Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/13/2017

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vom Oktober 2015 wurde eine Berichtspflicht über die dort bezeichneten sicheren Herkunftsstaaten eingeführt. Die Bundesregierung legt dem Deutschen Bundestag danach alle zwei Jahre einen solchen Bericht vor, ob die Voraussetzungen für die Einstufung von solchen Staaten als sichere Herkunftsstaaten vorliegen. Der Bericht liegt Ihnen vor. Der Bericht wurde von meinem Haus in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt für den Berichtszeitraum vom 1. Oktober 2015 bis zum 31. Juli 2017 erstellt. Der Bericht schildert die Entwicklung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, die rechtliche Lage und die tatsächliche Rechtsanwendung in den sicheren Herkunftsstaaten sowie die Entwicklung des Asylgeschehens in Deutschland. Grundlage dieser Schilderung sind aktuelle Lageberichte des Auswärtigen Amtes sowie Auswertungen der Asylstatistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass alle acht Staaten weiterhin die Voraussetzungen für eine Einstufung als sichere Herkunftsstaaten erfüllen. Die Entwicklung in diesen Ländern gibt keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, diese Einstufung zu verändern. Insbesondere ist nach Auffassung der Bundesregierung weiterhin gewährleistet, dass in den acht Staaten generell und durchgängig weder politische Verfolgung noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung noch Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes zu befürchten sind. Ein Indikator dabei ist die sogenannte Gesamtschutzquote. Die Gesamtschutzquote ergibt sich aus der Anzahl der Asylanerkennungen, der Gewährung von Flüchtlingsschutz und der Feststellung eines Abschiebeverbots im Verhältnis zur Gesamtzahl der Asylentscheidungen im Berichtszeitraum. Innerhalb dieses Zeitraums ist die Gesamtschutzquote in allen Ländern zwar tendenziell leicht angestiegen; es handelt sich dabei aber um sehr geringe Veränderungen. Nach wie vor hatten Asylanträge aus den in Rede stehenden acht Ländern in weit über 90 Prozent der Fälle keine Aussicht auf Erfolg. Für die Westbalkanstaaten lag die Gesamtschutzquote fast durchgängig bei unter 3 Prozent. Für die beiden afrikanischen Staaten gab es im Berichtszeitraum starke Schwankungen: Für Ghana lag sie zwischen 1,0 und 6,1 Prozent. In den sieben Quartalen des Berichtszeitraums lag sie fünfmal unter und nur zweimal über 5 Prozent. Für den Senegal lag sie zwischen 0 Prozent und 5,7 Prozent. In den sieben Quartalen lag sie sechsmal unter und nur einmal über 5 Prozent. Insgesamt hat sich die Zahl der Asylsuchenden aus all diesen Ländern erheblich reduziert. Auch die Dauer der Asylverfahren wurde verkürzt. All das zeigt: Das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten wirkt. Dennoch: Jeder Antrag wird vom Bundesamt individuell geprüft. In jedem Asylverfahren wird eine persönliche Anhörung durchgeführt, in der ein Antragsteller seine Situation im Herkunftsland schildern kann. Wir setzen mit der Einstufung als sichere Herkunftsstaaten aber ein Signal, indem wir sagen: Begeben Sie sich nicht auf die kostspielige und gefährliche Reise nach Deutschland, wenn Sie eigentlich gar keinen internationalen Schutz suchen. Chancenlose Asylanträge werden schnell abgelehnt, und abgelehnte Asylbewerber werden schnell in ihre Heimatstaaten zurückgeführt. ({0}) Wir wollen weiter unsere Aufnahmekapazitäten für die Menschen bereitstellen, die wirklich Schutz brauchen. In der EU nutzen 16 Staaten das Instrument der sicheren Herkunftsstaaten. Deutschland gehört dabei zu den Staaten mit der kleinsten Liste. Die Niederlande zum Beispiel haben 25 Staaten zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt, Frankreich 16 Staaten und Österreich 19 Staaten. Mit der Umsetzung des Konzeptes der sicheren Herkunftsstaaten setzen wir weiter auf die große Hilfsbereitschaft gegenüber wirklich verfolgten Menschen, aber eben auch auf eine kluge und wohlüberlegte Reduzierung des Zuzugs derjenigen, die nicht verfolgt werden.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Bevor ich das Wort zur ersten Frage erteile, möchte ich unsere Ein-Minuten-Regelung erläutern. Es hat sich seit längerem bewährt, für Frage und Antwort jeweils nur eine Minute zu verwenden, um möglichst vielen die Gelegenheit zu geben, Fragen zu stellen. Um Sie bei der Einhaltung der Minute zu unterstützen, gibt es optische Signale. Die Uhren oberhalb der Hammelsprungtüren sowie rechts und links von mir zeigen jeweils die verbleibende Restredezeit in Sekunden an. Zusätzlich gibt es ein Lichtsignal, das zunächst grün leuchtet. Die letzten 30 Sekunden werden gelb gezeigt, und nach Ablauf einer Minute beginnt es rot zu blinken. Wenn es rot blinkt, muss der Präsident irgendetwas tun. Jetzt bitte ich, zunächst Fragen zu dem Themenbereich, über den der Bundesinnenminister eben berichtet hat, zu stellen. Es wurde eine ganze Reihe von Fragen angemeldet. Die erste Frage stellt der Kollege Marian Wendt von der CDU/CSU-Fraktion.

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Guten Morgen, Herr Minister! Vielen Dank für diesen Bericht. Das ist ein sehr wichtiges Thema für unser Land. Meine erste Frage lautet – in Absprache mit den Kollegen aus unserer Fraktion würde ich noch weitere Fragen stellen –: Welche Faktoren haben aus Ihrer Sicht und aus Sicht der Bundesregierung zu der laut Bericht positiven Entwicklung beigetragen, also dazu, dass die Zahl der Asylsuchenden und die Schutzquote gesunken sind? Insbesondere die Zahl der Asylsuchenden aus den Westbalkanstaaten ist – das haben Sie ja erläutert – sehr stark zurückgegangen. Welche Faktoren in den jeweiligen Staaten sind aus Ihrer Sicht für diese positive Entwicklung ursächlich? Vielen Dank.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Bundesminister.

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Zunächst einmal ist es natürlich eine politische Aussage, dass die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates – ein solches Gesetz bedarf ja der Zustimmung des Bundesrates – der Auffassung sind, dass ein solches Land ein sicheres Herkunftsland ist. Das ist ein klares politisches Signal. Zweitens sind an diese Einstufung rechtliche Folge geknüpft: verkürzte Asylverfahren, Beweislastumkehr – trotzdem eine Anhörung –, sehr kurze Fristen zur Einlegung einer Klage, wobei die Klage keine aufschiebende Wirkung hat. All das führt zu einer Beschleunigung. Schließlich haben wir mit dem Asylpaket II die Regelung geschaffen, dass Antragsteller aus sicheren Herkunftsstaaten in Einrichtungen untergebracht werden können, das Verfahren dort stattfindet, für die Betroffenen dort eine Wohnpflicht besteht, eine Verletzung dieser Wohnpflicht Auswirkungen auf das Asylverfahren hat und aus den Einrichtungen zurückgeführt werden kann. All das zusammengenommen führt zu einer erheblichen Reduzierung der Zahl.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage hat der Kollege Dr. Gottfried Curio von der AfD-Fraktion.

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Bundesminister des Innern, Sie haben gerade ausgeführt, dass Deutschland die kleinste Liste sicherer Herkunftsstaaten in Europa hat. Das wirft natürlich die Frage nach der Objektivität der Auswahl auf. Vor diesem Hintergrund möchte ich im Namen meiner Fraktion fragen: Wann gedenkt die Regierung, die Maghreb-Staaten in die Liste der sicheren Herkunftsstaaten aufzunehmen, soweit es in ihrer Verfügungsmacht steht? Solange es nicht dazu kommt, welche Maßnahmen sind dann ersatzweise zur Umsetzung einer beschleunigten Abschiebung von nicht bleibeberechtigten Personen aus diesen Herkunftsstaaten geplant, insbesondere vor dem Hintergrund der Frage, ob es sinnvoll ist, abzuschieben, solange die deutschen Grenzen de facto nicht wirklich geschlossen sind?

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Herr Abgeordneter Curio, Deutschland hat nicht die kürzeste Liste. Zum Beispiel hat Irland nur Südafrika als sicheres Herkunftsland eingestuft. Sie finden diese Liste auf den Seiten 37 und 38 des Berichts. Aber, wie gesagt, Deutschland gehört zu den Staaten mit einer kleineren Liste. Die bisherige Bundesregierung war der Auffassung, dass die Maghreb-Staaten ebenfalls als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden sollten. Es gab einen entsprechenden Gesetzentwurf, den der Deutsche Bundestag mit der alten politischen Mehrheit beschlossen hat. Der Bundesrat hat dem nicht zugestimmt. Deswegen ist dieser Gesetzentwurf jetzt der Diskontinuität anheimgefallen. Die Verhandlungen, die dazu vielleicht noch stattfinden werden, werden das sicherlich zum Gegenstand haben. Die geschäftsführende Bundesregierung ist personen­identisch mit der bisherigen. Deswegen vermute ich, dass sich die politische Einschätzung dazu nicht geändert hat. Aber ich hielte es für klug, einen solchen Gesetzentwurf erst dann einzubringen, wenn sich dafür zumindest im Bundestag eine klare Mehrheit abzeichnet.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage hat der Kollege ­Thomae von der FDP-Fraktion.

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident, und vielen Dank, Herr Minister, für den Bericht der Bundesregierung. Ich habe zwei Fragen. Meine erste Frage. Bislang ist die Einstufung als sicheres Herkunftsland auch am Widerstand der Länder gescheitert. Welche Maßnahmen plant die Regierung und welche Strategien verfolgt die Bundesregierung, um im Bundesrat künftig die notwendige Mehrheit zu erhalten? Meine zweite Frage. Die Einstufung als sicheres Herkunftsland stellt zunächst einmal nur eine Beweislastumkehr dar. Sie haben schon erläutert, dass die Möglichkeit bestehen soll, im Rahmen einer Anhörung darzulegen, dass eine Person individuell verfolgt wird. Ist das vielleicht nicht nur eine theoretische Möglichkeit, oder welche Maßnahmen ergreifen Sie, um sicherzustellen, dass es für die Schutzsuchenden auch eine echte Chance ist, diese Beweisführung anzutreten?

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Zur ersten Frage. Das beste Argument für den Bundesrat, einem Gesetzentwurf des Bundestages zuzustimmen, ist ein überzeugender Gesetzentwurf. Dazu würde zum Beispiel gehören, wie es der baden-württembergische Ministerpräsident immer sagt, dass die abschließende Entscheidung über die politische Einschätzung eines Drittstaates vorrangig der Bundesregierung und nicht dem politischen Koordinatensystem in einem Bundesland überlassen werden sollte. Das wäre, glaube ich, schon ein sehr überzeugender Weg, eine Mehrheit im Bundesrat zu ermöglichen. Allerdings muss jetzt erst einmal ein neuer Gesetzentwurf, der das regelt, auf den Tisch. Zur zweiten Frage. Sie sehen ja, dass die Anerkennungsquoten nicht bei null liegen, sondern schwanken. Sie schwanken auch quartalsweise; das ist diesem Bericht zu entnehmen. Es kommt durchaus vor, dass der Rechtsstaat so reagiert, dass ein Schutzstatus bejaht wird, wenn jemand glaubhaft versichern kann, dass in seinem Einzelfall eine politische Verfolgung vorliegt. Die Anerkennungsquote, die zwar sehr niedrig ist, die es aber gibt, zeigt, dass das Verfahren funktioniert. Trotzdem muss natürlich nicht das ganze Arsenal der langen Verfahren genutzt werden, wenn die Chancen sehr gering sind.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage hat die Kollegin Jelpke, Fraktion Die Linke.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Präsident. – Herr Minister, auf eine schriftliche Frage im November letzten Jahres habe ich die Antwort bekommen, dass Sie im Wesentlichen die Lageberichte des Auswärtigen Amts bei einer erneuten Überprüfung der sicheren Herkunftsstaaten beigezogen haben. Ich würde gerne wissen: Warum sind keine NGOs einbezogen worden? Wenn das doch der Fall war: Welche sind einbezogen worden? Sie wissen ja, dass auch das Bundesverfassungsgericht das vorgeschrieben hat.

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Frau Abgeordnete Jelpke, in dem Bericht ist überzeugend dargelegt, wie die Bundesregierung die tatsächliche und die politische Lage in diesen Staaten einschätzt. Das fußt wesentlich auf den Lageberichten des Auswärtigen Amtes, die innerhalb der Bundesregierung aber abgestimmt werden, etwa auch mit dem BMZ, und auch die Integrationsbeauftragte war beteiligt. In die Lageberichte des Auswärtigen Amtes fließen selbstverständlich auch NGO-Berichte aus diesen Staaten mit ein.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die nächste Frage hat die Kollegin Polat von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Minister, vor dem Hintergrund, dass die Bundesregierung selbst in einer Antwort auf eine Bundestagsanfrage bestätigt hat, dass in den Ländern Senegal und Ghana beispielsweise Schwule und Lesben strafrechtlich verfolgt werden oder das gesetzliche Verbot der Genitalverstümmelung ebenso wenig durchgesetzt wird wie das Verbot der Kinderversklavung – ich könnte noch weitere Punkte nennen –, möchte ich Sie fragen: Welche Erkenntnisse hat der Evaluationsbericht bezüglich der Länder Senegal und Ghana? Man muss dazu wissen: Diese Länder sind bereits 1993 als sicher eingestuft worden. Zu diesem Zeitpunkt war die sexuelle Orientierung noch kein Asylgrund. Welche Erkenntnisse haben Sie hinsichtlich dieser Lage? Ich denke, sie ist sehr eindeutig.

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Frau Abgeordnete, in dem Bericht finden Sie die ausführliche Einschätzung der Lage. Zur sexuellen Orientierung will ich Ihnen aber gerne Folgendes sagen: Gemäß dem Urteil des EuGH vom 7. November 2013 ist das Unionsrecht dahin gehend auszulegen, dass der bloße Umstand, dass solche sexuellen Handlungen unter Strafe gestellt sind, als solcher keine Verfolgungshandlung darstellt. Vielmehr muss insbesondere die Praxis der staatlichen Behörden und Gerichte mitbetrachtet werden. Die Rechtsvorschriften werden etwa in den Maghreb-Staaten in der Praxis weniger gegen Einzelpersonen als vielmehr zur Verhinderung der Gründung von Organisationen herangezogen, die sich für die Rechte dieses Personenkreises einsetzen. Das Thema wird immer noch gesellschaftlich tabuisiert. Eine systematische Verfolgung homosexueller Personen findet in diesen Staaten nach Kenntnis der Bundesregierung nicht statt. Wenn das in Ghana und im Senegal anders ist, dann gibt es eben auch die Möglichkeit, den Schutzstatus zu bekommen – aber nur in diesen Einzelfällen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke. – Die Frau Kollegin Lindholz, CDU/CSU, hat jetzt die nächste Frage.

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Minister, zunächst einmal vielen Dank für Ihren Bericht. Ich habe zwei Fragen. Erste Frage. Sie haben vorhin ausgeführt, dass die europäischen Länder unterschiedliche Listen mit einer unterschiedlichen Anzahl von sicheren Herkunftsstaaten angefertigt haben. Wäre es nicht sinnvoll, eine gemeinsame europäische Liste zu haben? Würden Sie diesen Vorschlag unterstützen, und wie ist hier auch die Diskussion auf EU-Ebene? Eine zweite Frage. Sie haben gerade dargelegt, dass schutzbedürftige Menschen nach der Einzelfallprüfung einen Schutzanspruch bekommen können. Es ergibt sich auch aus der Zusammenfassung des Berichts: Die Schutzquote hat sich nicht verändert. – Wir diskutieren nach wie vor über die Einstufung von Algerien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsländer. Wäre es da, um in der Zukunft ständige Diskussionen zu vermeiden, in Hinblick auf Deutschland nicht sinnvoll, eine Art Automatismus einzuführen? Wenn ja, welchen Vorschlag hätten Sie hier für uns? Danke schön.

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Frau Abgeordnete Lindholz, zur ersten Frage. In der Tat ist in den Verhandlungen zum gemeinsamen europäischen Asylsystem die Frage einer europäischen Liste Gesprächsgegenstand. Die Kommission hatte vorgeschlagen, dass solche Listen auf europäischer Ebene eingeführt werden, sie dann fünf Jahre parallel gelten und danach die nationalen Listen ihre Gültigkeit verlieren und nur noch die europäische Regelung gilt. Das hat, jedenfalls auf Ratsebene, keine Mehrheit unter den Mitgliedstaaten gefunden, auch weil es in bestimmten Staaten eben traditionelle Bindungen, etwa nach Afrika, gibt: Frankreich zu bestimmten Staaten, die Niederlande zu bestimmten Staaten, auch Portugal zu bestimmten Staaten. Diese sagen: Wir werden uns von Europa nicht vorschreiben lassen, wie wir den Status dieser Länder einschätzen. – Somit geht der bisherige Vorschlag der Präsidentschaft aus Estland dahin, dass die Listen nebeneinander bestehen. Wie das dann zum Schluss verhandelt wird, wird man sehen. Zur zweiten Frage. Es gibt in der Tat in der politischen Debatte einen Vorschlag, der dahin geht, zu sagen: Immer dann, wenn eine Gesamtschutzquote einen bestimmten Wert nicht erreicht –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt muss ich wohl eingreifen.

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

– ja –, meinetwegen 5 oder 10 Prozent, dann muss ein Gesetz gemacht werden, mit dem die Einstufung festgelegt wird. Aber – –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr.

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Ja, gut.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat die nächste Frage der Kollege Herrmann von der AfD-Fraktion.

Lars Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004748, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Minister, Tunesien ist ein Urlaubsland. Es steht nicht auf der Liste der sicheren Herkunftsländer. Die Anerkennungsquote von Asylanträgen tunesischer Staatsangehöriger liegt zwischen 0,2 Prozent und 0,3 Prozent. Daher meine Frage: Halten Sie die aktuelle Abschiebepraxis, dass nämlich ein komplettes Flugzeug für 25 Tunesier angemietet wird, vor dem Hintergrund offener Grenzen und der Tatsache für effektiv, dass die abgeschobenen Asylbewerber innerhalb kürzester Zeit wieder nach Deutschland zurückkehren und erneut ins Asylverfahren eintauchen? In der Gesamtbetrachtung der Umstände frage ich Sie: Wann genau wollen Sie denn mit den Abschiebungen fertig werden?

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Herr Abgeordneter, Tunesien ist bisher das einzige Land der drei Maghreb-Staaten, das Charterflüge überhaupt akzeptiert. Marokko und Algerien lehnen Charterflüge für die Rückführung ab. Deswegen ist die Bereitschaft Tunesiens, Charterflüge für bis zu 25 Personen durchzuführen, ein Fortschritt. Das ist zu begrüßen. Zweitens. Die Betroffenen bekommen natürlich mit der Ausreise eine Wiedereinreisesperre. Wenn sie dann wieder hier einreisen, halten sie sich hier illegal auf, was auch Auswirkungen auf das Asylverfahren hat. Dass wir weiterhin über die Beschleunigung der Asylverfahren sprechen, ist klar. Heute Abend kommt mein algerischer Kollege zu Besuch. Dann werde ich mit ihm dieses Thema weiter erörtern.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Nächste Frage: der Kollege ­Straetmanns, Fraktion Die Linke.

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Folgende Frage bitte ich zu beantworten: Kann die Bundesregierung bestätigen, dass sie sich bei der Überprüfung ausschließlich oder überwiegend auf Einschätzungen des Auswärtigen Amtes gestützt hat? Dazu gehört im Grunde die Frage: Inwieweit ist die Überprüfung nach § 29a Absatz 2a Asylgesetz vor diesem Hintergrund eine bloße Pro-forma-Prüfung mit einem bereits vorab feststehenden Ergebnis? Dazu interessiert mich insbesondere, ob es auch Rücksprachen und Konsultationen mit dem UNHCR oder mit Menschenrechtsorganisationen gegeben hat.

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Herr Abgeordneter, ich habe Ihre Frage mit der Beantwortung der Frage der Abgeordneten Jelpke schon beantwortet. ({0}) Auch NGO-Berichte, Gespräche und Berichte aus den Botschaften, deren Vertreter wiederum Gespräche mit Oppositionellen und Vertretern vor Ort geführt haben, ergeben zusammengesetzt einen Lagebericht des Auswärtigen Amts. Ich finde, die Sachkunde unseres Auswärtigen Amts nach Einbeziehung aller möglichen Gesprächspartner ist sehr hoch einzuschätzen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage hat der Kollege Lehmann von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Sven Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004801, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Minister! Vielen Dank für Ihren Bericht. Ich würde gerne eine Frage zu dem stellen, was Sie nicht berichtet haben, nämlich zum Ansinnen der Bundesregierung, die Einstufung als sichere Herkunftsländer auf Marokko, Tunesien und Algerien auszuweiten – ein Gesetz, das vom Bundesrat abgelehnt worden ist. Es gibt neueste Äußerungen zum Beispiel des Menschenrechtsministers – ich betone: des Menschenrechtsministers – in Marokko, Mustapha Ramid, der zu einem Journalisten Folgendes gesagt hat – ich zitiere –: Hören Sie, wir sind in Marokko. Hören Sie auf, über Homosexuelle zu sprechen! Wenn wir weiter darüber sprechen, geben wir diesen Leuten einen Wert. Sie sind Müll. Es gibt zig Äußerungen, die sich auch auf Frauen, auf kritische Oppositionelle, auf Journalistinnen und Journalisten beziehen. Ich möchte Sie angesichts dieser Menschenrechtslage in diesen Ländern fragen, ob Sie allen Ernstes daran festhalten, diese Länder als sichere Herkunftsländer zu deklarieren, und falls das der Fall ist, möchte ich Sie bitten, zu beantworten, was Sie Homosexuellen, die einen Antrag beim BAMF stellen, raten, um ihre Homosexualität nachzuweisen, nachdem sie aus Ländern fliehen, in denen das teilweise unter Todesstrafe steht.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke.

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Zunächst möchte ich Sie, Herr Abgeordneter, nur leicht korrigieren. Der Bundesrat hat das Gesetz nicht abgelehnt, sondern er hat ihm nicht zugestimmt. Das ist ein erheblicher Unterschied. Wenn man gezählt hätte, ob es dafür eine Mehrheit gegeben hätte, dann wäre die Sache vielleicht ein bisschen anders. Aber das Grundgesetz verlangt eine förmliche Zustimmung des Bundesrates; diese ist nicht zustande gekommen. Nun könnte ich zu Ihrer Frage als persönliche Meinung sehr viel sagen. Meine persönliche Meinung ist, glaube ich, in der Öffentlichkeit auch bekannt. Aber ich stehe hier für die geschäftsführende Bundesregierung, und die geschäftsführende Bundesregierung hat sich noch keine abschließende Meinung darüber gebildet, ob ein solcher neuer Gesetzentwurf eingebracht werden soll. Deswegen kann ich meine persönliche Meinung nicht mit einer nicht stattgefundenen Abstimmung innerhalb der Bundesregierung gleichsetzen. Da aber, wie gesagt, die Personen und auch die Parteizugehörigkeit identisch sind, vermute ich, es würde das gleiche Ergebnis herauskommen, dass wir erneut einen solchen Gesetzentwurf einbringen würden, wenn wir eine Konsultation beginnen würden. ({0}) – Ja, Konjunktiv.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage hat der Kollege Frieser von der CDU/CSU-Fraktion.

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, Sie haben bereits den europäischen Kontext erwähnt. Das ist eine ganz wesentliche Diskussion – die man in den betreffenden sicheren Herkunftsstaaten auch nachvollzieht –, um – in der Kurzfassung – den Pull-Faktor zu vermeiden und den Menschen dort die Nachricht zu übermitteln, sich nicht auf diesen lebensgefährdenden, unsicheren Weg zu machen, wenn es tatsächlich wenig Aussicht auf Erfolg gibt. Wenn schon über die Anzahl der sicheren Herkunftsstaaten auf den europäischen Listen keine Einigkeit besteht: Ist man sich denn hinsichtlich der Rechtsfolgen im eigenen Land – Sie haben die Rechtsfolgen genannt, wie eine Verkürzung des Verfahrens – einigermaßen einig, dass es zu einer Harmonisierung auf Europaebene kommt? Denn auch das hat bezüglich der – in Anführungszeichen – „Werbewirksamkeit“ in den betreffenden Staaten eine ganz wesentliche Wirkung.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr, Herr Kollege.

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Haben Sie das Gefühl, dass diese Nachricht dort bei den betroffenen Menschen, die sich mit ihrer nicht erfüllbaren Sehnsucht und ihren Wünschen auf den Weg nach Europa begeben wollen, tatsächlich ankommt?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke.

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Das gemeinsame europäische Asylsystem, Herr Abgeordneter Frieser, besteht aus vielen Richtlinien und Verordnungen: Qualifikationsverordnung, Aufenthaltsrichtlinie, Verfahrensrichtlinien. All das, was Sie ansprechen, spielt dabei eine Rolle: Darf gearbeitet werden, wenn man hier ist? Gibt es abgesenkte Leistungen, ja oder nein? Gibt es eine Wohnpflicht, ja oder nein? Gibt es erleichterte Abschiebungsbedingungen? Und vieles andere mehr. Es gibt Fortschritte für eine Vereinheitlichung in der Europäischen Union, diese Fragen so zu regeln, dass es auch nicht zu einer Sekundärmigration kommt. Es ist für uns in Deutschland immer ein sehr wichtiger Punkt, dass dann, wenn es in einem Land eine Entscheidung gibt oder eine Entscheidung möglicherweise in eine bestimmte Richtung geht, der betreffende Asylbewerber nicht sagt: Dann gehe ich in ein anderes Land und probiere es dort noch einmal. Deswegen haben wir ein Interesse an einer solchen Vereinheitlichung. Ergebnisse gibt es noch nicht, weil wir bisher verhandelt haben, dass alle diese Regelungen im Paket so bleiben, dass wir am Ende ein gemeinsames Asylpaket und nicht Einzelregelungen haben.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage hat die Kollegin von Storch von der AfD-Fraktion.

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Minister! Seit Mitte September 2015 werden wieder Grenzkontrollen durchgeführt. Sie haben das in Ihrer Pressekonferenz am 13. September 2017 erklärt. Damit ist § 18 Absatz 2 Satz 1 des Asylgesetzes wieder anwendbar. Darin heißt es: Dem Ausländer, der um Asyl nachsucht, „ist die Einreise zu verweigern, wenn er aus einem sicheren Drittstaat … einreist“. Deswegen lautet meine Frage: Auf welcher Rechtsgrundlage reisen die Menschen aus sicheren Drittstaaten seit der Einführung der Grenzkontrollen weiter bei uns ein? Welche Rechtsgrundlage nehmen sie in Anspruch?

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Herr Präsident, darf ich die Frage beantworten? Sie betrifft nicht unmittelbar die sicheren Herkunftsstaaten.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Na, ach Gott, ja.

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Ich frage ja nur.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ich würde Sie darum bitten, Herr Minister.

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Gut. – Die Frage überrascht mich jetzt auch nicht total. Ich wollte es nur klären wegen der Regeln in der Regierungsbefragung. Frau Abgeordnete von Storch, die Entscheidung habe ich getroffen; das habe ich auch der Öffentlichkeit mitgeteilt. Ich bin der dafür zuständige Minister. Die Bestimmungen des Asylgesetzes, auf die Sie abstellen, sind durch europäisches Recht überlagert. Dazu gehört zum Beispiel die Feststellung, welcher Staat zuständig ist. Dazu gehört auch die Frage, ob Deutschland zuständig ist. All das könnte – wieder irreal – zum Beispiel in Transitzentren geklärt werden. Solange das nicht der Fall ist, ist jedenfalls im Regelfall das europäische Recht vorrangig gegenüber den Bestimmungen, die Sie genannt haben.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Ich würde, liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt noch eine Frage der Kollegin Scheer von der SPD-Fraktion zulassen und Sie bitten, dass wir dann im Einvernehmen die Regierungsbefragung beenden; denn die Zeit, die wir jetzt zu viel in Anspruch nehmen, geht von der Zeit für die Fragestunde ab. Für die haben wir in dieser Woche aber auch nur 45 Minuten vorgesehen, und das bei 55 eingebrachten Fragen. ({0}) – Fragen zu anderen Geschäftsbereichen sind erlaubt. Dann müssten wir die Fragestunde aber weiter verkürzen. ({1}) – Na gut, dann machen wir mit der Befragung der Bundesregierung noch weiter; aber wir sind noch nicht bei anderen Geschäftsbereichen. Wir sind immer noch bei Fragen zum einleitenden Bericht des Bundesministers. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat gesagt, sie möchte gern noch zu anderen Geschäftsbereichen fragen. Mit der Frage der Kollegin Scheer schließen wir den Bereich der Fragen zum Bericht des Bundesministers; danach lasse ich Fragen zu anderen Geschäftsbereichen zu. Wir schauen einmal, wie lange wir brauchen, und überlegen, was wir mit der Fragestunde machen. – Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Frau Kollegin Scheer.

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Minister, meine Frage lautet wie folgt: Liegen Erkenntnisse über den Verbleib, aber auch über das Ergehen der Menschen vor, die aus Deutschland in die betreffenden Staaten abgeschoben wurden? Ich meine sowohl den Aufenthaltsort als auch die Befindlichkeit dieser Personen.

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Zum Teil wird es solche Berichte geben. Sie werden nicht systematisch erstellt. Ich kann auch keine Fürsorgepflicht der Bundesrepublik Deutschland für ausreisepflichtige Ausländer, die abgeschoben werden, erkennen. Ich sehe keine Pflicht, dauerhaft zu klären, wie es ihnen im Herkunftsland geht. Deswegen gibt es darüber keine systematische Berichterstattung. In Einzelfällen, wenn es dazu Klagen gab, haben wir auch reagiert. Aber generell kann ich darüber keine statistische oder sonstige Auskunft geben.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Dann kommen wir zu Fragen zu anderen Gegenständen der Kabinettssitzung. Bei mir wurden drei Fragen angemeldet. Zunächst hat das Wort der Kollege Arno Klare von der SPD-Fraktion.

Arno Klare (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004329, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank für die Möglichkeit, eine Frage zu stellen. – Der zweite Dieselgipfel hat stattgefunden. Anlässlich dieses zweiten Dieselgipfels ist die Aussage diskutiert worden, dass es im Rahmen der Förderprogramme, die dort beschlossen worden sind, spezielle Regelungen insbesondere für finanzschwache Kommunen geben soll. Die Kommunen, vor allen Dingen die finanzschwachen Kommunen, haben sich beschwert, weil sie sich eine Kofinanzierung schlechterdings nicht leisten können. Ich habe jetzt alles durchgesehen, was ich da finden konnte, was die Förderrichtlinien angeht; ich habe aber nichts zu diesen speziellen Regelungen entdecken können. Ich bitte jetzt einmal um Aufklärung darüber, worin diese speziellen Regelungen denn bestehen.

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Herr Abgeordneter, zunächst kann ich Ihnen sagen, dass das Thema Diesel weder auf der ordentlichen Tagesordnung stand noch zu den Tagesordnungspunkten gehörte, die wir ohne weitere Beratung behandelt haben. Deswegen war es heute nicht Gesprächsgegenstand. Ich selbst war bei dem Dieselgipfel nicht dabei. Herr Präsident, wenn ich es richtig sehe, antwortet hier der Minister, nicht ein Parlamentarischer Staatssekretär; deswegen kann ich die Frage nicht weitergeben. Sie wird sicher schriftlich beantwortet. Ich will Ihnen als Verfassungsminister nur sagen, dass die Möglichkeit, finanzschwache Kommunen durch den Bund speziell zu fördern, begrenzt ist, weil die Kommunen keine staatliche Ebene sind. Es gibt eine Pflicht der Länderebene, hier für einen Ausgleich zu sorgen. Wir haben davon einmal eine Ausnahme gemacht. Sie erinnern sich an die Förderung im Bildungsbereich. Aber so einfach wird das nicht sein.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Der Kollege Thomae von der FDP hat die nächste Frage. – Nicht? – Aufmerksamkeit hilft.

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bitte um Entschuldigung; ich hatte eben noch eine Zwischenfrage zu beantworten. – Vielen Dank für die Worterteilung. Herr Minister, ich habe noch eine Frage. Der Präsident der neugegründeten Behörde ZITIS hat sich für sogenannte Hackbacks ausgesprochen, also das Erwidern von Cyberangriffen mit Cyberangriffen. Dazu ist unsere Frage, wie in diesem Fall sichergestellt werden kann, dass nicht versehentlich als Quelle eines solchen Angriffs eine Einrichtung wie eine Klinik, ein Krankenhaus getroffen wird. Es ist ja in solchen Fällen immer sehr schwierig, zu identifizieren, woher der Angriff genau kommt. Was wir vermeiden wollen, ist eine Art Cyber-Kunduz, also ein versehentliches Treffen einer zivilen Einrichtung bei dem Versuch, die Quelle eines Cyberangriffs auszuschalten. Ist es nicht besser, die bestmögliche Verteidigung zu fahren, statt einen Gegenangriff zu starten?

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Herr Abgeordneter Thomae, auch das stand heute nicht auf der Tagesordnung. Aber wir haben in anderem Zusammenhang auch persönlich über diese Frage diskutiert. Zur Sache selbst: Verteidigung ist natürlich die beste Verteidigung; klar. Wenn aber die Angriffe an anderen Stellen fortdauern und dort Wirkung haben, etwa das Stromsystem der Bundesrepublik Deutschland lahmgelegt werden könnte, dann halte ich es mindestens für berechtigt, die Frage zu diskutieren, ob der Staat, wer immer das dann ist – Länder, Bund, welche Behörde –, nicht einen solchen Angriff vor Ort verhindern kann, damit es nicht zu großen Schäden kommt. Das ist eine rechtlich-technisch sehr schwierige Frage. Die alte Bundesregierung hat diese Entscheidung der neuen Bundesregierung überlassen. Die geschäftsführende Bundesregierung wird eine Frage von so großer Bedeutung sicher nicht entscheiden. Die Frage wird aber von der neuen Bundesregierung sehr schnell zu beantworten sein.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke. – Letzte Frage zu Themenbereichen der heutigen Kabinettssitzung hat die Frau Kollegin Haßelmann, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, meine Frage zielt auf die Geschäftsordnung der Bundesregierung ab. Da würde mich interessieren, wie Sie innerhalb der Bundesregierung damit umgehen, wenn einzelne Minister wie etwa Minister Christian Schmidt gegen die Geschäftsordnung der Bundesregierung verstoßen und das ohne Folgen bleibt. Haben Sie innerhalb des Kabinetts darüber diskutiert, und werden Sie als Kabinett dazu Empfehlungen abgeben, oder läuft das jetzt nach dem Motto „Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch“? ({0})

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Frau Abgeordnete Haßelmann, auch das haben wir heute naturgemäß nicht diskutiert. ({0}) – Wir haben das nicht diskutiert.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Es waren doch keine Mäuse. ({0})

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Der Präsident des Bundestages war in der Kabinettssitzung auch nicht anwesend, nach vielen Jahren. Wir haben darüber nicht diskutiert. Die Geschäftsordnung gilt. In der Geschäftsordnung steht, dass das Abstimmungsverhalten bei solchen Entscheidungen in Brüssel nach gemeinsam abgestimmter Haltung der Bundesregierung erfolgt. Die Bundeskanzlerin hat mitgeteilt, dass sich ein solcher Vorfall nicht wiederholen darf und wird.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke. – Jetzt gibt es noch drei sonstige Fragen an die Bundesregierung. Die erste hat der Kollege Buschmann von der FDP-Fraktion.

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, meine beiden Fragen beziehen sich auf die Arbeitsweisen der Bundesregierung, die noch geschäftsführend im Amt ist. Die erste Frage: Welches sind nach Ansicht der Bundesregierung die vordringlichsten Dossiers, die ein Zuwarten auf eine regulär gebildete Bundesregierung unmöglich erscheinen lassen? Also: Wo muss die Bundesregierung handeln? Zweitens. Es entspricht gängiger Staatspraxis, dass eine geschäftsführende Bundesregierung nichts tut, was eine spätere, regulär gebildete Bundesregierung nicht wieder revidieren könnte. Nun haben wir die außergewöhnliche Situation, dass sich derzeit die gleichen Partner in Vorgesprächen befinden, die auch die geschäftsführende Bundesregierung stellen. Könnte das ein Grund dafür sein, dass die geschäftsführende Bundesregierung gedenkt, von dieser Staatspraxis abzuweichen?

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Herr Abgeordneter Buschmann, nein. Die geschäftsführende Bundesregierung ist nach unserem Grundgesetz ausgestattet mit allen Rechten und Pflichten. Aber es entspricht geübter Staatspraxis – das wird die Bundesregierung auch so handhaben –, Entscheidungen, die eine neue Bundesregierung weitreichend binden, zu unterlassen. So werden zum Beispiel keine herausgehobenen Personalentscheidungen getroffen und wird bei internationalen Verhandlungen eine gewisse Zurückhaltung an den Tag gelegt. Deshalb sollte dieser Zustand – das sage ich in Klammern – nicht allzu lange anhalten. Die Bundesregierung wird sich selbstverständlich entsprechend der geübten Staatspraxis weiterhin so verhalten. Darüber hinaus gibt es eine Usance, dass man sich während Sondierungen sondierungsfreundlich verhält. Das haben wir gegenüber den Grünen und der FDP gemacht, und das wird auch bei den Sozialdemokraten so sein. Was das genau heißt, ist auszuloten. Sie müssen jedenfalls keine Sorge haben, dass die Bundesregierung ihr verfassungsmäßig gebotenes kluges Verhalten aufgibt.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Der nächste Fragesteller ist Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Schade, dass Sie die Frage von Frau Haßelmann gar nicht beantwortet haben. Aber ich möchte für die Grünen im Bundestag Sie oder ein anderes Kabinettsmitglied nach dem BAföG-Bericht fragen, der heute auch Thema im Kabinett gewesen sein soll. Das wurde im Übrigen allerhöchste Zeit; denn die Bundesregierung ist gesetzlich verpflichtet, 2017 einen solchen Bericht vorzulegen. Sie haben seine Veröffentlichung über mehrere Monate verzögert und sich ohnehin einen um ein Jahr längeren Berichtszeitraum gegönnt. Das BAföG war einmal Bildungsgerechtigkeitsgesetz Nummer eins. Aber nur noch 18 Prozent der Studierenden profitieren davon derzeit. Deshalb möchte ich Sie gerne fragen: Haben Sie die Ziele erreicht, die Sie den Studierenden im Land mit der 25. BAföG-Novelle versprochen haben, und welche Konsequenzen ziehen Sie als geschäftsführende Bundesregierung aus dem BAföG-Bericht?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr.

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Herr Abgeordneter, in der Tat hat die Bundesregierung den BAföG-Bericht verabschiedet. Er ist so gut, dass er all die Fragen, die Sie gestellt haben, beantwortet. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt der Kollege Graf Lambsdorff, FDP.

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Herr Minister, die Lage in Nordostasien ist hochgradig angespannt. Die amerikanische Regierung macht Druck auf andere Länder mit dem Ziel, Botschafter und anderes diplomatisches Personal aus Pjöngjang abzuziehen. Dieser Druck ist auch auf Deutschland ausgeübt worden. Die Bundesregierung hat sich dazu ablehnend geäußert, hat aber begonnen, das Personal in der Botschaft in Pjöngjang zu reduzieren. Meine Frage lautet: Gibt es hierzu Abstimmungen mit den europäischen Partnern? Wie verhält sich der Abzug des Personals zu den ablehnenden Äußerungen? Plant die Bundesregierung, weiteres Personal aus unserer Botschaft in Pjöngjang abzuziehen?

Dr. Thomas Maizière (Minister:in)

Politiker ID: 11004105

Herr Abgeordneter Graf Lambsdorff, Staatsminister Roth flüstert mir gerade zu, dass wir uns dazu in Abstimmung – auch mit anderen europäischen Staaten – befinden. Genaueres kann ich Ihnen aus dem Stand nicht sagen. Wenn Sie und der Präsident einverstanden sind, würden wir das gerne kurzfristig schriftlich beantworten.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Dann sind wir am Ende der Regierungsbefragung. Ich bedanke mich beim Bundesinnenminister. ({0})

Dirk Vöpel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004433, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit der letzten Mandatierung des deutschen Beitrags zu UNAMID im Dezember 2016 hat sich bei der gemeinsamen Friedensmission von UNO und Afrikanischer Union in Darfur einiges getan. Mit der erneuten Verlängerung des Einsatzes am 27. Juni 2017 beschloss der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht nur eine Verkleinerung der Operation, sondern er brachte gleichzeitig eine strategische Neuaufstellung dieser Blauhelmmission auf den Weg. In der ersten Phase dieses Rückbaus sollen bis Ende 2017 die Einsatzstärke im militärischen Bereich auf etwa 11 400 Soldaten und die polizeiliche Komponente auf knapp 2 900 Polizisten abgeschmolzen werden. Nach einer für Januar kommenden Jahres vorgesehenen Überprüfung könnte dann bis Ende Juni 2018 ein weiterer Abbau auf circa 8 700 Soldaten und 2 500 Polizisten erfolgen. Das käme im Vergleich zum Personalansatz vor gut einem Jahr fast einer Halbierung gleich. Leider spiegelt dieser Teilabzug der Blauhelmtruppe keine durchgreifende Verbesserung der Verhältnisse in Darfur und im Gesamtsudan wider. Vielmehr offenbart er die aktuellen Nöte der UNO bei der Finanzierung ihrer weltweiten Friedenseinsätze. Auf Druck der neuen US-Regierung mussten die Vereinten Nationen den Haushalt für ihre Blauhelmeinsätze bereits in diesem Jahr um 600 Millionen Dollar kürzen – und das in einer Zeit, in der die Nachfrage nach und der Bedarf an Fähigkeiten bei der Friedenssicherung und Friedenserhaltung nicht geringer werden, im Gegenteil. Angesichts der aktuellen Weltlage den Rotstift gerade bei den Friedensmissionen anzusetzen, halte ich für Sparen an der falschen Stelle. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zehn Jahre nach der erstmaligen Entsendung von Blauhelmsoldaten nach Darfur hat der UNO-Sicherheitsrat neben der Verkleinerung auch eine operative Neuausrichtung beschlossen. Damit werden Konsequenzen aus der strategischen Rückschau des bisherigen Einsatzverlaufs vom Mai 2017 gezogen. Wenn man so will, geht es im Kern um eine Schwerpunktverlagerung vom Peacekeeping zum Peacebuilding im Rahmen eines zweigleisigen Ansatzes. Die klassischen Aufgaben der Friedenserhaltung werden auf die Gebirgsregion Jebel Marra konzentriert, in der nach wie vor Kämpfe aufflackern. Hier soll eine spezielle Taskforce von UNAMID in Brigadestärke den robusteren Teil des Mandats umsetzen und insbesondere den humanitären Zugang gewährleisten. In den anderen Regionen Darfurs, die seit längerer Zeit von offenen Kampfhandlungen verschont geblieben sind, wird die Mission einen mehr friedenskonsolidierenden Auftrag erhalten. Dieser umfasst neben dem Schutz der Zivilbevölkerung unter anderem die Vermittlung bei interkommunalen Konflikten, die Unterstützung der Polizei und die Etablierung von Rechtsstaatsinstitutionen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann bei der Beschäftigung mit den vielen Krisengebieten Afrikas leider allzu schnell den Eindruck bekommen: Schlimmer geht es immer! So haben der mörderische Bürgerkrieg und die drohende Hungerkatastrophe im Südsudan dem Darfur-Konflikt öffentliche Aufmerksamkeit entzogen. Dabei bleibt auch die Lage in Darfur höchst labil, wenn nicht prekär: mehr als 2,5 Millionen Binnenvertriebene, die Kämpfe in Jebel Marra, immer wieder lokale Auseinandersetzungen um Ressourcen und die Art der Landnutzung. 2,1 Millionen Menschen sind existenziell auf die reibungslose Lieferung von humanitärer Hilfe angewiesen. Schon deshalb gibt es zu einer weiteren Präsenz von UNAMID-Kräften in Darfur auf absehbare Zeit keine sinnvolle Alternative. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der deutsche Beitrag zu UNAMID gehört neben den Beteiligungen an UNMISS und EUTM Somalia zu den kleineren Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Bei UNAMID verrichten mit Stand letzter Woche sieben Bundeswehrangehörige ihren Dienst, darunter zwei Soldatinnen. Aber auch diese kleineren Beiträge machen im vernetzten Ansatz einer Operation Sinn. Generalmajor Thorsten Poschwatta, der stellvertretende Befehlshaber des Einsatzführungskommandos, hat bei seinem Besuch der deutschen UNAMID-Soldaten im Oktober 2016 die Bedeutung auch der kleineren Bundeswehreinsätze betont. Leider würden gerade Missionen mit einer kleinen Zahl von Soldatinnen und Soldaten in der deutschen Öffentlichkeit schnell in Vergessenheit geraten. „Dabei“, so der Generalmajor wörtlich, „leisten die deutschen Soldaten hier vor Ort hervorragende Arbeit.“ ({2}) Ich zitiere weiter: Um im internationalen Kontext einer VN-geführten Mission bestehen zu können, wird besonders viel Fingerspitzengefühl und interkulturelle Kompetenz abverlangt. Dem ist nichts hinzuzufügen. Vielen Dank für Ihren Einsatz. ({3}) Wir werden der Verlängerung des Mandates zustimmen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Nächster Redner ist der Kollege Beyer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Sudan gibt es in mehreren Provinzen – in Darfur, über das wir uns hier unterhalten, im Südkordofan und auch im Blauen Nil – seit 2003 bzw. 2011 bis heute ungelöste bewaffnete Konflikte. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass wir uns heute mit der Verlängerung des Mandats UNAMID beschäftigen; denn die Ziele, die sich diese Mission gegeben hat, sind nach wie vor richtig. Da sind der Schutz der Zivilpersonen, Erleichterung der Bereitstellung humanitärer Hilfe und auch – nicht zu unterschätzen, das ist ein ganz zentraler Punkt – die Vermittlung zwischen der Regierung des Sudans und der bewaffneten Bewegung, die das Doha-Dokument nicht unterzeichnet hat. Die Bundeswehr nimmt ihre Aufgaben – Kollege Dirk Vöpel hatte das auch schon erwähnt – wahr: Bei einer Obergrenze von 50 Soldatinnen und Soldaten sind sieben Soldaten im Einsatz, darunter zwei Soldatinnen. Sie werden im Hauptquartier al-Faschir als Experten in verschiedenen Bereichen eingesetzt. Der einzige europäische Truppensteller ist in diesem Zusammenhang Deutschland. Es ist gar nicht so unwichtig, das als Signal zu begreifen, gerade auch angesichts der in diesen Tagen und Wochen debattierten Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit, PESCO, auf europäischer Ebene. Es ist wichtig, sich einmal die Konfliktursachen in Darfur anzuschauen. Das sind Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen wie Wasser und Weideland zwischen nichtsesshaften Nomaden einerseits und sesshaften Bauern andererseits. Das sind langjährige wirtschaftliche und politische Vernachlässigungen durch die Regierung im Sudan. Auch der hohe Bewaffnungsgrad in der Bevölkerung spielt eine Rolle. In diesem Zusammenhang ist in letzter Zeit weiteres Konfliktpotenzial in den Fokus geraten, nämlich die Einsammlung nichtregistrierter Waffen. Insbesondere dagegen richtet sich massiver Widerstand einiger bewaffneter Milizen. Und immer noch finden in Darfur und im übrigen Sudan schwerste Menschenrechtsverletzungen statt. In Darfur gibt es 2,7 Millionen Binnenflüchtlinge, und über 2,1 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Der Sudan hat nicht nur diese hohe Zahl von Binnenflüchtlingen zu bewältigen, sondern er ist auch ein Haupttransitland für Flüchtlinge aus anderen Staaten der Region, die sich auf den Weg zu uns nach Europa machen. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns hier engagieren. Als wäre diese Lage nicht schon problematisch genug, leidet der Sudan seit einiger Zeit auch unter einer veritablen Wirtschaftskrise. Eine Inflationsrate von 30 Prozent ist dort zu verzeichnen. Hier verspricht die permanente Aufhebung eines Großteils der bestehenden Wirtschaftssanktionen der Vereinigten Staaten von Amerika Abhilfe, und so könnte sich diese desolate Wirtschaftslage in Zukunft ein wenig entspannen. Meine Damen und Herren, es reicht nicht aus, die Situation zu beschreiben, sondern man muss auch den Entwicklungen Rechnung tragen. Deswegen ist es richtig, dann, wenn sich die Lage beruhigt hat, den Fokus verstärkt auf die Stabilisierung der Verhältnisse zu legen. Die Neuausrichtung, die im Sommer dieses Jahres durch die Vereinten Nationen beschlossen worden ist, geht mit der Reduzierung der Militärkräfte um rund 45 Prozent über die nächsten zwei Jahre einher. Deswegen richte ich einen Blick auf den Entschließungsantrag der Linksfraktion, in dem gefordert wird, die Anzahl der Militärkräfte zu reduzieren und die humanitäre Hilfe und diplomatische Bemühungen zu verstärken. Das ist richtig, aber der Entschließungsantrag geht ins Leere; denn das ist in diesem Sommer bereits von den Vereinten Nationen beschlossen worden. Meine zweite Bemerkung zum Entschließungsantrag der Linken zielt darauf, dass darin gefordert wird, die Bekämpfung der illegalen Migration sofort einzustellen. Dabei muss man wissen, dass diese illegale Migration durch Schleuser, Verbrecher und organisierte Kriminalität betrieben und vorangetrieben wird. Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, dass man aufhören soll, diese Situation zu bekämpfen. Es ist richtig, hier weiterzumachen, meine Damen und Herren. ({0}) Wir haben Verantwortung für unsere Soldatinnen und Soldaten in den Auslandsverwendungen wie beispielsweise im Einsatz in Darfur. Sie leisten dort eine hervorragende und auch sehr sinnvolle Arbeit. Sie tragen letztlich auch zu unserer Sicherheit bei. Deswegen gebührt diesen Soldatinnen und Soldaten im Einsatz unser ausdrücklicher Dank. ({1}) Daraus abgeleitet schließe ich mit einem Hinweis auf unsere Verpflichtung, unseren Soldatinnen und Soldaten Rechtssicherheit zu geben. Diese können wir ihnen geben und damit auch unserer Pflicht gerecht werden, indem wir heute mit der namentlichen Abstimmung am Ende der Debatte das Mandat verlängern. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Nächster Redner ist der Kollege Otten, AfD. ({0})

