung bei den 3,1 Millionen Euro-4-Fahrzeugen aus technischen Gründen nicht möglich ist. Das habe ich mir übrigens nicht ausgedacht. Vielmehr ist das ein Ergebnis einer Anhörung im Deutschen Bundestag, die wir alle gemeinsam Gott sei Dank durchgeführt haben.
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Aber bei den 5,6 Millionen Euro-5-Fahrzeugen sieht es anders aus. Bei diesen ist die Nachrüstung in Teilen machbar. Dabei gilt es aber zu beachten, dass die Lösung nicht einfach ist, dass sie Zeit braucht und dass wir mit den Herstellern und den Werkstätten in diesem Land lange Gespräche führen müssen, damit wir diese große Zahl auch bewältigen können.
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Ich glaube, es ist der richtige Weg, dass das Bundesverkehrsministerium Hardwarenachrüstungen vor allem bei den städtischen Diesel-Bussen fördert. Ich war lange im Landtag von Baden-Württemberg, das wissen Sie. Wir haben in Stuttgart nicht nur ein großes Feinstaubproblem. Vielmehr ist es am Ende eine kommunale Frage, die wir in unseren Städten beantworten müssen. Mit Staatssekretär Steffen Bilger haben wir jemanden aus der Region, der genau das zu Recht vorantreibt.
Was mir aber persönlich wichtig ist: Ich habe großes Verständnis für jeden Bürger, der im Wahlkreis zu uns kommt und sagt: Ich habe Sorgen um mein Auto; ich habe Sorgen um meine Mobilität; ich habe die Sorge, dass ich am Morgen nicht mehr zu meinem Arbeitsplatz in die Stadt fahren kann. Aber bei aller Aufgeladenheit der Debatte und trotz des großen Handlungsdrucks dürfen wir einen Fehler nicht machen: Wir dürfen keine leeren Versprechungen machen. Wir müssen weiterhin Lösungen suchen, die umsetzbar sind. Leere Versprechungen sorgen am Ende für eine noch größere Enttäuschung bei der Bevölkerung. Das muss uns allen, die wir hier heute an diesem Mikrofon reden, bewusst sein, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen.
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Wo betrogen, wo getrickst wurde, braucht es Kompensation. Es braucht Wiedergutmachung. Das wird getan.
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– Da ist ja der liebe Kollege Krischer. Ich habe Sie in der letzten Sitzung des Verkehrsausschusses vermisst.
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Aber klar ist doch auch: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass alle Fahrzeuge, über die wir jetzt diskutieren, eine Genehmigung haben. Wenn wir morgen wieder über diesen Punkt diskutieren, sprechen wir nicht über die ausländischen Fahrzeuge in unserem Land, die wir mit keiner Regelung erreichen werden. Deshalb unterstützen wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, unseren Verkehrsminister Andreas Scheuer – es laufen schon verschiedene Meldungen über den Ticker –, weil wir gemeinsam mit den Automobilherstellern in diesem Land, gemeinsam mit der Wirtschaft Lösungen suchen müssen, die den Bürgern am Ende wirklich helfen.
Kommen Sie zum Schluss bitte, Herr Kollege Schreiner.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Es ist viel Vertrauen in den Automobilstandort verloren gegangen. Helfen Sie mit, mit fachlichen Argumenten Lösungen zu suchen! Seien Sie nicht nur populistisch!
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht der Kollege Dr. Dirk Spaniel, AfD-Fraktion, zu uns.
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Ich mache schnell. – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Formal haben wir zwar noch eine Regierung, aber diese beschäftigt sich lieber mit ihren eigenen Problemen. Die wirklich drängenden sachpolitischen Fragen, die für dieses Land wichtig sind, werden ignoriert.
Wir erleben seit Monaten, wie sich die Umweltministerin Schulze und der Verkehrsminister Scheuer in einer Sache einig sind: Uneinigkeit. Das hat auch mittlerweile die Noch-Kanzlerin gemerkt und das Thema Fahrverbote ins Kanzleramt geholt. Viel deutlicher kann man gar nicht zum Ausdruck bringen, dass man diesen beiden Ministerien keine Kompetenz zutraut.
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Klar ist aus Sicht der Kanzlerin: Bis zu den Landtagswahlen muss wieder irgendeine Durchwurschtellösung daherkommen. Kurzerhand hat sie daher ihren eigenen Verkehrsminister bloßgestellt, indem die CDU völlig überraschend ebenfalls Nachrüstungen fordert. Zwischenzeitlich ließ der Verkehrsminister sogar durchsickern, dass Fahrzeugbesitzer sich mit 600 Euro pro Fahrzeug beteiligen müssen. Für diesen Politirrsinn der Fahrverbote soll jetzt also auch der Bürger zur Kasse gebeten werden. Und dann, wenige Stunden später, rudert der Verkehrsminister zurück. Wir fragen uns: Warum eigentlich? Und ich frage mich: Stimmen Sie sich eigentlich in der Regierung noch ab? Reden Sie noch miteinander? Reden Sie in der Fraktion noch miteinander?
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Herr Scheuer – vielleicht hört er ja am Fernseher zu –, Ihnen ist das Thema völlig entglitten.
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Sie ändern täglich Ihre Meinung. Da hilft es auch nicht, wenn Sie sagen, dass Sie gegen Nachrüstungen sind, was übrigens auch die Meinung der Experten Ihres eigenen Hauses ist. Im gleichen Atemzug ordnen Sie aber Nachrüstungen an. Das spricht Bände.
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Ich zitiere einmal Experten zum Thema Nachrüstung, die wir in der öffentlichen Anhörung des Bundestages gehört haben. Zitat 1: Nachrüstlösungen ohne gemeinsame Entwicklung mit den Herstellern gehen nicht. Zitat 2: Es wird hier so getan, als würden Nachrüstbausätze im Regal liegen;
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es gibt sie nicht.
Es gibt noch nicht einmal die Produktionsstraßen für die notwendigen Millionen Bausätze.
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Es gibt natürlich auch nicht die notwendige Werkstattkapazität, um Millionen Fahrzeuge nachzurüsten. Nachrüstung ist also nichts anderes als ein politisches Märchen.
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Es dient dazu, die Aufmerksamkeit abzulenken von den Messstationen. Anders als die Union hat die FDP ja mittlerweile von der AfD gelernt und erkannt, dass die Messstationen das eigentliche Übel sind. Aber da die FDP momentan wieder mit den Grünen auf Kuschelkurs ist, fordert auch sie weiterhin Nachrüstungen.
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Jetzt spüren die Menschen in Stuttgart, Frankfurt und Hamburg, was es wirklich bedeutet, wenn man grün-schwarze Politik wählt. Die Probleme der Fahrverbote sind komplett hausgemacht.
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Die zuständigen deutschen Behörden stellen die Messstationen mitten auf die Straße, während in Thessaloniki Stationen auf Dächern in 35 Meter Höhe stehen. Jeder misst in Europa, wie er will, und Deutschland verhängt sich selber Fahrverbote, weil links-grüne Umweltämter auf Länderebene ihren ideologischen Kampf gegen das Auto führen, und die CDU spielt einfach fröhlich mit.
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Kurios dabei ist übrigens: Die CDU Stuttgart lehnt Fahrverbote für Stuttgart ab. Wissen Sie das eigentlich in der CDU? Wann merkt die CDU endlich, dass die Anbiederei an den grünen Zeitgeist die Partei und dieses ganze Land in den Abgrund reißt? Und vor allem: Für wie dumm halten Sie eigentlich Ihre Wähler?
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Die kurzfristige Lösung kann nur sein, dass wir Fahrverbote so lange aussetzen, bis es einheitliche, objektive Messverfahren gibt.
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Die AfD fordert daher, dass auch der Bund hier aktiv werden muss und zusätzliche Messstationen in den Städten aufstellen soll. Auch gerichtliche Fahrverbote sind ohne objektive Standards nicht haltbar.
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Es ist Zeit, der grünen Umerziehungspolitik endlich eine kraftvolle Opposition entgegenzustellen.
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Wir stehen daher an der Seite der vielen Millionen Autofahrer und Pendler, die auf ihren Pkw angewiesen sind.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Mit uns wird es keine Fahrverbote oder Nachrüstlösungen geben.
Vielen Dank.
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Als Nächstes spricht zu uns der Parlamentarische Staatssekretär Florian Pronold.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schön, wenn man zu später Stunde noch so erheiternde Beiträge hört wie gerade von dem Kollegen der AfD. Aber er irrt sich in der Unterstützung für Millionen, weil er nicht Millionen von Autofahrerinnen und Autofahrern unterstützt, sondern weil er Millionen Autofahrerinnen und Autofahrer gegen sich hat, die von der Automobilindustrie, von den Herstellern mit falschen Angaben, mit Ergebnissen, die auf dem Prüfstand erzielt wurden, aber nicht auf der Straße, hinters Licht geführt worden sind.
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Und er hat Millionen von Menschen gegen sich, die unter den Gesundheitsbelastungen durch erhöhte NO x -Werte leiden. Darum geht es. Es geht nicht um das Versetzen von Messstationen, sondern es geht um die Gesundheit von Millionen Menschen in unseren Städten.
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Ich bin meiner Ministerin Svenja Schulze dankbar, dass sie so hartnäckig für das Thema Nachrüstung gekämpft hat, übrigens Seite an Seite mit so unbedeutenden Organisationen wie dem ADAC oder dem Kraftfahrzeuggewerbe, die auch sagen, dass Nachrüstungen zu bezahlbaren Preisen möglich sind.
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Wir erleben doch gerade, dass das nicht nur von politischen Entscheidungen abhängt, sondern dass zunehmend auch Gerichte entscheiden, dass man, um den Gesundheitsschutz der Menschen sicherzustellen, Fahrverbote vor Ort verhängen muss. Wir brauchen jetzt die Gewährleistung für die Kommunen, damit sie im Jahr 2020 sagen können, dass keine Fahrverbote notwendig sind, weil Maßnahmen ergriffen worden sind, die zu spürbaren Verbesserungen in den Städten führen.
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Da hilft es, wenn man Software nachrüstet, und da hilft es, wenn man Umtauschprogramme auflegt, überhaupt kein Zweifel. Da ist es auch gut, wenn wir in den Städten dafür Sorge tragen, dass nur Elektrobusse fahren, dass andere Müllautos mit weniger NO x -Ausstoß unterwegs sind. Aber wir sehen doch gerade, dass es ohne die Hardwarenachrüstung nicht geht, dass in bis zu 15 großen Städten in Deutschland Fahrverbote drohen und dass die Leidtragenden die sind, die in gutem Glauben einen Euro-5- oder einen Euro-6-Diesel gekauft haben. Das darf nicht sein. Die dürfen nicht die Dummen sein. Die Hersteller müssen den Mist, den sie angerichtet haben, auch selber wieder beseitigen.
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Deswegen kann man auch nicht nur einfach über Umtauschprogramme reden. Ich glaube, eine ganze Menge Menschen, die einen Euro-5-Diesel fahren, der übrigens nicht uralt ist, sondern zwei oder drei Jahre, hat nicht das Geld, selbst wenn es eine Ermäßigung oder eine Prämie gibt, sich gleich ein neues Auto zu kaufen. Ich finde es übrigens ökologisch auch nicht sinnvoll, ein drei Jahre altes Auto sozusagen zu verschrotten.
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Sinnvoll wäre es, dass wir hier die Nachrüstung entsprechend vornehmen. Ich bin überzeugt davon – ich komme aus einer Automobilregion und weiß, wie gut unsere Automobilhersteller sind –, dass es sehr schnell gelingen wird, die technischen Voraussetzungen und auch die Produktionsvoraussetzungen zu schaffen, um diese Nachrüstungen zu ermöglichen und das, was man angerichtet hat, auch schnell wieder auszulöffeln. Wenn es die Automobilindustrie nicht macht, wenn es die Hersteller nicht machen, sind die Leidtragenden diejenigen, die in gutem Glauben ein Produkt gekauft haben, das aber nicht den Standards entspricht, den man von deutschen Automobilherstellern normalerweise gewöhnt ist – übrigens auch von ausländischen.
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Deswegen bin ich froh, dass es Bewegung gibt, auch innerhalb der Bundesregierung, und dass wir auf diesem Gipfel, der ansteht, sicher zu einem Ergebnis kommen werden, das dazu führt, dass wir mehr tun für die Gesundheit in den Städten und dass wir Fahrverbote, wo immer es geht, verhindern.
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Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Als Nächstes für die Fraktion Die Linke die Kollegin Ingrid Remmers.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! – Ach, es sind gar keine mehr da, schade. Kollege Pronold, ich würde mir wünschen, dass Sie mit Ihren Einsichten doch vielleicht ins Verkehrsministerium wechseln, damit wir bei den Fragen, vor denen wir heute stehen, ein bisschen weiter nach vorne kommen.
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Unser Thema heute: die Dieselfahrverbote. Ich würde gerne etwas ganz Grundsätzliches dazu sagen, warum wir heute schon wieder und immer noch über diese Frage reden. Hinter dieser Frage verbirgt sich nämlich etwas sehr Grundsätzliches: Die deutsche Autoindustrie befindet sich in einer tiefen Vertrauenskrise, und die Bundesregierung war daran beteiligt, dass diese Vertrauenskrise auch weiterhin besteht.
Die Vertrauenskrise in der Autoindustrie ist entstanden, weil man dort glaubte und auch immer noch glaubt, man könne sich ständig nach Belieben über gesetzliche Bestimmungen hinwegsetzen. Die großen deutschen Hersteller haben sich in einem Kartell über Jahre abgesprochen, mit technischen Maßnahmen die Umweltgesetzgebung zu umgehen. Die dem Verkehrsministerium untergeordnete zuständige Behörde, das Kraftfahrt-Bundesamt, sah es jahrelang gar nicht als seine Aufgabe an, auch mögliche Abschalteinrichtungen zu prüfen. Sie wäre im Übrigen auch personell und technisch gar nicht dazu in der Lage gewesen, obwohl Manipulationsversuche dieser Art schon seit Jahrzehnten bekannt sind. Dass sie sich inzwischen zu einem solchen, ja fast schon flächendeckenden Ausmaß entwickeln konnten, liegt eben auch daran, dass weder die Verkehrsminister noch die Bundesregierung ernsthaft etwas unternommen haben.
Diese Untätigkeit kann man schon deshalb nicht oft genug betonen, weil es auch drei Jahre nach Bekanntwerden des Betrugs noch immer kein Konzept gibt, wie man so etwas in Zukunft vermeiden könnte. Das ist ein Armutszeugnis erster Güte.
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Ich sage Ihnen ganz ehrlich, Herr Scheuer, auch wenn Sie jetzt nicht anwesend sind: Mit Ihren bisher durchgesickerten Vorschlägen zur Lösung der Dieselkrise werden Sie auch kein Vertrauen wiedergewinnen können; denn Sie bleiben Ihrer Linie, die Autobranche politisch zu hofieren, treu.
Um bessere Luftwerte in den Innenstädten zu erreichen, strebt Minister Scheuer jetzt bekanntlich eine Erneuerung der Dieselflotte an. Mithilfe von Umstiegsprämien soll der Kauf neuer Fahrzeuge angekurbelt werden. Damit werden aber lediglich die Kassen der Autokonzerne weiter gefüllt. Es trägt nicht dazu bei, dass die Schadstoffbelastung in unseren Städten sinkt. Das ist Mist.
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Und woher sollen denn bitte auf einmal die sauberen Diesel kommen? Selbst neue Euro-6c-Fahrzeuge reißen die Abgasgrenzwerte um ein Vielfaches, und sie sind damit fast genauso dreckig wie die, die sie ersetzen sollen. Sie wollen also dreckige Autos gegen dreckige Autos eintauschen. Herzlichen Glückwunsch zu dieser sauberen Idee.
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Mit dem Austausch dreckiger Fahrzeuge gegen andere dreckige Fahrzeuge werden Sie jedenfalls künftig weder Fahrverbote verhindern noch die Gesundheit der Menschen schützen. Und jetzt zeichnet sich offensichtlich auch noch ein schmutziger Deal mit der Autoindustrie auf Kosten unserer Umwelt ab. Damit die Autobauer der Regierung bei der Hardwarenachrüstung entgegenkommen, wollen sich die zuständigen Politiker bei den CO 2 -Zielen gnädig zeigen. Der vermeintliche Schutz der Motoren und der tatsächliche Schutz der Autoindustrie scheint dieser Bundesregierung wichtiger zu sein als der Schutz unserer Umwelt und vor allem unserer Gesundheit. Beim Dieseldesaster droht also erneut ein scheinheiliger Kompromiss.