Gerold Otten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004846, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Es mag Sie überrascht haben, dass sich die AfD-Fraktion zugunsten der Verlängerung des Bundeswehrmandats für UNAMID ausgesprochen hat. Gestatten Sie mir deshalb einleitend einige kurze Sätze zum Demokratieverständnis der AfD. ({0}) Falls Sie erwartet haben, dass wir als Oppositionsfraktion prinzipiell jeden Antrag der Regierung ablehnen werden, muss ich Sie enttäuschen. Bei uns wird jeder Antrag auf seine Sinnhaftigkeit geprüft. Sollte er mit unserem Programm im Einklang stehen – das heißt im Interesse Deutschlands liegen –, dann werden wir diesem Antrag auch zustimmen. Das ist unser Demokratieverständnis. Bei uns stehen ausschließlich Sacherwägungen im Vordergrund. ({1}) Ganz im Gegensatz dazu steht die Haltung des Abgeordneten Scheuer, Generalsekretär der CSU. Dieser ließ noch vor kurzem verlauten, AfD-Anträge hier im Bundestag kategorisch ablehnen zu wollen, auch wenn diese inhaltlich zur Union passen würden. Doch zurück zu UNAMID. Da es sich um eine UN-Friedensmission handelt, die vorrangig dem Schutz der Zivilbevölkerung dient, unterstützen wir diesen Einsatz. Wir unterstützen diese Mission auch deshalb, weil bereits im Vorjahr Zehntausende aus dem Sudan geflüchtet sind. Hier geht es eben auch um die Bekämpfung von Fluchtursachen. Gleichzeitig fordern wir die Bundesregierung dazu auf, sich international für eine deutliche Verbesserung der Effizienz von UNAMID einzusetzen. Der Verringerung des militärischen Anteils der Mission muss deshalb entschieden widersprochen werden. Zunächst gilt es, die regionalen Krisenherde wie Jebel Marra nachhaltig zu befrieden. Meine Damen und Herren, der Einsatz im Sudan bedeutet für unsere Soldaten eine Gefahr für Leib und Leben, wie das tragische Schicksal von bereits über 70 Toten bei dieser Mission bewiesen hat. Deshalb steht die Bundesregierung in der Pflicht, die Strategie der Führung von UNAMID zu hinterfragen. So muss geklärt werden, wie die Entwaffnung von Milizen, die es laut Antrag mit hoher Priorität voranzubringen gilt, mithilfe von Mediation und Beratung funktionieren soll. Es lassen sich doch nicht alle bewaffneten und gewaltbereiten Milizen mit sozialpädagogischen Mitteln befrieden. Es geht hier schließlich um den Schutz der Zivilbevölkerung. ({2}) Wir fordern daher eine konkrete schrittweise Planung von der Bundesregierung, um die Ziele der Mission in absehbarer Zeit zu erreichen. Hunderttausende hilfsbedürftige Menschen im Sudan sind auf die Unterstützung durch Hilfsorganisationen angewiesen. Daher muss der Schutz dieser Organisationen und der Zivilbevölkerung weiterhin gewährleistet werden. Deshalb befürwortet die AfD die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an UNAMID. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Strack-Zimmermann von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! UNAMID leistet als gemeinsame Peacekeeping-Mission der Afrikanischen Union einerseits und der Vereinten Nationen andererseits Hilfe dabei, dass das Darfur-Friedensabkommen vom Mai 2006 umgesetzt und den Menschen vor Ort geholfen werden kann. Das Mandat erlaubt den Einsatz von bis zu 50 Soldatinnen und Soldaten, die in der Logistik, in der IT, in der Technik und im medizinischen Bereich eingesetzt werden. Aktuell sind dort fünf Soldaten und zwei Soldatinnen stationiert. Damit zeigt Deutschland gewissermaßen im Namen Europas Flagge. Natürlich ist dieser Weg ein ganz schwieriger, und natürlich müssen wir immer wieder hinterfragen, ob der Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten dort Sinn macht. Oder andersherum: Was wäre, wenn sie nicht dort eingesetzt wären? Das gilt übrigens für alle Einsätze. Laut UN gab es kleinere Erfolge und gehen die Kampfhandlungen zwischen den Regierungsstreitkräften und den Rebellen langsam zurück. Aber es gibt auch immer wieder Rückschläge, und es bedarf fortlaufender Vermittlung zwischen den Gruppen; denn für die Menschen vor Ort ist das überlebenswichtig. Insofern ist die Waffenruhe ein erster Schritt in diesem langatmigen Friedensprozess. Über 18 000 Soldatinnen und Soldaten – es wurde gerade erwähnt, dass dieser Umfang abgebaut wird –, Polizistinnen und Polizisten sowie zivile Einsatzkräfte sind in Darfur im Einsatz. Aber in der Tat muss man darüber hinaus – da bin ich übrigens durchaus bei Ihnen, der Fraktion der Linken – immer wieder schauen, dass Entwicklungshilfe geleistet wird, um das humanitäre Elend zu bekämpfen. ({0}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie behaupten in Ihrem Antrag ernsthaft Folgendes und rechtfertigen damit auch Ihre Ablehnung – ich zitiere –: Das Bundeswehr-Mandat ist auch deshalb abzulehnen, weil es die Lenkung bzw. Eindämmung von Migrationsbewegungen militärisch flankieren soll. Sorry, damit verhöhnen Sie diesen Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten, die dort ihr eigenes Leben nicht nur gefährden, ja einsetzen, um humanitäre Hilfe erst möglich zu machen. ({1}) Ich habe Ihnen das schon einmal gesagt: Unsere Bundeswehr verdient Respekt und Dank, übrigens nicht nur zur Weihnachtszeit. Deswegen halte ich diese gehalt- und geschmacklosen Unterstellungen für völlig daneben. ({2}) Meine Damen und Herren, ganz entscheidend in diesem Einsatz ist, dass wir den Flucht- und damit den Elendsursachen begegnen. Die UNAMID-Mission begleitet den Friedensprozess, damit weit über 2 Millionen Menschen in ihrem Zuhause, in ihrer Heimat überleben können. Die Freien Demokraten befürworten daher diesen Einsatz und unterstützen die Verlängerung des Mandates. Vielen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Buchholz, Fraktion Die Linke. ({0})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit zehn Jahren soll der UN-Militäreinsatz UNAMID in der sudanesischen Provinz Darfur Frieden schaffen. Aber: Die Lage ist weiter dramatisch. Noch immer gibt es über 2 Millionen Binnenflüchtlinge, die unter elendsten Bedingungen leben müssen, und immer wieder gibt es bewaffnete Konflikte. Frieden lässt sich nicht durch einen internationalen Militäreinsatz schaffen. ({0}) Denn der Konflikt in Darfur hat tiefe Wurzeln. Eine Wurzel ist die Armut, eine andere ist der Klimawandel, der die Wasserknappheit verschlimmert und damit Verteilungskonflikte anheizt. Ein zentrales Problem ist auch die politische Repression durch das Regime von Umar al-Baschir, das über Jahre loyale Milizen unterstützt hat. Aufständische werden in Darfur bis heute bekämpft. Stämme unterschiedlicher ethnischer Herkunft werden vom Regime gegeneinander ausgespielt und aufgehetzt. Im ganzen Land werden Oppositionelle verfolgt. Gegen die Ursachen des Konflikts, die Repression und die Politik des „Teile und herrsche“ hilft UNAMID nicht. ({1}) Die Bundesregierung treibt ein doppeltes Spiel mit dem Sudan. In Deutschland hat sie lange Zeit so getan, als sei sie einer der entschiedensten Gegner von Baschir. Aber klar ist auch, dass ein Bundeswehreinsatz im Sudan – wie übrigens die gesamte Mission – nicht ohne Einverständnis der sudanesischen Regierung stattfinden würde. An anderer Stelle arbeitet die Bundesregierung sogar aktiv mit Baschir zusammen. An die Kollegen der FDP: Das werfe ich nicht den Soldatinnen und Soldaten vor; das werfe ich der geschäftsführenden Bundesregierung vor. ({2}) Sie stecken Millionen von Euro in laufende Programme zur Flüchtlingsabwehr. Das Regime Baschir ist einer Ihrer Partner, und das ist ein Skandal. ({3}) Die Bundesregierung begründet den Bundeswehreinsatz mit dem Leid der sudanesischen Bevölkerung in Darfur. Auf der anderen Seite schlägt sie Leidtragenden die Tür vor der Nase zu, und das ist unglaubwürdig und zynisch. ({4}) Die Bundeswehr ist nicht im Sudan um der Sudanesen willen; die Bundeswehr ist auch deshalb im Sudan, damit die Bundesregierung auf internationaler Bühne ihre sogenannte militärische Glaubwürdigkeit beweisen und ihren Anspruch auf einen Sitz im UN-Sicherheitsrat unterstreichen kann. Nun wird der Eindruck erweckt – das wurde jetzt auch mehrfach bestätigt –, als habe sich der Einsatz grundlegend gewandelt; es gehe jetzt immer mehr um humanitäre Hilfe. Aber die Zahlen zeigen, dass es nicht stimmt. UNAMID ist weiterhin zu 90 Prozent ein Militär- und Polizeieinsatz. Dafür hat die Bundesregierung in den letzten zehn Jahren rund 600 Millionen Euro ausgegeben. Die Linke sagt: Das Geld wäre für wirkliche humanitäre und entwicklungspolitische Hilfe besser angelegt. Die Bundeswehr muss abgezogen werden, und das Programm zur Flüchtlingsabwehr muss umgehend eingestellt werden. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Frithjof Schmidt von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja – wir haben es mehrfach gehört –, die Lage der Menschen in Darfur ist nach wie vor dramatisch. Bewaffnete Banden und verfeindete Milizen terrorisieren die Bevölkerung, zum Teil im Auftrag der Zentralregierung. Das ist politisch wichtig; das muss man wissen. Die Menschen flüchten sich davor in Lager. Die Blauhelme der Vereinten Nationen können immerhin einen wichtigen Teil dieser Lager schützen. Bei diesem Einsatz gibt es auch Fehler und Probleme, aber der Einsatz ist für die Menschen vor Ort absolut notwendig. ({0}) Deshalb hat meine Fraktion diesen Einsatz immer unterstützt, und wir werden das weiterhin tun; wir werden das auch heute tun. Aber ansonsten, wenn wir diskutieren: „Was passiert in Darfur?“, muss ich sagen: Das ist eine meiner politisch frustrierendsten Erfahrungen. Ich habe schon 2007 mit einer Delegation des Europäischen Parlaments viele Lager in Darfur besucht. Ich muss feststellen: Es hat sich in zehn Jahren an der Situation der Menschen nichts grundlegend geändert. Dafür gibt es mehrere Ursachen. Die bewaffneten Banden, die entwaffnet werden sollen, operieren zum Großteil grenzüberschreitend, zum Teil aus dem Süden Libyens, zum Teil aus dem Tschad. Die örtlichen Warlords wechseln ihre Allianzen manchmal im Monats- oder Jahresrhythmus und bekämpfen sich auch noch gegenseitig. Die internationale Gemeinschaft hat keine konkrete Antwort auf diese Situation gefunden. Vor allem fördert der Diktator Baschir, also die Zentral­regierung, seit zwei Jahrzehnten Terror und Chaos in der Region, um Autonomiebestrebungen zu unterdrücken. Dazu muss man wissen: Dieser Mann wird seit 2009 mit internationalem Haftbefehl durch den Internationalen Strafgerichtshof gesucht. Er war der erste Staatschef, der mit internationalem Haftbefehl gesucht wird. Der Haftbefehl ist bis heute gültig. Dieser Mann trägt die Verantwortung für tausendfachen Mord, Folter, Massenvergewaltigungen und Korruption. Eine Zeitlang ist es gelungen, ihn international weitgehend zu ächten. ({1}) Aber leider wird seit einiger Zeit sein Regime von der Europäischen Union als Gesprächspartner wieder aufgewertet. Seine Kooperation in Fragen von Flucht und Migration wird offiziell gesucht. Ich sage: Das ist eine politische Schande. Der Mann ist eine Fluchtursache, nicht ein Mittel, um Fluchtursachen zu bekämpfen. ({2}) Herr Baschir gehört – das muss eine politische Lösung mitprägen – vor den Internationalen Strafgerichtshof und nicht in die Verhandlungszimmer der internationalen Diplomatie. ({3}) Eine scheinbar neutrale Zusammenarbeit mit Herrn Baschir nach dem Motto: „Er ist halt da, und wir müssen mit seiner Regierung kooperieren“, verhöhnt internationales Recht und vor allen Dingen die Opfer von Herrn Baschir. ({4}) Wir unterstützen diesen Einsatz der UN. Aber das, was politisch geleistet werden muss, ist die Beendigung der Kooperation mit Herrn Baschir. Dafür muss sich auch die amtierende Bundesregierung energisch einsetzen. Danke für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Brandl, CDU/CSU. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sieben Soldaten, sieben Polizisten – der Erfolg von UNAMID wird sich nicht am deutschen Beitrag entscheiden. Aber der deutsche Beitrag ist vor allem ein entscheidendes Signal an die Weltgemeinschaft, an die Afrikanische Union und an die Vereinten Nationen, dass wir es ernst meinen, wenn es darum geht, Verantwortung zu übernehmen, dass wir Friedensmissionen nicht nur fordern und finanziell fördern, sondern dass wir uns auch konkret mit Personal daran beteiligen. Nichtsdestotrotz geht es dabei nicht nur um Symbolik und Solidarität. Vielmehr haben wir an dieser Region auch ein handfestes deutsches Interesse, nämlich dass sich die Region stabilisiert und dass UNAMID ein Erfolg wird. Wenn sich die Region rund um den Sudan und im Sahelgürtel weiter destabilisiert, dann befürchte ich eine Kettenreaktion, wie wir sie an vielen Stellen schon beobachten können. Ein Konflikt an einer Stelle führt dazu, dass Menschen in ein Nachbarland fliehen. Dort entstehen dann neue Konflikte aufgrund knapper Ressourcen und ethnischer Auseinandersetzungen. Die Staaten bekommen die Situation immer weniger in den Griff. Die Menschen bewaffnen sich. Terrorismus und organisierte Kriminalität nehmen immer weiter zu. Wir erleben in den betreffenden Regionen den Beginn einer solchen Kettenreaktion. Ich nenne als Beispiel den Südsudan; darüber werden wir anschließend debattieren. Allein aus dem Südsudan fliehen im Moment jeden Tag 800 Menschen in den Sudan, um sich vor dem Bürgerkrieg zu schützen. Das verschärft im Sudan und in Darfur die Situation. Innerhalb dieser Gemengelage in der Region ist UNAMID der zentrale Stabilitätsfaktor. UNAMID hat als wesentlichen Auftrag den Schutz der Zivilbevölkerung; der Vorredner hat gerade auf die Camps zum Schutz der Zivilbevölkerung hingewiesen. UNAMID ermöglicht überhaupt erst humanitäre Hilfslieferungen und auch, dass Bedürftige tatsächlich erreicht werden. UNAMID überwacht die Menschenrechtslage und ist ein wesentlicher Faktor bei den Versöhnungsanstrengungen der verfeindeten Gruppen in den interkommunalen Konflikten. Deswegen ist es gut, dass es die Mission gibt. Die Mission hat bereits einige Erfolge vorzuweisen. Ich erinnere mich an Debatten hier in diesem Haus, in denen wir die Situation in Darfur noch wesentlich kritischer betrachtet haben, als wir dies heute tun. Nichtsdestotrotz wird die Region weiterhin auf UNAMID und internationale Hilfe angewiesen sein. Nach zehn Jahren UNAMID und angesichts der etwas stabileren Situation ist jetzt ein guter Zeitpunkt, dass sich die Vereinten Nationen um die Zukunft von UNAMID Gedanken machen und die Mission einer umfangreichen Evaluation unterziehen. Die ersten Ergebnisse dazu erwarten wir im Januar. Wir begleiten dies natürlich sehr konstruktiv. Ich schließe mich dem ersten Redner in dieser Debatte, Herrn Vöpel, an: Zentraler Treiber für die Neubewertung der Situation soll die Lage vor Ort sein. Die Frage ist, wie wir den Menschen am besten helfen können. Dies soll nicht eine finanzielle Frage sein. Ich bitte die Bundesregierung, sich dafür einzusetzen, dass die Friedensmissionen auch in Zukunft sowohl personell als auch finanziell ausreichend unterfüttert werden. Deutschland ist bereit, seinen Beitrag dazu zu leisten; das haben wir hier im Bundestag mehrfach unterstrichen, sowohl im Haushalt als auch mit der Beteiligung in Form von Personal. Unser Beitrag ist nicht sehr groß, aber es ist ein wichtiger Beitrag, symbolisch und politisch, und wir sollten diesen Beitrag fortführen. In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit und bitte Sie um Zustimmung zu diesem Mandat. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr, Herr Kollege Brandl. – Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Hauptausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der AU-/VN-Hybrid-Operation in Darfur, UNAMID. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 19/174, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 19/19 anzunehmen. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Darf ich Sie fragen, ob es noch Mitglieder des Hauses gibt, die nicht abgestimmt haben? – Da mir niemand zuhört, kann mir auch niemand diese Frage beantworten. Ich gehe aber davon aus, dass alle die Stimme abgegeben haben. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Darf ich die Kolleginnen und Kollegen bitten, die Plätze einzunehmen, da die Abstimmungen weitergehen? – Das betrifft alle Kolleginnen und Kollegen. Das haben wir gestern schon geübt. Auch hier in der Mitte darf ich Sie bitten, Ihre Gespräche woanders durchzuführen. Ich fange einfach nicht an, wenn Sie sich nicht hinsetzen oder sich woanders weiter unterhalten. – Das betrifft auch die Kolleginnen und Kollegen der SPD. ({0}) – Zuhören, wenn ich etwas sage, Martin. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/237. Ich darf Sie fragen, wer für diesen Entschließungsantrag stimmt. – Wer stimmt gegen diesen Antrag? – Wer enthält sich? – Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt. Zugestimmt hat Die Linke, dagegen waren SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP, und enthalten hat sich die AfD.

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Einsatz im Südsudan ist das letzte Bundeswehrmandat, über das wir in dieser Woche entscheiden. Auch hier sind die Fragen zu beantworten: Ist der Einsatz sinnvoll? Ist er verantwortbar? Soll er fortgesetzt werden? Man darf die Situation nicht schönreden. Die Lage im Südsudan ist dramatisch. Klar ist auch: Sie hat sich trotz aller Friedensbemühungen weiter verschlechtert. Von 12 Millionen Einwohnern sind mittlerweile über die Hälfte der Menschen von Nahrungsmittelhilfe abhängig. Eineinviertel Millionen Menschen sind direkt und unmittelbar vom Hunger bedroht. Die Zahl der Flüchtlinge hat sich in den letzten Monaten – im letzten Jahr, muss man sagen – auf fast 4 Millionen verdoppelt. Trotz eines vor zwei Jahren geschlossenen Friedensabkommens führen alle Konfliktparteien ihre militärischen Aktionen fort. Die Gewaltanwendung gegenüber der Zivilbevölkerung ist besorgniserregend. Hier wie in allen Konflikten sind immer wieder insbesondere Frauen und Kinder betroffen. Heißt das jetzt, der Einsatz ist gescheitert? Heißt das, wir ziehen uns zurück? Die Vereinten Nationen haben in den letzten Jahren eine andere Antwort gegeben. Sie haben ihre Bemühungen verstärkt. Wir müssen heute entscheiden, werte Kolleginnen und Kollegen, ob wir die Vereinten Nationen in diesem Bemühen unterstützen wollen, oder ob wir uns, wie Die Linke das in ihrem Antrag fordert, aus der gemeinsamen Verantwortung im Rahmen der Vereinten Nationen verabschieden. Die SPD steht zu einer Stärkung der Vereinten Nationen; wir befürworten diesen Einsatz. ({0}) Im Südsudan geht es um einen begrenzten Auftrag. Bis zu 50 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr können zum Einsatz kommen. Sie nehmen dort Führungs-, Verbindungs-, Beratungs-, Beobachtungs- und Unterstützungsaufgaben wahr. Ich will mich an dieser Stelle, wie das auch schon Kolleginnen und Kollegen vor mir bei der Beratung anderer Missionen getan haben, ganz ausdrücklich für den Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten bedanken. Sie leisten einen wichtigen Dienst in einer schwierigen Situation. ({1}) Die UN-Mission wird weiter gebraucht. Sie schützt Menschenleben. Sie wird hoffentlich in Zukunft einen Beitrag zur Stabilisierung des Landes leisten können. Klar ist aber auch – das will ich ganz deutlich sagen –, dass es ein Ende der Gewalt und einen Wiederaufbau im Südsudan nur über politische Lösungen geben kann. Hierzu braucht es ein gemeinsames Vorgehen der Nachbarländer. Ein wichtiger erster Schritt hierbei wäre das Unterbinden weiterer Waffenlieferungen an die Bürgerkriegsparteien. Ich glaube im Übrigen wie viele internationale Beobachter, dass die von der Regierung beabsichtigte Idee, in diesem Jahr Wahlen durchzuführen, in der gegenwärtigen Situation nicht zu einer Befriedung des Konflikts führen kann. Erst müssen andere wichtige Voraussetzungen geklärt werden, bevor dort Wahlen stattfinden können. Die akute Not und die hohe Zahl an Flüchtlingen erfordern, jetzt alle Möglichkeiten der humanitären Hilfe auszuschöpfen. Die Bundesregierung hat dafür in diesem Jahr schon 90 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Aber auch hier muss man klar und deutlich sagen: Nach gegenwärtigen Schätzungen der Vereinten Nationen werden circa 1,6 Milliarden US-Dollar zur Unterstützung gebraucht. Hier sind auch in Zukunft noch deutliche Anstrengungen der Weltgemeinschaft notwendig. Es macht aber auch keinen Sinn, so wie die Linke das in ihrem Antrag tut, humanitäre Hilfe und militärischen Einsatz der UN-Friedensmission gegeneinander auszuspielen. Ich will hier ganz deutlich sagen: Beides wird gebraucht, und deshalb stimmt die SPD-Fraktion der Verlängerung von UNMISS zu. Herzlichen Dank. ({2})

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundeswehreinsatz im Südsudan im Rahmen der Vereinten Nationen, UNMISS, ist aus drei Gründen wichtig: Erstens. Verlässlichkeit gegenüber der Bevölkerung im Südsudan, die nach wie vor massive Probleme hat und auf Hilfe angewiesen ist. Zweitens. Verlässlichkeit gegenüber den Vereinten Nationen, die diesen Einsatz führen. Denn wer einen Sitz im UN-Sicherheitsrat anstrebt, muss verlässlich sein. Drittens. Verlässlichkeit gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten, die sich im Einsatz befinden. Verlässlichkeit ist einer der wichtigsten Grundsätze in der Außenpolitik. Das gilt gerade auch in diesem Augenblick, in dem wir noch keine gewählte Regierung haben. Die internationale Gemeinschaft baut auf ein verlässliches Deutschland, und das soll bitte auch so bleiben. ({0}) Wie sieht es nun zurzeit im Südsudan aus? Eben haben wir einiges gehört: Die Situation ist nach wie vor dramatisch. Alle Konfliktparteien führen ihre militärischen Aktivitäten fort. Regierung und Rebellen halten sich nicht an den Waffenstillstand. Ethnische Auseinandersetzungen und Racheakte sind an der Tagesordnung. Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung. Übergriffe auf die Zivilbevölkerung sind an der Tagesordnung. Hunger, Gewalt, sexuelle Verbrechen, Verstümmelungen sind an der Tagesordnung. Humanitäre Helfer sind Behinderungen, Übergriffen und Erpressungen ausgesetzt. Allein 2017 sind 18 von ihnen zu Tode gekommen. Von den ursprünglich 12 Millionen Einwohnern sind 7,6 Millionen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Sie hungern. Mehr als 2 Millionen Menschen sind in Nachbarländer geflohen, rund 1,9 Millionen wurden innerhalb des Landes vertrieben. Besonders betroffen – das sage ich hier auch noch einmal ausdrücklich – sind natürlich immer die Wehrlosesten, und das sind Kinder und Frauen. Vor dieser Situation dürfen wir die Augen nicht verschließen. Es wäre unverantwortlich, wegzusehen, Hilfe zu verweigern und die Menschen im Südsudan ihrem Schicksal zu überlassen. Das sage ich auch in Richtung der Linkspartei. Wir müssen verhindern, dass der Südsudan zu einem vollends gescheiterten Staat abgleitet. Wir müssen verhindern, dass sich immer mehr Menschen auf die Flucht begeben. Andernfalls sind unsere Appelle zur Bekämpfung von Fluchtursachen in den Heimatländern nichts als leere Versprechungen. Ja, diese Mission hat auch Rückschläge hinnehmen müssen. Nicht alles funktioniert fehlerfrei. Angesichts der vielen Herausforderungen und schweren Ausgangsbedingungen in dieser unruhigen Region kann das vielleicht auch nicht anders sein. Das darf aber dennoch kein Grund dafür sein, dass wir kapitulieren. Wenn wir kapitulieren und uns zurückziehen, wie uns das die Linken in ihrem Entschließungsantrag empfehlen, dann werden die Südsudanesen erst recht kapitulieren und das Land endgültig verlassen. UNMISS ist es gelungen, für bessere Notfallplanung zu sorgen und durch Patrouillen ihre Wirksamkeit im Land und damit den Schutz der Zivilbevölkerung zu steigern. Unser Engagement befindet sich im Einklang – das finde ich wichtig – mit unseren afrikapolitischen Leitlinien, die das Ziel haben, den Kontinent auf dem Weg zu Frieden und Stabilität zu unterstützen. Dieser vernetzte Ansatz ist wichtig. UNMISS flankiert die vielfältigen Unterstützungsmaßnahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit Schwerpunkten in der Wasserversorgung, Landwirtschaft, Governance. Für mich steht fest: Wenn es nicht ein Minimum an Sicherheit gibt – dafür sind unsere Soldatinnen und Soldaten in dem Land; und nicht nur sie allein –, wird es auch keine humanitäre Hilfe geben können. Auch medizinische Versorgung, Nahrung, Lebensmittelgrundlagen, Notunterkünfte sind ohne die Gewährleistung von Sicherheit undenkbar. ({1}) Deshalb können wir beim besten Willen dem Entschließungsantrag der Linken nicht zustimmen. Sie unterliegen immer wieder dem Irrtum, man könne humanitär helfen, auch wenn nicht mindestens die Sicherheit der Helfer und der Transporte gewährleistet ist. Weil Sie das nicht verstehen, was ich nicht verstehe, müssen wir Ihren Antrag leider ablehnen. ({2}) Ich bitte um Zustimmung für den Antrag und für diesen Einsatz. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Elisabeth Motschmann. – Nächster Redner: Gerold Otten für die AfD-Fraktion. ({0})

Gerold Otten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004846, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sie werden sich daran erinnern, dass sich die AfD-Fraktion im Kontext von UNMISS bisher zugunsten einer Mandatsverlängerung ausgesprochen hat. Diese Befürwortung, meine Damen und Herren, basierte allerdings allein auf humanitären Aspekten, nicht aber auf der Überzeugung, dass der bisherige Einsatz ein Erfolg gewesen wäre. Es wurde an dieser Stelle bereits von verschiedener Seite angesprochen, dass es dem Einsatzkontingent von UNMISS bisher nicht gelungen ist, den Südsudan nachhaltig zu befrieden, geschweige denn für die Einhaltung des seit August 2014 bestehenden Friedensabkommens zu sorgen. Dem Auftrag, die Sicherheit von Hilfsorganisationen zu gewährleisten, wurde die Friedensmission genauso wenig gerecht, wie sie den fortdauernden Menschenrechtsverletzungen Einhalt gebietet. Das alles, meine Damen und Herren, ist bisher nicht überzeugend. Was aber überzeugt, ist die Leistung der bei UNMISS eingesetzten Bundeswehrsoldaten, die vor Ort unter schwierigsten Bedingungen ihren Dienst versehen. Als Fachexperten, Berater in den Stäben oder als Militärbeobachter steht ihr Beitrag zu dieser Friedensmission in keiner Relation zu der geringen Mannschaftsstärke. Ganze 17 Soldaten sind in einem Gebiet von der Größe Frankreichs eingesetzt. Für diese Leistung, allen Widrigkeiten zum Trotz, gebührt ihnen höchster Respekt. ({0}) Allerdings ist es mit Respekt allein nicht getan. Sinnvoll wäre es hingegen, dem Personal vor Ort auch eine Perspektive zu bieten, idealerweise die Perspektive, die Ziele tatsächlich erreichen zu können, ({1}) um den Einsatz letztendlich zu einem positiven Ende zu führen, nämlich dauerhaften Frieden in der Region zu erreichen. Die Voraussetzungen dafür zu schaffen, bleibt aber eindeutig Aufgabe der Politik. Als drittgrößter Beitragszahler der UN sollte die Bundesregierung künftig ihr Gewicht zugunsten einer UNMISS-Strategie, die den Realitäten vor Ort Rechnung trägt, stärker in die Waagschale werfen. Dazu gehört unter anderem auch, zu überprüfen, ob es jetzt tatsächlich an der Zeit ist, den militärischen Anteil am Personal von UNMISS signifikant zu verringern. Ebenfalls gehört dazu, den diplomatischen Druck auf die südsudanesische Regierung zu erhöhen, auch um deutlich zu machen, dass weitere Behinderungen der Friedensmission Konsequenzen haben werden. Immerhin ist der Südsudan seit seinem Bestehen Partnerland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit und hat bisher Hilfszahlungen in Höhe von über 100 Millionen Euro erhalten. Meine Damen und Herren, in der Begründung des Antrags zur Verlängerung dieses Mandates heißt es, die deutsche Präsenz bei UNMISS habe eine möglichst nachhaltige Beilegung des Konflikts und vor allen Dingen die humanitäre Sicherheit der Bevölkerung zum Ziel. Dieses Ziel, zu dessen Erreichung die Bundesregierung ihre Anstrengungen aber noch deutlich erhöhen muss, unterstützt die AfD-Fraktion und stimmt deshalb der Verlängerung des Mandats von UNMISS zu. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Nächster Redner – ich hoffe, ich spreche Ihren Namen richtig aus –: Bijan Djir-Sarai für die FDP-Fraktion. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, den Namen haben Sie perfekt ausgesprochen. Es ist in der Tat ein häufiger Name im Rheinland. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Na ja, aber ich komme aus Bayern.

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor drei Tagen, am 10. Dezember, war der Internationale Tag der Menschenrechte. Seit 1948 wird an diesem Tag in Erinnerung an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 auf humanitäre Missstände aufmerksam gemacht. So geben internationale Organisationen an, dass im letzten Jahr weltweit 280 Menschen wegen ihres Einsatzes für die Menschenrechte ums Leben gekommen sind. Meine Damen und Herren, im Jahr 2017 sind allein im Südsudan 18 humanitäre Helfer zu Tode gekommen. In den vergangenen Jahren wurden Zehntausende Menschen getötet und Millionen vertrieben. Die Zahlen, über die wir bereits in der vergangenen Sitzungswoche im Plenum sprachen, können wir nun ergänzen: Allein seit Mitte November mussten wir Meldungen über massenhafte Tötungen verfolgen, darunter Dutzende getötete Frauen und Kinder sowie Mitarbeiter internationaler Organisationen. Es ist keine Zeit zu verlieren, und so sollten wir heute der technischen Verlängerung der Beteiligung deutscher Soldatinnen und Soldaten am UNMISS-Mandat rasch zustimmen. Eine erfolgreiche humanitäre Hilfsarbeit ohne die Unterstützung der Streitkräfte ist unvorstellbar. Eine erfolgreiche humanitäre Hilfsarbeit ohne ein Mindestmaß an Sicherheit ist ebenfalls unvorstellbar und ein kopfloser Abzug jenseits jeglicher Vernunft, meine Damen und Herren. ({0}) Entscheidend ist bei den nächsten Schritten, wie wir gemeinsam mit unseren Partnern vor Ort und mit dem Rückhalt der internationalen Gemeinschaft den Friedensprozess im Südsudan voranbringen. Deutsche Soldatinnen und Soldaten sind derzeit in unterschiedlichen afrikanischen Regionen im Einsatz. Um es ins Verhältnis zu setzen: In Afrika gelten aktuell 27 der insgesamt 55 Staaten als fragil, 36 Staaten sind von kämpferischen Auseinandersetzungen betroffen, nur 6 der 55 Staaten gelten als frei von Konflikten. Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren, ist es nicht nur legitim, sondern auch notwendig, die Frage zu stellen, wie man unser Engagement in Afrika zielorientierter und effizienter darstellen kann. ({1}) Wir glauben, dass dabei die Berücksichtigung der Menschenrechtssituation eine zentrale Rolle spielen muss, und wir glauben, dass mit Blick auf die innenpolitische Debatte in Deutschland auch die Bekämpfung von Fluchtursachen von zentraler Bedeutung sein muss. Ich erinnere an die Zahlen: Allein aus dem Südsudan flohen zuletzt über 2 Millionen Flüchtlinge in die Nachbarstaaten, und wir sprechen von weiteren 1,87 Millionen Binnenvertriebenen. Meine Damen und Herren, liebe Kollegen, Afrika braucht eine echte entwicklungspolitische Perspektive. Einen Beitrag von vielen leistet der Einsatz im Südsudan. Daher halte ich eine Zustimmung zu dieser technischen Verlängerung des Einsatzes derzeit für sinnvoll. Es ist aus meiner Sicht sinnvoll – ein letzter Satz, Frau Präsidentin –, regelmäßig die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit von Auslandseinsätzen zu überprüfen und zu bewerten. Das müssen wir machen und daraus Schlussfolgerungen ziehen. Aber an dieser Stelle halte ich die befristete Verlängerung des Einsatzes für richtig. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege Djir-Sarai. – Die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke: Kathrin Vogler. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch dem letzten in dieser Woche vorgelegten Verlängerungsantrag für ein Bundeswehrmandat wird Die Linke nicht zustimmen. ({0}) Wir meinen, die Menschen im Südsudan brauchen dringend Frieden oder zumindest Sicherheit, aber die UN-Mission UNMISS ist dafür nicht das richtige Mittel. Die Antragsbegründung der geschäftsführenden Bundesregierung ist ein Dokument des Scheiterns. Ich zitiere: Das Ausmaß an konfliktbezogener Gewaltanwendung gegenüber der Zivilbevölkerung hat ein besorgniserregendes Niveau erreicht. Frauen und Kinder sind davon besonders betroffen: UNMISS und Nichtregierungsorganisationen berichten wiederholt von weitverbreiteter und systematischer sexueller Gewalt, Verstümmelungen und Morden als Kriegstaktiken, brutalen Mitteln ethnischer Auseinander­setzungen und Racheakten. Hinter dieser Gewalt stecken die korrupten Clans und Netzwerke der ehemaligen Rebellenführer Salva Kiir und Riek Machar, die um die Macht und um den Reichtum des Landes kämpfen. Diese Kriegsgewinnler bewohnen feine Villen in Ruanda, in Kenia oder in Äthiopien und haben riesige Reichtümer angehäuft, während ihr Volk verhungert und verblutet. All das passiert, während eine UN-Mission mit 17 000 Soldatinnen und Soldaten im Land ist, an der sich auch die Bundeswehr beteiligt. Auch UNMISS-Soldaten und zivile Helferinnen und Helfer werden immer wieder angegriffen. Solange UNMISS auf die Zustimmung der Regierung unter dem Kriegspräsidenten Salva Kiir angewiesen ist, der Teil des Problems ist und nicht Teil einer Lösung, kann diese Mission keine Sicherheit für die Bevölkerung schaffen. ({1}) Dabei gibt es Alternativen. Im Südsudan sind schon heute verschiedene zivilgesellschaftliche Organisationen aktiv, die mit gewaltfreien Methoden die Zivilbevölkerung wirksam beschützen. Da geht es zum Beispiel darum, zu verhindern, dass Frauen beim Feuerholzsammeln vergewaltigt werden, indem sie in Gruppen gehen und von unbewaffneten internationalen Friedensfachkräften begleitet werden. Oder es geht darum, lokale Gemeinschaften im Umgang mit den immer wieder auftretenden Nachbarschaftskonflikten zu trainieren, sodass diese nicht immer wieder Anlass für neue blutige Racheakte werden. Das kann gelingen, das ist wirksam, weil die Friedenskräfte eben nicht wie UNMISS-Soldaten in gepanzerten Fahrzeugen patrouillieren, sondern weil sie direkt in den Gemeinschaften leben und schon deshalb auf die Sicherheitsbedürfnisse der lokalen Bevölkerung achten müssen. Ich weiß, Sie werden jetzt einwenden, dass das alles nur kleine Erfolge sind, die im großen Maßstab nicht wirksam sind. Aber ich sage Ihnen: Für diese Arbeit stehen auch nicht fast 67 Millionen Euro zur Verfügung wie 2017 allein für den deutschen Anteil für UNMISS. Auch in den neuen Leitlinien der Bundesregierung für Krisenprävention und Friedensförderung wird das unbewaffnete zivile Peacekeeping, wie vorher auch bei der UN, als Instrument zum Schutz der Zivilgesellschaft aufgegriffen. Der Südsudan würde sich meines Erachtens als Pilotprojekt für eine großflächigere Anwendung dieses Konzepts hervorragend eignen. ({2}) Die Linke bleibt dabei: Der Bundeswehreinsatz im Südsudan muss abgelehnt werden. Stattdessen braucht es mehr diplomatischen Druck auf die Bürgerkriegsparteien und eine Verstärkung der zivilen Hilfe für die Menschen in diesem geschundenen Land. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen: Agnieszka Brugger. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Südsudan ist ein Land, bei dessen Staatsgründung im Jahr 2011 die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft noch sehr groß und im Rückblick – das muss man sagen – offensichtlich leider sehr naiv war. Zu Recht ist dieses Land in einem „Welt“-Artikel vor ein paar Wochen als „traurigste Nation der Welt“ bezeichnet worden: 2 Millionen Menschen, die in die Nachbarländer fliehen mussten, seit die Gewalt 2013 dort ausgebrochen ist, 1,9 Millionen Menschen, die intern vertrieben sind, fast 1,5 Millionen Menschen, die direkt vom Hungertod bedroht sind, und 6 Millionen Menschen, die auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind. Die Liste der Kriegsverbrechen von Präsident Salva Kiir und seinem früheren Stellvertreter Riek Machar, die das Land in ihrem Machtkampf knechten, ja, ihre eigene Bevölkerung quälen, wird Tag für Tag länger. Sexuelle Gewalt wird als barbarische Waffe eingesetzt, und auch das systematische Aushungern ganzer Dörfer ist an der Tagesordnung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Situation ist zum Verzweifeln; sie ist zum Heulen. Die Friedensmission der Vereinten Nationen soll zur Lösung des Konfliktes und zum Schutz der Zivilbevölkerung beitragen. Ja, man sollte nicht drum herumreden: Auch im Rahmen von UNMISS sind einige durchaus gravierende Fehler begangen worden. Dadurch ist wertvolles Vertrauen verloren gegangen. Aber man hat diese Fehler eingestanden, man hat sie geahndet, und man hat Konsequenzen gezogen. Ich möchte eines ganz deutlich sagen: Wir alle wollen uns gar nicht vorstellen, was es für die Menschen im Südsudan bedeuten würde und wie katastrophal die Lage wäre, wenn nicht UNMISS mit den Schutzzonen nach wie vor 200 000 Menschen Zuflucht gewähren würde. Das ist einer der Gründe, warum wir Grüne heute dem Mandat zustimmen werden. ({0}) Unser Dank gilt all den Kräften, ob in Uniform oder in Zivil, die sich im Südsudan in dieser schwierigen Lage für eine Chance auf Frieden und Sicherheit einsetzen. Von einem wirklichen Frieden ist man ja noch weit entfernt. Man muss der internationalen Gemeinschaft aber die Frage stellen, ob sie wirklich alles tut, was sie tun kann, um dieser schwierigen Lage Herr zu werden. Die Antwort lautet leider: Nein. – Da braucht man nur in das deutsche Mandat zu schauen. Seit Jahren gibt es die sehr niedrige Personalobergrenze von 50 Soldatinnen und Soldaten für diese Friedensmission der Vereinten Nationen. In all den Jahren wurde sie nicht einmal zur Hälfte ausgeschöpft. Letztes Jahr hat die Bundesregierung zur Verärgerung der Vereinten Nationen ohne Rücksprache einfach beschlossen, die Stellung deutscher Polizeikräfte, deren Anzahl auch nicht sehr groß war, einfach einzustellen. Man muss sagen: Das deutsche Engagement ist an dieser Stelle zu bescheiden. Es bedarf einer engagierten und glaubwürdigen Antwort angesichts der düsteren Lage. ({1}) Aber auch international geht auf jeden Fall mehr. Man will schon ewig eine Schutztruppe von 4 000 Soldatinnen und Soldaten aufstellen, kommt damit aber nicht voran. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt eine Sache, an der es im Südsudan wirklich nicht mangelt. Das sind Waffen. Ich kann es nicht fassen, dass es nach wie vor kein weltweites Waffenembargo gegen den Südsudan gibt. Ich finde, das ist längst überfällig. ({2}) Wenn wir wirklich alles tun wollen, um diese furchtbare Situation wenigstens ein bisschen zu verbessern, das Leid ein bisschen zu lindern, dann darf man sich nicht nur halbherzig engagieren. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Agnieszka Brugger. – Als letzten Redner in dieser Debatte rufe ich Roderich Kiesewetter für die CDU/CSU-Fraktion auf. ({0}) Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, auch ihm ihre Aufmerksamkeit zu schenken. – Herr Kiesewetter.

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende einer quasi zweitägigen Mandatsdebatte liegt es mir sehr stark am Herzen, herauszustellen, dass wir in einer Zeit leben, in der die internationale Ordnung zunehmend unter Druck gerät. Die regelbasierte internationale Ordnung steht in Konkurrenz mit bestimmten Kräften, die ihre Interessen durchzusetzen suchen. Deshalb ist es so entscheidend, dass die Bundesrepublik Deutschland, dass wir heute hier im Bundestag fast komplett fraktionsübergreifend – bis auf eine Fraktion – die UNO stärken, indem wir die UNO-Mandate mit breiter Mehrheit verabschieden. Gerade im Südsudan, einem Land, fast doppelt so groß wie die Bundesrepublik Deutschland, merken wir wie in einem Labor, worum es in Afrika geht: fürchterliche Ressourcenkonkurrenz, Hunger als Waffe und erhebliche ethnische Spannungen bis hin zu Genoziden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, deshalb müssen wir alles tun, um die internationale Gemeinschaft zu stärken. Mit diesem UN-Mandat, bei dem nicht alles Gold ist, was glänzt, müssen wir erreichen, dass erstens Druck auf die Regierung in Juba ausgeübt wird, sich wieder am Friedensprozess zu beteiligen, dass zweitens die Staaten, die die Friedenstruppe bzw. die regionale Sicherungstruppe von 4 000 Personen stellen sollen, also Staaten wie Äthiopien und Ruanda, genau dazu ertüchtigt werden – das ist eine wesentliche Aufgabe der UNO –, und drittens müssen wir ein Wiederaufbaukonzept erarbeiten. All dies beinhaltet dieses Mandat. Ich will das an einem Beispiel deutlich machen: Neben den Vereinten Nationen sind natürlich auch Unterorganisationen der Vereinten Nationen dort. Allein UNICEF kümmert sich um 112 Nichtregierungsorganisationen und Regierungsorganisationen. Die Hälfte der Bevölkerung, der 12 Millionen, sind Kinder bzw. Minderjährige, die besonders unter dem Hunger und dem Vertreibungsdruck leiden. 2 Millionen Menschen sind in Nachbarländer geflohen. Auch innerhalb des Landes sind etwa 2 Millionen Menschen auf der Flucht. Deshalb ist es wichtig, dass wir Deutschen das nicht als Selbstzweck machen, sondern das UNMISS-Mandat ist eingebunden in die Afrikapolitischen Leitlinien, in das Afrika-Konzept und auch in das Sudan-Konzept. Wir sind bei internationalen Gipfeln wie in Valletta, Malta, ganz vorne mit dabei, um zu helfen, dass die Afrikanische Union und die afrikanischen Staaten selbst die Verantwortung in die Hand nehmen und Vorsorge betreiben. Deshalb ist unser Mandat so wichtig. Denn dieses Mandat ist ein Beratungsmandat, das dort unterstützt, wo wir versuchen, Kräfte des Südsudans und der Vereinten Nationen auszubilden und zu begleiten, damit sie die Verantwortung selbst in die Hand nehmen. Lassen Sie mich abschließend unterstreichen: Wir müssen die internationale regelbasierte Ordnung stärken. Das gelingt nicht, indem wir uns, wie der Antrag der Linken suggeriert, dort herausziehen, sondern indem wir alles tun, die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen zu stärken, auch dadurch, dass wir militärisches und ziviles Wissen zur Verfügung stellen. 17 Soldatinnen und Soldaten und 4 zivile Helferinnen und Helfer sind sicherlich nicht viel; aber gerade diese abzuziehen, wäre ein noch größerer Fehler. In diesem Sinne werbe ich im Namen meiner Fraktion für dieses Mandat. Die CDU/CSU-Fraktion wird der Fortsetzung des UNMISS-Mandats zustimmen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege Kiesewetter. – Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Hauptausschusses zum Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission in Südsudan, UNMISS. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/175, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 19/20 anzunehmen. Wir stimmen, wie gehabt, namentlich über die Beschlussempfehlung ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, zügig die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Kollege Neu ist zügig da. – Sind die Plätze besetzt? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung über die Beschlussempfehlung. Gibt es Kolleginnen und Kollegen, die ihre Stimme noch nicht abgegeben haben? – Ich gehe nicht davon aus. Dann schließe ich die Abstimmung, und ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Wie immer: Ich bitte Sie, liebe und werte Kolleginnen und Kollegen, Platz zu nehmen, weil wir in einem Abstimmungsvorgang sind. – Herr Lindner, Herr von Notz, Frau Brantner! – Die hören mir einfach nicht zu. Nehmen Sie bitte Platz, weil wir in einem Abstimmungsvorgang sind. – Danke schön. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/238. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt hat Die Linke, dagegen waren CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen, und enthalten hat sich die AfD. Vielen herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die heutige Tagesordnung soll um die Beratung von zwei Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung – das sind die Drucksachen 19/251 und 19/252 – – ({0}) – Ich bitte, die Versammlungen hinten auf allen Seiten jetzt einzustellen. Das macht keinen Sinn. Wenn Sie reden wollen, dann gehen Sie bitte raus, oder Sie setzen sich hin. – Das betrifft auch die Kolleginnen und Kollegen der SPD. Vielleicht sagen Sie Ihren Kollegen, dass ich die Sitzung unterbreche, wenn sie sich nicht hinsetzen oder rausgehen. ({1}) – Doch, von der SPD sind auch welche dabei. Von uns auch; ja, ein Grüner ist auch dabei. ({2}) Ich sage es noch einmal – das ist ein wichtiges Thema –: Die heutige Tagesordnung soll um die Beratung von zwei Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung – das sind die Drucksachen 19/251 und 19/252 – zu zwei Anträgen auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens erweitert werden, und diese sollen jetzt gleich als Zusatzpunkte 10 a und 10 b zur verbundenen Beratung aufgerufen werden. Dieses Verfahren entspricht der langjährigen Praxis im Deutschen Bundestag, um von den Strafverfolgungsbehörden beantragte und im Immunitätsausschuss des Deutschen Bundestages behandelte Maßnahmen zu ermöglichen. Erhebt sich dagegen Widerstand? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Damit rufe ich die soeben aufgesetzten Zusatzpunkte 10 a und 10 b auf. Dazu ist keine Aussprache vorgesehen. Zusatzpunkt 10 a: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens Drucksache 19/251 Der Ausschuss empfiehlt, die Genehmigung zu erteilen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. ({3}) – Wer hat sich enthalten? ({4}) – Es gibt eine Enthaltung bei der AfD. Aufpassen! Zusatzpunkt 10 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens Drucksache 19/252 Der Ausschuss empfiehlt auch hier, die Genehmigung zu erteilen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei einer Enthaltung eines Kollegen der AfD ist die Beschlussempfehlung ansonsten einstimmig angenommen worden. – Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen einen Beschluss fassen, dass das Anpassungsverfahren gemäß § 11 Absatz 4 des Abgeordnetengesetzes auch für die jetzige 19. Wahlperiode des Deutschen Bundestages wirksam bleibt. Das klingt technisch, und das ist auch so. Es ist vor allen Dingen nichts Neues. Es ist die Verlängerung einer schon bestehenden Regelung. Wir wollen heute schlicht beschließen, dass die Entwicklung der Abgeordnetenentschädigung, also der sogenannten Diäten, weiterhin an den Nominallohnindex in Deutschland gekoppelt bleibt. Unsere Bezahlung ist damit, wenn der Beschluss gefasst wird, weiterhin abhängig von der Lohnentwicklung der Beschäftigten in unserem Land. Ich finde, das ist durchaus transparent und sehr gut nachvollziehbar. ({0}) Weil manche möglicherweise etwas anderes gehört haben: Wir beschließen heute keine Diätenerhöhung. Wir beschließen möglicherweise sogar eine Diätensenkung. Es kommt nämlich auf die künftige Entwicklung der Löhne in Deutschland an. ({1}) Wir sind damit möglicherweise das einzige Parlament, das sich ein Stück weit erfolgsorientiert bezahlen lässt. ({2}) Das wird manchmal anders dargestellt. Aber ich glaube, wir müssen einmal darauf hinweisen: Diese Regelung haben wir Abgeordneten gar nicht getroffen. Nur in letzter Konsequenz haben wir ihr zugestimmt. Diese Regelung haben sich Experten einer Kommission, einer sogenannten Expertenkommission, ausgedacht, die von uns ausdrücklich beauftragt wurde, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Alle gesellschaftlichen Gruppen wie Wissenschaftler, Handwerker und Gewerkschafter waren darin vertreten und haben uns zu einer wie ich finde, zu Recht stets kritisch beäugten Entschädigung von Abgeordneten diesen Vorschlag gemacht. ({3}) Wir haben uns – weil vorher immer der Vorwurf der Selbstbedienung im Raum stand – diesem Vorschlag sozusagen angeschlossen, ein bisschen gekoppelt an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die besagt: Die Abgeordneten müssen ihre Diäten, also ihre Entschädigung, selbst regeln; das kann kein anderer tun. Aber wir haben die Expertenkommission beauftragt, uns dazu Vorschläge zu machen. Das, was wir heute verlängern wollen – was also schon in der letzten Legislaturperiode galt –, entspricht dem Vorschlag dieser Kommission. Deswegen halte ich es auch für richtig, heute die vorgeschlagene Verlängerung zu beschließen. Unmittelbar nach der Bundestagswahl hat uns der damalige Bundestagspräsident darauf hingewiesen, dass wir den Beschluss zügig fassen sollten. Auch den Zeitpunkt haben wir uns also nicht selbst ausgedacht, sondern es gibt eine Frist von drei Monaten; es ist erforderlich, innerhalb dieser Frist diesen Beschluss zu fassen. Dem kommen wir heute nach; deswegen die heutige Abstimmung. Wir wollen als CDU/CSU an diesem bewährten und offenen Verfahren festhalten. Deswegen stimmen wir diesem Antrag zu. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Grosse-Brömer. – Nächster Redner für die SPD-Fraktion Carsten Schneider. ({0})

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Michael Grosse-Brömer hat darauf hingewiesen: Wir sind in der Kontinuität der letzten Legislatur des Deutschen Bundestages. Da haben wir darüber entschieden, wie die Abgeordnetenentschädigung – im Volksmund „Diäten“ genannt – aussehen soll, welche Höhe sie haben soll. Wir sind nach Artikel 48 des Grundgesetzes dazu verpflichtet, darüber selbst zu entscheiden; denn wir haben Anspruch auf eine angemessene, die Unabhängigkeit sichernde Entschädigung. In der letzten Legislatur hat dazu eine Expertenkommission getagt. Wir haben klare Empfehlungen bekommen, dass sich die Abgeordnetenentschädigung an den Bezügen oberster Bundesrichter – das ist Beamtenbesoldungsstufe R 6 – orientieren sollte – diese Höhe haben wir nicht erreicht – und dass es jährlich eine automatische Anpassung nur gemäß der Steigerung des Nominallohnindexes in Deutschland geben sollte, der vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht wird. Wir halten das für eine offene, transparente, leistungsorientierte – davon sprach Michael Grosse-Brömer; wie zutreffend das ist, das mögen andere beurteilen –, aber zumindest faire Festlegung der Höhe der Abgeordnetenentschädigung. ({0}) Ich glaube, wir können es insgesamt wohl niemandem recht machen. Wenn wir immer wieder neu über die Höhe der Abgeordnetenentschädigung abstimmen würden, würden wir den Vorwurf bekommen, es sei Selbstbedienung. Machen wir es regelbasiert, so wie wir es jetzt tun, heißt es: Das ist ein Diätenautomatismus. – Darüber wird es schwerlich einen Konsens mit der gesamten Bevölkerung geben. Aber wir können als Abgeordnete selbstbewusst sagen: Wir leisten hier eine verantwortungsvolle Tätigkeit – jetzt sind es mehr als 700 Abgeordnete für das deutsche Volk –, und die Entlohnung für diese verantwortungsvolle Tätigkeit muss auch unabhängigkeitssichernd sein, und sie muss angemessen sein! So will es das Grundgesetz. Ich glaube, dass wir mit dem Vorschlag, die geltende Regelung zu verlängern, auf dem richtigen Weg sind. Ich bitte Sie dabei um Unterstützung. Denn wir haben auch vor der Wahl, um das klar zu sagen, nie etwas anderes behauptet, sondern wir stehen hier in der Kontinuität dessen, was wir in der letzten Legislaturperiode für richtig empfunden haben, was wir beschlossen haben und was wir auch heute empfehlen wollen: Wenn die Löhne in Deutschland in den nächsten Jahren steigen – ich hoffe sehr, dass sie es tun; denn wir brauchen eine stärkere Binnennachfrage in Deutschland, einen höheren Anteil für die Beschäftigten nicht nur an der Lohnentwicklung, sondern auch an den erwirtschafteten Gewinnen –, steigen die Diäten entsprechend. Von daher orientiert sich die Abgeordnetenentschädigung genau am Mittelwert dessen, was die Arbeitnehmer bekommen. Aus diesem Grunde können wir dem Antrag guten Gewissens zustimmen, und ich empfehle Ihnen das auch. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Carsten Schneider. – Das Wort zu seiner ersten Rede im Bundestag hat für die AfD-Fraktion Stefan Keuter. ({0})

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Voller Scham haben wir den Antrag von der Union, der SPD und der FDP zur Kenntnis genommen – ({0}) eine schön verklausulierte Anpassung, die ohne Aussprache durchgewunken werden sollte. Nennen wir das Kind doch einfach beim Namen: eine jährliche automatische Diätenerhöhung ohne lästige Debatte und ohne Rechtfertigungen. ({1}) Meine Damen und Herren, schämen Sie sich nicht? ({2}) In den letzten vier Jahren haben Sie rund 1 300 Euro Diäten mehr erhalten: Der Anstieg ging von 8 200 Euro auf 9 500 Euro brutto monatlich. Allein diese Steigerung entspricht der Standardrente in Deutschland. Ein Rentner hat in diesem Zeitraum lediglich 26 Euro mehr erhalten, und das in den Westländern. ({3}) Meine Damen und Herren, schämen Sie sich nicht? Möchten Sie jetzt gar eine Diskussion beginnen, in welchem Maße Löhne, Gehälter oder gar der Hartz‑IV-Satz in diesem Zeitraum gestiegen sind? Ich glaube, das ersparen wir uns jetzt hier besser. Das diskutieren wir in den nächsten Wochen und Monaten noch ausgiebig mit Ihnen. Kennen Sie die Bilder von Mitbürgern, die den Müll nach Pfandflaschen durchsuchen? Dafür schämen wir uns! ({4}) In Deutschland leben mittlerweile 1,6 Millionen Kinder in Hartz‑IV-Haushalten. Finden Sie das nicht erschreckend? Werte Kolleginnen und Kollegen, denken Sie doch mal über die Leistungen nach, die Sie erhalten: Diäten: über 9 500 Euro, monatliches Personalbudget von fast 22 000 Euro, Sachkontoleistungen: 1 000 Euro, ({5}) Bahncard 1. Klasse, auch privat zu nutzen ({6}) – hören Sie mir mal zu! das kann ganz sinnvoll sein –, ({7}) Nutzung der Fahrbereitschaft, diverse kleinere Annehmlichkeiten, last, but not least eine steuerfreie Kostenpauschale von über 4 300 Euro. ({8}) Jeder Selbstständige muss Belege sammeln, jeder Angestellte muss Erklärungen abgeben, Nachweise erbringen. Sie können 4 300 Euro steuerfrei vereinnahmen – ohne Nachweise! ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Bitte hören Sie dem Kollegen zu. ({0})

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke. – Wer keine Zweitwohnung in Berlin unterhält und wer kein Wahlkreisbüro unterhält, bekommt die Kostenpauschale trotzdem – steuerfrei. Meine Damen und Herren, schämen Sie sich nicht? Wir sind hier nicht im Märchen „Ali Baba und die vierzig Räuber“, wo nach Bedarf Geld aus der Sesam-öffne-dich-Höhle geholt werden kann. ({0}) Es geht hier um hart erarbeitetes Steuergeld. ({1}) Deswegen ermahnen wir Sie: Gehen Sie verantwortungsvoll mit diesen Steuergeldern um! Unterdrücken Sie keine Diskussionen um die Abgeordnetenentschädigung! Der hier vorgeschlagene Automatismus – und das ohne Aussprache – ist unserer Meinung nach schlicht eine Frechheit.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern, und zwar mit Nachdruck.