Zuletzt ein guter Rat: VW hat sich heute Nachmittag – gnädigerweise muss man fast schon sagen – bereit erklärt, 80 Prozent der anfallenden Kosten zu übernehmen. Das heißt aber auch, 20 Prozent sollen gefälligst andere zahlen. Lassen Sie sich um Gottes willen nicht weiter von den schuldigen Autobauern auf der Nase herumtanzen.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Diese Deckungslücke von 20 Prozent darf weder mit Steuermitteln ausgeglichen werden noch dürfen die betrogenen Dieselbesitzer zur Kasse gebeten werden. Sorgen Sie stattdessen endlich für Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit und danach für wirklich saubere Luft.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Remmers. – Ich will darauf hinweisen, dass wir noch sieben Zuschauerinnen und Zuschauer auf den Tribünen haben. Es ist noch Leben da, aber die Übertragungen im öffentlich-rechtlichen Bereich sind abgeschlossen worden.
Ich will von dieser Stelle aus einen letzten Appell an die Kolleginnen und Kollegen richten, auch an die Parlamentarischen Geschäftsführer, sich vielleicht doch noch einmal über den weiteren Ablauf zu verständigen. Ich kann nach 28-jähriger parlamentarischer Erfahrung sagen, dass der Wert Ihrer Reden nicht dadurch geringer wird, dass sie zu Protokoll gegeben werden.
Als Nächstes hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Kühn das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Immer mehr Gerichte ordnen Fahrverbote an, Dieselautos verlieren jeden Tag an Wert. Die Zeit für Verschleppen, Verzögern und Vertagen im Abgasskandal ist endgültig vorbei.
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Es ist skandalös, dass die Bundesregierung seit drei Jahren wirksame Maßnahmen für saubere Luft und weniger Abgase blockiert und ausgerechnet wenige Wochen vor den Landtagswahlen in Bayern und Hessen mit einem neuen Dieselkonzept um die Ecke kommt.
Wir brauchen endlich wirksame Lösungen für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Das geht nur mit Hardwarenachrüstung für schmutzige Dieselautos auf Kosten der Hersteller;
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denn nur so wird es gelingen, die Schadstoffbelastung in den Städten unter den Grenzwert zu drücken.
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Doch Verkehrsminister Scheuer legt weiter seine schützende Hand über die Automobilindustrie und setzt mit seinem neuen Konzept in erster Linie auf den Tausch oder die Rücknahme von Dieselautos. Offenbar versteht sich der Minister als Vertriebspartner der Automobilindustrie. Millionen älterer Dieselautos sollen zurückgekauft oder gegen andere Autos ausgetauscht werden. Doch wollen wir wirklich Fahrzeuge, die teilweise nur wenige Jahre alt sind, verschrotten? Oder sollen sie ins Ausland verkauft werden und dort die Luft verschmutzen? Wenn Flottenerneuerung statt Hardwarenachrüstung Priorität hat, ist zu befürchten, dass am Ende die Verbraucherinnen und Verbraucher für die Betrügereien der Industrie die Zeche zahlen werden.
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Und gegen welche Autos soll eigentlich getauscht werden? Hoffentlich nicht gegen Autos mit der Abgasnorm Euro 6. Denn nach Zahlen des Umweltbundesamtes liegen bei diesen Autos die Emissionen auf der Straße im Schnitt um den Faktor 6 über dem Grenzwert. Wenn schon getauscht wird, dann gegen Autos mit der aktuellen Abgasnorm Euro 6d, weil deren Grenzwerte auf der Straße und nicht nur im Testlabor eingehalten werden.
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Scheuers Plan soll wohl auch nur für 10 Städte gelten. Doch, meine Damen und Herren, die Luft ist nicht nur in 10 Städten schlecht, sondern die Grenzwerte werden in 65 Städten überschritten. Was ist mit den Dieselautobesitzern, die nicht in diesen 10 Städten wohnen, aber diese Städte im Urlaub oder bei einer Dienstreise besuchen wollen? Diese sind dann weiter von Fahrverboten betroffen. Wie ist es eigentlich mit der Wahlfreiheit bei der Mobilität? Davon bleibt dann nichts übrig, obwohl Herr Minister Scheuer die Wahlfreiheit ständig sehr hoch hängt.
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– Du kannst mir ja helfen, lieber Johannes, ihm das auszurichten. Vielleicht hilft es ja für die Beratungen, die er morgen zu diesem Thema hat.
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Beim Thema Hardwarenachrüstungen fallen dem Minister bis heute viele Bedenken ein. Seine Bedenken kann man aber ausräumen. Verschiedene Firmen bieten längst SCR-Katalysatoren an. Auch die Automobilhersteller hätten längst Nachrüstungssysteme entwickeln können, wenn die Bundesregierung nicht drei Jahre lang untätig gewesen wäre, sondern von Anfang an auf Hardwarenachrüstungen gesetzt hätte.
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Der ADAC hat im Übrigen mit Unterstützung des Verkehrsministeriums in Baden-Württemberg nachgewiesen, dass Hardwarenachrüstungen erstens möglich, zweitens wirksam und drittens bezahlbar sind. Das beweisen Langzeittests bei Autos von Opel, von Volkswagen und von Fiat. Es geht also. Das Einzige, was fehlt, ist der politische Wille. Das muss sich ändern.
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Heute ist die Chance, das mit den vorliegenden Anträgen zu ändern.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kühn. – Als Nächstes spricht zu uns der fraktionslose Abgeordnete Mario Mieruch.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Glaubt auch nur einer hier ernsthaft, dass die Diskussionen aufhören werden, wenn nachgerüstet wurde? Es geht doch gar nicht um den Diesel oder um den Benziner, der eh auch schon im Fadenkreuz steht. Um das Klima geht es auch nur am Rande. Die Diskussion, die wir hier führen, ist eine Pseudodiskussion. Es ist knallharte Lobbypolitik und das Schaffen neuer Märkte, auch durch ideologische Vorschriften.
Dabei ist es völlig irrelevant, wie die Grenzwerte gesetzt werden. Scharlatane wie die Deutsche Umwelthilfe werden auch nach einer Aufrüstung nicht ruhen und nicht aufhören, das Land vor sich herzutreiben. Es wird immer heiß auf die Automobilindustrie geschimpft, die völlig zu Recht in der Kritik steht, weil sie ihre Kunden betrogen hat. Im Gegenzug sind aber jene, die die sauberen Antriebskonzepte fordern, nicht automatisch die hehren Gesellen der Gesellschaft. Schaut man sich diese noblen Streiter an, dann stellt man fest, dass die DUH von der ClimateWorks Foundation Geld bekommt, dass sie aus den Ministerien mit Millionen zugeschüttet wird, und zufälligerweise bekommt sie dann auch Ausschreibungen für Dienstleistungsverträge. Man kennt sich ja schließlich bestens.
Fragt man im Gegenzug, an wie vielen Klagen die Umwelthilfe gegen Körperschaften des öffentlichen Rechts beteiligt ist, hat die Regierung keine Ahnung. Das ist mindestens genauso irre wie die Tatsache, dass diese Regierung nicht weiß, wie viel die Hybridfahrzeuge des eigenen Fuhrparkes verbrauchen. Das ergab jüngst eine Anfrage von mir.
Dabei sind die globalen Märkte längst massiv in Bewegung geraten und auch die heimischen Automobilisten investieren massiv in die Elektromobilität, da sie garantiert aus Eigeninteresse nicht noch mal abgehängt werden wollen.
Für uns als freie Bürger ist die viel entscheidendere Frage mit Perspektive auf die nächsten 15 bis 25 Jahre und darüber hinaus, wie dieser Technologieumstieg unsere Individualmobilität sicherstellen wird.
Vielen Dank.
Herzlichen Dank, Herr Kollege Mieruch. – Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Dr. Christoph Ploß, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist dringend notwendig, dass wir uns bei dieser kontrovers geführten Debatte über die Zukunft des Diesels die Fakten anschauen und uns nicht länger von Emotionen leiten lassen. Denn es gibt zwei Gruppen von Dieselautos der deutschen Automobilhersteller: einmal diejenigen Autos, bei denen die Werte des Schadstoffausstoßes manipuliert wurden, die sogenannten Schummelautos, und dann diejenigen Autos, die korrekt hergestellt wurden und über rechtlich korrekte Zulassungen verfügen, aber deren Stickoxidausstöße mittlerweile nicht mehr den heutigen Umweltstandards entsprechen. In der öffentlichen Debatte und auch hier im Deutschen Bundestag werden beide Gruppen vermischt und damit nicht mehr ausreichend differenziert.