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja; ein Satz noch. – Sehr geehrte Damen und Herren, zeigen Sie dem Bürger, unseren Mitbürgern, dass wir Volksvertreter sind und dem Auftrag dieses Parlaments gerecht werden: die Geschicke dieses Landes lenken – zum Wohle des deutschen Volkes und nicht, um uns hier ein süßes Leben zu machen. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern.

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Den Antrag von CDU/CSU, SPD und FDP lehnen wir entschieden ab. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Weil Sie wiederholt gesagt haben, der Bundestag würde ohne Aussprache beschließen, darf ich darauf hinweisen, dass wir mitten in der Aussprache sind, ({0}) und gebe das Wort Dr. Marco Buschmann für die FDP-Fraktion. ({1})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Auszahlung von Diäten ist notwendiger Baustein der Demokratie; ({0}) denn nur dann, wenn Diäten ausgezahlt werden, haben auch Nichtvermögende und Personen, die sich nicht in finanzielle Abhängigkeiten begeben wollen, die Möglichkeit, professionell Politik zu betreiben. ({1}) So notwendig dieses Instrument ist, so alt ist natürlich auch der Versuch, einen bösen Schein auf dieses Instrument zu lenken. Das liegt in der Entscheidungsstruktur begründet: Wir sind dazu verpflichtet, selber darüber zu entscheiden. Es ist natürlich immer problematisch, wenn man über die eigene Bezahlung mit fremdem Geld nachdenkt. Deshalb haben Populisten zu allen Zeiten versucht, antidemokratische und antiparlamentarische Reflexe zu nutzen – mit ihrer antiparlamentarischen Propaganda, wie wir sie heute hier erlebt haben. ({2}) In der Sache ist das gesetzliche System, das hier schon in der letzten Legislaturperiode etabliert worden ist, richtig. Man braucht zwei Kriterien: Das Niveau der Diäten muss bestimmt werden. Da gibt es eine Anlehnung an die Besoldungsgruppe R 6 – das hat der Kollege Carsten Schneider genannt –; das sind die Bundesrichter. Es ist doch völlig plausibel, dass diejenigen, die für das ganze Land Recht setzen, so bezahlt werden wie diejenigen, die dieses Recht für das ganze Land auslegen. Das ist ein völlig sinnvolles Kriterium. ({3}) Bei der Dynamisierung gibt es die Anlehnung an die Entwicklung der Löhne und Gehälter im Land und damit indirekt auch an die Entwicklung bei den Rentnerinnen und Rentnern. ({4}) Was soll denn plausibler sein, als dass wir uns in die Abhängigkeit von dem begeben, was in diesem Land für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für die Rentnerinnen und Rentner gilt? Auch dieses Kriterium ist plausibel, transparent und sinnvoll. ({5}) Deshalb haben wir als Fraktion der Freien Demokraten beschlossen, nicht nur dem zuzustimmen, sondern auch in die politische Mithaftung zu gehen. Wir hätten uns auch einen schlanken Fuß machen und sagen können: Lasst das mal die Parteien machen, die das zuvor beschlossen haben. – Man macht sich ja immer unbeliebt mit so etwas. Aber man muss zu Dingen, die man für richtig hält, stehen, auch wenn sie unpopulär sind. ({6}) Das ist das Markenzeichen der Freien Demokraten. ({7}) Ich danke Ihnen. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Buschmann. – Nächster Redner für die Fraktion Die Linke ist Jan Korte. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ausnahmsweise ein Satz zur AfD: ({0}) Ausgerechnet die Truppe – mir liegt ein entsprechender Artikel vor –, die auf Fraktionssitzungen mehrere Zehntausend Euro für Schnittchen und Mettigel rausballert, stellt sich hier als moralisch integer dar; das ist nicht schlecht. ({1}) In Ihren Reihen ist es doch, wo mittlerweile mehrere Personen Doppelmandate haben, nicht in den anderen Fraktionen. Also, bitte: Ab nach Hause! ({2}) Nun aber zum ernsthaften Teil. Auch Die Linke unterstützt eine angemessene Entschädigung für Abgeordnete. Eine solche Entschädigung ist richtig und notwendig – das ist ein großer Fortschritt des Grundgesetzes gewesen –, um die parlamentarische Demokratie und die einzelnen Abgeordneten unabhängig zu machen. Wir unterstützen das. Dabei bleiben wir selbstverständlich. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Korte, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung des Kollegen Brandner?

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein. Zu den Mettigeln ist alles gesagt. Das muss man nicht vertiefen. ({0}) Gleichwohl kann man sich keinen schlanken Fuß machen und sagen: Es gibt keine Probleme. – Ich will auf einen Punkt eingehen, zu dem es von seriöser Seite Kritik gibt. Die entscheidende Frage lautet: Wie wirkt das, was wir hier machen, auf die Menschen draußen, die hart arbeiten müssen und nicht wie wir – gut bezahlt – den ganzen Tag Politik machen? Es ist doch in der Tat erklärungsbedürftig, wenn 40 Prozent der Bevölkerung heute weniger Einkommen zur Verfügung haben als in den 90er-Jahren und sie sehen, welche Debatten wir hier führen. Es ist doch auch nicht weiter problematisch, das anzusprechen; das muss man doch tun. ({1}) Das Hauptproblem heute ist das Verfahren. Deswegen kommt das auch so extrem schräg rüber, und deswegen werden wir dem auch nicht zustimmen. Diese Position ist übrigens auch nicht neu; die haben wir schon in der letzten Legislaturperiode vertreten. Seit dem 24. September sind wir gewählt, und es gibt einen neuen Bundestag. Bekanntermaßen kriegen die großen Parteien, vor allem die Partei der Bundeskanzlerin, nichts gebacken, insbesondere nicht, eine Regierung zu bilden. ({2}) Der ganze Bundestag arbeitet auf Sparflamme; das weiß jeder. Darüber haben wir mehrfach diskutiert. Wir müssen uns vor Augen führen, welches Bild wir nach draußen geben: Bei der Frage, ausgerechnet bei der Frage, kriegen die das auf einmal ganz schnell hin. Es ist der einzige Punkt, bei dem sogar die FDP bereit ist mitzuspielen. – Das ist ein Problem. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Korte, darf ich Sie noch einmal unterbrechen? – Der Kollege Brandner wollte eine Zwischenfrage stellen.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut. Es bleibt also dabei.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Kritik daran, wie das hier läuft, ist berechtigt. Dieser muss man sich stellen, auch wenn das unangenehm ist. Man muss Transparenz herstellen. Vielleicht sollten wir diese Debatte dazu nutzen, uns auf eine wirkliche Reform des Abgeordnetenrechts zu verständigen. Um ein Beispiel zu nennen: Warum zahlen wir alle hier noch immer nicht in die gesetzliche Rentenversicherung ein? Lasst uns das doch breit angehen! Dann gibt es auch mehr Akzeptanz. ({0}) Letzter Punkt. Man kann übrigens, wenn es zu einer Erhöhung kommt – die Diäten sind nun wirklich üppig; das weiß jeder –, einfach einen Teil spenden. Das hat meine Fraktion in den letzten Jahren gemacht. Wir haben da einen Verein.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Das führt jetzt zu weit. Bitte denken Sie an die Redezeit.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Da kann man etwas an Fußballclubs, an Antirassismus-Initiativen und vieles andere mehr weitergeben. ({0}) In der 18. Wahlperiode waren das fast 700 000 Euro, die wir für gute Initiativen ausgegeben haben. So kann man das machen. Lasst uns versuchen, eine große Reform hinzubekommen. Das bringt Akzeptanz.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Redezeit!

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir sollten ein wenig mehr auf dem Zettel haben, wie die Leute draußen uns eigentlich wahrnehmen. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Korte. – Letzte Rednerin in dieser lebendigen Debatte: Britta Haßelmann für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! 2011 wurde im Deutschen Bundestag eine Expertenkommission eingerichtet – und zwar mit externen Experten wie Herrn Professor Dr. Bryde, ehemaliger Verfassungsrichter, und vielen, vielen weiteren Persönlichkeiten des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens –, die darüber beraten und uns Vorschläge machen sollte, wie diese leidige Frage der Festsetzung der Höhe der Abgeordnetenbezüge geregelt werden kann. In einem Bericht, den wir in der letzten Legislaturperiode intensiv diskutiert haben, wurden Empfehlungen dazu abgegeben. Es stellte sich die Frage, nach welchem Mechanismus eigentlich eine jährliche Anpassung bzw. überhaupt eine Anpassung der Abgeordnetenbezüge stattfinden soll – ob in Ein-, Zwei- oder Dreijahresschritten – und woran sich die Höhe der Abgeordnetenentschädigung orientiert. Das alles ist offen und transparent dargelegt worden. ({0}) Das war ein positives Moment dieser Expertenkommission, der wir sehr dankbar für diese Vorschläge waren. Denn dadurch wurde zum ersten Mal transparent, nach welchen Kriterien und in welcher Höhe Abgeordneten­entschädigungen festgelegt werden. So weit, so gut. Nun gibt es für diesen neuen Bundestag folgende Verpflichtung: Der Anpassungsmechanismus im § 11 Abgeordnetengesetz muss von diesem neu gewählten Deutschen Bundestag bestätigt werden. – Meine Damen und Herren, jetzt frage ich mich: Wo liegt denn eigentlich der Skandal, den hier manche herbeischreien wollen? ({1}) Ich finde es peinlich. Hier war gerade von Scham die Rede. Ich würde, wäre ich der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der AfD oder Mitarbeiter seiner Verwaltungsleitung, im Erdboden versinken angesichts der Debatte, die wir hier führen. ({2}) Denn wir haben am 13. Oktober im Vorältestenrat das erste Mal darüber geredet, dass der Anpassungsmechanismus, den dieses Gesetz vorsieht, vom Deutschen Bundestag verlängert werden muss und dass das bis zur dritten Kalenderwoche, im Januar 2018, zu erfolgen hat. Kein Widerspruch, keine Wortmeldung, kein Wortbeitrag der AfD. ({3}) Und dann reden wir hier mit den Damen und Herren über Scham oder Peinlichkeit. Dafür muss ich bei dieser Debatte nur nach rechts gucken. ({4}) Wir haben am 11. Dezember 2017 in der Runde der Parlamentarischen Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer wieder über dieses Thema geredet und vereinbart, heute dazu im Deutschen Bundestag eine Beschlussfassung vorzunehmen und diesen Punkt auf die Tagesordnung zu setzen. Es gab weder einen Widerspruch vonseiten des Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers noch eine inhaltliche Anmerkung zum Thema. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Haßelmann.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da werden hier heute die Backen so aufgeblasen. Wie scheinheilig ist das denn? ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Haßelmann!

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, ich lasse keine Frage zu. – Wie scheinheilig ist das denn? ({0}) Ich bin fast am Ende meiner Redezeit. Zuletzt höre ich von Journalisten: Mein Gott, die AfD hätte sich auch noch darum kümmern müssen, dass das überhaupt zur Sprache kommt. – Was für ein Blödsinn, meine Damen und Herren! Die haben noch nicht einmal einen Antrag auf Aussprache gestellt. Der kam von der CDU/CSU. So ist die Lage. ({1}) Und jetzt sage ich mal: Wer meint, hier im Parlament uns vorführen zu können, der muss früher aufstehen, meine Damen und Herren! ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Wort zu einer Kurzintervention hat der von Frau Haßelmann angesprochene Dr. Baumann. ({0})

Dr. Bernd Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004662, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass dieser Vorgang, also das Anpassungsverfahren zur Diätenerhöhung, am Montagabend, Montagnacht im Grunde, in die PGF-Sitzung hereinkam – völlig unvorbereitet –, und zwar mit der Maßgabe – – ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Moment, jetzt ist Dr. Baumann dran.

Dr. Bernd Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004662, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wir dürfen hier ja auch reden, oder, verehrte Kollegen?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Jetzt hat Dr. Baumann das Wort.

Dr. Bernd Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004662, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Dann habe ich nachgefragt: Warum denn so kurzfristig? Wie ist es denn möglich, so eine wichtige Sache mitten in der Nacht, einen Tag vor der nächsten Bundestagssitzung, zu behandeln? Wie ist so etwas möglich? ({0}) Da wurde geantwortet, es sei sozusagen übersehen worden, dass man das ganz schnell anpassen müsse, weil es sonst wegen Fristigkeit verfiele. Deswegen müsse das hereingenommen werden. So ist das hier passiert. ({1}) Dann habe ich gesagt: Bevor ich darüber mit meiner Fraktion nicht geredet habe, äußere ich mich dazu überhaupt nicht. Das war das, was parlamentarisch in den Sitzungen vonstattengegangen ist. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Das Wort zur Antwort hat die Kollegin Britta Haßelmann.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Baumann, Ihr Beitrag spricht Bände. Ich kann mir vorstellen, dass Sie nach der Rede von Herrn Keuter und nach der gestrigen Presseeinlassung Ihrer Vorsitzenden unter Erklärungsdruck stehen. Aber am 12. Oktober wurde eine Erläuterung zum ganzen Mechanismus des Anpassungsverfahrens, also was da zu tun ist, von der Bundestagsverwaltung an alle Fraktionen verschickt. ({0}) Sie hatten hinreichend Zeit, sich damit zu befassen. Einen Antrag in der Runde der Parlamentarischen Geschäftsführer, dass wir uns damit erst im Januar befassen, habe ich vermisst. Dieser ist nicht gestellt worden. Genau so habe ich es gesagt. Ich kann mir vorstellen, dass das wehtut, dass Sie da auch ein paar Rückfragen in der Fraktion bekommen. Das ändert aber nichts an der Tatsache. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – So, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 19/236 mit dem Titel „Anpassungsverfahren gemäß § 11 Absatz 4 des Abgeordnetengesetzes“. Uns liegt dazu eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung vor. Es ist, wie Sie wissen – das sieht man an Ihren Bewegungen –, eine namentliche Abstimmung verlangt worden. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen, und um ein körpersprachliches Signal, ob die Schriftführer anwesend sind. – Von uns aus gesehen hinten rechts fehlt noch eine Schriftführerin oder ein Schriftführer; das ist auch schon zum dritten Mal der Fall. Wie sieht es vorne aus? – Alles klar. Die Plätze sind besetzt. Ich eröffne die Abstimmung über den Antrag. Jetzt kommt die obligatorische Frage: Gibt es noch Kolleginnen und Kollegen, die ihre Stimme nicht abgegeben haben? – Ja, gibt es. Darf ich noch einmal fragen: Hat jemand der anwesenden Kollegen und Kolleginnen seine oder ihre Stimme noch nicht abgegeben? – Das sieht nicht so aus. Dann schließe ich die Abstimmung. Das Ergebnis wird Ihnen wie immer später bekannt gemacht. Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Platz nehmen, Aufmerksamkeit herstellen. Wir machen es genauso wie immer: Bevor Sie nicht sitzen und zuhören, fangen wir gar nicht erst an. ({0}) Eigentlich verlangt die AfD-Fraktion die Aktuelle Stunde. Da wäre es nicht schlecht, wenn Sie sich hinsetzen würden. – Das betrifft genauso die Kollegen im Mittelgang.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich muss mich schon wundern – das muss ich vorwegschicken –: Dass eine Partei, deren grüne Jugend behauptet: „Fickt doch, mit wem ihr wollt!“, hier von Schamgefühlen spricht, das überrascht mich an dieser Stelle schon. Sie sollten sich eigentlich eher schämen und das Wort „Scham“ gar nicht benutzen. ({0}) Meine Damen und Herren, über Jahre hinweg hat die herrschende Politik unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel zugeschaut, wie die Entstehung einer neuen Partei, der Alternative für Deutschland, nicht nur mit Mitteln der Meinungsbeschneidung, nein, auch mit Mitteln der Meinungsdiktatur und mit Sanktionen gegen Mitglieder und Sympathisanten behindert wurde. Meine Damen und Herren, ich werde in meiner Rede aufzeigen, dass dieser Bogen bis weit in dieses Parlament und einige Parteien und deren Vertreterschaft hineinreicht. ({1}) Zu den Sanktionen. Ich kann mich gut erinnern, wie einige Gewerkschaftsfunktionäre und Gewerkschaften Flugblätter in Betrieben verteilt haben, auf denen stand, wie man denn mit AfD-Funktionären umzugehen habe. Hier wird der Boden bereitet, indem man Menschen an den Pranger stellt und sie in ihrer Arbeit diskreditiert. ({2}) Insofern ist Ihr Katzenjammer von gestern mehr als peinlich, als Sie sich über das NetzDG hier so aufgeregt haben. Befassen Sie sich doch erst einmal mit den tatsächlichen Sanktionen, mit dem Mobbing und der Diskriminierung im täglichen Alltag, wenn man sich für eine demokratische Partei betätigt, meine Damen und Herren. ({3}) Inwieweit die skandalöse Tatenlosigkeit der Regierungen, hier auch der Niedersächsischen Landesregierung, Ausdruck ihrer Hilflosigkeit oder vielleicht vielsagender Duldung ist, bleibt Gegenstand von Spekulationen. Eines ist aber klar: Mit dem Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag ist es Zeit, uns nicht nur als lästige Konkurrenten zu sehen. Mehr noch: Spätestens dann, wenn Abgeordnete dieses Hohen Hauses verletzt werden – wie ich – und durchaus schwere Verletzungen davontragen, ist darüber zu diskutieren, ob wir uns mit den sogenannten linken Aktivisten nicht näher auseinandersetzen müssen. ({4}) Der Bundesparteitag unserer Partei ist ein unwürdiges Schauspiel dieser Demokratie gewesen. Wir mussten Spießruten laufen. Meine Damen und Herren, viele Menschen, auch Delegierte, sind verletzt worden – dies unter den Augen der Polizei. Der mache ich aber keinen Vorwurf. Der Vorwurf richtet sich hier an Herrn Pistorius, der für dieses Sicherheitskonzept – ich nenne es einmal: Deeskalation zulasten der körperlichen Integrität von Mitgliedern meiner Partei – verantwortlich ist. Ich fordere hier den Rücktritt von Herrn Pistorius wegen dieser ungeheuerlichen Vorfälle in Hannover. ({5}) Herr Gabriel ist nicht da. Er könnte ja sonst auch etwas dazu sagen. Er kennt dieses Bundesland und die Chaos­tage ja mehr als genug. Meine Damen und Herren, diese Einstellung ist zu einer manifestierten Tradition geworden. Dieses Laisser-faire, die Toleranz haben diese Missstände erst möglich gemacht. Brockdorf, Startbahn West, ({6}) Hafenstraße und Rote Flora – meine Damen und Herren von der Linken, lachen Sie da nur – sind Synonym, nein, sie sind Meilensteine – dass die Grünen sich da aufregen, ist vielsagend – des Staatsversagens. Hier wurden mithilfe der SPD rechtsfreie Räume geschaffen bzw. geduldet. Das ist so nicht länger hinnehmbar. Auch die Finanzierungen müssen aufgedeckt werden, und das werden wir im Haushaltsausschuss leisten. ({7}) Meine Damen und Herren, Straftäter bleiben Straftäter, auch wenn viele Kollegen hier im Hohen Haus und einige Vertreter der Medien diese gerne als linke Aktivisten etikettieren. ({8}) Der Modus Operandi, was Linksextremismus ist, wird vom Verfassungsschutz und von Professor Pfahl-Traughber sehr gut dargestellt – ich schaue da auch gerne zur Linken –: Linksextremisten wollen unsere Staats- und Gesellschaftsordnung überwinden, unsere Demokratie soll durch ein kommunistisches oder anarchistisches System ersetzt werden. Hierzu bringen sie sich in gesellschaftliche Proteste ein …, organisieren diese und nehmen daran teil. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich dazu einmal Stellung nehmen. K kommt ja bekanntlich nach J, K wie Kahane. Ich widme mich heute einmal einem Mitglied des Bundestages: Frau Jelpke. Frau Jelpke, Sie sind Mitglied der Antikapitalistischen Linken. Diese wird im Verfassungsschutzbericht 2013 als verfassungsfeindlich einsortiert. Sie haben dazu aufgerufen, zum Parteitag der AfD zu kommen: Tickets für den Bus bekommt Ihr im Wahlkreisbüro Ulla Jelpke (Die Linke), Schwanenstraße 30, … ({9}) – Ja, klatschen Sie; das zeigt Ihre antidemokratische Gesinnung. Genau diese falsch verstandene Toleranz und auch Ihr Schweigen zu solchen Vorgängen einer für mich antidemokratischen Partei ermöglichen die Legalisierung, ermöglichen erst die Wegbereitung von linksextremen Straftaten. Sie werden durch diese Art der Haltung zu Kavaliersdelikten herabgewürdigt bzw. verharmlost. Und Sie machen es erst möglich, dass eine demokratische Partei wie die AfD, aber auch Kolleginnen und Kollegen der CDU auf Wahlkampfveranstaltungen in einer Art und Weise angegangen werden, die nicht hinnehmbar ist. Kehren Sie auf den Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zurück, und ächten Sie dieses Verhalten einzelner Kreise hier in diesem Parlament. Ich bedanke mich. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Das Wort hat jetzt Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir erleben in den letzten Jahren eine außerordentlich besorgniserregende und bedenkliche Zunahme der Straf-, aber auch Gewalttaten gegen Politiker auf allen politischen Ebenen. Traurige und höchst verwerfliche Höhepunkte dieser Entwicklung waren beispielsweise im Oktober 2015 das Attentat auf die CDU-Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker in Köln oder im letzten Monat der tätliche und schwerwiegende Angriff auf den CDU-Bürgermeister von Altena, Andreas Hollstein. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, aber auch im Deutschen Bundestag gab es bedenkliche Entwicklungen. In der letzten Legislaturperiode sind zahlreiche Kolleginnen und Kollegen türkischer Abstammung nach der Abstimmung über die Resolution bezüglich des Genozids an den Armeniern im Jahr 1915 bedroht worden. Das sind mit Sicherheit Entwicklungen, die uns in höchstem Maße besorgen müssen. Deswegen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, war es nur konsequent, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik um eine neue Rubrik ergänzt wurde, nämlich um Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger. Im Jahr 2016 wies diese Rubrik insgesamt 1 841 Straftaten auf. Sie wurden übrigens überwiegend aus dem rechtsextremistischen Bereich begangen; das möchte ich dazusagen. Deswegen ist der Titel dieser Aktuellen Stunde etwas zu kurz gegriffen, wenn er sich nur auf linksextremistisch motivierte Straf- und Gewalttaten gegen Politiker bezieht. ({0}) Jede Art von Extremismus ist gleichermaßen verwerflich, und jeder Art von Extremismus ist gleichermaßen zu begegnen. Ich möchte für die CDU/CSU-Fraktion sagen, dass wir hier keine Belehrungen benötigen, ganz im Gegenteil. Wir haben in den vergangenen Jahren jede Art von Extremismus, egal ob im rechten, im linken oder im religiös motivierten Spektrum, entschieden und konsequent bekämpft. ({1}) Ich möchte, meine Kolleginnen und Kollegen, auch nur erwähnen, dass von den 1 841 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger im letzten Jahr die meisten gegen CDU/CSU-Mandatsträger begangen wurden, nämlich 760. Es ist natürlich die Frage zu stellen: Wie kommt es zu dieser Entwicklung? Was wir erleben, ist eine sehr deutliche Zunahme der Zentrifugalkräfte in unserer Gesellschaft, eine Zunahme der Fliehkräfte, eine stärkere Verrohung der Gesellschaft, aber auch eine stärkere Verrohung der Sprache. Ich bin der festen Überzeugung, dass insbesondere der jüngste Bundestagswahlkampf ein beredtes Beispiel dafür war, dass die Auseinandersetzung deutlich aggressiver vorgenommen wird. Das mündet nicht immer in tätlichen Angriffen. Die meisten Straftaten bewegen sich im Bereich der Verbalinjurien, der Beleidigungen, aber auch der Sachbeschädigungen. Das muss intensiv bekämpft werden. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wie ist auf diese Entwicklung zu reagieren? Aus meiner Sicht muss klargemacht werden, dass Gewalt niemals ein adäquates Mittel der politischen Auseinandersetzung sein darf. ({2}) Es darf hier auch keine falsch verstandene Toleranz geben. Ich habe vorhin gesagt, dass nicht unterschieden werden darf zwischen Rechts- und Linksextremismus. Wir dürfen auch nicht unterscheiden zwischen gutem und schlechtem Extremismus. Ich muss ganz offen sagen: Es gab hier aus meiner Sicht in den letzten Jahren in diesem Haus manchmal unterschiedliche Bewertungen. Wenn ich mir Aussagen der früheren Bundesfamilienministerin vor Augen führe, die noch vor eineinhalb Jahren gesagt hat, dass das Phänomen des Linksextremismus in Deutschland überbewertet werde, dann ist dies sehr ernst zu nehmen und bedenklich. Wir müssen jede Art von Extremismus gleichermaßen ernst nehmen und dürfen keine falsch verstandene Toleranz an den Tag legen. ({3}) Der Rechtsstaat muss konsequent und entschieden alle Straftaten bekämpfen, weil sich diese Straftaten – das müssen wir unseren Mitbürgern immer wieder deutlich vor Augen führen – nicht nur gegen einzelne Personen richten, sondern gegen die Demokratie, gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung insgesamt. ({4}) Wenn das dann dazu führt, dass manche Politiker, insbesondere im kommunalen Bereich, wegen dieser Bedrohungen und Angriffe ihre Mandate zurückgeben, dann ist dies aus meiner Sicht sehr ernst zu nehmen. Wir müssen mit Sicherheit auch eine Debatte darüber führen, ob wir das Strafrecht ändern. Ich sage ganz klar: Diese Debatte muss offen geführt werden. Es gibt Gründe, die dafür sprechen; es gibt aber auch Gründe, die dagegen sprechen. Was wir aus meiner Sicht auf jeden Fall verhindern sollten, ist ein Sonderstrafrecht für Straftaten gegen Politiker. ({5}) Wir sollten uns hier nicht besserstellen als die allgemeine Bevölkerung. Mir ist wesentlich wichtiger – das möchte ich zum Abschluss sagen –, dass wir eine intensive zivilgesellschaftliche Debatte führen. Es geht hier auch um den Erhalt unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Richtschnur unseres Wirkens und unseres Tätigwerdens sollte aus meiner Sicht ein Zitat von Voltaire sein, der gesagt hat: Ich verabscheue Ihre Meinung, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Sie sie sagen dürfen. ({6}) Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit Montag dieser Sitzungswoche geistert ein Antrag auf Durchführung einer Aktuellen Stunde durch das Parlament. Erst lautete das Thema schwammig „Linksextreme Gewalt“, dann kurzzeitig „Gewalt gegen Abgeordnete“; darunter kann man sich als Rednerin zu diesem Antrag auch nichts vorstellen. In der aktuellen Fassung lautet das Thema nun: „Linksextreme Gewalttaten gegen die politische Betätigung demokratischer Parteien“. Ich gehe einmal davon aus – das hoffe ich zumindest –, dass die allermeisten Abgeordneten bezüglich dieser Thematik keine eigenen Erfahrungen gemacht haben. ({0}) Also reduziert sich Ihr Antrag im Wesentlichen auf Ihre eigene Partei, Kolleginnen und Kollegen von der AfD, womit sich mir die Frage stellt, ob das Thema laut Antrag wortlautmäßig noch stimmen kann; denn dann müssten Sie eine demokratische Partei sein, und das stelle ich infrage. ({1}) Ich sage Ihnen auch gerne, warum ich das tue: In dem Moment, in dem Sie sagen, dass Menschen nach Religion und Herkunft sortiert werden müssen, reden wir auch über Menschenwürde, und diese ist unabänderlich verfassungsrechtlich garantiert. ({2}) Und wenn, meine Kolleginnen und Kollegen von der AfD, einer Ihrer Kollegen im Sächsischen Landtag eine Anfrage mit dem Wortlaut „,Hilfe bei Sterilisation’ für unbegleitete minderjährige Ausländer“ stellt, ({3}) dann reden wir auch über Menschenwürde. Und wenn Amtsträger Ihrer Partei in rechtsextremen Milieus unterwegs sind, dann muss man ganz klar von einer Demokratiegefährdung reden. ({4}) Das bringt mich zu der nächsten Frage. Führt nicht gerade Ihre politische Betätigung dazu, dass die Menschen zunehmend rauer mit demokratischen Parteien und mit Politikerinnen und Politikern umgehen? ({5}) Nicht erst seit der Messerattacke auf Bürgermeister Andreas Hollstein in Altena muss man sich doch die Frage stellen, die der Kollege Mayer schon gestellt hat: Verroht unsere Gesellschaft? ({6}) Wenn der Kollege Brandner – jetzt neu für die AfD im Bundestag – am letzten Wochenende ein Foto von einer Machete ({7}) und dazu den Text: „Warten … auf die #Antifa“ auf Twitter postet, ({8}) dann ist das ein ganz klares Entgleisen des politischen Diskurses. ({9}) Das ist ganz klar eine Drohung, und hier geht es ganz klar um Gewalt. Übrigens schockiert mich das umso mehr, weil es sich bei dem Kollegen Brandner um einen Rechtsanwalt handelt. Da sollte man wirklich denken, dass er ein Organ der Rechtspflege ist. ({10}) Ihr Prinzip ist es leider, Menschen gegeneinander aufzuwiegeln. Aber es liegt auch in Ihrer Verantwortung, statt Hass zu schüren, gemäßigte Töne anzuschlagen. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte hier keinesfalls den Eindruck erwecken, dass Gewalt Gegengewalt rechtfertigt. ({12}) Wir sind schließlich nicht im Wilden Westen, sondern leben in einer der fortschrittlichsten Demokratien der Welt. ({13}) Wir leben in einem guten Rechtsstaat. Es besteht das Gewaltmonopol des Staates, und Gewalttaten jeglicher Art werden unter Strafe gestellt. Das ist gut und richtig so. ({14}) Ich sorge mich dabei übrigens weniger um unsere Berufspolitiker als um die vielen Ehrenamtlichen. Zu unserem Job als Politikerin oder Politiker gehört, dass wir in harte Diskussionen gehen und diese aushalten. Was aber ist mit den vielen Ehrenamtlichen, die für ihr Engagement täglich angepöbelt und beschimpft werden? Was ist mit den Flüchtlingshelferinnen und Flüchtlingshelfern, den Buchhändlern, den Künstlern, ({15}) die sich in verschiedenen Bereichen gegen Ungleichbehandlung engagieren und deswegen Opfer von Anschlägen werden? ({16}) Allein in Berlin-Neukölln sind in diesem Jahr zehn Autos von politisch bzw. ehrenamtlich Engagierten zerstört worden. ({17}) Bisher waren wir uns in diesem Hause alle einig: Sowohl rechtsextreme als auch linksextreme Gewalt sind zu verurteilen. ({18}) Ich muss Ihnen an einer Stelle recht geben: Natürlich gibt es auch linksextreme Gewalt, und dagegen müssen wir etwas tun; das ist richtig so. ({19}) Aber ich will Ihnen einmal die Zahlen der registrierten Straftaten im letzten Jahr nennen ({20}) – hören Sie einmal zu! –: Aus dem linken Spektrum gab es 1 702 Straftaten und aus dem rechten Spektrum 23 555 Straftaten. ({21}) Es geht vor allem um den Zusammenhalt der Gesellschaft und den zwischenmenschlichen Umgang miteinander. ({22}) Es ist unser aller Aufgabe, die Gesellschaft zu beschwichtigen und miteinander zu reden, Toleranz zu fördern, anstatt sie zu bekämpfen. ({23}) Noch ein Wort, meine Kolleginnen und Kollegen der AfD: Diese Aktuelle Stunde haben Sie nicht nötig; ({24}) denn es gibt genügend Instrumente, Angriffe präventiv zu verhindern. ({25}) Nicht Hass und Hetze verbreiten, sondern aufeinander zugehen und miteinander reden – das hilft. Vielen Dank. ({26})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sonja Steffen. – Der nächste Redner in der Aktuellen Stunde mit seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag: Konstantin Kuhle für die FDP-Fraktion. ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Spätestens seit den massiven Ausschreitungen beim G‑20-Gipfel in Hamburg ist doch klar: Linksextreme Gewalt darf nicht verharmlost werden. ({0}) Die Ereignisse in Hamburg haben uns gezeigt: Linksextreme Gewalt ist eben nicht nur Gewalt gegen öffentliches und privates Eigentum; linksextreme Gewalt richtet sich immer mehr auch gegen Menschen. ({1}) So steht im Jahresbericht 2016 des Verfassungsschutzes des Landes Niedersachsen eindeutig, dass die Hemmschwelle von Linksextremisten zur Anwendung von Gewalt auch gegen Menschen niedrig sei. Das muss man in dieser Debatte erwähnen. Dass es am Wochenende der G‑20-Proteste in Hamburg eine Vielzahl verletzter Polizistinnen und Polizisten gab, sollte für uns Anlass sein, an dieser Stelle denjenigen Menschen zu danken, die tagtäglich ihren Kopf hinhalten, um politische Gewalt zu verhindern, und das sind unsere Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in Deutschland. ({2}) Das gilt auch für die Polizeibeamten, die vor kurzer Zeit beim AfD-Bundesparteitag in Hannover im Einsatz waren. Damit bin ich beim Thema „linksextreme Gewalt gegen politische Parteien“. Es ist an dieser Stelle die klare Haltung der FDP-Fraktion, dass jede Form von Gewalt kein Mittel der politischen Auseinandersetzung sein kann. ({3}) Diese Haltung gilt übrigens gerade gegenüber solchen Parteien, mit deren Meinung man möglicherweise nicht einverstanden ist. Wenn Vertreter von Parteien, die zur Wahl zugelassen sind, keine Möglichkeit haben, einen Wahlkampfstand aufzustellen, keine Möglichkeit haben, Veranstaltungen zu organisieren, oder körperlich daran gehindert werden, irgendwo reinzukommen, dann ist das ein Problem für unsere demokratische Kultur. Das gehört zur Debatte dazu. ({4}) Wir müssen also darüber nachdenken: Was können wir tun, um linksextreme Gewalt zu verhindern? Wir als FDP-Fraktion wollen darauf setzen, Gewalttaten schon im Vorfeld, also bevor sie geschehen, zu verhindern. Dazu müssen die Sicherheitsbehörden vernünftig ausgestattet werden; dazu muss nicht, wie Herr Kollege Mayer hier vorgeschlagen hat, das Strafrecht verschärft werden. ({5}) Dazu muss Präventionsarbeit geleistet werden, und wir müssen darauf setzen, dass dieses Thema ein Thema der allgemeinen gesellschaftlichen Debatte ist. Zur Bekämpfung von linksextremen Straftaten und Gewalttaten gehört aber auch, die Realität und die tatsächliche Bedrohungslage anzuerkennen. Dankenswerterweise hat ausgerechnet die AfD-Fraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt eine Anfrage an die Landesregierung gestellt, um herauszufinden, wie das Verhältnis zwischen rechtsextremen und linksextremen Gewalttaten in Sachsen-Anhalt ist. ({6}) Die Landesregierung antwortete, im Jahr 2015 habe es in Sachsen-Anhalt gerade einmal 230 linksextremistische Gewalttaten gegeben; im selben Zeitraum seien 1 749 rechtsextremistische Gewalttaten begangen worden. ({7}) Das zeigt: Die Bekämpfung rechtsextremer Gewalt hat bei den Sicherheitsbehörden zu Recht Priorität. Wissen Sie was: Ich habe manchmal das Gefühl, Sie wollen hier Ihre persönliche Erfahrung und Ihre persönliche Leidensgeschichte an die Stelle von polizeilicher Expertise setzen. Das kann es doch nicht sein. ({8}) Ich bin froh, dass die Polizei darüber entscheidet, was von uns zu bekämpfen ist, und nicht die AfD. Verschonen Sie die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten mit Ihrer ideologischen Beeinflussung. Helfen Sie lieber mit, die Sicherheitsbehörden besser auszustatten. ({9}) Zu guter Letzt: Das Land, in dem wir leben und in dem manch ein AfDler manchmal Schwierigkeiten hat, an einen Wahlkampfstand zu kommen, ist auch das Land, in dem manchmal Flüchtlingsheime brennen. Das Land, in dem AfDler Schwierigkeiten haben, zu Veranstaltungen zu kommen, ist auch das Land, in dem wir gerade mit dem NSU-Verfahren eine rechtsextreme Mordserie aufklären müssen, die gegen Menschen türkischer, griechischer und deutscher Herkunft gerichtet war. ({10}) Deswegen hat die Bekämpfung rechtsextremer Gewalt ganz klar Priorität. Wir als Akteure im Deutschen Bundestag müssen uns fragen: Was können wir als Politikerinnen und Politiker dazu beitragen, dass es weniger Gewalt im politischen Bereich gibt? Welchen Beitrag leisten wir, damit aus politischer Rhetorik nicht politische Gewalt wird? Am 17. Oktober 2015 fand das Attentat auf Henriette Reker statt und am 27. November 2017 das Attentat auf Andreas Hollstein in Altena. Im Umfeld dieser Attentate, dieser Angriffe hörten wir aus den Reihen der AfD Äußerungen zum Schusswaffengebrauch gegen Kinder. Wir erleben, dass Abgeordnete, die jetzt dem Deutschen Bundestag angehören, die Kanzlerin ins Gefängnis werfen wollen. Wir erleben, dass Abgeordnete, die heute dem Deutschen Bundestag angehören, die Staatsministerin Özoğuz von der SPD nach Anatolien entsorgen wollen. ({11}) Das ist ein Weg, der zu körperlicher Gewalt führt. ({12}) Worte ebnen hier den Weg. Deswegen müssen wir uns fragen, was wir eigentlich selber dazu beitragen. Der erste Schritt ist, dass Sie, meine Damen und Herren von der AfD, in Ihrer Rhetorik auf Gewaltfantasien verzichten. Das wäre ein erster Schritt, um wirksam gegen politische Gewalt aus jeder extremistischen Richtung vorzugehen. ({13}) Meine Damen und Herren, lassen Sie es mich zusammenfassen: Wir müssen die Sicherheitsbehörden vernünftig ausstatten und in Prävention investieren, ohne Belehrung und ohne Ideologie. Lassen Sie mich festhalten: Die AfD ist in Wahrheit der Agent der politischen Verrohung, als deren Opfer sie sich hier darzustellen versucht. ({14})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Konstantin Kuhle. – Nächste Rednerin: Caren Lay für die Fraktion Die Linke. ({0})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am vergangenen Montag fand ich vor meinem Büro in Bautzen einen großen Blutfleck. Dahinter steckte eine geschmacklose Aktion, die sich nicht nur gegen mich, sondern auch gegen die Büros von CDU, SPD und Grünen richtete. Auf Twitter bekannte sich die sogenannte Identitäre Bewegung dazu, eine Bewegung, die der AfD-Bundestagsabgeordnete Petr Bystron für eine – Zitat – „tolle Organisation“ und eine „Vorfeldorganisation der AfD“ hält. Das sind Ihre Freunde! ({0}) Der Vorfall am Montag war der 28. Angriff auf meine Büros im Landkreis Bautzen. In der Vergangenheit ging es um Schmierereien mit der Aufschrift „Judenbüro“, um Hakenkreuze, um zerschlagene Fensterscheiben, um Farban­schläge, Hausfriedensbruch, aber auch persönliche Bedrohungen meiner Gäste, meiner Mitarbeiter und von mir persönlich. ({1}) Nur in einem einzigen Fall kam es zu einer Festnahme. Das, meine Damen und Herren, ist erschreckend. ({2}) Auch Politikerinnen und Politiker anderer Parteien werden von militanten Rechten bedroht. Bereits erwähnt worden ist die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker von der CDU. ({3}) – Sie ist parteilos, Entschuldigung. – Aber auch Christoph Bergner, CDU-Bundestagsabgeordneter, Dr. Karamba Diaby von der SPD oder der Kollege Sebastian Striegel von den sächsischen Grünen waren von rechter Gewalt betroffen. Es gibt unzählige Beispiele. ({4}) Aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage unserer Fraktion geht hervor: Bis September dieses Jahres gab es 111 Angriffe auf Bundestagsabgeordnete und ihre Büros. Die Verhältnisse sind sehr klar: 93 davon wurden von Rechtsextremen begangen, 18 von Linksextremen. Jeder dieser Angriffe ist ein Angriff zu viel. ({5}) Die Angriffe auf Politikerinnen und Politiker stehen allerdings in keinem Verhältnis zu den zum Teil schlimmen und lebensgefährlichen Angriffen, denen andere Menschen ausgesetzt sind. Ich spreche hier von Geflüchteten, Migrantinnen und Migranten, alternativen Jugendlichen und Obdachlosen. Diese rassistische Gewalt ist das größte Problem, das unsere Demokratie bedroht. ({6}) Es gab allein im letzten Jahr fast 1 000 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte und 2 500 weitere Angriffe auf Geflüchtete. An dieser Stelle vermisse ich die Empörung der AfD. ({7}) Ihre Bundestagsfraktion ist ja nicht gerade zimperlich. Es ist erwähnt worden: Der Bundestagsabgeordnete Stephan Brandner postete ein Foto von einer Machete und bedrohte das Zentrum für Politische Schönheit. Schon im Juli dieses Jahres gab es ein Foto von einer Steinschleuder mit dem Hashtag „Neuerwerb!“. Das, meine Damen und Herren, ist völlig inakzeptabel. ({8}) 19 Mitglieder der AfD-Bundestagsfraktion und 33 Landtagsabgeordnete Ihrer Partei waren Mitglieder einer Facebook-Gruppe mit dem Namen „Die Patrioten“. Dort wurde ein Foto gepostet, das Anne Frank – ein Mädchen, das von Nazis ermordet wurde – auf einem Pizzakarton zeigte, mit einem Schriftzug, der so ekelhaft ist, dass ich ihn an dieser Stelle nicht zitieren kann. Das ist so was von geschmacklos und menschenverachtend, meine Damen und Herren! Schämen Sie sich! ({9}) Wer darüber nicht reden und sich davon nicht distanzieren will, der soll aufhören, sich hier als Opfer zu inszenieren. Das ist einfach scheinheilig. ({10}) Das ist übrigens der Grund, warum Menschen vor Ihrem Parteitag demonstrieren. Dafür gibt es auch gute Gründe. ({11}) Gewalt, meine Damen und Herren, insbesondere gegen Personen, lehnen wir Linke unmissverständlich ab. Gewalt ist kein Mittel der Politik, schon gar nicht von linker Politik. ({12}) Dass Sie aber jetzt so tun, als sei diese Demonstration eine linksextremistische Veranstaltung gewesen, ({13}) geht nicht. Mit dabei waren Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen, der Muslime, ({14}) der Gewerkschaften und Überlebende des Holocaust. Sie alle haben Grund, sich Sorgen zu machen und gegen Ihren Parteitag zu demonstrieren. ({15}) Und warum? Weil die AfD und ihr Umfeld diese Gesellschaft spalten und weil Sie Hass schüren. ({16}) Sie machen Geflüchtete zu Sündenböcken für eine gescheiterte Sozialpolitik. Sie stellen Migrantinnen und Migranten als Kriminelle dar. Sie tun so, als würde es in Großpostwitz kein größeres Problem als die Burka geben oder als würde in Kleinwelka die Einführung der Scharia kurz bevorstehen. Hören Sie endlich auf damit! Hören Sie auf, Hass zu schüren! Lassen Sie Ihre scheinheiligen Anträge sein! Vielen Dank. ({17})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Caren Lay. – Noch einmal – weil sich wieder jemand zu einer Zwischenfrage gemeldet hat –: In der Aktuellen Stunde gibt es keine Zwischenfragen; das legt die Geschäftsordnung fest. Nächster Redner: Sven-Christian Kindler für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Sven Christian Kindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004070, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nur um das von Beginn an unmissverständlich klarzustellen: Gewalt ist kein Mittel der politischen Auseinandersetzung; das ist für meine Fraktion glasklar. ({0}) Ich wurde in den letzten Jahren zweimal selbst körperlich angegriffen, weil ich mich gegen Nationalismus, gegen Rassismus und gegen Antisemitismus engagiere. Die Angriffe fanden am helllichten Tag auf offener Straße statt. Im Nachhinein gab es dann noch rechtsextreme Beschimpfungen, Morddrohungen und Gewaltfantasien auf Facebook. So geht es vielen Opfern rechter Gewalt, und das wünsche ich wirklich niemandem. ({1}) Gewalt in diesem Land – egal gegen wen – ist inakzeptabel und zu verurteilen. Das gilt für alle Gewalt gegen alle Menschen, ({2}) egal ob Gewalt gegen Abgeordnete, gegen Geflüchtete, gegen Obdachlose, gegen Sinti und Roma, gegen Schwule und Lesben, gegen Inter- und Transsexuelle, gegen Bisexuelle. Das gilt für Gewalt gegen alle Menschen, die in diesem Land leben. Das entspricht auch dem Grundgesetz, in dem steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist die zentrale Lehre aus dem deutschen Nationalsozialismus. ({3}) Caren Lay hat es schon angesprochen, die neuesten Zahlen des BKA zeigen: Dieses Jahr wurden über tausend Geflüchtete attackiert und angegriffen – tausend Menschen wie Sie und ich. Das sind drei Angriffe pro Tag. Angesichts dessen frage ich mich ernsthaft: Wo hat denn die AfD dieses krasse Ausmaß an rechter Gewalt, an rechtem Terror thematisiert, zum Beispiel, wo Sie in den Landtagen sitzen? ({4}) Wo haben Sie Aktuelle Stunden dazu in den Landtagen beantragt? Wo haben Sie Anträge dazu gemacht? Wo waren da Ihre Punkte? Dazu hört man von der AfD herzlich wenig. ({5}) Wenn etwas kommt, dann relativieren und verharmlosen Sie es. Sie machen es verächtlich oder gießen Öl ins ­Feuer. Das, was Sie machen, finde ich wirklich inakzeptabel. ({6}) Das hat ja einen zentralen Grund. Es geht der AfD gar nicht um die generelle Ablehnung von Gewalt, es geht Ihnen nicht um alle Menschen, die in diesem Land leben, sondern Sie haben hier ein ambivalentes und taktisches Verhältnis zur politischen Gewalt. ({7}) Darum geht es Ihnen: Sie wollen sich hier heute als Opfer inszenieren. Aber das werden wir Ihnen hier nicht durchgehen lassen. ({8}) Ich mache es konkret: Führende AfD-Funktionäre und Kandidaten in Ihrer Partei für den Bundestag haben Verbindungen zu der rechtsextremen Identitären Bewegung und zur Nazi-Kameradschaftsszene. Stephan Brandner, Ihr Abgeordneter im Bundestag, wurde schon angesprochen. Er postet Waffen auf Twitter, lässt sich über seine Gewaltfantasien aus und spricht gegen politisch Andersdenkende Drohungen aus. Der ehemalige AfD-Funktionär Reinhard R. hat mindestens sechs Mal das Wahlkreisbüro der thüringischen Abgeordneten Katharina König-Preuss angegriffen. ({9}) Frau Petry und Frau von Storch haben einen Schießbefehl gegen Menschen an deutschen Grenzen gefordert. ({10}) Das zeigt doch ganz klar: Die AfD steckt voll im Sumpf der Gewalt. ({11}) Ich will eines noch einmal klarmachen – ich war selber auch vor Ort in Hannover und habe die Proteste als parlamentarischer Beobachter begleitet –: ({12}) Sie zeichnen hier ein Zerrbild und stellen falsche Behauptungen über die Proteste auf. Das geht wirklich gar nicht. Das waren bunte, kreative ({13}) und in den allermeisten Fällen auch friedliche Proteste in Hannover. ({14}) Deswegen sage ich den vielen Tausend Menschen, die bei eisigen Temperaturen frühmorgens auf die Straße gegangen und sich friedlich der AfD und ihrer rassistischen Hetze in den Weg gestellt haben, vielen, vielen Dank. ({15}) Ich habe dort als parlamentarischer Beobachter viele besonnene Polizisten erlebt. Es gab aber auch Kritik. ({16}) – Ja, zum Wasserwerfer komme ich gleich noch. – Es gab auch Kritik am Einsatz des Wasserwerfers, die aus meiner Sicht völlig zu Recht war. Ich finde es nicht akzeptabel, bei eisigen Temperaturen einen Wasserwerfer gegen eine friedliche Sitzblockade einzusetzen. ({17}) Die AfD hat ein Sharepic auf Facebook gestellt und ihre Anhänger gefragt, ob dieser Wasserwerfereinsatz gegen die friedliche Sitzblockade akzeptabel war. Die Antworten der AfD-Anhänger kamen schnell. Einer kommentierte: „Ja, noch zu wenig, ich hätte MG eingesetzt.“ Oder: „Ich bin für den Schießbefehl.“ Auch Salzsäure und Napalmbomben werden gefordert. Das alles lassen Sie auf Ihrer Facebook-Seite stehen – unwidersprochen, unkommentiert. ({18}) Das ist Ihr Werk; das ist Ihre Stimme. Sie verbreiten eine Stimmung der rassistischen Hetze, der Gewalt und des Hasses. Das machen Sie ganz bewusst. Aber wir machen Ihnen klar: Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Das werden wir Ihnen im Bundestag nicht durchgehen lassen, nicht in der Gesellschaft, nicht auf der Straße. Egal, wo Sie sind: Wir werden Ihnen laut widersprechen. Vielen Dank. ({19})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat nun der Kollege Marian Wendt von der CDU/CSU-Fraktion.