Um es klar zu sagen: Bei der ersten Gruppe, den Schummelautos, müssen die Hersteller gemäß dem Verursacherprinzip alle Kosten tragen und hart für ihr Vergehen bestraft werden.
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Bei der zweiten Gruppe gibt es gar keine rechtliche Handhabe, die Autohersteller zu zwingen, die Kosten für die Hardwarenachrüstung oder den Umtausch der Dieselautos zu bezahlen –
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das wäre so, als ob sie den kostenlosen Umtausch ihrer zehn Jahre alten Waschmaschine oder ihrer Heizung vom Hersteller fordern würden, weil diese nicht mehr den gültigen gesetzlichen Vorschriften entsprechen –, zumal die Dieselautos ausländischer Automobilhersteller bei der ganzen Debatte keine Rolle spielen, sondern nur diejenigen der deutschen Hersteller. Das bedeutet: Wenn Sie mit einem Chevrolet Diesel, der 9,6 Liter auf 100 Kilometer verbraucht, in Deutschland herumfahren, dann spielt das in der jetzigen Debatte keine Rolle. Wenn Sie hingegen mit einem deutschen Golf Diesel fahren, der gut 5 Liter auf 100 Kilometer verbraucht, dann sind Sie im Visier. Das kann aus meiner Sicht nicht sein.
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Zur Wahrheit gehört auch, dass die Prüfdienststellen, zum Beispiel die DEKRA, häufig darauf hingewiesen haben, dass unterschiedliche Faktoren die Stickoxidmesswerte in den Städten beeinflussen, zum Beispiel die Wetterlage oder auch der Standort. Häufig sind 3 oder 4 Meter Entfernung von der Messstation ausschlaggebend dafür, welche Messwerte herauskommen. Deswegen ist es wichtig, dass die Verkehrsminister eine Initiative gestartet und gesagt haben: Wir müssen anhand von Stichproben untersuchen, ob die Werte objektiv und nicht ideologisch motiviert sind.
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Meine Damen und Herren, aus meiner Sicht muss es drei Maßnahmen geben:
Erstens. Nachrüstungen nur bei denjenigen Dieselautos, bei denen es technisch machbar ist und keine negativen Folgen auftreten.
Zweitens. Umtausch derjenigen Dieselautos, bei denen eine Nachrüstung keinen Sinn ergibt. Denn mit der Hardwarenachrüstung sind in vielen Fällen zahlreiche Probleme verbunden, wie wir bei der Sachverständigenanhörung im Verkehrsausschuss aufgezeigt bekommen haben.
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Als Stichwort nenne ich Ausstoß des schädlichen Vanadiumoxids, Veränderung der gesamten Konfiguration des Autos, höherer Treibstoffverbrauch. Auch eine neue Zulassung des Kraftfahrt-Bundesamtes ist notwendig. Deswegen müssen wir klar festhalten: Hardwarenachrüstungen sind kein Allheilmittel und sollten auf keinen Fall für alle Autos gefordert werden. Jeder, der verkehrspolitisch mit Sachverstand an die Sache rangeht, kann diese Forderung hier im Deutschen Bundestag nicht ernsthaft erheben.
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Drittens. Wir brauchen weitere Investitionen in alternative Antriebstechnologien und in die dafür notwendige Infrastruktur. Denn nur wenn ausreichend Ladesäulen und Wasserstofftankstellen in Deutschland vorhanden sind, ist es für die Verbraucher attraktiv, sich ein Elektroauto anzuschaffen.
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Insgesamt können wir festhalten: Nicht plumpe Forderungen lösen das Problem; vielmehr brauchen wir maßgeschneiderte Lösungen für jedes Auto. Nur so werden wir Fahrverbote in Deutschland verhindern, die Luft in unseren Großstädten sauberer machen und die Verbraucher stärken.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ploß. – Als Nächster der Kollege Arno Klare, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine gewisse Genugtuung spüre ich schon; denn ich habe vor knapp zweieinhalb Jahren hier davon gesprochen, dass es so etwas wie technische Hardwarenachrüstung gibt.
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Keiner in diesem Hause hat gewusst, dass es so etwas überhaupt geben kann.
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Ein paar Parteien waren noch gar nicht hier; bei einer wäre ich übrigens froh, wenn es dabei geblieben wäre.
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Technische Hardwarenachrüstung ist machbar, nachgewiesenermaßen funktioniert sie. Die NO 2 -Werte werden deutlich gesenkt. Wachtmeister und Koch, beides Gutachter, die bestellt worden sind, sind sich in der Sache, dass es funktioniert, komplett einig. Es gibt keinen Streit mehr darüber, dass Hardwarenachrüstung funktioniert, es sei denn, man möchte bestreiten, dass morgen früh die Sonne aufgeht; ungefähr auf der Ebene ist ein Vergleich möglich.
Der Umtausch der Fahrzeuge ist eine Möglichkeit, aber der Umtausch funktioniert nur für die Menschen, die auch das nötige Kleingeld haben, sich das neue Fahrzeug zu leisten.
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Das ist ein riesiges Problem, das zumindest ich als Sozialdemokrat mit dieser Umtauschaktion habe.
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Wenn man den Kaufwert der Fahrzeuge, nur Euro 5 und Euro 6, mit 20 000 Euro ansetzt – das ist zu niedrig, wie ich weiß –, dann sind wir bei 180 Milliarden Euro, der Wertverlust beträgt zwischen 10 und 20 Prozent. Das heißt, es wurde ein Wert von circa 36 Milliarden Euro Volksvermögen vernichtet.
({5})
Diesen Wert müssen wir den Menschen zurückgeben. Das gelingt nicht allein durch Umtausch, das gelingt nur durch die technische Hardwarenachrüstung.
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Ein paar Worte noch zu den Anträgen. Müssen wir unsere Messmethoden ändern? Nein, müssen wir nicht. Wir sollten sie – auch das habe ich vor anderthalb Jahren schon mal gesagt – eventuell ergänzen.
Im Kanton Zürich wird anders gemessen, und zwar, indem die Fahrzeuge einzeln auf der Straße gemessen werden. Die machen das seit 1997. Sie kommen übrigens mit ihrer Messmethode zu keinen anderen Ergebnissen als wir; sie können aber die Fahrzeuge isolieren. In Düsseldorf an der Corneliusstraße ist exakt so gemessen worden, und herausgekommen ist, dass 16 Prozent der NO x -Emissionen aus den Bussen der Rheinbahn, des Betreibers des öffentlichen Nahverkehrs dort, resultieren. Die Busse sind jetzt umgestellt. Das hätte man nie herausbekommen, wenn man nicht so exakt gemessen hätte.
({7})
Ich empfehle deshalb, sich im Kanton Zürich zu erkundigen und dort die Experten zu befragen – ich habe es getan –, wie man mit diesen Messmethoden hier in Deutschland umgehen kann. Ich hielte das für einen wichtigen Schritt.
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Letzte Bemerkung. Die FDP fordert so etwas wie einen Fitnesscheck für NO x -Grenzwerte; das steht, glaube ich, wörtlich so im Antrag.
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Da ist der Zweifel an der wissenschaftlichen Validität der Werte, weil epidemiologisch ermittelt und nicht toxikologisch.
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Sie verlangen, dass das Kausalitätsprinzip gilt und nicht das Korrelationsprinzip. Nur ein Hinweis: Die in Ihrem Portfolio befindliche Behauptung, dass Steuersenkungen immer zu Wirtschaftswachstum führen, ist nur korrelativ nachweisbar.
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Wenn wir nur auf Kausalität setzen, können wir jede programmatische Arbeit einstellen.
({12})
Also bleiben Sie bitte bei dem Prinzip.
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Ich hoffe auf spannende Debatten im Detail zu diesen Anträgen, die substanziell – der von den Grünen zum Beispiel – wirklich geeignet sind, die Debatte zu bereichern.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({14})
Vielen Dank, Herr Kollege Klare. – Bevor jetzt bei den Sozialdemokraten die komplette Euphorie ausbricht, will ich sagen, dass als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt die Kollegin Daniela Ludwig für die CDU/CSU-Fraktion zu uns spricht.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Entgegen allen Unkenrufen sind wir bei der Frage über die Zukunft des Diesels und auch bei der Frage, ob wir Fahrverbote in unseren Städten vermeiden können, auf einem durchaus guten Weg.
Es ist viel passiert, meine Kolleginnen und Kollegen haben es schon ausgeführt. Bei den sogenannten Schummelautos sind wir gut unterwegs. Über die Hälfte ist mit Softwareupdates nachgerüstet, die andere Hälfte wird im Laufe des nächsten Jahres folgen, und das ist auch richtig so. Das ist ein deutlicher Fortschritt.