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer Wind sät, wird Sturm ernten. ({0}) Wer ständig von Gewalt redet, wer andauernd Kampfansagen macht, darf sich nicht über den Gewaltanstieg in unserem Land wundern. Gerade politische Extremisten und verantwortungslose Populisten sind diejenigen, die den Boden für die tatsächliche Gewalt in unserem Land bereiten. Der plumpen rechten Hetze der AfD schlägt rohe linke Gewalt entgegen. Das Jahr 2017 hat deutlich gezeigt: Wir haben ein Problem mit rechter und linker Gewalt. ({1}) Die Brutalisierung der Sprache ist bekanntlich die Vorstufe zu Gewalt. Dazu hat auch die AfD im Wesentlichen beigetragen. Dass der Ton heute aggressiver und rauer ist, dafür hat sie gesorgt. Ihre Parteifunktionäre stoßen auf Marktplätzen und in Onlineforen wüste Beschimpfungen gegen die politischen Gegner aus. Sie bezeichnen Justizminister Heiko Maas als – Zitat – „Ergebnis saarländischer Inzucht“ oder ({2}) Angela Merkel als – Zitat – „alte Fuchtel“. Die AfD organisiert Busse, um ihre Anhänger zur Anti-Merkel-Demonstration zu karren, ({3}) wo sie gegen die „Diktatoren“ pfeifen und brüllen. ({4}) Demolierte Plakate, Pfeifkonzerte, Übergriffe: Das war der Wahlkampf 2017, wie ich ihn erlebt habe. ({5}) Bundesweit wurden Politiker der bürgerlichen Mitte verbal und körperlich angegriffen. Der Vorsitzende der CDU in Torgau, meiner Heimatstadt, wurde von AfD-Plakatträgern als „Schwein“ beschimpft und mit Arbeitslager bedroht. ({6}) CDU-Helfer im thüringischen Vacha wurden nach einer Wahlkampfveranstaltung brutal zusammengeschlagen. ({7}) Unsere CDU-Fahrzeuge wurden mit heißem Teer übergossen. ({8}) Bei meinem Bürgerbüro in Eilenburg wurde am helllichten Tage mit einem Lichtschachtdeckel die Tür eingeworfen. Zum Glück war meine Mitarbeiterin zu diesem Zeitpunkt auf einem Außentermin. ({9}) Ich selber habe eine anonyme Drohung bekommen. Diese wurde nachts an meinem Fahrzeug platziert. ({10}) Nachweisbar ist die Zahl der Übergriffe gegen Mandatsträger im Jahr 2016 auf 1 643 Delikten gestiegen. Diese Entwicklung ist besorgniserregend; denn der diffuse Hass, der dahintersteckt, richtet sich nicht an Marian Wendt oder an Kolleginnen und Kollegen als Person, sondern an die Repräsentanten unseres demokratischen Systems. ({11}) Es sind Attacken gegen den bürgerlichen Konsens, gegen die Ideen, für die wir uns in diesem Hohen Haus starkmachen. Es sind somit Angriffe auf die gesamte Gesellschaft. Wie eingangs erwähnt, gefährden die Angriffe von links die Demokratie genauso wie die Angriffe von rechts. Das wissen wir auch ohne die AfD. ({12}) Längst vor den Ausschreitungen während des G‑20-Gipfels in Hamburg habe ich in mehreren Plenarreden in der vergangenen Wahlperiode deutlich vor der Unterschätzung des linken Gewaltpotenzials gewarnt. Auch die Barrikaden und Steinewürfe vom letzten Wochenende in Leipzig-Connewitz haben leider wieder einmal bestätigt: Wir haben ein Problem mit Linksextremismus. Dieser bedroht unsere Demokratie. ({13}) Aus unserem Einsatz als Unionsfraktion gegen die linksextremistische und rechtsextremistische Gewalt haben wir nie einen Hehl gemacht. ({14}) Für uns ist ganz klar: Diese Gewalt bekämpfen wir ganz klar mit einer Aufstockung der Polizei, mit maximaler Unterstützung der Ermittlungsbehörden, ({15}) dem Einsatz der Vorratsdatenspeicherung, der intelligenten Videoanalyse, der Funkzellenabfrage. Das sind die effizienten Mittel, die wir für eine kompromisslose Kriminalitätsbekämpfung benötigen. Meine Damen und Herren, es gibt noch ein ganz einfaches Mittel, politische Gewalt in unserem Land einzudämmen. Das beginnt hier bei uns, in unserem Hause. Das beginnt damit, dass wir verbal abrüsten, dass wir uns beruhigen, dass wir vielleicht einmal überlegen, bevor wir auf den „Senden“-Knopf drücken. Wir müssen uns immer bewusst sein, dass wir die Meinungsmacher und Meinungsführer in diesem Land sind. Wenn wir Scharfmacherei betreiben und mit Populismus um uns werfen, dann werden das andere Menschen in diesem Land leider als Aufruf zur Gewalt nehmen. ({16}) In diesem Sinne hoffe ich, dass wir uns alle gemeinsam unserer Verantwortung bewusst sind, verbal abrüsten und dass im nächsten Jahr die politische Gewalt und der politische Extremismus in unserem Land weniger werden. Vielen Dank. ({17})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD hat das Wort Dr. Karamba Diaby. Bitte schön. ({0})

Dr. Karamba Diaby (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004259, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Jugendlichen auf der Tribüne! ({0}) Ich möchte Ihnen allen von einem Vorfall Anfang der 90er-Jahre berichten. Ein etwa 30 Jahre alter Mann mit Brille fuhr in einem Bus von der Universität nach Hause. Als er ausstieg, wurde er von drei Personen verfolgt. Sie liefen ihm hinterher und schrien: „Bleib stehen! Du bist schwarzgefahren!“ „Aber ich habe einen Fahrschein“, rief der Mann zurück. Inzwischen hatten sie ihn aber eingeholt und umstellt. Sie lachten und schlugen ihm dann einfach die Faust ins Gesicht. Seine Brille fiel auf den Asphalt und zerbrach. Meine Damen und Herren, dieser Mann steht heute vor Ihnen. Auch heute gibt es Anfeindungen und Gewalt – in den sozialen Medien genauso wie auch auf den Straßen des Landes. Es gibt ein politisches Erdbeben in der Welt, in Europa, in Deutschland. Symptome dieser Entwicklung sind zweifelsohne das Erstarken von rechten Kräften und der Umstand, dass Gewalt als scheinbar legitimes Mittel genutzt wird. ({1}) Wir sehen, dass die Gesellschaft aufgrund der Globalisierung und unsicheren Entwicklungen unter Druck steht und dass es Spaltungen gibt. Wenn wir es herunterbrechen, gibt es zwei Seiten, die sich gegenüberstehen. Das sind die Modernisierungsskeptiker und die Modernisierungsbefürworter. Wir müssen mit klarer Haltung und guter Sozialpolitik beide Seiten wieder zueinanderführen. ({2}) In vielen Debatten geht es mittlerweile stärker um Fragen der Leitkultur und Ausgrenzung. Meine Damen und Herren, wir dürfen uns nicht auf dieses Spiel einlassen. ({3}) Ich darf daran erinnern: Wir leben in einer Zeit, in der in Berlin und anderswo Stolpersteine aus dem Boden gerissen werden, um die Erinnerungen an die Vergangenheit zu löschen. Wir leben in einer Zeit, in der eine Partei unser Land spaltet. ({4}) In unserer jetzigen Zeit geht es um Rückzug und Individualisierung. Wir als Gesellschaft müssen es wieder schaffen, dass Menschen die Straßen füllen, die gemeinsam sagen: Wir wollen keine Gewalt, sondern Frieden. ({5}) Wir wollen keinen Hass mehr, sondern mehr Respekt, und wir wollen keine Spaltung, sondern Zusammenhalt. ({6}) Wir können uns für den einen oder anderen Weg entscheiden. Der Autor Carlo Strenger schreibt dazu: Es gibt Momente, in denen die Bürger … realisieren, dass sie in einem politischen und gesellschaftlichen System leben, für dessen Erhalt man kämpfen muss. Wir müssen an dieser Stelle festhalten: Dieses Land ist zu schön, um es den Hassern und Spaltern zu überlassen. Deshalb, meine Damen und Herren: Es lohnt sich, weiterhin um den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu kämpfen. Danke schön. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Zu ihrer ersten Rede erteile ich das Wort der Kollegin Beatrix von Storch von der AfD-Fraktion. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Meine Damen und Herren! Was für eine interessante Debatte und wie schwierig ist sie zu führen. Herr Diaby – wo sitzen Sie? –, ({0}) wir stimmen Ihnen zu – das möchte ich zu dem, was Sie gerade gesagt haben, zusammenfassend sagen –: „Wir wollen keine Gewalt, sondern Frieden.“ Dazu stehen wir genauso; das ist überhaupt nicht das Thema. Darüber reden wir hier heute nicht. ({1}) Aber es ist schwierig, mit Linken aller Couleur in diesem Hause über Gewalt zu reden. Ich zitiere Herrn ­Stegner, der zum Schwarzen Block der Antifa am 8. Juli 2017 auf Twitter Folgendes sagte: Anständige Linke hatten noch nie was mit Gewalttätern gemein. Bei Rechten gehört Gewalt dagegen zur … DNA. ({2}) Insofern haben wir keine gemeinsame Grundlage, auf der wir über Gewalt reden können, weil nach der Definition von Herrn Stegner Gewalt per se gar nicht links sein kann. Falsch, falsch, falsch! Bevor ich mich auf alle anderen Vorredner beziehe, sei eine Sache an das Präsidium gerichtet. Die Kollegin Steffen hat gesagt, wir seien keine demokratische Partei. Wir werden im Ältestenrat rügen, dass hierzu von Frau Roth als Präsidentin kein Ordnungsruf erfolgt ist. Das lassen wir so nicht stehen. ({3}) Zum Kollegen Kindler. Er hat über diejenigen, die unserem Abgeordnetenkollegen Gottschalk die Hand gebrochen haben, gesagt, das seien bunte Kreative gewesen. Da kann ich nur sagen: Ihre bunte Kreativität ist tatsächlich unerträglich. ({4}) Das sind Gewalttäter gewesen, die uns schwer geschädigt haben. ({5}) Aber wir haben ein anderes Problem. Die systematische Verharmlosung dieser Gewalt durch die Medien ist das eine. Das andere ist, dass diese Gewalt nicht nur stillschweigend geduldet wird, sondern auch ausdrücklich unterstützt wird, und zwar von Mitgliedern dieses Hauses und auch von Mitgliedern der Bundesregierung. ({6}) Das sogenannte Bündnis „Aufstehen gegen Rassismus!“ wird in Teilen vom Verfassungsschutz beobachtet. Die Bekämpfung der AfD ist das ausdrückliche Ziel dieses Bündnisses „Aufstehen gegen Rassismus!“. ({7}) Die Bekämpfung der AfD ist das Ziel dieses Bündnisses, und sie sagen auch, wie sie uns bekämpfen wollen. ({8}) Sie wollen uns von den Bühnen und Mikrofonen fernhalten und unsere Wahlkampfstände unschädlich machen; genau so wird es gesagt. Der eigentliche Skandal ist, dass diesen Aufruf zur Gewalt namentlich unterschrieben haben: ({9}) Familienministerin Barley, die Kollegen Högl, Göring-Eckardt und Kipping, ({10}) Hofreiter, Özdemir, Bartsch, Pau, Buchholz, Gehring, Grötsch und Krellmann. ({11}) Den Aufruf des Bündnisses „Aufstehen gegen Rassismus!“, das diese Beutel verteilt, ({12}) in denen alles drin sei, um die Wahlkampfstände der AfD unschädlich zu machen, haben Sie unterschrieben, Frau Högl und Frau Barley – unsere Familienministerin – von der SPD. Sie stehen hinter diesem Aufruf. Ich habe es noch gestern Abend um 23 Uhr auf der Facebook-Seite geprüft; ({13}) Ihre Unterschrift ist dort verzeichnet, Frau Högl. Schauen Sie nicht so! Sie haben das unterschrieben. ({14}) Das Interessante ist, dass Frau Högl so tut – Frau Högl, hallo, sehen Sie mich? –, ({15}) als wüsste sie nicht, dass sie das unterschrieben hat. Und dieses Bündnis kämpft ausdrücklich gegen uns! Nein, meine Damen und Herren, wer so eine Bewegung unterstützt und das unterzeichnet, der kämpft gegen die Demokratie. Der ist ein Problem für die Demokratie, und nicht eine demokratische Partei, wie wir sie sind. ({16}) Dieses Bündnis mit Unterstützung von 14 Abgeordneten dieses Hauses arbeitet zusammen mit der Interventionistischen Linken. Sie wird vom Verfassungsschutz beobachtet und als linksextrem eingestuft. Die Interventionistische Linke steht Schulter an Schulter – auch sie hat diesen Aufruf unterschrieben – mit diesem Bündnis. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN Das ist ein Skandal. ({17}) – Ja, das ist ein Ding, Herr Schulz; das ist ein Ding. Wer also solche Bündnisse unterstützt, ({18}) wer das ausdrücklich tut, der duldet die Gewalt im Namen dieser Gruppen, mit der sie uns bearbeiten. ({19}) Das ist ein Skandal. Davon müssen Sie sich distanzieren. ({20})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Liebe Kollegen, bitte hören Sie der Rednerin zu. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich fordere alle Erstunterzeichner dieses Bündnisses auf – ich habe alle Namen genannt –, ihre Unterschrift von dieser Liste zu entfernen; denn sonst müssen wir daraus schließen, dass sie die Bekämpfer der Demokratie sind und nicht wir. ({0}) Das zum Schluss, weil es eine öffentliche Debatte ist: Meine Damen und Herren, hier sitzen nicht nur Antidemokraten. Es gibt hier eine Partei, die für die Demokratie kämpft, und das ist die AfD. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Michael Frieser. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sie sehen mich ohne Gepäck und ohne Rucksack ans Rednerpult treten, ({0}) allenfalls mit einer gewissen geistigen Last. Frau von Storch, wenn es um die Verrohung der Gesellschaft geht, wenn es um die Art der Auseinandersetzung geht, darum, wie Menschen in diesem Land, in dieser Demokratie miteinander umgehen, wie sie einen Konsens suchen, um das Beste für das Land zu finden, um das Beste für die Menschen herauszuholen: Glauben Sie, dass gegen eine solche Art von Verrohung solch eine Art von Rede hilft? Es tut mir leid; das glaube ich nicht. ({1}) Eine Debatte um extremistische Gewalt gerät immer in die Schwierigkeit, dass je nach Deliktart aufgerechnet wird. Da kommt man moralisch sehr schnell auf dünnes Eis, auf brüchiges Terrain. Je nachdem, wie man das betont, bekommt man von der einen Seite Beifall, bekommt man von der anderen Seite Beifall. Ich kehre zum pädagogischen Prinzip der Wiederholung zurück: Schön, dass wenigstens dieser eine Satz „Gewalt ist kein Mittel der Auseinandersetzung“ durchaus Konsens zu sein scheint! ({2}) Ich wende mich an die linke Seite dieses Hauses und sage: Auch Gewalt gegen Sachen ist kein Mittel der Auseinandersetzung. ({3}) Das gilt für alle in diesem Haus. Das muss für alle Arten auch von extremistischer Auseinandersetzung gelten. Auf der anderen Seite darf ich sagen: Zugefügte Verletzungen persönlicher Natur – in diesem Haus, draußen – tun mir persönlich leid. Das betrifft auch den Herrn Gottschalk. Es tut mir leid, wenn es zu solchen Verletzungen kommen muss. ({4}) Nur, wenn hier Solidaritätsbekundungen eingefordert werden, dann hätte ich mich schon gefreut, wenn es auch Solidaritätsbekundungen mit den Frauen und Männern in Polizeiuniform gegeben hätte, die Sie bei den AfD-Parteitagen schützen, die ihren Kopf hinhalten, zum Teil auch ihr Leben einsetzen – nicht nur in diesem Fall –, auch wenn sie politisch vielleicht nicht derselben Auffassung sind. ({5}) Ich habe es leider Gottes erst festgestellt, als es meines Erachtens etwas zu spät war. Ich glaube, dass Verrohung in der Gesellschaft und in der Auseinandersetzung draußen schon auch etwas mit der Frage zu tun hat, wie man tatsächlich miteinander umgeht. Das prägt das Bild und das Verständnis in diesem Staat und in dieser Gesellschaft. Ich glaube auch, dass sich die Regierung und dieses Haus in einem großen Konsens wirklich darüber einig waren, sehr viel zu tun, um den Menschen dieses Verständnis in umfangreichen Programmen nahezubringen. In das Programm „Demokratie leben!“ – um nur eines aus dem Bereich zu nennen – geht viel Geld. Ich habe in meiner politischen Vita und Agenda zum Beispiel im Umfeld des G-20-Gipfels so viel Verharmlosung, Verniedlichung linksextremer Gewalt erlebt wie selten zuvor. ({6}) Wir müssen auch darüber reden, dass die Programme vielleicht nicht richtig austariert sind. Ich wende mich nun wieder der rechten Seite dieses Hauses zu. Die Vorbereitung der Verrohung der Gesellschaft findet zum großen Teil im Internet statt, und zwar sowohl in praktischer Hinsicht als Anleitung zur Ausübung von Gewalt als auch in intellektueller Hinsicht. Angesichts dessen müssen Sie mir verraten, warum Sie ausgerechnet gegen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz sind, das zum Ziel hat, das Internet nicht mehr als Plattform der Vorbereitung von Hass nutzen zu können. Das versteht kein Mensch mehr. Das sage ich an die Adresse der Kollegen von der AfD. ({7}) Ja, wir müssen in diesem Land wieder über die Strafbarkeit von Sympathiebekundungen für Extremisten reden. Ja, wir müssen auch über eine Extremismusklausel nachdenken. Wir müssen eine positive Haltung, ein Ja zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung einfordern. Ich kann Ihnen nur sagen: Sie alle – auch die neuen Kollegen – sind mitverantwortlich dafür, wie die Gesellschaft miteinander umgeht. Wenn wir an dieser Stelle nicht aufeinander einprügeln – weder tatsächlich noch rhetorisch –, dann kann das auch im Land – das ist meine Auffassung – Schule machen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin in dieser Debatte ist Susann Rüthrich von der SPD-Fraktion. ({0})

Susann Rüthrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004391, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Jede Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzungen lehnen wir entschieden ab. Wenn das im Bundestag alle so sehen würden, hätte diese heutige Aktuelle Stunde einen anderen Titel. ({0}) Sie, die Sie ganz rechts im Plenum sitzen, haben laut Tagesordnung noch am Montag nur sich selbst als Opfer gesehen. Später haben Sie dann immerhin – zumindest kosmetisch – anerkannt, dass die Betroffenen politischer Gewalt nicht nur Sie selbst sind. Wenn wir aber von Gewalt gegen Politikerinnen und Politiker reden, dann können wir nicht schweigen über Henriette Reker in Köln, über Andreas Hollstein in Altena, über Markus Nierth aus Tröglitz oder über Thomas Purwin aus Bocholt. Das ist nur eine Auswahl. ({1}) Das ist die Spitze des Eisbergs; denn Bedrohungen erleben viele, gegen sich selbst und sogar gegen ihre Familienangehörigen, gegen ihre Kinder. Bedroht werden aber nicht nur Politikerinnen und Politiker, sondern auch Journalistinnen und Journalisten, die einfach ihren Job machen – etwa montags in Dresden –, oder diejenigen, die sich engagieren, damit Geflüchtete hier ein Teil der Gesellschaft werden können und ein Dach über dem Kopf haben. Reker, Hollstein, Nierth, Purwin – was haben die Morddrohungen und Anschläge gegen diese Menschen gemeinsam? Richtig, diese Menschen wurden angegriffen, weil sie Geflüchteten eine anständige Unterkunft in ihren Kommunen organisieren wollten. Ich höre und erkenne bei Ihnen, die hier rechts sitzen, keinerlei Bedauern über diese Taten. ({2}) Auch höre ich nichts von Ihnen, wenn Jahr für Jahr mehr als tausend Angriffe auf Geflüchtete und deren Unterkünfte stattfinden. ({3}) Sie erwarten von uns, dass wir uns von den Angriffen auf Sie distanzieren. Das tun wir, weil wir jede Gewalt ablehnen. ({4}) Sie aber verurteilen Gewalt selten, wenn Sie nicht selbst betroffen sind. Stattdessen schieben einige von Ihnen sogar den Angegriffenen selbst die Schuld in die Schuhe; die Täter seien provoziert worden. So berichten Teilnehmende einer Veranstaltung, dass eines Ihrer heutigen Fraktionsmitglieder quasi die gesellschaftlichen Umstände in einer offenen Gesellschaft verantwortlich dafür macht, dass 77 sozialdemokratische Jugendliche von Anders Breivik in Norwegen umgebracht wurden. Der betreffende Kollege bestreitet, das gesagt zu haben. Nehmen wir also ein anderes Beispiel; das wurde heute schon erwähnt. Da tweetet eines Ihrer Fraktionsmitglieder vor wenigen Tagen ein Bild von einer Machete und belustigt sich dann darüber, dass sich die Angesprochenen bedroht fühlen. Das ist nicht lustig. Das ist einfach nur infam. Die Liste mit solchen Beispielen ließe sich beliebig fortsetzen. ({5}) Sie haben die Schaufel in der Hand, mit der Sie den Graben in der Gesellschaft immer tiefer graben. Sie wollen die provokante Schlagzeile, um Aufmerksamkeit zu erregen. Sie heizen die Debatte an, in der ein Klima der Angst entsteht. Und am Ende stellen Sie sich als Opfer hin? Nein! Wissen Sie, wie ich so etwas nenne: den Wolf im Schafspelz. ({6}) Sie nutzen die Schaufel in der Hand, um Gräben zu vertiefen. Wir dagegen bauen damit Häuser. Wir haben mit dem Integrationsgesetz das Zusammenleben hier organisiert. Wir wollen mit einem Einwanderungsgesetz für Klarheit sorgen, wer hierherkommen kann, Klarheit für die hiesige Bevölkerung genauso wie für die Menschen, die kommen wollen. Wir stehen an der Seite derer, die Tag für Tag den Zusammenhalt der demokratischen Gesellschaft organisieren und dafür einstehen, und zwar indem wir die Bundesprogramme „Demokratie leben!“ und „Zusammenhalt durch Teilhabe“ ordentlich ausgestattet haben. Wir wollen ein Gesetz, das dafür sorgt, dass genau diese Engagierten endlich eine dauerhafte Perspektive bekommen. Auch sozialpolitisch spielen Sie Menschen gegeneinander aus, weil Sie von der Spaltung leben und nicht von gelösten Problemen. ({7}) Wir haben den Mindestlohn eingeführt, als Sie noch dagegen waren. Wir haben ein Rentenkonzept, Sie nicht. ({8}) Wir sorgen mit dem Teilhabegesetz für Inklusion, während Mitglieder aus Ihren Reihen abfällig von den Menschen reden, deren Rechte wir damit stärken. ({9}) Viele von uns wollen die Kindergrundsicherung, während mein AfD-Gegenkandidat meinte, wir seien immer noch eine Leistungsgesellschaft, ({10}) und Kinderarmut gäbe es gar nicht in Deutschland. ({11}) Wir wollen, dass sich alle in unserer offenen Gesellschaft wohl und sicher fühlen. Wir wollen Probleme lösen, Sie nicht. ({12}) Und übrigens: Wenn Sie – freundlich formuliert – kontroverse Positionen beziehen, dann müssen Sie mit Kritik auch umgehen können. Friedliche Gegenproteste vor Parteitagen kennen wir alle. Das müssen Sie aushalten. Das nennt man Demokratie. ({13}) Niemand verbietet Ihnen den Mund. Viele sind einfach anderer Meinung, und die sagen das auch. Das ist deren und unser gutes Recht in diesem Land. ({14}) Ich fordere Sie also auf: Verurteilen Sie wie wir jede Gewalt in der politischen Auseinandersetzung und nicht nur die, bei der Sie sich selbst als Betroffene sehen. So viel Anstand dürfen wir von Mitgliedern des Deutschen Bundestags erwarten. Vielen Dank. ({15})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde ist Dr. Hendrik Hoppenstedt von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Hendrik Hoppenstedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004305, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag der AfD, ausgelöst durch einen Angriff auf den AfD-Bundestagsabgeordneten Gottschalk am Rande des Parteitages in Hannover, befasst sich laut Titel ausschließlich mit linksextremen Straftaten. Zugleich schreibt der betroffene Abgeordnete in einem offenen Brief, nachzulesen auf Facebook, an den Bundestagspräsidenten: Durch skandalöse Tatenlosigkeit der Regierung Angela Merkel werden AfD-Mitglieder „an der Wahrnehmung ihrer grundgesetzlich garantierten Rechte gehindert, Funktionäre bedroht und körperlich angegangen, bis hin zu schwersten Verletzungen“. Damit wird ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Regierungshandeln bzw. Unterlassen auf der einen Seite und der Straftat gegen Herrn Gottschalk auf der anderen Seite gezogen. ({0}) – Schön, dass es Ihnen gefällt. ({1}) Sie gestatten mir dazu fünf Bemerkungen: Bemerkung Nummer eins. Gewalt darf niemals Mittel der politischen Auseinandersetzung sein. ({2}) Politische Gewalt ist illegal, egal aus welcher Richtung sie kommt. ({3}) – Freuen Sie sich jetzt nicht zu früh; es ist noch nicht Weihnachten. Es geht noch weiter. – Wer Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung nutzt, ist kriminell, sonst nichts, und gehört abgeurteilt. ({4}) Insoweit ist es selbstverständlich, dass ich den Angriff auf den Abgeordnetenkollegen Gottschalk hier verurteile und gute Genesung wünsche. ({5}) Bemerkung Nummer zwei. Der AfD-Antrag erweckt den Eindruck, dass wir es nur mit linksextremistischen Straftätern zu tun haben. ({6}) Das ist so ähnlich wie bei der Linkspartei, die diesen Antrag in abgeänderter Form auch immer wieder stellt und sich dabei nur mit rechtsextremistischen Straftätern befasst. Ein Blick auf die Statistik der politisch motivierten Kriminalität des BKA im Jahre 2016 hilft, klarer zu sehen: Von den 1 643 Straftaten gegen Mandatsträger auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene sind 151 Delikte durch Linksextreme, aber 696 Straftaten durch Rechtsextreme begangen worden. Das bedeutet: Wir haben viermal mehr Straftaten von rechts als von links. Umso unverständlicher ist es, dass Sie als AfD in der Überschrift zu Ihrem Antrag die Straftaten der Rechten so unter den Tisch haben fallen lassen. ({7}) Ich hoffe sehr, dass das nicht auf irgendwelche wahlkampftaktischen Motive zurückzuführen ist. Bemerkung Nummer drei. Sie tun so, als ob nahezu ausschließlich AfD-Vertreter Opfer politisch motivierter Straftaten werden. ({8}) Das ist in hohem Maße irreführend. Ich will nur einige Beispiele nennen – das ist ja heute schon oft genug gemacht worden –: Der Bürgermeister Andreas Hollstein aus der Stadt Altena im Sauerland ist vor wenigen Wochen schwer verletzt worden. Auf Frau Reker ist heute schon mehrfach hingewiesen worden. Ich möchte aber auch die Kollegin Müntefering aus Herne hier benennen, deren Autos im Wahlkampf, wie ich glaube, mehrfach gebrannt haben. ({9}) Deswegen gibt es keinen Grund, warum die AfD sich alleine als Opfer hochstilisiert. ({10}) Andere sind genauso betroffen – was die Sache natürlich insgesamt nicht besser macht. ({11}) Bemerkung Nummer vier: Die angebliche Tatenlosigkeit der Regierung Merkel sei Grund für die erfolgten Straftaten, schreibt der Abgeordnete Gottschalk in seinem offenen Brief an den Bundestagspräsidenten. Diese Aussage finde ich einigermaßen unverschämt. ({12}) Im Bundestagswahlkampf habe ich beobachtet, dass an den Ständen der AfD an die Passanten kleine Ausgaben des Grundgesetzes verteilt worden sind. Damit wollten Sie wahrscheinlich zum Ausdruck bringen, dass Sie in hohem Maße verfassungstreu sind. Möglicherweise wollten Sie auch zum Ausdruck bringen, dass das für die anderen Parteien nur eingeschränkt gilt. Ich will auf jeden Fall darauf hinweisen, dass es nicht verboten ist, Grundgesetztexte zu verteilen. ({13}) Aber es wäre schön, wenn Sie das gelegentlich auch einmal lesen würden, was Sie da verteilen; ({14}) denn dann hätten Sie wissen müssen – von Artikel 1 des Grundgesetzes will ich jetzt gar nicht sprechen –, dass der Bund zwar über die allermeisten Gesetzgebungskompetenzen verfügt, dass aber im Hinblick auf den Gesetzesvollzug unsere föderale Ordnung nahezu ausschließlich die Bundesländer in der Pflicht sieht. Genau darum geht es hier: um den Schutz einer Parteiveranstaltung und der daran teilnehmenden Delegierten. Das fällt in allererster Linie und nahezu ausschließlich in Länderzuständigkeit, wie fast alles in den Bereich der Länderzuständigkeit fällt, was die Prävention, aber auch die Verfolgung von Straftaten mit sich bringt. Das hat übrigens mit der Bundeskanzlerin nichts, aber auch wirklich nichts zu tun. ({15}) Das bringt mich zu der fünften und auch letzten Bemerkung: Um potenzielle Straftäter abzuschrecken, benötigen wir schlagkräftige Sicherheitsbehörden. Wir als Union haben, auch auf Initiative von Thomas de Maizière, in den letzten Jahren Tausende neue Stellen geschaffen; und wir werden diesen Weg fortsetzen. Wir brauchen aber auch mehr Engagement der Länder. Das betrifft nicht nur die Aufstockung der Landespolizeien, sondern das betrifft auch die personelle Stärkung der Justiz. Dieses Thema wird vielerorts immer noch stiefmütterlich behandelt. Doch die besten Aufklärungsarbeiten der Polizei nützen nichts, wenn die Justiz die Straftäter anschließend nicht aburteilt, sondern wegen Überlastung die Verfahren einstellt. ({16}) Das frustriert nicht nur die Polizisten, das schwächt vor allen Dingen das Vertrauen in unseren Rechtsstaat. Deswegen ist es so wichtig, dass wir in dieser Wahlperiode mit den Ländern ins Gespräch kommen, damit es im Rahmen eines Paktes für Justiz zu signifikanten Verbesserungen kommt. Herzlichen Dank. ({17})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.

Andrea Nahles (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der nächsten Woche jährt sich der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz hier in Berlin. Dieser Anschlag – das haben viele so empfunden – war ein Anschlag auf uns alle. Er hat Menschen aus dem Leben gerissen, er hat Familien zerrissen, und er hat unendliches Leid und Schmerz für die Opfer und Angehörigen gebracht. Ich möchte deswegen sagen: Den Opfern und Angehörigen gilt auch heute unser tief empfundenes Mitgefühl. Wir haben an dieser Stelle, wie ich denke, wirklich eine gemeinsame Haltung in diesem Haus. ({0}) Zu der Trauer und auch der Anteilnahme ist allerdings im Laufe des letzten Jahres ein anderes Gefühl hinzugetreten, das mich sehr bedrückt. Es ist bei mir ein Gefühl von Scham und Schuld aufgetreten, je mehr Tatsachen durch die Aufklärungsarbeiten über das, was vorgefallen ist, an den Tag gebracht wurden, Tatsachen, bei denen wir uns eingestehen müssen, dass wir letztendlich bei der Verhinderung dieses Anschlags versagt haben. Aber was besonders schlimm ist: Wir haben auch noch versagt, angemessen auf die Opfer und Angehörigen zuzugehen und sie angemessen zu unterstützen. Das muss hier und heute benannt werden. ({1}) Es sind Missstände in der Terrorismusbekämpfung ans Tageslicht gekommen, beispielsweise die viel zu lückenhafte oder späte Registrierung von Asylbewerbern. Bei der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden der unterschiedlichen Ebenen unseres Landes ist es so gewesen, dass es unklare Kompetenzen und auch Fehleinschätzungen gegeben hat, Fehleinschätzungen beispielsweise in Bezug auf die Frage der Überwachung von Gefährdern. Gerade der Täter vom Breitscheidplatz hat mehrere Straftaten begangen, aber es wurde kein Haftbefehl beantragt. Ich muss an dieser Stelle sehr klar sagen, dass sich das ändern muss. Deswegen ist es gut, wenn wir Anfang nächsten Jahres zu diesem Thema einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss einsetzen, um diesen Sachverhalt weiter aufzuklären. ({2}) Das Ziel dieses Untersuchungsausschusses muss es sein, einerseits die Verantwortung der Bundesbehörden zu beleuchten, andererseits Konsequenzen aus den Fehlern zu ziehen. Es muss sich aber auch ändern, wie auf die Opfer von Terroranschlägen und ihre Angehörigen zugegangen wird. Regierung und Behörden haben teilweise unbeholfen und ohne Routine reagiert. Ich selber war bei dem Trauergottesdienst dabei. Mir war nicht bewusst – was später klar geworden ist –, dass viele der Angehörigen zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht wussten, ob geliebte Menschen unter den Opfern waren. Finanziell erhielten viele nicht die Unterstützung, die sie erwartet oder dringend gebraucht hätten – zumindest nicht so unbürokratisch, wie es notwendig gewesen wäre. Auch dabei brauchen wir eine Veränderung. Ich möchte heute den Angehörigen der Opfer vom Berliner Breitscheidplatz meinen allergrößten Respekt aussprechen; denn sie haben die Kraft aufgebracht, mit diesem schweren Schicksal umzugehen. Sie haben aber auch noch die Kraft gehabt, sich gegenseitig zu unterstützen. Und sie haben sich zusammengeschlossen, um in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin einen Handlungsbedarf des Gesetzgebers aufzuzeigen. Ich denke, dass das Respekt verdient; denn es ist nicht selbstverständlich, diese Sache in dieser Weise zustande zu bringen. Es gibt hier, jedenfalls bei uns, ein offenes Ohr für die Anliegen. ({3}) Kurt Beck ist der von der Bundesregierung Beauftragte für die Opfer der Hinterbliebenen. Er hat sich in die Sache reingekniet und heute im Kabinett seinen Bericht vorgelegt. Er hat eine ganze Reihe von Änderungsvorschlägen gemacht, die die Bundesregierung annehmen wird. Wir wissen, dass bereits eine umfangreiche Reform des Entschädigungsrechtes von der Bundesregierung erarbeitet wird. Dieser Punkt muss erweitert werden um die Aufarbeitung und die Erkenntnisse des Berichtes des Opferbeauftragten Kurt Beck, dem ich an dieser Stelle dafür ebenso danke wie der Bundesregierung für die Bereitschaft, diese Aspekte aufzunehmen. ({4}) Die Einrichtung von einheitlichen Anlaufstellen, eine bessere finanzielle und unbürokratischere Soforthilfe, psychologische Betreuung – das sind Erkenntnisse, die wir hier gesammelt haben, und das alles sind Dinge, die wir in Zukunft brauchen werden; ich hoffe, so selten, wie es nur irgend geht. Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist, heute einen gemeinsamen Antrag mit CDU/CSU, der FDP und Bündnis 90/Die Grünen vorzulegen und damit zum Ausdruck zu bringen, dass dieser Anschlag nicht vergessen ist und dass wir daraus für die Zukunft Konsequenzen ziehen wollen. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Volker Kauder ist der nächste Redner in der Debatte für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass wir auf die Anregung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hin in diesem Deutschen Bundestag eine breite Mehrheit hinbekommen haben, um einen solchen Antrag vorzulegen. Der Anlass war, dass der Opferbeauftragte der Bundesregierung, der frühere Ministerpräsident Beck, heute seinen Bericht vorlegt. Aber der Anlass war auch, dass wir in der letzten Legislaturperiode mit einer Reform der Opfer­entschädigung leider nicht so vorangekommen sind, wie wir es uns eigentlich vorgenommen haben, Frau Nahles. Deswegen hat dieser Antrag zwei Elemente. Zum einen wollen wir uns mit der Frage beschäftigen: Was müssen wir tun, damit die Opfer von Gewalt durch Terrorismus richtig entschädigt werden, und wie geht man mit ihnen richtig um? Zum anderen müssen wir aber auch klar sehen, dass trotz eines Opferentschädigungsgesetzes, das es in kaum einem anderen Land der Welt so gibt wie bei uns, noch immer Opfer, die nicht Opfer von Terror, sondern von Gewaltkriminalität in unterschiedlichster Form geworden sind, nicht angemessen entschädigt werden. Ich hätte mir gewünscht, dass wir im selben Atemzug, in dem wir diesen Antrag heute vorlegen und Vorschläge machen, auch die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zum Fall Amri hätten beschließen können. ({0}) Diese Anregung für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses habe ich nicht erst vor 14 Tagen gemacht, sondern schon vor längerer Zeit. Unmittelbar nach dem, was am Breitscheidplatz passiert ist, habe ich gesagt: Das muss genau untersucht werden. Denn es bestärkt natürlich nicht das Vertrauen in den Rechtsstaat, wenn so viele Pannen auf einmal in einem einzigen Fall passiert sind wie im Fall Amri. ({1}) Wir wollen diesen Untersuchungsausschuss, um zu wissen, was passiert ist, aber vor allem, um daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. ({2}) Ich kann nur sagen, was man als Erstes spürt: Wenn es tatsächlich so war, dass das Zusammenwirken der verschiedenen Behörden auf Landes- und Bundesebene zu diesen Problemen geführt hat, dann kann man nicht sagen: „Wir ändern nichts daran“, vor allem nicht dann, wenn der Bundesinnenminister sagt: Wir müssen uns über die Sicherheitsarchitektur noch einmal ernsthaft Gedanken machen. ({3}) Da sind Länder und der Bund gefragt. Vor diesem Hintergrund würde ich dringend dazu raten, dass keiner sagt: Das ist unser Kompetenzbereich. – Den Menschen und vor allem den Opfern ist es ziemlich egal, wer zuständig ist. Funktionieren muss es, liebe Kolleginnen und Kollegen, und daran haben wir Zweifel.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Kauder, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. – Was den Opferschutz angeht, finde ich schon: So dramatisch die Situation der Opfer von Terror ist, so dramatisch ist für die Frau, die vergewaltigt worden ist, auch der Angriff auf ihre körperliche Unversehrtheit. Deswegen ist es richtig, dass wir heute nicht nur der Opfer von Terrorismus gedenken, sondern sagen: Der Opferschutz muss für alle, die Opfer von Gewalttaten geworden sind, verbessert werden. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Zu seiner ersten Rede rufe ich den Kollegen Roman Reusch von der AfD auf. ({0})

Roman Johannes Reusch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004863, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ein Antrag von fünf der sechs Fraktionen dieses Hohen Hauses eingereicht wird, dann fragt man sich doch unwillkürlich – ({0}) – vier, ich kann anscheinend nicht zählen –: ({1}) Was ist denn mit der letzten Fraktion? ({2}) Für die kann ich sagen: Die ist gar nicht gefragt worden, ob sie mitmachen will oder nicht. ({3}) – Woran das wohl liegt? Ja, möglicherweise hatte der PGF der CDU/CSU die Nummer unseres PGF gerade verlegt, wahrscheinlich aber nicht. Oder aber Sie gingen davon aus, dass ausgerechnet wir der Entschädigung von Opfern, der besseren Behandlung von Opfern nicht zustimmen würden. Das ist wohl auch nicht so wahrscheinlich. ({4}) Also drängt sich auf, Sie haben wieder die übliche Politposse abgezogen: Mit den Schmuddelkindern spielen wir nicht. ({5}) Das ist bei anderen Sachverhalten schon einfach nur lächerlich und kindisch, ({6}) es ist in diesem Fall aber doch sehr, sehr betrüblich. ({7}) – Ich rede über das Thema. Das hier von Frau Nahles angesprochene gemeinsame Zeichen des Hauses haben Sie dadurch ein Stück weit verfehlt. Es wäre doch schön gewesen, wenn alle Fraktionen dieses Hauses diesen Antrag gestellt hätten. ({8}) – Ja, danke für den Hinweis. Also: Mit den Schmuddelkindern spielen wir nicht. Gut. Zur Sache. Wir begrüßen diesen Antrag und werden ihm auch zustimmen. Die Frage ist allerdings: Weshalb kommt dieser Antrag erst jetzt? Hätte der Antrag nicht schon elf Monate früher kommen müssen oder sollen? ({9}) Schon sehr schnell nach dem Attentat haben die Zeitungen über die Schicksale der Überlebenden und der Hinterbliebenen der Toten berichtet. Sie haben beschrieben, wie es ihnen im Behördendschungel erging – monatelang. Die Presse ist an diesem Thema drangeblieben. Es gab keine Reaktion. Warum nicht? Jetzt auf einmal dieser Antrag. ({10}) – Wunderbar. Extrabeauftragter ist immer gut. Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gründe ich einen Arbeitskreis. Genau, richtig. ({11}) – Ja, gut, wunderbar, ich bin kein Mathematiker. ({12}) Jetzt kommt von Hinterbliebenen ein offener Brief an Frau Merkel. Auf einmal wird dieser Antrag am Montagabend auf die Tagesordnung gesetzt. Montagnacht um 10 Uhr lag sein Text vor. Besteht da ein Zusammenhang? Oder ist das die Methode Merkel? Es war ein Problem, über das die Zeitungen eindeutig berichteten. Hier sah Frau Merkel nicht so gut aus. Sie wurde persönlich angegangen. Das ist typisch die Methode Merkel: Wenn sich ein Problem eventuell auf die Umfragewerte auswirken könnte, dann wird es abgeräumt. ({13}) Dieses Abräumen findet jetzt statt. Wenn wir über Opferschutz reden, dann möchte ich darauf aufmerksam machen, dass der beste Opferschutz die Verhinderung dessen ist, dass jemand zum Opfer wird. ({14}) Herr Kauder hat schon angekündigt und auch Frau Nahles hat darüber gesprochen, dass wir in uns gehen und nachforschen müssen, wo die Ursachen für dieses ausgesprochene Staatsversagen liegen. Sie wollen jetzt einen Untersuchungsausschuss einsetzen. In NRW gibt es einen, in Berlin gibt es einen. Beide stehen unter der Prämisse: Haltet den Dieb, die Politik kann nicht schuld sein, es sind irgendwelche untergeordneten Beamten. ({15}) Das ist jedenfalls der Eindruck, der an der Basis der Sicherheitsbehörden ankommt. ({16}) Aus meiner Erfahrung kann ich Ihnen nur sagen: Wenn Sie einen terroristischen Gefährder halbwegs sicher ungefährlich machen wollen, dann gibt es genau zwei Möglichkeiten. Sie müssen ihn, falls es sich um einen Ausländer handelt, abschieben. Das ist so gut wie unmöglich. Nur in seltenen Fällen kann man jemanden abschieben. Also muss man die Hindernisse für eine Abschiebung, die zahlreich sind, beseitigen. ({17}) Oder man muss einen solchen Gefährder aus dem Verkehr ziehen und ihn, solange die Gefahr von ihm ausgeht, einsperren – Sicherungshaft. ({18}) Ich gehe fest davon aus, dass keins von beidem erfolgen wird. Wir werden sicherlich weitere Opfer zu beklagen haben. Ich kündige an, wir stimmen zu, und bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit. ({19})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Konstantin Kuhle spricht jetzt für die FDP-Fraktion. ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Reusch, es wäre schön, wenn wir jetzt nach fast zwei Stunden auch mal wieder über etwas anderes reden könnten als die Befindlichkeiten der AfD-Fraktion. ({0}) Die Familien der Opfer des schrecklichen terroristischen Anschlags am Berliner Breitscheidplatz haben sich vor kurzem mit einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin gewandt. Die Angehörigen machten in diesem Brief deutlich: Erstens. Sie sind von den verantwortlichen Stellen und von den Regelungen zur Opferentschädigung enttäuscht. Zweitens. Sie hätten sich früher Informationen über das Schicksal ihrer Angehörigen erwünscht und diese auch erwartet. Drittens. Sie empfinden die Regelungen zur Entschädigung von Angehörigen als zu kompliziert, als zu bürokratisch und oft auch als unzureichend. Viertens. Die Angehörigen verfolgen sehr genau, ob die Fehler der Politik und der Sicherheitsbehörden im Zusammenhang mit der Gefahr, die von dem Attentäter Anis Amri schon vor dem Anschlag ausging, hier aufgearbeitet werden. Es ist das Mindeste, was wir heute an dieser Stelle tun können – neben dem Ausdrücken unseres Mitgefühls –, dass wir klar und deutlich bekennen: Es tut uns leid – ({1}) es tut uns leid, dass die Verantwortlichen und die bestehenden Regelungen Sie enttäuscht haben, und wir entschuldigen uns dafür, dass auf diese Weise Verletzungen entstanden sind, jenseits der körperlichen Verletzungen. Der Staat hat die Pflicht, die Bürgerinnen und Bürger zu schützen, und zwar nicht nur die eigenen Staatsbürger, sondern auch diejenigen, die sich in Deutschland aufhalten. Dazu verfügt er über das staatliche Gewaltmonopol. Wenn er nicht in der Lage ist, dieser Pflicht, seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen, nachzukommen, dann wandelt sich diese Schutzpflicht in eine Entschädigungspflicht, dann wandelt sie sich in eine Pflicht, die Opfer von Gewalttaten und deren Familien angemessen zu behandeln. Insofern müssen die Erlebnisse und Erfahrungen der Familien der Opfer vom Breitscheidplatz Anlass sein, die bestehenden Regelungen zu überprüfen und auch das Verfahren auf den Prüfstand zu stellen. Denn die bestehenden Regelungen für die Entschädigung der Opfer und ihrer Angehörigen sind tatsächlich überarbeitungsbedürftig. Macht es wirklich einen Unterschied, ob ein Opfer eines terroristischen Anschlags die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedslandes hat oder nicht? Macht es wirklich einen Unterschied, ob ausländische Opfer sich länger in Deutschland aufhalten oder als Touristen zum Opfer werden? Die Opferfamilien werfen in ihrem offenen Brief zu Recht die Frage auf, ob die Höhe der Entschädigung angemessen ist. Sie werfen die Frage auf, wie sich verschiedene berufliche Voraussetzungen auf die Entschädigung auswirken, zum Beispiel bei Kindern in Ausbildung, zum Beispiel bei Selbstständigen. Es darf nicht sein, dass Opferfamilien trotz materieller Entschädigung nach dem Anschlag schlechter dastehen als zuvor. Da muss etwas an den Entschädigungsregelungen geändert werden. Es ist gut, dass der vorliegende Antrag hier Abhilfe schaffen will.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ehrhorn?

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr gerne.

Thomas Ehrhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004707, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Verehrter Herr Kollege, natürlich – Sie haben es gerade gesagt – tut es Ihnen leid; uns allen tut es leid. Das ist völlig klar. Ich denke aber, das reicht in der Tat nicht. Wenn es um Entschädigungen für Opfer geht, dann reicht es nicht, über Beträge im Bereich von 10 000 Euro zu sprechen. – Das ist das eine. Nun zu meiner Frage. Herr Kollege, sind Sie nicht vielleicht auch mit mir der Meinung, dass es eine Kausalität zwischen dem Umstand, dass wir lange Zeit die Sicherung unserer Grenzen vernachlässigt haben, ({0}) und diesen furchtbaren Vorfällen gibt? Ich rede dabei nicht von Toten, sondern auch von vielen vergewaltigten Frauen. ({1}) Wären Sie, wenn Sie anerkennen würden, dass es diese Kausalität gibt, vielleicht auch bereit, einzugestehen, dass wir eine Verantwortung für solche Vorfälle tragen? ({2})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Eine solche Kausalität mag im Einzelfall vorliegen. Es ist jedoch ganz offen die Frage zu formulieren: Welche Möglichkeiten hat eigentlich die Politik, um die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten? Da gibt es zwei Herangehensweisen: Es gibt diejenigen, die sich im Umgang mit solchen Ereignissen von Angst, von Hass, von negativen Gefühlen leiten lassen, und es gibt diejenigen, die klar und deutlich bekennen: Eine hundertprozentige Sicherheit wird es auch mit den von Ihnen vorgeschlagenen geschlossenen Grenzen nicht geben. ({0}) Das ist eine Illusion, ({1}) der man redlicherweise nicht verfallen sollte, wenn man sicherheitspolitisch seriös argumentieren will. Deswegen bitte ich darum, dass wir bei der Sache bleiben und uns den Brief der Opferfamilien noch einmal genau zu Gemüte führen, in dem sehr klar dafür plädiert wird, die Höhe der Entschädigungszahlungen massiv heraufzusetzen. Das unterstützt die FDP-Fraktion gerne, aber Ihre Kausalitätsspielchen nicht. ({2}) Neben der Überarbeitung der rechtlichen Regelung bedarf es auch einer Überarbeitung des Verfahrens. Schauen wir uns die beiden zentralen Anspruchsgrundlagen an. Das ist zum einen das Opferentschädigungsgesetz, und es sind zum anderen die sogenannten Härteleistungen für Opfer terroristischer Straftaten aus dem Bundeshaushalt. In beiden Regelungsbereichen läuft das Ganze im Falle Breitscheidplatz am Ende auf eine Härtefallregelung hinaus. Das Opferentschädigungsgesetz ist nach seinem Wortlaut nicht anwendbar auf Angriffe mit Kraftfahrzeugen. Erst durch eine ministerielle Vereinbarung kann ein Härtefall festgestellt werden. Bei der Opferentschädigung aus dem Bundeshaushalt verhält es sich ähnlich. Schon in der Präambel heißt es, auf die entsprechende Leistung bestehe kein Rechtsanspruch. Das heißt: zweimal kein Anspruch, zweimal Härtefall. Das bedeutet doppelte Ungewissheit für die Menschen in dem Moment größter Trauer. Deshalb muss dieses Verfahren dringend überarbeitet werden. Es sollte zum Beispiel einen zentralen Ansprechpartner geben. Außerdem sollte man nur einen Antrag für verschiedene Leistungen stellen müssen, der dann von den entsprechenden Stellen gemeinsam geprüft wird. Wir sind dafür, dass auch auf Bundesebene schnellstmöglich ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss zum Fall Amri eingesetzt wird. Wir sehen dem Abschlussbericht des Opferbeauftragten Kurt Beck mit Freude entgegen. Lassen Sie mich noch einmal betonen: Wir können die schrecklichen Ereignisse vom Breitscheidplatz nicht rückgängig machen. Wir können aber gemeinsam daran arbeiten, dass die Opfer anständig behandelt werden und dass die Wahrscheinlichkeit für solche Taten in Zukunft sinkt. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke spricht nun Dr. André Hahn. ({0})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Anliegen des vorliegenden Antrags, die Opferentschädigung von Verletzten und Hinterbliebenen von Terroranschlägen und anderen Gewalttaten deutlich zu verbessern, unterstützt die Linke ohne Wenn und Aber. Das gilt nicht allein für die Opfer des Terroranschlags vom 19. Dezember auf dem Berliner Breitscheidplatz; denn auch in anderen Fällen war und ist die staatliche Unterstützung unzureichend. Ich erinnere mich noch gut an die Debatte nach dem Auffliegen des NSU im November 2011. Ich war damals Fraktionsvorsitzender im Sächsischen Landtag. Das Entsetzen war parteiübergreifend sehr groß; dabei waren noch nicht alle Verbrechen bekannt, für die der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund verantwortlich war. Damals, also vor gut sechs Jahren, gab es von höchster Stelle, angefangen bei der Bundeskanzlerin bis hin zum Sächsischen Ministerpräsidenten, diverse Versprechungen. Man werde alles tun, um die Vorgänge lückenlos aufzuarbeiten, Verantwortliche für die grauenhaften Taten zur Rechenschaft zu ziehen und die Hinterbliebenen staatlicherseits zu unterstützen. Viele dieser Zusagen sind leider bis heute nicht eingelöst worden. ({0}) Für uns als Linke steht fest: Das derzeit gültige Opferentschädigungsgesetz muss dringend überarbeitet werden. Es darf zum Beispiel nicht länger so sein, dass die Beweislast am Ende bei den Geschädigten liegt. Weitere Punkte hat der Kollege von der FDP eben richtigerweise angesprochen. Zwar hat der Bundestag in der letzten Legislaturperiode einstimmig ein Gesetz zur Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld verabschiedet – das ist positiv –, aber am 18. Mai zugleich gegen die Stimmen von Linken und Grünen den Entwurf zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes abgelehnt. Dazu ein Zitat aus der Beschlussempfehlung: Die Fraktion der CDU/CSU machte geltend, dass … in der Folge des schrecklichen Attentates auf dem Berliner Breitscheidplatz allen Opfern bzw. ihren Hinterbliebenen geholfen werden konnte. Daher gebe es … keinen akuten Regelungsbedarf. Was für eine fatale Fehleinschätzung, kann ich da nur sagen. Auch Herr Beck sieht das offenkundig anders, sonst brauchte es den vorliegenden Antrag heute nicht. ({1}) Der Staat ist und bleibt hier in der Verantwortung. Bei dem fürchterlichen Anschlag auf dem Breitscheidplatz geht es nicht um die Strafverfolgung, denn der Täter ist tot. Aber bis heute hat noch niemand die politische Verantwortung für das schier unglaubliche Behördenversagen im Fall Amri übernommen und entsprechende Konsequenzen gezogen. Dass die Angehörigen der Opfer darüber wütend sind, kann ich sehr gut verstehen. ({2}) Es hapert nicht nur bei der juristischen und politischen Aufarbeitung, sondern auch bei der psychologischen Unterstützung und der finanziellen Entschädigung. Dabei ist sicherlich uns allen klar: Kein noch so hoher Geldbetrag kann den Verlust der Toten, kann das Leid der Verletzten und Angehörigen wirklich ausgleichen. Und dennoch brauchen wir endlich eine Entschädigungsregelung, die diesen Namen halbwegs verdient. Der vorliegende Antrag könnte dazu einen Beitrag leisten. Deshalb werden wir ihm auch zustimmen. Ich habe eingangs über die Debatte im Sächsischen Landtag zum NSU gesprochen. Damals gab es dazu einen gemeinsamen Entschließungsantrag von CDU, Linken und SPD, was in Sachsen wahrlich nicht immer selbstverständlich war. Wir als Linke hätten gerne auch den jetzt zur Abstimmung stehenden Antrag mitgezeichnet. Herr Kauder hat ganz offenbar vergessen, uns diesbezüglich anzusprechen. ({3}) Ich bin ganz sicher, Herr Kauder, die Angehörigen der Opfer vom Breitscheidplatz haben für derartige parteipolitische Spielchen kein Verständnis. ({4}) Ein letzter Punkt: Im vorliegenden Antrag ist ganz oft die Rede davon, dass etwas geprüft und vielleicht irgendwann später vorgelegt werden soll. Meine Fraktion und ich meinen: Wir brauchen keine weiteren Ankündigungen, mit denen die Betroffenen hingehalten werden; wir brauchen eine schnelle und durchgreifende Änderung der geltenden Regeln. Dafür steht Die Linke. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen spricht nun Katrin Göring-Eckardt. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Worte eignen sich eigentlich überhaupt nicht, um das Leid der Opfer und derjenigen zu begreifen, die ihre Angehörigen, ihre Liebsten, ihre Töchter, ihre Söhne, ihre Lebenspartner verloren haben. Es ist überhaupt nicht möglich an einem solchen Tag, der für diese Menschen eine gewaltige Zäsur bedeutet, ihr Leid in Worte zu fassen. Aber Worte sind bitter nötig. Ich sage das deswegen am Anfang meiner Rede, weil ich es kläglich finde, dass die Bundeskanzlerin ein Jahr gebraucht hat, um mit diesen Opfern überhaupt ins Gespräch zu kommen. Ich glaube, sie haben anderes erwartet, und sie haben zu Recht anderes erwartet, meine Damen und Herren. ({0}) Das ist eine menschliche Frage, aber natürlich auch eine politische Frage. In Zeiten, in denen das Vertrauen in die Institutionen immer geringer wird, ist eine angemessene Reaktion umso wichtiger. Worte sind wichtig. Wir aber sind Gesetzgeber. Deshalb ist es für uns umso wichtiger, dass den Worten Taten folgen und sich ganz real etwas ändert. Frau Nahles und Herr Kauder, Sie haben hier gesagt, dass zu den notwendigen Taten gehört, dass aufgeklärt wird, wie ein Herr Amri überhaupt noch in Freiheit sein konnte. Natürlich verfolgen das die Opfer und die Angehörigen der Opfer. Jetzt aber mal ganz ehrlich: Sie stellen sich heute hier hin und sagen, dass das jetzt ganz klar ist. Herr Kauder hat schon im Frühjahr gesagt, man müsse ja wohl einen Untersuchungsausschuss einrichten. Sie haben ihn aber nicht eingerichtet. Warum eigentlich nicht? Wir haben hier einen entsprechenden Antrag gestellt. Wir haben nachgefragt: Warum gibt es diesen Untersuchungsausschuss nicht? Wenn man Vertrauen in Politik und Institutionen haben möchte und gerade wenn man das Vertrauen der Opfer in die Rechtsstaatlichkeit zurückgewinnen will, dann sollte man nicht warten, bis eine Wahl vorbei ist, sondern dann muss man diesen Ausschuss gleich einrichten. Deswegen sollten wir ihn wenigstens jetzt einrichten, und zwar bitte sehr schnell. Manchmal kann spät eben auch zu spät sein, meine Damen und Herren. ({1}) Es geht um die Frage, was zu tun ist. Nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz haben wir sehr schnell dafür gesorgt, dass hier im Parlament ein Gesetzentwurf zur Opferentschädigung beraten wurde. Leider wurde er nicht beschlossen. Schon im Koalitionsvertrag der Großen Koalition von 2013 konnten wir lesen, dass die Regelungen zur Opferentschädigung geändert werden sollten. Die vier Jahre der Großen Koalition sind verstrichen. Aufgrund der Tatsache, dass bei einem Anschlag mit einem Auto, wie auf dem Breitscheidplatz geschehen, keine Opferentschädigung nach dem Gesetz erfolgt, sondern man in dem Fall eine Härtefallklausel braucht, ist es jetzt dringend notwendig, dieses Thema sehr schnell anzugehen. Genau deswegen stimmen wir diesem Antrag zu. Wir sind der Meinung, dass diese Menschen es verdient haben, dass es jetzt wirklich losgeht. Ich weiß, wie schwierig es gerade ist, eine Bundesregierung zu bilden. Aber ich bitte darum, dass man nicht wartet, bis man mit der Regierungsbildung irgendwie weitergekommen ist. Lassen Sie uns das bitte jetzt machen. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass die Regelung geändert wird. Es gibt eine geschäftsführende Bundesregierung. In den zuständigen Ministerien sitzen Leute, die sich mit Opferentschädigung auskennen. Bitte legen Sie nicht nur diesen Antrag zum Jahrestag vor, sondern arbeiten Sie auch sofort los, damit diese Menschen Entschädigung erhalten, damit diese Menschen einen Ansprechpartner bekommen, damit sie wissen, woran sie sind. Warten wir bitte nicht, bis wieder etwas passiert und wieder über Opferentschädigung geredet werden muss. Das erwarte ich von Ihnen. Das erwarte ich auch von einer geschäftsführenden Bundesregierung, meine Damen und Herren. ({2}) Ich sage noch ein Wort zu solchen Zwischenfragen, wie ich sie eben von der AfD gehört habe. Wissen Sie was? Ich bin mir ganz sicher, dass diejenigen, die um ihre Angehörigen trauern, überhaupt keine Lust darauf haben, dass Sie ein parteipolitisches Scharmützel auf ihrem Rücken austragen, meine Damen und Herren. ({3}) Das geht nicht! Unterlassen Sie das! Unterlassen Sie das übrigens auch in Anbetracht der Würde der Opfer des Breitscheidplatzes gerade an diesem Tag, meine Damen und Herren! ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak hat nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich spreche heute nicht nur als Rechtspolitiker zu Ihnen, sondern vor allen Dingen auch als Berliner. Vor einem Jahr hat ein islamistischer Terroranschlag am Breitscheidplatz Berlin mitten im Herzen getroffen. Der Anschlag hat einer Stadt und ihren Menschen gegolten, die für ihre Weltoffenheit und ihre Toleranz bekannt sind. Es war ein Anschlag, der den Frieden und die Besinnlichkeit in der Adventszeit jäh durchbrochen hat. Dieser menschenverachtende Anschlag hat uns alle tief erschüttert und tief getroffen. Der Terror, der oftmals weit entfernt schien, war auf einmal mitten unter uns. Mir ist ganz wichtig, an dieser Stelle festzuhalten, dass sich die Berliner ihre Offenheit und ihre Unbeschwertheit durch diesen Anschlag nicht haben nehmen lassen. Denn die Stärke unserer Gesellschaft beruht auf Werten und auf der Freiheit, und die lassen wir uns nicht nehmen, meine Damen und Herren. ({0}) Aber natürlich ist es so, dass wir daraus lernen und Lehren daraus ziehen müssen; denn der Terror macht vor unseren Grenzen nicht mehr halt. Der beste Opferschutz ist natürlich, solche Anschläge zu verhindern, damit es keine Opfer gibt. Deswegen, glaube ich, ist es unsere Aufgabe und unsere Pflicht, alles dafür zu tun, solche Anschläge zu verhindern. Es geht darum, die Sicherheitsarchitektur so zu gestalten, dass unsere Polizei, unsere Justiz und unsere Dienste wirklich handlungsfähig sind. Es geht darum, unsere Dienste personell und finanziell besser auszustatten. Es geht darum, ihnen ausreichende Ermittlungsbefugnisse an die Hand zu geben. Es geht auch darum, dass wir Regelungen schaffen, mit denen wir besser steuern und kontrollieren können, wer bei uns im Land ist. Wir haben seit diesem Anschlag viel an unseren Sicherheitsgesetzen geändert und vieles verbessert, aber manches bleibt noch zu tun. Insofern freue ich mich, dass dieser Antrag heute fraktionsübergreifend eingebracht wird. Ich hoffe, dass sich alle, die diesem Antrag heute zustimmen, der Opfer auch dann erinnern, wenn es um konkrete Maßnahmen geht, wie wir solche Anschläge zukünftig verhindern können, meine Damen und Herren. ({1}) Wenn alles Menschenmögliche getan wurde und es trotzdem zu einem Anschlag gekommen ist, darf es nicht nur Lippenbekenntnisse und Bekundungen geben, sondern dann brauchen die Menschen auch ganz konkrete, schnelle und unkomplizierte Hilfe. Daran, meine Damen und Herren, hat es wirklich gehapert. Es gab viele Regelungen, die bürokratisch waren. Es kann nicht sein, dass das erste Schreiben von offizieller Seite, das Angehörige in einer solchen Situation bekommen, eine Rechnung des rechtsmedizinischen Instituts ist, in dem der zu Tode gekommene Angehörige untersucht worden ist. Wir brauchen einen sensiblen, angemessenen und respektvollen Umgang mit Opfern wie mit Hinterbliebenen. Deswegen ist es gut, dass wir zukünftig im Bund wie auch in den Ländern entsprechende Strukturen schaffen wollen und dass es eine zentrale Anlaufstelle geben soll, die das Vorgehen koordiniert, damit den Hinterbliebenen schnell und unbürokratisch geholfen werden kann. Das ist unsere Verantwortung, und das ist unsere Pflicht. Ganz konkret möchte ich einen Punkt nennen – er ist schon angesprochen worden –: das Opferentschädigungsgesetz. Es greift nicht, wenn ein Anschlag mit einem Kraftfahrzeug verübt worden ist. Das ist wirklich eine Gesetzeslücke; ({2}) darüber haben wir hier im Deutschen Bundestag schon diskutiert. ({3}) Wir haben seinerzeit entschieden, das soziale Entschädigungsrecht umfassend anzupacken. Das tun wir heute. Auch das ist in diesem Antrag verortet. Ich finde, an dieser Stelle müssen wir das Opferentschädigungsgesetz ändern; denn das kann nicht sein. Diese Regelung ist nicht mehr zeitgemäß. ({4}) Das zeigt uns nicht nur der Anschlag vom Breitscheidplatz, sondern das zeigen uns auch die Ereignisse in Nizza, in London und die jüngsten Vorkommnisse in New York. Überall dort ist leider ein Kraftfahrzeug zu einem beliebten, weil einfachen und doch todbringenden Anschlagsmittel geworden. Deswegen ist es ganz wichtig, dass das Opferentschädigungsgesetz an dieser Stelle geändert wird. Wir müssen diese Schutzlücke schließen, meine Damen und Herren. ({5}) Eine letzte Bemerkung möchte ich dazu noch machen, da sich das Ganze nun tatsächlich schon jährt; ein Jahr ist es her. Dieser Antrag enthält viele gute Dinge, ebenso wie der Bericht von Herrn Beck. Ich glaube, aus Demut und Respekt vor den Opfern muss aus diesem Antrag jetzt schnell gesetzgeberisches Handeln werden. Danke. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion spricht nun Dr. Matthias Bartke. ({0})

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den Namen des Attentäters vom Breitscheidplatz kennt mittlerweile fast jeder. Über ihn wurde ohne Ende berichtet. Die Opfer dagegen nahm kaum jemand in den Blick. Die für mich bitterste Erfahrung nach dem Attentat lautet: die meiste Aufmerksamkeit dem Täter, die wenigste Aufmerksamkeit den Opfern. ({0}) Das muss sich deutlich ändern. ({1}) Das Leben der Angehörigen und der Überlebenden vom Breitscheidplatz hat von einer Sekunde auf die andere eine furchtbare Wendung genommen. Umso betroffener und vor allem nachdenklicher muss es uns machen, wie alleingelassen sich die Verletzten und die Angehörigen der Opfer gefühlt haben. Angehörige wurden viel zu lange im Unklaren darüber gelassen, ob ihre Kinder, Eltern oder Geschwister noch am Leben sind. Es gab niemanden, der darüber Auskunft geben konnte. Hotlines waren nicht erreichbar, Opferlisten wurden chaotisch geführt, Behörden waren überfordert, und manche Beamte waren unsensibel. Man hatte den Eindruck, insgesamt herrschten geradezu kafkaeske Zustände. Der Brief der Angehörigen an die Kanzlerin ist ein bedrückendes Dokument, aber es ist auch ein wichtiges Dokument. Meine Damen und Herren, Terroropfer müssen wissen, an wen sie sich wenden können. Bislang wussten sie es nicht. Geändert hat sich das erst im März, als die Bundesregierung Kurt Beck zum Beauftragten für die Opfer und Hinterbliebenen des Attentats vom Breitscheidplatz berufen hat. Seine Arbeit war und ist für die Betroffenen von unschätzbarem Wert. Er koordinierte Schadensersatzansprüche, vermittelte Kontakte zu Rentenversicherern und überwachte die Verteilung aus dem Entschädigungsfonds des Bundes. Lieber Kurt Beck, von dieser Stelle aus möchte ich Ihnen ganz herzlich für Ihre Tätigkeit danken ({2}) und vor allem auch für die Einfühlsamkeit, mit der Sie vorgegangen sind. Kurt Beck hat uns gezeigt: Wir brauchen eine Opferanlaufstelle als feste Einrichtung. Deren Mitarbeiter müssen sich bereithalten, fortbilden und im Ernstfall sofort mit ihrer Arbeit beginnen können. Der vorliegende interfraktionelle Antrag fordert genau dies. Es muss in Zukunft jemanden geben, der aktiv und verantwortlich auf die Betroffenen zugeht, sie informiert und die entsprechenden Schritte koordiniert, jemanden, der ein offenes Ohr hat und zum Hörer greift, wenn Probleme auftreten, jemanden, der vielleicht auch solche Hilfen ermöglicht, für die es kein Gesetz gibt. Es darf auch keinen Unterschied machen, welche Nationalität die Opfer haben. Es ist gut, dass sich das Bundeskabinett heute mit dem Bericht von Kurt Beck befasst hat, und es ist noch besser, dass es sich entschieden hat, seine Forderungen umzusetzen. ({3}) Meine Damen und Herren, vielleicht muss man sich damit abfinden, dass es trotz aller Bemühungen nicht immer gelingen kann, Terrorakte zu verhindern. Nicht abfinden müssen wir uns aber damit, dass die Opfer nicht schnell und unbürokratisch versorgt werden. Das muss sich ändern. Aus diesem Grund bitte ich um Zustimmung für den vorliegenden Antrag. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner in der Debatte ist nun Dr. Volker Ullrich von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz vor einem Jahr war ein Anschlag auf uns alle, auf die freie, tolerante und offene Gesellschaft. Es sind zwölf Menschen ums Leben gekommen, und es gab viele Dutzend Verletzte, die bis heute leiden, und viele trauernde Angehörige, denen unsere Sympathie, unser Respekt und unser Mitgefühl gelten. Ich glaube, das sollten wir in diesem Hohen Haus deutlich zum Ausdruck bringen. In den letzten Monaten ist viel über das Fehlverhalten von Behörden gesprochen worden. Es ist richtig, dass der demokratische Rechtsstaat das konsequent aufarbeitet, weil wir die Pflicht haben, daraus zu lernen und die Dinge zu verbessern. Aber es ist auch richtig, wenn uns entgegengehalten wird, dass bislang viel zu wenig über die Opfer gesprochen wurde. Wir müssen in unserem Land eine Kultur der Begleitung der Opfer entwickeln und sie in den Mittelpunkt unserer Rechtspolitik stellen. Deswegen ist es richtig, dass wir hier weitere Verbesserungen auf den Weg bringen. Wir wissen nicht, meine Damen und Herren, ob und wann uns wieder ein Terroranschlag heimsuchen wird. Wir tun alles dafür, um dies zu verhindern; aber eine Garantie kann leider niemand geben. Deswegen brauchen wir im Falle eines Anschlags ein System, durch das Angehörige schnell, unbürokratisch und effizient Unterstützung bekommen. Deswegen muss es eine zentrale Anlaufstelle geben, die sofort arbeitsfähig ist. Die Zeit muss vorbei sein, in der Angehörige bangend warten und nicht wissen, wen sie anrufen sollen; vielmehr müssen sie von der ersten Sekunde an begleitet werden. Das sind wir den Angehörigen schuldig. ({0}) Wir müssen auch über die Entschädigungszahlungen sprechen. Es ist klar, dass kein Geld der Welt den Schmerz heilen kann, und kein Euro bringt einen geliebten Menschen zurück. Aber die Entschädigung kann helfen, dass die Angehörigen ins Leben zurückkommen, dass sie durch das Attentat nicht schlechter gestellt werden als vorher. Deswegen müssen wir deutlich zum Ausdruck bringen, dass die bisherige Opferentschädigung einfach unzureichend war, dass der Staat hier nachbessern muss, auch im Bereich der Vermögensschäden. Es müssen alle Schäden erstattbar werden. Der Staat, meine Damen und Herren, darf hier nicht kleinlich sein, sondern der Staat muss hier Großzügigkeit walten lassen. ({1}) Wichtig ist, dass von diesem gemeinsam getragenen Antrag das Signal ausgesendet wird, dass die Opfer nicht alleine sind, dass der Staat sich ihrer annimmt und dass in den nächsten Wochen und Monaten die Frage des Opferschutzes zu einem zentralen Element der Rechtspolitik wird. Wir müssen darüber sprechen, wie wir nicht nur den Terroropfern helfen, sondern wie wir auch im Strafverfahren den Opfern der alltäglichen Gewalt helfen können, wie wir als Staat Unterstützung leisten können, damit die Menschen das Gefühl haben, der Staat steht an ihrer Seite. Sicherheit und Freiheit bedingen auch den notwendigen Opferschutz. Da machen wir uns auf den Weg, und ich lade jeden ein, mitzuwirken. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/234 mit dem Titel „Opfer­entschädigung verbessern“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Damit ist der Antrag mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. ({0})

Dr. Alexander Gauland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004724, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies ist eine Debatte, die dieses Hohe Haus längst hätte führen müssen. Es ist schon erstaunlich, dass es erst unseres Einzugs in den Deutschen Bundestag bedurfte, um eine gesellschaftliche Debatte, die die Menschen draußen umtreibt, auf die Bühne unseres nationalen Parlaments zu bringen. ({0}) Die deutschen Sicherheitsbehörden schätzen, dass 6,6 Millionen Migranten vor den Toren Europas auf den Zutritt zum Schengen-Raum hoffen, mindestens 2,6 Millionen davon in Nordafrika; Tendenz steigend. So viel zu der Behauptung, die Migrationskrise sei vorbei und bewältigt. Nein, meine Damen und Herren, nichts ist vorbei, und nichts ist bewältigt. ({1}) Bundesweit sind derzeit mehr als 300 000 Asylklagen anhängig. Ich zitiere: Ämter, Gerichte, Schulen. Das Gemeinwesen ist überlastet. Deutschland muss umdenken, um seine öffentlichen Güter zu bewahren. Ihre Nutzung der ganzen Welt zu ermöglichen, ist nicht liberal. Die Mahnung stammt von Hans-Werner Sinn. Bernd Raffelhüschen, dem Hause auch bekannt, hat berechnet, dass die 1 Million Flüchtlinge, die nun einmal schon da sind, wie die Frau Bundeskanzlerin zu sagen pflegt, den deutschen Staat per saldo und auf Dauer 450 Milliarden Euro kosten werden. Aber noch immer hält diese Regierung, besonders die Bundeskanzlerin, an der Mär fest, dass im 21. Jahrhundert Grenzen nicht mehr gesichert werden können. Wenn das richtig wäre, Frau Bundeskanzlerin – sie ist leider nicht anwesend –, dann hätte Ihre Regierung kein einziges der heute debattierten Bundeswehrmandate verlängern dürfen. Denn fast alle diese Mandate gehen von begrenzenden Möglichkeiten in begrenzten Gebieten aus. ({2}) Schließlich lernen Juristen in den ersten drei Semestern, dass ein Staat aus drei Elementen besteht: dem Staatsvolk, der von diesem ausgeübten Staatsgewalt und einem bestimmten, fest umrissenen Staatsgebiet. Und dieses Staatsgebiet, Frau Bundeskanzlerin – das richtet sich auch an die Regierung –, haben Sie laut Grundgesetz zu schützen. Andernfalls verletzen Sie Ihren Amtseid. ({3}) Meine Damen und Herren, dass das möglich war und ist, haben wir zuletzt in dem Buch „Die Getriebenen“ gelesen, wonach Ihr Innenminister – ich bin dankbar, dass er da ist – und die Polizeiführung des Bundes und Bayerns bereit und willens waren, die Grenzen zu sichern. Allein die Bundeskanzlerin wollte es nicht. Nun, meine Damen und Herren, dieses Nichthandeln, dieses Laufenlassen hat Konsequenzen. Sie gefährden nicht nur die Identität dieses Landes, seine Zukunftsfähigkeit und seine Institutionen, also den Rechtsstaat, der uns Deutschen unserer historischen Erfahrungen wegen besonders am Herzen liegen sollte, sondern Sie gefährden auch den Sozialstaat. Denn offene Grenzen und Sozialstaat schließen einander auf Dauer aus. ({4}) Selbstbestimmung und Demokratie entfalten sich im durch Grenzen geschützten Nationalstaat, wie der große Liberale Lord Dahrendorf einst feststellte, und nicht im Luftreich des Traums der Vereinigten Staaten von Europa. ({5}) Offene Grenzen, meine Damen und Herren, sind aber auch ungerecht. Die besten Chancen, nach Europa zu kommen, haben junge Männer, die über Geld verfügen. Die Top 10 der ärmsten Länder der Welt decken sich eben nicht mit den Top 10 der Herkunftsregionen von Migranten. Und um der falschen Politik der offenen Grenzen die Krone aufzusetzen, zahlt der Innenminister jetzt hohe Rückkehrprämien an Menschen, die gar nicht hier sein dürften; denn Abschiebungen funktionieren ja auch nicht. ({6}) So gebiert ein illegaler Akt den nächsten. Diese Politik ist verheerend, und für diese Politik sind die Regierungsparteien, die noch gemeinsam auf der Regierungsbank sitzen, in den Wahlen auch abgestraft worden. ({7}) Deshalb fordern wir mit unserem Antrag: Schluss mit den offenen Grenzen und Rückkehr zum Rechtsstaat. Das heißt Zurückweisung jedes Einzelnen bei unberechtigtem Grenzübertritt. Einwanderung und Niederlassungsfreiheit sind keine Menschenrechte. Ja, Menschen können illegal sein. Das stelle ich hier ausdrücklich fest. ({8}) – Das ist mir klar. – Deshalb ist es besser, sie gar nicht erst hereinzulassen, statt sie mühevoll und mit ungewissem Erfolg abzuschieben. Danke. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Armin Schuster. ({0})

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das ist kein AfD-Parteitag, und wir müssen uns der Materie etwas komplexer nähern, Herr Gauland. ({0}) Das versuche ich jetzt einmal. Europa ist ein gemeinsamer Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Das war das Ziel, nachdem im Vertrag von Amsterdam 1997 festgelegt worden war, die Schengener Abkommen in das EU-Recht zu integrieren. Wir haben den Bürgern Europas versprochen und eine Garantie abgegeben, dass offene Binnengrenzen, Personenfreizügigkeit bei mehr Sicherheit als in Zeiten von Schlagbäumen, möglich ist, und wir haben es längst bewiesen – seit Mitte der 1990er-Jahre. ({1}) Die Personenfreizügigkeit ist ein zentrales Element, eine Säule des europäischen Einigungsprozesses. ({2}) Bevor wir den so platt zur Disposition stellen, wie Sie es machen, lassen Sie uns diskutieren. Geht das überhaupt, was man sich damals bei Schengen gedacht hat? Vor Ihnen steht jemand, der in Führungsverantwortung an der deutsch-französischen Grenze, an den Beneluxgrenzen, an der deutsch-polnischen, an der deutsch-tschechischen Grenze und zum Schluss an der deutsch-schweizerischen Grenze selber Schlagbäume abgebaut hat. Ich kann Ihnen beredt erklären – ich habe leider nur ein paar Minuten Redezeit –, wie intelligent Schengen ist, wenn alle 26 Mitgliedstaaten das tun, was wir vereinbart haben, ({3}) und ich kann Ihnen beredt erklären, wie naiv und dumm es ist, zu glauben, all die Probleme, die Sie, Herr Gauland, aufführen, könne man mit einer Maßnahme lösen, nämlich durch vollständige Grenzkontrollen. ({4}) Da fehlen mir die Worte, jedenfalls die diplomatischen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ehrhorn?

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja; deshalb sind wir ja hier.

Thomas Ehrhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004707, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr verehrter Herr Kollege, ich möchte Sie nur eines fragen: Ist es richtig, dass Ihre Partei ein Gutachten dazu eingeholt hat, ob die widerrechtliche Öffnung der Grenzen verfassungskonform ist oder nicht, dass ein Gutachten vom Verfassungsrichter Di Fabio erstellt worden ist? Ist es weiterhin richtig, dass Sie, nachdem Sie wussten, dass das Verhalten der Regierung eben nicht verfassungskonform ist, trotzdem in keinster Weise darauf reagiert haben? ({0})

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ehrhorn, ich könnte jetzt eine ganze Stunde darauf verwenden, um über das Gutachten von Herrn Di Fabio zu reden. Ich könnte aber auch auf die beiden Gutachten vom Wissenschaftlichen Dienst verweisen, die Sie in Ihrem Antrag erwähnen. ({0}) Tun Sie mir einen Gefallen: Lesen Sie doch einmal Ihren eigenen Antrag ({1}) und die Gutachten, die Sie darin zitieren. Denn in diesen Gutachten steht klipp und klar: Es gibt Gründe für stationäre Grenzübertrittskontrollen, bei denen man auch Zurückweisungen aussprechen kann, und es gibt besondere Situationen, in denen ein Land entscheiden kann, genau das nicht zu tun. Jetzt könnten wir zusammen unendlich viele Juristen und Experten aufführen, die für die eine oder die andere Meinung eintreten. Ich sage Ihnen, was die Lösung ist: Grenzkontrollen macht man juristisch im Sinne einer Verhältnismäßigkeit zur politischen Lage. Man kann – das würde ich niemals bestreiten – stationäre Grenzübertrittskontrollen durchführen, wenn eine Krisensituation besteht, wenn eine Ultima-Ratio-Situation da ist, wie sie 2015 bestand. Was hat der Bundesinnenminister Ende 2015 entschieden? An allen deutschen Landesgrenzen mit Schwerpunkt an der bayerisch-österreichischen Grenze sollen Grenzübertrittskontrollen vorgenommen werden. ({2}) Was wollen Sie eigentlich? Das, was Sie nicht verstehen, ist, dass zwischen offenen Grenzen, Schleierfahndung nach Inkrafttreten des Schengener Abkommens, Römischen Verträgen, Kontaktdienststellenzusammenarbeit und stationären Grenzkontrollen ein großes Instrumentarium liegt, das man intelligent einsetzt. Dazu sind Sie leider nicht fähig. ({3}) Meine Damen und Herren, ich gebe es offen zu, bevor Sie in der nächsten Zwischenfrage auch noch aus „Die Getriebenen“ zitieren: Ja, ich hätte mir Ende 2015 schneller Grenzkontrollen gewünscht. Aber das ist ein demokratischer Meinungsbildungsprozess gewesen. ({4}) Ich glaube sogar, dass ich da eine ganz gute Wirkung erzielt habe. In jedem Fall ist es so, meine Damen und Herren: Der Kollege Stephan Mayer, der Kollege Clemens Binninger und ich haben Mitte 2015, vor dieser krisenhaften Situation, an Jean-Claude Juncker geschrieben und erklärt: Wenn Sie nicht bald für eine Renaissance des Schengener Grenzkodex sorgen, stehen wir unmittelbar vor der Einführung von stationären Grenzkontrollen. – Bevor Sie wach waren, sind wir längst unterwegs gewesen. ({5}) Wir hätten Sie im Parlament nicht gebraucht. ({6}) Jetzt sage ich Ihnen mal was als Südbadener – wir empfinden uns als Vorbildeuropäer –: Bevor wir uns von solch stumpfen Argumenten unsere Reisefreiheit, unseren Handel und die Wirtschaft zerstören oder gravierend stören lassen, ({7}) kämpfen wir um das, worum es wirklich geht, meine Damen und Herren. Wir brauchen kein Spiel mit falschen Zahlen. Sie sprechen in Ihrem Antrag von Hunderttausenden, die in diesem Jahr die Grenze illegal überschreiten. Es sind 170 000. ({8}) Da hat man nicht mal die abgezogen, die zurückgeschickt werden. Meine Damen und Herren, Sie inszenieren eine Krise vor den Menschen in diesem Land. Sie arbeiten mit falschen Zahlen. ({9}) – Herr Gauland, wenn Sie den Sozialstaat und offene Grenzen für nicht möglich halten: Machen Sie irgendeinen Grundkurs Politik, aber machen Sie ihn, bevor Sie das nächste Mal in diesen Plenarsaal kommen! Es ist ja eine irrwitzige Vorstellung, zu glauben, wir könnten dieses Land nicht mit offenen Grenzen gestalten. ({10}) Ich frage mich – ich bin da ganz fair –: Ist das eine Mischung aus Inkompetenz und Fahrlässigkeit, ({11}) oder ist das, was Sie hier tun, Vorsatz? Jedenfalls: Nach den Debatten, die gerade hinter uns liegen, ist das aufrührerisch. Das kann ich Ihnen einfach nicht empfehlen. ({12}) Es ist nicht in Ordnung. Meine Damen und Herren, ich komme zu einem Konsens aller Fraktionen in diesem Hause – mit Ausnahme, vermute ich, Ihrer Fraktion. Deutschland hat seit 1995 – ich habe es eigenhändig ausgerechnet – im Schnitt 150 000 Menschen Asyl gewährt – von 1995 bis heute. Dass die Union in ihrem Asylkompromiss von 200 000 spricht, ist also kein Zufall. Das ist für uns Politik mit einem humanitären Ansatz, den Sie nie verstehen werden. Die Debatte ist zwar wichtig, aber sie bringt Ihnen wahrscheinlich nichts; das werden Sie nie lernen. ({13}) Da gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen uns: Wir wollen helfen und Sie nicht. Sie glauben auch noch, dass so etwas durch Grenzkontrollen zu machen sei. ({14}) Ich zeige kurz die eigentliche Problemlösung; das ist nicht dieses stumpfe Geschwätz. ({15}) Meine Damen und Herren, vor Ihnen steht ein glühender Fan des Schengener Grenzkodex. ({16}) Ich kritisiere ein wenig – in der ersten Periode als Hinterbänkler zugegebenermaßen frucht- und erfolglos – den Niedergang des Schengener Grenzkodex in Europa. Auch wir, meine Damen und Herren, machen oft den Fehler, nur vom Außengrenzenstandard zu sprechen. Diese Eindimensionalität hatten wir bei der Erfindung des Grenzkodex nicht. ({17}) Dazu gehört in 26 Ländern eine Schengen-Schleierfahndung. Dazu gehört der Prümer Vertrag, dazu gehört das Kontaktdienststellenwesen usw. All das hat man bei der Kommission langsam schleichend aufgegeben. Wenn Otto Schily und Günther Beckstein nicht gewesen wären, hätten wir schon Anfang der 2000er-Jahre diesen Kodex infrage gestellt, weil es eine politische Mehrheit dafür gab. Ich wende mich dagegen. Solche Fraktionen entstehen, wenn wir den Schengener Grenzkodex nicht endlich wieder dafür verwenden, wofür er eigentlich gedacht war. ({18}) – Ich schone Sie mal. Meine Damen und Herren, einen Satz erlauben Sie mir bitte an FDP, SPD und Grüne. „Liebe Freunde“, hätte ich fast gesagt; wir sondieren aber nicht. – Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer ein politisches Problem damit hat, stationäre Grenzkontrollen zu machen – ich habe gerade erklärt: es ist eigentlich kein Problem –, aber auch keine Schleierfahndung will … ({19}) Ich vollende den Satz nicht; ich überlasse es Ihnen. Die Schleierfahndung an 26 Binnengrenzlinien ist ein wichtiges Mittel. Deshalb plädiere ich: Wir brauchen eine europäische Grenzpolizei. Wenn wir Herrn Macron mit Geld entgegenkommen wollen, dann für eine solche Maßnahme. Wir müssen zudem Europol verbessern. Es darf nicht nur ein Informationsaustauschzentrum geben.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit.

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zum Schluss möchte ich noch Folgendes sagen: Lieber Herr Gauland, Fluchtursachenbekämpfung ist die einzig wirklich wirksame Methode, all denjenigen Phänomenen zu begegnen, die Sie beschrieben haben. ({0}) Aber stationäre Grenzübertrittskontrollen eignen sich dafür nicht.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Damit werden Sie niemals die Probleme lösen. Ich bin der amtierenden Bundesregierung dankbar für ihre Arbeit auf den entsprechenden Feldern. Die Mehrdimensionalität dieses Themas werden Sie nie begreifen und damit auch nie die Ansätze zur Lösung finden.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Schuster!

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist Professor Dr. Lars Castellucci für die SPD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe Sie, werte Kollegen von der AfD, überwiegend breit grinsend sitzen sehen. ({0}) Das erweckt bei mir den Eindruck, dass sich das an das anschließt, was Sie, Herr Gauland, einmal gesagt haben, ({1}) nämlich dass Sie in Wahrheit froh sind, dass so viele Flüchtlinge gekommen sind, weil Sie parteipolitischen Nutzen davon haben. ({2}) Ich halte das für sehr durchschaubar und für ein sehr perfides Spiel, das Sie hier treiben. Herr Schuster hat das Notwendige schon gesagt. Ihr Antrag auf Einführung umfassender Grenzkontrollen ist schlicht überflüssig. Im Übrigen sind über 20 000 Menschen, die sich unberechtigterweise an den Grenzen aufgehalten haben, in den letzten Jahren zurückgewiesen worden. Wir tun also bereits das, was Sie in Ihrem Antrag fordern. ({3}) Was wir nicht machen, sind die schon im Titel Ihres Antrags geforderte Einführung umfassender Grenz­kontrollen und die Gewährleistung eines vollständigen Schutzes. So etwas gibt es gar nicht. ({4}) Wenn wir das machen wollten, müssten wir eine Mauer hochziehen und uns dahinter verbarrikadieren. ({5}) Wir müssten Türme aufstellen, einen Todesstreifen einrichten und Gewehre auf die Menschen an den Grenzen richten. ({6}) Wissen Sie, wo wir dann sind? Dann sind wir nicht mehr in Deutschland, sondern in Nordkorea. ({7}) Ich will Ihnen noch eines sagen: Der Typ in Nordkorea reicht mir. Auf Kim Jong Gauland kann ich verzichten. Bedeutet das, dass alles gut ist? Natürlich nicht. Wir dürfen nicht erst anfangen, wenn die Menschen an unseren Grenzen angekommen sind. Wir müssen früher ansetzen, und zwar bei den Fluchtursachen. Das ist der erste Punkt. ({8}) Wenn nun Ihre Rednerinnen und Redner in diesem Haus den Klimawandel leugnen, dann können Sie gleich Freifahrtscheine für eine weitere Million Flüchtlinge ausstellen; denn dann werden die Nächsten kommen. ({9}) Wir brauchen ein gemeinsames europäisches Asylsystem. Aber Ihre Leute posten Solidarität mit Ungarn, Polen und Tschechien, ({10}) also mit Ländern, die überhaupt nicht in der Lage sind, Solidarität zu üben. Das, was Sie hier betreiben, ist doch scheinheilig. ({11}) Da Sie der Meinung sind, dass sich nur die Starken durchsetzen, Herr Gauland, biete ich Ihnen an, gemeinsam ein Programm für die Schwachen aufzulegen, um sie nach Deutschland zu holen, zum Beispiel die Vergewaltigten und diejenigen, die bedroht sind und deren Familien schon ausgelöscht wurden. Wir werden dafür sorgen, dass sie auf sicheren und legalen Wegen nach Deutschland kommen. Sind Sie für ein solches politisches Vorhaben zu gewinnen? ({12}) Wenn Sie sich dafür nicht gewinnen lassen, dann haben Sie das, was Sie gerade gesagt haben, nicht ernst gemeint. ({13}) Herr Schuster, der vor mir gesprochen hat, kommt aus Südbaden. Ich komme aus Nordbaden. Was Herrn Schuster und mich verbindet, ist die Grenze zu Frankreich. Sie ist offen. So bin ich groß geworden. Ich möchte das bewahren. ({14}) Ich komme aus einer kleinen Stadt.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nolte?

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, natürlich. Herr Nolte gehört schließlich zu denjenigen, die den angesprochenen Unsinn posten. Er darf natürlich etwas fragen.

Jan Ralf Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004842, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Kollege, 2050 rechnet man mit mehreren Hundert Millionen migrationswilligen Menschen aus Afrika und weltweit mit bis zu 800 Millionen. ({0}) Wie sieht Ihr Konzept aus? Was wollen Sie mit all diesen Menschen machen, wenn Sie sie aufgenommen haben?

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mein Konzept ist, dass Sie allerspätestens 2050 nicht mehr in diesem Parlament sind ({0}) und dass wir dann für eine Politik hier sorgen, die das verhindert, was Sie herbeireden. ({1}) – Wissen Sie, worauf es ankommt? Es kommt auf etwas an, womit ich schließen möchte. Es kommt auf globale Gerechtigkeit an. Das ist für Sie natürlich ein Fremdwort. ({2}) Aber Sie haben ja in den nächsten vier Jahren Gelegenheit, vielleicht auch noch etwas dazuzulernen. ({3}) Damit komme ich jetzt auch zum Schluss. Ich habe erzählt, dass ich aus einer kleinen Stadt in Nordbaden komme. Ich mag die Menschen dort. Ich bin da aufgewachsen. Ich setze mich mit vollem Herzen für sie ein. ({4}) Ich komme aus Deutschland, ({5}) und ich liebe mein Vaterland, das mir viel ermöglicht hat. Aber, meine Kolleginnen und Kollegen, wir sind nicht alleine hier auf dieser Welt, und wir können nicht überallhin exportieren und überallhin reisen, aber mit den Problemen dieser Welt nichts zu tun haben wollen. ({6}) Lassen Sie mich deswegen, weil es in diesem Raum so laut geworden ist, seitdem Sie da sind, und manchmal unerträglich laut, ({7}) leise schließen: Vergesst nicht  Freunde  wir reisen gemeinsam besteigen Berge  pflücken Himbeeren ({8}) lassen uns tragen  von den vier Winden Vergesst nicht  es ist unsre  gemeinsame Welt  die ungeteilte  ach die geteilte die uns aufblühen lässt  die uns vernichtet  diese zerrissene  ungeteilte Erde  auf der wir  gemeinsam reisen Rose Ausländer. Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag rufe ich auf: Benjamin Strasser von der FDP. ({0})

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD-Fraktion legt heute einen Antrag vor, der gleich in mehrfacher Hinsicht einen Aufruf zum Rechtsbruch darstellt. ({0}) Mal ganz abgesehen davon, dass Sie die Normenhierarchie und den Anwendungsvorrang europäischen Rechts zu ignorieren scheinen, behaupten Sie in Ihrem Antrag verschiedene Dinge, die einfach nicht stimmen. Sie behaupten, der Grenzschutz wäre nicht gewährleistet. Wahr ist, dass die Bundespolizei seit September 2015 auf Grundlage der Artikel 23 ff. des Schengener Grenzkodexes Grenzkontrollen an den von Flüchtlingsströmen besonders frequentierten Routen durchführt. ({1}) Das gilt insbesondere für die deutsch-österreichische Grenze, meine sehr verehrten Damen und Herren.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gestatten Sie eine Zwischenfrage? ({0})

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Also, die AfD-Fraktion muss es jetzt auch einmal ertragen, dass Fakten hier vorgetragen werden, ohne dass sie von ihr kommentiert werden. Wir sind nicht auf dem Parteitag, wir sind im Parlament. ({0}) Man mag darüber spekulieren, warum Sie diesen Antrag eingereicht haben: War es rechtliche Ahnungslosigkeit oder wurde Frau Weidel zu selten an der Grenze zur Schweiz kontrolliert? Wir wissen es nicht. ({1}) Was aber klar ist: Vollständige und effektive Grenzkontrollen oder, genauer gesagt, Abschottungen, wie sie die AfD-Fraktion hier fordert, ({2}) sind rechtlich nicht haltbar und ein Verstoß gegen das Schengener Abkommen. ({3}) Der EuGH hat jüngst in seinem Urteil vom 21. Juni 2017 bekräftigt, dass verdachtsunabhängige Kontrollen in Grenznähe, an Bahnhöfen und in Zügen nicht zu systematischen Grenzkontrollen ausarten dürfen. Was anders soll das denn sein, was Sie hier vorschlagen? ({4}) Mit Ihrem Antrag, werte Kolleginnen und Kollegen der AfD, zwingen Sie die Behörden und insbesondere die Beamtinnen und Beamten der Bundespolizei zu einem kollektiven Rechtsbruch auf deutschem Boden. ({5}) Das ist schon starker Tobak für eine Partei, die sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit zur selbsternannten Hüterin des Rechts aufschwingt. Das Wort „Rechtsstaat“ sollten Sie ab heute nicht mehr in den Mund nehmen. ({6}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir uns in der heutigen Zeit überhaupt mit solchen Abschottungsfantasien der AfD-Fraktion auseinandersetzen müssen, ist auch zahlreichen Versäumnissen der geschäftsführenden Bundesregierung in den letzten zwei Jahren zuzurechnen. ({7}) Wir reden über dieses Thema heute nur, weil es die derzeitige Große Koalition seit zwei Jahren nicht schafft, eine Antwort auf die Flüchtlingsfrage zu finden. ({8}) Seit zwei Jahren sprechen Sie von fehlender Solidarität bei der Aufnahme von Flüchtlingen, und seit zwei Jahren finden Sie keine Verbündeten, die an der Seite der Bundesrepublik diese Solidarität in ganz Europa durchsetzen. ({9}) Wo ich gerade schon dabei bin: Wie sieht es denn beim Schutz der europäischen Außengrenzen aus? Auch hier haben Sie seit zwei Jahren nichts erreicht. Es folgt Gipfel auf Gipfel, aber es gibt nach wie vor keinen wirksamen Schutz der EU-Außengrenze. Dieser Schutz ist aber eine gemeinsame europäische Aufgabe. Wenn wir an ihr scheitern, dann kehrt unser Kontinent dauerhaft zu Schlagbäumen zurück. Das wollen wir Freie Demokraten nicht! ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Antwort auf die Flüchtlingsfrage kann nicht deutsch, die Antwort auf die Flüchtlingsfrage kann nur europäisch sein. ({11}) Deshalb muss die Grenzschutzagentur Frontex endlich zu einer europäischen Grenzpolizei ausgebaut werden, die über echte Kompetenzen, moderne Ausrüstung und ausreichend Personal verfügt. Wir brauchen mit Blick auf den afrikanischen Kontinent endlich eine gemeinsame europäische Strategie, damit die Hilfe vor Ort auch bei den Personen ankommt, die sie benötigen. Schlussendlich gilt es, für eine gesteuerte Zuwanderung nach Europa zu sorgen. Ein erster Schritt wäre ein modernes Einwanderungsgesetz in Deutschland, das wir Freie Demokraten seit 1997 fordern. ({12}) Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion steht für ein Europa der Freiheit und des Rechts und nicht der nationalen Abschottung und der Rechtsbrüche. Deshalb stimmen wir zwar der Überweisung an den Hauptausschuss zu, lehnen Ihren Antrag inhaltlich aber ab. ({13}) Vielen herzlichen Dank. ({14})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke von der Fraktion Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser Antrag von der AfD strotzt vor Falschmeldungen und Unkenntnis. ({0}) Er ist ein Paradebeispiel für die Hetze, mit der die AfD auf Stimmenfang geht. Da ist zum Beispiel die Rede davon, es gebe „weitgehend ungeschützte EU-Außengrenzen“. Ich frage mich tatsächlich: Wovon sprechen Sie hier eigentlich? Die EU ist heute mehr denn je abgeschottet. Dafür arbeitet sie sogar mit Schurkenstaaten wie der Türkei oder Libyen zusammen. ({1}) Tausende Schutzsuchende sind in den vergangenen Jahren auf dem Weg in die Festung Europa umgekommen. Um Europa gibt es längst eine Mauer der Schande. Das sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen. ({2}) Meine Damen und Herren, auf Grundlage ihrer verdrehten Wahrnehmung fordert die AfD für Deutschland nun umfassende Grenzkontrollen. Hat die AfD eigentlich schon einmal was von Freizügigkeit innerhalb der EU gehört? ({3}) Zur Bewahrung der sogenannten grünen Grenze fordern Sie den Aufbau von Bundesbereitschaftskräften. Ich frage Sie einfach mal: Was soll denn das für eine Truppe sein? Eines muss doch wohl klar sein: Wir brauchen keine durchgeknallte Bürgerwehr, die Jagd auf Flüchtlinge macht. ({4}) Die Bundeswehr zum Grenzschutz einzusetzen, wäre schlicht verfassungswidrig; denn die Bundeswehr ist keine Hilfspolizei. ({5}) Schutzsuchende sind keine feindliche Armee, die es mit der Waffe in der Hand abzuwehren gilt, auch wenn Frau von Storch das vielleicht so sehen mag. Mehr als abenteuerlich ist die AfD-Interpretation der Genfer Flüchtlingskonvention. Da wird einfach unterstellt, dass ein Anspruch auf Schutz nur bei direkter Ausreise aus dem Herkunftsstaat bestünde. Das ist einfach Quatsch. ({6}) Das Zurückweisungsverbot gilt selbstverständlich auch bei drohenden Kettenabschiebungen ins Herkunftsland. Nach dem Verständnis der AfD wäre die Flüchtlingskonvention für die allermeisten Länder der EU schlicht irrelevant. Das hätten Sie vielleicht gerne, das entspricht aber nicht dem Völkerrecht. ({7}) Als Beispiel führt die AfD allen Ernstes an, dass ­eritreische Flüchtlinge, die über Libyen in die EU kommen, keine Flüchtlinge im völkerrechtlichen Sinne seien. In Libyen droht Schutzsuchenden – wir haben es letzte Woche ja gerade diskutiert – Sklaverei, Hinrichtung, Folter und Vergewaltigung. So machen Sie doch eigentlich nur deutlich, wie wenig Ihnen das Leben von Schutzsuchenden wert ist. ({8}) Auch Ihre Forderung nach Zurückweisung an den deutschen Grenzen geht völlig in die Irre. Man mag vom europäischen Asylrecht halten, was man will – wir haben hieran immer scharfe Kritik geübt –, aber man muss festhalten: Nicht deutsche Grenzpolizisten, sondern die Dublin-Verordnung regelt, welcher EU-Staat für die Asylprüfung zuständig ist. ({9}) Die deutsche Drittstaatenregelung wurde längst durch EU-Recht verdrängt. Nehmen Sie das wenigstens mal zur Kenntnis. ({10}) Meine Damen und Herren, besonders perfide ist, dass die AfD immer wieder Ängste schürt und sich vor allen Dingen Sorgen um unsere Sozialsysteme macht. ({11}) In altbekannter Weise werden hier in- und ausländische Arme und Bedürftige gegeneinander ausgespielt. Die wahren Verursacher der sozialen Misere, nämlich Banken und Konzerne, könnten sich hier eins ins Fäustchen lachen. ({12}) Für die Demontage der Sozialsysteme sind nicht die Flüchtlinge verantwortlich, sondern eine neoliberale Wirtschaftspolitik. ({13}) Und daran will die AfD gar nichts ändern, die Bundesregierung leider auch nicht. ({14}) Deswegen sagt Die Linke ganz klar: Wir brauchen soziale Gerechtigkeit, wenn man einer Partei wie Ihrer das Wasser abgraben will. ({15})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat nun Luise Amtsberg das Wort. ({0})

Luise Amtsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004243, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ja bekannte Strategie der AfD, die politischen Anliegen auf Halb- und Unwahrheiten zu bauen, das eigene Narrativ sozusagen zu bestärken, indem man sich nur die Argumente raussucht, die ins eigene Weltbild passen. Dieser Antrag ist lediglich eine weitere von vermutlich vielen Episoden dieser Art, Politik zu machen. ({0}) Die AfD fordert, dass künftig niemand mehr an Deutschlands Grenzen Asyl beantragen kann. ({1}) Sie fordert auch sofortige, umfassende Grenzkontrollen mit entsprechenden Vollmachten. Was heißt das eigentlich, „entsprechende Vollmachten“? Konkret wird die AfD hier nicht. Sie bleibt nebulös, und das überrascht auch nicht. Denn wenn man sie wirklich mal auf ihre Forderungen festnageln würde oder wenn sie ihre Forderungen unterfüttern, realitätstauglich machen würde, müsste sie den jungen Menschen in Deutschland auch erklären, dass es vorbei ist mit europäischer Freizügigkeit, vorbei mit europäischer Solidarität, vorbei mit dem Grundrecht auf Asyl, vorbei mit staatlichem Verantwortungsbewusstsein. Dann würde um Deutschland eine Mauer gebaut, ({2}) und wir müssten womöglich sogar hier, in diesem Parlament, darüber diskutieren, ob es nun geboten ist oder nicht, im Zweifel an der Grenze auf Flüchtlinge zu schießen. Das ist das, was sich hinter diesem Antrag tatsächlich verbirgt. ({3}) Sie kritisieren die Entscheidung der Bundeskanzlerin vom 5. September 2015, als sie gemeinsam mit Österreich Schutzsuchenden aus Ungarn die Einreise nach Deutschland erlaubt hat, und sehen hierin einen Rechtsbruch. Sie berufen sich dabei auf ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages. Ich kenne dieses Gutachten auch. Zur Versachlichung: Es stellt eben gerade nicht fest, dass dem Handeln der Bundesregierung die Rechtsgrundlage gefehlt habe. Im Gegenteil: Das Gutachten stellt lediglich verschiedene Rechtsauffassungen gegenüber, ohne Position zu beziehen. Wer aber glasklar Position bezieht – auch das sparen Sie einfach aus –, ist der Europäische Gerichtshof. Er hat in diesem Jahr geurteilt und deutlich gemacht, dass Deutschland im Sommer 2015 rechtmäßigerweise von seinem Selbsteintrittsrecht nach dem Dubliner Übereinkommen Gebrauch gemacht und richtig gehandelt hat. ({4}) Dieses Urteil lassen Sie einfach – wir lernen ja jetzt hier, dass das guter Ton bei Ihnen ist – unter den Tisch fallen. Ich finde, das ist wahnsinnig unseriös. ({5}) Wenn wir über Rechtsbrüche reden, warum erwähnen Sie dann nicht, dass der eigentliche Bruch mit dem geltenden Recht in Budapest stattgefunden hat durch Ihren Bruder im Geiste Viktor Orban, der Flüchtlingen über Monate und Wochen den notwendigen Schutz versagt hat und damit europäisches Recht gebrochen hat? Das ist nämlich die eigentliche Ursache für die massive Binnenmigration in Europa. ({6}) Bei aller Kritik, die wir an der Flüchtlingspolitik dieser letzten Bundesregierung hatten: Die Bundeskanzlerin hat angesichts der damaligen Situation – das muss man eben auch politisch einordnen – das einzig Richtige getan: Es war humanitär geboten, diesen Menschen zu helfen. ({7}) Wenn wir schon beim Aussparen von Fakten sind: Sie behaupten immer wieder, dass Frau Merkels Entscheidung der Grund war für den Anstieg der Zahl der Geflüchteten in Europa, in Deutschland. Mal ehrlich: Wie fernab jeder Realität ist das eigentlich? Die Menschen, die hier 2015 angekommen sind, waren mitnichten dem Aufruf von Frau Merkel gefolgt oder erst seit kurzem auf der Flucht. Grund war die Eskalation im Syrien-Krieg, die Tatsache, dass die Hilfswerke in den Anrainerstaaten völlig unterfinanziert nicht mehr die Lebensmittelrationen bereitstellen konnten. Grund war die Einführung der Visumspflicht in den Anrainerstaaten Syriens, die massive Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan und nicht zuletzt die Unfähigkeit der europäischen Regierungen, sich solidarisch mit den Mittelmeeranrainern zu zeigen. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Guten Tag, aus Herrn Friedrich ist jetzt Frau Roth geworden. – Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung des Kollegen von der AfD?

Luise Amtsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004243, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Selbstverständlich. ({0}) – Es muss nicht sein, aber es gehört zum guten parlamentarischen Ton. Insofern, sehr gerne.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich weiß das zu schätzen. Vielen Dank, untertänigst. ({0}) Sie haben gerade eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs angedeutet, in der festgestellt worden sei, dass das Regierungshandeln von Frau Merkel bezüglich der Grenzöffnung richtig gewesen sei. Können Sie die Stelle zitieren, aus der Sie das lesen?