Kommen wir zu denen, die völlig legal mit einer Zulassung auf unseren Straßen umherfahren. Um sie müssen wir uns – natürlich nicht erst seit einem halben Jahr, sondern deutlich länger – Gedanken machen. Diese Gedanken haben das „Sofortprogramm Saubere Luft“ ausgelöst, das sehr gut wahrgenommen wird. Es findet insbesondere in den Städten Anwendung, die es am stärksten betrifft.
Elektrifizierung, Digitalisierung von Verkehr, Elektrifizierung von Bussen und Nachrüstung derselben, wo erforderlich: Auch da sind wir auf einem guten Weg. Aber da müssen wir uns schon ein Stück weit ehrlich machen. Die Kommunen sind hier auch in der Verantwortung. Wir kassieren Fahrverbotsurteile, zum Beispiel in Frankfurt, für Luftreinhaltepläne aus dem Jahr 2011, die völlig überholt sind. Hätte man frühzeitiger gehandelt, dann hätte man dieses Urteil nicht kassiert.
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Zum Zweiten: Die Förderprogramme sind dazu da, dass man sie abruft. Andere Städte nehmen sich berechtigterweise die Millionen aus den Töpfen. Was macht Frankfurt? Frankfurt hat gerade einmal 45 000 Euro abgerufen. Auch da kommt die Stadt ihrer Verantwortung für reine Luft sehenden Auges nicht nach. Da werden wir nachjustieren müssen.
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Jetzt kommen wir zu den vielgepriesenen Hardwarenachrüstungen: Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nehmen Sie bitte von der Versuchung Abstand, die Leute glauben zu machen, dass das eine kurzfristige, schnelle und nachhaltige Lösung des Luftproblems in unseren Städten ist. Das werden die Hardwarenachrüstungen aus mehreren Gründen nicht sein:
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Zum einen sind sie für viele Autos mangels Bauraum technisch nicht möglich. Das gilt für alle Euro-4-Diesel. Die sind dann schon mal raus. Das heißt, hier das Allheilmittel „Hardwarenachrüstung“ – nein!
Zum anderen: Für weite Teile der Euro-5-Pkws ist die Hardwarenachrüstung ebenfalls nicht möglich.
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Wir sind nun mittendrin. Deswegen sage ich noch einmal: Versprechen Sie den Menschen nicht eine schnelle Lösung für ihr Auto; denn sie werden in ein paar Wochen oder Monaten feststellen, dass es diese schnellen Lösungen gar nicht gibt.
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Nachhaltige Lösungen, Tauschprogramme, Rückkaufprogramme – das ist der richtige Weg. Es geht nun einmal nur mit der Automobilindustrie. Rein rechtlich können wir sie nicht verpflichten; ich glaube, das haben wir jetzt alle verstanden. Es geht also nur mit ihr.
Ich begrüße sehr, dass sich VW jetzt – ausgerechnet VW – als Erstes bewegt hat. Ich würde mir wünschen, dass alle anderen deutschen Hersteller auch mitgehen, und ich würde mir ebenfalls wünschen – letztes Wort, Herr Präsident –, dass wir europaweit zu einer Harmonisierung kommen, damit wir auch auf die ausländischen Autos zugreifen können, die keinen allzu geringen Anteil an den Dieselfahrzeugen in Deutschland ausmachen und damit auch keinen allzu geringen Anteil an dem Problem der Luftverschmutzung haben. Das wird ein ganz dickes Brett sein, das wir in Europa bohren müssen.
Wenn wir das alles hinbekommen, dann sind wir auf einem weiterhin sehr guten Weg. Die Luft wird nach wie vor besser. Es wird immer weniger betroffene Städte geben. Lassen Sie es uns gemeinsam angehen, aber versprechen Sie den Menschen nichts, was Sie nicht halten können!
Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Ludwig. Sie hatten noch reichlich Zeit. Ich hatte auch noch nicht geblinkt. 20 Sekunden hatten Sie noch, aber egal.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/4534, 19/4542 und 19/4380 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden?
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– Sie sind gut drauf heute.
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Sie sind damit einverstanden, das sehe ich schon. Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es ist durchaus würdig, dass wir dieses Gesetz zu dem Vertrag mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland noch zu dieser Abendstunde diskutieren. Ich möchte meine Ausführungen mit einem Zitat von Norbert Lammert beginnen. Er sagte hier am 11. Dezember 2003:
Dass es nach den traumatischen Erfahrungen der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts noch jüdisches Leben in Deutschland gibt, dass inzwischen wieder viele Tausend jüdische Bürger hierher gekommen sind, hier leben und arbeiten, hier Kinder großziehen und hier bleiben wollen, das ist die schönste, überwältigende Vertrauenserklärung, die es für die zweite deutsche Demokratie je gegeben hat.
Meine Damen und Herren, besser kann man das kaum zum Ausdruck bringen.
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Dass sich Menschen jüdischen Glaubens wieder in Deutschland zu Hause fühlen, ist sichtbares Zeichen auch dafür, dass wir uns der Schuld der Vergangenheit stellen, dass wir eine offene, demokratische Gesellschaft aufgebaut haben, in der für Antisemitismus kein Platz ist. Das ist keine Selbstverständlichkeit; denn jüdisches Leben in Deutschland war nach den Schrecken der Schoah, nach dem systematischen Massenmord an Millionen von Juden lange Zeit selbstverständlich kaum vorstellbar.
Der Holocaust war nicht nur menschlich ein Zivilisationsbruch, durch ihn ist das Land der Dichter und Denker auch kulturell verarmt; denn selbstverständlich sind die kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften unseres Landes untrennbar verbunden mit vielen berühmten deutschen Juden wie Albert Einstein, Heinrich Heine, Heinrich Hertz, Max Liebermann und vielen anderen. Auch deshalb kann man, glaube ich, heute sagen: Es ist ein großes Glück, dass wieder rund 200 000 Juden in Deutschland leben und unser Land bereichern, meine Damen und Herren.
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Gut die Hälfte, 105 000 Juden in Deutschland, sind in den 108 jüdischen Gemeinden organisiert und werden vom Zentralrat der Juden in Deutschland vertreten. Es ist unsere Aufgabe und es ist unsere historische Verpflichtung, diese positive Entwicklung mit allen Kräften zu unterstützen und den jüdischen Gemeinden in Deutschland bei der Wahrnehmung ihrer umfangreichen Aufgaben unter die Arme zu greifen, meine Damen und Herren. Deshalb sind die 3 Millionen Euro, die zusätzlich ausgegeben werden sollen, gut angelegtes Geld, um die Landesverbände und Institutionen des Zentralrates künftig noch stärker zu fördern – seien es Kitas und Schulen, die der Zentralrat betreibt, sei es für die jüdische Wochenzeitung oder sei es für die Ausbildung am Rabbinerseminar. Ich glaube, das ist das Mindeste, was wir tun können.
Aber das reicht nicht. Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland wieder Bedrohungen und Angriffen schutzlos ausgeliefert sind; wir haben darüber heute bereits diskutiert. Allein im letzten Jahr hat es in Deutschland 947 antisemitische Übergriffe gegeben; das ist ein Anstieg um 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Wir sehen auch daran: Antisemitismus zu bekämpfen, ist eine ständige Aufgabe. Er darf bei uns keinen Platz in der Gesellschaft haben, egal von wo er kommt, von rechts, von links, von den Islamisten oder aus der Mitte der Gesellschaft, meine Damen und Herren.
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Aber es geht nicht nur um Lippenbekenntnisse. Wir brauchen auch in den Parlamenten, hier im Hause und anderswo, einen Grundkonsens, dass der Holocaust nicht relativiert wird und dass Antisemitismus nicht wieder salonfähig gemacht wird. Deswegen will ich auch in aller Deutlichkeit sagen: Die nationalsozialistischen Gräueltaten waren kein Vogelschiss in der deutschen Geschichte,
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und das Holocaustmahnmal unweit des Reichstages ist auch kein Denkmal der Schande.
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Wer so etwas sagt, meine Damen und Herren, der entfernt sich aus der demokratischen Mitte unserer Gesellschaft und der kann hier kein glaubwürdiger Mitstreiter gegen Antisemitismus sein – da helfen auch keine Vereinigungen, die man dann in seiner Partei gründet; das hat keine Glaubwürdigkeit.
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Ich will schließen mit einem Zitat von Richard von Weizsäcker, weil das für meine Generation, glaube ich, ganz zutreffend ist. Er hat in seiner berühmten Rede am 8. Mai gesagt:
Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.