Luise Amtsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004243, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dazu müsste ich direkt in das Urteil sehen. Das habe ich hier vorne nicht vorliegen. Aber es war ganz klar festgelegt, dass es die Möglichkeit gibt, selbst einzutreten. Diese Möglichkeit haben wir an vielen Stellen im europäischen Recht. Wenn zum Beispiel ein Geflüchteter in Deutschland in einen anderen europäischen Staat rücküberstellt werden müsste und das nicht innerhalb von drei Monaten gelingt, dann gibt es dieses Selbsteintrittsrecht sogar automatisch. In bestimmten Fällen, wenn eine Überforderung in anderen Mitgliedstaaten vorliegt und eine humanitäre Notlage existiert, gibt es die Möglichkeit des Selbsteintrittsrechts. Dieses hat Angela Merkel in Anspruch genommen, gemeinsam mit dem Bundesinnenminister. Ich sehe überhaupt keinen Grund dafür, das irgendwie infrage zu stellen. Es war eine politisch einzuordnende humanitäre Entscheidung zu diesem Punkt, die ich nach wie vor ausdrücklich unterstütze, da das Europarecht glasklar diese Möglichkeit zulässt. ({0}) Damit hier keine Missverständnisse auftauchen: Die grüne Fraktion will ebenfalls eine schnelle und lückenlose Registrierung aller Ankommenden, auch aus Sicherheitsgründen, vor allen Dingen aber auch im Interesse der Schutzsuchenden selbst; denn nur so können sie einen Asylantrag stellen. Deswegen ist es wichtig, dass wir schnelle, faire und zügige Verfahren auf den Weg bringen. Es gibt zahlreiche Maßnahmen und viele Möglichkeiten der Verbesserung: von einer Qualitätsoffensive beim Bundesamt bis hin zur Entkriminalisierung des Straftatbestandes der illegalen Einreise, wie es zum Beispiel der Bund der Kriminalbeamten fordert. ({1}) Meine Fraktion – das sage ich auch ausdrücklich mit Blick auf den Geist dieses Antrages – stellt sich dieser nationalstaatlichen Kleingeisterei der AfD entschieden entgegen. Wir kämpfen für die Überwindung des Dublin-Systems, für eine echte gemeinsame europäische Asylpolitik, für legale Wege, Resettlement und Familiennachzug. Uns sind Europa und unsere Freizügigkeit nicht egal, meine Damen und Herren. Uns ist auch nicht egal, was auf den Sklavenmärkten und in den Folterknästen Libyens vor sich geht, ein Land, das Sie als unproblematisches Zielland für Geflüchtete beschreiben. Deshalb sage ich ganz ausdrücklich: Unsere Verantwortung hört nicht an unseren Grenzen auf, sie beginnt dort erst. Herzlichen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Luise Amtsberg. – Die nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion: Andrea Lindholz. ({0})

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der AfD fordert in Ziffer 1 im Ergebnis unbefristete und flächendeckende Grenzkontrollen und in Ziffer 2 die Zurückweisung sämtlicher Asylbewerber an der deutschen Grenze. Weil dieses Thema ein hochsensibles Thema ist und weil viele von uns in ihren Wahlkreisen Kontakt zu Flüchtlingen und zu Helfern haben, möchte ich diese Stunde auch nutzen, um den vielen Ehrenamtlichen, die uns in der Krise unterstützt haben und noch unterstützen, Danke zu sagen und auch anzuerkennen, dass es viele Schutzsuchende gibt, die in Deutschland ehrlich um Arbeit und Integration bemüht sind. ({0}) Sie, Herr Gauland, werden im Jahr 2015 im „Spiegel“ zitiert: Man kann diese Krise ein Geschenk für uns nennen ... Sie war sehr hilfreich. Es ist nicht unsere Politik, Politik auf dem Rücken von Schutzsuchenden auszutragen; das ist ganz offensichtlich Ihre Politik. ({1}) Die Forderungen in Ihrem Antrag, zu dem Sie eigentlich gar nichts Genaues, Konkretes gesagt haben, lösen mithin kein einziges Problem. Ihre Forderung nach einer faktischen Binnengrenzschließung liegt vollkommen neben der Sache. Es ist klar und unbestritten, dass Grenzkontrollen nach wie vor notwendig sind. Die Bundespolizei kontrolliert mit Unterstützung der bayerischen Polizei seit 2015 die deutsch-österreichische Grenze. ({2}) Mit der Schweiz haben wir eine enge Polizeikooperation vereinbart. Erst jetzt, im Oktober, hat der Bundesinnenminister die Durchführung der Kontrollen verlängert und auf Fluggäste aus Griechenland ausgeweitet. CDU und CSU wollen diese Grenzkontrollen so lange aufrechterhalten, bis der Schutz der EU-Außengrenzen gewährleistet ist. ({3}) In Bayern funktioniert im Übrigen auch die Schleierfahndung, die als ergänzendes Mittel – Armin Schuster hat es angesprochen – immer noch mit heranzuziehen ist. In Ihrem Antrag dagegen ist die Rede von einem vollständigen und umfassenden Grenzschutz, der – Zitat – „durch geeignete Maßnahmen zu ermöglichen“ ist, „ggf. durch Auf- und Ausbau von Bereitschaftskräften“, ohne dass Sie näher darauf eingehen, um wie viele Stellen es sich dabei handeln soll. Wir haben bereits 7 500 neue Stellen beschlossen. Ihr Antrag verliert natürlich kein einziges Wort darüber, welche weiteren geeigneten Maßnahmen zur vollständigen Grenzschließung Sie eigentlich meinen. Aber das werden Sie uns ja vielleicht im weiteren parlamentarischen Verfahren ehrlich erklären; denn Sie haben es auch heute in Ihren Reden nicht dargelegt. Wir wissen gleichzeitig, dass unser Wohlstand in Deutschland als Exportnation von der Grenzfreiheit im Schengen-Raum abhängt. Insofern ignoriert Ihr Antrag vollständig die Frage eines angemessenen Verhältnisses zwischen offenen Grenzen und Grenzkontrollen, also die Frage, was hier nötig und erforderlich ist. Das Gleiche gilt für geltendes Europarecht, das Sie mal eben außer Kraft setzen wollen. Unbefristete Grenzkontrollen sind europarechtlich unzulässig. ({4}) Die jetzigen Kontrollen sind europarechtskonform ausgestaltet. Ich erwarte von uns, dass wir uns an Europarecht halten; ({5}) wir werden keine abweichenden Entscheidungen treffen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Lindholz, darf ich Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage oder eine -bemerkung – –

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie können gerne am Ende eine Intervention machen, auf die ich gerne antworte. Aber ich werde jetzt erst weiterreden.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Sie wissen ja noch gar nicht, von wem. Aber das betrifft jeden?

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Genau.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut.

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jetzt zur generellen Zurückweisung an der Grenze im Fall des unberechtigten Grenzübertrittes. Sie berufen sich auf zwei Gutachten – wobei ich mir die Frage stelle, ob Sie sie sich überhaupt durchgelesen haben –, nach denen jeder an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden kann, der sich auf das Asylrecht beruft. Das ist schlicht und ergreifend falsch und wird durch genau diese Gutachten nicht bestätigt. Ja, Zurückweisungen an der Grenze sind möglich, und sie werden auch vorgenommen. Aber nein, wenn jemand an der Grenze steht und „Asyl“ ruft, kann man nicht sagen, dass er definitiv und in keinem Fall ein Eintrittsrecht hat. ({0}) Ausnahmen gelten für Minderjährige, für Familienangehörige, für besondere Härtefälle. Worauf die Gutachten auch eingehen und wozu Sie ebenfalls nichts aussagen, ist die Frage, ob wir innerhalb der Mitgliedstaaten berechtigt sind, zu sagen: Du kamst über die Grenze mit Österreich, und deswegen musst du definitiv nach Österreich zurückgehen. – Das ist nicht im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander geregelt, sondern hier greift Europarecht. Es geht an dieser Stelle unserem Recht vor. Insofern haben wir generell zu prüfen, wo das Asylverfahren durchzuführen ist. Um diese Prüfung vorzunehmen, brauchen wir Mechanismen, und diese müssen anders aussehen. Wir brauchen Aufnahmezentren, so wie wir sie schon die ganze Zeit fordern, in denen wir jedes Verfahren prüfen und genau hinschauen können, ob jemand einen Asylanspruch hat, ob Deutschland oder ein anderes Land verpflichtet ist, das Verfahren zu überprüfen, wie es mit den Dokumenten aussieht, ob sie in Ordnung sind oder nicht. Wir müssen natürlich wissen, wer hier reinkommt, wer bei uns ist und wer vielleicht auch unser Land wieder verlassen muss. Deswegen brauchen wir auch einen vernünftigen Schutz der Außengrenzen; darin liegt zunächst einmal die Lösung. Aber das, was Sie mit Ihrer lapidaren Aussage in dem Antrag suggerieren, nämlich dass wir an der deutschen Grenze einfach sagen können: „Hier kommt keiner rein“, ist schlicht und ergreifend genauso falsch wie der Satz: Unser Asylrecht kennt keine Grenzen. Nach Ihren vollmundigen Ankündigungen, auch im Wahlkampf, muss ich ehrlich sagen: Ihr Antrag wird diesen vollmundigen Ankündigungen in keiner Weise gerecht. ({1}) Es ist kein lösungsorientierter Antrag. Er setzt sich mit rechtlichen Problemen überhaupt nicht auseinander, und mit der Frage der Humanität auch nicht. Aber Sie können uns natürlich sagen, Sie hätten gerne geschlossene Grenzen, man müsse zur Not Mauern und Zäune ziehen. Sagen Sie es ehrlich! Sie können doch sagen: Wir lassen hier niemanden rein, wir empfinden keine humanitäre Verpflichtung, irgendeinem Asylantrag nachzukommen. Das können Sie alles sagen, aber dann tun Sie es bitte auch. Schenken Sie den Menschen endlich reinen Wein ein! Stellen Sie keine Copy-and-paste-Anträge, nur auszugsweise aus irgendwelchen Gutachten herausgezogen, die mit der komplexen Angelegenheit Asyl und Anspruch auf Asyl nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. Danke schön. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Andrea Lindholz. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Protschka aus Niederbayern.

Stephan Protschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004858, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Richtig, aber der Name kommt aus der Tschechei. Ich bin also ein Geflüchteter. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Die Tschechei gibt es nicht mehr, aber das ist ein anderes Thema.

Stephan Protschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004858, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Liebe Kollegin Lindholz, Sie haben eben behauptet, die Bundespolizei und die bayerische Landespolizei würden die Grenzen schützen. Die Präsidentin hat es schon angesprochen: Ich komme aus Niederbayern. Wir haben den einen oder anderen Grenzübertritt zu Österreich. Ich lade Sie gerne ein, zu mir zu kommen, damit Sie sehen, dass nicht eine Grenze geschützt wird, nicht an einer Grenze wird kontrolliert. Sie erzählen nur Müll. – Entschuldigung, meine Damen und Herren. ({0}) Des Weiteren haben Sie gesagt: Es ist nicht möglich, um Deutschland einen Grenzzaun zu ziehen. Wie ist es möglich, dass eine europäische Firma namens EADS rund um Saudi-Arabien Grenzen bauen kann, aber gleichzeitig behauptet wird, in Deutschland kann man keine Grenzen bauen? ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Darf ich darauf hinweisen, dass Herr Baumann heute im Ältestenrat darum gebeten hat, dass man sich anständig benimmt. Ich kann nur sagen: Frau Lindholz vertritt vielleicht eine Meinung, die Sie nicht teilen, aber „Müll“ war das keineswegs. ({0}) Frau Lindholz, Sie haben die Möglichkeit zur Antwort.

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege, dass Sie aus Niederbayern sind, das hat man gestern schon gehört. Natürlich kenne auch ich deutsche Grenzen, und ich weiß, dass deutsche Grenzen kontrolliert werden. Es sind auch schon Bekannte und Freunde von mir kontrolliert worden. Es gibt Unternehmen, die sich über die vielen Kontrollen beschweren. Sie sagen: Damit ist unser Warenhandel beeinträchtigt. Wenn Sie an der Grenze noch auf keine Kontrolle gestoßen sind, dann mag das so sein. Fakt ist: Die Bundesregierung hat in Auftrag gegeben, dass die Bundespolizei und die bayerische Landespolizei alle Binnengrenzen kontrollieren. Was war der zweite Punkt? ({0}) – Genau, danke. Zum Grenzbau in Saudi-Arabien sage ich nichts. Aber es ist doch endlich mal ein Wort, das Sie da von sich geben. ({1}) Ich habe Sie eben aufgefordert: Sagen Sie den Menschen in unserem Land, was Sie vorhaben. Wenn Sie Grenzen bauen wollen, dann müssen Sie dafür Mehrheiten suchen. ({2}) Aber Sie werden hier keine Mehrheit finden zum Bauen von Grenzen und Mauern in Deutschland. ({3}) Danke schön. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Der letzte Redner ist von der SPD-Fraktion und kommt auch aus Bayern. Das Wort hat Uli Grötsch. ({0})

Uli Grötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man im Jahr 2017 über Migration redet, dann muss man bei den Ereignissen im Jahr 2015 anfangen; denn das, was im Jahr 2015 und teilweise auch noch in den Jahren 2016 und 2017 in Deutschland geleistet wurde – egal ob von den ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern, von der öffentlichen Verwaltung oder auch von den Polizeien –, ist eine historische Leistung. Das kann man gar nicht oft genug würdigen. ({0}) Wir alle haben noch die Bilder vom Münchner Hauptbahnhof aus dem Sommer 2015 vor Augen, als halb München zum Hauptbahnhof gelaufen ist und geholfen hat. Ich habe auch ein Bild aus Wegscheid in Niederbayern vor Augen. Vorneweg fuhr ein Polizeiauto, und dem Auto folgte ein Treck geflüchteter Menschen. Auch daran erinnern sich sicherlich viele von uns. Für mich ist das ein Symbol der damaligen Migrationslage in unserem Land. 52 000 Asylanträge wurden im Oktober 2015 gestellt. Im Oktober 2016 hingegen waren es nur noch 30 000 Asylanträge und im Oktober 2017 nur noch 15 000 Asylanträge. Das entspricht einem Rückgang von 70 Prozent. Die Zahl der unerlaubten Einreisen an der deutschen Südgrenze, an der Grenze zu Österreich: Im Juni 2016 waren es 3 500 und im Juni 2017 noch etwa 1 200. ({1}) Das waren also auch etwa 50 Prozent weniger. Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Die Phase der Migration ist de facto abgeschlossen. Die Zeichen der Zeit haben sich verändert. Die Aufgabe, um die es jetzt in diesem Land gehen muss, hat sich verändert. Auch bei der Debatte, die wir hier in diesem Haus führen, muss es um etwas ganz anderes gehen, nämlich um Integration, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Deswegen halte ich es für falsch, dass der geschäftsführende Bundesinnenminister im letzten Monat die Grenzkontrollen an der Grenze zu Österreich nochmals um sechs Monate verlängert hat. Ich sage: Die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten, die an der Grenze zu Österreich stehen, an der A 8 oder der A 9, werden ganz woanders gebraucht. Da haben Sie recht, Herr Schuster. Sie werden nicht an den Autobahnen gebraucht, sondern auf den Autobahnen, bei der Schleierfahndung, weil es bei Kriminalität an den deutschen Außengrenzen um ganz andere Themen geht als um unerlaubte Einreise. ({3}) Wer einem das im Jahr 2017 so verkaufen will, der spielt mit den Ängsten der Menschen in Deutschland und spricht die Unwahrheit. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Herrn Ehrhorn von der AfD?

Uli Grötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, Sie hatten meiner Meinung nach in dieser Debatte schon zu viel Raum. ({0}) In einer Zeit, in der die Balkanroute geschlossen ist und das EU-Türkei-Abkommen, von dem man halten kann, was man will, steht, verlaufen die Grenzen ganz woanders. Sie verlaufen schon in der Sahara, in Mauretanien, im Niger oder im Tschad oder, sofern man es überhaupt bis an die nordafrikanische Küste schafft, am Mittelmeer. Deswegen will ich es noch einmal sagen: Wir brauchen die Bundespolizei auf den Autobahnen und nicht daneben. Am Ende will ich noch sagen, dass es auch darum gehen muss, dass wir eine europaweite Verteilung der Flüchtlinge auf den Weg bringen. Wir akzeptieren es nicht, dass sich die von Ihnen, von der AfD, unterstützten Länder aus dem Staub machen und so tun, als würde sie dieses Thema nichts angehen. ({1}) Wir stehen für ein offenes Europa, für ein Europa ohne Grenzen. Ja, wenn Sie es so wollen: Wir stehen für die Vereinigten Staaten von Europa. ({2}) Eines sage ich Ihnen noch, Herr Gauland: Es mag schon sein, dass ein Aufenthaltsstatus ungültig sein kann; aber ganz gewiss ist auf dieser Welt kein Mensch illegal, Herr Gauland. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Uli Grötsch. – Damit schließe ich die Debatte. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/41 an den Hauptausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Am 6. Dezember dieses Jahres hat die Europäische Kommission einen Vorschlag gemacht, der den schönen Namen „Nikolaus-Paket“ trägt. Es handelt sich um einen Vorschlag zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion in Europa. Diese Debatte ist notwendig; denn der Euro-Raum, so wie er heute gestaltet ist, ist nicht wetterfest. In den letzten Jahren wurde er hauptsächlich von der Europäischen Zentralbank zusammengehalten, und zwar mit Nullzinsen und gigantischen Anleihekaufprogrammen, und das alles mit den damit verbundenen Risiken und Nebenwirkungen: Risiken angesichts einer unglaublichen Ankaufsumme von 2,3 Billionen Euro, Nebenwirkungen wie der Anhängigkeit der EZB von Staaten, die ihr Geld schulden, explodierenden Immobilienpreisen und der Entwertung von privater Altersvorsorge. Das ist nicht wetterfest. Das ist – im Gegenteil – ein ganz besorgniserregender Befund. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist Aufgabe der Politik, den Euro-Raum jetzt wetterfest zu machen. „Wetterfest machen“ bedeutet für uns zuallererst, ihn zu erhalten, ihn nicht zu zerstören und nicht zu nationalen Währungen zurückzukehren. Denn von allen Rechnungen, die man aufmachen könnte, wäre das sicher die teuerste und die, die für die Menschen, für die wir verantwortlich sind, die höchsten Kosten und den größten Verlust an Perspektiven und Lebenschancen bedeuten würde. Das ist mit uns nicht zu machen, und das ist nicht das Ziel dieser Debatte. ({1}) Aber diese Debatte findet in Europa statt, und das in einer Zeit, in der wir in Deutschland eine geschäftsführende Bundesregierung haben. Umso wichtiger, liebe Kolleginnen und Kollegen, finden wir es, dass sich der Bundestag jetzt positioniert. Das Parlament ist arbeitsfähig. Es kann und muss gerade einer geschäftsführenden Bundesregierung eine Anleitung an die Hand geben, diese Debatte in Europa zu führen. Eine geschäftsführende Bundesregierung alleine kann das natürlich nicht so einfach tun, aber mit einem Parlamentsbeschluss im Rücken kann sie es sehr wohl. Genau das streben wir mit unserem Antrag an. ({2}) Wir wollen eine Euro-Zone, die fair und stabil ist und Wachstum fördert. Wir lassen uns dabei von drei Grundsätzen leiten, auch im Zusammenhang mit dem Nikolaus-Paket: Erster Grundsatz. Jede staatliche Ebene trägt Verantwortung für eigene Entscheidungen. Das gilt für uns übrigens nicht nur innerhalb der Währungsunion, sondern genauso auch innerhalb der Bundesrepublik, zwischen Bundesländern und zwischen dem Bund und den Ländern. Das ist keine spezifisch europäische Problematik. Für uns gilt die Verantwortung jeder staatlichen Ebene, egal welcher. ({3}) Zweiter Grundsatz. Jeder Investor trägt Verantwortung für seine Entscheidungen, ob es eine Bank, eine Versicherung oder ein Fonds ist. Privatunternehmen müssen für ihre Entscheidungen – die guten wie die schlechten – Verantwortung tragen. Unser dritter Grundsatz ist Hilfe zur Selbsthilfe. Strukturschwache Regionen in Europa erhalten Hilfe zur Selbsthilfe, aber Hilfe zur Bekämpfung der Ursachen ihrer Schwäche und nicht Hilfe zur Beibehaltung der Ursachen und zur Beibehaltung von Strukturen, die nicht tragfähig sind. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir schlagen vor, dass der Bundestag der Bundesregierung Folgendes mitgibt: Erstens. Mit Blick auf die Verantwortung von Staaten für ihr Handeln brauchen wir einen Fiskalvertrag, der die Schuldenaufnahme in Europa begrenzen und die Wiedereinhaltung der Schuldenregeln befördern soll. In europäisches Recht überführen? Ja, das ist eine gute Idee – aber nicht, wie vorgeschlagen, mit der Flexibilität, dass man Ausnahmen vorsehen und wieder davon abweichen kann. Das hat in der Vergangenheit zu knapp 170 Verstößen gegen den Vertrag geführt – das kann man, wenn man für den Rechtsstaat ist, nicht hinnehmen; wenn Regeln da sind, müssen sie gelten –, und gerade das wollen wir in Zukunft nicht mehr. Das ist der erste Punkt. ({5}) Außerdem wollen wir keinen allgemeinen Transfermechanismus – egal wie er heißt, ob Euro-Bonds, Schuldentilgungsfonds oder Euro-Zonen-Budget –, sondern wir wollen an die Ursachen der Unterschiede herangehen, zum Beispiel über die Strukturfonds, die es ja schon gibt. ({6}) Zweitens: zur Verantwortung von Investoren. Wir wollen Bankenabwicklung statt Bankenrettung. Diese Bankenabwicklung soll auf Kosten der Eigentümer, auf Kosten der Gläubiger und, wenn das alleine nicht reicht, auf Kosten des Bankenabwicklungsfonds, der durch Beiträge der anderen Banken gespeist wird, durchgeführt werden. ({7}) Was wir nicht wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine Bankenabwicklung auf Kosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Europa. Deswegen sehen wir es kritisch, wenn vorgeschlagen wird, dass der Bankenabwicklungsfonds eine Kreditlinie beim ESM und damit indirekt beim europäischen Steuerzahler bekommt. Das hilft nicht, sondern es verschärft das Problem auf den Märkten. ({8}) Aus unserer Sicht geht es nicht ohne einen Mechanismus zur Umschuldung von Staatsschulden, um auch wieder Ordnung in dieses Verfahren reinzubringen und die Investoren dazu zu bringen, Verantwortung zu tragen. Dritter Grundsatz: Hilfe zur Selbsthilfe. Den ESM gibt es für Notlagen, aber eben nur unter den Bedingungen, die für diese Notlagen gelten müssen. Das ist der Unterschied zu den anderen Instrumenten, die vorgeschlagen worden sind. Zur Verhinderung von Notlagen gibt es Strukturfonds gegen Strukturschwächen, und es gibt die Europäische Investitionsbank, die wir als präventives Instrument stärken möchten. Frau Präsidentin, ich bin am Ende. ({9}) – „Nur mit der Redezeit“: Kollege Kahrs hat vier lange Jahre auf diesen Moment warten müssen. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Moment! – Sie kommen jetzt bitte zum Ende.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Ende. – Die Debatte ist für uns nicht, ob wir eine Währungsunion wollen, sondern wie wir sie wollen, und wir glauben, dass die Verantwortung von Staaten und von Investoren liberale Ordnungsvorstellungen beinhalten, von denen wir überzeugt sind, dass sie Europa insgesamt stärker machen. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege Toncar. – Nächster Redner: Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei Licht betrachtet ist das Projekt der Europäischen Union sicherlich eines der großartigsten politischen Projekte der Neuzeit. Wir hatten noch nie das Maß an Freizügigkeit, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit in Europa, wie wir es jetzt haben, trotz aller Rückschläge bei den beteiligten Ländern hatten wir noch nie so einen Wohlstand, wie wir ihn heute haben, und wir haben vor allem eines noch nie gehabt, nämlich so lange Frieden in Deutschland und in Mitteleuropa. Ich weise nur darauf hin: In diesem Deutschen Bundestag sitzt wahrscheinlich kein Abgeordneter mehr, der sich bewusst an Krieg und Vertreibung erinnern kann, und das ist wahrlich nicht selbstverständlich. ({0}) Ich stelle das deswegen der ganzen Sache voran, weil wir es so oft als selbstverständlich betrachten, dass das so ist. Wir merken aber gerade in diesen Tagen auch, wie dünn das Eis ist, auf dem wir stehen. Wir beobachten die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in Osteuropa, Krieg und Frieden in Nordirland und auch die wirtschaftliche Entwicklung in Griechenland. Deswegen ist es gut und richtig, dass sich viele Menschen und viele Gremien Gedanken darüber machen, wie man dieses Europa weiterentwickeln kann. Es ist gut und richtig und grandios, dass sich der französische Präsident hinstellt und in französischer Untertreibung sagt, er möchte Europa neu gründen. Wir teilen nicht alles, was er da vorgeschlagen hat, aber das ist eine ganz wichtige Initiative, und ich sage auch ganz ohne Ironie: Es ist wichtig, dass sich ein SPD-Bundesparteitag mit so etwas beschäftigt, auch wenn wir zu anderen Schlussfolgerungen als zu den Vereinigten Staaten von Europa in 2025 kommen. Es ist nachgerade die Aufgabe der Europäischen Union – Herr Toncar, Sie haben es angesprochen –, so etwas wie das Nikolaus-Paket zu entwickeln, wobei wir uns wirklich freuen würden, wenn mit gleicher Initiative und gleicher Kraft auch die bestehenden Regeln durchgesetzt würden, wie neue Initiativen auf den Weg gebracht werden. ({1}) Wenn ich das jetzt alles so sage – Europa ist ein grandioses Projekt, alle machen sich gute Gedanken –: Darf man das dann überhaupt kritisieren? Ich bin ein leidenschaftlicher Kritiker der Niedrigzinspolitik und der Ankaufpolitik der EZB. In südeuropäischen Zeitungen steht dagegen ganz gerne: Draghi darf man nicht kritisieren. Die EZB darf man nicht kritisieren. Europa ist so toll, da sollte man sich zurückhalten. – Nein, ich glaube, als leidenschaftlicher Europäer muss man Europa kritisieren und muss man sich an dieser ganzen Sache reiben und sich damit auseinandersetzen. Herr Toncar, Sie haben es nicht ganz so zusammengefasst, wie es in Ihrem Antrag steht; das war mehr so Flughöhe über 10 000 Meter. Ich möchte einige Punkte aus Ihrem Antrag herausgreifen. ({2}) Wir sind für die Bankenunion. Wir wissen, dass die Bankenunion wichtig ist. Trotzdem haben wir gesagt: Wir haben irgendwann einmal versprochen, keine Steuergelder mehr dort hineinzugeben. Deswegen finden wir diesen Backstop nicht gut. Wir wissen, dass es uns nur gut gehen kann, wenn es auch den anderen europäischen Ländern gut geht, und dass wir ihnen helfen müssen. Trotzdem wollen wir keine Transferunion haben und asymmetrische Schocks anders bekämpfen, als das die Europäische Union vorschlägt. Wir wissen, dass wir uns in der europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik besser abstimmen müssen. Trotzdem sind wir der Meinung, dass ein europäischer Finanzminister, der bei der Kommission angesiedelt ist, zurzeit nicht das adäquate Mittel dafür ist. Wir wissen, dass wir mehr in Bildung, gegen Jugendarbeitslosigkeit und in die digitale Infrastruktur investieren müssen. Trotzdem sind wir der Meinung, dass die EU bisher in vielen Bereichen den Nachweis schuldig geblieben ist, dass das effizient und effektiv geschehen kann. Deswegen ist es wichtig, dass wir diese Kritik auch vorbringen, und deshalb, Herr Toncar, stimmen wir in sehr vielen Punkten mit dem überein, was Sie in den Antrag geschrieben haben. Aber wie gehen wir jetzt damit um? ({3}) Zwei Punkte dazu: Erster Punkt. Sie haben gesagt, wir müssen der geschäftsführenden Regierung etwas mit auf den Weg geben. – Besser wäre es, wenn wir eine stabile Regierung hätten, Herr Toncar. ({4}) Wenn wir eine stabile Regierung hätten, dann hätten wir auch vier Jahre lang eine vernünftige Europapolitik machen können. Meine Damen und Herren, eins ist richtig: Man kann sich zwar darüber freuen, dass zurzeit keine zusätzlichen Gesetze gemacht werden, dass wir 2018 nur einen vorläufigen Haushalt haben und kein Geld ausgeben. Aber momentan passiert in Europa so viel wie nie, und wir sind nicht handlungsfähig. Deswegen ist dieses Haus unter Zurückstellung der persönlichen Interessen und der Parteiinteressen aufgerufen, möglichst schnell eine Regierung zu bilden. ({5}) Zweite Bemerkung zu Ihrem Vorschlag. Was machen wir denn, wenn die 26 übrig gebliebenen Staaten in Europa nicht unserer Meinung sind, wenn die etwas anderes wollen? Sagen wir dann: „Lieber kein Europa als ein schlechtes Europa“, und setzen uns auf die Zuschauertribüne? ({6}) Ist das die Option? Oder ist es nicht vielmehr unsere Aufgabe, nicht nur für unsere Position zu kämpfen, sondern auch dieses Europa zusammenzuhalten? Wenn das richtig ist, was ich am Anfang gesagt habe, dass es das großartigste Projekt ist, das wir bisher hatten, dann hat es doch einen Wert an sich, dieses Projekt zusammenzuhalten und weiterzuentwickeln. Dann kann man nicht sagen: Jetzt passt uns die ganze Sache nicht. Jetzt setzen wir uns auf die Zuschauertribüne und machen nicht weiter. ({7}) Meine Damen und Herren, es wird momentan in der deutschen Politik sehr viel von Haltung geredet. Ich finde es gut und richtig, dass wir über Haltung reden. Zu unserer Haltung als Union gehört es, dafür zu kämpfen, dass unsere Positionen durchgesetzt werden – in Respekt vor den anderen. Aber zu Haltung gehört für uns auch, dass wir den Laden zusammenhalten, dass wir Europa zusammenhalten, weil es ganz wichtig ist. Wir müssen nicht nur Europa zusammenhalten, sondern wir müssen auch dieses Land und diese Gesellschaft zusammenhalten. Vielleicht heißen wir deswegen „Union“. Vielleicht unterscheiden wir uns deswegen von dem einen oder anderen, der hier im Deutschen Bundestag sitzt. Danke schön. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ralph Brinkhaus. – Nächster Redner in der Debatte: Johannes Kahrs für die SPD-Fraktion. ({0})

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben einen Antrag der FDP vorliegen, der sehr oberflächlich ist und von viel Misstrauen geprägt ist. Der Redner vor mir, Herr Kollege Brinkhaus, hat ganz klar gesagt, dass Europa ein großartiges Projekt ist. Und genau das ist es. Europa ist ein großartiges Projekt. Aber wie alle Projekte hat es auch Probleme. Über die muss man reden dürfen. Die Probleme muss man benennen können. Man muss Europa auch verbessern. Das ist auch Aufgabe des Deutschen Bundestages. Leider taugt dafür der Antrag der FDP überhaupt nicht. Ich glaube, mit Blick auf Europa muss man schon konkreter werden. Wir Sozialdemokraten sagen, dass man erst die Ziele für Europa definieren und dann über die passenden Instrumente reden muss. Das Definieren der Ziele ist relativ schwierig. Die Europäische Kommission hat Vorschläge gemacht. Ich glaube zwar, dass man über diese Vorschläge genauso wie über die weitergehenden Vorschläge des französischen Präsidenten Macron reden muss. Wir hätten es übrigens auch gut gefunden, wenn die geschäftsführende Bundeskanzlerin hier eine Regierungserklärung zu dem Thema abgegeben hätte. Das hätte helfen können. ({0}) Entscheidend ist allerdings, wie man weiterhin damit umgeht. Wir Sozialdemokraten können uns zum Beispiel einen europäischen Finanzminister vorstellen. Wir Sozialdemokraten glauben, dass Europa ganz anders strukturiert werden muss. Es muss auf mehr Verantwortung gesetzt werden. Wir Deutschen haben damit am wenigsten Probleme. Wir haben einen gegliederten Staatsaufbau mit Kommunen, Ländern und dem Bund. Daher hätten wir damit, im Falle der angestrebten Vereinigten Staaten von Europa, jemanden über uns zu haben, weniger Probleme als die Franzosen oder andere. Ich glaube aber, dass es wichtig ist, dann seine eigenen nationalen Interessen zu definieren. Die eigenen nationalen Interessen Deutschlands sind ein starkes Europa. Wir sind ein Land mit einer starken Wirtschaft. Wir handeln in Europa. Wir haben viele Dinge, die man nur über Europa regeln kann. Nur ein entschlossenes Europa kann dem Klimawandel effektiv entgegentreten. Kampf gegen Klimawandel und Energiepolitik gibt es nur mit Europa. Wir können hier nicht den Ausstieg aus der Atomenergie beschließen, und an den Grenzen Deutschlands werden die Atomkraftwerke gebaut. ({1}) – Ja, natürlich ist das so. Aber deswegen brauchen wir ein stärkeres Europa, in dem man das entsprechend regelt. ({2}) Nur ein starkes Europa kann Firmen wie Facebook oder Apple dazu zwingen, unsere Regeln und Grundrechtsstandards zu akzeptieren. Wir brauchen natürlich auch eine gemeinsame Steuerpolitik. Dazu steht übrigens im Antrag der FDP gar nichts. Was macht denn Irland zurzeit? Da werden Apple praktisch 13 Milliarden Euro geschenkt. Das kann doch nicht Sinn und Zweck der Übung sein. Dafür brauchen wir ein starkes Europa. ({3}) Nur ein solidarisches und starkes Europa kann der Steuerflucht und übrigens auch dem internationalen Terrorismus entgegentreten. Das kriegen die einzelnen Staaten nicht mehr hin. Wenn man sieht, wie China in Afrika operiert oder wie die Staatsfonds und die großen Fonds hier in Deutschland agieren, wird deutlich: Wir brauchen ein starkes Europa. Der Antrag, der uns vorliegt, zeigt etwas Allgemeines auf, aber er sagt nicht konkret, was passieren muss. Er enthält keine Vision und keine Ideen. Deswegen ist es wichtig, dass wir sagen: Wir wollen ein starkes Europa. Wir wollen ein handlungsfähiges Europa. – Natürlich muss man die Probleme bekämpfen; das ist alles richtig. Aber das geht nur, wenn wir vorher unser nationales Interesse definieren, wenn wir sagen, wie wir Europa haben wollen, und dann über die passenden Instrumente reden. Erst die Ziele für Europa definieren, dann die Instrumente: Ich glaube, dass der Kollege Brinkhaus viel dazu gesagt hat.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kollege Kahrs, das hört sich nach dem Schluss Ihrer Rede an. Ich wollte aber gerade fragen, ob Sie bereit sind, eine Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung zuzulassen.

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ehrlicherweise, zur AfD habe ich schon alles gesagt, was notwendig war. Deswegen brauche ich von denen auch keine Zwischenrufe oder -fragen. ({0}) An dieser Stelle möchte ich nur noch gerne dem Kollegen Rehberg beste Genesung wünschen. Der haushaltspolitische Sprecher der Union hat gerade eine Operation hinter sich. Es soll ihm ganz gut gehen. An dieser Stelle dem Kollegen Rehberg, mit dem wir lange und gut zusammengearbeitet haben, die besten Genesungswünsche! Auf die AfD kann ich verzichten. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Johannes Kahrs. Seitens des Präsidiums schließen wir uns den Genesungswünschen von Herzen an. ({0}) Den nächsten Redner rufe ich auf zu seiner ersten Rede. Das ist Peter Boehringer. Er hat fünf Minuten Redezeit. Das war ursprünglich ein kleiner Fehler. ({1})

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Geehrter Herr Toncar und die ganze FDP-Fraktion, Sie fordern in Ihrem Antrag fiskalpolitische Eigenverantwortung der Euro-Mitgliedstaaten. Haushaltspolitik in nationaler Hand ist eine sehr gute Forderung. Den Macron’schen Gemeinschaftshaushalt der Vereinigten Staaten von EU-ropa lehnen auch wir kategorisch ab, ({0}) nicht nur, weil schon die Idee einer Vergemeinschaftung der Haushalte gemäß Artikel 110 Grundgesetz und auch gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verfassungswidrig ist, sondern auch, weil wir es ökonomisch mit Ludwig Erhard halten, der klar festgehalten hatte: Die Vorstellung, dass Politikbereiche der nationalen Souveränität entzogen und supranationaler Verwaltung übergeben werden sollen, hält einer wirtschaftstheoretischen Durchleuchtung nicht stand. ({1}) Die AfD-Fraktion hat bereits mit ihrem ersten Sachantrag im November jede Bestrebung in Richtung EU-Kollektivhaushalt abgelehnt. ({2}) Lassen Sie uns also gerne diesen wichtigen Konsens in der Ausschussarbeit zusammenbringen. Fans der totalen EU in Form des EU-Suprastaats gibt es leider in diesem Haus genügend, wie etwa die Rede von SPD-Chef Schulz auf dem Parteitag gezeigt hat. ({3}) Er fordert ernsthaft die Vereinigten Staaten von EU-ropa und damit die Degradierung Deutschlands zur unsouveränen Verwaltungseinheit, und zwar unbedingt spätestens bis 2025. ({4}) Kollege Spahn hat Herrn Schulz zu Recht „Traumtänzerei“ und „religiöse Erlösungshoffnung“ der SPD durch die EU vorgeworfen. Dem muss ich nichts hinzufügen. ({5}) Es muss aber auch gesagt werden: Nationale Steuerhoheit ist wichtig, aber derzeit rein quantitativ nur noch zweitrangig. Solange EZB und die Bundesbank über die TARGET2-Dauer-Bail-outs an allen Parlamenten vorbei Wirtschaftspolitik in der Verkleidung von Geldpolitik machen – mit einem Mitteleinsatz von mehr als 1 Billion Euro im Jahr –, so lange ist eine gestärkte nationale Fiskalpolitik nicht die Hauptstellschraube, an der wir ansetzen müssen. ({6}) Leider schimmert auch im FDP-Antrag trotz einiger guter Passagen mehrfach die übliche keynesianische Plandenke durch. Ich zitiere: Stabilität und Wachstum: Wir wollen die optimale Nutzung des EU-Haushalts zur Stärkung der Konvergenz, zur Schaffung neuer Wachstumsimpulse sowie des ESM zur Bewältigung von Krisen. – Dieses Wunschdenken war schon 1997 in der Politik genauso ausgeprägt. Schon der erste Euro-Stabilitäts- und Wachstumspakt – er hieß genauso – ist seit 2005 permanent gebrochen worden – hundertfach –, obwohl er formal immer noch in Kraft ist. Und doch wird die Fiktion einer dauerhaften Stabilisierbarkeit durch Kontrollen und Sanktionen hier im Bundestag aufrechterhalten.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Toncar?

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich würde eine Kurzintervention bevorzugen. Auch die FDP muss sich manche Fakten anhören. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut; alles klar. Das ist Ihr gutes Recht.

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das ziehen Sie mir bitte nicht von meiner Redezeit ab.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ich habe die Uhr selbstverständlich gestoppt. Da ist Verlass auf mich.

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke. – Adorno sagte einmal: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Es gibt keine sinnvolle Euro-Rettungspolitik in einem von Anfang an fehlkonstruierten Währungssystem. ({0}) Oder: Wenn Ihnen Adorno zu links ist, dann nehmen Sie Einstein: Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten. ({1}) Auch reine Wachstumsgläubigkeit kann im falschen System nicht funktionieren. Wir leben in Zeiten komplett dysfunktionaler Geld- und Anleihenmärkte. Noch mehr Euro-Rettung durch noch mehr Kreditluftgeld der EZB erzeugt nur riesige Kapitalfehlallokationen und eine Wachstumsillusion, aber kein reales Wachstum. Zurück zum vorliegenden Antrag. Stichwort „europäischer Finanzminister“: Hier wundern wir uns über Ihren Antrag. Darin steht: Es bleibt abzuwarten, ob ein zusätzlicher Posten für Stabilität und Wachstum in Europa nötig sein wird. Nein, hier gibt es nichts abzuwarten. Ein EU-Finanzminister wäre glatt illegal. Die EU ist kein Staat und darf nach Ansicht des Verfassungsgerichts ohne vorherige Volksabstimmung auch keiner werden. ({2}) Zudem muss über Einnahmen und Ausgaben weiterhin im Bundestag entschieden werden. Das ist ein unveräußerlicher Teil der Souveränität. Noch einmal: Die Degradierung Deutschlands zu einer Unterverwaltungseinheit eines souveränen Staates EU-ropa wäre nur gegen eine Mehrheit des deutschen Volkes durchsetzbar. All diese suprastaatlichen Ideen der totalen EU und des totalen Euro sind rechtswidrige und antidemokratische Zumutungen. ({3}) Niemals sollte aus diesem Haus auch nur ein Vorschlag in diese Richtung kommen. Zurück zum FDP-Antrag: ... die gemeinschaftliche Finanzierung von Schulden von EU-Mitgliedstaaten ... ist abzulehnen. Die Botschaft hören wir wohl – absolut richtig –; die Realität sieht aber anders aus. Wir haben diese Euro-Bonds längst – mir fehlt jetzt die Zeit, das zu erklären –: Über EFSF-Garantien, ESM-Kredite, TARGET2-­Salden ist monetäre Staatsfinanzierung praktisch längst realisiert. Noch ein Zitat: Keine Bail-outs von Banken und Staaten. – Völlig richtig; dem stimmen wir zu. Das ist die Rede von uns Euro-Kritikern seit über zehn Jahren. Leider sieht auch hier die Praxis völlig anders aus. Die FDP selbst hat 2010 in Regierungsverantwortung den Startschuss für die dauerhafte Verletzung der No-bail-out-Regel geliefert. ({4}) Wenn die FDP heute bereit wäre, die Euro-Rettung zu beenden und den Euro wieder marktwirtschaftlichen Kräften zu überlassen, dann wäre viel erreicht; aber davon haben wir heute leider nichts gehört. Wir hörten nur Stabilitätsrhetorik, und das ist immer das Gleiche. Herr Lindner – leider sind Sie bei der Debatte über Ihren eigenen Antrag nicht anwesend –, lehnen Sie endlich die Fortführung der Euro-Rettungsschirme ab. Sie haben damals, 2011, persönlich die knappe Mehrheit der FDP für die Euro-Rettung organisiert. Sie hätten diesem Land 2 Billionen Euro an künftigen Steuerzahlungen ersparen können. Sie hätten Geschichte für dieses Land schreiben können. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Würden Sie sich bitte an die Redezeit halten!

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Einige Sätze noch. – Nur die AfD will es nicht bei Rhetorik belassen. Insofern freuen wir uns auf die Ausschussarbeit. Wir befürworten die Überweisung dieses Antrags an den Ausschuss und können ihm aber in Gänze nicht zustimmen. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Herr Toncar, Sie haben das Wort zu einer Kurzintervention. Bitte.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Boehringer, ich möchte Ihnen auch in Form einer Kurzintervention gern eine Frage stellen. Ich lese in Ihrem Wahlprogramm den Satz: Deshalb muss Deutschland die Transferunion aufkündigen und den Euroraum verlassen. Ich habe, seit Sie hier parlamentarisch tätig sind, dazu bisher nichts gehört. Ich möchte Sie einfach fragen, ob das Wahlprogramm der AfD in diesem Punkt der Meinung und der Haltung der AfD-Fraktion entspricht, ob das Ihre Meinung ist, ob Sie das hier vertreten und, falls ja, warum Sie dazu eigentlich in den Debatten um den Euro gar nichts sagen. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Herr Boehringer.

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wenn Sie zugehört haben: Ich habe eben nur über den Euro gesprochen; insofern verstehe ich die Kurzintervention nicht ganz. Ja, es steht im Wahlprogramm, und das ist auch tatsächlich so gemeint. Es ist natürlich nur eine Hilfskonstruktion. Ich bin Euro-Kritiker lange, lange vor der AfD-Gründung gewesen. Wir haben immer ähnlich wie Sie heute argumentiert: Zurück zu Maastricht. – Das haben wir heute auch schon von anderen Fraktionen gehört. Aber irgendwann muss man auch einmal konsequent sein. Wenn Pakte hundertfach gebrochen wurden – ich glaube, Sie selbst haben das in Ihrer Rede gesagt –, dann muss man irgendwann auch einmal dahin gehend konsequent sein, dass die anderen nicht aus dem Euro austreten. Warum sollten die anderen austreten? Deutschland ist der einzige Zahlmeister. Deutschland profitiert nicht vom Euro. Das sind alles Mythen, die hier verbreitet werden. ({0}) Unterm Strich profitiert Deutschland nicht mehr vom Euro. Das war vielleicht einmal so. Bei mit Blick auf morgen realistisch gerechneten Steuereinnahmen in Deutschland in Höhe von 500 Milliarden Euro pro Jahr ist es nicht mehr verantwortbar, Deutschland in diesem Währungssystem zu belassen. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächster Redner: Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, da ist sie wieder, die FDP, deren Solidaritätsgedanke auf das Motto beschränkt ist: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. ({0}) Das gilt nicht nur bei Ihrer Politik für die Bevölkerung in Deutschland, sondern das gilt offensichtlich auch für die Länder in Europa oder in der Euro-Zone. Wir als Linke lehnen diese Politik als unsolidarisch ab. ({1}) Es spricht nichts dagegen, dass wir über Eigenverantwortung reden. Aber wenn wir über Eigenverantwortung reden, dann – da gebe ich den Vorrednern recht – muss man Europa natürlich kritisieren; denn wenn Europa nicht besser wird, wird die Europäische Union scheitern. Aber dann dürfen wir uns in Deutschland nicht hinstellen und mit dem Finger auf andere Länder zeigen, sondern wir müssen auch einmal deutlich machen, was unsere Mitschuld an der Euro-Krise der Vergangenheit ist. Ein Grund dafür, dass die Euro-Krise ausgebrochen ist, dass es diese großen Probleme gibt, sind die deutschen Außenhandelsüberschüsse. Die müssen dringend abgebaut werden; ({2}) sonst wird Europa wieder in eine solche Krise hineinschlittern, Herr Toncar. ({3}) Herr Brüderle hat das in der vorletzten Legislaturperiode nie verstanden. ({4}) Er hat immer gemeint, wir wollten verhindern, dass man Mercedes oder Daimler oder VW ins Ausland verkauft. Außenhandelsüberschüsse werden abgebaut, indem man in Deutschland den Sozialstaat nicht abbaut, Lohnerhöhungen durchsetzt und mehr investiert. Das ist dringend notwendig, auch für Europa. ({5}) Wir brauchen mehr europäische Solidarität, nicht weniger. Aber unsere Solidarität gilt nicht, wie bei der FDP, der Großindustrie, den Banken; unsere Solidarität gilt den Bürgerinnen und Bürgern in Europa; denn das sind die Leidtragenden einer falschen Politik. ({6}) Sinnvolle Vorschläge hierfür liegen beim Euro-Gipfel am Freitag aber leider nicht auf dem Tisch. Macron will eine weitere Deregulierung der Finanzmärkte und einen Euro-Finanzminister, der Kürzungs- und Deregulierungspakete erzwingt. Die Bundesregierung will am liebsten weiter alles zwischenstaatlich regeln und mit einem europäischen Währungsfonds auch weiter kürzen. Nun kommt die EU-Kommission, packt beides im Nikolaus-Paket zusammen, will aber die Macht in Brüssel konzentrieren, will weiterhin kürzen und deregulieren. Einig sind sich offenbar alle darüber, dass gekürzt werden muss. Aber durch diese Politik erreicht man keine Konvergenz, sondern nur eine noch tiefere Spaltung der Europäischen Union. Deshalb lehnen wir diese Pläne ab. ({7}) Denken Sie doch einmal an das Beispiel Portugal. In Portugal lag die Staatsverschuldung bei 68 Prozent. Im Zuge der Troika-Kahlschlagpolitik ist sie auf über 130 Prozent gestiegen. ({8}) Die Wirtschaftsleistung ist um über 20 Prozent geschrumpft. Erst seit 2015, seit die Mitte-links-Regierung die Kürzungsmaßnahmen Stück für Stück rückgängig gemacht hat, geht es wieder aufwärts. Das bestreiten nicht einmal die konservativen Wirtschaftsexperten. ({9}) Die Kürzungspakete der Troika sind das Gegenteil von europäischer Solidarität, und diese Politik soll nun von allen fortgesetzt werden. Aber ohne europäische Solidarität wird die Europäische Union scheitern. Ihr Antrag zielt auf ein Scheitern der Europäischen Union. Scheinbar wollen Sie mit diesem Antrag erreichen, dass Europa scheitert. Was wir brauchen – neben kräftigen Lohn- und Investitionssteigerungen in Deutschland –, ist ein europaweites breitangelegtes öffentliches Investitionsprogramm. Erstens sollten wir gezielt in den sozialökologischen Umbau investieren; gute, nachhaltige Arbeitsplätze würden dadurch entstehen. Zweitens müsste eine sinnvolle Euro-Reform eine strenge Regulierung der Finanzmärkte einschließen. Sie dürfen es Macron nicht durchgehen lassen, dass er die Finanztransaktionsteuer killt, um Paris für die britischen Banken hoffähig zu machen. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Ulrich, ich habe noch einmal die Frage: Wollen Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung eines AfD-Kollegen zulassen?

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich mache mal einen Vorschlag für uns alle.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Das ist keine Antwort.

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es ist Teil der Antwort. ({0}) Ich bin bereit, immer dann auf die AfD zu antworten, wenn es um einen Antrag unserer Fraktion geht. Ich rede jetzt aber zu einem Antrag der FDP-Fraktion.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut; ist klar. Das war ein Nein. Danke schön. – Ich muss ein bisschen aufs Tempo drücken. Ich habe Hunger. ({0}) Bitte, Herr Ulrich.

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich habe gesagt: Wir müssen mehr investieren. Wir brauchen auch endlich die Bekämpfung von Steuerflucht. Dazu sagt die FDP ebenfalls gar nichts. Wir müssen die Steueroasen trockenlegen. Herr Altmaier hat mit seinen Kollegen eine Liste veröffentlicht. Es ist fast schon ein Hohn, dass Irland und Luxemburg nicht draufstehen. Wer so damit umgeht, kann das Problem nicht wirklich bekämpfen. Wir brauchen eine Entkopplung der Staatsfinanzierung von der Europäischen Zentralbank. Wir brauchen Direktinvestitionen. Es kann nicht sein, dass die großen Banken damit Geld verdienen. Wir brauchen eine Demokratisierung der Europäischen Zentralbank. Liebe Kollegen von der FDP, das, was ich vorschlage, ist das genaue Gegenteil von dem, was Sie wollen. ({0}) Sie wollen ein unsolidarisches Europa. Sie wollen ein Europa, in dem sich nur der Stärkere durchsetzt. Ein solches Europa lehnen wir ab. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Bitte, jetzt müssen Sie wirklich zum Schluss kommen.

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Lindner hat gesagt, lieber nicht regieren als schlecht regieren. Wir alle können froh sein, dass diese FDP nicht mitregiert. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Herr Ulrich. – Der nächste Redner ist Dr. Gerhard Schick für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Es ist sehr gut, dass wir über die Reform der Wirtschafts- und Währungsunion reden. Das hätte im Rahmen einer Regierungserklärung erfolgen sollen. ({0}) Dieses Thema ist nicht nur extrem wichtig für die Zukunft des Wirtschaftsraums, sondern auch extrem dringlich; denn das Zeitfenster in Europa ist aufgrund bevorstehender Wahlen klein. Es ist jetzt ganz entscheidend, wie auf die Vorschläge reagiert wird, die nun auf dem Tisch liegen. ({1}) Es gibt zwar im Moment keine allgemeine Debatte. Aber nach längerer Zeit, wo sich in vielen Fragen die europäischen Staaten und die Akteure verhakt haben, ist nun der Punkt gekommen, wo konkrete Vorschläge von der Europäischen Kommission und vom französischen Präsidenten auf dem Tisch liegen. Die entscheidende Frage lautet: Wie reagiert dieses Haus darauf? Nun gibt es einen Vorschlag der FDP-Fraktion; Kollege Toncar hat dazu ausgeführt. Den Zielen stimme ich zu. Es geht darum, die Euro-Zone wetterfest zu machen; denn nach acht Jahren konjunkturellen Rückenwinds ist zu befürchten, dass das nicht auf Dauer so weitergeht. Wir sind aber auf die nächste Krise nicht vorbereitet. Es ist richtig, darauf hinzuweisen, dass eine Situation, in der eine extreme geldpolitische Intervention zum Dauerzustand wird, gefährliche Nebenwirkungen hat. Etwas muss sich verändern, wenn man diesen Zustand nicht fortführen will. So weit besteht Konsens. ({2}) Wenn der Deutsche Bundestag nun dem folgen würde, was Sie, meine Damen und Herren von der FDP, vorschlagen, würden wir zunächst einmal die Reform des ESM im Sinne eines Backstop ablehnen. Ihr Argument lautet: Wir wollen nicht, dass mit Steuergeldern Banken gerettet werden. – Dieses Argument ist richtig. Aber es hat mit dem Vorschlag der Europäischen Kommission nichts zu tun. ({3}) Es soll eine Kreditlinie für den Bankenabwicklungsfonds geben, an den Kredite zurückgezahlt werden müssen, genauso wie es in den USA während der Krise der Fall war. Dort gab es damals einen Kredit an die amerikanische Einlagensicherung. Diesen haben die Banken über eine erhöhte Bankenabgabe zurückgezahlt. Diesem Modell wollen wir folgen. Aus Steuerzahlersicht spricht überhaupt nichts dagegen, das abzulehnen. Warum tun Sie es dann? ({4}) Sie lehnen auch eine Stabilisierungsfunktion ab. Aber wie soll die Union wetterfest werden, wenn es nicht die Möglichkeit gibt, auf Schocks zu reagieren und dort, wo Schwierigkeiten bestehen, mit einem bestehenden Instrumentarium – ohne große Krisenszenarien – einzugreifen? Zu dem Vorschlag des französischen Präsidenten, nun eine große Investitionsoffensive zu starten – das steckt hinter der Idee eines Euro-Zonen-Budgets –, lässt sich in Ihrem Antrag nur der dürre Satz finden: „Öffentliche Investitionen sind dabei ein wichtiger Baustein.“ Mehr nicht! Für den Finanzminister schreiben Sie alle möglichen Bedingungen auf, die in Europa keine Chance haben. Unter dem Strich bedeutet Ihr Antrag de facto: Der Deutsche Bundestag sagt zu den vorliegenden Vorschlägen Nein. – Genau das ist falsch. ({5}) Wir brauchen ein Ja des Deutschen Bundestages zu den Vorschlägen. Natürlich haben auch wir einige Bedingungen. Aber im Grundsatz wollen wir das, was vorliegt, unterstützen. Unser wichtigstes Kriterium ist: Die parlamentarische Kontrolle muss gewährleistet sein. Deswegen soll es die Gemeinschaftsmethode sein. Wir wollen das auf Basis des europäischen Rechts. Wir wollen zudem, dass die Euro-Zone kein exklusiver Club wird, sondern dass Europa gemeinsam vorangeht. Entscheidend ist jetzt jedoch, genau das zu machen, was progressive und konservative Ökonomen aus Frankreich und Deutschland vorgeschlagen haben, nämlich die Idee der Marktdisziplin durchzusetzen, Risiken in den Bankbilanzen abzubauen und gleichzeitig stabilisierende Elemente, wie sie die französische Seite vorschlägt, aufzugreifen und mit dieser Kombination Europa voranzubringen. ({6}) Wer sich auf einen solchen Kompromiss nicht einlässt, sagt de facto Nein und riskiert, dass nichts passiert. So wird Europa nicht wetterfest. ({7}) In der Parlamentarischen Gesellschaft oder in der baden-württembergischen Landesvertretung konnten Sie einfach aufstehen und sagen: Sollen es doch die anderen machen! – So kann Deutschland in Europa nicht agieren. Wir müssen Verantwortung übernehmen, für Kompromisse arbeiten, damit Europa wetterfest wird. Wir Grüne sind dabei, und wir hoffen, dass sich auch genug andere finden, damit wir das gemeinsam voranbringen können. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Gerhard Schick. – Nächste Rednerin: Ursula Groden-Kranich für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ursula Groden-Kranich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Antrag „Fiskalpolitische Eigenverantwortung für Stabilität und Wachstum in Europa“ berührt ein Thema, das uns heute nicht zum ersten Mal begegnet, dem wir uns bereits mehrfach in der vergangenen Legislaturperiode stellen mussten und auch gestellt haben. Es ist richtig, sich der eigenstaatlichen Verantwortung zu stellen – das gilt übrigens auch für die Länder in Deutschland; Sie haben es bereits in Ihrem Antrag gesagt –, bevor die Hände in alle Richtungen hilfesuchend ausgestreckt werden. Nicht zum ersten Mal machen sich die Kommission oder andere Vertreter Europas Gedanken, das Projekt Europa weiterzuentwickeln. Das Weißbuch war eine gute Diskussionsgrundlage, die – noch nicht einmal richtig ausdiskutiert – nun durch das sogenannte Nikolaus-Paket ergänzt, verändert oder vielleicht schon in eine bestimmte Richtung gelenkt werden soll. Und mit dem Begriff „Nikolaus-Paket“ wird die eigentliche Dimension dieses Vorschlages eher verniedlicht als diesem gerecht. ({0}) Es fehlt das Zauberwort, das über allen Vorschlägen stehen sollte, das Subsidiarität heißt und nicht Vergemeinschaftung von Lasten oder Schulden, wie im Antrag der FDP auch richtig herausgearbeitet worden ist. ({1}) Den ESM weiterzuentwickeln, macht daher Sinn. Wir dürfen die Kommission aber nicht dabei unterstützen, die falschen Anreizsysteme zu schaffen. Und wir dürfen auch die rechtlichen Hürden nicht unterschätzen. Auf die Verbindung zum Europäischen Semester und die mittelfristigen Finanzplanungen sollte genauso hingewiesen werden wie auf die Erledigung schon lange bestehender Hausaufgaben. ({2}) Und wie beim echten Nikolaus: In diesen Tagen sind mehr Nikoläuse als nur ein Bischof unterwegs, die Wunschzettel einsammeln – und in Europa gibt es eine Vielzahl von Wunschzetteln, aber auch von verschiedenen Advents- und Finanzbräuchen. Lassen Sie mich an diesem letzten Sitzungstag vor Weihnachten in Bildern sprechen: Der historische Bischof Nikolaus stammte aus Myra, in der heutigen Türkei. Er ist wohl in Bari begraben – im heutigen Italien; ein spannendes Feld zum Gabenverteilen – und bereiste die heutige Türkei und Griechenland – zwei Länder, die uns nicht nur aus fiskalpolitischer, sondern aus gesamteuropäischer Sicht in der letzten Legislaturperiode immer wieder begleitet haben. Nikolaus war übrigens nicht nur Schutzpatron der Kinder, sondern auch der Seefahrer, Händler und Reisenden. Und hier kommen die Themen Finanzen, Europa und Flüchtlinge zusammen. ({3}) Auch Bischof Nikolaus konnte die ihm vorliegenden Wunschzettel nicht immer gleich und komplett erfüllen; und zwischen Goldstücken und „Äpfel, Nuss und Mandelkern“ gibt es ja eine ganz große Bandbreite. Aber Wunschzettel zeigen immer die Vorlieben der Wünschenden auf. ({4}) In Europa geht es dabei nicht um Holzspielzeug oder Spielekonsolen, hier reichen die Wünsche von Digitalisierung bis Lärmschutzmaßnahmen, von Sozialunion bis Finanztransaktionsteuer. Und dabei gilt es, politisch Prioritäten zu setzen und europäische Kernziele herauszuarbeiten, aber auch, wie schon gesagt, falsche Anreizsysteme abzulehnen. Daher freue ich mich auf die Debatten der laufenden Legislaturperiode hier im Bundestag und auch im Europaausschuss. Es ist mir persönlich eine Freude, dass wir als Deutscher Bundestag an der Weiterentwicklung Europas mitbauen werden. ({5}) Für den vorliegenden Antrag der FDP ist Überweisung in den Hauptausschuss beantragt. Wir werden diesen Antrag im Haupt- und sicher auch im künftigen Europaausschuss beraten. Dann sehen wir mal, was der Nikolaus so in seinem Sack hat. Danke schön. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Groden-Kranich. Es kam die Frage auf, wo Ruprecht herkommt, ({0}) nein, die Frage war, wo er bleibt. Diese Frage habe ich mir auch gerade gestellt. Bettina Hagedorn ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion. ({1})

Bettina Hagedorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich will gleich beim Thema Nikolaus weitermachen. Bei uns zu Hause ist das so, dass meine Enkelkinder am 6. Dezember ihre Stiefel mit den Wunschzetteln drin vor die Tür stellen. Am Heiligabend erfahren sie dann, welche Wünsche erfüllt sind und welche nicht. ({0}) Übrigens: Sowohl der Nikolaus als auch der Weihnachtsmann sind gute Männer, und sie tragen rote Mäntel. So weit zur Einleitung. ({1}) Aber jetzt ganz ernsthaft: Liebe Kollegen der FDP, Sie haben hier aus aktuellem Anlass Ihren Antrag vorgelegt. Die Diskussion passt, finde ich, gut, weil am 6. Dezember die Vorschläge der Kommission zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion auf den Tisch gelegt worden sind. Das ist eine Debatte, die in diesen Bundestag gehört und die wir ernsthaft und sicherlich auch noch über Wochen und Monate führen werden; denn Europa wartet auf eine deutsche Antwort. Ich stimme Ihnen so weit zu. In diesen Zusammenhang gehören auch die Vorschläge von Macron; wir denken das zusammen. Andererseits finde ich es ganz schön mutig – muss ich sagen –, dass uns ausgerechnet die FDP diesen Vorschlag vorlegt. Sie, Kollege Toncar, haben gesagt – das können Sie nicht ganz ernst gemeint haben –: Wenn wir das so beschließen, dann würden wir das der Bundesregierung mit auf den Weg geben. – Wenn Sie als FDP solche Anträge einbringen wollten, die wir hier mehrheitlich beschließen sollen, dann hätten Sie vor dreieinhalb Wochen nicht die Sondierungsgespräche verlassen dürfen. Insofern ist das eine Shownummer. ({2}) Es gibt aber – das wissen wir alle – in der FDP eine große Bandbreite an Meinungen zu dem Thema Europa; darauf möchte ich an dieser Stelle auch hinweisen. Ich verweise nur auf den „Spiegel“ vom 6. Oktober. Dort wurden Ihre ehemaligen Europaabgeordneten, Graf Lambsdorff, der heute und gestern schon mehrfach geredet hat, und der Kollege Theurer, zitiert, die sich sehr deutlich von den europakritischen Aussagen in Ihrem FDP-Wahlprogramm distanziert haben. Anders verhält es sich mit dem Kollegen Frank ­Schäffler, der den Kollegen aus der 17. Wahlperiode noch sehr gut in Erinnerung ist, weil er ja zum Thema Fiskalpakt – darum geht es ja im Kern in diesem Antrag – eine Rede gehalten hat, die sich inhaltlich deutlich von denen aller anderen FDP-Abgeordneten unterschieden hat. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass sich ausgerechnet der Kollege Frank Schäffler, der wieder Ihrer Fraktion angehört, gemeinsam mit dem Kollegen Klaus-Peter Willsch von der Union, der sich zum Fiskalpakt auch immer ähnlich kritisch und ablehnend und nicht so wie seine Fraktion geäußert hat – Klaus-Peter winkt da hinten –, erst vor wenigen Tagen in der „FAZ“ entsprechend geäußert hat. Ich jedenfalls kann mir nicht vorstellen, dass sich die Mehrheit dieses Parlamentes in dieser Weise sowohl zu den Macron- als auch zu den Kommissionsvorschlägen verhalten wird. Denn wie das hier schon dargestellt worden ist: Das würde de facto auf einen antieuropäischen Kurs hinauslaufen. ({3}) – Ja, da müssen Sie in der FDP noch einiges untereinander klären. ({4}) Bei dieser Diskussion wird auch gerne über einen europäischen Finanzminister und Ähnliches geredet. Dazu muss man ganz deutlich sagen: Man darf das Pferd nicht von hinten aufzäumen. Es muss erst einmal darum gehen: Was sind eigentlich die Ziele? Was kann Europa im Moment noch nicht, was es in Zukunft können soll? Wie müssen wir es ertüchtigen, um Europa letzten Endes sicherer und zukunftsfester für die Menschen zu machen? Danach reden wir über die Instrumente und über alles andere. Damit knüpfen wir genau an das an, was wir schon im Zusammenhang mit dem Fiskalpakt diskutiert haben; das ist im Übrigen schon über fünf Jahre her. Ich habe noch einmal in die Protokolle reingeschaut, kann das jetzt aber nicht mehr ausführen. Ich möchte Sie jedoch ermutigen, das auch zu tun. Denn es war Wolfgang Schäuble, der damals gesagt hat: Aus der Euro-Politik gemeinsam eine Wirtschafts- und Finanzpolitik zu entwickeln, muss der nächste Schritt sein. – Wir Sozialdemokraten haben gesagt: Die Steuerpolitik und die Finanztransaktionsteuer gehören zwingend dazu. – Nur deshalb haben wir und die Grünen damals dem Fiskalpakt zugestimmt. Das ist das Versprechen, das auch Macron jetzt einlösen muss. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Bettina Hagedorn. – Letzter Redner in der Debatte: Alois Karl von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Vor 50 Jahren ist in Kapstadt das erste Herz verpflanzt worden. Professor Barnard hat es einem Gemüsehändler eingepflanzt. Der hat noch 18 Tage gelebt, dann ist er gestorben. Europa, meint man geradezu, braucht auch ein neues Herz, sprich: eine Verbesserung der jetzigen Situation. Eine Herzensangelegenheit müsste uns Europa wieder werden, so habe ich mir beim Durchlesen Ihres Antrages gedacht, lieber Herr Toncar und liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, in dem Sie die Vorstellungen von Jean-Claude Juncker zerlegt haben und in außerordentlich kritischer Weise auf Junckers sogenanntes Nikolaus-Paket eingegangen sind. Ihm ging ja schon ein Bericht zur Lage Europas voraus. Auch der Bericht der fünf Präsidenten geht in diese Richtung. Es geht – das haben wir in der Diskussion schon gehört – um eine Machtverschiebung weg von den Nationalstaaten hin zu den europäischen Institutionen. Das sehen wir natürlich mit großer Skepsis. Ähnlich wie Sie, lieber Herr Toncar, meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP, sehen wir es kritisch, wenn gemeinschaftlich finanziert werden soll, die Schulden in Europa gemeinschaftlich getragen werden sollen. Euro-Bonds lehnen wir selbstverständlich ab. Kein Land in Europa soll für die Schulden der anderen aufkommen. Dennoch bemängele ich, dass mit den Vorstellungen von Juncker in der Weise umgegangen wird, dass geradezu alles abgelehnt wird mit der Ausnahme, dass man die Europäische Investitionsbank stärken möchte. Dass dort ein Kollege von Ihnen, der ehemalige FDP-Bundestagsabgeordnete Werner Hoyer, Präsident ist, mag ja Zufall sein, aber dennoch fällt es auf. Ich meine, dass das dem Anliegen von Juncker und der Europäischen Kommission nicht gerecht wird. Meine Damen und Herren, es geht darum, Europa in der Welt stark zu machen bzw. dafür zu sorgen, dass es stark bleibt. Sie wissen, dass wir – der Kollege Brinkhaus hat darüber gesprochen – diese unglaubliche Erfolgsgeschichte vor jetzt 60 Jahren mit den Römischen Verträgen begründet haben. Es waren damals sechs Länder, nämlich Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten. Heute sind es 28 Länder. Damals waren es 170 Millionen Menschen, heute sind es 512 Millionen. Die relativ wenigen Menschen haben damals etwa 14 Prozent der Weltbevölkerung repräsentiert; die vielen Menschen heute repräsentieren 7 Prozent der Weltbevölkerung. Das bedeutet, dass der relative Einfluss, die Wichtigkeit Europas abgenommen hat, und zwar dramatisch. Wenn wir es nicht schaffen, Europa wieder als eine Herzensangelegenheit für uns zu betrachten und entsprechende Maßnahmen zu implementieren, dann werden wir, glaube ich, noch manches Wunder erleben. Dazu gehört auch, dass Europa wieder für Berechenbarkeit stehen muss. Konservative Tugenden wie Verlässlichkeit, Stabilität, Berechenbarkeit müssen wir in der Tat auch von Deutschland aus wieder zum Durchbruch verhelfen. Dazu gehört auch, dass der Zustand, ohne Regierung zu sein, nicht lange tragbar ist. ({0}) Das ist, glaube ich, auch eine Aufgabe, die wir heute sehen müssen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, vor wenigen Jahren hat der damalige Bundespräsident Roman Herzog davon gesprochen, dass ein Ruck durch Deutschland gehen müsse. Ich meine, dass auch ein Ruck durch Europa gehen muss, mit dem wir diese Faszination Europa wieder mit neuem Leben erfüllen. Lieber Herr Kollege ­Toncar, Sie haben das hier eloquent ausgeführt. Ihr Antrag ist aber kein besonderes Herzstimulans für Europa, ({1}) und die Vorschläge von Jean-Claude Juncker sind auch kein Herzinfarkt für Europa. Wir werden uns in den Diskussionen in den nächsten Wochen und Monaten damit befassen müssen, auf welchem Weg wir Europa wieder beseelen können, damit es ein Herzensanliegen für uns alle wird. Vielen herzlichen Dank. ({2})

Bernd Riexinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004865, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe als Gewerkschafter sehr viele Menschen kennengelernt, die jeden Tag zur Arbeit gehen und trotzdem von ihrem Lohn nicht leben können. Deshalb weiß ich, wie es der alleinerziehenden Verkäuferin geht, die ihre Miete in Stuttgart nicht bezahlen kann, oder dem Paketboten, der bei einem Subunternehmer für die DHL beschäftigt ist und mit seiner Familie nicht einmal im Jahr in den Urlaub fahren kann. Das ist unwürdig für eine reiche Gesellschaft. ({0}) Deshalb gilt für uns der Grundsatz: Jeder Mensch in diesem Land muss von seiner Arbeit anständig leben können. ({1}) Das ist mit 8,84 Euro pro Stunde nicht möglich. Der gesetzliche Mindestlohn ist viel zu niedrig und auch im internationalen Vergleich nicht spitze. Irland hat einen gesetzlichen Mindestlohn pro Stunde von 9,25 Euro, die Niederlande von 9,52 Euro, Frankreich von 9,76 Euro und Luxemburg von 11,27 Euro. Ich würde mir wünschen, dass wir einmal nicht nur bei den Exportüberschüssen an der Spitze in Europa stünden, sondern bei den Löhnen und bei den gesetzlichen Mindestlöhnen. ({2}) Bei unserem ohnehin schon zu niedrigen Mindestlohn ist es völlig unfassbar, dass 1,8 Millionen Beschäftigte in Deutschland den gesetzlichen Mindestlohn trotz eines klaren gesetzlichen Anspruchs nicht bekommen. In welchem anderen Bereich würde man derart viele Gesetzesverstöße einfach so hinnehmen? Es kann doch nicht sein, dass jeder oder jede Beschäftigte erst vor Gericht gehen müssen, um zu ihrem Recht zu kommen. ({3}) Es wird höchste Zeit, dem Gesetz durch wirkungsvolle Kontrolle und Ahndung Geltung zu verschaffen und dafür zu sorgen, dass die Beschäftigten zu ihrem Recht kommen. ({4}) Deutschland hat einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa. Der jetzige gesetzliche Mindestlohn bewahrt nicht vor Armut, selbst wenn er regulär ausgezahlt würde. Vor Altersarmut schützt der derzeitige Mindestlohn erst recht nicht. Wenn Beschäftigte nach 45 Beitragsjahren eine Rente oberhalb des Niveaus der Grundsicherung erhalten wollen, müssten sie mindestens 11,85 Euro pro Stunde verdienen. Wer es beim jetzigen Mindestlohn belässt, nimmt Altersarmut bewusst in Kauf, selbst bei Menschen, die ihr Leben lang in Erwerbsarbeit sind. Das ist eine Schande für ein reiches Land. ({5}) Um das zu verhindern, brauchen wir 12 Euro gesetzlichen Mindestlohn. ({6}) Es gibt aus unserer Sicht keine tragfähigen Argumente dagegen. Nein, die Wirtschaft wird bei einem Mindestlohn von 12 Euro die Stunde nicht zusammenbrechen, genauso wenig, wie sie es bei Einführung des Mindestlohns getan hat. Nein, ein Mindestlohn von 12 Euro wird keine Arbeitsplätze gefährden. Ganz im Gegenteil wird ein gesetzlicher Mindestlohn von 12 Euro die Binnennachfrage stärken und in diesem Land sogar Beschäftigung schaffen. ({7}) Das hat sogar Olaf Scholz verstanden. Er schloss sich unserer Forderung nach einem Mindestlohn von 12 Euro kurz nach der Bundestagswahl medienwirksam an. Ich hoffe, dass Olaf Scholz nicht zu früh nur den Einstieg in die Opposition gewagt hat und jetzt zurückrudern muss. ({8}) Werte Kolleginnen und Kollegen von der Union und der FDP, Sie reden doch immer so viel von den Leistungsträgern in dieser Gesellschaft. Für uns sind die Alten- und Krankenpflegerinnen, die Verkäuferinnen, die vielen Beschäftigten in den Reinigungsdiensten, die Paketboten, die Beschäftigten bei den Bodenverkehrsdiensten an den Flughäfen oder bei Amazon Leistungsträger in dieser Gesellschaft. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Trotzdem muss ich Sie jetzt an Ihre Redezeit erinnern.

Bernd Riexinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004865, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Leistungsträger sind nicht diejenigen, die leistungslos Millionen oder Milliarden an Dividende kassieren. – Unsere Leistungsträger haben das Recht, einen Lohn zu bekommen, von dem sie leben können, und sie haben den Anspruch, im Alter nicht in die Armut zu fallen. Danke schön. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Riexinger. – Dr. Matthias Zimmer ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der Linken ist bereits bekannt, inhaltlich und sprachlich. Das Einzige, was sich heute geändert hat, war der Redner, der zum ersten Mal im Deutschen Bundestag dazu gesprochen hat. ({0}) Herzlichen Glückwunsch dazu! Aber man möchte sich doch wünschen, lieber Herr Riexinger, dass man Ihnen beim nächsten Mal ein bisschen mehr mitgibt als das politische Recyclingmaterial, mit dem Sie hier angetreten sind. Wenn das, meine Damen und Herren, die Oppositionsarbeit der Linken im 19. Deutschen Bundestag sein soll, dann freue ich mich persönlich auf die intellektuelle Bereicherung durch die Oppositionsarbeit der FDP. ({1}) Meine Damen und Herren, wir hatten gute Gründe, den Mindestlohn nicht vom Staat festlegen zu lassen, sondern von einer Mindestlohnkommission. Sie ist paritätisch mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern besetzt, handelt den Mindestlohn gewissermaßen aus und legt das Ergebnis dann dem Ministerium vor, das es dann umsetzt. Der Mindestlohn folgt bestimmten Kriterien, die wir festgelegt haben, und es gibt eine Berichtspflicht dazu. Wir haben gute Gründe gehabt, zu sagen, dass der Staat nicht den Mindestlohn festlegen soll. Dazu zählen folgende drei Gründe: Erstens. Ich bin der festen Überzeugung: Wenn der Staat den Mindestlohn festlegte, dann würde der Mindestlohn politisiert. In den daraus folgenden Überbietungswettbewerben vor Wahlen können wir sicherlich nicht mithalten, zumindest dann nicht, wenn wir als politische Kraft den Anspruch haben, politische Verantwortung zu übernehmen, und es soll ja noch Fraktionen in diesem Haus geben, die das durchaus wollen. ({2}) Wir würden den Mindestlohn vollkommen von allen wirtschaftlichen Prozessen abkoppeln. Das halte ich für schädlich. ({3}) Zweiter Punkt. Ein Mindestlohn von 12 Euro verdrängt andere niedrige Tarifabschlüsse. Das müssten wir dann auch ändern. Und wenn wir schon dabei sind, dann legen wir doch gleich alle Löhne staatlich fest. ({4}) Dann brauchen wir keine Gewerkschaften, lieber Kollege Birkwald, und da Löhne und Preise zusammenhängen, legen wir auch die Preise fest. ({5}) Das letzte Regime, das dies probiert hat, ist krachend gescheitert. ({6}) Man muss ja nichts aus der Geschichte lernen, aber kann zumindest einmal in Erinnerung rufen, dass es so etwas gegeben hat. Wir wollen, dass die Tarifpartner die Mindestlöhne aushandeln. Das ist eine subsidiäre Struktur. Subsidiarität schützt die Freiheit. Wir wollen eine freiheitliche Wirtschaftsordnung, keine reglementierte. ({7}) Meine Damen und Herren, im Antrag der Linken heißt es, der Mindestlohn von 8,84 Euro schütze nicht vor Armut. Das ist richtig. Der Mindestlohn ist eben keine sozialpolitische Maßnahme, sondern eine ordnungspolitische. Er soll Ordnung in den Wettbewerb bringen und verhindern, dass der Wettbewerb über Lohndrückerei erfolgt. Mindestlohn ist nicht der gerechte Lohn, von dem Adam Smith ebenso gesprochen hat wie die katholische Soziallehre. Mit einem gerechten Lohn würde sich die Politik vermutlich überheben. Bleiben wir bei dem, was wir sinnvollerweise regeln können, nämlich einem ordnungspolitisch richtigen Lohn! ({8}) – Das ist keine Politik der Ungerechtigkeit, sondern Ordnung auf den Markt zu bringen, ist die Voraussetzung für Gerechtigkeit. Dass Sie das nicht verstehen, ist mir schon klar. ({9}) Meine Damen und Herren, der Mindestlohn, wie wir ihn festgelegt haben, ist weitgehend ein Erfolgsmodell, auch wenn wir jetzt hören, dass an der einen oder anderen Stelle Menschen den Mindestlohn nicht ausbezahlt bekommen. ({10}) Deswegen glaube ich, dass die Diskussionen, den Mindestlohn nicht zu kontrollieren, nicht weiterführen. Wir brauchen auch im Zusammenhang mit dem Mindestlohn vernünftige Kontrollen der Arbeitszeit. Ich will nicht in eine Situation hineinkommen, in der dann argumentiert wird: Lieber keinen als einen schlecht kontrollierten Mindestlohn. Wir sind es den Menschen, die den Mindestlohn bekommen, schuldig, dass wir vernünftig Kontrollen vornehmen. Wir sind es den Menschen aber auch schuldig, dass wir mit dem Mindestlohn keine Experimente machen, wie es der Antrag der Linken vorsieht. Deswegen lehnen wir von der Union diesen Antrag heute ab. Vielen Dank. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Matthias Zimmer. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, es scheppert hier im Saal, wohl auf der rechten Seite, von uns aus gesehen. Das hat nichts mit Ihnen zu tun, sondern mit der Anlage. Wir versuchen, das zu ändern. Wenn es heute nicht möglich ist: Geben Sie bitte den Technikern Zeit. Sie werden das dann in den nächsten Tagen beheben. Es war heute schon den ganzen Tag ein Problem: Einmal war es zu laut, einmal war es zu leise, einmal hat es gescheppert. Heute Abend scheppert es also noch ein bissel in der Bude. Ich verspreche: Es wird im nächsten Jahr alles ganz anders, was den Sound angeht. Jetzt hat das Wort Bernd Rützel für die SPD-Fraktion. ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ja, viele fordern derzeit einen höheren Mindestlohn, nicht nur Olaf Scholz, nicht nur, viel früher, Papst Leo XIII. ({0}) – Matthias, ich habe erwartet, dass du das weißt. – Ich unterstütze das auch. ({1}) Auch ich finde, dass der Mindestlohn höher werden darf, höher werden muss. Wer soll denn etwas dagegen haben? Ich sage aber auch: Wir machen das nicht per Gesetz. Wir sollten das denen überlassen, die dafür zuständig sind. Der Mindestlohn war und ist die Sozialreform, die wir in der letzten Legislatur auf den Weg gebracht haben. ({2}) Er hilft und schützt 4 Millionen Menschen, die dadurch eine sehr große Lohnerhöhung erhalten haben und erstmals in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gekommen sind. Der Mindestlohn ist aber nach wie vor kein guter Lohn. Er ist eine Untergrenze gegen Lohndumping, eine Untergrenze gegen schlechte Bezahlung und Ausbeutung, eine Untergrenze für Wettbewerbsfähigkeit. Es ist gut, dass wir den Mindestlohn auf den Weg gebracht haben. Ich bin froh, dass Jamaika nicht zustande gekommen ist. ({3}) Denn Sie wollten – das kann man nachlesen – den Mindestlohn schleifen. ({4}) Ich erwarte jetzt Widersprüche und Zwischenrufe; Matthias Zimmer, dir glaube ich, wenn du sagst, dass der Mindestlohn kontrolliert werden muss. Die Argumente dagegen werden unter dem Deckmäntelchen vorgebracht, dass die „schlimme“ Bürokratie abgebaut werden muss. Das geht man elegant an. Ich sage: Die Aufzeichnung von Arbeitszeit und die entsprechenden Kontrollen stellen keine bürokratischen Monster oder Zumutungen dar. ({5}) Der Mindestlohn kann nur wirken, wenn man ihn kontrolliert. Ich danke meinem Vorredner für dieses Argument. Alle hier sind sich im Klaren darüber, dass das Mindestlohngesetz ein klarer Eingriff in die Tarifautonomie gewesen ist. Zehn Jahre vorher war das nicht vorstellbar. Die Zeit war nun aber reif. Die Zeit war gekommen, und wir haben den Mindestlohn auf den Weg gebracht. Nun ist die Mindestlohnkommission zuständig. Die Aufgabe der Lohnfindung liegt wieder dort, wo sie hingehört, nämlich bei den Tarifpartnern. Da ist sie am besten aufgehoben, da gehört sie hin. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Lieber Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. – Abschließend will ich sagen: Wenn wir uns weiter auf den Weg machen, die Tarifbindung zu stärken, wenn wir uns weiter auf den Weg zur Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen machen, wenn wir die Tarifautonomie schützen, wenn wir einen Pakt für gute Löhne unterstützen, wenn wir dafür sorgen, dass Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, mehr Rente bekommen, als sie an Sozialhilfe erhalten würden, wenn wir Leiharbeit und Werkverträge noch stärker zügeln, wenn wir die Arbeit auf Abruf – das ist eine schlimme Sache – eindämmen, dann wird durch diese flankierenden Maßnahmen auch der Mindestlohn steigen. Dann sind wir auf einem guten Weg. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Jutta Krellmann. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich will es ganz kurz machen: Herr Rützel, Ihnen ist klar, dass es gerade in den untersten Gehaltsgruppen nur wenige Tarifverträge gab. Sie haben gar keine Tarifverträge kaputtgemacht, da gab es ganz einfach keine. Im Grunde hat man mit dem Mindestlohn die untere Haltelinie eingezogen. Das hat man auch beim Bundesurlaubsgesetz und bei anderen Gesetzen gemacht: Man hat unterste Haltelinien eingezogen. Das ist Ordnungspolitik. So, wie das Mindestlohngesetz konstruiert ist, wird sich der Abstand niemals verkleinern. Der Mindestlohn wird immer hinterherlaufen. Wenn man einen wirklichen Schritt nach vorne machen will, muss man den Mindestlohn einmal auf ein für alle akzeptables Niveau anheben. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Rützel.

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kollegin Krellmann, nach der Einführung des Mindestlohns wurden Tarifverträge in Branchen abgeschlossen, bei denen wir nicht damit gerechnet haben, dass dort Tarifverträge abgeschlossen würden. Der Mindestlohn war also auch ein Instrument zur Tarifstärkung. Ich verstehe Ihren Einwurf gar nicht. Natürlich haben wir den Mindestlohn auf den Weg gebracht, weil es in diesen Bereichen keine Arbeitnehmervertretungen, keine Gewerkschaften, mehr gab und auch die Arbeitgeber nicht mehr präsent waren. Es gab immer mehr weiße Flecken. Zehn Jahre vorher wäre das undenkbar gewesen. Der Mindestlohn war notwendig geworden. Die Schweden brauchen keinen Mindestlohn, weil es dort flächendeckend Tarifverträge gibt. Dort, wo es Tarifverträge gibt, geht es den Menschen besser als dort, wo es keine Tarifverträge gibt. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Das Wort zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag hat der Kollege Jürgen Pohl für die AfD-Fraktion. ({0})

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei dem Antrag der Fraktion der Linken handelt es sich um eine Attacke aus der Abteilung Agitation und Propaganda. ({0}) Der Antrag wird immer und immer wieder gestellt, heute in abgespeckter Form. Hatte man vor sechs Monaten noch die komplexe Sanierung des Mindestlohns im Auge, so spricht man heute nicht einmal mehr von einem armutsfesten Mindestlohn. Man fragt sich: Was will die Linke mit ihrem Antrag erreichen? Ich kann es sagen: Sie will auf plumpe und einfache Art an der Erhöhungsschraube drehen. Meine Damen und Herren, die beantragte Erhöhung wird die Probleme des deutschen Arbeitnehmers nicht lösen. ({1}) Der Mindestlohn ist nur ein Symptom der Krise des Sozialstaates und seiner verfehlten Wirtschaftspolitik. Ursächlich dafür, dass wir heute an diesen Mindestlöhnen in unserem Land herumdoktern müssen, ist das Handeln der unsozialen Sozialdemokraten und der Grünen unter Kanzler Schröder. ({2}) – Lassen Sie mich doch mal reden, unterhalten wir uns später. – Die brutale Deregulierung des Arbeitsmarktes und die Hartz‑IV-Gesetze haben zu einem dramatischen Anstieg der atypischen und prekären Beschäftigungsverhältnisse geführt, ({3}) zu einer massiven Ausweitung der Leiharbeit, meistens zu Hungerlöhnen, zu einer massiven Ausweitung von Teilzeit-, Mini- und befristeten Jobs, im Endeffekt zur Senkung der Realeinkommen. Darin liegt der Kern des Problems: Die soziale Sicherheit und die Gerechtigkeit sind in Deutschland verloren gegangen. ({4}) Meine Damen und Herren, das Ergebnis der Gesamtbetrachtung ist überraschend. Die Linke – von Blassrot bis Dunkelrot – ist nicht mehr nur wirtschaftsfeindlich, wie traditionell gegeben. Nein, zunehmend werden diese Anträge dazu führen, dass sie auch als arbeitnehmerfeindlich bezeichnet werden muss. Das ist das Problem. ({5}) In diesem schmalbrüstigen Antrag steht auch die Armutsrente drin. Wir sind uns einig, dass es diese Armutsrente gibt. Wir werden uns auch einig sein, dass sich der Bezug einer solchen Armutsrente drastisch ausweiten wird. Aber ich sage Ihnen auch: Mit einer einfachen Erhöhung des Mindestlohns werden Sie die Armutsrente nicht verhindern können. Durch alle atypischen und prekären Beschäftigungsverhältnisse wird diese „Armutsrentenminderung“ konterkariert werden. Schauen wir in den Fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Es wird nachgewiesen: Der Mindestlohn hat nicht zu einer Entlastung der Armen geführt; das können Sie nachlesen. ({6}) Die Anzahl der Aufstocker hat sich nicht nennenswert reduziert. Immer noch müssen 1,2 Millionen Menschen ihr Einkommen mit Hartz IV aufstocken, die Hälfte davon, weil sie nur über Minijobs verfügt. Genau das ist der Punkt, an dem die AfD als neue Volkspartei, die sich um die kleinen Leute und um den normalen Arbeitnehmer kümmert, ansetzen will. ({7}) – Lachen Sie nur. Ihre Wähler schauen zu. Lachen Sie! ({8}) Wir als AfD werden alles tun, um diese atypischen und prekären Beschäftigungsverhältnisse wieder einzudämmen. Man soll in unserem Land erstens von seiner Arbeit wieder leben können, zweitens eine Familie gründen können und drittens diese Familie auch finanzieren können; das sage ich Ihnen. ({9}) Es ist eine Schande, dass es in unserem Land, das gern als eines der reichsten Länder der Welt gepriesen wird, immer schwerer wird, eine Familie zu gründen und sie zu finanzieren. Auch wenn wir den Vorstoß der Linken begrüßen, das Thema Niedriglöhne auf die Agenda zu setzen, so wundern wir uns doch über die Plattheit des Antrags, die Probleme einfach durch das Drehen an der Erhöhungsschraube lösen zu wollen. Wir müssen viel tiefer ansetzen, meine Damen und Herren. Das Ziel der AfD ist es, mit einer soliden Wirtschafts- und Sozialpolitik die Mindestlöhne letztendlich überflüssig werden zu lassen. Das ist unser Ziel! ({10}) Ich sage Ihnen eines: Bis dahin ist es ein weiter Weg. ({11}) Die politisch Verantwortlichen müssen lernen, nicht mehr betriebswirtschaftlich an die Sache heranzugehen, sondern volkswirtschaftlich. Deshalb sperren wir uns nicht, als notgedrungene Zwischenlösung über eine sinnvolle Höhe des Mindestlohnes zu sprechen. In erster Linie sollten wir aber über die Eindämmung der atypischen und prekären Beschäftigungsverhältnisse sprechen. Wir werden insoweit zustimmen, den Antrag an die Ausschüsse zu überweisen. Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen und Ihren Familien ein frohes Weihnachtsfest. Danke schön. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Pohl. – Der nächste Redner: Johannes Vogel für die FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da ich vier Jahre keine sozialpolitische Debatte hier im Deutschen Bundestag verfolgen durfte, habe ich mich gefragt, was sich geändert hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken – vieles klang vertraut. Was mir allerdings aufgefallen ist, ist, dass Sie nicht mehr die Einzigen sind, die, wie ich finde, auf grob vereinfachende Art und Weise gegen die angeblichen sozialen Kahlschläge durch die Agenda 2010 zu Felde ziehen, sondern Gesellschaft von der AfD bekommen haben. ({0}) Das zeigt leider erneut, wie nah sich die politischen Extreme doch oft kommen, ({1}) und es zeigt nach meiner Überzeugung auch, wie notwendig es ist, dass wir uns aus der Mitte des Parlaments heraus um die Zukunftsfragen kümmern. ({2}) Zum Antrag konkret. Wie dem Kollegen Zimmer ist auch mir aufgefallen, dass der Antrag nicht nur von der Textform her – ich habe ja verfolgt, was in den letzten Jahren hier passiert ist –, sondern auch in Bezug auf das konkrete Anliegen zu kurz springt. Damit wird nämlich die Chance verpasst, die wir aktuell haben, da es noch keine klaren Mehrheiten, keine Regierung und auch keine Opposition gibt – es könnte auch wechselnde Mehrheiten im Parlament geben –, sich mit Zukunftsherausforderungen zu beschäftigen, bei denen wir in diesem Parlament mehrheitsfähig sind. Stattdessen legen Sie den – man könnte sagen – 185. Antrag zur Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns vor. Warum ist das nicht überzeugend? Ich will für die Freien Demokraten sagen: Ja, der Mindestlohn war in der letzten Legislaturperiode das zentrale sozialpolitische Gesetzgebungsvorhaben. Sie wissen, dass wir der Meinung waren und sind, dass es vielleicht klüger und passender zum deutschen Lohnfindungssystem gewesen wäre, branchendifferenzierte Lohnuntergrenzen einzuführen. Ich will aber genauso klar für die erneuerte FDP sagen, ({3}) dass wir diese demokratische Entscheidung akzeptieren. Damit ist ein wesentlicher Streitpunkt in der Sozialpolitik in Deutschland ein für alle Mal entschieden worden; das ist ein Wert. Deshalb sollten wir an dieser Grundsatzfrage nicht mehr rühren. Das will ich ganz klar sagen. ({4}) Es ist aber schon nötig, Details zu verbessern. Man kann nicht ernsthaft die Behauptung aufstellen, irgendjemand hätte in den Jamaika-Verhandlungen den Mindestlohn an sich infrage stellen wollen. Das ist schlicht unwahr. Man muss sehr selten mit vielen ehrbaren Unternehmern in diesem Land gesprochen haben, wenn man ernsthaft der Meinung ist, dass sich bei der Bürokratie in Bezug auf die Mindestlohnkontrolle nichts verbessern lässt, ohne den Mindestlohn selbst infrage zu stellen. Ich kenne viele Unternehmer, die mir beweisen, dass das notwendig ist. ({5}) Was aber auf gar keinen Fall passieren darf, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ist, dass wir hier eine Politisierung der Lohnfindung bekommen. Das können Sie nicht ernsthaft wollen. Das Wesen des Mindestlohns, wie er von der Großen Koalition in der letzten Legislaturperiode geregelt worden ist, ist doch, dass die Höhe, definiert über die Anpassung, in der Hand der Tarifpartner in der Mindestlohnkommission verbleibt. ({6}) Das ist auch gut so, und das darf sich nicht ändern. ({7}) Erstens, weil es schon grundsätzlich richtig ist, dass wir hier in keinen politischen Überbietungswettbewerb bei den Lohnhöhen kommen, wenn die Festlegung so erfolgt, wie es in Deutschland erfolgreich gehandhabt wird, nämlich durch Arbeitgeber und Gewerkschaften, ({8}) und zweitens, weil sonst irgendwann Arbeitsplätze gefährdet wären. Herr Riexinger, Sie haben hier vorgetragen, wenn der Mindestlohn hochgehe, wären Arbeitsplätze nicht gefährdet, das helfe sogar. Warum fordern Sie nicht gleich eine Erhöhung auf 20 oder 25 Euro, wenn das eine so wundersame Brotvermehrung gäbe? ({9}) Das kann man doch nicht ernsthaft wollen. ({10}) Wichtig ist doch, dass die Höhe des Mindestlohns einerseits die Arbeitnehmer schützt und andererseits dafür sorgt, dass die Beschäftigung nicht gefährdet wird, und das muss so bleiben. Nach unserer Überzeugung wäre es sinnvoller, wenn wir uns über Aufstiegschancen Gedanken machten und zum Beispiel in die Weiterbildung von Beschäftigten investierten, weil wir natürlich nicht wollen, dass jemand sein Leben lang den Mindestlohn bekommt. Eine Politisierung der Lohnfindung darf es aber nicht geben. Das würde nur dazu führen, dass neue Mauern auf dem Arbeitsmarkt entstehen. Das wollen wir nicht. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Johannes Vogel. – Nächste Rednerin: Beate Müller-Gemmeke für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Mindestlohn ist eine wichtige Errungenschaft, und es wurde sehr lange dafür gekämpft. Er ist wichtig. Jegliche Arbeit hat ihren Wert, und Arbeit muss deshalb fair entlohnt werden. Ich denke, fast alle hier wissen, dass der Mindestlohn auf niedrigem Niveau gestartet ist. Auch wir Grünen meinen, dass der Mindestlohn steigen muss. 8,84 Euro sind zu wenig. ({0}) Wir Grünen gehen aber einen anderen Weg. Die Einführung des Mindestlohns war Aufgabe der Politik; die Erhöhung des Mindestlohns ist Sache der Sozialpartner und der Wissenschaft. Wir wollen eben keinen Überbietungswettbewerb und vor allem keine Blockade beim Mindestlohn bei entsprechenden Mehrheiten. Deshalb stehen wir Grünen ohne Wenn und Aber zur Mindestlohnkommission. Die Höhe des Mindestlohns darf nicht zum Spielball der Politik werden. ({1}) Aber – nochmals ein Aber – wir üben auch Kritik an der Mindestlohnkommission; das ist bekannt. Die Kommission hat die Erhöhung des Mindestlohns an die Tarif­entwicklung gekoppelt. Das ist einfach zu wenig, vor allem ist es zu starr. Deshalb fordern wir von Anfang an ein Stimmrecht für die Wissenschaft. Wir wollen eine Kommission, die wissenschaftlich basiert arbeiten kann, und zwar ohne politische Einflussnahme. Der Mindestlohn kann und muss erhöht werden, und zwar wissenschaftlich begründet. Gründe dafür gibt es genug. ({2}) Kurz zur Argumentation. Ja, mit Mindestlohn droht Altersarmut. Aber Menschen haben auch Brüche in ihrer Erwerbsbiografie, arbeiten in Teilzeit oder in Minijobs. Deshalb hilft gegen Altersarmut nur eine Garantierente. ({3}) Auch die hohen Mieten sind ein Problem. Wir brauchen in erster Linie ausreichend bezahlbaren Wohnraum. Notwendig ist also eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit und vor allem eine Mietpreisbremse, die ihren Namen tatsächlich verdient. ({4}) Der Mindestlohn kann also nur ein Baustein notwendiger sozialpolitischer Maßnahmen sein. Er ist aber wichtig, und er muss steigen; das ist eine Frage der Gerechtigkeit. ({5}) Jetzt komme ich zu den Aspekten, die leider im Antrag fehlen, obwohl sie hochaktuell sind. Erstens. Es gibt immer noch eine Ausnahme für Langzeitarbeitslose, und die FDP möchte die Ausnahme sogar auf Flüchtlinge ausweiten. Der Mindestlohn ist aber per Definition der niedrigste gesetzlich zulässige Lohn. Er muss für alle gelten; denn Würde kennt keine Ausnahme. ({6}) Zweitens. Nur mit Dokumentationspflichten ist der Mindestlohn tatsächlich zu kontrollieren. Die FDP und auch die Union wollen diese Pflichten lockern. Sie nennen das Bürokratieabbau. ({7}) Aber das ist einfach Quatsch; sorry, Herr Vogel. Die Dokumentation von Anfang, Ende und Dauer der Arbeitszeit ist wahrlich kein großer Aufwand. ({8}) In den Sondierungen haben wir diese Lockerung bis zum Schluss verhindert. Jetzt sind eben Sie von der SPD dran, hier klare Kante zu zeigen. ({9}) – Gut. Drittens. Laut DIW bekommen – ganz aktuell – 1,8 Millionen Beschäftigte keinen Mindestlohn. Notwendig sind mehr Kontrollen. Der Finanzkontrolle Schwarzarbeit fehlen dafür immer noch die versprochenen Stellen. 1 600 neue Stellen sollten es werden. Dieses Versprechen muss endlich eingelöst werden; denn ein Mindestlohn nur auf dem Papier ist nicht akzeptabel. ({10}) Bei dem hier vorliegenden Antrag bleiben diese wichtigen Aspekte außen vor. Das kann ich einfach nicht nachvollziehen. Gerade jetzt, in der Zeit der politischen Regierungsbildung, müssen doch die politischen Themen stark gemacht werden, die Aussicht auf Erfolg haben. Von daher kann ich nur sagen: Diese Chance haben Sie leider verpasst. Vielen Dank. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Beate Müller-Gemmeke. Nächster Redner: Wilfried Oellers für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren auf den Besucherrängen! Mit dem Antrag der Fraktion Die Linke, den Mindestlohn auf 12 Euro zu erhöhen, haben wir hier keinen neuen Antrag vorliegen – vielleicht in dieser Legislaturperiode, aber ansonsten ist der Antrag bekannt. Grundsätzlich war es hier in Deutschland immer gute Praxis, dass die Lohnfindung Aufgabe der Tarifpartner ist bzw. der Parteien, die im Arbeitsvertrag stehen. ({0}) Das hat sich in der Vergangenheit bewährt, wie unsere wirtschaftliche Situation zeigt, und daran sollten wir auch festhalten. Mit dem Mindestlohngesetz hat der Gesetzgeber in der letzten Legislaturperiode erstmals eine Ausnahme von diesem Grundsatz gemacht. Dabei sollte es aber bleiben. Die Intention damals war, zu sagen: Wir setzen den Mindestlohn auf eine Untergrenze von 8,50 Euro fest. ({1}) Danach sollte aber – so war die Vereinbarung – der Gesetzgeber nicht mehr tätig werden, um eine Politisierung des Mindestlohns zu verhindern. Die Anpassung sollte in der Verantwortung der Mindestlohnkommission liegen, weil diese paritätisch mit den Tarifpartnern besetzt ist. Diese Verankerung ist auch richtig, meine sehr verehrten Damen und Herren. Bei der Lohnanpassung, die alle zwei Jahre stattfindet, hat die Mindestlohnkommission genaue Maßstäbe anzulegen. Sie hat die gesamte Situation und alle Einflüsse auf die Lohnfindung vollumfänglich zu berücksichtigen. Sie hat also die gesamtwirtschaftliche Situation unseres Landes zu berücksichtigen. ({2}) Die Mindestlohnkommission ist im Jahre 2016 schon tätig geworden – indem sie den Mindestlohn auf 8,84 Euro erhöht hat –, und sie wird sich im kommenden Sommer wieder turnusmäßig mit der Höhe des Mindestlohns beschäftigen. Was Sie mit Ihrem Antrag wollen, ist, die Grundregeln des Mindestlohngesetzes außer Kraft zu setzen. ({3}) Sie wollen nämlich, dass die Lohnfindung nicht mehr bei den Tarifpartnern liegt; Sie wollen quasi eine Planwirtschaft einführen. ({4}) Das lehnen wir natürlich strikt ab. Das sollten Sie mit Blick auf die Geschichte unseres Landes auch wissen. ({5}) Wenn man Änderungen am Mindestlohngesetz vornehmen will, dann sollte man eher den Weg wählen, es rechtssicherer und unbürokratischer zu machen. Ich nenne zum Beispiel das Stichwort „Generalunternehmerhaftung“, das in der heutigen Debatte noch nicht gefallen ist. Es ist für einen Unternehmer nicht so einfach, in der nächsten Stufe selber nachzuweisen, dass er Sorgfalt ausgeübt hat und ihm nichts vorzuwerfen ist. Auch die Dokumentationspflichten sind bereits angesprochen worden. Natürlich brauchen wir eine Dokumentation der Löhne und Arbeitszeiten, um Fehlverhalten und Fehlhandlungen feststellen und sie anschließend auch ahnden zu können. Allerdings muss man dann die Frage stellen: An welcher Stelle fangen wir mit den Dokumentationen an? Wenn wir festlegen, dass noch bei einer Lohnhöhe von 2 958 Euro – das ist mehr als das Doppelte des Mindestlohns – Dokumentationen erfolgen müssen, dann halte ich diesen Betrag für zu hoch. Er sollte meines Erachtens gesenkt werden, weil die eigentliche Kerngrenze, an der es prekär werden kann, weitaus niedriger liegt. Dass die Arbeitgeber bei dem hohen Betrag noch entsprechende Dokumentationen vornehmen sollen, ist meiner Auffassung nach nicht verhältnismäßig. Ein weiterer Punkt ist meines Erachtens, wie man mit Verstößen und Sanktionen umgeht. Natürlich muss ein Verstoß gegen das Mindestlohngesetz sanktioniert werden. Das steht schon wegen der Wettbewerbsfreiheit außer Frage. Aber einen Ausschluss von öffentlichen Vergabeverfahren bereits bei einer Bußgeldhöhe von 2 500 Euro – bei einer maximalen Bußgeldhöhe von 500 000 Euro –, also bei 0,5 Prozent der maximalen Bußgeldhöhe, halte ich, ehrlich gesagt, für unverhältnismäßig. Das wären Punkte, denen man sich widmen sollte, statt den Anträgen, die Sie stellen. Herzlichen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Wilfried Oellers. – Nächste Rednerin: Kerstin Griese für die SPD-Fraktion. ({0})

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gute Arbeit und gute Tariflöhne für alle, selbstverständlich weit über dem Mindestlohn, das bleibt unser klares Ziel für die Arbeitswelt. Die SPD ist eine Kämpferin für gute Arbeit und gute Löhne, und wir arbeiten daran, dass alle Menschen bessere Löhne bekommen. ({0}) Der Mindestlohn ist dabei die Haltelinie nach unten. Ich will auf Ihren Beitrag eingehen, Herr Riexinger. Luxemburg hat zwar einen Mindestlohn von 11,27 Euro, ist aber als Land nicht mit Deutschland vergleichbar. Mit Deutschland vergleichbare Länder haben Mindestlöhne zwischen 9 Euro und 9,50 Euro. Deutschland hat den Mindestlohn später eingeführt als andere Länder. Dank der SPD haben wir ihn endlich eingeführt, und er wird jetzt weiter erhöht. (Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir haben euch zum Jagen getragen! 20 Jahre lang! Wir haben ihn durchgesetzt, und wir haben uns im Ausschuss für Arbeit und Soziales intensiv damit beschäftigt, wie und mit welchen Instrumenten wir ihn ausgestalten. Ich glaube, wir haben eine kluge Lösung gefunden. Wir haben uns in Großbritannien informiert – einige Kollegen waren dabei –, wo eine Mindestlohnkommission mit sogar noch mehr Einfluss der Wissenschaft den Mindestlohn festsetzt. Unsere Mindestlohnkommission prüft im Rahmen einer Gesamtabwägung, welche Höhe passt und gut ist. Bei uns haben die Tarifpartner eine starke Stellung. Wo wir politisch Einfluss nehmen können, ist die Stärkung der Tarifentwicklung. Mehr Tarifbindung und bessere Tarifabschlüsse, das unterstützen wir politisch. ({1}) Da ist in der Tat die Politik gefragt; denn zur Freiheit, geschätzter Kollege Zimmer, gehört eben auch die soziale Marktwirtschaft, und da kann Politik sehr wohl Politik machen, die Tarifbindung und Tariflöhne stärkt. ({2}) Wir haben gute Instrumente, wir haben eine starke Tarifpartnerschaft. Der Mindestlohn ist ja Teil des Tarifautonomiestärkungsgesetzes. Wir haben bei allen unseren Vorhaben immer darauf geachtet, da besondere Möglichkeiten einzuräumen, da zu stärken, wo Tarifpartnerschaft besteht, wo es Tarifverträge gibt. Deshalb ist es gut, dass die Mindestlohnkommission mit den Sozialpartnern besetzt ist. Einen höheren Mindestlohn bekommt man durch mehr Tarifbindung. Dafür setzen wir uns ein. ({3}) Einen höheren Mindestlohn bekommt man aber auch durch höhere Löhne insgesamt. Deshalb hat Andrea Nahles den Pakt für anständige Löhne ins Leben gerufen. Damit hat sie deutlich gemacht, dass die positive Wirtschaftsentwicklung bei den arbeitenden Menschen ankommen muss. So kann man Politik für gute Löhne machen. ({4}) Ich will einen Bereich ansprechen, der mir ganz wichtig ist, wo mehr passieren muss – ich hoffe, wir werden das in dieser Legislaturperiode angehen –, nämlich den Bereich der sozialen Arbeit, des Dienstes am Menschen. Wir haben die Allgemeinverbindlichkeit erleichtert. Ich wünsche mir sehr, dass wir es schaffen, einen allgemeinverbindlichen Branchentarifvertrag Soziales zustande zu bringen, damit die Menschen, die diese wichtige harte Arbeit des Dienstes am Menschen leisten, anständig bezahlt werden. ({5}) Es gibt vielleicht auch deshalb so viel Unmut bei der Linkspartei, weil sie leider nicht Väter und Mütter des Mindestlohngesetzes ist. Die Linken haben sich damals bei der Abstimmung enthalten. Sie haben eine Chance verpasst; schade. Sie haben nicht mitgemacht bei der Einführung des Mindestlohns in Deutschland. ({6}) – Ich habe das Abstimmungsergebnis da: Enthaltung der Linksfraktion, fünf Gegenstimmen und zwei Enthaltungen bei der Union und ansonsten Zustimmung im ganzen Haus. – Das war eine gute Entscheidung.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kerstin Griese, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung des Abgeordneten Birkwald?