Ich finde, das ist richtig. Deshalb will auch ich meinen Teil leisten, dass jüdisches Leben in Deutschland weiter gedeihen kann. Lassen Sie uns heute und in Zukunft dafür kämpfen, dass jüdisches Leben in Deutschland wieder gedeihen kann; lassen Sie uns die jüdischen Gemeinden in Deutschland unterstützen!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege de Vries. – Als Nächste Frau Kollegin von Storch für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Jüdisches Leben gehört zu Deutschland. Die älteste jüdische Gemeinde siedelte in Mainz in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts. Das jüdische Leben war schon Teil von Deutschland, als Deutschland sich als Nation gründete. – Der Islam war historisch nie zu Deutschland gehörend, das Judentum immer; das ist eine historische Tatsache.
Nach dem Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus wollen wir, dass jüdisches Leben in Deutschland wieder blüht. Gerade angesichts der Tatsache, dass es in Westeuropa durch die Islamisierung in seiner Existenz bedroht ist, müssen wir mit aller Kraft gegensteuern.
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Juden, die in Deutschland eine Kippa tragen, oder jüdische Schüler werden bedroht und geschlagen. Nach Angaben der Zeitung „Jüdische Allgemeine“ sind seit 2006 40 000 Juden aus Frankreich ausgewandert, geflohen vor islamischem Terror und Antisemitismus. Das müssen und wollen wir in Deutschland bitte verhindern.
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Darum unterstützen wir den Antrag, auch wenn wir mit dem Zentralrat der Juden nicht immer einer Meinung sind. Wichtig ist der Dialog zwischen den jüdischen Gemeinden und allen politischen Parteien. Darum freuen wir uns auch, dass sich jetzt die jüdischen Mitglieder der AfD in der Initiative „Juden in der AfD“ zusammenschließen.
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Ich möchte an dieser Stelle klar sagen: Die Art und Weise, wie große Teile der Presse und auch die Altparteien auf unsere jüdischen Mitglieder öffentlich einschlagen, ist nichts anderes als eine Schande.
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Wer wie Herr Lindner die Juden, die sich aus Überzeugung und mit Herz und Leidenschaft in der AfD engagieren, als Feigenblatt bezeichnet,
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der hat ein Antisemitismusproblem.
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Angesichts der Parteigeschichte der FDP – ich sage hier nur: Naumann-Kreis und Möllemann-Affäre – sollte die AfD hier einfach mal den Mund halten.
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Von Ihnen lassen wir uns keine Lektion erteilen, müssen wir auch nicht. Der Naumann-Kreis und die Möllemann-Affäre, das trifft die FDP – keine Ratschläge von der Seite! Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Antisemitismus!
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Die AfD vertritt die konservativen, euroskeptischen und islamkritischen Juden in Deutschland, und von denen gibt es in den jüdischen Gemeinden sehr viel mehr, als Sie das alle wahrhaben wollen. Mit denen stehen wir Seite an Seite für die traditionelle Familie, für ein Europa der Vaterländer und gegen die Islamisierung Deutschlands.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau von Storch, es war wahrscheinlich ein – –
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Frau Künast, wir wissen beide, dass es möglicherweise auch dem Umstand geschuldet ist, dass Frau von Storch, was ich sehr bedaure, FDP und AfD miteinander verwechselt hat. Das kommt im normalen Leben allerdings nicht vor.
Als Nächster spricht zu uns der Kollege Prof. Dr. Lars Castellucci.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als die Missbrauchsstudie Anfang der Woche veröffentlicht wurde, habe ich ein Interview gegeben. Da wurde ich gefragt, warum wir eigentlich überhaupt Geld geben für Kirchen und Religionsgemeinschaften in diesem Land. Die Antwort ist: Das hat etwas mit Religionsfreiheit zu tun. Es ist gut, wenn wir über die Grundwerte, die unseren Staat ausmachen, sprechen können bei dieser Gelegenheit; denn es ist die Religionsfreiheit von allen, sich zu ihrer Religion zu bekennen, und die Freiheit, dafür auch nicht angefeindet zu werden. Das betrifft Jüdinnen und Juden, das betrifft, Frau von Storch, aber auch antiislamische Äußerungen, wie Sie sie hier wieder von sich gegeben haben.
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Das müssen wir zurückweisen; das hat mit unserem Grundgesetz nichts zu tun.
Religionsfreiheit bedeutet, dass man auch frei sein kann von Religion und mit Religion in Ruhe gelassen wird.
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– Da applaudiert der Kollege Birkwald von den Linken, der also willkommen ist auf dem Boden unseres Grundgesetzes. Freiheit zur Religion heißt auch, dass ich meine Religion ausüben kann in diesem Land.
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– Applaus vom Kollegen Birkwald, wunderbar; ich nenne es sozusagen fürs Protokoll gleich mit.
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Freiheit zur Religion heißt aber, wie bei allen Grundwerten auch, dass wir Räume schaffen, dass wir unterstützen und dass wir fördern. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist auch nicht verwirklicht, nur weil sie im Grundgesetz steht, weil es eine Freiheit von uns wäre, sondern wir sind aufgerufen, sie zu fördern.
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Die Religionsfreiheit ist auch nicht einfach gegeben mit dem Grundgesetz; wir sind aufgerufen, sie zu fördern. Deswegen geben wir selbstverständlich Geld für Religion und Kirchengemeinschaften in diesem Land. Heute diskutieren wir über Gelder, die wir mit dem Zentralrat der Juden im Rahmen eines Staatsvertrages verabredet haben, der den Jüdinnen und Juden in diesem Land zugutekommen soll.
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Wenn wir Geld geben, dann werden damit sinnvolle Projekte finanziert, unter anderem gegen Antisemitismus, und das ist dringend nötig.
Es gibt eine neue Studie der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus hier in Berlin, nach der Judenhass hierzulande eine alltägliche Erfahrung von Juden ist. Sie begegnen Antisemitismus im Job, in der Schule, beim Sport, beim Einkaufen. Sie werden angespuckt, beschimpft. Das ist das, was in dieser Studie zu lesen ist. Das ist beschämend, und es muss klar sein: Wir geben Gelder an den Zentralrat der Juden, der damit auch Projekte gegen Antisemitismus finanziert. Aber die Bekämpfung des Antisemitismus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der wir uns alle mit Nachdruck stellen müssen.
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In diesem Zusammenhang will ich auch sagen, dass ich regelrecht schockiert und erschreckt war, als der Vorsitzende des Zentralrats der Juden anlässlich eines Vorfalls im Prenzlauer Berg dazu aufgerufen hat, sich beispielsweise in Berlin nicht alleine mit einer Kippa auf die Straße zu begeben. Wir müssen alles dafür tun, dass jeder Mensch in diesem Land – egal mit welchem religiösen Symbol und egal wer er ist – sicher auf die Straßen gehen kann und keine Angst vor Anfeindungen haben muss. Es ist unsere allererste Aufgabe, für diese Sicherheit zu sorgen.
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Jetzt ist ja immer von Geflüchteten die Rede, die Judenhass importieren. Lassen Sie uns mal ganz nüchtern darüber reden. Wenn man in einer Kultur aufwächst, in der Juden von Geburt an – während des Aufwachsens, in der Sozialisation – als Problem dargestellt werden, dann kommen diese Menschen selbstverständlich nicht als Freundinnen und Freunde von Jüdinnen und Juden hier an; das ist doch klar.
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– Sie können sich wieder beruhigen.
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Genauso ist es, wenn wir sagen: Wir stehen hier für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. – Wir können da Grundgesetze austeilen, aber damit ist jemandem, der in einer ganz anderen Kultur aufgewachsen ist, nicht klar, was das genau bedeutet.
Worauf kommt es an? Es kommt auf ein gutes Beispiel an und aufs Vorleben. Ich will Ihnen ein Beispiel dafür geben, wie das bearbeitet werden kann.
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– Frau Weidel, Sie wollen die Flüchtlinge nicht, und Sie bemühen deswegen alle Argumente, die Ihnen einfallen können, um sich gegen Flüchtlinge zu positionieren.
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Wir wollen die Probleme, die wir sehen und die angesprochen werden müssen, lösen, und wenn Sie mir zuhören würden, würden Sie hören, wie das gehen kann.
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Es gibt nämlich ein gutes Projekt, das der Zentralrat der Muslime gemeinsam mit der Union progressiver Juden in Deutschland aufgesetzt hat.