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eine Zwischenbemerkung hat er schon gemacht, der Herr Birkwald; ich habe es verstanden. ({0}) Ich habe auch bereits darauf geantwortet. Wir haben schon öfter über die Tragik diskutiert, dass die Linkspartei damals der Einführung des Mindestlohns nicht zugestimmt hat. ({1}) Jetzt geht es darum, eine Politik für gute Löhne, für gute Arbeit zu machen, etwa durch Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeit. Olaf Scholz hat recht: Der Mindestlohn muss weiter steigen. Andrea Nahles hat recht: Wir haben gute Instrumente dafür, dass er weiter steigen kann. Die Tarifpartner werden das verantwortlich in der Mindestlohnkommission entscheiden, und wir unterstützen sie dabei. Ich danke der Mindestlohnkommission und ihrem Vorsitzenden Jan Zilius ganz herzlich für ihre Arbeit. Ihnen allen wünsche ich frohe Weihnachten und ein gesegnetes Fest. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kerstin Griese, auch für die Einhaltung der Redezeit. – Die letzte Rednerin in dieser Debatte: Jana Schimke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte, die wir nicht nur heute hier über den gesetzlichen Mindestlohn, sondern auch immer wieder einmal über die gesetzliche Rente führen, krankt daran, dass den Menschen immer Versprechungen gemacht werden und dass bei ihnen Erwartungen geweckt werden, die nicht erfüllt werden können. ({0}) Es war nicht Aufgabe unserer gesetzlichen Regelungen, Erwartungen zu wecken. Es geht beim Mindestlohn nicht darum, Altersarmut zu verhindern, ihr vorzubeugen oder gar Wohlstand zu schaffen. Das ist gar nicht Sinn und Zweck eines Mindestlohns. ({1}) Es geht auch nicht darum, einen Urlaub zu finanzieren. Nein, es geht um einen gesetzlichen Mindeststandard, um eine Untergrenze, auf der man sozusagen aufbauen kann, aber nicht um das, was Sie den Menschen immer wieder versprechen. ({2}) Ich sage noch eines: Ihre Versprechen führen dazu, dass der gesellschaftliche Unfriede wächst, weil die Erwartungen nicht erfüllt werden können. ({3}) Die Darstellung der Arbeitsmarktlage, die Sie uns regelmäßig präsentieren, ist falsch. Wir haben heute im Bereich der Tariflandschaft bei der Pflege, Herr Riexinger – Sie haben es eben erwähnt – oder auch im Bereich des Reinigungsgewerbes schon längst einen tariflichen Mindestlohn, der über dem gesetzlichen Niveau liegt. ({4}) Das heißt, bei den Tarifverträgen, die wir haben, liegen wir schon heute mitunter weit darüber. Auch der Prozess der Angleichung zwischen alten und neuen Bundesländern schreitet immer mehr voran. Meine Bitte: Bleiben Sie bei den Fakten! Seien Sie ehrlich, ({5}) und streuen Sie den Menschen nicht immer Sand in die Augen! ({6}) Nein, ein Mindestlohn schützt nicht vor Altersarmut und wird auch nicht zu Wohlstand führen. Er sichert einen Mindeststandard und ist ein weiterer Schritt – das war bei seiner Einführung ein Hintergedanke –, um die Arbeit im Niedriglohnbereich besser zu machen. Er bietet Menschen, die in diesem Segment beschäftigt sind, eine bessere Einkommensbasis. Aber das kann doch nicht das Ende der Geschichte sein. ({7}) Es geht uns und unserer Arbeitsmarktpolitik darum, die Menschen aus diesem Niveau herauszubringen, sie weiterzuqualifizieren, ({8}) sie zu fördern, sie in die Lage zu versetzen, auch in andere Lohnbereiche vorzudringen. Das ist Ausdruck einer gesunden, einer gelebten Arbeitsmarktpolitik. Meine Damen und Herren, wenn Politik auf Wirklichkeit trifft, dann passiert das, was wir leider auch beim Mindestlohn erleben mussten. Es gab arbeitsmarktpolitische Effekte; selbstverständlich gab es die. Deutschland und die deutsche Wirtschaft, das sind aber nicht nur München oder Stuttgart, das sind auch die neuen Bundesländer. Ich bin aus der Region, aus der die Spreewaldgurke kommt. ({9}) Wir haben leider einen recht massiven Einbruch der Anbaufläche im Bereich Gemüse zu verzeichnen – auch durch den Mindestlohn. Gemüseanbau, Landwirtschaft, das sind Branchen, die sehr lohnintensiv sind. Da führen solche gesetzlichen Maßnahmen dazu, dass mitunter auch Stellen abgebaut werden, dass Branchen in erhebliche Schwierigkeiten geraten.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung?

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich möchte gern fortfahren. – Das muss man einfach mal zur Kenntnis nehmen. Ein weiterer Punkt. Jeder, der ein aufmerksamer Leser der Tagespresse ist, konnte in den letzten Tagen eine sehr interessante Darstellung aus dem Friseurhandwerk zur Kenntnis nehmen. Dort sagt man, dass ein Mindestlohn von 12 Euro im Moment durch die Branche gar nicht darstellbar wäre, weil die Lohnkosten bei 60 Prozent liegen, weil man die Lohnkosten nicht auf die Kunden überwälzen kann. So einfach, wie Sie sich das hier in diesem Hause manchmal gern machen wollen, ist es schlichtweg nicht. Es ist unsere Aufgabe, eine Politik zu machen, die die Realitäten der deutschen Wirtschaft abbildet, die die Vielfältigkeit der deutschen Wirtschaft abbildet, die darauf Rücksicht nimmt, dass nicht jede Branche, nicht jedes Unternehmen so gewinnträchtig arbeiten kann wie möglicherweise die Metall- und Elektroindustrie. Das ist unsere Aufgabe. Deswegen müssen wir genau an dem Punkt ansetzen, an dem der Mindestlohn im Moment krankt. Wir müssen die Aufzeichnungs- und Dokumentationspflichten reduzieren. Wir müssen auch im Bereich der Praktika noch mal ran; es gab einen massiven Abbau von Praktikumsplätzen. Wir müssen die Aufzeichnungspflicht auch bei den Minijobs noch einmal überdenken, gegebenenfalls sogar abschaffen und viele andere Dinge ebenfalls in den Blick nehmen. Das ist Ausdruck einer gesunden, auch einer lernenden Politik, und dafür machen wir uns stark. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Schimke. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/96 an den Hauptausschuss vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist inzwischen vier Wochen her, dass erneut Daten veröffentlicht wurden: die Paradise Papers – nachdem wir LuxLeaks, SwissLeaks und die Panama Papers hatten. Erneut haben wir mitbekommen, wie massiv international Steuervermeidung, Steuerhinterziehung und Geldwäsche betrieben werden und dass auch Deutsche daran beteiligt sind. Bisher hat sich dieses Hohe Haus damit nicht beschäftigt. Wir sagen: Wir müssen dringend darüber sprechen; ({0}) denn es braucht dringend politische Konsequenzen. ({1}) Weil das vor vier Wochen nicht so eine große Aufregung war, konnte man den Eindruck haben: Das ist nichts Neues. Man hat sich ein bisschen an den Skandal gewöhnt. – Es stimmt: Wir kennen schon einiges. Gewisse Strukturen haben wir inzwischen kennengelernt. Es gibt bekannte Muster. Wir wissen zum Beispiel, dass nicht nur Starbucks, Google, Amazon und Apple, sondern auch Nike intensiv die Straße von Deutschland über die Niederlande auf die Bermudas nutzen. Es gibt weitere Unternehmen. Uns liegen nun noch bessere Daten darüber vor, wie viel das ist und in welchem Umfang das stattfindet. Aber es gibt auch neue Sachverhalte. Das Ganze wird dadurch stärker thematisiert bzw. offengelegt, dass es auch innerhalb der Europäischen Union – Stichwort „Malta“ und andere Steueroasen – ein massives Problem gibt. In dem nun zur Diskussion stehenden Fall gibt es konkrete Belege dafür, dass sich deutsche Banken an illegalen Internetcasinos massiv und systematisch beteiligen und sich damit strafbar machen. Wir als Bundestag müssen endlich etwas dagegen tun. ({2}) Die Paradise Papers zeigen noch einmal das dramatische Ausmaß. Die Daten, die nun vorliegen, haben eine ganz andere Dimension als die Daten zuvor. Es geht um 13 Millionen Datensätze aus 19 Steueroasen, eine große Anwaltskanzlei und eine Treuhandfirma aus Singapur, die sich auf dieses Feld spezialisiert haben. Diese Datensätze machen das dramatische Ausmaß deutlich. Dem Gemeinwesen fehlt Geld. Nach Schätzungen haben wir allein in Deutschland jedes Jahr Mindereinnahmen aus der Körperschaftsteuer in Höhe von 17 Milliarden Euro zu verzeichnen. Das ist ein Drittel des gesamten Körperschaftsteueraufkommens in Deutschland. Aber es fehlt nicht nur Geld für das Gemeinwesen. Vielmehr handelt es sich hier auch um ein massives Gerechtigkeitsproblem. Nach belastbaren Schätzungen zum Beispiel des Ökonomen Zucman von der Berkeley University sind Steueroasen die Hauptursache für den massiven Anstieg der Ungleichheit in den OECD-Staaten. Auch deswegen müssen wir gezielt etwas dagegen tun. ({3}) Es handelt sich hierbei ebenfalls um ein Wettbewerbs­problem; denn die derzeitigen Steuerregelungen führen dazu, dass die kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland im Schnitt ein Drittel mehr Steuern zahlen müssen als die internationalen Konzerne. Auch deswegen müssen wir dringend etwas dagegen tun. Letzter Punkt. Es handelt sich des Weiteren um ein massives Sicherheitsproblem in Deutschland. Die Geldwäsche hat inzwischen ein beträchtliches Ausmaß angenommen. Bislang ist dagegen politisch zu wenig getan worden. Wir müssen in diesem Punkt dringend handeln. ({4}) So weit meine Meinung und die meiner Fraktion. Ich habe nun die geschäftsführende Bundesregierung gefragt, inwieweit sie der Auffassung ist, dass Handlungsbedarf besteht. Die geschäftsführende Bundesregierung hat gesagt, dass sie im Moment keinen Handlungsbedarf sieht. Das mag daran liegen, dass sie geschäftsführend ist. Wir als Fraktion der Grünen jedenfalls sagen: Es besteht deutlicher Handlungsbedarf. Deswegen haben wir diese Debatte initiiert und einen Antrag vorgelegt. Die zentralen Punkte möchte ich noch kurz nennen, Frau Präsidentin.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Aber wirklich kurz!

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. – Erster Punkt. Herzlichen Dank an die investigativen Journalisten! Wir brauchen dringend einen Whistle­blower-Schutz; denn wir sind auf die entsprechenden Informationen angewiesen. ({0}) Zweiter Punkt. Wir brauchen eine jährliche Debatte über die Probleme. Dafür brauchen wir eine fundierte Grundlage, einen Bericht über die geschätzten Mindereinnahmen durch Steuerlücken, über den wir im Deutschen Bundestag regelmäßig diskutieren. Wir brauchen mehr Transparenz bei Konzernen. Wir brauchen ein öffentlich zugängliches Country-by-Country Reporting und ein öffentlich zugängliches Register, das wirtschaftlich Berechtigte ausweist. Wir brauchen endlich wirksame schwarze Listen. Auch im Immobiliensektor müssen wir einiges ändern. ({1}) Ich freue mich, dass unsere Initiative dazu geführt hat, dass auch andere Fraktionen Anträge vorgelegt haben. Ich habe sie mir ganz genau durchgelesen. Ich sehe einiges, was wir gemeinsam umsetzen können.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Aber die Inhalte können wir jetzt nicht mehr referieren.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein. – Ich freue mich darauf, dass wir dann im Januar in den Fachausschüssen über gemeinsame Initiativen beraten können. Herzlichen Dank und schöne Weihnachtsferien. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Lisa Paus. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Dr. Mathias Middelberg. ({0})

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau Paus, ich gehöre genauso wie Sie dem Bundestag acht Jahre an. Ich kann mich an kein Jahr bzw. an fast keinen Monat erinnern, in dem Steuergerechtigkeit sowie der Kampf gegen Steuervermeidung und illegalen Steuerbetrug nicht Thema waren. Das hat uns in den zurückliegenden Jahren eigentlich permanent beschäftigt. ({0}) – Ich nehme jetzt einmal das, was wir zunächst mit den Kollegen von der FDP in den vier Jahren vor der letzten Wahlperiode und dann auch mit den Sozialdemokraten gemacht haben, in Anspruch und werde Ihnen gleich ein paar konkrete Beispiele nennen. Es ist nämlich sehr viel Konkretes in den letzten Jahren geleistet worden, ({1}) um beides zu bekämpfen: den illegalen Steuerbetrug und die legale Steuervermeidung, die uns insbesondere bei den Paradise Papers beschäftigt. ({2}) Der erste und grundlegende Punkt war 2011 die Initiative des BEPS-Projektes, das Maßnahmen gegen Base Erosion and Profit Shifting beinhaltete, also gegen das Abschmelzen der steuerlichen Bemessungsgrundlage und gegen das Verschieben der Gewinne, ein Projekt, das Wolfgang Schäuble mit dem britischen und dem französischen Finanzminister initiiert hat. Das ist mittlerweile ein international anerkanntes Projekt, dem sich zig Staaten angeschlossen haben. Wir haben diese Maßnahmen bereits in nationales Recht umgesetzt. Wir warten darauf und hoffen, dass das auch andere Staaten tun. Ich richte diesen Aufruf insbesondere auch an die USA. Es wäre sinnvoll, dass auch die Amerikaner diese Prinzipien umsetzten. ({3}) Dann haben wir 2014 – das ist die zweite zentrale Maßnahme, die ich nennen möchte – den automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten eingeführt. Über 100 Staaten auf diesem Erdball haben das Abkommen über den automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten unterzeichnet und führen diesen jetzt auch durch. Das ist eine grundlegende Maßnahme, die dazu führt, dass unsere Finanzbehörden dann, wenn ein deutscher Staatsbürger im Ausland ein Konto unterhält, automatisch Informationen darüber erhalten. Das heißt, solche Fälle, wie wir sie mit Uli Hoeneß oder mit Alice Schwarzer hatten, wird es in Zukunft nicht mehr geben. Das ist die grundlegendste Maßnahme gegen Steuervermeidung, die wir überhaupt anführen können – auch das initiiert durch Finanzminister Wolfgang Schäuble. ({4}) Dann hatten Sie, Frau Paus, das Thema LuxLeaks erwähnt. Die Reaktion darauf war, dass wir einen automatischen Informationsaustausch über die damit verbundenen Tax Rulings, also die Tax-Regelungen, eingeführt haben. ({5}) Auch dieser automatische Informationsaustausch ist in Kraft. Das heißt, diese Luxemburg-Nummer wird es in Zukunft nicht mehr geben. ({6}) Wir haben das Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz gegen Briefkastenfirmen gemacht. Sie haben eine Kaffeehauskette angesprochen; ich will den Namen jetzt nicht ausdrücklich nennen, aber, ich glaube, alle hier wissen, welche Kaffeehauskette, die auch in Deutschland viele Filialen betreibt, damit gemeint ist. Diese Kaffeehauskette hatte Steuerverschiebungsmodelle über Lizenzgebühren entwickelt, die über die Niederlande, über Irland oder whatever abgewickelt wurden. Das muss uns im Einzelnen nicht interessieren. ({7}) Jedenfalls sind diese Modelle schon lange dank dieses Gesetzes nicht mehr möglich. Wir haben nämlich die Anerkennung entsprechender Lizenzgebührzahlungen beschränkt. Nur wo wirklich Geschäft stattfindet, findet auch Besteuerung statt. Das ist richtig. Den gesamten Kurs, der uns bei der Gestaltung steuerlicher Regelungen treibt, zeichnet aus, dass wir sagen: Es muss da versteuert werden, wo wirklich Wertschöpfung stattfindet. Das ist das grundlegende und richtige Prinzip. Das andere Prinzip lautet: Wir arbeiten daran, Transparenz darüber herzustellen, wo Leute Geld anlegen, wo Leute Geschäfte machen und wo wirklich Wertschöpfung stattfindet. Das ist die grundlegende Basis für eine faire Besteuerung. An diesem Projekt müssen wir kontinuierlich weiterarbeiten. Nur, wir können das leider nicht vollständig alleine klären. Es gibt auch andere kluge Kollegen. Der Kollege ­Kubicki etwa stellt in Interviews kluge Dinge fest wie etwa, dass wir dazu beitragen müssen, das Steuerrecht international zu vereinheitlichen. Dazu trägt gerade das eben genannte BEPS-Projekt bei. Auf diesem Weg kommen wir aber nicht in einer Woche voran. Dafür ist vielmehr ein mühseliges Arbeiten über Monate und Jahre nötig. Wir haben auch Jahre gebraucht, um den automatischen Informationsaustausch wirklich ins Werk zu setzen. Diesen Weg würde ich gerne kontinuierlich weiter beschreiten. Wir haben hier in den letzten Jahren Erfolgreiches geleistet. Es gibt immer noch Baustellen, bei weitem nicht mehr so viele wie früher, aber es gibt immer noch Baustellen. Wer demnächst regiert, ist jedenfalls herzlich eingeladen, mit uns an diesen Baustellen und an diesen Problemen entschlossen weiterzuarbeiten. Ich bedanke mich. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Middelberg. – Nächster Redner ist der Meister des Zollstocks: Lothar Binding für die SPD. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich bin in der glücklichen Lage, nach dem Kollegen Middelberg und nach Lisa Paus zu sprechen. Ich finde, Mathias Middelberg hat recht gehabt: Wir haben viel gemacht – sogar viel Gutes –, haben viel erreicht. Trotzdem hat Lisa Paus recht: Wir müssen noch viel machen. ({0}) Was hat uns eigentlich veranlasst, diesen Tagesordnungspunkt zum Thema Paradise Papers heute auf die Tagesordnung zu setzen, obwohl sie überhaupt keine neuen Steuervermeidungsstrategien aufgedeckt haben? Sie haben keine neuen Erkenntnisse gebracht – null. Was regt uns also auf? Die Dimension. Die Dimension hat uns etwas gezeigt, was wir nicht wussten: Es ist zur Normalität geworden, wovon wir glaubten, es sei die Ausnahme. Das ist etwas besonders Schlimmes: diese Parallelwelt, in der sich etwas auf Kosten einzelner Staaten, auf Kosten einzelner Völker zugunsten einzelner internationaler Konzerne entwickelt. Gegen diese Normalität müssen wir mehr tun als bisher. Deshalb gibt es den SPD-Antrag. Der beinhaltet eine Besonderheit, die wir so bisher nicht betrachtet haben, obwohl wir es schon mehrfach versucht hatten. Es handelt sich dabei um nationale Maßnahmen. Wir brauchen einzelne nationale Maßnahmen, um in diesem Sumpf einigermaßen regulieren zu können. Wenn heute Gewinne, die in der EU erwirtschaftet werden, über Mitgliedstaaten der EU – das ist das Besondere; wir denken immer: Steueroasen sind die bösen Dritten außerhalb –, wie die Niederlande, Irland, Malta, unbesteuert in Drittstaaten durchgeschleust werden, dann geschieht das auf unsere Kosten und auch auf Kosten anderer großer Nationen, die das Geld für ihre Infrastruktur bitter bräuchten. Also: Steueroasen gibt es nicht nur in der Karibik, sondern auch in der EU. Leute nehmen für einen kleinen Vorteil in ihrem eigenen Land große Nachteile in anderen Staaten in Kauf. Das ist eine Form des unfairen Umgangs, den wir nicht hinnehmen wollen. Deshalb glauben wir, dass wir sehr viel mehr machen müssen. ({1}) Was heißt jetzt „machen“, und was heißt „fairer Umgang“? Wir haben bereits Kriterien für unfairen Steuerwettbewerb, zum Beispiel durch Definitionen wie „Die Unternehmensbesteuerung ist intransparent“. Deshalb haben wir Transparenz gefordert. Ein weiteres Kriterium: „Wir haben Privilegien ohne wirtschaftlichen Hintergrund.“ Auch das haben wir einigermaßen eingedämmt. „Es gibt keine effektive Amtshilfe.“ Auch da haben wir einiges erreicht. Was aber fehlt – das ist ein Kernfehler des BEPS-Projekts; das hast du, Lisa Paus, gut beschrieben –, ist: Eine Nullbesteuerung oder eine Dumpingbesteuerung gilt überhaupt nicht als unfair. Das gilt als fairer Wettbewerb. Die FDP hat dazu etwas gesagt; ich finde, viel Falsches. Aber es ist so, dass wir mit diesem Wettbewerb etwas induzieren, was letztendlich allen Staaten schadet. Wir brauchen unbedingt Mindeststeuersätze – oder einen Korridor –, damit Gewinne nicht mehr unbesteuert in Drittländer durchgeschleust werden können. Das ist eine minimale Angelegenheit. Dazu müssen wir die Mutter-Tochter-Richtlinie angreifen, die Lizenzschranke, die Zinsschranke, die Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage in den Blick nehmen. Das ist nicht hochkompliziert, das müssen wir aber machen, teilweise mit nationalen Maßnahmen. Einen weiteren Punkt hat Lisa Paus schon vorgetragen: Wir brauchen schwarze Listen in einer neuen Qualität. ({2}) Allerdings helfen schwarze Listen allein nichts. Wir müssen uns auch überlegen, welche gemeinsamen Sanktionen wir für diejenigen haben, die auf diese schwarze Liste geraten; denn wenn es keine Sanktionen gibt – das ist klar –, stört es mich auch nicht sonderlich, dass ich auf einer schwarzen Liste stehe. Ich will noch die beiden Maßnahmen nennen, die uns wichtig sind und die wirksam sein können. Gelegentlich wird mir dabei quittiert, ich würde Unternehmen unter Generalverdacht stellen. Es ist aber so: Ich stelle nur die Gauner unter Verdacht, alle anderen nicht. ({3}) Was wollen wir machen? Wir brauchen eine Quellbesteuerung. Das, was wir üblicherweise jedem Arbeitnehmer abverlangen, wollen wir auch dem Unternehmen abverlangen. Stellt sich hinterher heraus, die Überweisung ins Ausland war in Ordnung, sie hatte einen wirtschaftlichen Grund, wird die Steuer erstattet, wenn nicht, haben wir unser Steuersubstrat gerettet. Das ist das eine. Zum anderen brauchen wir eine Beschränkung des Betriebsausgabenabzugs für die Gelder, die unversteuert im Ausland landen. Werden sie dort fair besteuert, so ist es wunderbar, dann kann man den Betriebsausgabenabzug zulassen. Werden sie dort nicht besteuert, dann können sie hier nicht in Abzug gebracht werden. ({4}) Wir hätten sonst eine doppelte Nichtbesteuerung. Das ist das besonders Unfaire. Wer für ein faires System eintritt, kommt eigentlich nicht drumherum, unseren hervorragenden Antrag zu unterstützen. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Lothar Binding. – Der nächste Redner hält jetzt seine erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich rufe für die AfD auf: Leif-Erik Holm. ({0})

Leif Erik Holm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004761, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Liebe Bürger! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man kann sich dem Thema „Steuervermeidung und Paradise Papers“ grundsätzlich von zwei Seiten nähern. Man kann natürlich darüber lamentieren, dass anderswo die Steuern viel zu niedrig sind. Man kann aber auch die Frage stellen, ob die Steuern bei uns nicht zu hoch sind. ({0}) Laut einer neuen Studie der OECD zieht der Staat bei uns fast 50 Prozent des Durchschnittseinkommens an Steuern und Abgaben ein, und die Umsatzsteuer ist da noch nicht drin. Damit sind wir Weltspitze. Hier liegt das Problem, und nicht woanders. ({1}) Wir brauchen, wenn Sie so wollen, Paradise Papers auch für Otto Normalbürger und Otto Normalunternehmer in Deutschland oder besser eine durchgreifende Steuerreform mit einer klaren Entlastung. ({2}) Lasst den Deutschen endlich mehr von ihrem hart verdienten Geld in der Tasche. ({3}) Aber das kriegen Sie eben seit Jahrzehnten nicht auf die Reihe. ({4}) Ich erinnere mich noch an die 90er-Jahre: War nix mit der großen Steuerreform! Sie kamen einfach nicht zu Potte. Die Steuererklärung auf dem Bierdeckel von Friedrich Merz ist auch versandet, und 2005 wurde Professor Kirchhof mit Schimpf und Schande von Frau Merkel entsorgt. ({5}) Bis heute ist in Sachen Steuerreform nichts Wesentliches passiert. Wir haben nach wie vor eines der komplexesten Steuersysteme der Welt. ({6}) Da ist es natürlich kein Wunder, wenn sich die sogenannten Reichen mit ihren Heerscharen an Steuerberatern die passenden Schlupflöcher suchen, während Kleinverdiener und Mittelstand in die Röhre schauen, und das ist in der Tat ungerecht. ({7}) Dazu kommt die kalte Progression, die endlich abgeschafft gehört. ({8}) Das wird nur nicht gemacht, weil sie dem Finanzminister immer weiter steigende Einnahmen beschert. ({9}) So wird der Spitzensteuersatz heute schon bei mittleren Verdienern fällig. Früher galt er erst bei Gehältern, die mindestens 15-mal so hoch waren wie der Durchschnittslohn. Heute zahlt man den Spitzensteuersatz bereits bei dem 1,3-Fachen. ({10}) Der Normalbürger ist klar zur Melkkuh der Nation geworden. Das müssen wir ändern. Daran arbeiten wir als AfD. Eine Entlastung ist ja möglich. Während den Bürgern seit Jahren durch die Niedrigzinspolitik der EZB Milliarden entgehen, genau genommen Hunderte Milliarden, ({11}) spart der Bund Milliarden. Es entstehen Jahr für Jahr Überschüsse, und es gehört sich, dass davon etwas an die Steuerzahler zurückgegeben wird. ({12}) Wenn wir die eigenen Hausaufgaben hier bei uns gemacht haben, dann können wir uns auch um einen fairen internationalen Steuerwettbewerb kümmern. Da kann man natürlich über manche Dinge reden. Aber der hier insbesondere von der linken Seite des Plenums vorgeschlagene Mindeststeuersatz wäre ein falscher Ansatz; denn er hebelt den Wettbewerb aus, und der ist absolut wichtig. Ansonsten werden Politiker nämlich zu schnell zu bequem. ({13}) Solange sie sich keine Gedanken machen müssen, dass Unternehmen ins Ausland abwandern könnten, ({14}) so lange haben sie nicht mehr als die bloße Einnahmenmaximierung im Kopf. Wettbewerb ist eben ein Korrektiv zur Politik und deshalb wichtig. ({15}) Es geht hier auch um Souveränität. Das sage ich insbesondere in Richtung SPD. Das Budgetrecht ist das heilige Recht eines jeden nationalen Parlamentes. Sie können sich sicher sein, dass dieses Recht, insbesondere im Ausland, niemand an der Garderobe abgeben wird. Auf solche komischen Ideen kommen offensichtlich nur deutsche Tagträumer, die auf Biegen und Brechen die Vereinigten Staaten von Europa erzwingen wollen. ({16}) Aber das ist ein Irrweg. Wir bitten Sie: Kehren Sie schnellstens um. Meine Damen und Herren, es lässt sich trefflich über unfaire Steuerbedingungen reden. Aber diese Art von Steuervermeidung wird es immer geben. Das werden wir wirklich nur begrenzt beeinflussen können. Deshalb macht es keinen Sinn, ({17}) heute hier mit vier Anträgen Nebelkerzen zu zünden und den Bürgern zu suggerieren, wir könnten da von heute auf morgen Grundlegendes ändern. ({18}) Kümmern Sie sich lieber um unser eigenes, dringend sanierungsbedürftiges Steuersystem. Die Baustelle ist wirklich groß genug. ({19}) Entlasten Sie die Bürger und Unternehmen. Wir als AfD-Fraktion sehen das jedenfalls als unsere Aufgabe an. Herzlichen Dank und Ihnen allen ein schönes Weihnachtsfest. ({20})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte: Michael Theurer für die FDP-Fraktion. ({0})

Michael Theurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004914, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! LuxLeaks, Panama Papers, Paradise Papers – sie haben eine Dimension der aggressiven Steuervermeidung an den Tag gebracht, die sich viele nicht vorstellen konnten. Es besteht in der Tat politischer Handlungsbedarf, vor allen Dingen weil wir feststellen müssen, dass es keine fairen Wettbewerbsbedingungen gibt. ({0}) Wenn die Wissenschaftler des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim an das Tageslicht gebracht haben, dass sich der Kostennachteil, den kleine und mittlere Unternehmen zu gewärtigen haben, die diese aggressiven Steuervermeidungsmodelle nicht nutzen können oder aus ethischen Gründen nicht nutzen wollen, auf 25 bis 30 Prozent beläuft, dann ist Handlungsbedarf gegeben. ({1}) Meine Damen und Herren, wir als Freie Demokraten sind für Steuerwettbewerb. Aber dieser Wettbewerb muss fair sein. Wenn behauptet wird, diese aggressiven Steuervermeidungsmodelle seien innerhalb der Europäischen Union legal gewesen, dann stimmt das nicht; denn sie verstoßen gegen Gemeinschaftsrecht. Es war die liberale Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager, die hier eingegriffen hat. Ich finde, dieser Mut, auch einmal internationalen Großkonzernen wie Apple die Stirn zu bieten, erfordert Respekt. Es ist richtig, dass Irland aufgefordert wurde, 13 Milliarden Steuern nachzufordern von einem Konzern wie Apple, der 0,0005 Prozent Körperschaftsteuer bezahlt hat. Das ist ein Skandal, meine Damen und Herren. ({2}) Es kann nicht sein, dass der Bäckermeister in Karlsruhe oder in Horb seine Steuern bezahlt, aber internationale Ketten eben nicht. Die Paradise Papers haben gezeigt: Unmittelbar nach dieser Entscheidung der Europäischen Kommission, gegen die Apple klagt, gegen die auch Irland klagen wollte – glücklicherweise gibt es jetzt ein Einsehen dort –, hat Apple seine Konzernzentrale weiter verlagert auf die Kanalinseln. Was ist zu tun? Der zentrale Erkenntnisgewinn der Ausschüsse TAXE 1 und TAXE 2 im Europäischen Parlament war, dass die Kombination von 28 überkomplexen Steuersystemen zwangsläufig zu Schlupflöchern führt, die dann genutzt werden; teilweise legal, teilweise illegal. Das müssen wir ändern. In einem Binnenmarkt mit freier Bewegung des Kapitals brauchen wir verbindliche gemeinsame Regeln in der Unternehmensbesteuerung durch eine gemeinsame konsolidierte Körperschaf­sbemessungsgrundlage. Dafür stehen wir, dafür kämpfen wir als Freie Demokraten. ({3}) Wir kämpfen aber gegen die Vereinheitlichung der Steuersysteme; denn wir wollen, dass der Wettbewerb über die Steuersätze stattfindet und eben nicht über die Manipulation der Bemessungsgrundlage. Meine Damen und Herren, mit dem Antrag der FDP legen wir aber auch den Finger in die Wunde, was Versäumnisse im Inland angeht. Automatischer Informationsaustausch ist ein großer Fortschritt in Europa. Was wir aber auch brauchen, sind Betriebsprüfer, die sich den komplexen Aufgaben auch der grenzüberschreitenden Betrachtung von Transferpreisen, auch von Lizenzmodellen stellen können. Sie müssen besser ausgebildet werden. Sie müssen auch über entsprechende Ressourcen verfügen. Hier sind die Länder gefordert, meine Damen und Herren. ({4}) Dann wollen wir natürlich darüber hinaus den internationalen Aspekt der Wettbewerbsfähigkeit nicht vergessen. Trumps Steuerreform wird den Druck noch erhöhen. US-amerikanische Konzerne, die Milliarden, wenn nicht sogar Billionen steuerfreien Cashflow in Offshore-Jurisdiktionen bunkern, um damit Marktgewinnungsstrategien zu finanzieren, erfordern eine Antwort. Hier werden wir auf die Amerikaner zugehen müssen, Druck machen müssen. Aber wenn wir feststellen, dass wir uns nicht durchsetzen können, dann müssen wir einen Rat der OECD auch berücksichtigen. Die OECD empfiehlt nämlich als besten Kampf gegen Steuervermeidung ein Steuersystem, das einfach ist und niedrige Sätze hat. ({5}) Auch wir sind aufgefordert, zu schauen, ob man Bürokratie abbauen kann, ({6}) Steuern vereinfachen und Steuersätze senken kann. Dann ist der Anreiz, Steuern zu vermeiden, auch geringer. Das wollen wir, die Freien Demokraten. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Theurer. – Nächster Redner: Fabio De Masi für die Fraktion Die Linke. ({0}) – Diether Dehm gibt heute den Cheerleader.

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor Gericht würde die Verlesung der Anklageschrift viel Zeit kosten: „Offshore-Leaks“, Luxemburg Leaks, SwissLeaks – für Frau Weidel –, ({0}) Panama Papers, Bahamas Leaks und nun die Paradise Papers. Zeit ist Geld: 17 Milliarden Euro entgehen Deutschland jedes Jahr durch legale Steuertricks von Konzernen. Mit der illegalen Steuerhinterziehung sind es in der EU Hunderte Milliarden Euro. US-Senator Bernie Sanders warnt, dass wir zunehmend unter Kontrolle einer Oligarchie stehen, Stichwort „Parteispenden von Konzernen“, die Sie alle ja dankbar empfangen. Bei Steuergerechtigkeit geht es daher auch um Demokratie. ({1}) Acht Personen besitzen so viel wie die Hälfte der Welt, also 3,6 Milliarden Menschen. In Deutschland verfügen die reichsten 10 Prozent der Haushalte über zwei Drittel des Nettovermögens. Die Hälfte der Bevölkerung besitzt unter dem Strich nichts. Unser Land bröckelt derweil angesichts schwarzer Nullen. Die jährliche Investitionslücke bei Krankenhäusern oder Wohnraum beträgt 100 Milliarden Euro. Selbst der IWF fordert daher eine Vermögensteuer in Deutschland. ({2}) Konzerne drücken Steuern auf fast null. Aber jede Krankenschwester, jeder Bäcker muss hier Steuern zahlen, oft 30 Prozent. Ob Apple, Nike oder Google, sie verschieben Gewinne über künstliche Zinsen oder Lizenzgebühren in Briefkästen. Die Steueroasen sind mitten in Europa: die Niederlande, Irland oder Malta, wo kritische Journalisten sterben. Insofern ist die schwarze Liste der EU ein Witz. Interessant ist nicht, wer draufsteht, sondern wer nicht: ({3}) kein Luxemburg, keine USA, die den Informationsaustausch boykottieren und nun Konzernen und dem Clown in Washington die Steuern senken. Mit null Prozent Steuern ist man laut dieser Liste nicht automatisch Steueroase. Dass ist so, wie zu behaupten, mit 100 Prozent Alkohol im Blut sei man nüchtern. ({4}) Es geht auch um Geldwäsche von Kriminellen und Terroristen; das scheint die AfD offenbar nicht zu stören. Wir sind laut Bundeskriminalamt Gangsta’s Paradise, etwa im Immobiliensektor. 24 000 Geldwäschemeldungen stapeln sich bei der Financial Intelligence Unit. Bei BKA und LKA waren 300 Beamte zuständig, beim Zoll sind es nur noch 100 inklusive Aushilfen. Ich zitiere den Vize-Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Sebastian Fiedler: Das ist eine sicherheitspolitische Katastrophe. Damit ist die Geldwäschebekämpfung in Deutschland nahezu komplett vor die Wand gefahren worden. ({5}) Eine Woche nach Veröffentlichung der Paradise Papers sabotierte die Bundesregierung in Brüssel ein öffentliches Register der wahren Eigentümer von Firmen und Trusts. Sie blockieren auch ein Immobilienregister. Jan Böhmermann sagt: „Ich hab Polizei“, Mafiosi würden sagen: Ich hab Bundesregierung. ({6}) Wir brauchen ein Unternehmensstrafrecht, damit Staatsanwälte oder die BaFin nicht vor Gangstern in Nadelstreifen kapitulieren. Banken ist bei Beihilfe zu schwerer Steuerhinterziehung die Lizenz zu entziehen. ({7}) Konzerne sollten für jedes Land Gewinne und Steuern ausweisen – öffentlich, wie im Banken- und Rohstoffsektor. Steuerpate Juncker ist dafür; die Bundesregierung verhindert das. Herr Kubicki, Strafverteidiger eines Cum/Ex-Abzockers, forderte, Konzernen den Abzug von Betriebs­ausgaben in Deutschland zu verweigern, wenn diese in Steueroasen flössen. Dazu brauche man keine Einigung von 28 EU-Staaten – da hat er recht. Die Linke stellt dies gerne hier zur Abstimmung. ({8}) Wir sollten auch Dividenden, Zinsen und Lizenzen direkt an der Quelle in Deutschland besteuern, bevor sie in Steueroasen fließen. Die USA haben das der Schweiz angedroht – sofort hat sie Bankdaten geliefert. Wir müssen nicht warten, bis die USA Fakten schaffen. So erhöht man den Druck, internationale Lösungen zu finden. ({9}) EU-weite Mindeststeuern für Konzerne gehen nur mit neuen Verträgen. Daher waren wir gegen diese EU-Verträge. Aber wer hindert Sie daran, statt mit Frankreich aufzurüsten, mit Mindeststeuern gemeinsam gegen Steuerflüchtlinge voranzugehen? Erich Kästner wusste: Es gibt nichts Gutes  außer: Man tut es. Die Linke tut es. Fröhliche Weihnachten und vielen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Herr De Masi. Möglicherweise wird Dr. Michelbach, der nächste Redner auf diesen „Mafiosi“-Vergleich eingehen. ({0}) – Ja, deswegen sage ich es doch! Was ich sage, ist meine Entscheidung, lieber Kollege. Und ich vertraue da sehr auf Herrn Dr. Michelbach. ({1})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ob nun Panama Papers oder jetzt Paradise Papers, ob Steueroasen, Briefkastenfirmen, Steuergestaltung oder Geldwäsche: Diese Themen haben den Bundestag in den vergangenen Jahren intensiv beschäftigt. Es wurde aber nicht nur geredet, es wurde auch gehandelt. Das ist die Wahrheit. Wir werden auch weiter handeln. Das kann ich Ihnen versprechen. Wir müssen also nicht erst anfangen und schon gar nicht sofort, wie verschiedene Fraktionen hier suggerieren. Ich verstehe, dass die Fraktionen neu sind und daher vielleicht etwas nicht ganz mitbekommen haben. Etwas anderes ist das bei den Kollegen der SPD. ({0}) Wir haben gemeinsam vieles erreicht. Wir, CDU und CSU, und unser damaliger Finanzminister Wolfgang Schäuble sind Vorreiter im Kampf gegen Steuerhinterziehung, Steuervermeidung und Wettbewerbsverzerrungen in der Europäischen Union und weltweit innerhalb der OECD. Das ist die Wahrheit. All dies waren Dauerthemen im Kabinett, im Bundestag und auf europäischer Ebene sowie bei G 20. Wir haben in den vergangenen Jahren unter der Beteiligung des Bundestags eine ganze Serie von Initiativen und Gesetzen zur Beseitigung der genannten Probleme beschlossen. Ich erinnere erstens an unseren Zehn-Punkte-Plan mit Maßnahmen auf nationaler und internationaler Ebene. Ich erinnere auch an die BEPS-Initiative von OECD und G 20 und an die Umsetzung des BEPS-Umsetzungsgesetzes vom Dezember 2016 in nationales deutsches Recht.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Dr. Michelbach?

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja bitte?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Sind Sie bereit, Frau Paus eine Frage oder eine Zwischenbemerkung zu erlauben?

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lisa Paus immer. Bitte. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Michelbach, Sie haben völlig recht: Wir haben uns in den letzten Jahren mit vielen Gesetzen beschäftigt. Auch ich war Mitglied des Finanzausschusses. Aber wir haben doch das Problem im Deutschen Bundestag, dass wir zwar Gesetze beschlossen haben, durch die Veröffentlichung der Paradise Papers aber feststellen mussten, dass nach wie vor Milliarden Euro an Steuergeldern nicht gezahlt werden und dass die Bevölkerung in Deutschland einfach nicht versteht, dass wir Gesetze beschließen, die aber nicht wirklich einen Effekt haben. Deswegen sage ich: Wir als Deutscher Bundestag haben die Verantwortung, diese beiden Aspekte zusammenzubringen. Wir müssen feststellen, dass wir zwar Gesetze beschlossen haben, sie aber offenbar nicht die Wirkung haben, dass die jetzt bekanntgewordene Dimension an Steuerhinterziehung, an Steuergestaltung und an Geldwäsche tatsächlich eingedämmt wird. Sind Sie mit mir der Meinung, dass wir nicht einfach nur etwas tun sollten, sondern dass wir auch die Effektivität unserer Handlungen überprüfen sollten, und dass es nach wie vor Handlungsbedarf in diesem Bereich gibt? Denn das, was wir an Gesetzen beschlossen haben, passt nicht zu dem, was an Problemdimension vorhanden ist. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Lisa Paus, es ist selbstverständlich – und das habe ich ausdrücklich gesagt – weiterer Handlungsbedarf gegeben. Es ist klar: In einer globalisierten Wirtschaft wird es immer illegale Steuerpraktiken und Geldwäsche geben. Ich bin aber gegen eine Skandalisierung. Es wurde eine völlig überzogene Zahl genannt, mit der ich nichts anfangen kann und die völlig aus der Luft gegriffen ist: Angeblich fehlen 17 Milliarden Euro an Körperschaftsteuer. Diese Zahl ist unbewiesen. Ich bin auch gegen Pauschalverdächtigungen gegenüber einzelnen Unternehmen. Es muss um Fakten gehen. Wenn wir unsere Aufgabe wahrnehmen, müssen wir uns konkret an der Sache orientieren. Wir müssen gegen Steuervermeidung vorgehen und für Steuergerechtigkeit sorgen. Das ist unsere Aufgabe, der wir Schritt für Schritt nachkommen müssen. Es ist klar, dass sich die beratenden Berufe immer neue Dinge einfallen lassen – ich habe nichts dagegen –, aber wir müssen das abstellen, wenn wir der Auffassung sind, dass etwas Illegales stattfindet, dass die Steuervermeidung nur einigen wenigen dienlich ist. Klar ist, dass wir internationale Vereinbarungen getroffen haben, zum Beispiel den automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten. Das Country-by-Country Reporting war ein wichtiger gemeinsamer Schritt, den wir gegangen sind. Es ist nicht so, dass am deutschen Wesen alles genesen kann. Das ist eine internationale Aufgabe. Nur gemeinsam mit den anderen Ländern, mit Überzeugungskraft und guten Argumenten können wir in Verhandlungen funktionsfähige Instrumente schaffen. Das ist die eigentliche Frage. Wir müssen das Gesetz zur Umsetzung der Geldwäscherichtlinie und alles Weitere voranbringen. ({0}) Wir wollen natürlich klare Steuerentlastungen. Wir stellen uns dem Steuerwettbewerb; aber wir wollen keine illegale Steuergestaltung. Die Argumentation, dass mit der Steuerreform, die wir hier vielleicht noch durchsetzen müssen, Steuerdumping beschönigt werde, verstehe ich nicht. Das ist der falsche Ansatz. ({1}) Wir müssen dafür sorgen, dass der normale Steuerbürger ernst genommen wird. Wir müssen Steuerentlastungen voranbringen. ({2}) Letzten Endes müssen wir auch für die Wirtschaft die Weichen richtig stellen. Ich bin der Auffassung, dass auch über eine Unternehmensteuerreform geredet werden muss, ({3}) und zwar auf Basis der Rechtsformneutralität, der Finanzierungsneutralität und der Organisationsneutralität. Auch das wird eine Aufgabe dieses Bundestages in dieser Legislaturperiode sein. Ich glaube, die Steuerpolitik wird in den nächsten Jahren eine ganz wichtige Aufgabe sein. ({4}) Ich lade Sie herzlich ein, nicht zur Kanalisierung, nicht zur Beschönigung, sondern dazu, die Steuerpolitik richtig zu gestalten. Das ist unsere Aufgabe. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Michelbach. – Nächster Redner: Dr. Jens Zimmermann für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Jens Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004603, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lux­Leaks,­ Panama Papers und jetzt die Paradise Papers – da will man doch eigentlich sagen: Ich kann es nicht mehr hören! Aber das können wir als Bundestag leider nicht sagen; denn wir müssen mit den erneuten Enthüllungen umgehen. Es ist richtig, dass bei den Paradise Papers kein neues Schema zu erkennen ist; aber sie erinnern uns an die Hausaufgaben, die wir alle immer noch zu tun haben. Wir haben in den letzten vier Jahren einiges gemacht – da gebe ich dem Kollegen Michelbach recht –; aber umso mehr muss es uns doch aufschrecken. Offensichtlich war das, was wir gemacht haben, nicht ausreichend. Wir müssen konstatieren, dass internationale Vereinbarungen wichtig und richtig sind, dass die Vereinbarung allein aber nicht hilft, wenn sie am Ende des Tages nicht mit Leben gefüllt wird. ({0}) An dieser Stelle muss man genau auf unsere Freunde, auf unsere Partner in der EU schauen. Irland ist in diesem Zusammenhang bereits genannt worden. Auch ich werde nicht müde, die Situation dort anzusprechen. Ja, Steuerwettbewerb zwischen Ländern ist in einem gewissen Maße in Ordnung. Die Frage ist aber: Ist es in Ordnung, wenn ein Mitgliedsland der Europäischen Union seine Volkswirtschaft, sein Geschäftsmodell quasi darauf aufbaut, Gewinne aus anderen Mitgliedsländern systematisch abzuziehen und dann mit sehr niedrigen Steuersätzen zu versehen? Mit einem solchen Modell wird am Ende die Solidarität in der Europäischen Union gegen die Wand gefahren. ({1}) Deswegen rufe ich den Freunden in Irland zu: Wenn es jetzt um den Brexit geht, können sie zum Beispiel bei der Frage nach der Grenze zwischen Irland und Nordirland auf unsere Unterstützung, auf unsere Solidarität hoffen. Aber Solidarität ist eben keine Einbahnstraße. Es kann einfach nicht sein, dass ein Land Einnahmen in Höhe von 13 Milliarden Euro von dem Unternehmen Apple nicht einfordern will. Am Ende geht es um Gewinne, die auch hier in Deutschland erwirtschaftet wurden. So kann das nicht funktionieren. ({2}) Deswegen sagen wir als SPD-Bundestagsfraktion ganz klar: Das bleibt weiter Aufgabe von uns allen. Ich finde, es ist zu kurz gegriffen, wenn es dann wieder heißt, es gebe überbordende Bürokratie, und wir dürften die Unternehmen nicht so sehr belasten. Der Mittelstand in Deutschland und alle Bürgerinnen und Bürger, die ordentlich ihre Steuern zahlen, sind doch die Gelackmeierten dieser Praxis. ({3}) Es muss unser aller Interesse sein, dass sich an dieser Situation etwas ändert. Ich hoffe, dass wir in diesem Bereich – wir haben ja heute nicht weniger als vier Anträge zu diesem Thema vorliegen – weiter entschieden vorangehen werden. In diesem Sinne: Frohe Weihnachten! ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jens Zimmermann. – Der letzte Redner in diesem Jahr – ich weiß nicht, ob das eine Ehre oder eine Freude ist – bzw. auf jeden Fall in dieser Debatte: Uwe Feiler für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Uwe Feiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004271, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, es ist selbstverständlich eine Freude für mich, der letzte Redner in diesem Jahr zu sein. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf Panama folgt nun das Paradies für Steuervermeider und gegebenenfalls -hinterzieher. Zu diesem Schluss könnte man kommen, wenn man die Berichte der Medien in den letzten Wochen und natürlich auch die eine oder andere Wortmeldung am heutigen Abend zur Kenntnis nimmt. Ja, auch ich reibe mir die Augen in Anbetracht der Energie, die von internationalen Konzernen anscheinend nicht nur in die Entwicklung neuer Produkte, sondern auch in die Erarbeitung von Steuerumgehungsinstrumenten investiert wird. Dieses erste Erstaunen weicht aber ziemlich schnell der Erkenntnis, dass, wie es unser Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble in seiner Funktion als Finanzminister formulierte, manchmal die Fantasie des Steuerzahlers größer ist als die Regelungskraft des Gesetzgebers. Wir sind also als Abgeordnete permanent dazu aufgerufen, diese Fantasie allzu findiger Personen, Konzerne und ihrer beratenden Kanzleien in die richtigen Bahnen zu lenken. In Anbetracht von 194 Staaten auf dieser Erde und permanenter Änderungen in der Steuergesetzgebung ist das eine große Herausforderung, der sich insbesondere wir Finanzpolitiker stellen müssen. In der Debatte sollten wir aber bei aller öffentlichen Empörung genau abschichten, welchen weiteren Handlungsbedarf wir auf nationaler Ebene haben, wo wir auf europäischer Ebene mit unseren Partnern gemeinsam neue Regelungen schaffen müssen und wo wir nur auf internationaler Ebene vorankommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den sogenannten Paradise Papers wird eine Vielzahl von Sachverhalten angesprochen, die wir als nationaler Gesetzgeber zum Teil bereits in diesem Jahr aufgegriffen haben. Wir haben Maßnahmen ergriffen, die sich auf die von der Presse angesprochenen Fälle noch gar nicht auswirken konnten. Wir täten also gut daran, erst einmal die Wirkung dieser Maßnahmen zu begutachten und dann vielleicht nach weiteren Schritten zu suchen. Als Beispiel darf ich das Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz vom 23. Juni dieses Jahres benennen, das Steuerpflichtigen wie auch Kreditinstituten stark erweiterte Mitwirkungspflichten auferlegt, wenn sie Geschäftsbeziehungen zu Drittstaat-Gesellschaften unterhalten, das aber auch deutlich erweiterte Ermittlungsbefugnisse der Finanzverwaltung beinhaltet. Als zweites Beispiel sei genannt, dass wir im Unterschied zu 16 anderen europäischen Mitgliedstaaten die Vierte EU-Geldwäscherichtlinie fristgerecht zum 26. Juni 2017 umgesetzt haben. Mit dieser schaffen wir ein Transparenzregister, dem die wirtschaftlich Berechtigten von Unternehmen und Trusts entnommen werden können und das am 27. Dezember dieses Jahres – erst am 27. Dezember – an den Start geht. Unmittelbar auf die Panama Papers hat die Bundesregierung einen Zehn-Punkte-Plan vorgelegt, der neben nationalen Maßnahmen auch umfassende Initiativen auf internationaler Ebene vorsieht. Deutschlands Hartnäckigkeit ist es dabei zu verdanken, dass sich Panama jetzt an dem automatischen Informationsaustausch beteiligen wird. Auch die EU hat dieses Thema aufgegriffen und eine Liste mit nicht kooperativen Drittstaaten erstellt, um gemeinsam den Druck auf diese Staaten zu erhöhen. Aber auch EU-Länder wie beispielsweise die Niederlande, Malta oder Irland stehen in der Verantwortung, den Abfluss von in Europa generierten Gewinnen zu unterbinden. Große Fortschritte haben wir auch beim automatischen Informationsaustausch gemacht, der hier in Berlin am 29. Oktober 2014 von 51 Staaten vereinbart und erstmals am 30. September 2017, also gerade vor wenigen Wochen, durchgeführt wurde. Mittlerweile sind 102 Staaten und Gebiete dem Abkommen beigetreten. Wir müssen alles Erforderliche unternehmen und gemeinsam mit unseren Partnern Druck auf diejenigen Staaten ausüben, die immer noch der Auffassung sind, Schwarzgeld eine Heimat geben zu müssen. Abschließend sei gesagt, dass wir in der letzten Legislaturperiode vieles erreicht haben. Wir werden uns weiterhin den Herausforderungen stellen. Dabei hilft aber kein Aktionismus, sondern nur ein langer Atem. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit, wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest, und kommen Sie gesund ins neue Jahr. Danke schön. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen herzlichen Dank, lieber Kollege Feiler. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/239, 19/219, 19/233 und 19/227 an den Hauptausschuss vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen, aber auch den Regierungsvertretern, allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, unseren Parlamentsassistenten und -assistentinnen, den Technikern, all denen, die uns unsere Arbeit mit ermöglichen, von ganzem Herzen besinnliche Weihnachten, glückliche Feiertage mit Ihren Liebsten, vielleicht endlich auch einmal Zeit für Sie selber – das wünsche ich mir sehr – und einen guten Rutsch in ein Jahr 2018, in dem der Frieden bei uns im Land und in der Welt eine Chance hat. Die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages berufe ich auf Mittwoch, den 17. Januar 2018, 13 Uhr, ein. Kommen Sie gut nach Hause. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 19.46 Uhr)