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Anfang August haben 25 junge Juden und muslimische Flüchtlinge aus dem Irak und aus Syrien die KZ-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau besucht. Das ist eine dieser Gedenkstätten, die von Besuchergruppen von Ihnen in Zweifel gezogen werden und zu der wir blöde Äußerungen hören müssen.
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– Hören Sie mal zu. – Bei dieser Veranstaltung wurde eine gemeinsame interreligiöse Feier gefeiert, und es wurde der Opfer des Nationalsozialismus gedacht.
Ich glaube, mit solchen Projekten können wir die Werte, die unser Land ausmachen, vorleben und einüben. Solche Projekte sollen auch von diesem Geld, das wir an den Zentralrat der Juden geben, unterstützt werden und am besten in ganz Deutschland stattfinden können.
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Vielleicht schließt sich Ihre Besuchergruppe da auch mal an und kann davon auch mal etwas lernen.
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Es ist gesagt worden – und ich schließe mich dem an –: Wir können froh sein, dass in diesem Land heute wieder rund 100 000 Menschen jüdischen Glaubens leben, dass das Leben der Juden plural ist, dass sie hier teilhaben. Wir müssen dafür arbeiten, dass sie das ohne Angst tun können.
Dieser Staatsvertrag ist ein guter Staatsvertrag, und er findet unsere uneingeschränkte Unterstützung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Professor Castellucci. – Als Nächstes spricht für die FDP-Fraktion der Kollege Dr. Stefan Ruppert.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, es ist Zeit, ein wenig innezuhalten und sich zu fragen, wie man Antisemitismus bekämpft. Es ist wahrscheinlich wohlfeil, immer auf eine Gruppe zu zeigen und zu sagen: Antisemitismus geht vor allem von links oder von rechts oder vom Islamismus aus. – Am schwierigsten und am glaubwürdigsten wird es aber, wenn man sich selbst hinterfragt. Und als Vertreter einer Partei der Mitte sage ich: Er geht auch von der Mitte der Gesellschaft aus. – Deswegen ist es für uns alle die Aufgabe, ihn nicht auf einer Seite abzubuchen, sondern den Schmerz zu spüren, den uns diese Äußerungen allen zufügen, und das zu bearbeiten.
Meine Partei hat nach 1945 natürlich antisemitische Äußerungen erlebt. Wir haben uns damit auseinandergesetzt. Wir haben Nazis gehabt, die in die FDP eingetreten sind – wie in andere Parteien übrigens auch. Wir haben das bearbeitet und aufgearbeitet. Wir haben uns davon emanzipiert. Wir haben eine Partei in die Mitte der Gesellschaft geführt, und wir sind sensibel. Damit haben Sie nicht mal angefangen. Im Gegenteil: Sie brechen auf in eine Richtung, die einseitig Antisemitismus zuordnet.
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Wer aufhört, sich selbst Fragen zu stellen, sich zu hinterfragen: „Wo war ich an dem Tag? Was habe ich gemacht?“, der soll nicht andere anklagen und auf andere mit dem Finger zeigen, sondern jeder arbeite bitte auf seiner Baustelle. Ihre ist sicherlich nicht die kleinste, ganz im Gegenteil.
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Es ist sinnvoll, diesen Vertrag abzuschließen. Bei all dem, was wir auch immer bedauernd sagen müssen, weil wir merken, dass Menschen in unserem Land wieder Angst haben, nur weil sie einer bestimmten Glaubensrichtung angehören, ist es sinnvoll, auch mal darüber zu reden, was für wunderbares jüdisches Leben es in Deutschland gibt, wie plural es ist.
Da gibt es die ELES, eine Stiftung für Stipendiaten, die besonders begabt sind. Es gibt liberale Rabbinerseminare, orthodoxe Rabbinerseminare, es gibt gesellschaftliche Initiativen, da bildet sich eine neue jüdische Denkfabrik – morgen mit einer hochinteressanten Konferenz –, da sind Menschen mitten in dieser Gesellschaft. Sie gestalten sie mit und helfen, dass aus der freiheitlich-demokratischen Grundordnung noch mehr wird; sie leben Pluralismus, und dafür sage ich den Jüdinnen und Juden in Deutschland an dieser Stelle ganz herzlichen Dank – genauso wie für die Arbeit des Zentralrats der Juden in Deutschland.
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Jüdisches Leben kann aus der Sicht von uns Deutschen, die wir die deutsche Geschichte und ihre größte Katastrophe kennen, nie aus der Normalperspektive betrachtet werden, und trotzdem wünsche ich mir, dass wir irgendwann in einer Gesellschaft leben, in der wir diese Vielfalt noch stärker wahrnehmen und in der sie uns noch stärker erfreuen kann, weil die Probleme des Antisemitismus etwas kleiner werden. Es wäre leider eine Illusion, zu glauben, dass wir sie jemals ganz beseitigt haben. Nein, diese Fragen – auch an uns selbst – werden immer bleiben.
Herr Kollege Ruppert, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Baumann?
Gerne, ja.
Vielen Dank für die Möglichkeit der Zwischenfrage. – Herr Kollege Ruppert, Sie haben Antisemitismus aktuell wieder mit der AfD in Zusammenhang gebracht,
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aber selber eingestanden, dass die FDP teilweise von Nazis mit aufgebaut worden ist, sie also echte Nazis in der Partei hatte.
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Wissen Sie, dass derjenige, der Mitglied der AfD werden will, eine Erklärung abgeben muss, dass er niemals DVU, NPD oder irgendeine Partei, die was mit Nazismus oder Antisemitismus zu tun hat, unterstützt hat, und ansonsten nicht in die Partei eintreten darf
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und dass derjenige, der das falsch angibt, hinterher aus der Partei wieder rausfliegt? Wir sind die einzige Partei, die mit Sicherheit keine solchen organisierten Nazis hat.
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Ich weiß nicht, wie viele ehemalige NPD-Mitglieder in der CDU sind. Sie selber wissen es ja auch nicht, weil Sie es gar nicht überprüft haben. Wie viele KPD-Mitglieder und DKP-Mitglieder sind in der SPD?
Herr Kollege Dr. Baumann.
Sie wissen es nicht, und die Grünen wissen es auch nicht.
Herr Ruppert, wissen Sie, dass es sich so verhält,
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dass wir die einzige Partei sind, die ganz klarmacht: „Wer jemals in einer extremistischen Organisation war, kann bei uns nicht Mitglied sein“? Wir sind die Einzigen. Bei uns gibt es keine Leute aus antisemitischen Parteien.
({1})
Herr Kollege Baumann, ich glaube, Sie haben eben sehr eindrucksvoll dokumentiert, was der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist. Sie haben die tiefe innere Gewissheit, dass Sie in Ihren eigenen Reihen überhaupt kein Problem haben. Das ist eine, offen gesagt, schon fast realitätsverweigernde Illusion. Jeder hat in seinen Reihen dieses Problem, und ich glaube, ich muss Ihnen nicht das „Mahnmal der Schande“ und den „Fliegenschiss der deutschen Geschichte“ vorhalten.
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Ich kann Ihnen Ihre totale Realitätsverweigerung, die an dem Beitrag zu erkennen ist, den Sie hier eben eine Minute lang gehalten haben: „Es gibt das Problem bei uns nicht, wir müssen uns damit nicht auseinandersetzen, wir sind rein in unseren Reihen“, einfach nicht durchgehen lassen. Wer so von sich spricht, ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems, Herr Baumann.
({1})
Ich sage zur Beantwortung noch einige Sätze mehr. Ich war schon in der FDP, als es Anfang dieses Jahrtausends Äußerungen gab, die mir nicht gefallen haben. Ich war schon im Deutschen Bundestag, als einmal Menschen in diesem Saal nicht aufgestanden sind; es gab hier nämlich sekundären Antisemitismus. Für mich sind beispielsweise Leute wie Frau Pau, die nach mir redet, glaubwürdig, die die Lösung dieses Problems selber aktiv bearbeiten, und nicht Leute wie Sie, die dieses Problem einfach negieren und sich der Realität verweigern.
Vielen Dank.
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Als nächste Rednerin hat das Wort die Vizepräsidentin Frau Kollegin Petra Pau.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Am 6. Juli 2018 wurde ein neuer Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland unterzeichnet. Damit dieser in Kraft treten kann, muss er zum Gesetz erhoben werden. Die Linke wird dem selbstverständlich zustimmen.
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Jüdisches Leben in seiner Vielfalt ist wichtig für unsere Gesellschaft. Der Vertrag sieht vor, die finanziellen Mittel dafür aufzustocken. Auch das begrüßt die Fraktion Die Linke.
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Dieser Vertrag ersetzt natürlich nicht den gemeinsamen Kampf gegen jedwede Form von Antisemitismus im politischen Raum und im Alltag. Diese Auseinandersetzung ist dringender denn je, und zwar über andere politische Unterschiede hinweg.
In jedem Quartal frage ich die Bundesregierung, wie viele antisemitisch motivierte Straftaten registriert wurden. Im ersten Halbjahr 2018 waren es über 400, Tendenz steigend.
Der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, wird mir zustimmen: Diese offiziellen Zahlen stapeln tief – wir erleben es ja auch im Alltag –; das Ausmaß antisemitischer Attacken gegen Jüdinnen und Juden ist viel größer. Umso dringender ist es, gesellschaftliche Initiativen dagegen und vor allen Dingen für Bürgerrechte und Demokratie stärker und verlässlich zu fördern.
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Wer hingegen vorgibt, sich mit Jüdinnen und Juden zu verbünden, um danach gemeinsam gegen Muslime vorzugehen, der hat weder Lehren aus dem Holocaust gezogen noch das Grundgesetz verstanden.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Pau. – Als Nächster für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Dr. Konstantin von Notz.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor gut 15 Jahren wurde durch die rot-grüne Bundesregierung ein längst überfälliger Schritt endlich in die Tat umgesetzt, und es wurde ein Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland geschlossen. Der Vertrag ist eine echte Erfolgsgeschichte: Er hat sich in den vergangenen Jahren als tragfähige Grundlage für eine kontinuierliche und partnerschaftliche Zusammenarbeit bewährt. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass es jetzt zu dieser Erhöhung der jährlichen Staatsleistungen kommt.
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Für uns bleibt es ein zentrales Anliegen, uns auch weiterhin für die Erhaltung und Pflege des deutsch-jüdischen Kulturerbes und für den weiteren Aufbau der jüdischen Gemeinschaft einzusetzen und unseren Teil für den Erfolg der integrationspolitischen und sozialen Aufgaben des Zentralrats der Juden beizutragen.
In großer Dankbarkeit können wir heute, 80 Jahre nach den Pogromen vom November 1938 und 73 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz sagen, dass wieder weit über 100 000 Jüdinnen und Juden in Deutschland leben.
Seit seiner Gründung 1950 hat der Zentralrat große Leistungen zum Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden in Deutschland und zur Integration nach Deutschland zurückgekehrter und zugewanderter Juden vollbracht. Auch die religiöse Pluralität bedeutet eine Integrationsaufgabe. Dies betrifft die Rabbiner- und Kantorenausbildung ebenso wie die Aufgabe, auch diejenigen Jüdinnen und Juden mitzunehmen, deren Bezüge zum Judentum sich mittlerweile weniger religiös und mehr kulturell gestalten. Die Präsenz der Vielfalt jüdischen Lebens ist heute für unsere Gesellschaft ebenso wichtig wie bereichernd, und sie ist angesichts unserer Geschichte ein Glück und ein Wunder.
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Wir erleben derzeit eine neue Intensität von sich verbal und physisch ausdrückendem Antisemitismus. Die jüngsten offen rechtsextremen und antisemitischen Ereignisse in Dortmund sind beschämend. Die ständigen Relativierungen der historischen Verantwortung Deutschlands sind unerträglich. Dieser Antisemitismus, der in unserer Gesellschaft ständig wieder hochkommt, ist etwas, was wir ganz entschieden bekämpfen müssen, und dafür braucht es Geschlossenheit hier in diesem Haus.
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Die Benennung eines Antisemitismusbeauftragten durch die Bundesregierung war ein erster wichtiger Schritt; aber auch die weiteren Maßnahmen aus unseren gemeinsamen Initiativen zum Kampf gegen Antisemitismus müssen nun schnellstmöglich umgesetzt werden.
Zum Abschluss möchte ich, heute, am vierten Tag von Sukkot, dem jüdischen Laubhüttenfest, und mitten in den hohen Feiertagen nicht die Chance verpassen, den Jüdinnen und Juden in Deutschland ein verspätetes glückliches neues Jahr und ein herzliches „Chag Sukkot sameach“ zu wünschen.
Ganz herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. von Notz. – Als letztem Redner erteile ich das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Marco Wanderwitz.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 27. Januar 2003, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, stellte die Bundesrepublik die Förderung jüdischen Lebens in Deutschland auf eine neue Grundlage. Seither erhält der Zentralrat der Juden in Deutschland eine finanzielle Förderung in Form einer jährlichen Staatsleistung, die durch einen Vertrag rechtlich verbindlich festgelegt ist. Damit unterstützt die Bundesrepublik den Zentralrat der Juden in Deutschland bei seinen überregionalen Aufgaben und trägt zur Erhaltung und Pflege unseres deutsch-jüdischen Kulturerbes sowie zum weiteren Aufbau der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland bei. Der Zentralrat der Juden in Deutschland ist seinem Selbstverständnis nach für alle Richtungen des Judentums offen. So kommt diese Förderung der gesamten vielfältigen jüdischen Gemeinschaft in unserem Land zugute.
Der Vertrag sieht unter anderem vor, dass sich die Vertragspartner nach Ablauf von jeweils fünf Jahren über eine Anpassung der Staatsleistung verständigen. Das ist bisher zweimal geschehen, 2008 und 2012. Am 6. Juli 2018 haben Bundesminister Horst Seehofer und der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, sowie die Vizepräsidenten, Abraham Lehrer und Mark Dainow, einen weiteren Änderungsvertrag unterzeichnet. Damit soll die Staatsleistung ab dem Haushaltsjahr 2018 auf 13 Millionen Euro erhöht werden. Über die gesetzliche Anpassung des Vertrages haben wir heute hier im Deutschen Bundestag zu entscheiden.
Sehr verehrte Damen und Herren, der Zentralrat der Juden in Deutschland hat die Erhöhung der Staatsleistung vor allem deshalb erbeten, um seine Bildungsangebote erweitern zu können, die Erinnerungsarbeit neu auszurichten und sein Engagement gegen Antisemitismus insgesamt verstärken zu können. Die Bundesregierung hält es für unerlässlich, den Zentralrat dabei zu unterstützen. Es ist beschämend, dass Antisemitismus in unserem Land noch immer präsent ist, dass er sogar in seinen unterschiedlichen Ausprägungen in unserer Gesellschaft weiter zunimmt. Der Antisemitismus war zentraler Bestandteil der nationalsozialistischen Propaganda und hat sich tief in die persönliche Denkweise vieler Menschen in Deutschland eingeprägt.
Nicht nur die Anzahl antisemitischer Straftaten führt uns vor Augen, dass diese Denkweise noch immer in unserer Gesellschaft vorhanden ist; vielmehr nehmen leider auch antisemitische Übergriffe, Beleidigungen und Pöbeleien ebenso wie die Verbreitung von antisemitischen Verschwörungsfantasien zu. Vor allem das Internet bietet dafür leider einen fruchtbaren Nährboden und dient Gleichgesinnten dazu, ihr krudes Gedankengut auszutauschen und sich gegenseitig darin zu bestärken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere jüdischen Bürger fühlen sich leider zunehmend unsicher in Deutschland. Auch mehr als 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und damit dem Ende der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten müssen jüdische Einrichtungen noch immer besonders geschützt werden. Synagogen stehen unter Polizeischutz, jüdische Schulklassen werden von Wachpersonal begleitet, Juden werden auf offener Straße angefeindet, weil sie als Juden erkennbar sind. Dieser Zustand ist nicht hinnehmbar, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Wir alle sind aufgefordert, fest an der Seite der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland zu stehen. Und die Erhöhung der Staatsleistungen an den Zentralrat der Juden ist ein wichtiges, ein sichtbares Zeichen für diesen Schulterschluss.
Wir alle sind, glaube ich, sehr dankbar dafür, dass sich nach den furchtbaren Verbrechen der Nationalsozialisten wieder jüdisches Leben in Deutschland angesiedelt hat, dass es wieder eine lebendige jüdische Gemeinschaft in unserem Land gibt. Die Erhöhung der Staatsleistungen ist eine konkrete Unterstützung für die Festigung und den weiteren Aufbau dieser Gemeinschaft. Deshalb bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dem Gesetzentwurf zuzustimmen, damit der Vertrag in Rechtskraft erwachsen kann.
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Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. Mit Ihren letzten Worten schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/4457 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das sehe ich nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen.