Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Am 11. und 12. Juli dieses Jahres wird der NATO-Rat im Format eines Gipfeltreffens in Brüssel tagen. Es geht dabei um die erfolgreiche Anpassung des Bündnisses an die insgesamt in den letzten Jahren veränderte Sicherheitslage. Ausgangspunkt dieser Veränderungen war die völkerrechtswidrige Annexion der Krim im Jahre 2014 durch Russland und die bis heute leider anhaltende Destabilisierung im Osten der Ukraine. Aber auch die Bedrohung durch den Terrorismus, die Auswirkungen von Bürgerkrieg und zerfallenden Staaten machten die richtungsweisende Entscheidung des NATO-Gipfels im Jahre 2014 in Wales notwendig.
Erstens. Die Reaktions- und Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses sollte deutlich erhöht werden. Zweitens. Unsere ost- und mitteleuropäischen Verbündeten sollten rückversichert werden, und zugleich wollen wir zum Dialog mit Russland bereit bleiben. Drittens. Alle Alliierten wollten ihre Verteidigungsanstrengungen erhöhen. Gerade die Frage der Verteidigungsausgaben hat zu intensiver Diskussion – nicht nur hier in Deutschland, aber auch in Deutschland – geführt.
Lassen Sie mich daran erinnern: Der Beschluss, sich dem 2‑Prozent-Ziel bis 2024 anzunähern, erfolgte angesichts einer neuen Qualität der Bedrohung Europas und wurde auch von Deutschland mitgefasst. In Wales herrschte Einigkeit. Dies erfordert einen fairen und notwendigen Beitrag der Europäer im Bündnis. Bei dieser Grundsatzfrage geht es im Übrigen nach meiner festen Überzeugung um nicht mehr und nicht weniger als den zukünftigen Erhalt des transatlantischen Bündnisses.
Meine Damen und Herren, inzwischen können wir auf vier Jahre erfolgreicher Anpassungen zurückblicken. Alle Alliierten haben ihren Verteidigungshaushalt erhöht, zum Teil deutlich. Auch wir haben dies getan. Wir schulden dies auch der Sicherheit unseres Landes und der Einsatzfähigkeit unserer Streitkräfte. Das spiegelt sich auch im Haushalt 2018, den wir in der nächsten Woche in der zweiten und dritten Lesung beraten werden, und im Haushalt 2019 wider.
Die Maßnahmen des Bündnisses zur Rückversicherung und zur Stärkung der Verteidigung und Abschreckungsfähigkeit des Bündnisses sind umgesetzt. Die Bundeswehr hat dazu erheblich beigetragen. Wir sehen daran: Die Allianz kann sich gemeinsam und solidarisch an ein verändertes Sicherheitsumfeld anpassen.
Auf dem anstehenden Gipfel sollen weitere Entscheidungen getroffen werden. Erstens. Die Kommandostruktur der NATO wird mehr Reaktionsfähigkeit erhalten. Es werden zwei neue Hauptquartiere eingerichtet, eines in den USA und eines in Deutschland, in Ulm. Auch darin liegt ein wichtiger deutscher Beitrag. Zweitens. Zugleich soll der Bereitschaftsgrad der bereits aufgestellten Truppen aller Verbündeten erhöht werden. Drittens. Der Gipfel wird eine Trainingsmission zum Aufbau funktionierender Streit- und Sicherheitskräfte für den Irak beschließen und damit einer Bitte der irakischen Regierung entsprechen.
Auch wir haben ein erhebliches Interesse an einer langfristigen Stabilisierung des Irak, auch um Flüchtlingen eine Perspektive für die Rückkehr in den Irak zu bieten. Ich hoffe zudem – da weiß ich mich auch mit dem NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg einig – auf eine Fortführung unseres zweigleisigen Ansatzes gegenüber Russland. Wir müssen unsere Fähigkeiten stärken, aber unser Dialogangebot an Russland bleibt bestehen.
Wir erwarten auch, dass die Zusammenarbeit zwischen NATO und der EU bekräftigt und intensiviert wird, etwa durch Leuchtturmprojekte wie die Verbesserung der grenzüberschreitenden militärischen Mobilität und durch die Tatsache einer strukturierten militärischen Zusammenarbeit. Zuletzt ergänzt doch durch eine europäische Interventionsinitiative, hat Europa sich sehr viel konsolidierter aufgestellt und wird damit langfristig und mittelfristig auch ein besserer und effizienterer Partner im transatlantischen Bündnis sein. Die Anstrengungen, die wir in der europäischen Verteidigung unternommen haben, stärken den europäischen Pfeiler der NATO, und wenn wir Europäer in Sachen Verteidigung besser und stärker werden, dann nützt das eben allen.
Meine Damen und Herren, es ist kein Geheimnis, dass das transatlantische Bündnis derzeit auch Spannungen auszuhalten hat. Wir sind aber überzeugt, dass dieses Bündnis für unsere gemeinsame Sicherheit zentral bleibt;
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denn der Glaubwürdigkeit des Artikels 5 verdanken wir unsere Sicherheit. Diese hängt aber eben immer auch von der Verlässlichkeit der Verbündeten ab und damit auch von unseren eigenen Anstrengungen. Wir sind dies im Übrigen unseren Soldatinnen und Soldaten schuldig. Sie verdienen es, dass sie über die erforderliche Ausrüstung verfügen. Das ist eine Frage des Vertrauens in die politische Führung.
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Es ist auch eine Frage des Vertrauens der Verbündeten in unsere Fähigkeit und Bereitschaft zur Verteidigung. Dieses Vertrauen zu erhalten, liegt in unserem nationalen Interesse. In diesem Sinne will die Bundesregierung bis 2024 die Verteidigungsausgaben auf 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöhen.
Meine Damen und Herren, NATO und EU sind gleichermaßen Grundpfeiler der internationalen Zusammenarbeit. Sie geben uns Halt in einer Welt im Wandel, und sie verpflichten uns zum gemeinsamen partnerschaftlichen Handeln. Sie geben uns Hoffnung, Zuversicht und auch das Versprechen auf eine gute Zukunft. Mit Blick auf den Europäischen Rat heute und morgen will ich noch einmal wiederholen, was ich in diesem Hause schon oft gesagt habe: Deutschland geht es auf Dauer nur gut, wenn es auch Europa gut geht.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben es schon in der Präambel des Grundgesetzes formuliert:
... von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das deutsche Volk ... dieses Grundgesetz gegeben.
Das war der Anfang der Bundesrepublik Deutschland, und in dieser Tradition stehen wir.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der anstehende Europäische Rat umfasst eine breite Tagesordnung: die Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion, Innovation und Digitales, das Thema der Wettbewerbsfähigkeit, der mehrjährige Finanzrahmen von 2021 an, das Thema von Sicherheit und Verteidigung unserer Außenbeziehungen und, last, but not least, der Migration. Diese Themen betreffen im Grunde alle großen globalen Herausforderungen unserer Zeit, und auf alle diese großen globalen Herausforderungen sollte Europa eine möglichst geschlossene Antwort geben.
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Die Abstimmung mit Frankreich ist dafür traditionell wichtig. Ich möchte deshalb allen ganz herzlich danken, die bei der Vorbereitung des deutsch-französischen Ministerrats in der vergangenen Woche mitgeholfen haben, eine gute deutsch-französische Agenda für den heutigen und den morgigen Rat vorzubereiten.
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Ein ganz besonderer Dank gilt dem Bundesfinanzminister, der in vielen Stunden von Verhandlungen mit dazu beigetragen hat.
Es geht nicht zuerst und nicht zuletzt um eine starke und stabile Währungsunion. Sie werden morgen hier im Bundestag über den letzten Teil des Griechenland-Programms abstimmen.
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Dieses Programm hat uns unglaublich gefordert, wie auch andere Rettungsprogramme für Euro-Staaten. Aber insgesamt können wir sagen: Der Euro ist heute stabil, die Programme sind beendet, und die Länder sind wettbewerbsfähiger geworden.
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Das ist ein gutes Stück Arbeit gewesen und ein gutes Stück europäischer Solidarität in unserem eigenen Interesse.
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Aber es bleibt Reformbedarf für die Wirtschafts- und Währungsunion. Deshalb haben wir mit Frankreich gemeinsam verabredet, in drei Punkten weiterzuarbeiten.
Erstens. Wir müssen den weiteren Abbau der Risiken im Bankensektor und die Vollendung der Bankenunion voranbringen. Danach wollen wir ein gemeinsames Sicherheitsnetz – ich betone: danach – zur Abwicklung von Banken entwickeln.
Zweitens wollen wir – so haben wir es auch im Koalitionsvertrag verabredet – den Europäischen Stabilitätsmechanismus zu einer Art Europäischen Währungsfonds weiterentwickeln.
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Es geht um selbstständige Überwachung von Programmen, darum, die wirtschaftliche Lage in den Mitgliedstaaten beurteilen zu können, um damit Krisen frühzeitiger erkennen zu können. In der Folge werden wir eine größere Unabhängigkeit vom Internationalen Währungsfonds haben. Die Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages – so haben wir es im Koalitionsvertrag vereinbart, und so wird es auch bleiben – bleiben davon unberührt.
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Drittens – und das ist vielleicht das Schwierigste –: die Wettbewerbsfähigkeit der Euro-Länder. Denn wenn die Konvergenz nicht gegeben ist, wenn die unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit zu groß ist, dann ist es schwierig, die Stabilität einer Währung auf Dauer zu erhalten. Deshalb haben wir uns verabredet, im Rahmen der Europäischen Union einen zusätzlichen Euro-Raum-Haushalt – wir haben das im Koalitionsvertrag einen „Investivhaushalt“ genannt – zu entwickeln: ab 2021 parallel zu der mittelfristigen finanziellen Vorausschau, zu der nächsten Etappe, um zusätzlich für die Länder, die eine Währung teilen, die Konvergenz und die Stabilität zu erhöhen. Dabei muss die Leistungsfähigkeit der Besten der Maßstab sein und nicht der Durchschnitt aller.
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Meine Damen und Herren, mit diesen Vereinbarungen setzen wir nicht mehr und nicht weniger um als wichtige Eckpunkte des Koalitionsvertrages. Dabei gilt natürlich: Jeder muss sich an die vereinbarten Regeln halten; jeder Mitgliedstaat ist für seinen Haushalt selbst verantwortlich; Haftung und Kontrolle gehören zusammen; es wird keine Schuldenunion geben;
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Stabilität und Wachstum bedingen einander. Deshalb, meine Damen und Herren, werden wir am Freitag, also morgen, auf dem Europäischen Rat in einem Format der 19 Mitgliedstaaten des Euro-Raums plus derer, die sonst noch an dieser Sitzung teilnehmen wollen, über die deutsch-französischen Vorschläge debattieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch jenseits der Wirtschafts- und Währungsunion brauchen wir strategische Konzepte für die Zukunft Europas. Da geht es um die Frage unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Deutschland und Frankreich haben vorgeschlagen, gerade im Bereich der Innovationen sehr viel mehr zu tun. Ich kann das heute hier nicht ausführen, wir alle wissen aber: Die Digitalisierung, die künstliche Intelligenz sind Herausforderungen, bei denen Europa nicht da steht, wo Europa stehen sollte. Wir werden hier als einzelne Mitgliedstaaten nicht aufholen, sondern wir müssen gemeinsam handeln, um strategisch wieder innovationsfähig zu werden.
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Wir müssen in der Außenpolitik kohärenter, schlagkräftiger werden. Deutschland wird jetzt auch seine Möglichkeit, als nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat zu arbeiten, nutzen, um die europäische Koordinierung in internationalen Fragen voranzutreiben, zuallererst natürlich mit Frankreich. Aus aktuellem Anlass werden wir auch über Handelsfragen sprechen müssen. Die Europäische Union hat als Antwort auf die von uns nicht akzeptierten Zölle auf Stahl und Aluminium ihrerseits Zölle verhängt. Wir halten diese Zölle, die von den Vereinigten Staaten verhängt wurden, für rechtswidrig; aber wir wollen mit den Vereinigten Staaten von Amerika ins Gespräch gehen – in welcher Weise wir ins Gespräch gehen, müssen wir miteinander besprechen –, um weitere Zölle und damit weitere Schritte in Richtung eines Handelskrieges zu vermeiden. Ich glaube, das ist im multilateralen, im gemeinsamen Interesse der Vereinigten Staaten von Amerika, Europas und vieler anderer Länder auf der Welt.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden natürlich auch – deshalb ist vielleicht die heutige Regierungserklärung besonders wichtig – über das Thema der Migration beraten,
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und zwar heute Abend. Wir sind – das will ich ganz offen sagen – noch nicht da, wo wir sein wollen.
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Das Gemeinsame Europäische Asylsystem, wie wir es eigentlich jetzt im Juni verabschieden wollten, werden wir auf dem Rat zu achtundzwanzigst nicht verabschieden können. Von sieben Rechtsakten, die dazu notwendig wären, sind fünf mehr oder weniger geeint; aber bei zwei wichtigen gibt es noch politischen Beratungsbedarf. Das eine ist die Asylverfahrensrichtlinie. Das hört sich so einfach an; aber da geht es um nicht mehr und nicht weniger als um gleiche Standards bei der Gewährung von Asyl in allen europäischen Mitgliedstaaten. Das Zweite ist die sogenannte Dublin‑IV-Verordnung, also die Weiterentwicklung der heute geltenden Dublin‑III-Verordnung, die auch die solidarische Verteilung von Migranten und Flüchtlingen zwischen den europäischen Mitgliedstaaten beinhaltet.
Jetzt sagen viele: Die europäische Lösung kommt nicht; da warten wir schon drei Jahre drauf. – Das möchte ich noch einmal zum Anlass nehmen, zu sagen, dass das natürlich so nicht stimmt. Alle in Europa sind sich einig:
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Es geht darum, illegale Migration zu reduzieren, Schleppern und Schleusern das Handwerk zu legen und, wenn wir über einen Austausch zwischen den Herkunftsländern und den europäischen Ländern sprechen, zwischen Staaten legale Vereinbarungen zu treffen.
Wir haben im Übrigen auf dem europäischen Kontinent damit gute Erfahrungen gemacht, als wir die Länder des westlichen Balkans zu sicheren Herkunftsländern erklärt haben, als wir damit die Rückführung von Menschen ermöglicht haben, die kein Anrecht auf Asyl hatten,
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und im Gegenzug Arbeitserlaubnisse für in Deutschland vorhandene Arbeitsplätze möglich gemacht haben. Dieses System funktioniert im großen Ganzen sehr gut. Das ist schon eine der Vereinbarungen, die wir hinbekommen haben.
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Wir hatten im Jahre 2014 etwa 200 000 ankommende Flüchtlinge in Deutschland, 2015 bis August 400 000. Wir haben dann bis zum Jahresende eine Prognose von 800 000 gestellt. Es waren zum Schluss 890 000.
Ich will noch einmal darauf verweisen, dass der 4. September 2015, um den sich ja heute viele Diskussionen ranken, mitnichten eine unilaterale Aktion war. Es waren schon 400 000 Flüchtlinge gekommen. Es waren sehr viele in Ungarn. Der ungarische Ministerpräsident hat den österreichischen Bundeskanzler gebeten, zu helfen. Der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann hat mich angerufen. Die Außenministerien haben sich koordiniert, weil gerade ein Außenministerrat stattfand. Wir haben gesagt: In einer Ausnahmesituation werden wir helfen. – Das haben wir getan. Das halte ich im Rückblick auch nach wie vor für richtig, meine Damen und Herren.
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In dieser Ausnahmesituation hat Deutschland für eine Zeit auf die Rücküberstellung im Rahmen des Dublin-Verfahrens verzichtet.
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Das ist das sogenannte Selbsteintrittsrecht. Es ist vor dem Europäischen Gerichtshof beklagt worden.
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Es gab im Sommer 2017 ein Urteil, dass das politisch möglich und damit rechtlich nicht fragwürdig war. Das wurde ganz eindeutig vom Europäischen Gerichtshof so festgestellt. Es gab dann im Zusammenhang mit der sehr hohen Zahl von ankommenden Flüchtlingen die Frage der Rückweisung an der deutschen Grenze. Der Bundesinnenminister hat damals gesagt: Nein. In einer solchen Ausnahmesituation von ungefähr 8 000 bis 9 000 ankommenden Flüchtlingen jeden Tag sehen selbst die EU-Verträge vor, dass man zur Herstellung von Recht und Ordnung die Möglichkeit alleiniger nationaler Maßnahmen hat. – Davon haben wir nicht Gebrauch gemacht, meine Damen und Herren.
Aber diese Ausnahmesituation existiert heute nicht mehr. Heute haben wir eine völlig andere Situation. Die Zahl der ankommenden Flüchtlinge ist deutlich geringer. Deshalb gilt wieder genau die Rechtssituation wie vor dem September 2015,
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nämlich das europäische Recht mit Vorrang vor dem deutschen Recht – mit der Ausnahme, dass wir etwas haben, was wir vor 2015 nicht hatten, nämlich relativ lang andauernde Kontrollen an einigen Punkten an der deutsch-österreichischen Grenze.
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Meine Damen und Herren, woran zeigt sich, dass sich die Verhältnisse geändert haben? Der Rückgang der Seeanlandungen in der Ägäis beträgt seit 2015 97 Prozent, der Rückgang der Seeanlandungen im zentralen Mittelmeer aktuell im Vergleich zum Zeitraum des Vorjahres 77 Prozent. Dies unterstreicht zweierlei – das sind europäische Anstrengungen –: zum Ersten die Wirksamkeit des EU-Türkei-Abkommens, das heute vielfach als ein Modellabkommen angesehen wird, im Übrigen auch eine NATO-Aktivität in der Ägäis, und zum Zweiten, dass wir mit Blick auf Libyen die europäische Mission Sophia mit verschiedenen Schritten gestaltet haben.
Der erste Schritt war, Menschen in Not zu helfen. Der zweite Schritt war, zu sagen: Wir bilden die libysche Küstenwache aus. – Diese libysche Küstenwache ist heute in einem Zustand, dass sie selber Menschen in libyschen Hoheitsgewässern retten kann. Deshalb will ich an dieser Stelle auch sagen: Es gibt eine Verpflichtung, dass man die libysche Küstenwache ihre Arbeit machen lässt, und es gibt kein Recht, anstelle der libyschen Küstenwache einfach Dinge zu tun. Libyen hat auch ein Recht auf den Schutz seiner Küsten.
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Ich möchte übrigens Italien und Malta ganz besonders für die Ausbildung der libyschen Küstenwache danken.
Wir haben die Grenzschutzagentur Frontex gegründet. Sie ist noch nicht ausreichend ausgestattet, aber sie arbeitet. Sie muss zu einer wirklichen europäischen Grenzpolizei, die dann noch mehr Vollmachten und Möglichkeiten hat, weiterentwickelt werden.
Die Asylzahlen in Deutschland sind zurückgegangen – wir können damit noch nicht zufrieden sein; das will ich ausdrücklich sagen –, aber sie sind auch in diesem Jahr bis Ende Mai geringer als im vergangenen Jahr. Um deutlich zu machen: „Wir wollen, dass sich 2015 nicht wiederholt“, haben wir im Koalitionsvertrag eine Vielzahl von Maßnahmen und auch eine Richtgröße vereinbart, die angestrebt wird, um auch das Thema der Integrationsfähigkeit im Auge zu haben.
Wir haben inzwischen den Familiennachzug für subsidiär Geschützte geregelt; es gibt keinen Rechtsanspruch mehr, sondern eine bestimmte Zahl pro Monat. Wir haben vereinbart, dass wir zur Erhöhung der Effizienz – denn wir brauchen natürlich nationale Maßnahmen – AnKER-Zentren bilden. Ich möchte wirklich an alle Ministerpräsidenten und alle Länder appellieren, diesen Teil des Koalitionsvertrages jetzt auch schnellstmöglich umzusetzen; denn das ist von der Koalition mit den Bundesländern gemeinsam verhandelt worden, meine Damen und Herren.
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Ich betone ausdrücklich: Der Bundesinnenminister hat, nachdem er sich in seinem neuen Amt die Situation angeschaut hat, richtigerweise die Punkte zusammengestellt, bei denen weiterer Handlungsbedarf besteht. Wenn ein so schreckliches, erschütterndes Ereignis wie der Mord an Susanna passiert und sich hinterher ergibt,
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dass Verwaltungsgerichtsverfahren über lange Zeit nicht stattgefunden haben, dann können wir uns mit einem solchen Zustand nicht abfinden – genauso wenig wie mit dem Zustand, dass sich Leibwächter von bin Laden über Jahre hier in Deutschland aufhalten, meine Damen und Herren.
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Deshalb besteht Handlungsbedarf. Dabei geht es immer um Ordnung, Steuerung, wirksam, nachhaltig.
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Es geht um unsere innere Sicherheit, und es geht um die innere Sicherheit der gesamten Europäischen Union. Dazu sind nationale Maßnahmen und auch europäische Maßnahmen notwendig.
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Meine Damen und Herren, es ist so wichtig, die AnKER-Zentren zu gründen, weil wir gerade bei nicht berechtigten Schutzsuchenden in dem Moment der Verteilung in die Kommune natürlich eine Situation erleben, in der es immer schwerer wird, die Rückführung zu gestalten.
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Deshalb müssen wir besser werden, und zwar in drei Dimensionen. Das hat auch am letzten Sonntag beim Treffen der Staats- und Regierungschefs aus 16 Ländern eine Rolle gespielt. Alle haben gesagt: Als Erstes und Wichtigstes geht es um die externe Dimension. Es geht um die Frage, wie wir Schleusern und Schleppern das Handwerk legen können. Dabei muss folgendes Prinzip gelten: Wenn wir möchten, dass Menschen aus Afrika, die in den meisten Fällen keine Asylberechtigung haben, nicht mehr unter Opferung bzw. Gefährdung des eigenen Lebens, unter Zahlung von viel Geld, unter Unterstützung von kriminellen Strukturen nach Europa kommen,
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dann müssen wir auch mit den afrikanischen Staaten darüber sprechen, wie wir Rückführungen gestalten
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und vielleicht auch Menschen davon abhalten können, erst durch die Wüste zu gehen und dann ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Wir müssen mit den Menschen sprechen. Wir dürfen nicht einfach nur über die afrikanischen Staaten reden, sondern wir müssen versuchen – so wie mit der Türkei –, mit den afrikanischen Staaten Abmachungen zu treffen, die auch zu ihrem Wohle sind, zum Bespiel mit Blick auf legale Studienplätze und Arbeitsmöglichkeiten. Das geht nicht über die Köpfe Afrikas hinweg, sonst wird das keinen Erfolg haben, meine Damen und Herren.
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Was immer wir tun, wir werden es in Zusammenarbeit mit dem UNHCR und mit der Internationalen Organisation für Migration tun. Meine Damen und Herren, wir werden den Grenzschutz stärken; darüber habe ich schon gesprochen. Das ist die zweite Dimension.
Die dritte Dimension ist: Wir werden natürlich auch die sogenannte Sekundärmigration stärken – –
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besser ordnen und steuern müssen. – Mein Gott! Echt mal!
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Denn es müssen zwei Dinge gelten. Das Erste ist: Diejenigen, die in Europa Schutz suchen, können sich nicht das Land innerhalb der Europäischen Union aussuchen, in dem sie einen Asylantrag stellen, meine Damen und Herren.
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So weit sind wir uns ja einig.
Zweitens können wir auch nicht die Länder, in denen alle Ankünfte stattfinden, völlig alleinelassen. Das ist doch die Krux der Dublin‑III-Verordnung.
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Deshalb brauchen wir eine Fortentwicklung. Deshalb müssen wir, solange das mit 28 Mitgliedstaaten nicht geht, natürlich überlegen, wie wir in einer Koalition von willigen Ländern bessere Regelungen treffen können. Meine Maxime dabei heißt aber: nicht unilateral, nicht unabgestimmt und nicht zulasten Dritter, sondern im Gespräch mit Partnern. Genau das ist das, was wir in den letzten Tagen gemacht haben und worüber ich dann nach dem Rat auch berichten kann.
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Das ist sicherlich keine perfekte Lösung, aber ein Anfang für eine Steuerung und Ordnung auch der Sekundärmigration, an der man auch danach wird weiterarbeiten müssen.
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So haben wir doch immer gearbeitet.
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Das EU-Türkei-Abkommen ist doch auch keine unilaterale Maßnahme, sondern es ist eine abgestimmte Maßnahme. Ich hoffe, dass wir jetzt auf dem Europäischen Rat die zweite Tranche für die weiteren 3 Milliarden Euro zusammenbekommen, damit wir dann wirklich sagen können: Wir helfen der Türkei bei der Bewältigung der Herausforderung von über 3 Millionen syrischen Flüchtlingen. Bei aller Kritik an der Türkei ist das eine großartige Leistung, die die Türkei vollbringt, meine Damen und Herren und liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Genauso hat Italien ein Recht darauf, dass der EU Trust Fund für Afrika besser bestückt wird. Auch hier fehlt Geld, und auch das muss verbessert werden.
Es ist also notwendig, hier weiterzuarbeiten. Ich werde das in den nächsten Stunden auch tun und dann an entscheidender Stelle natürlich auch darüber berichten, zuvorderst in der Koalition.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa hat viele Herausforderungen, aber die der Migration könnte zu einer Schicksalsfrage für die Europäische Union werden.
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Entweder wir bewältigen das, und zwar so, dass man auch in Afrika und anderswo daran glaubt, dass uns Werte leiten und dass wir auf Multilateralismus und nicht auf Unilateralismus setzen,
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oder aber niemand wird mehr an unser Wertesystem glauben, das uns so stark gemacht hat. Und deshalb geht es um vieles.
Herzlichen Dank.
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Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Vorsitzende der AfD-Fraktion, Dr. Alexander Gauland.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frau Bundeskanzlerin hat soeben wieder einmal eine Welt- und Werteordnung beschworen, die man ja vielleicht noch herbeisehnen, die Deutschland aber nicht mehr herbeiführen kann.
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Ja, Frau Bundeskanzlerin, die Welt war schon übersichtlicher: im Osten die Bösen, im Westen die Guten. Doch dieses Zeitalter der Einfachheit ist endgültig vorbei.
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Der amerikanische Präsident folgt seinen Interessen – seinen handelspolitischen in Kanada, seinen strategischen in Singapur. Wir werden uns also daran gewöhnen müssen, dass nicht ein gemeinsames Wertefundament, sondern Interessenübereinstimmung den Ausschlag für Zusammenarbeit oder eben Gegnerschaft gibt. Das bedeutet, dass die gute alte Staatsräson der Maßstab für Erfolg oder Misserfolg sein muss – und nicht, ob die innere Verfasstheit eines Landes unseren Werten entspricht. Wenn es Trump gelingt, die koreanische Halbinsel zu denuklearisieren, war es richtig, was er begonnen hat – gleichgültig, ob sich das nordkoreanische Regime nun liberalisiert oder nicht.
Wir sind, meine Damen und Herren, zurück in einer multipolaren Weltordnung, in der es keinen außenpolitischen Mehrwert verspricht, wie zu Zeiten der Heiligen Allianz die Legitimität, also diesmal die demokratische oder menschenrechtliche, zum Maßstab unseres Handelns zu machen.
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Solche Ansätze waren immer zum Scheitern verurteilt: die Präsident Wilsons nach 1918 ebenso wie die der frühen Bundesrepublik in den 50er- und 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts.
Ja, Frau Bundeskanzlerin, die NATO und die transatlantische Partnerschaft bleiben Eckpunkte deutscher Außenpolitik, aber sie müssen ergänzt werden: durch eine kluge und realistische Einbindung derjenigen Mitspieler, die von einem anderen Wertefundament aus, ihrer Staatsräson folgend, Außenpolitik formulieren. „Realpolitik“ nannte man das früher. Auch wenn es uns, den gern die Welt verbessernden Deutschen, schwerfällt: Wir werden ihr wieder folgen müssen.
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Und, meine Damen und Herren, das gilt cum grano salis auch für Europa. Natürlich verbindet uns mit unseren europäischen Nachbarn ein gemeinsames Wertefundament. Doch das ersetzt nicht die nationalen Interessen. Viele Länder sind der Ansicht, dass man seine Haustür eben doch abschließen und nicht jedermann hereinlassen sollte.
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Wenn die Frau Bundeskanzlerin von einer europäischen Lösung des Flüchtlingsproblems träumt, dann weiß sie natürlich, dass ihr Traum keinen Niederschlag im Handeln, sagen wir, Italiens, Frankreichs oder Dänemarks und erst recht nicht Polens oder Ungarns findet.
Lassen Sie uns doch einmal eine europäische Lösung andenken, Frau Bundeskanzlerin. Es gibt drei Grundtatsachen der Migrationskrise: Diejenigen, die es zu uns schaffen, sind die Stärksten, nicht die Schwächsten. Die Migration schadet uns deutlich mehr, als sie uns nutzt.
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Mit einem in Afrika ausgegebenen Euro lässt sich 20 Mal mehr bewirken als mit einem hier ausgegebenen Euro.
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Schließen wir also die Grenzen, steigen wir aus allen Resettlement-Programmen aus, und helfen wir denen, die tatsächlich Hilfe brauchen, an Ort und Stelle!
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Dafür könnten Sie einen europäischen Hilfsfonds auflegen. Wir haben nicht das Geringste dagegen, Menschen in Not zu helfen. Aber hören Sie auf, Probleme ohne Ende in unser Land zu importieren. Dagegen sind wir.
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Als Sie, Frau Merkel, 2015 dem damaligen Innenminister und der Bundespolizei die durchaus mögliche Grenzschließung verweigerten, handelten Sie auch nicht europäisch. Ganz im Gegenteil: Sie bevorzugten den nationalen Alleingang, den Ihnen die übrigen Europäer übelnahmen, weshalb diese auch keine Bereitschaft zeigten, die Merkel-Flüchtlinge nach Quoten bei sich aufzunehmen.
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Frau Bundeskanzlerin, Sie rufen Europa zu Hilfe, wie es Ihnen passt. Doch die Europäer lassen sich nicht kujonieren. Und sie sind auch nicht bereit, Ihre Buntheit, die Morde, Messerattacken und sexuelle Belästigung einschließt, in ihre Länder zu integrieren.
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Im Vergleich zu Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, nimmt der Innenminister wenigstens im Ansatz deutsche Interessen wahr –
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spät zwar, aber hoffentlich nicht zu spät. Es wäre natürlich die bizarre Schlusspointe Ihrer unseligen Amtszeit, wenn Sie den Innenminister entließen, weil er an den Landesgrenzen das geltende Recht wieder durchsetzt.
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Ich hoffe, wir werden das nicht erleben.
Ich bedanke mich.
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Nächste Rednerin ist die Vorsitzende der SPD-Fraktion, Andrea Nahles.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die beste Form der Realpolitik für Deutschland ist die europäische Zusammenarbeit.
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Die europäische Zusammenarbeit ist die Grundvoraussetzung für Frieden und Wohlstand in diesem Land. Der gemeinsame europäische Markt, die gemeinsame Währung, Freizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, gemeinsame Produktstandards, gemeinsame Regeln für den Binnenmarkt, eine gemeinsame Außenhandelspolitik, eine europäische Bildungs- und Forschungsgemeinschaft: Auf all das sind wir absolut angewiesen.
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Jede Investition in die europäische Zusammenarbeit ist in unserem absolut ureigenen Interesse. Deutschland profitiert wie kein anderes Land von der Existenz der Europäischen Union. Deswegen sage ich: Europäische Zusammenarbeit ist nichts Großherziges, sondern etwas Großartiges für unser Land.
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Lange Zeit war das eine gemeinsame Sichtweise: hier in diesem Hohen Haus und auch im Kreis der Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
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Das ist heute anders. Rechtspopulisten in Parlamenten und Regierungen verfolgen eine brandgefährliche Politik. Nach „America first“, „Hungary first“ und „Austria first“ hört man jetzt schon: „Deutschland zuerst“. Einfaches Muster: die eigenen Interessen möglichst rücksichtslos und kompromisslos vertreten, um Punkte zu machen. Dieser Ansatz ist schon historisch falsch gewesen, und er ist jetzt umso mehr falsch, weil wir eigentlich hätten lernen müssen aus dem, was hier in Deutschland passiert ist und von Deutschland ausgegangen ist.
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Wer rücksichtslos und kompromisslos handelt, schürt Konflikte und verschärft die Probleme. Man kann doch das Muster erkennen. Es zeigt sich jetzt in den USA bei dem dort losgetretenen Handelsstreit: Mit seiner Zollpolitik ruft Trump Reaktionen hervor, die seinen eigenen Bürgerinnen und Bürgern schaden. Dann stellt er das fest, und dann wird die Reaktion noch weiter verschärft, und er heizt den Konflikt weiter an. Verbesserungen für die Menschen: Fehlanzeige.
Die Folgen einer solchen Politik sind nur Konfrontation und Zerstörung. Deswegen fordere ich uns alle hier in diesem Hause auf, uns dieser Entwicklung überall auf der Welt entgegenzustellen. Das muss die Politik dieser Bundesregierung und dieses Hohen Hauses sein:
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nicht klein beigeben vor den Europakritikern, sondern groß ausholen.
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Wir werden die europafeindlichen Kräfte nicht zurückdrängen, indem wir uns zurückziehen,
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sondern indem wir die Vorteile Europas offensiv ausspielen.
Darum geht es im Übrigen auch beim Europäischen Rat, und darum ist es auch in den letzten Wochen gegangen, als in mühevollen Verhandlungen, auch zwischen Bruno Le Maire und Olaf Scholz, mit der Meseberger Erklärung eine Grundlage geschaffen wurde.
Die Vorteile Europas offensiv ausspielen: Darum geht es jetzt, wenn wir sagen, dass gemeinsame Regeln verhindern, dass Staaten sich bis zur Handlungsunfähigkeit verschulden müssen, um sogenannte systemrelevante Banken zu retten. Das ist doch etwas. Kontrolle und Steuerung im Finanzsektor gehen doch nur europäisch. Anders geht es doch gar nicht.
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Darum geht es auch, wenn wir die Finanzkraft der Euro-Staaten nutzen, um uns gegenseitig in Krisenzeiten Sicherheit zu geben, wie wir es zum Beispiel im Zusammenhang mit der europäischen Rückversicherung für die nationale Arbeitslosenversicherung überlegen. Kontrolle und Steuerung gehen auch hier nur europäisch.
Die Vorteile Europas offensiv ausspielen: Darum geht es auch bei dem Investitionshaushalt für die europäische Infrastruktur. Ein Beispiel: Deutschland hat 57 Grenzübergänge im Schienenverkehr. Davon sind überhaupt nur 25 elektrifiziert – drei in Richtung Osteuropa – und damit für den Güterverkehr geeignet. An allen anderen Übergängen müsste man eine Diesellok vorspannen, um überhaupt die Grenze überqueren zu können. Das ist doch ein Skandal im Europa 2018.
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Das ist meiner Meinung nach die Zukunftsaufgabe, die wir an den deutschen Grenzen wirklich regeln müssen.
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Sich im Wettbewerb mit China und den USA richtig aufstellen bzw. im Wettbewerb mit dieser ganzen Weltregion: Auch das geht eben nur europäisch.
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So sieht es im Übrigen auch in der Flüchtlingspolitik aus. Es gibt nicht die nationale oder die europäische Lösung in der Flüchtlingspolitik. Es gibt Aufgaben, die wir national regeln müssen, zum Beispiel das BAMF zu reformieren,
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AnKER-Zentren oder auch mal das Einwanderungsgesetz auf den Weg zu bringen. Das sind Sachen, die wir national regeln müssen.
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Es gibt Fragen, die wir national entscheiden können, die wir aber auch mit unseren europäischen Partnern absprechen und koordinieren müssen, wie zum Beispiel die Rückführung woanders registrierter Flüchtlinge. Und es gibt Fragen, die wir nur gemeinsam zufriedenstellend regeln können, als gesamteuropäische Lösung, wie zum Beispiel die Sicherung der Außengrenzen, die Reform von Dublin und die solidarische Aufgabenteilung in Europa.
Die Regierungen und das Europäische Parlament – Frau Merkel hat darauf hingewiesen – sind im Übrigen schon längst dabei, diese Fragen zu besprechen, nicht erst seit dem Streit zwischen den Unionsparteien. Fünf von sieben europäischen Vorhaben für eine gemeinsame Flüchtlingspolitik haben das Europäische Parlament nämlich bereits erreicht. Nichts hat sich an der Sachlage in der Flüchtlingspolitik seit Unterzeichnung des Koalitionsvertrages am 12. März dieses Jahres verändert. Wir haben detaillierte Vereinbarungen im Koalitionsvertrag getroffen, um Steuerung und Kontrolle in der Flüchtlingspolitik zu sichern.
Wir können sowohl national als auch europäisch handeln. Das muss jetzt auch geschehen. „Streit einstellen, handeln!“ ist mein Appell.
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Schließlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die SPD begrüßt, dass auf dem NATO-Gipfel im Juli eine gemeinsame Erklärung zur NATO-EU-Zusammenarbeit verabschiedet werden soll. Sich gegenseitig Sicherheit verschaffen durch ein solidarisches Unterstützungsabkommen: Dieses Prinzip finde ich mustergültig. Die Bundesregierung hat sich vorgenommen – das bewegt sich auch auf der Grundlage des Koalitionsvertrags –, die Verteidigungsausgaben hierfür bis zum Jahr 2024 auf 1,5 Prozent unserer Wirtschaftskraft anzuheben. Das ist ein wichtiges Zeichen auch in Richtung NATO. Jetzt müssen aber auch die eigenen Hausaufgaben gemacht werden. Die gravierenden Managementprobleme der Bundeswehr müssen dringend behoben werden, auch um unseren Beitrag für die europäische Sicherheit überhaupt leisten zu können; das ist nämlich der entscheidende Punkt.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau Bundeskanzlerin – ich hätte auch gerne den Bundesinnenminister begrüßt –,
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die Bundesrepublik Deutschland hat international eine herausragende Verantwortung als viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, als größtes Mitgliedsland in Europa, als Mitglied der NATO und in den kommenden zwei Jahren auch als Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Um uns herum agieren zunehmend autoritäre Herrscher, die ihre Macht auf Jahre und Jahrzehnte festlegen und versuchen, die europäische und die internationale Politik zu ihren Gunsten zu verändern. Dass wir in dieser Situation nur 100 Tage nach Amtsantritt der neuen Bundesregierung in einer handfesten Regierungskrise stecken, darf nicht sein.
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Die SPD unterstützt daher Sie, Frau Merkel, dabei, auf der europäischen Ebene an Lösungen für die dort zu lösenden Fragen zu arbeiten. Wir unterstützen übrigens auch den Innenminister, national die Vorhaben umzusetzen, die wir gemeinsam verabredet haben.
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Wir sind auch immer bereit, neue Fragen zu klären, wenn wir sie denn kennen.
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Die SPD handelt aus der tiefen Überzeugung, dass Europa eine stabile und proeuropäische Bundesregierung braucht. Und wir handeln aus der tiefen Überzeugung, dass Deutschland umgekehrt eine handlungsfähige und solidarische Europäische Union braucht.
({20})
Meine Damen und Herren, werden Sie Ihrer nationalen und internationalen Verantwortung gerecht, bevor es zu spät ist. Das ist an alle gerichtet, aber besonders an die Unionsparteien.
Vielen Dank.
({21})
Nächster Redner ist der Vorsitzende der FDP-Fraktion, Christian Lindner.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Blick in die Welt ist in diesen Tagen verstörend: die Entwicklung in der Türkei, die Handelsauseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten, der Handelskrieg zwischen den USA und China und Weiteres mehr. In dieser Lage wäre eine stabile deutsche Regierung ein Wert an sich.
({0})
Selten aber habe ich gehört, dass die Partei- und Fraktionsvorsitzende einer Koalitionspartei, wie es die SPD ist, hier vor der deutschen Öffentlichkeit darlegt, dass in wesentlichen Fragen der Regierungspolitik der Koalitionspartner nicht eingebunden ist. Sie haben hier gesagt, dass Sie beispielsweise den Masterplan nicht kennen, Frau Nahles. Ich kann Ihnen aus der Geschichte der FDP sagen: Auch wir hatten Phasen, wo wir in zentrale Vorhaben des Regierungshandelns nicht voll eingebunden waren. Wie das endet, kann ich bezeugen.
({1})
Meine Damen und Herren, Migration ist ein exklusives Thema, ein Thema, das Gesellschaften sprengen kann, ein Thema, das Regierungen sprengen kann, und ein Thema – das lernen wir dieser Tage –, das auch Parteien sprengen kann. Frau Bundeskanzlerin, mit den technischen Formulierungen, die Sie hier heute in dieser Frage gewählt haben, ist es Ihnen in den letzten Jahren nicht gelungen, unsere Gesellschaft zu beruhigen, und ganz offensichtlich ist es Ihnen in den letzten Wochen auch nicht gelungen, Ihre eigene Parteienfamilie zu beruhigen.
({2})
Sie haben gesprochen über den Bin-Laden-Leibwächter. Der Fall ist doch seit Jahren bekannt. Warum haben Sie nicht persönlich die diplomatischen Zusicherungen eingeholt, dass dieser Mann abgeschoben werden kann?
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Sie haben nicht gesprochen über diejenigen, die bereits hier sind, und ihre Integration.
Was Sie getan haben: Sie haben noch einmal den nicht bekannten Masterplan erwähnt. Deutschland wartet auf diesen Masterplan – auf 62 Maßnahmen warten wir –, weil eine einzige bekannte Maßnahme umstritten ist. Und dann stellen Sie sich hier vor das Parlament und fordern die Länder auf, bei den AnKER-Zentren endlich zu kooperieren. Ich darf Ihnen aus unseren Regierungsbeteiligungen in den Ländern versichern: Die wären bereit zur Kooperation, wenn sie denn wüssten, was der Innenminister will.
({4})
Deshalb: Sorgen Sie doch dafür, dass die Regierung in dieser Frage eine Position vertritt und Länder
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wie beispielsweise Niedersachsen mit Herrn Pistorius oder Nordrhein-Westfalen mit unserem Parteifreund Stamp einbindet. Berufen Sie einen nationalen Migrationsgipfel ein, um über diese Managementfragen zu sprechen.
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Wir wollen, dass das Thema Migration, das uns noch lange beschäftigen wird, nicht alleine die politische Tagesordnung bestimmt. Digitalisierung, Bildung, die Sicherung unseres Wohlstands und anderes mehr, das sind wichtige Fragen, die nicht auf Dauer von dringlichen Fragen verdrängt werden dürfen. Deshalb wünschen wir uns Handlungsfähigkeit der Regierung in diesem Feld.
({7})
Die Migration ist – Frau Bundeskanzlerin, Sie haben das gesagt; Frau Kollegin Nahles auch – eine europäische Herausforderung. Die Antwort auf das zu lösende Migrationsproblem beginnt mit dem Wort „Europa“; da stimmen wir vollkommen überein. Wir wollen einen Kontinent ohne Binnengrenzen. Wir wollen einen Kontinent ohne Schlagbäume.
({8})
Damit aber Europa ein Raum der Freiheit ohne Grenzen bleibt, brauchen wir endlich Kontrolle an der Außengrenze und eine Ordnung im Inneren.
({9})
Dafür machen wir uns stark.
Das alles ist nicht einfach. In den vergangenen Jahren – nicht nur in den vergangenen zweieinhalb Jahren seit dem Flüchtlingssommer 2015; das Problem besteht ja länger – hat es keine Durchbrüche gegeben. Das ist auch nicht leicht. Die Mittelmeeranrainerstaaten wollen nicht alleingelassen werden, und es gibt auch Mitglieder der Europäischen Union, die die Vorteile der Freizügigkeit nutzen wollen, aber selbst keine Beiträge leisten wollen, wenn es darum geht, die Flüchtlingsfrage zu lösen.
Deutschland hat die mangelnde Funktionsfähigkeit von Dublin III kompensiert. Dublin III funktioniert nicht, und Deutschland hat deshalb seit 2015 die Hauptlast getragen. Das hat unser Land, Frau Bundeskanzlerin, an alle seine Grenzen geführt. Das muss enden. Deshalb kann diese Politik jetzt nicht fortgesetzt werden; deshalb muss es jetzt eine europäische Lösung geben.
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Nötig, wünschenswert und sinnvoll ist eine europäische Lösung; aber nötigenfalls muss übergangsweise altes Recht wieder angewendet werden, um zu signalisieren, dass Deutschland die Sonderrolle der vergangenen Jahre nicht auf Dauer fortsetzen kann.
({11})
Das ist das, was wir uns wünschen. Frau Merkel, Sie haben geschlossenes Auftreten der EU gefordert. Wichtig wäre, dass zunächst einmal Deutschland in der EU geschlossen auftritt. Denn richtig wäre die Position, eine europäische Lösung anzubieten und anzukündigen, notfalls altes Recht wieder anzuwenden, solange und soweit es sie nicht gibt.
({12})
Aber statt dieser Verhandlungsposition erleben wir Drohungen, Ultimaten, Endzeitstimmung. Es wird davon gesprochen, es gebe ein Ende des geordneten Multilateralismus, und man weiß nicht, ob das bei Herrn Söder eine Beschreibung oder eine Forderung ist. Damit, mit dieser Uneinigkeit der Regierung, wird Deutschlands Verhandlungsposition in Europa geschwächt. Oder, um es anders zu sagen: Die CSU hat Frau Merkel und Deutschland in Europa erpressbar gemacht.
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Meine Prognose ist: Es wird jetzt keine Durchbrüche geben – die wird es nicht geben –, auch wegen der innenpolitischen Situation in Deutschland. Und dennoch wird die CSU beidrehen. Wir werden wieder öffentliche Harmoniebekundungen erleben, Interpretationsübungen, warum die vielleicht auch unvollkommenen Gipfelergebnisse doch nicht zu Ministererlassen führen müssen. Die staunende Öffentlichkeit wird das wahrnehmen und wird sich fragen: Was ist eigentlich in den letzten Wochen für ein Theater gespielt worden? Das kennen wir: aus höchsten Staatsämtern heraus mit parteipolitischen Motiven die Stimmung anheizen, um danach beizudrehen und wieder zur Vernunft kommen zu wollen. – Das ist die Methode David Cameron, und ich warne die CSU davor, sich ihn als Vorbild zu nehmen.
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Die Migration bestimmt auch diese Debatte, die innenpolitische Diskussion, und darüber nehmen wir überhaupt gar nicht wahr, was sich im Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion vollzieht.
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Griechenland bekommt de facto ein viertes Paket, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU. Das, was wir an Veränderungen bei den Schulden sehen, hat den Charakter eines vierten Pakets. Es gibt auch weiter Monitoring – Sie nennen es nicht so –, und der Internationale Währungsfonds ist raus. Das ist eine Positionsverschiebung. Wir bekommen einen Euro-Zonenhaushalt, ein Investivbudget,
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möglicherweise erstmalig sogar mit einer eigenen Steuer der Europäischen Union bzw. der Euro-Zone.
({17})
Und da wird gesagt – Frau Nahles und Frau Merkel sagen das allenthalben –: Wir machen das für mehr Konvergenz, für mehr Zusammenhalt. – Das Ergebnis ist: Zwei Drittel der Finanzminister der Euro-Zone lehnen diesen Investivhaushalt ab. Sie sprechen von einem Programm, von einer Politik, um Europa zusammenzuführen. Jetzt vor diesem Gipfel haben wir erlebt: Es ist ein Programm der Spaltung, weil es keine Einigkeit in dieser Frage gibt.
({18})
Und zum Schluss: Der Europäische Stabilitätsmechanismus, jener zeitweilig aufgespannte Rettungsschirm, wird perpetuiert zu einem Währungsfonds.
({19})
Da sind wir dabei, aus dem ESM einen Währungsfonds zu machen. Aber er soll nun ausgestattet werden mit Möglichkeiten, dass einzelne Staaten finanziert werden bei sogenannten asymmetrischen Schocks, auch wenn die Integrität der Währungsunion insgesamt nicht gefährdet ist.
({20})
Und dann wird als Beispiel genannt: Irland nach dem Brexit.
({21})
– Da sagt Carsten Schneider: Ja. – Ich hatte den irischen Außenminister vor 14 Tagen hier im Büro zu Gast,
({22})
habe ihn gefragt: Wissen Sie eigentlich, dass Sie im Deutschen Bundestag als Beispiel dafür herhalten müssen, dass man sich für asymmetrische Schocks wappnen müsste? Da sagte er: Unsere Wirtschaft ist in Balance. Wir brauchen das nicht.
Sie machen es nicht für Irland und für asymmetrische Schocks;
({23})
Sie tun den Beppe Grillos und Silvio Berlusconis in Europa einen Gefallen,
({24})
die die fortwährende Krise ausrufen, um wieder unfinanzierbare, unhaltbare Wahlkampfversprechen zu machen.
({25})
Das macht Europa nicht stärker.
({26})
Jetzt erteile ich das Wort dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Volker Kauder.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Dieser Gipfel, der heute und morgen in Europa stattfindet, findet in einer angestrengten Situation und in einer aufgewühlten Welt statt. Wenn wir die neuen Nachrichten vom amerikanischen Präsidenten hören – alles natürlich über Twitter – nach dem Motto „Handelskriege sind gut, weil man kann sie gewinnen“, dann kann ich nur sagen: So wird die Welt nicht besser, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Wir haben nach dem schrecklichen Zweiten Weltkrieg gelernt, dass Deutschland nie mehr allein in Europa stehen kann. Wir haben daraus die Lehren gezogen, dass wir ein Europa aufbauen wollen in der festen Gewissheit: nie wieder Krieg aus Europa, nie wieder Krieg in Europa,
({1})
eine gute Zukunft vor allem für die heranwachsende junge Generation, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Wenn ich in der Zeit zurückblicke als jemand, der zur ersten Nachkriegsgeneration nach dem Zweiten Weltkrieg gehört, habe ich manchmal den Eindruck, dass diejenigen, die jetzt besonders Europa kritisieren, gar nicht verstanden haben, was für eine große Kraftanstrengung notwendig war, um diese Einheit und die Friedensvoraussetzung in Europa zu schaffen.
({3})
Sie zerstören etwas,
({4})
was auch für sie wichtig ist, nämlich Frieden in unserer Region zu halten, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Europa ist die große Friedensgarantie, aber auch die Wohlstandsgarantie. Natürlich haben wir in Europa noch eine Menge Aufgaben vor uns, weil wir auch innerhalb der Euro-Zone nicht alle auf dem gleichen Stand sind. Natürlich ist es richtig, Frau Bundeskanzlerin, dass man sich darum bemüht, dass wir in Europa möglichst alle auf einen entsprechenden Stand kommen. Aber da würde ich mir dann wünschen, dass die Regeln, die wir uns gegeben haben, um dieses Ziel zu erreichen, von allen in gleichem Umfang ernst genommen werden. Nur wenn wir uns an die Regeln halten, die wir uns in Europa gegeben haben, werden wir auf einen guten Weg kommen.
({6})
Klar ist auch – das habe ich schon einige Male an diesem Rednerpult gesagt –: Europa muss die Aufgaben, die von Europa verlangt werden und die nur von Europa gelöst werden können, auch erfüllen. Natürlich weiß ich, dass bestimmte Dinge Zeit brauchen, aber: Die Sicherung der Außengrenzen muss ernsthaft angegangen werden. Frontex muss gestärkt werden. Dafür sind wir bereit zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen.
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Ich hoffe, dass die Botschaft jetzt ankommt: Wir wollen ein Europa ohne Binnengrenzen. Aber dann brauchen wir ein Europa mit geschützten Außengrenzen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({8})
– Dass Sie dazu keinen Beitrag leisten, ist überhaupt nichts Neues. Deswegen brauchen Sie sich auch gar nicht aufzuregen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu den Aufgaben, die Europa leisten muss, gehört auch, dass wir eine gemeinsame Außenpolitik gestalten. Die Herausforderungen in der Welt sind groß. Da kann es nicht sein, dass wir in Europa nicht mit einer Stimme sprechen. Mit dem Sitz im Weltsicherheitsrat, den Deutschland jetzt hat, besteht nun die Möglichkeit, Europa zusammenzubinden und diejenigen, die einen dauerhaften Sitz haben, zu einer gemeinsamen Handlungsoption zu bringen. Lieber Herr Lindner, wir sind nicht handlungsunfähig, aber es wäre schon eine schöne Botschaft, wenn in den nächsten zwei Jahren im Sicherheitsrat die Vertreter aus Europa mit einer europäischen Stimme sprechen und entsprechend agieren würden. Das würde uns stärken, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({10})
Wenn wir uns die Situation in Deutschland anschauen, muss man wirklich sagen: Wir stehen gut da, was nicht heißt, dass wir nicht noch das eine oder andere Problem zu lösen haben. Eines will ich deutlich machen, weil da ein bisschen Kritik aufkam über die Diskussionen, die wir in der Union führen:
({11})
Ich erinnere mich sehr genau an die Diskussionen, die Sie in der FDP auch schon geführt haben. Da würde ich mal nicht mit Steinen auf andere werfen,
({12})
sondern in die eigenen Reihen schauen, Herr Lindner.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst bei der AfD kenne ich das nicht anders, dass es auch mal Diskussionen in der Parteifamilie gibt,
({13})
aber eins will ich klar sagen: Wir haben als Koalition trotzdem unsere Aufgaben gemacht. Ich erinnere an die Beschlüsse im Rahmen des Baupakets: das Baukindergeld, die Städtebauförderung, den sozialen Wohnungsbau. Die Menschen können sich darauf verlassen, dass wir unsere Arbeit machen.
({14})
– Herr Buschmann, ich kann schon verstehen, dass es manchmal bitter ist, wenn man den Satz hört und man hätte selbst bei der Lösung dieser Probleme dabei sein können; aber das ist nicht mein Thema.
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Wenn ich die Situation in unserem Land anschaue: Wir wissen ganz genau, dass wir vor großen Herausforderungen stehen. Ich denke an die Situation in unserer Automobilindustrie.
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Wenn die Amerikaner auf unsere Automobile Zölle erheben wollen, bleibt dies nicht ohne Auswirkungen in unserem Land. In einer solchen Situation ist es doch nur gut, wenn wir Freunde haben.
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Deswegen finde ich es richtig, dass Deutschland und Frankreich versuchen, ganz eng beieinander zu bleiben, und sich gerade in dieser Situation auch unterstützen. Wir sind auf die Hilfe in Europa angewiesen. Deutschland allein wird es in der Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten nicht schaffen können, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({18})
Deshalb ist dieser Gipfel, von dem auch ein Signal der Zusammenarbeit ausgeht, von großer Bedeutung.
Ja, wir wissen alle, dass Europa nicht bedeutet, dass nun alles in Europa gelöst werden muss. Wir haben auch unsere nationalen Aufgaben. Aber zu glauben, dass allein im nationalen Bereich – diese Töne, die aus einer bestimmten Richtung kommen, halte ich für gefährlich – alles gelöst werden kann, hat uns schon einmal in Deutschland in die Irre geführt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das sollten wir nicht vergessen.
({19})
Deswegen besteht die gesunde Mischung aus dem, was in Europa gemacht werden muss – da muss Europa streckenweise schneller werden; das meine ich auch –, und dem, was in unserem Land in nationaler Verantwortung gemacht werden kann.
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Ich finde, da haben wir eine richtige Mischung im Koalitionsvertrag formuliert, und daher können wir auch selbstbewusst sagen: Ja, ein neuer Aufbruch für Europa, ein neuer Aufbruch in unserem Land. Wir werden diesem Land mit einer Regierung das zur Verfügung stellen, was notwendig ist für eine gute Zukunft.
Herzlichen Dank.
({21})
Nächste Rednerin ist die Vorsitzende der Fraktion Die Linke, Sahra Wagenknecht.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin! Wenn selbst der ehemalige Vizekanzler – immerhin Mitglied einer der Koalitionsparteien – sich inzwischen fragt, ob die handelnden Akteure in dieser Regierung „völlig wahnsinnig geworden“ sind, dann kann man eine solche Kritik als Opposition eigentlich nicht mehr toppen. Deswegen schließen wir uns hier ausdrücklich dieser Frage von Herrn Gabriel an.
({0})
Was Sie hier abliefern, ist eine Zumutung für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, und es ist blamabel gegenüber unseren europäischen Partnern.
({1})
Wir würden es ja noch mit Sympathie verfolgen, wenn die Koalition darüber streiten würde, was man gegen die unverändert ansteigende Altersarmut tun kann oder gegen die unverändert dramatische Situation in vielen Krankenhäusern und Pflegeheimen oder gegen den ungebremsten Mietwucher, der nach wie vor Familien aus den Innenstädten verdrängt. Wenn Sie darüber streiten würden, dann hätte man doch wenigstens noch das Gefühl, dass Sie sich mit den realen Nöten der Bevölkerung beschäftigen würden.
({2})
Aber zu all diesen Themen fällt Ihnen leider seit langem schon nichts mehr ein.
({3})
Ja, auch Asyl und Zuwanderung gehören zu den Problemen, die die Menschen bewegen. Aber auch da geht es Ihnen doch nicht darum, irgendetwas zum Besseren zu verändern. Es geht doch um nichts anderes als um die Torschlusspanik der CSU vor der bayerischen Landtagswahl und um Symbolpolitik. Das ist doch alles, worum es geht.
({4})
Was würde sich denn konkret verändern? Was würde denn die Zurückweisung registrierter Asylbewerber an der deutschen Grenze tatsächlich verändern? Wenn Deutschland im Alleingang beschließt, zurückzuweisen, dann werden andere Länder eben im Alleingang beschließen, nicht mehr zu registrieren. Was haben Sie dadurch gewonnen, außer dass Sie neuen Sprengstoff für die innereuropäischen Beziehungen gelegt haben?
({5})
Herrn Seehofer kann ich ja leider nicht fragen; aber ich finde, man muss die CSU schon fragen: Nehmen Sie überhaupt noch wahr, dass es noch eine Welt außerhalb von Bayern gibt?
({6})
Nehmen Sie noch wahr, dass in dieser Welt gerade ein von den USA angezettelter Handelskrieg gefährlich eskaliert, mit Zöllen und mit immer neuen Sanktionsdrohungen, und dass es elementar für unseren Wohlstand sein wird, ob Europa darauf eine gemeinsame Antwort findet oder nicht? Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass in dieser außerbayerischen Welt gerade der nächste Krieg vorbereitet wird, nämlich der Krieg gegen den Iran, und dass die Vereinigten Staaten den Nahen Osten ungeniert weiter destabilisieren mit allen schlimmen Folgen, die dann nicht zuletzt Europa tragen muss?
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Vielleicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, sollten Sie nicht ganz vergessen, dass es auf dieser Welt noch ein paar Probleme gibt, die größer sind als der Bayerische Landtag.
({8})
Ja, wenn Sie die Flüchtlingszahlen wirklich reduzieren wollen, dann folgen Sie doch endlich den Vorschlägen, die wir hier immer vorgetragen haben,
({9})
dann hören Sie auf, völkerrechtswidrige Interventionskriege zu unterstützen, die ein Land nach dem nächsten in einen Failed State verwandeln.
({10})
Dann hören Sie auf, sich von Rüstungslobbyisten schmieren zu lassen und immer neue Waffen in Spannungsgebiete zu liefern. Das sind doch die eigentlichen Ursachen.
({11})
Aber bei dieser falschen Politik
({12})
ist sich diese desolate Koalition ja leider erschreckend einig;
({13})
das ist das Kernproblem. Dass Sie inzwischen noch nicht einmal davor zurückschrecken, mit islamistischen Warlords in Libyen, die Menschenrechte mit Füßen treten, die foltern und vergewaltigen, zusammenzuarbeiten,
({14})
ist, finde ich, wirklich das Allerletzte.
So erfreulich es ist, dass Sie, Frau Merkel, neuerdings Wert auf europäische Regelungen, auf europäische Lösungen und Abstimmungen mit unseren europäischen Partnern legen, so klar ist auch: Der Scherbenhaufen, vor dem Sie in Europa stehen, ist doch der Scherbenhaufen Ihrer Politik. Sie haben doch das Porzellan zerschlagen und unsere europäischen Partner immer wieder gegen sich aufgebracht – mit Ihren Alleingängen, mit Ihren erratischen Entscheidungen, mit deutscher Selbstgefälligkeit und Rechthaberei. Denken Sie, das haben die anderen vergessen?
({15})
Denken Sie, die Mittelmeeranrainer haben vergessen, wie lange sie im Rahmen des Dublin-Systems mit den Flüchtlingen alleingelassen wurden und dass Deutschland damals kein bisschen solidarischer war als heute Ungarn oder Polen?
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Meinen Sie, unsere Partner wissen nicht mehr, wie selbstherrlich sich die deutsche Regierung während der Euro-Krise aufgeführt hat? Ich darf an den Spruch von Herrn Kauder, in Europa werde wieder deutsch gesprochen, erinnern. Es fällt nicht schwer, sich auszumalen, wie das damals in Rom und Paris angekommen sein muss.
({17})
Auch die Griechen dürften noch gut in Erinnerung haben, wie Sie und Herr Schäuble ihnen drastische Kürzungsprogramme aufgezwungen haben, die ein ganzes Land in die Armut gestürzt haben, als Preis für Rettungsmilliarden, die vor allem an deutsche und französische Banken geflossen sind.
Und glauben Sie, die Franzosen und Italiener wissen nicht, dass das deutsche Lohndumping unseren Exportkonzernen unlautere Wettbewerbsvorteile verschafft und in ihren Ländern zu Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit führt? Dass heute in vielen europäischen Ländern Wahlen mit Kritik an Deutschland gewonnen werden können, ist doch das Ergebnis Ihrer Politik, Frau Bundeskanzlerin.
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Helmut Kohl hatte schon 2011 in einem Interview davor gewarnt, dass Sie „keinen Kompass“ und auch „keinen Führungs- und Gestaltungswillen“ haben und dass Deutschland im Ergebnis Ihrer Politik irgendwann isoliert dastehen wird. Er hat leider recht behalten. Wenn Sie das ernsthaft korrigieren wollen, dann müssten Sie weit mehr tun, als für europäische Lösungen in der Flüchtlingsfrage zu werben. Dann wäre zum Beispiel ein Mindestlohn von wenigstens 12 Euro statt der mickrigen Steigerung, die gerade wieder beschlossen wurde,
({19})
oder ein Verbot der Lohndrückerei mit Leiharbeit und Werkverträgen nicht nur ein Segen für Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land, sondern auch ein echter Beitrag zum Zusammenhalt der Euro-Zone.
({20})
Das wäre letztlich auch wirkungsvoller als Ihr mit Herrn Macron ausgehandeltes Euro-Budget, das der Ökonom Thomas Piketty zu Recht einen vagen, ambitionslosen Kompromiss genannt hat. Piketty schlägt übrigens wie wir zur Finanzierung öffentlicher Investitionen eine Steuer auf die großen Vermögen in der Euro-Zone vor. Und da fragt man sich schon: Weshalb kommen solche Vorschläge eigentlich nie von der SPD?
({21})
Weshalb überlassen Sie seit Monaten der Union die Hoheit, die Themen zu setzen, statt auch nur einmal mit einer substanziellen sozialen Forderung den Konflikt zu suchen?
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Mit der Union auf Konflikt zu gehen, wäre doch im Übrigen auch außenpolitisch längst überfällig. Der ehemalige Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi hat doch recht, wenn er in einem aktuellen „FAZ“-Artikel empfiehlt – ich zitiere –:
Wenn Amerika aber seine Alleingänge in unserer Nachbarschaft fortsetzen will, dann muss Europa die Nato in ihrer heutigen Form politisch in Frage stellen und seine eigenen, unabhängigen außen- und verteidigungspolitischen Entscheidungen treffen.
({23})
So weit das Zitat von Klaus von Dohnanyi. Für diese Forderung wurden wir von Ihnen regelmäßig als regierungsunfähig beschimpft.
({24})
Aber sie ist doch richtig. Setzen Sie sich doch lieber für solche Forderungen ein, als bedingungslos eine Kanzlerin zu stützen, die im Unterschied zu ihren Amtsvorgängern der US-Politik immer nur kritiklos hinterhergelaufen ist,
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die bis heute die Russland-Sanktionen verteidigt und die auf dem NATO-Gipfel den irren Aufrüstungsforderungen nachkommen will, die für Deutschland Mehrausgaben von über 30 Milliarden Euro pro Jahr bedeuten. Das ist übrigens genau der Betrag, der zusätzlich für eine gute Bildung in unserem Land investiert werden müsste, wenn wir diesbezüglich wenigstens den Durchschnitt der OECD-Länder erreichen wollten.
({26})
Aber Sturmgewehre und bewaffnungsfähige Drohnen sind Ihnen offenbar wichtiger als zusätzliche Lehrer und gut ausgestattete Schulen. Ich finde, das sagt alles über diese Regierung.
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Deswegen brauchen wir endlich einen politischen Neuanfang.
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Beenden Sie dieses Konjunkturprogramm für Politikverdruss, das nur dazu führt, dass sich immer mehr Menschen von der Demokratie abwenden. Wir wollen das nicht, und deswegen wollen wir eine andere Politik in diesem Land.
({29})
Jetzt hat das Wort die Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, Europa steht vor einer Zäsur, und Markus Söder meint, die Zeit des Multilateralismus sei vorbei. Unsere Zukunft ist Europa, und der Nationalstaat sei „ein an sich überlebtes Element“. Herr Dobrindt, das habe ich extra für Sie mitgebracht. Das ist ein Zitat von Franz Josef Strauß. Er hat recht – er hat immer noch recht.
({0})
Ein sicheres, ein wohlhabendes, ein friedliches Deutschland, das gibt es nur in Europa. Das wird von Ihnen, von der CSU insbesondere und von einigen Genossen in der CDU,
({1})
nicht gerade befördert. Sie sind doch Regierungsparteien. Sie führen einen Streit um ein Phantom.
({2})
Sie führen einen Streit um einen Plan, den Ihre Leute in der CSU beschließen, ohne ihn zu kennen. Das ist unwürdig für die Demokratie schon an sich, meine Damen und Herren.
({3})
Sie führen einen Streit auf Grundlage eines Gespenstes und stürzen das Land, stürzen die Regierung in eine Krise.
Man fragt sich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU: Was ist eigentlich der Plan? Sie machen sich gemein mit Orban, mit Salvini, mit Strache. Ihre Achse ist inzwischen die Achse der Nationalisten, der Abschotter, der Hasardeure, die Gräben schaufeln und diese immer weiter vertiefen. Es geht Ihnen nicht um den Zusammenhalt in diesem Land. Das ist das Hochgefährliche, das Sie hier gerade betreiben.
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Wenn die Nationalisten am Werk sind, dann sind sie sich immer einig in der Ideologie: Da geht es immer gegen Europa, da geht es um Abschottung – keine Flüchtlinge – usw. Aber klar ist eben auch: Nationalisten werden niemals kooperieren. Natürlich wird Herr Salvini keinen einzigen zurückgewiesenen Flüchtling aufnehmen. Was Sie machen, das ist Politik der Angst, das ist Politik der Angstmache. Daraus entsteht immer nur noch mehr Angst und niemals mehr Sicherheit. Das ist das Problem. Das ist die Gefahr, vor der Sie stehen.
({5})
Deswegen sage ich Ihnen ganz klar: Sie sind schon längst nicht mehr die Lösung des Problems, Sie sind die Ursache. Das sagt, wen wundert es, inzwischen eine Mehrheit der Bayern. „Was ist das Hauptproblem in Bayern? – Die CSU“, so sagen es die Bayern. Bingo, kann ich da nur sagen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, Ihnen sollte klar sein: Wenn Ihre Fraktionsgemeinschaft hier bricht, dann sind Sie noch näher dran an der AfD. Ich frage mich gerade, was Herr Kauder eigentlich gemeint hatte, als er sagte, man solle doch jahrzehntelange Errungenschaften jetzt nicht in Gefahr bringen. Meinte er die AfD oder die Kollegen von der CSU in den eigenen Reihen? Diese Frage muss man doch mal stellen.
({7})
Aber der Riss geht inzwischen ja durch die gesamte Union. Das macht mir noch mehr Sorgen. Wir haben in den letzten Tagen Reden gehört, auch hier in diesem Parlament, bei denen man merkte: Da war der Geist schon aus der Flasche. Da ging von einem Abgeordneten der CDU nach seiner Rede ein Augenzwinkern zu Herrn Gauland, so nach dem Motto: Habe ich doch prima gemacht.
({8})
– Doch, Herr Gauland, Sie haben das sehr wohl bemerkt und haben auch entsprechend reagiert. – Da wird von Tourismus geredet – Herr Seehofer war gestern bei „Maischberger“; hier ist er heute offensichtlich nicht –, wenn es um Menschen geht, die gerade der Hölle entkommen sind.
({9})
Wie weit sind wir in diesem Land eigentlich gekommen, meine Damen und Herren?
({10})
Frau Merkel soll jetzt im Rahmen eines Ultimatums einer Regionalpartei innerhalb von 14 Tagen eine Lösung finden. Sind Sie eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Europa als Showdown – wo sind wir eigentlich?
({11})
Es ist richtig: Frau Merkel, Ihre Politik ist viel zu lang von scheinbar Unvermeidlichem, von Alternativlosigkeit geprägt gewesen, viel zu lange davon geprägt gewesen, dass Sie nicht erklärt und nicht für Ihre Überzeugung gekämpft haben. Es stimmt: Wir teilen vieles nicht, was Sie gemacht oder eben auch unterlassen haben. Ökologisch waren Sie allenfalls lau. Europäisch war es zu wenig Europa. Das ist falsch, und das rächt sich jetzt, erst recht, wenn auf der anderen Seite ein Trump steht, der die Blaupause bildet für Egoismus, für Nationalismus und für Ausgrenzung.
({12})
Frau Merkel, Sie haben übersehen, wer wirklich Hilfe braucht; die armen Kinder zum Beispiel. Sie haben sich immer wieder dem rechten Flügel in Ihrem eigenen Laden gebeugt, weil immer noch eins draufgelegt wurde, so nach dem Motto: Sie müssen noch immer angebliche Fehler von 2015 gutmachen. – Das alles kritisieren wir.
Aber ich sage Ihnen auch, was gar nicht geht: Herr Dobrindt, Herr Seehofer, Herr Söder, Ihnen geht es – das steht Ihnen doch auf der Stirn geschrieben – nicht um eine Sachfrage,
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Ihnen geht es darum, dass Merkel wegkommt, damit Sie endlich freie Bahn haben.
({14})
Denn Sie wollen ein anderes Land: Sie wollen ein Land mit Abschottung, mit Egoismus, ohne Kooperation und ohne Zusammenhalt. Deswegen sage ich Ihnen: Besinnen Sie sich endlich! Kommen Sie zur Vernunft, und steigen Sie aus dieser Spirale der Unvernunft aus!
({15})
Sie setzen gerade alles aufs Spiel für eine einzige billige alte Rechnung. Und weil es jetzt mit den kleinen Verrücktheiten nicht mehr geht – früher hat es ja gereicht, mit der Pendlerpauschale, der Ausländermaut oder der Obergrenze zu kommen – und da das alles nicht mehr funktioniert, drehen Sie jetzt das ganz große Rad. Jetzt geht es um alles. Ich kann Ihnen nur zurufen: Diesen Streit können Sie nicht gewinnen. Sie können ihn nur beenden.
({16})
In Richtung Frau Merkel sage ich: Es heißt ja immer, der Klügere oder die Klügere gibt nach. Es kann aber sein, dass, wenn man einmal zu viel nachgibt, dann nur noch die Dummen übrig sind.
({17})
Was bedeutet denn das Ende des Multilateralismus? Das heißt, es gibt eben keine Europäische Kommission mehr, die sich darum kümmert, dass man verhandelt. Man sieht doch an den USA, was passiert: Handelskrieg und Unilateralismus. Das heißt, es gilt immer nur das Recht des Stärkeren.
Das Allerwichtigste gerät gerade in Vergessenheit: Es gibt auch keinen unilateralen Frieden. Denn was sind denn die offenen Grenzen in Europa anderes als das Vertrauen, das die europäischen Nachbarn gegenseitig haben? Wir wissen, dass mit der Zurückweisung an Grenzen überhaupt nichts gelöst wird. Die Flüchtlingsfrage ist eine Frage, die wir europäisch, ja global lösen müssen, aber eben nicht durch Abschottung, Frau Merkel.
Ich frage mich vor allem eines in dieser Debatte, der ich heute die ganze Zeit sehr genau zugehört habe:
({18})
Wo bleibt eigentlich die Humanität?
({19})
Sie haben hier von Ordnung, von Steuern, von Abschottung und von Sicherheit geredet. Aber es geht um Menschen. Es geht um Menschen, die sich aufs Mittelmeer begeben und dort tagelang rummäandern.
({20})
Und am Schluss sind es die Seenotretter, die kriminalisiert werden. Wo sind wir eigentlich? In welchem Land leben wir hier eigentlich inzwischen?
({21})
Wir haben einen Innenminister, der nicht einmal auf die Idee kommt, dass er jemanden aufnehmen könnte. Wir hören jetzt hier: Dann schickt sie doch zurück nach Libyen. – Nach Libyen? Meinen Sie das wirklich ernst?
({22})
Dort, wo Menschen vergewaltigt und gefoltert werden, wo Menschen sagen: „Wir setzen unser Leben aufs Spiel, weil wir es nicht mehr aushalten können“? Das ist doch zynisch, meine Damen und Herren!
({23})
Man könnte jetzt einmal ganz nüchtern konstatieren: Herr Seehofer ist seit 100 Tagen im Amt und hat nichts auf die Reihe gekriegt. 100 Beamte langweilen sich in der Heimatabteilung des Innenministeriums.
({24})
Die Wohnkrise spitzt sich zu. Den Integrationsgipfel schwänzt er.
({25})
Die Integration selbst behindert er mit seinen Sprüchen zum Islam.
({26})
Herr Seehofer, Sie werden sich das ja irgendwann anhören müssen, was hier über Sie gesprochen wird. Ich kann nur eines sagen: Sie sind Bundes innenminister. Und dieses Ministerium ist nicht die Nebenwahlkampfzentrale der CSU. Schade, dass man das erst sagen muss.
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Von außen betrachtet sieht das, was Sie hier machen, aus wie der helle Wahnsinn. Wir hätten wirklich viel zu tun: in der Pflege, in der Digitalisierung, beim Klimaschutz und, und, und. Herr Dobrindt, ich hätte mir gewünscht, dass Sie, wenn es um die Autoindustrie in Deutschland geht, genauso viel Engagement zeigen, wie Sie es tun, wenn Sie über Asylanwälte reden. Da könnten Sie sich wirklich einmal mit ganzer Kraft engagieren.
({28})
Wenn einem der Wind so richtig ins Gesicht bläst, dann muss man die Segel erst recht setzen und einen klaren Kurs einschlagen. Ich sage Ihnen eins: Es lohnt sich, für die Zuversicht und für die Geborgenheit in Europa zu kämpfen. Es sind viele, die das wollen in diesen Zeiten. Dieses Land und seine Demokratie, seine Zivilität und seine Beharrlichkeit werden durch die Hetzer von der AfD und die Spalter von sonst woher nicht schwächer. Sie werden stärker.
({29})
Schreiben Sie sich das hinter die Ohren!
Deswegen sage ich noch einmal: Besinnen Sie sich!
({30})
Und ich sage Ihnen noch eins: Einigkeit und Recht und Freiheit!
({31})
Anscheinend muss man Sie daran erinnern.
({32})
Jetzt hat das Wort Alexander Dobrindt, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die größte Herausforderung unserer Zeit ist die Globalisierung. Globalisierung, Digitalisierung, Migration und Zusammenhalt in Europa können wir nur in einem Europa der Einigkeit bewältigen. Unsere nationale Souveränität und unsere kulturelle Identität lassen sich nur dann erhalten, wenn wir auch weiterhin einen starken Schulterschluss mit den Staaten der Europäischen Union halten und für ein gemeinsames Europa kämpfen. Das ist der Traum unserer Vorväter, die für Europa gearbeitet haben.
({0})
Wir sind beides: stolze Europäer und deutsche Patrioten.
({1})
Das ist kein Widerspruch, Frau Katrin Göring-Eckhardt. Nein, ob wir Bayern, Niedersachsen, Sachsen oder Saarländer sind – das alles sind die Regionen unserer Heimat, aber Deutschland ist unser Vaterland und Europa die Gegenwart und Zukunft von uns allen. Diese Auffassung sollten wir gemeinsam teilen.
({2})
Und glauben Sie mir: Diese Kombination ist das Rezept gegen all diejenigen, die diese Vision Europas der Vaterländer infrage stellen. Genau das ist das Rezept gegen die Reaktionäre, die unser europäisches Band lösen und zurück ins Nationale wollen, gegen die EU-Romantiker, die einen europäischen Einheitsstaat wollen.
({3})
Das ist das Rezept gegen diejenigen, die uns in eine Sackgasse manövrieren wollen und damit das, was wir uns an nationaler Souveränität, an Wohlstand, an Frieden und Freiheit erarbeitet haben, in Gefahr bringen.
({4})
Ja, es stimmt, Frau Göring-Eckhardt, wir orientieren uns an Franz Josef Strauß.
({5})
Wir orientieren uns bei den Fragen Europas auch an Konrad Adenauer und an Helmut Kohl und an den mit diesen Namen verbundenen Visionen von einem gemeinsamen Europa.
({6})
Ich sage Ihnen aber auch: Ich hätte von Ihnen eigentlich mehr als belehrende Worte für uns alle erwartet. Ich hätte erwartet, dass Sie die zentralen Themen Ihrer Politik darstellen und erläutern, wie wir mit Migration, einer der großen Herausforderungen, umgehen sollen.
({7})
Sie haben bis heute nicht erklärt, was Sie eigentlich meinen mit Ihrem Programm: keine Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten, weniger Abschiebungen, eine Untergrenze für Flüchtlinge. Was meinen Sie mit einer Untergrenze für Flüchtlinge? 5 Millionen oder 10 Millionen? Wie viele von den 70 Millionen wollen Sie denn hier aufnehmen?
({8})
Das, was Sie fordern, ist der Wegweiser zum Kontrollverlust in diesem Land. Das gehört zur Wahrheit.
({9})
Ja, wir stehen vor einem Gipfel. Zur Vorbereitung dieses Gipfels hat der deutsch-französische Ministerrat in Meseberg Grundlagen beschlossen, die wichtige Elemente enthalten:
({10})
der Weg zur Verteidigungsunion, der Schutz der Außengrenzen,
({11})
eine Zusammenarbeit bei Innovationen, künstlicher Intelligenz und vielem anderen mehr, Bereiche, die wir unterstützen, weil sie zwingend zu einem erfolgreichen Europa gehören.
({12})
Dazu gehört übrigens auch die Weiterentwicklung des ESM zu einem europäischen Währungsfonds. Ja, das ist ein richtiger Weg, den wir gehen müssen. Wir müssen aber darauf achten, dass wir über all diesen Elementen, die ein Vorteil für Europa sein können, nicht die Kontrolle verlieren.
({13})
Deswegen ist es für uns so bedeutsam und wichtig, dass die Kontrollrechte des Deutschen Bundestages, auch wenn es um Unterstützungsmittel geht, die in Europa über einen ESM oder einen europäischen Währungsfonds eingesetzt werden, stets erhalten bleiben.
({14})
Ja, wir unterstützen das, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben:
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einen Investitionshaushalt für die europäische Gemeinschaft, auch für die Euro-Zone. Wir brauchen ein stärkeres Maß an Investitionen in die Sicherheit, in die Infrastruktur und in die Digitalisierung, aber wir werden auch darauf achten, dass es sich hier nicht um ein Geschäft handelt, das nationale Investitionen einspart und durch europäische Investitionen ersetzt. Wer am Schluss daran glaubt, dass er nationales Geld durch europäisches Geld ersetzen kann, der schafft nicht mehr Investitionen und Innovationen in Europa, sondern der sorgt nur dafür, dass es ein anderer bezahlt.
({16})
Das gilt auch für das Element, das sich in dem Papier von Meseberg wiederfindet, eines Prüfauftrages für eine europäische Arbeitslosenversicherung. Meine Damen und Herren, wir wissen, dass sich Arbeitslosigkeit, Konjunktur, Wachstum in den europäischen Ländern sehr unterschiedlich entwickeln. Deswegen brauchen wir ja diese Investitionen, die wir gemeinsam stemmen wollen; aber wir müssen auch darauf achten, dass es nicht zu einer Fehlentwicklung kommt, die heißt, dass Beitragsgelder deutscher Arbeitnehmer für die Kosten der Arbeitslosigkeit in anderen Ländern Europas eingesetzt werden.
({17})
Einer Vergemeinschaftung der Sozialversicherung werden wir nicht zustimmen. Es bleibt dabei: Die Sozialversicherung ist ein nationales Element.
({18})
Wir erleben seit vielen Jahren einen Migrationsdruck an den Außengrenzen der Europäischen Union. Dieser Migrationsdruck, der in Wellenbewegungen stattfindet, der wieder stärker werden kann und vielleicht auch schon wieder stärker wird, kann nur dadurch gesenkt werden, dass wir unsere Außengrenzen schützen. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe für Europa. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe, die parallel neben nationalen Aufgaben, die wir wahrnehmen, stehen muss, um keine Überforderungen im Bereich der Migration zu bekommen. Die aktuelle Situation, die man damit umschreiben kann, dass, wer einmal seinen Fuß auf europäischen Boden setzt, gehen kann in welches Land auch immer er will, ist nicht dauerhaft akzeptabel. Denn in vielen, vielen, in den meisten Fällen – das muss man heute sagen – heißt dieses Land Deutschland.
Meine Damen und Herren, zu dem Hinweis, den ich vielerorts immer wieder gehört habe, wir würden die Mittelmeerländer und die Länder an den Außengrenzen unserer europäischen Gemeinschaft, alleine lassen, sage ich: Das ist schlichtweg falsch. Mehr als die Hälfte aller Migranten, die nach Europa gekommen sind, sind in Deutschland und nicht in den anderen 27 Ländern der Europäischen Union.
({19})
Deswegen sage ich: Wir haben keinen Nachholbedarf an Humanität innerhalb der Europäischen Union.
({20})
Wir begrüßen, dass es Fortschritte gibt auf dem Weg zur gemeinsamen Verantwortung in Europa bei der Migrationspolitik. Beim EU-Treffen am vergangenen Sonntag hat sich Bewegung gezeigt, gerade auch beim Thema Schutz der Außengrenzen. Dass Frontex zu einer europäischen Grenzpolizei weiterentwickelt wird, ist eine absolute Schlüsselfrage, die wir ausdrücklich unterstützen. Das Prinzip „Ohne sichere Grenzen nach außen keine offenen Grenzen nach innen“ ist inzwischen weitestgehend Konsens in Europa.
({21})
Deswegen möchte ich ausdrücklich sagen, dass wir die Bundesregierung bei ihren Bemühungen unterstützen, vor dem Gipfel europäische Vereinbarungen zu treffen, die dafür sorgen, dass wir weniger Migration nach Europa erleben.
({22})
Beides gehört zusammen: europäische Lösungen und nationale Maßnahmen. Beides gehört zusammen: ein Marshallplan für Afrika, wie ihn Bundesminister Müller vorgestellt hat, und die Anwendung von gültigem Recht an unseren Grenzen. Beides gehört zusammen, wenn wir uns langfristig auch vor Migration, illegaler Migration schützen wollen. Deswegen bleiben wir dabei, dass wir dafür sorgen müssen, neben den Initiativen auf europäischer Ebene jetzt auch die Anwendung des geltenden Rechts an unseren Grenzen umzusetzen. Das heißt auch, dass diejenigen, die in einem anderen Land in Europa ihr Asylverfahren durchführen müssen, an unseren Grenzen zurückzuweisen sind, meine Damen und Herren.
({23})
Das ist nichts anderes als die nationale Umsetzung einer europäischen Lösung.
({24})
All denjenigen, die davor warnen, dies zu tun, sage ich: Meine Damen und Herren, unsere französischen Kollegen und Präsident Macron, der ja beileibe nicht unter dem Verdacht steht, ein Antieuropäer zu sein, wenden dieses europäische Recht national an, im letzten Jahr mit über 80 000 Zurückweisungen an den französischen Grenzen. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn wir heute nicht in der Lage wären, diese europäische Lösung national zur Anwendung zu bringen, dann stellten wir doch gerade auch zukünftige europäische Lösungen infrage. Das wollen wir nicht. Wir wollen eine Gemeinsamkeit der europäischen Lösungen und der nationalen Lösungen erreichen. Deswegen wünschen wir der Bundesregierung ausdrücklich viel Erfolg, auch beim Gipfel. Wir begleiten es positiv, europäische Lösungen zu ermöglichen.
({25})
Wir wollen aber auch die Umsetzung der nationalen Lösungen erreichen. Im Lichte der Ergebnisse des europäischen Gipfels werden wir darüber beraten, welche nationalen Maßnahmen umzusetzen sind.
Danke schön.
({26})
Nächster Redner ist der Kollege Rüdiger Lucassen, AfD.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Wer nur ein einzelnes NATO-Treffen betrachtet, steht zu dicht vor dem Bild. Wer aber einen Schritt zurück macht, erkennt das eigentliche Problem:
({0})
Die deutsche Regierung sieht überhaupt keine Notwendigkeit, selbstbestimmte Verteidigungspolitik zu machen. Die Regierung sieht sich in der Frage der Verteidigungsausgaben als Getriebene, als Opfer einer politischen Erpressung durch den amerikanischen Präsidenten. Die Bundesregierung tut so, als ob die Amerikaner etwas Unsinniges, gar Unanständiges fordern, und hangelt sich so von Gipfel zu Gipfel. Mit solch einer Haltung kann man keine Verteidigungspolitik machen, die der stärksten Macht in Europa angemessen ist.
({1})
Deutschland muss führen; das muss auch in der Verteidigungs- und Militärpolitik unser Anspruch sein.
({2})
Der Grund dafür ist einfach: Wenn Deutschland nicht führt, tut es ein anderer. Wir können dann entweder hinterherlaufen oder am Rand stehen. So macht es die Bundesregierung auch bei der sogenannten EU-Verteidigungspolitik. Der französische Präsident ist dort der Taktgeber. Jüngstes Beispiel: eine EU-Interventionstruppe. Präsident Macron hat einen solchen Verband vorgeschlagen, und die deutsche Regierung will mitmachen. Wozu eine solche Truppe dienen soll, wer sie führt und wie nationale Interessen gewahrt bleiben, darauf gibt es keine Antworten der Regierung. Am Ende werden es französische Interessen sein, die mit deutschem Geld und deutschen Soldaten bezahlt werden. Das lehnen wir ab.
({3})
Deutschland braucht einen neuen Plan für eine Verteidigungsbereitschaft. Dieser Plan muss drei Bereiche abdecken.
Erstens: die Landesverteidigung als vornehmste Aufgabe des Staates. Sie muss Basis und Maß einer Konzeption zur territorialen Verteidigung sein.
Zweitens: die Bündnisverteidigung. Sie ist eben nicht gleichzusetzen mit der Landesverteidigung, sondern als Ergänzung zu betrachten. Die NATO ist das stärkste Militärbündnis in der Welt. Deutschland ist seit über 60 Jahren Mitglied. Die Bundesregierung muss den in der NATO vereinbarten Beitrag von 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes leisten.
({4})
Die Bundeskanzlerin – ich hatte sie während der Aussprache zur Regierungserklärung eigentlich noch auf ihrem Platz erwartet – hat vor gut einer Stunde so etwas wie ein Bekenntnis zu dem 2‑Prozent-Ziel abgegeben, hat sich dann aber ganz schnell wieder eingefangen und 1,5 Prozent bis 2025 fixiert. Das ist Vertragsbruch.
({5})
Nur mit der Einhaltung seiner Verpflichtungen wird Deutschland seiner Aufgabe als starker Partner im Bündnis gerecht. Denn es ist eben falsch – und das hätte ich gerne der Frau Bundeskanzlerin gesagt –, jetzt auf teure und ineffektive Parallelstrukturen in einer ohnehin zerfallenden EU zu setzen.
({6})
Herr Kauder – er ist auch nicht mehr da –,
({7})
wenn Sie wider besseres Wissen die zentralistische und zentralistisch handelnde EU mit Europa gleichsetzen, dann zerstören Sie in Wirklichkeit die europäische Idee.
({8})
Drittens. Deutschland muss Maßnahmen einleiten, um die Souveränität unseres Staates auch im Frieden sicherzustellen. Dazu gehören unter anderem Bereiche wie der Zivilschutz, ein nationales Rüstungskonzept, die Luftsicherheit, aber eben auch der Schutz unserer Grenzen im Frieden.
({9})
Alle diese Maßnahmen tragen der veränderten Sicherheitslage in der Welt Rechnung.
({10})
Sie sind jedoch nicht umsetzbar, wenn das verteidigungspolitische Bewusstsein sowohl in unserer Gesellschaft als auch in der Regierung fehlt. Das Ergebnis dieser Verantwortungsverweigerung der Bundesregierung haben wir jetzt: eine kaputtgesparte Bundeswehr, ein schlechtes Verhältnis zu unseren Bündnispartnern und eine Regierung, der die Kraft und der Rückhalt fehlen, die wichtigste Aufgabe eines souveränen Staates zu meistern.
Wir wollen, Frau Bundeskanzlerin – –
({11})
– Ich würde gerne weiterreden, Frau Bundeskanzlerin. Ich finde es schlichtweg unhöflich, was Sie machen.
({12})
Wir wollen kein Deutschland in einer Opferrolle; wir wollen Zuversicht. Wir wollen ein Deutschland, das handelt. Wir brauchen einen Plan für eine neue Verteidigungsbereitschaft, und Deutschland braucht eine neue politische Kraft. Unser Land braucht die Alternative für Deutschland.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Sebastian Hartmann, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD hat sich das mit der Frage des Regierungseintritts ja wahrlich nicht so einfach gemacht wie die Liberalen, die alleine entschieden, dann abgesagt haben und jetzt vom Spielfeldrand schlaue Tipps geben und sich so ein bisschen die Rosinen raussuchen, das, was ihnen gerade passt.
({0})
Aber wir haben unsere Entscheidung getroffen und einen Koalitionsvertrag verfasst, in dem der erste Satz lautet: „Ein neuer Aufbruch für Europa“ – ich wende mich jetzt an die Kollegen von CSU – und nicht „Ein neuer Ab bruch von Europa“ heißt, meine Damen und Herren.
({1})
Wenn man so manche Wortwahl im Innenausschuss oder auch hier im Plenum verfolgt, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass das hier eine sehr ultimative Lage ist. Das Zeitalter der Ultimaten sollte aber vorüber sein, und vor allem sollten nicht Minister der Bundesregierung anderen Mitgliedern der Bundesregierung solche Ultimaten stellen; denn sonst könnte man ja auch umgekehrt einmal überprüfen, ob irgendetwas von dem, das lautstark angekündigt wurde, überhaupt stattgefunden hat. Wenn man vor Rechtspopulisten Angst hat und vor ihnen warnt, gleichzeitig Worte wie „Asylgehalt“ und „Asyltourismus“ verwendet, wird man am Ende selbst zum Rechtspopulisten.
({2})
Der deutsche Innenminister hat erklärt, in dieser Lage Europas und der Welt handele es sich um insgesamt 100 Personen pro Monat, die möglicherweise von einer nationalen Maßnahme gemäß einem „Masterplan“, der 63 Punkte umfasst, betroffen sind. Dieser Masterplan ist seit etwa 100 Tagen im Raum, aber niemand kennt ihn genau, und die bayerischen Kollegen sagten, es sei so etwas wie das „Bernsteinzimmer der deutschen Innenpolitik“. Der Hauptunterschied ist: Das Bernsteinzimmer hat es gegeben.
({3})
Am Ende sollte man doch mal die Fakten sprechen lassen: Es wird von 100 Personen gesprochen, und wenn wir das Statistische Bundesamt bemühen, dann wissen wir, dass wir eine Außengrenze von fast 3 900 Kilometern haben. Dann wird die ganze Aufregung doch relativ überschaubar.
Und wenn man dann auch noch einmal fragt, von wem man sich eigentlich abgrenzen will, möchte ich ein wenig in der Geschichte zurückgehen: Ich erinnere an den 22. November 2005, als Herr Schäuble, CDU, zum Innenminister ernannt worden ist. Ich erinnere an den 28. Oktober 2009, als Thomas de Maizière, CDU, zum Innenminister ernannt worden ist. Am 16. März 2011 wurde Hans-Peter Friedrich, CSU, zum Innenminister ernannt. Am 17. Dezember 2013 wurde Thomas de Maizière, CDU, zum Innenminister ernannt. Am 14. März 2018 wurde Horst Seehofer, CSU, zum Bundesminister für Inneres, Bau und Heimat ernannt – und er möchte sich von der Politik aller seiner Vorgänger ab heute abgrenzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist die Faktenlage. Deswegen stellen wir in der SPD uns die Frage: Worüber reden wir eigentlich, wenn wir dafür sorgen wollen, dass Deutschland ein stabiler Faktor in einem geeinten Europa ist? Die Menschen im Land haben die Erwartungshaltung an uns, dass wir unsere Arbeit machen, diesen Koalitionsvertrag umsetzen und uns auf die tatsächlichen Probleme Europas – die Lösung kann nur eine europäische Lösung sein – konzentrieren.
({4})
Es gibt eine große Menge zu tun, wenn es darum geht, die soziale Sicherung im Land für alle Menschen zu garantieren, die Investitionen voranzubringen und dafür zu sorgen, dass Europa nicht auseinanderfällt und zusammenhält. Deswegen müssen wir natürlich auch bei der Wortwahl – es wird von „Ultimaten“ und davon gesprochen, dass Europa von der „Spaltung“ und „Zerstörung“ bedroht ist – sehr genau unterscheiden.
Ja, das Risiko ist da. Es besteht die Gefahr, dass die Populisten gewinnen und Strategien von Trump über seinen Twitteraccount tatsächlich zur Spaltung Europas führen können. Darum kommt es doch umso mehr darauf an, dass wir in Deutschland ein starkes Signal für ein einiges Europa setzen und zur Sachpolitik zurückkehren.
Wir haben einen guten Koalitionsvertrag geschlossen, der zu einem neuen Aufbruch für Europa und einer neuen Dynamik in Deutschland führen soll.
({5})
Aber ein offenes Wort: So haben wir uns das mit der Union nicht vorgestellt, dass Sie die Dynamik dazu nutzen, möglicherweise einen bayerischen Landtagswahlkampf wichtiger zu nehmen als die Politik, die Sie machen wollen.
({6})
Ich komme noch mal auf die Innenpolitik zurück: Ich habe natürlich sehr genau gemerkt, was zur Bundespolizei gesagt worden ist. Gestern ist erwähnt worden – ich komme aus Nordrhein-Westfalen, wie Sie alle im Saal wissen –, dass auch in Nordrhein-Westfalen Bundespolizisten fehlen. Ich mache mir natürlich Gedanken darüber, ob sich der Innenminister darauf konzentrieren kann, Sicherheit an deutschen Bahnhöfen – übrigens auch am Kölner Hauptbahnhof, in der Nähe der Domplatte – oder zum Beispiel auch am Flughafen Köln/Bonn – auch in meiner Heimatregion – zu garantieren.
({7})
Gleichzeitig erkennen wir einen gigantischen Berg an Überstunden bei den Polizistinnen und Polizisten.
Regen Sie sich nicht auf. – Gehen Sie zur Sachpolitik über, verzichten Sie auf Ultimaten, machen Sie eine ordentliche Politik, und sagen Sie mit mir zusammen Danke an die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten, die einen hervorragenden Job machen
({8})
und sich darauf verlassen, dass wir endlich auch einen machen. Da könnte die CSU auch mitmachen.
Herzlichen Dank.
({9})
Jetzt hat das Wort der Kollege Jürgen Hardt, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Regierungserklärung bezog sich auf den bevorstehenden EU-Gipfel, aber eben auch auf den bevorstehenden NATO-Gipfel. Ohne das Thema EU-Gipfel und die dort zu treffenden wichtigen Entscheidungen kleinreden zu wollen, glaube ich doch, dass von einem erfolgreichen NATO-Gipfel in Brüssel im Juli dieses Jahres mindestens ebenso viel für unser Wohlergehen und unsere Sicherheit in der Zukunft abhängt wie von den vielen anderen Fragen auf dem EU-Gipfel.
Unsere Zeit ist eben leider dadurch gekennzeichnet, dass wir viele große Probleme vor der Brust haben, die frühere Parlamente möglicherweise in ganzen Legislaturperioden so nicht zu bewältigen hatten. Insofern glaube ich, dass wir auch dem NATO-Gipfel unsere Aufmerksamkeit schenken müssen.
Erstes Thema. Für Deutschland geht es auf dem NATO-Gipfel meines Erachtens zuallererst darum, dass wir betonen, welch wichtigen Beitrag wir als deutsche Bundeswehr, als Bundesrepublik Deutschland zu den NATO-Aktivitäten leisten. Deutschland hat im Rahmen des Reassurance-Konzeptes der NATO ganz konkret die Führung in dem NATO-Bataillon in Litauen übernommen. Deutschland beteiligt sich an der Mission Air Policing Baltikum in Estland. Deutschland wird mit Ulm als Standort eine der beiden neu zu schaffenden NATO-Kommandozentralen mit aufbauen und beherbergen. Natürlich ist Deutschland bei den unter NATO-Beteiligung stattfindenden internationalen Einsätzen mittlerweile die Nummer zwei als Truppensteller. Ich finde, bei allen Diskussionen, die wir führen, sollten wir anerkennen, dass Deutschland in der NATO einer der verlässlichsten und starken Partner ist und dass dies selbstverständlich heute und in Zukunft so bleiben wird.
({0})
Zweites Thema. Der NATO-Gipfel wird über die Zukunft der Unterstützung für den Irak beraten. Es gibt Überlegungen, dass die Ausbildungsmission im Irak unter NATO-Federführung stattfinden wird. Ich glaube, dass wir hier im Deutschen Bundestag nach diesem Gipfel mit Blick auf die Entscheidungen, die hier im Hause im Oktober dieses Jahres über die Mandate anstehen, sehr gut beraten sind, diese sehr wohlwollend und sorgfältig zu prüfen, ob nicht gerade wir als Deutsche in diesen NATO-Einsatz im Irak, ein aus unserer Sicht strategisch wichtiges Land und ein Land, in dem wir in den letzten Jahren über unsere Ausbildungsmission Hervorragendes geleistet haben, hineingehören.
Ich weiß, dass das nicht unumstritten ist. Aber ich glaube, dass es eine wichtige Botschaft der deutschen Regierung auf dem NATO-Gipfel sein wird, dass wir das kurzfristig und sorgfältig prüfen und bereit sind, auch da unsere Verantwortung zu übernehmen.
Das dritte zentrale Thema wird natürlich die Frage der Lastenteilung sein. Die Bundeskanzlerin hat hier mit Blick auf ein bestimmtes Jahr eine konkrete Zahl genannt, was die Verteidigungsausgaben angeht. Die Verteidigungsausgaben der Bundesrepublik Deutschland steigen schneller als die Ausgaben des Haushaltes insgesamt. Sie steigen auch schneller als das Bruttosozialprodukt. Somit besteht aus meiner Sicht angesichts der Zahlen für 2018/19 nicht die Gefahr, dass wir in der sogenannten NATO-Quote absinken.
Ich glaube aber, dass unsere Partner zu Recht von uns erwarten dürfen, dass wir uns zielstrebig auf die Quote von 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zubewegen. Ich halte die Festlegung auf eine Quote von 1,5 Prozent Mitte des nächsten Jahrzehnts angesichts der Beschaffungsprojekte, die dahinterstehen, wenn man dieses Geld entsprechend einsetzt, für realistisch. Wir sollten die 2‑Prozent-Quote nicht aus den Augen verlieren; es sei denn, die Welt verändert sich in den nächsten zehn Jahren so, dass die NATO insgesamt zu einer anderen Einschätzung kommt. Ich betone, dass für mich das 2‑Prozent-Ziel von Wales von 2014 selbstverständlich auch für die deutschen Verteidigungsausgaben das perspektivische Ziel bleibt.
({1})
Viertens und letztens. Ich möchte etwas ansprechen, was mich im Zusammenhang mit der NATO derzeit sehr bewegt. Die NATO ist eine Gemeinschaft, die antritt, gemeinsame Werte wie Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen. Deswegen muss sich das im Verhalten der einzelnen Mitgliedstaaten gegenüber anderen und im Verhalten der Mitgliedstaaten untereinander widerspiegeln. Es muss im NATO-Rahmen diskutiert werden – das muss man vielleicht nicht öffentlich machen –, dass sich die Türkei mit ihrer Unterdrückung der Pressefreiheit und mit ihrem, wie ich finde, zu ausgedehnten Engagement auf dem Boden Syriens im Süden der Türkei unter einen gewissen Rechtfertigungsdruck setzt, auch gegenüber den Partnern in der NATO; denn wir können deren Werte nur dann glaubhaft verteidigen, wenn wir in unseren Reihen selbst für diese Werte stehen.
({2})
Dazu gehört auch – mein letzter Satz –, dass wir es nicht hinnehmen können, dass ein amerikanischer Präsident Sanktionen oder Strafzölle gegen europäische NATO-Partner damit begründet, Stahl oder Aluminium aus Europa seien eine Gefährdung der amerikanischen Sicherheit. Europa trägt zur Sicherheit Amerikas bei, genauso wie Amerika zur Sicherheit Europas beiträgt, und in der Handelsauseinandersetzung dieses Argument zu bemühen, ist schlicht unakzeptabel.
Danke schön.
({3})
Jetzt erteile ich der Kollegin Dr. Frauke Petry das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Bundeskanzlerin in Abwesenheit!
({0})
Sehr geehrte Kollegen! Von einer Regierungserklärung zum Europäischen Rat erwartet man eine ehrliche Bestandsaufnahme dieses Europas. Bekommen haben wir eine Rede voll technischem Geschwurbel und ja, auch gespickt mit Freud’schen Versprechern wie zur gestärkten Sekundärmigration.
Tatsache ist doch: Europa ist heute gespaltener, als es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs jemals wieder vorstellbar war. Euro-Krise, Banken- und Staatspleiten und vor allem die Folgen illegaler und viel zu lange geduldeter Migration haben zu diesem Ergebnis geführt. Und warum? Weil viel zu viele Politiker in diesem Land und in ganz Europa ohne Rücksicht auf politische Realitäten einem europäischen, ja utopistischen Traum hinterhergelaufen sind, und das ist vor allen Dingen, Frau Merkel, die Politik Ihrer Regierungen und Ihre ganz persönliche Bilanz.
Heute ist Deutschland, heute ist Europa sozialistischer, ängstlicher und auch verschuldeter als zu Zeiten europäischen Wettbewerbs. Weniger Bürokratie, eine kleinere EU-Kommission – also weniger Kommissare – und ein kleineres EU-Budget wären vernünftige Antworten auf Ihre zentralistische Sackgasse. Aber davon hören wir nichts.
Und noch etwas: Immer wieder verkünden Sie den Bürgern Halbwahrheiten. Man könnte auch sagen: Sie schwindeln.
Migration kann nicht zur Schicksalsfrage dieses Kontinents werden, meine Damen und Herren. Sie ist es längst für alle sichtbar seit 2015 und für alle Politiker spätestens messbar und ablesbar in Statistiken seit 2012. Sie aber dilettieren an kosmetischen Korrekturen von Richtlinien und Verordnungen herum und verschweigen den Bürgern wieder einmal die Realität. Denn solange wir kein umfassendes europäisches Grenzsicherungssystem haben – und wir haben es nicht –, brauchen wir vorübergehende, aber flächendeckende Grenzkontrollen der Innengrenzen. Sonst machen Menschen, machen Migranten, was ganz natürlich ist: Sie gehen dorthin, wo es das meiste Geld gibt, und sie gehen dorthin, wo ihre Landsleute bereits sind. Und sie bilden etwas, was hier immer zutiefst bekämpft wird: Sie bilden kulturell homogene Gruppen, nämlich Parallelgesellschaften.
Meine Damen und Herren, was wir brauchen, ist endlich eine echte Reform dieses Asylsystems, das seinen Namen schon lange nicht mehr verdient. Wir haben nach wie vor in diesem Land nicht mehr als 2 Prozent politisches Asyl gewährt. Die restlichen Menschen sind Migranten. Das ist nicht verwerflich, aber sie fallen nicht unter dieses System, und deswegen muss Schluss sein mit dem individuellen Anspruch auf Asyl in Deutschland und Europa.
({1})
Ja, wir müssen Afrika helfen. Aber Afrika muss sich vor allen Dingen selbst helfen, durch Geburtenkontrolle und mehr Bildung. Da können wir etwas tun, aber wir können es nur zum Teil hier in Europa tun.
Meine Damen und Herren, Europa kann es nur gutgehen, wenn es den einzelnen Ländern gutgeht. Dafür sind wir hier in Deutschland vor allem verantwortlich: für dieses Land, für seine Bürger. Dafür fehlen Ihnen, Frau Merkel, noch die Ideen. Aus diesem Hohen Hause kam verhältnismäßig wenig Substanzielles. Wir brauchen nämlich endlich eine konservative bürgerliche Wende in diesem Land, spätestens zur nächsten Bundestagswahl.
({2})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Thorsten Frei für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, diese Debatte hat sehr deutlich gemacht, dass wir wahrscheinlich selten einen Europäischen Rat und einen NATO-Gipfel hatten, bei denen wir mit den Problemen, die von außen auf unser Land und Europa insgesamt einwirken, so sehr im Auge des Tornados standen, wie es heute der Fall ist. Es ist in der Tat so, dass es mannigfaltige Herausforderungen sind, zu denen wir heute konstatieren müssen, dass wir noch keine wirklich guten und überzeugenden Lösungen haben.
Wenn ich anknüpfen darf an den Kollegen Hardt: Es ist der Krisenbogen rund um Europa, von Nordafrika über den Nahen und Mittleren Osten bis nach Osteuropa. Es sind die wirtschafts- und handelspolitischen Konflikte, die natürlich eine Exportnation wie Deutschland in ganz besonderem Maße treffen. Es sind die Migrationsherausforderungen, die uns in der Tat herausfordern. Auf dem afrikanischen Kontinent wird sich die Bevölkerung bis zur Mitte des Jahrhunderts verdoppelt und bis zum Ende des Jahrhunderts vervierfacht haben. Die Migrationszahlen des UNHCR zeigen: 68,5 Millionen Menschen sind schon heute weltweit vor Krieg und Verfolgung auf der Flucht. Das sind 3 Millionen mehr als im letzten Jahr. Das ist die höchste Steigerung, die jemals gemessen wurde. Hier reden wir nur über diejenigen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen. Wir reden noch nicht über diejenigen, die als Wirtschaftsmigranten unterwegs sind. Wenn man das alles in Rechnung stellt, dann wird, glaube ich, deutlich, dass wir auf allen Ebenen angreifen müssen, dass wir global mit den Herausforderungen umgehen müssen. Wir haben beispielsweise über den Global Compact for Migration diskutiert. Wir brauchen europäische Lösungen und müssen nationale Maßnahmen dort nachschärfen, wo sich herausgestellt hat, dass wir noch nicht gut genug sind.
({0})
Vor diesem Hintergrund ist es in der Tat wichtig, dass wir die großen Herausforderungen europäisch annehmen und angehen und dass wir die entsprechenden Voraussetzungen dafür schaffen. Das bedeutet im Hinblick auf den Europäischen Rat, dass man sehr genau unterscheidet, wo es Themen gibt, die wir national nicht mehr bzw. nicht angemessen lösen können. Da müssen wir – weil es einen europäischen Mehrwert gibt – stärker zusammenarbeiten. Das sind Fragen der Migrationspolitik sowie der Außen- und Verteidigungspolitik. Das sind des Weiteren Fragen des Grenzschutzes und der Terrorismusbekämpfung. Wir müssen genauso schauen, wo das nicht der Fall ist, wo wir durch Subsidiarität bessere Lösungen entweder nationalstaatlich oder auf regionaler bzw. kommunaler Ebene erreichen. Ich glaube, dass diese Unterscheidung ganz wesentlich dafür ist, ob wir die Akzeptanz für Europa weiter erhalten, ausbauen und stärken können oder ob uns das nicht gelingen wird. Vor diesem Hintergrund ist es richtig, dass wir uns in den kommenden zwei Tagen auf europäischer Ebene auf die Themen im Bereich der Migration konzentrieren, bei denen wir Übereinstimmung und Ergebnisse erzielen können. Nicht Schlepper dürfen darüber entscheiden, wer nach Europa kommt, sondern gewählte Regierungen müssen das tun. Dafür muss man Voraussetzungen schaffen. Daraus ergeben sich dann die weiteren Handlungsnotwendigkeiten.
Ja, es ist richtig: Wenn man in einem eng integrierten Europa zusammenlebt, wenn viele europäische Staaten eine gemeinsame Währung haben, dann brauchen wir auch Konvergenz. Das ist vollkommen richtig. Ich habe aber an manchen Stellen den Eindruck, dass es uns nicht an Konvergenz mangelt, sondern dass wir zu wenig auf Eigenverantwortlichkeit, Subsidiarität und Einhaltung von Verträgen setzen; das ist wichtig. Wir brauchen aber auch den Wettbewerb untereinander, damit wir uns am Ende – genauso wie es die Bundeskanzlerin formuliert hat – nicht am Durchschnitt orientieren, sondern an der Spitze in der Welt. Das muss der Maßstab für Deutschland und Europa sein.
({1})
Lassen Sie mich noch eines sagen: Wir haben auch über den NATO-Gipfel diskutiert und darüber, dass viele Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind, letztlich darin begründet sind, dass ein Multilateralismus, der geordnet ist und auf der Stärke des Rechts und nicht auf dem Recht des Stärkeren basiert, an vielen Stellen in Gefahr ist. Deshalb müssen wir als Europäer und Deutsche eine stärkere, auch eine glaubwürdigere Rolle einnehmen. Wenn wir auf Multilateralismus, auf die Einhaltung von Verträgen setzen, dann sind wir auch an das gebunden, wozu wir uns im Sommer 2014 im Rahmen der NATO verpflichtet haben. Wir können Schritte hin zum 2‑Prozent-Ziel gehen. Vereinbart sind 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis 2024.
Wir sollten diese Schritte glaubwürdig gehen. Unsere Partner sollten sich auf uns verlassen können. Nur dann sind wir auch glaubwürdig, wenn es kritisch wird in der Welt. Glaubwürdigkeit ist die Grundvoraussetzung dafür, dass wir für unser Land, aber auch für unseren Kontinent eine starke Rolle übernehmen können.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank. – Das war der letzte Redebeitrag. Deshalb schließe ich die Aussprache zur Regierungserklärung.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über sechs verschiedene Entschließungsanträge. – Ich bitte Sie, Platz zu nehmen, damit wir diese Abstimmung vernünftig durchführen können.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion der FDP, Drucksache 19/2995. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das ist die Fraktion der FDP. Wer stimmt dagegen? – Alle anderen Fraktionen. Enthaltungen? – Ich sehe keine. Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion der FDP, Drucksache 19/2996. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das ist die Fraktion der FDP. Wer stimmt dagegen? – Alle anderen Fraktionen. Enthaltungen? – Auch hier sehe ich keine Enthaltungen. Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt.
Dann kommen wir zum Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/2993. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das ist die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Alle übrigen Fraktionen. Enthaltungen? – Keine. Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/2994. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das ist die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Der Rest des Hauses. Enthaltungen? – Keine. Der Antrag ist damit abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/2992. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das ist die antragstellende Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Das übrige Haus. Enthaltungen? – Keine. Damit ist auch dieser Antrag abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/3032. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das sind die Fraktionen der Grünen und der Linken. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Fraktionen AfD, CDU/CSU und SPD. Wer enthält sich? – Die FDP. Damit ist der Entschließungsantrag bei Enthaltung der FDP mit der Mehrheit des Hauses abgelehnt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesem Jahr feiert die Zwischenstaatliche Kommission für den Klimawandel, kurz: IPCC, oder im Original „Intergovernmental Panel on Climate Change“, ihren 30. Geburtstag – eine rein politische Dauerveranstaltung; „Intergovernmental“, also etwas zwischen Regierungen, hierzulande von den Medien zum „Weltklimarat“ hochstilisiert. Es waren 30 Jahre, in denen nichts Dramatisches passiert ist. Wurde es zum Anfang noch ein wenig wärmer, stabilisierte sich die Temperatur während der letzten 20 Jahre, von kurzen Spitzen, erzeugt durch El Niño, mal abgesehen. Extremwetter wie Stürme, Überschwemmungen, Dürren etc. nahmen laut offiziellen Wetterseiten nicht nur nicht zu, sondern in vielen Teilen der Welt im Trend sogar ab, obwohl die CO 2 -Emissionen stiegen und immer noch steigen, circa 2 ppm pro Jahr. Es waren 30 Jahre, in denen das IPCC der Wissenschaft nicht nur vorschrieb, woran sie zu forschen hätte, sondern auch, welches Ergebnis man erwarte, nämlich wissenschaftlich zu belegen, dass der Klimawandel gefährlich, weil riskant sei, und vor allem, dass er von Menschen gemacht werde. Genau so steht es im Mandat des IPCC.
Und was tun einige Wissenschaftler, wenn es um Milliarden und Abermilliarden für ihre Forschung geht, was unter Klimawissenschaftlern gehäuft vorkommt? Sie forschen nach der Devise: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.
({0})
Wir alle müssen aber feststellen, dass es trotz milliardenschwerer Forschungen in den 30 Jahren nicht ein einziges Mal gelungen ist – nicht ein einziges Mal! –, die Annahme zu beweisen, dass der Mensch mit seinen CO 2 -Emissionen die Welttemperatur nennenswert oder auch nur messbar beeinflusst. Und auch wenn es einige nervt, wiederhole ich mich hier gern: Die einzigen Beweise stammen aus Klimacomputermodellen. Das Klima wandelt sich seit Jahrmillionen, und zwar ohne Zutun des Menschen; aber das nur am Rande.
Mein eigentliches Thema ist die unverantwortliche, ja asoziale Politik – hochtrabend „Klimaschutzpolitik“ –, die seitdem unter allen Regierungen, besonders aber unter denen, an denen die Klimakanzlerin – sie ist nicht mehr da – beteiligt war und ist, rücksichtslos vorangetrieben wird. Aktuelles Beispiel ist die Kohleausstiegskommission. Offiziell heißt sie natürlich: Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“. Aber machen wir uns nichts vor: Die Kommission hat die Aufgabe, den schnellstmöglichen Kohleausstieg vorzubereiten – und das nicht nach dem Prinzip von Machbarkeit und Wirtschaftlichkeit oder wirtschaftlicher Vernunft, sondern links-grün ideologisch getrieben; das zeigt schon die Zusammensetzung dieser Kommission.
Unter dem Deckmantel dieser Klimaschutzpolitik nutzt man ihre grandiosen Möglichkeiten, das Vermögen der Welt, vor allem aber unser Vermögen umzuverteilen, und zwar nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben. Die Reichen werden auf Kosten der Armen reicher gemacht. Sie lädt der Bevölkerung riesige Belastungen auf unter dem hehren Vorwand, unsere CO 2 -Emissionen für den sogenannten Klimaschutz senken zu müssen, und sieht ungerührt zu, verlangt sogar mehr von denselben, deren Kosten sich zu riesigen Beträgen – Hunderte Milliarden, bald Billionen – summieren, aber weder eine spürbare Senkung der Emissionen bewirken noch irgendeinen Einfluss auf das sogenannte, nur in den Köpfen von Klimaideologen existierende Weltklima haben.
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Denn Tatsache ist – da müssen Sie mir zustimmen –: Die deutschen Emissionen bleiben seit 2008, das heißt seit zehn Jahren, mit Schwankungen, plus/minus 2 Prozent, stabil. Alle Anstrengungen, sie zu senken, blieben ergebnislos, obwohl sich in der gleichen Zeit die installierte Leistung der sogenannten Erneuerbaren auf sagenhafte 114 Gigawatt nahezu verdreifacht hat, zusätzlich zu den dringend gebrauchten – Strom lässt sich nicht speichern – 80 Gigawatt aus konventionellen Kraftwerken, versteht sich, und daher eigentlich vollkommen überflüssig.
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Doch auch wenn unsere Emissionen auf nahe null gesenkt würden, wie es die große Transformation vorsieht und wie es als Staatsziel im sogenannten Klimaschutzplan 2050 festgeschrieben ist, und auch nur dann, wenn man dem Dogma der Ideologie von der menschengemachten Erwärmung folgte, würde der deutsche Senkungsbeitrag zwar zur völligen Verarmung des größten Teils unserer dann vermutlich Multikultibevölkerung führen, aber rechnerisch nur zu einer Verringerung des Anstiegs der sogenannten Welttemperatur irgendwann in ferner Zukunft um 0,000653 Grad Celsius führen – ein Wert, der weder messbar noch fühlbar ist, also praktisch nicht vorhanden ist. Den vielen Politikern, von denen ich höre: „Auch wenn es nur 0,000653 Grad Celsius sind, müssen wir trotzdem als Vorbild voranschreiten“, kann ich nur sagen, bei allem nötigen Respekt: Sie haben offensichtlich Ihren Realitätssinn verloren.
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Niemand – niemand! – folgt uns. In 62 Ländern werden derzeit 1 600 Kohlekraftwerke neu gebaut oder erweitert. Man greift sich im Ausland an den Kopf, wie man eine stabile Stromversorgung in so wenigen Jahren derart ruinieren und destabilisieren kann, reibt sich schon die Hände und wartet, wann denn endlich auch das letzte Grundlastkraftwerk abgeschaltet wird, damit die Deutschen endlich den Kohle- und den Kernkraftwerksstrom aus dem Ausland einkaufen müssen.
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Einstein hat den Satz geprägt: Eine Definition von Wahnsinn ist, immer das Gleiche zu versuchen und andere Ergebnisse zu erwarten. – Auch nach dieser Definition ist die sogenannte Klimaschutzpolitik, höflich gesprochen, nur als wahnsinnig zu bewerten.
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Im normalen Leben würde man sie „unverantwortlich“ oder sogar „asozial“ nennen; denn offen wahnsinnig sind die Protagonisten dieser Politik ja nicht. Aber sie reiht sich nahtlos ein in andere unverantwortliche Politik, die diese Kanzlerin und ihre Unterstützer betreiben, wie zum Beispiel die unverantwortliche Euro-Rettungspolitik oder – wenn man „unverantwortlich“ noch steigern könnte – die noch unverantwortlichere Migrationspolitik. Deswegen fordern wir von der AfD zum Wohle unserer Menschen – das richtet sich an die SPD –: Machen Sie endlich wieder Politik für Ihre Stammklientel. Lassen Sie nicht länger zu – Sie nehmen sogar aktiv daran teil –, dass gläubige Ideologen Sie unter dem Deckmantel des Klimaschutzes enteignen. Und an die Noch-Kanzlerin: Hören Sie endlich auf mit dieser verantwortungslosen Politik, auch Klimaschutzpolitik. Werden Sie endlich wieder Ihrem Amtseid gerecht, oder treten Sie zurück.
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An alle Vernünftigen in diesem Hohen Haus – aus persönlichen Gesprächen weiß ich, dass es einige davon auch in der Klimaschutzpolitik gibt
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– ganz genau –, sie sagen es bloß nicht offen –: Stimmen Sie unserem Antrag zu, auch wenn er von der AfD kommt!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächste Rednerin für die Fraktion der CDU/CSU ist Dr. Anja Weisgerber.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die AfD-Fraktion fordert in ihrem Antrag die Abkehr von allen Gesetzen und Verordnungen in der Klimapolitik, die Aufgabe aller Klimaziele, die Beendigung aller nationalen und internationalen Verpflichtungen und die Entlassung aller Klimamanager und Mitarbeiter in ganz Deutschland, die sich mit diesem Thema befassen – „sozialverträglich“, schreiben Sie in Ihrem Antrag –,
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und das mit der Begründung, CO 2 ist das „Gas des Lebens“.
Meine Damen und Herren, so gut wie alle Wissenschaftler weltweit sagen, dass Klimagase wie CO 2 den Klimawandel befördern
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und dieser auch menschengemacht ist. Sie sind die einzige Partei im Bundestag, die den Klimawandel komplett verleugnet.
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All das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, ist verantwortungslos. Sie sagen, der Klimawandel ist nicht menschengemacht. Aber er ist auch menschengemacht.
Ich sage es noch mal: Das, was Sie machen, und das, was Sie in Ihrem Antrag formulieren, ist verantwortungslos gegenüber unseren Kindern und Enkelkindern, meine Damen und Herren.
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Und jetzt zu den Details. Eines ist richtig: Pflanzen verwandeln mithilfe von Sonnenlicht CO 2 und Wasser zu Biomasse – das ist Fotosynthese. Grundsätzlich gibt es diesen Düngeeffekt durch CO 2 . Es ist aber schon so, dass er viel geringer ist als gedacht. Was im Labor stimmt, ist in der Natur wesentlich komplizierter.
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Zu den Studien im Labor, die Sie in Ihrem Antrag zitieren – Sie sehen, ich habe mich intensiv damit auseinandergesetzt –: Feldstudien in der Natur kommen zu etwas anderen Ergebnissen. Sie zeigten, dass das Pflanzenwachstum durch CO 2 um den Faktor 2 überschätzt wurde. Außerdem: Keine Pflanze lebt allein von CO 2 ; sie braucht auch Nährstoffe aus dem Boden.
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Diese Nährstoffe nehmen dann nicht analog zum CO 2 zu. Die negativen Effekte des Klimawandels führen zu Trockenheit, Stürmen und Ernteeinbußen. Salopp gesagt: Selbst wenn die Pflanzen mehr wachsen würden, würden sie verdorren und vertrocknen.
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Eines steht fest: Das Schutzschild aus CO 2 verhindert, dass die Erde zu viel Wärme abgibt – richtig! Das ist der natürliche Treibhauseffekt, der wichtig ist. Sonst hätten wir eine mittlere Temperatur auf der Erde von circa -18 Grad. Aber generell gilt: Ein Zuviel an CO 2 führt dazu, dass sich die Erde zu stark erwärmt. Das ist die globale Erwärmung mit allen negativen Folgen, die drohen:
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Anstieg des Meeresspiegels, bedrohte Inselstaaten, Dürren und die Zunahme von Unwettern.
Noch mal: Es ist erschreckend, dass Sie sich in allen Ihren Reden hier im Deutschen Bundestag zur Klimapolitik – auch ich habe in dieser Legislatur schon oft gesprochen – fast nie mit den Klimagesetzen befassen.
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Das Einzige, was Sie können, ist, Ihre Redezeit darauf zu verwenden – um nicht zu sagen: darauf zu verschwenden –, wie gut angeblich CO 2 ist. Der überwiegende Teil der Wissenschaftler sagt etwas anderes,
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nämlich, dass CO 2 und Klimagase den Klimawandel auslösen und dass dieser – ja! – auch menschengemacht ist.
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Noch ein letztes Argument: Früher erwärmte sich das Klima alle 1 000 Jahre um 1 Grad, jetzt alle 100 Jahre um 1 Grad. Die Erderwärmung findet also statt. Ihre rückständige Haltung entspricht auch nicht dem, was die Mehrheit der Bevölkerung sagt:
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Wir müssen dem Klimawandel entgegentreten, und zwar konsequent und natürlich im Hinblick auf die Auswirkungen auf die Wirtschaft und auf die Arbeitsplätze. Wir dürfen das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, aber wir müssen unsere Ziele erreichen und unseren Weg konsequent weitergehen, und zwar auf internationaler, auf europäischer und auf nationaler Ebene, werte Kollegen von der AfD.
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Jetzt kann man sich hinstellen, wie Sie es gemacht haben, Herr Hilse, und sagen: Deutschland steht ja nur für 2 Prozent der Treibhausgasemissionen. Ja, es stimmt, dass wir nur für 2 Prozent stehen; das sage auch ich. Aber Deutschland hat als Industrienation eine wichtige Rolle in der internationalen Klimapolitik, alle schauen auf uns.
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Alle schauen darauf, wie wir unsere Rolle gestalten und wie wir beides schaffen: Wirtschaftswachstum und Energiewende bzw. Minderung der Treibhausgasemissionen. Wir haben eine Vorbildfunktion, und die gilt es auszugestalten.
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Wenn man nur auf Anpassungsmaßnahmen setzt, wie Sie das in Ihrem Antrag fordern, dann werden auch – das ist doch das Entscheidende – die Entwicklungs- und Schwellenländer, die gerade ihre Wirtschaft aufbauen, zusammen mit allen Ländern, die für die restlichen 98 Prozent der Treibhausgasemissionen stehen, sagen: Dann können wir unsere Wirtschaft doch gleich ausschließlich mit fossilen Energien aufbauen. – Dann liegt die Erderwärmung nicht nur bei 3 Grad, sondern noch viel höher. Und dann könnten wir einpacken, meine Damen und Herren. Das können auch Sie nicht wollen.
Ihre Forderung, die Klimaziele aufzugeben, ist eine komplette Kapitulation vor dem stattfindenden Klimawandel. Und: Es ist ein Schlag ins Gesicht von all denjenigen Menschen, für die das Thema Klimawandel eine Existenzfrage ist.
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Die Menschen, die ihre Lebensgrundlage verlieren, sind die Klimaflüchtlinge von morgen, meine Damen und Herren. Die machen sich nämlich auf den Weg.
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Man muss auch gar nicht in die Ferne schauen: In meinem Heimatort hat es vor wenigen Wochen ein so starkes Unwetter gegeben, dass es allein in einem kleinen Ortsteil 200 Feuerwehreinsätze gegeben hat, weil die Keller vollgelaufen sind, teilweise auch die Erdgeschosse.
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Man kann Wetter und Klima nicht komplett gleichsetzen, das stimmt. Aber die Experten sagen, dass die Zahl der Extremwetterereignisse in den letzten Jahren stark zugenommen hat.
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Das ist einfach Fakt, meine Damen und Herren.
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Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage eines Kollegen der AfD?
Ich würde jetzt gern erst mal fortfahren, und dann kann er gerne danach noch etwas sagen.
Wir bekennen uns weiterhin zu unseren Klimazielen – national, europäisch und international. Wir sagen, dass wir die Klimaschutzlücke so weit wie möglich schließen wollen und dass wir das Klimaziel 2030 in jedem Fall erreichen wollen, meine Damen und Herren. Deshalb ist es wichtig, dass wir schon heute den richtigen Weg einschlagen.
Die Wirtschaft kann Wandel; das hat sie in der Vergangenheit bewiesen bei der Industrialisierung und jetzt bei der laufenden Digitalisierung. Auch die Entwicklung von Umwelt- und Klimainnovationen ist eine Riesenchance, die es zu nutzen gilt, weil dabei Arbeitsplätze entstehen. Gerade die Wirtschaft braucht Planungssicherheit, braucht Investitionssicherheit. Eines ist klar: Die Aufgabe der Klimaziele, die Abschaffung aller Gesetze zum Klimaschutz, ist genau das, was eben keine Planungssicherheit bringt.
Deswegen: Wir machen uns auf den Weg; wir nutzen die Chancen, die sich aus den Klimainnovationen und deren Entwicklung ergeben. Das ist unser Weg. Wir setzen auf Anreize und nicht auf Verbote und das nicht nur national, sondern auch im europäischen und internationalen Kontext.
Vielen Dank.
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Der Kollege Karsten Hilse erhält die Gelegenheit zu einer Kurzintervention.
Vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie die Kurzintervention zulassen. – Frau Weisgerber, ich möchte ganz kurz darauf eingehen, was Sie gerade gesagt haben, nämlich dass, selbst wenn unser Beitrag so gering ist – ich wiederhole es einfach noch mal: 0,000653 Grad Celsius –, die anderen auf uns schauen und uns nachfolgen sollen. Ich hatte in meiner Rede explizit gesagt, dass im Moment 1 600 Kohlekraftwerke in 62 Ländern gebaut werden. Da folgt uns niemand nach.
Und dann noch mal zu Ihrem Extremwetterbeispiel: Schauen Sie – darum möchte ich Sie bitten – auf die offizielle Seite des Deutschen Wetterdienstes, schauen Sie sich die Diagramme an. Dort werden Sie sehen, dass es keine signifikante Zunahme von Extremwetterereignissen, von Dürreperioden oder von Dauerregen gab. Das Argument funktioniert einfach nicht mehr.
Vielen Dank.
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Wenn Sie mich bitten, etwas nachzuschauen, dann bitte auch ich Sie, sich mit den Expertenmeinungen der Meteorologen zu befassen. Alle anerkannten Meteorologen in Deutschland – hören Sie sie doch an! – sagen doch, dass die Zunahme der Unwetterereignisse weltweit – klar kann man ein Ereignis nicht gleichsetzen mit dem Klimawandel, aber es geht um die Zunahme – sehr wohl etwas mit dem menschengemachten Klimawandel zu tun hat. Schauen Sie doch auch mal auf den internationalen Klimaprozess. Sie stellen sich hierhin und sagen: Kein Land folgt uns nach.
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Fast 200 Länder – alle Staaten der Welt – haben sich in Paris auf verbindliche Klimaziele geeinigt. Okay, die Wege sind unterschiedlich. Aber Fakt ist, dass ganz viele Länder der Welt sich auf den Weg machen, auch was die stärkere Nutzung der erneuerbaren Energien angeht. Da müssen wir schon aufpassen – ich zitiere mal, was die andere Seite des Hauses oft sagt –, dass wir unsere Vorreiterrolle behalten. Wir machen uns auf diesen Weg unter Beachtung der Auswirkungen auf die Wirtschaft und auf den Arbeitsmarkt – das ist ganz wichtig –, also innerhalb des Zieldreiecks aus Ökologie, Ökonomie und Sozialem. Das ist unser Weg, und den werden wir konsequent weitergehen.
Danke schön.
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Nächster Redner ist Dr. Lukas Köhler für die FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Die AfD will also über eine faktenbasierte Klimapolitik sprechen. Gute Idee! Da nehmen wir doch als Basis einfach die 97 Prozent der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sagen, dass es den menschengemachten Klimawandel gibt
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und dass wir ihn nur bekämpfen können, wenn wir schnell und entschlossen handeln.
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Meine Damen und Herren, daher sollten wir keine Zeit mit der Frage verschwenden, ob wir Klimapolitik machen. Lassen Sie uns vielmehr darüber reden, wie wir Klimapolitik machen.
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Denn auch, wenn wir uns als Freie Demokraten mit den anderen vernünftigen Fraktionen und der Linken einig sind, dass wir das Pariser Klimaabkommen einhalten wollen, so liegen wir doch bei der Frage nach dem Wie in unseren Vorstellungen oft weit auseinander. Lassen Sie mich zwei Wege vorstellen, wie man damit umgehen kann.
Der erste Weg ist die Detailsteuerung. Da wird versucht, alles bis ins letzte Detail zu regeln, zu lenken, zu verbieten und zu subventionieren. Und am Ende haben wir allerlei Bereiche kleinteilig geregelt, aber alles läuft nebeneinander her und nichts passt zusammen. Das ist die bisherige Klimapolitik in Deutschland; und die ist teuer, die ist ineffizient, und am Ende werden die Ziele dann doch nicht eingehalten, wie der aktuelle Klimaschutzbericht der Bundesregierung gezeigt hat.
Wir schlagen einen anderen Weg vor. Und das, meine Damen und Herren, ist der Weg über die Mengensteuerung. Das bedeutet: Wir geben als Politik nur vor, wie viel CO 2 insgesamt ausgestoßen werden darf. Damit haben wir die Definition eines Gesamtbudgets.
Daraus ergibt sich jetzt die Frage: Wie wird dieses Gesamtbudget verteilt? Meine Damen und Herren, hier greift eine einfache Weisheit unseres Parteivorsitzenden: Die besten Problemlöser sind diejenigen, die direkt mit der Umsetzung zu tun haben. Wir müssen also die Verteilung des Budgets den Tüftlern, Technikern und Ingenieuren überlassen.
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Und das funktioniert am effizientesten in einem freien Wettbewerb um die besten Ideen. Wir teilen das Budget in Zertifikate auf, die pro Tonne ersteigert werden müssen. Wer es also schafft, die wenigsten Zertifikate zu verbrauchen, der spart am Ende des Jahres auch am meisten Geld. Aber, meine Damen und Herren, der springende Punkt dabei ist nicht die Frage der Verteilung, sondern, dass es nur so viele Zertifikate gibt, wie es das Budget zulässt. Nicht mehr und nicht weniger.
Was ist also die aktuelle Herausforderung für die Politik? Wir haben bereits einen funktionierenden Zertifikatehandel, den EU ETS. Dieser erreicht bereits zielgenau das ihm vorgegebene Teilbudget.
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Um aber auf diesem Weg unsere Klimaziele sicher und effizient zu erreichen, müssen wir aus dem aktuellen Teilbudget, das nur den Energie- und Industriesektor umfasst, ein wirkliches Gesamtbudget machen. Dieses muss dann also alle Emissionen und daher dringend auch den Verkehrs- und Wärmesektor umfassen. Wenn wir aber dieses Gesamtbudget haben und es auf die Pariser Klimaziele ausrichten, dann werden wir diese auch erreichen.
Meine Damen und Herren, das Gegenargument, das immer wieder vorgebracht wird, lautet, dass im Emissionshandel der Preis zu niedrig ist. Wer dieses Argument nutzt, hat den Wirkmechanismus der Mengensteuerung nicht verstanden. Der Punkt ist doch nicht, wie hoch der Preis ist. Für das Klima ist es egal, wie viel 1 Tonne CO 2 kostet. Wichtig ist einzig und allein, dass das Budget eingehalten wird.
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– Das war zu leise, sorry. – Das gelingt auch, weil die Strafen für Emissionen ohne Zertifikate so hoch sind, dass es günstiger ist, den CO 2 -Ausstoß zu verringern und damit die besten, effizientesten und effektivsten Lösungen zu finden.
Meine Damen und Herren, in so vielen klugen Köpfen dieses Landes schlummern so viele gute Ideen. Lassen wir sie in den Wettbewerb miteinander treten! Denn dieser war schon immer am besten dazu geeignet, die besten Lösungen hervorzubringen und die besten Potenziale zu heben. Lassen Sie uns wirtschaftliche Anreize setzen, statt alles bis ins Detail zu regulieren! Und lassen Sie uns lieber heute als morgen damit beginnen!
Vielen lieben Dank.
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Nächster Redner für die Fraktion der SPD ist der Abgeordnete Klaus Mindrup.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Montag dieser Woche hatte ich einen sehr interessanten Termin in meinem Wahlkreis. Unter dem Mauerpark wird ein riesiger Stauraumkanal gebaut, um anfallendes Regenwasser zu speichern. Wir haben nämlich in Berlin angeblich Jahrhundertregenereignisse fast jedes Jahr. Der Klimawandel ist also auch hier schon spürbar, und die Stadt Berlin muss zig Millionen Euro investieren, um mit den Folgen umzugehen.
Parallel drohen in diesem Jahr große Ernteschäden in Brandenburg und Mecklenburg, weil zu wenig Regen fällt, parallel steigen global die Temperaturen, und parallel bauen wir an der Nordseeküste höhere Deiche. In anderen Ländern gibt es viel dramatischere Entwicklungen. Aber zu all dem sagt die AfD: Dies hat nichts mit menschlichem Handeln zu tun, nichts mit dem Ausstoß von Kohlendioxid und anderen klimarelevanten Gasen.
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Schauen wir einmal zehn Jahre zurück und uns die damaligen Prognosen der Klimaforscher an. Sie haben gesagt: Mit steigender CO 2 -Konzentration gibt es mehr extreme Regenereignisse, erhöhte Temperaturen, mehr Trockenperioden, einen Anstieg des Meeresspiegels. All das tritt jetzt ein.
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Wir standen schon einmal vor einer ähnlichen globalen Bedrohung, nämlich der Gefährdung der Ozonschicht durch Fluorchlorkohlenwasserstoffe. Die internationale Gemeinschaft hat unter anderem mit dem Montrealer Protokoll darauf eine klare Antwort gefunden. Auch damals gab es Interessenvertreter, die gesagt haben: Ist ja gar nicht erwiesen. Wir können warten. Es gibt andere Ursachen. – Aber die haben sich glücklicherweise nicht durchgesetzt; sie lagen nämlich falsch. Wenn sie sich durchgesetzt hätten, wäre das eine Katastrophe gewesen.
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Ich sage Ihnen deutlich: Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung; aber keiner hat das Recht auf eigene Fakten.
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Ich sage Ihnen aber auch: Wir müssen besser werden. Das Verfehlen der Klimaschutzziele 2020 muss für uns ein Weckruf sein. Gut gemachter Klimaschutz ist ein Beschäftigungsmotor und nicht nur gut für die Umwelt, sondern auch gut für unsere Volkswirtschaft und gut für die Menschen in unserem Land.
Seien wir doch nicht so pessimistisch. Das Aachener Modell, nach dem erstmals kostendeckend Solarenergie vergütet worden ist, ist im Jahr 1992 mit 2 D-Mark pro Kilowattstunde gestartet. Die letzten Ausschreibungen haben einen Preis von durchschnittlich 4,67 Cent für Photovoltaik ergeben, zum Teil lag er unter 4 Cent. Bei der Onshorewindenergie sind wir im Jahr 2000 mit 17,8 Pfennig gestartet. Bei der letzten Ausschreibung lag der Preis bei 5,7 Cent. Die Erneuerbaren sind also wirtschaftlich und schlagen alles andere.
({4})
Die Zahl der Arbeitsplätze im Bereich der Erneuerbaren lag im Jahr 2016 bei 370 000. Für 2020 sind 500 000 Arbeitsplätze prognostiziert.
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Das ist eine Erfolgsgeschichte, die wir nicht durch unsinnige Anträge gefährden dürfen.
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Wir müssen aber auch den Strukturwandel begleiten und den betroffenen Regionen helfen. Als Berliner – noch vor wenigen Jahren hat man gedacht, diese Stadt sei auf dem absteigenden Ast – kann ich Ihnen ein paar Zahlen mitgeben: Von 2008 bis 2017 ist die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze in Berlin um 340 000 gestiegen, allein im letzten Jahr um 59 000 – auch im Umweltsektor. Lassen Sie uns also mutiger sein! Es gibt gute Chancen, die wir nutzen müssen.
({7})
Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, dass wir auch auf die Kosten pro gesparter Tonne CO 2 achten werden. Dies spricht ganz klar für den Ausbau der erneuerbaren Energien, weil sie eben so günstig geworden sind. Die Stromwende muss zu einer echten Energiewende werden.
Im Gebäudebereich brauchen wir einen neuen Schub. Wir müssen auch dort ganzheitlich denken. Wir müssen im Quartier denken. Wir müssen dort die Erneuerbaren und die Speicher stärken.
Und wir brauchen natürlich eine Verkehrswende. Dazu nur zwei Schlagworte. Wir brauchen eine Stärkung des öffentlichen Personennahverkehrs, und auch Wasserstoff wird dabei eine Rolle spielen. Wenn es heute Wasserstoffbusse gibt, die durch die Volksrepublik China fahren und dort produziert werden, muss auch unsere Industrie diese Chancen nutzen.
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Ich habe keine Angst davor, wenn Wasser aus dem Auspuff kommt. Vor so einer Zukunft muss man keine Angst haben.
Wir haben in der Bevölkerung eine breite Akzeptanz für einen gut gemachten Klimaschutz. Auch die Industrie geht voran. Zum Teil ist sie ja sogar ambitionierter als wir, unter anderem Siemens. Ich habe mich sehr über die Studie des BDI gefreut, in der gesagt wurde: Klimaschutz ist gut für unser Land. Der BDI hat aber auch gesagt: Seid bei den Zielen etwas zurückhaltender. Dazu sage ich denen: Ihr habt euch die Techniken von diesem Jahr angeschaut und gesagt, dass wir damit eine Reduktion um 80 Prozent schaffen. Aber wir schaffen die Treibhausgasneutralität; denn es wird weitere Innovationen geben. Wir müssen ein innovationsfreundliches Land sein.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir tragen eine große Verantwortung für unser Land. Da kann man noch so sehr alles Mögliche wegrechnen: Unser Pro-Kopf-Emissionsbudget in der Vergangenheit war groß und ist heute noch zu groß. Die Verantwortung, die wir da weltweit tragen, müssen wir wahrnehmen. Wir müssen wieder ein Vorbild sein. Wir müssen die Chance nutzen, hier zu einem Neustart zu kommen, und das werden wir auch in dieser Koalition. Ich lade alle, die guten Willens sind, dazu ein, daran mitzuwirken; denn ich glaube, auf den Antrag der AfD kann es nur eine Antwort geben: ein gutes Klimaschutzgesetz als Parlamentsgesetz.
Ich danke Ihnen.
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Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke Lorenz Gösta Beutin.
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Herr Präsident!
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Sie haben da einen Gegenstand mitgebracht.
Ich verrate Ihnen gleich etwas darüber.
Normalerweise setzen wir hier im Bundestag auf die Wirkung des gesprochenen Wortes und nicht auf die Aktion.
Das nehme ich zur Kenntnis.
Gut.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Ich möchte mich an dieser Stelle zuerst einmal herzlich bei den Kolleginnen und Kollegen der AfD für diesen wirklich wunderbar sinnlosen Antrag bedanken, den Sie uns hier vorgelegt haben. Denn er gibt mir die Gelegenheit, mich einmal eingehend mit den kruden Thesen der AfD auseinanderzusetzen.
({0})
Doch bevor ich dazu komme, noch ein Wort zu diesem wunderbaren Hut, den ich Ihnen gebastelt habe. Er ist das Erkennungszeichen der Verschwörungsideologen überall auf der Welt.
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Wenn Sie mögen, dürfen Sie ihn sich gerne nach meiner Rede hier am Rednerpult abholen.
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Was fordern Sie also?
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Sie fordern, jegliche Beschäftigte des Bundes zu entlassen, die sich mit dem Klimaschutz beschäftigen. Sie fordern, alle Klimaschutzmaßnahmen hier in Deutschland auszusetzen. Das heißt, dass Deutschland komplett aus dem Klimaschutz aussteigen soll. Das wäre eine verantwortungslose Maßnahme.
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Wir erleben es seit der letzten Bundestagswahl ja Monat für Monat, Woche für Woche in diesem Haus: Was Sie zu bieten haben, sind Fake News, sind Lügen, ist Hass. Das ist eine verantwortungslose Politik, die Sie hier betreiben.
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Aber wissen Sie was? Ich bin tatsächlich überzeugt, dass die große Mehrheit der Menschen in diesem Land Ihren Rassismus und Ihre Angstmacherei nicht mehr hinnehmen wird.
({6})
Diese Mehrheit wird lauter.
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Die Mehrheit, die einsteht für Werte wie Freiheit,
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Demokratie, Solidarität, ist stärker. Diese Mehrheit ist stärker als Ihr Hass.
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Ich will im Einzelnen zu den Thesen kommen.
Erstens. Sie behaupten, der menschengemachte Klimawandel sei nicht wissenschaftlich erwiesen. Das ist falsch. Über 95 Prozent aller wissenschaftlichen Studien kommen zu dem Ergebnis, dass der Klimawandel menschengemacht ist.
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Und mal ehrlich: Über welche Brücke würden Sie gerne gehen, über die Brücke, die zu 95 Prozent hält, oder über die, die zu 5 Prozent hält? Ich bevorzuge die Brücke, die zu 95 Prozent hält.
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Erzählen Sie doch mal einer Familie auf Langeoog, deren Haus im Meer versinkt, es gäbe keinen Klimawandel! Erzählen Sie den 25 Millionen Menschen, die laut Vereinten Nationen in Afrika, in Ozeanien, in Asien ihre Heimat verlassen müssen, es gäbe keinen Klimawandel! Die werden Ihnen was husten.
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Nein, es sind keine Sonneneruptionen, keine Reichsflugscheiben und auch keine geheime Weltregierung, die die Fieberkurve der Erde ansteigen lassen; es ist der menschengemachte Ausstoß von CO 2 , Methan und anderen Klimagasen, durch den die Menschheit bedroht wird. Dieser Klimawandel bedroht das Überleben der gesamten Menschheit. Deswegen sagen wir als Linke: Stoppen wir diesen Klimawandel!
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Zweitens. Sie behaupten, CO 2 sei das „Gas des Lebens“. Es ist beim CO 2 tatsächlich so wie bei einem Medikament: Nimmt man von einem Medikament zu viel, dann wirkt es schädlich. Das erleben wir seit dem Beginn der Industrialisierung. Der CO 2 -Ausstoß Deutschlands liegt bei 2,3 Prozent des weltweiten CO 2 -Ausstoßes, dabei hat Deutschland aber nur einen Anteil an der Weltbevölkerung von 1 Prozent; das heißt, Deutschland stößt überproportional viel CO 2 aus und wir sind dringend angehalten, den Ausstoß zu reduzieren und gemeinsam mit allen Staaten der Welt dafür zu sorgen, dass das Pariser Klimaschutzabkommen eingehalten wird.
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Drittens. Sie behaupten, die Energiewende würde die deutsche Bevölkerung finanziell unnötig belasten. Auch das sind Fake News, auf die leider immer wieder auch die CDU und die FDP rekurrieren. An diesen Teil des Hauses gewandt kann ich nur sagen: Kehren Sie auch bei diesem Argument um! Lassen Sie uns gemeinsam kämpfen! Werden Sie von CDU und von FDP nicht zu den Bremserinnen der Klimawende!
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Schauen wir uns das Kostenargument genauer an. Wir fordern den Kohleausstieg. Wir fordern das Dichtmachen der 20 dreckigsten Braunkohlekraftwerke. Eine Studie ist zu dem Schluss gekommen, dass die Nutzung der Braunkohle unsere Gesellschaft 28 Milliarden Euro kostet – und das Jahr für Jahr. Würden wir die Kohleverstromung beenden, hätten wir nicht nur enorme Einsparungen, sondern – das würde ich vermuten – wir hätten sogar die eine oder andere Milliarde auch für die betroffenen Braunkohleregionen übrig; denn die Menschen dort haben das verdient.
({16})
Kurz und gut, deswegen sagen wir als Linke: Wir wollen diese Energiewende. Wir wollen sie sozialer, gerechter und demokratischer machen mit unseren linken Konzepten, nicht nur im Interesse Deutschlands, sondern im Interesse der gesamten Welt.
({17})
Wenn Sie uns dann wieder vorwerfen, wir seien doch Gutmenschen,
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dann sage ich: besser Gutmenschen als Schlechtmenschen; denn wir haben eine Vorstellung davon, wie wir diese Gesellschaft umgestalten wollen und besser machen wollen. Es geht um nicht weniger als um die Rettung der Menschheit.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist Oliver Krischer für Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte mir ehrlich gesagt nie vorstellen können, einmal einen solchen Blödsinn in einem Bundestagsantrag lesen zu müssen.
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Die Kollegen haben schon alles dazu gesagt.
Man muss sich nur die erste Forderung in Ihrem Antrag auf der Zunge zergehen lassen. Sie fordern die Abschaffung aller Energie- und Klimagesetze; das heißt, Sie fordern so etwas wie Energieanarchie. Was würde passieren? Es würden sofort die Lampen ausgehen, Hunderttausende Menschen würden entlassen werden. Es ist offensichtlich AfD-Politik, dass Sie sich aus einem vernünftigen Energiesystem verabschieden wollen. Damit ist im Grunde genommen alles gesagt.
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Aber auch das gehört zur Wahrheit dazu: Es findet sich in diesem Antrag auf sechs Seiten ein einziger Satz, der leider stimmt. Dieser lautet: Die Klimaschutzziele wurden verfehlt. – Dagegen kann man nichts sagen. Dass die Klimaschutzziele verfehlt wurden, hat einen ganz einfachen Grund: Wir haben eine Bundesregierung, die zwar von Klimaschutz redet, aber seit Jahren keine Klimaschutzpolitik mehr macht.
({2})
Deshalb haben wir unsere Ziele krachend verfehlt, sind längst nicht mehr internationaler Vorreiter, sondern inzwischen Nachzügler. Das muss das Thema der Debatte hier im Deutschen Bundestag sein.
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Letzte Woche beim Energieministerrat ging es um die zukünftige Energiepolitik Europas, um die Ziele für erneuerbare Energien und um Energieeffizienz. In der Vergangenheit war es so, dass Deutschland in Europa immer an der Spitze der Bewegung stand, auch über Regierungen hinweg, und dafür gekämpft hat, dass bessere Ziele erreicht werden. Plötzlich erleben wir – ich sage Ihnen ganz ehrlich: das hätte ich mir nie vorstellen können –, dass ein Energieminister Peter Altmaier an der Seite der nationalkonservativen PiS-Partei aus Polen gegen Frankreich, gegen Spanien, gegen die Niederlande, gegen Skandinavien, gegen Italien kämpft und schwächere Ziele durchsetzt. Meine Damen und Herren, wir haben hier mal eine Energiewende gehabt. Was ist daraus geworden? Warum kämpfen Sie nicht auf europäischer Ebene dafür?
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Ich hätte es mir ja ehrlich gesagt nicht vorstellen können, dass ich mal hier stehen und mir fast Sigmar Gabriel zurückwünschen würde.
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Denn mit ihm war in der letzten Großen Koalition die Position der Sozialdemokraten an dieser Stelle wenigstens klarer.
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Meine Damen und Herren, ich hätte nicht gedacht, dass Sie mal so tief sinken könnten, an der Seite der Kohle-Barone zu kämpfen.
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Nachdem Sie die 2020er-Ziele schon aufgegeben haben, indem Sie sagten: „Die wollen wir gar nicht mehr erreichen. Das lassen wir.“, aber jetzt sagen: „Indianerehrenwort! Wir werden die 2030er-Ziele erreichen.“, muss man Ihnen einfach ins Stammbuch schreiben: Sie legen jetzt die Grundlage dafür, dass Sie auch diese Ziele wieder verfehlen werden, und zwar indem Sie auf europäischer Ebene für schwache Ziele im Energiebereich und im Automobilbereich kämpfen, indem Sie verhindern, dass es eine ambitionierte Klimaschutzpolitik gibt, und indem Sie verhindern, dass es Ausschreibungen für mehr Windenergie gibt.
Sie stehen in dieser Großen Koalition sicherlich nicht auf der Seite der AfD, aber Sie bekämpfen an der Stelle eine vernünftige Energie- und Klimapolitik, die diesen Planeten und die Industrie unseres Landes in die Zukunft führen könnte. Und das ist eine absolut fatale und falsche Politik, meine Damen und Herren.
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Als Nächster redet Andreas Jung für die CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Hilse, Sie haben ja für den Antragssteller, die AfD-Fraktion, gesprochen. Ich will Ihnen sagen, was uns unterscheidet. Uns unterscheidet vieles, aber heute insbesondere eines: Ich habe Ihren Antrag gelesen, Sie offensichtlich nicht.
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Sie haben in Ihrer Rede mit abstrusesten Argumenten versucht, uns weiszumachen, es gebe keinen Klimawandel.
({1})
– In Ihrem Antrag nicht. Das haben Sie in Ihrer Rede gesagt. Sie haben versucht, mit irgendwelchen kruden Überlegungen zu belegen, dass es keinen Klimawandel gibt. – In Ihrem Antrag fordern Sie einen Klimaanpassungsfonds für Deutschland, die Bewässerung von Dürregebieten, Renaturierung usw., um die Folgen des Klimawandels in Deutschland zu bekämpfen. Das ist doch ein eklatanter Widerspruch.
({2})
Entweder es gibt einen Klimawandel, oder es gibt ihn eben nicht. Aber wenn nicht, dann bräuchten Sie auch keinen Anpassungsfonds.
({3})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
Ja, Herr Hilse.
Bitte sehr.
({0})
Ob ich das jetzt nun besser mache für Sie, spielt eigentlich keine Rolle.
({0})
Herr Jung, bei allem nötigen Respekt: Könnten Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass wir nicht den Klimawandel leugnen?
({1})
– Kann ich jetzt die Frage stellen? Das wäre nett. Vielen Dank. – Ich habe auch in meiner Rede extra darauf abgehoben: Natürlich gibt es seit Jahrmillionen einen Klimawandel. Wir sagen einfach nur, dass der menschengemachte Anteil daran so gering und nicht messbar ist, dass aufgrund dessen keine Maßnahmen erfolgen müssen.
Und: Ich habe den Antrag gelesen.
({2})
Ich denke, Sie haben ihn auch gelesen. Es geht in diesem einen Punkt um eventuelle negative Auswirkungen in einigen Gebieten durch Klimawandel und darum, dass wir dafür quasi einen Klimawandelanpassungsfonds einrichten mit circa 10 Prozent der Mittel, die jetzt für den sogenannten Klimaschutz aufgewendet werden. Ich gehe davon aus, dass Sie das dann doch auch so gelesen haben.
Also: Wir leugnen nicht den Klimawandel, sondern nur den menschengemachten Anteil daran.
Danke.
Herr Hilse, das ist immerhin eine Weiterentwicklung, wenn Sie zugeben, dass es einen Klimawandel gibt.
({0})
Zu dem Punkt, er sei nicht menschengemacht, kann ich nur sagen: Das steht im Widerspruch zur übergroßen Mehrheit der Wissenschaftler, übrigens auch zum Erleben vieler Menschen in diesem Land.
({1})
Ich möchte zu meinem nächsten Punkt kommen und erläutern, warum für uns nicht nur Anpassungsmaßnahmen, sondern auch Klimaschutz wichtig ist. Ich will Ihnen sagen: Wir lieben unsere Heimat, und wir lieben unsere Heimat so, wie sie ist. Unsere Heimat ist geprägt von Landschaft und Landwirtschaft, sie ist geprägt von Tieren und Pflanzen und auch von den Flüssen. Genau so wollen wir sie erhalten und alles dafür tun, dass die Folgen des Klimawandels überhaupt nicht erst eintreten. Deshalb ist uns Klimaschutz wichtig.
Als Christdemokrat möchte ich Ihnen noch dazusagen: Uns Christdemokraten geht es beim Klimaschutz um die Bewahrung der Schöpfung. Diese Auffassung teilen wir übrigens mit dem Papst. Sie führen gerne die Rede vom christlichen Abendland. Ich erinnere mich: In Ihrer letzten Rede haben Sie zu Beginn Pegida Dresden auf der Tribüne begrüßt; so viel zur angeblichen Distanz Ihrer Partei zu Pegida. Aber für das Christentum, Herr Hilse, spricht nicht die AfD, für das Christentum spricht der Papst;
({2})
er ist jedenfalls eine gewichtige Stimme. Der Papst hat die Enzyklika „Laudato si’“ verfasst. Die Protestanten sehen das in diesem Punkt übrigens ganz genauso. Die großen christlichen Kirchen sagen gemeinsam: Ja, die Herausforderung durch den Klimawandel ist eine Aufgabe für die Menschheit. Der Papst spricht von der Sorge um das gemeinsame Haus. Er spricht nicht von dem deutschen Haus, sondern er weist darauf hin, dass es eine internationale Aufgabe ist. Deshalb sagen gerade wir als Christdemokraten: Wir müssen die Heimat erhalten, die Schöpfung bewahren. Deshalb machen wir engagierten Klimaschutz.
({3})
Jetzt weisen Sie darauf hin, dass wir Deutschen einen geringen Anteil an den weltweiten Emissionen haben und deshalb die Welt doch nicht alleine retten können. Ja, natürlich, alleine geht es nicht, es geht nur gemeinsam. Das ist genau das, was Sie immer ablehnen, dass man mit anderen gemeinsam Politik macht. Darum geht es beim Klimaschutz. Aber wir Deutsche haben eine besondere Verantwortung; denn bei allen Erfolgen, die noch nicht weit genug gehen, aber unstreitig sind, haben wir in Deutschland nach wie vor einen Pro-Kopf-Ausstoß an CO 2, der erheblich größer ist als der Durchschnitt in der Welt.
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Wir werden jene, die wir zur Erreichung unserer Ziele brauchen, nicht ermuntern, etwas zu tun, wenn wir nicht vorbildlich sind. Deshalb müssen wir vorankommen. Deshalb müssen wir zeigen, dass es in einem Industrieland möglich ist, engagierten Klimaschutz zu machen und zugleich so umzusetzen, dass Wohlstand erhalten bleibt, dass Arbeitsplätze erhalten bleiben. So muss Klimaschutz engagiert und effizient umgesetzt werden. Das ist unsere Verantwortung. Wir werden das gemeinsam mit den internationalen Partnern angehen.
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Es ist richtig, dass die Bestandsaufnahme hinsichtlich der 2020-Ziele ein Rückschlag ist. Deshalb plädiere ich dafür, dass wir alles dafür tun, die 2020-Ziele sobald wie möglich doch noch zu erreichen.
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Und dann müssen wir vor allem die 2030-Ziele in den Blick nehmen. Sie fordern die Abkehr davon. Wir sagen: Man muss jetzt die Weichen dafür stellen, dass die 2030-Ziele eingehalten werden. Deshalb haben wir uns in der Koalition darauf verständigt, den Klimaschutzplan mit allen Sektorenzielen, Energie, Landwirtschaft, Verkehr und Gebäude, umzusetzen. Genau das werden wir in Gesetzesform gießen. Damit werden wir unterstreichen: Deutschland hat eine Verantwortung und der werden wir gerecht.
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Multilateralismus lehnen Sie ja ab. In Ihrem Antrag heißt es, man müsse alle internationalen Verpflichtungen streichen. Aber unsere Antwort auf die Herausforderungen muss doch sein: Wir Deutsche müssen etwas tun, aber wir schaffen es nur gemeinsam. – Deshalb haben wir mit Frankreich in der Meseberger Erklärung noch einmal unterstrichen: Wir wollen gemeinsam Motor für Klimaschutz in Europa sein und darüber hinaus durch die engagierte Umsetzung des Pariser Klimaschutzabkommens dafür sorgen, dass nicht nur wir in Deutschland, sondern dass wir international für das gemeinsame Haus die Verantwortung übernehmen. Darum geht es. Diesen Weg verfolgen wir, und das werden wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krischer?
Ja.
Herzlichen Dank, Herr Kollege Jung, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben die internationale Ebene angesprochen. Gestatten Sie mir dazu eine Frage. Ehrlich gesagt, ich höre immer gerne Ihre netten und wohlfeilen Worte, nur muss ich einfach zur Kenntnis nehmen, dass das nichts mit der Politik Ihrer Vertreter in der Bundesregierung zu tun hat. Minister Altmaier hat auf europäischer Ebene dafür gekämpft, dass die Ziele schwächer werden – gegen andere Staaten. Er bestreitet das nicht mal; er hat das im Ausschuss bestätigt. Deutschland hat im Umweltrat eine absolut negative Rolle eingenommen, als es um die CO 2 -Grenzwerte für Pkw ging. Wo bitte schön findet sich das, was Sie hier in schönen Worten sagen, in der Politik dieser Bundesregierung, insbesondere der Vertreter Ihrer Partei in der Regierung, wieder?
Ich habe auf zwei Dinge hingewiesen:
Erstens. Ich habe darauf hingewiesen, dass wir uns im Koalitionsvertrag nicht nur Ziele gesetzt haben, sondern auch Maßnahmen vereinbart haben. Das, was in der letzten Legislaturperiode noch umstritten war, auch zwischen den Koalitionsfraktionen, nämlich der Klimaschutzplan mit verbindlichen Sektorzielen bis 2030 und deren Umsetzung, deren Verankerung in einem Gesetz, haben wir im Koalitionsvertrag beschlossen. Das werden wir umsetzen. Das ist die konkrete Politik dieser Bundesregierung.
Zweitens. Ich habe – Sie fragen nach der internationalen Seite – die Meseberger Erklärung von letzter Woche angesprochen, in der Deutschland und Frankreich gemeinsame Vorstellungen entwickelt haben zur bilateralen Zusammenarbeit, aber auch zu weiteren europäischen Impulsen. Ganz konkret ist die Rede davon, dass gemeinsame Vorstellungen zur CO 2 -Bepreisung entwickelt werden sollen. Das ist ja offensichtlich ein Eintreten dieser Bundesregierung auf internationaler Ebene.
({0})
Darauf aufbauend werden wir mit den europäischen Partnern und international die Verpflichtungen von Paris umsetzen.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Martin Neumann für die FDP.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gebe zu, dass mich die Überschrift des vorliegenden Papiers überrascht hat. Gleich darauf folgte eine totale Ernüchterung, da Sie von der AfD in Ihrem Antrag auch nur schrille Behauptungen, die auch unbewiesen sind, aufgezählt haben. Schön, dass ich jetzt Gelegenheit habe, Fakten statt Behauptungen aufzuzählen.
Fakt ist: Es ist gesellschaftlicher Konsens in Deutschland, dass wir aus der Kernenergie aussteigen. Es gibt übrigens auch keine Planung für neue Tagebaue. Niemand kommt aktuell auf die Idee, in Deutschland ein neues Braunkohlekraftwerk zu bauen.
({0})
Fakt ist aber auch: Wir bekennen uns zu den Klimazielen von Paris. Das heißt, die CO 2 -Emissionen müssen deutlich reduziert werden. Wir wissen: Das Klima hängt von vielen, unendlich vielen Faktoren ab. Selbst wenn wir, wenn die Menschheit nicht abschließend weiß, welche Wirkung eine höhere CO 2 -Konzentration tatsächlich hat, sollten wir alles tun, um den CO 2 -Ausstoß wirksam zu vermindern, dramatisch zu vermindern.
({1})
Das sollten wir auch mit Blick auf das Argument der Risikoverminderung tun. Denn wir wissen nicht, was passieren könnte.
Fakt ist ferner, dass das ein hoher politischer Anspruch ist und dieser Anspruch technologische Innovationen erfordert. Hier muss Politik, hier müssen wir ansetzen, auch die Antragsteller. Wir müssen Freiräume für Innovationen und marktwirtschaftliche Lösungen schaffen. Allerdings müssen wir uns über den Weg dahin unterhalten.
Fakt ist – Herr Beutin, Sie haben es vorhin deutlich gesagt –: Die deutschen Haushalte zahlen die höchsten Strompreise. Das ist Fakt.
({2})
Schuld daran ist nicht der Klimaschutz, schuld ist die teure Fehlkonstruktion der Energiewende.
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Im Koalitionsvertrag ist nun ein Anstieg des Anteils der alternativen Energien auf 65 Prozent verordnet, ohne dass die entsprechenden physischen, aber auch intelligenten Netze zur Verfügung stehen.
({4})
Ab 2022, wenn die letzten Atomkraftwerke vom Netz sind, droht uns eine Lücke bei der gesicherten Leistung. Wollen wir uns im Notfall wirklich auf Stromimporte aus den Nachbarländern verlassen?
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In dieser Frage brauchen wir dringend Augenmaß.
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Statt einseitiger Förderung alternativer Energien brauchen wir ein zielführendes Emissionshandelssystem. Wir dürfen die Anstrengungen zum Klimaschutz nicht auf dem Rücken der deutschen Energiewirtschaft betreiben. Es muss mindestens eine europäische Komponente geben.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nationale Alleingänge, wie sie besonders von den Grünen gefordert werden, sind völlig fehl am Platze. Wir brauchen ebenso globale Standards und Instrumente.
Während die AfD den Klimawandel abstreitet, tun die Grünen so, als liege das Heil einzig in den Erneuerbaren und im Sofortausstieg aus der Kohle. Die Fakten sind aber ganz andere. An dieser Stelle sage ich mit Blick auf meine Redezeit: Ein Hauruckausstieg gefährdet unter anderem die wirtschaftliche Energieversorgung. Das ist ein wesentlicher Grundpfeiler nationaler Akzeptanz und internationaler Wettbewerbsfähigkeit.
({0})
Fazit: Ideologien helfen uns bei der Lösung der Zukunftsfrage nach der Energieversorgung und den Klimazielen von morgen nicht weiter, weder von rechts noch von links. Die Ignoranz der AfD ist hierbei genauso schädlich wie grüne Träumereien. Wir brauchen – das sage ich als letzten Satz für uns Freie Demokraten – eine marktwirtschaftliche Alternative, die Raum für Vernunft bietet. Wir lehnen den Antrag ab.
Vielen Dank.
({1})
Danke, Herr Neumann. – Es sind zwei Kurzinterventionen angemeldet worden. Aber wenn diejenigen, die schon geredet haben, jetzt auch noch eine Kurzintervention machen, dann verlängern wir die Debattendauer über Gebühr. Ich habe schon mehrfach Zwischenfragen zugelassen und lehne deshalb die beiden Kurzinterventionen ab.
Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat die Abgeordnete Dr. Nina Scheer für die SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst darauf eingehen, wie die AfD grundsätzlich mit Wissenschaft umgeht, weil ich das zutiefst verstörend finde. Sie nehmen in Ihren Antrag Fußnoten auf. Wenn man sie googelt, stellt man fest: Es führt zu nichts anderem als zu irgendwelchen Tabellen, die ihrerseits überhaupt keine Herkunftsangaben haben. Ich selbst könnte so eine Tabelle bei Ihnen reinstellen – Sie würden das wahrscheinlich gar nicht bemerken –, und auch Sie, Herr Hilse, könnten irgendeine Tabelle schreiben und bei diesem EIKE e.V. einstellen, und das wären dann die „Fakten“. Ist das das, von dem Sie meinen, dass sich Millionen und Milliarden von Menschen weltweit darauf verlassen sollten, um eine nüchterne Einschätzung der tatsächlichen Gegebenheiten beim Klimawandel vorzunehmen? Es ist absurd, was Sie für ein Wissenschaftsverständnis haben.
({0})
Wenn man diese Art der Wissenschaftsverleugnung, die Sie in Ihrem Antrag vornehmen,
({1})
auf die Inhalte Ihres Antrags zurückführt, darf es einen auch nicht wundern, dass darin, wie von meinen Vorrednern schon benannt, krasse Widersprüche enthalten sind. Sie haben durch Ihre Zwischenrufe während der Rede von Herrn Jung glauben machen wollen, dass Sie schon meinen, dass es einen Klimawandel gibt, nur eben nicht den menschengemachten. Aber Ihr Antrag sagt etwas anderes. Darin findet man solche Formulierungen wie – ich zitiere kurz –: „Beim Treibhauseffekt wird unterstellt, bewiesen wurde er bisher nirgends“. Oder: „Die vermutete Temperaturerhöhung“. Das sind Formulierungen aus Ihrem Antrag.
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„Ein nur imaginäres Weltklima“ – eine Formulierung aus Ihrem Antrag.
({3})
Dann: die „hypothetische Temperatur-Erhöhung“ – auch eine Formulierung aus Ihrem Antrag.
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Man hat wirklich den Eindruck, Sie kennen Ihren eigenen Antrag nicht.
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Den Weltklimarat, eine internationale Organisation, schreiben Sie in Anführungszeichen.
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Gleichzeitig schreiben Sie, dass es die offizielle Forschung gäbe. Da frage ich mich: Was ist denn für Sie die offizielle Forschung? Ist das dieses EIKE e.V. mit diesen Tabellen ohne Quellenangaben? Es ist absurd, was Sie hier für Fakten in den Raum stellen.
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Trotzdem meinen Sie, dass man die ganzen Instrumente wegkürzen und die Mittel in einen Klimawandelfolgenanpassungsfonds geben sollte. Aha! Es gibt also doch einen Klimawandel? Das ist ja interessant.
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Das ist wirklich absurd. So etwas habe ich in meinem Leben noch nicht gelesen.
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Ich möchte auch auf etwas anderes kurz eingehen. Sie haben sich in epischer Breite auch über die vielen Nullen ausgelassen, die Sie immer nennen. X-mal wurden diese Nullen genannt.
({10})
Dann schreiben Sie, mit dem Wert, den Sie da errechnet haben wollen, reduziere sich die weltweite Klimaproblematik zum „Null-Problem“. Ich höre jetzt mit diesen ganzen Zitaten auf; denn sie gehen von meiner Redezeit ab. Das, was da steht, ist ein einziger Schwachsinn.
({11})
Es ist meines Erachtens wichtig, dass wir uns kurz überlegen: Wenn 95, 98 oder auch nur 90 Prozent der Wissenschaftler sagen würden: „Steigen Sie bitte nicht in dieses Flugzeug ein; es stürzt ab“, würden Sie dann trotzdem einsteigen?
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Ich glaube, Sie würden nicht einsteigen. In genau dieser Situation befinden wir uns.
({13})
Durch die erneuerbaren Energien konnten in Deutschland seit 2005 1 Milliarde Tonnen CO 2 eingespart werden. 1 Milliarde!
({14})
Es besteht der weltweite Bedarf, jährlich 8,8 Milliarden Tonnen CO 2 einzusparen, um das 2-Grad-Ziel einzuhalten. Vor diesem Hintergrund haben wir sehr wohl einen Beitrag geleistet; das ist ein nennenswerter Anteil. Wir haben eine weltweite Ausstrahlungswirkung erzielt mit unseren Energiewendeambitionen und mit unseren Ausbauschritten; unser Anteil der erneuerbaren Energien liegt nicht bei sieben Komma soundsoviel Prozent, sondern bei über 14 Prozent usw. usf.
Sie haben einen einzigen Faktenwust in den Antrag geschrieben, der nichts an wahren Elementen enthält. Insofern finde ich es einfach nur erschreckend, was Sie da auf die Menschheit loslassen. Ich finde es beschämend und erschreckend.
Vielen Dank.
({15})
Die nächste Rednerin ist Lisa Badum für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Erst einmal vielen Dank, dass wir einige Minuten nicht über Grenzkontrollen reden mussten – das beschäftigt die Medien ja sehr, interessiert die Bürgerinnen und Bürger nach Umfragen aber überhaupt nicht –, sondern über Klimaschutz reden konnten. Vielen Dank dafür.
({0})
Ich möchte mit einem Zitat von Angela Merkel beginnen. Sie warnte vor den volkswirtschaftlichen Kosten des Nichtstuns im Klimaschutz. Ich habe ihr da natürlich völlig zugestimmt, aber dann kurz gestutzt: Sie ist ja Teil der Bundesregierung; sie ist sogar Bundeskanzlerin. Und die Bundesregierung hätte ja die Möglichkeit, zu handeln. Aktuell geht es darum, dass die Autos in Deutschland, aber auch in Europa spritsparender, effizienter, klimafreundlicher werden. Das wird aktuell in Brüssel verhandelt. Die Bundesregierung ist da leider ohne eine Position oder Meinung hingefahren.
Jetzt werden Sie von der Regierung sagen: Na ja, das ist bei der GroKo halt so, wir können uns nicht einigen; da kann man nichts machen. – Wir müssen aber etwas gegen die Klimakrise machen, meine Damen und Herren.
({1})
Und wer sich das Ganze einmal mit eigenen Augen anschauen will, den lade ich gerne nach Bayern ein. Fahren Sie auf die Zugspitze, und suchen Sie dort mit der Lupe die drei Gletscher, die wir mal hatten. Vom Südlichen Schneeferner ist noch ein Achtel der Fläche übrig, die er 1950 hatte. Ein weiteres Abschmelzen zu verhindern, wäre weitsichtiger Heimatschutz, meine Damen und Herren.
({2})
Aber wir können nicht nur die Katastrophe verhindern, wir könnten beim Klimaschutz sogar wirtschaftliche Potenziale heben. Der Bundesverband der Deutschen Industrie sagt, wir hätten beim Wirtschaftswachstum ein zusätzliches Potenzial von 0,4 bis 0,9 Prozent des BIP, wenn wir unsere Wirtschaft dekarbonisieren, wenn wir sie grüner machen, wenn wir die Fossilen rausdrängen.
Sie mögen jetzt sagen: Was die Wirtschaft sagt, interessiert mich auch nicht. – Vielleicht ist aber von Interesse, was die Menschen in diesem Land interessiert: Die Mehrheit der Menschen in diesem Land war für den Atomausstieg; die Mehrheit der Menschen ist für den Kohleausstieg; die Mehrheit der Menschen ist für die Energiewende. Ich sage Ihnen: Wer sich gegen die Energiewende stellt, wer sich gegen eine zukunftsfähige Wirtschaft stellt, wer sich gegen den Schutz unserer Heimat stellt, der stellt sich gegen die Menschen in diesem Land.
({3})
Daher sage ich Ihnen: Sie können gern weiter auf dem sinkenden Schiff Ihrer vorsintflutartigen Klimapolitik bleiben, wenn Sie zu etwas anderem nicht den Mut haben. Aber dieses Land und diese Welt haben etwas Besseres verdient.
Vielen Dank.
({4})
Der nächste Redner ist Jens Koeppen für die CDU/CSU.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Demokratie lebt ja bekanntlich von der Debatte, von dem leidenschaftlichen Streit um die Sache und davon, dass es unterschiedliche Positionen gibt. Schwierig wird es natürlich immer, wenn die eigene Position wie eine Monstranz vor sich hergetragen und ein Thema zur Ersatzreligion wird.
({0})
So haben wir uns in den vergangenen Sitzungswochen über Anträge unterhalten, die oft ambitioniert oder überambitioniert waren, oft mit unrealistischen und unerfüllbaren Zielen. Manchmal hatte man den Eindruck: Das ist eher Wunschdenken als Realpolitik.
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Hier liegt nun ein Antrag vor, bei dem genau das Gegenteil der Fall ist: Er ignoriert all das, was wir seit Jahren besprechen. Er fordert den Ausstieg – das haben wir hier ja schon besprochen – aus allen nationalen und internationalen Verträgen. Wir sollen uns also praktisch wie der Trump im Porzellanladen verhalten, aus allem aussteigen – auch in der Energiepolitik – und alle Gesetze, Verordnungen und Vorschriften negieren. Ich bin ja dabei, wenn man sagt, dass man ein Gesetz, eine Verordnung, eine Vorschrift immer verbessern muss. Aber alles das, was wir in der Energiewende bisher erreicht haben, zu negieren, halte ich für schwierig.
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Wir haben jetzt in der Debatte gelernt, dass der Klimawandel auch auf Ihrer Seite anerkannt wird. Aber der Klimaschutz sei nutz- und wirkungslos. Warum haben wir denn dann – die Antwort ist noch nicht gegeben worden – bei Ihnen einen Klimawandelfolgenanpassungsfonds für Deichbau, für Bewässerung, gegen Dürre und für viele andere Sachen mehr, für Renaturierung? Das passt doch irgendwie nicht zusammen. Entweder ich sage: „Es gibt diesen Klimawandel“, oder ich sage: Es gibt ihn nicht. – Wenn Sie jetzt auch sagen: „Es gibt den Klimawandel“ und wenn Sie sagen: „Er ist natürlich und nur zu einem geringen Teil menschengemacht“, dann muss man doch fragen: Welchen Teil – wenn es so ist – können wir dann beeinflussen? Darüber sollten wir nachdenken. Es geht nicht darum, den Strom in Deutschland komplett abzuschalten, sondern es kommt darauf an, eine Energiewende zu machen.
Wenn Sie jetzt den Klimaschutz und die CO 2 -Reduktion komplett ignorieren und sagen: „Das ist wirkungslos“, dann kann ich Ihnen vielleicht eine Brücke bauen: Reden wir doch über Ressourceneffizienz – das ist ja im Prinzip der umgekehrte Weg –; denn bei 11 Milliarden Menschen auf der Erde ist es doch sinnlos, Öl und Gas einfach nur zu verbrennen und die Ressourcen zu verschleudern. Also müssen wir doch zwangsläufig dazu kommen, diese endlichen Ressourcen zu ersetzen und Substitute zu suchen, also zu forschen usw.
Beide Fundamentalpositionen – die eine und die andere, von denen ich sprach – sind fatal und ideologisch. Politik beginnt nun mal mit dem Betrachten und dem Anerkennen der Realitäten – auch und gerade in der Energiepolitik. Deswegen bin ich Wirtschaftsminister Altmaier sehr dankbar, der im Wirtschaftsausschuss gesagt hat: Wir brauchen selbstverständlich ambitionierte und sehr ehrgeizige Ziele, aber diese Ziele müssen auch realistisch sein – gerade in der Energiepolitik.
Herr Koeppen, gestatten Sie eine Zwischenfrage von der FDP?
Gerne.
Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage gestatten. – Ein Vorredner von der Fraktion Ihres Koalitionspartners hat vorhin davon gesprochen, dass in China Wasserstoffbusse fahren, während das in Deutschland nicht der Fall ist. Ich glaube, Sie wissen, dass Daimler-Benz auch ein entsprechendes Serienmodell hier am Start hat, und frage Sie: Was hat die Große Koalition, die alte und die neue, dafür getan, dass ein Wasserstofftankstellennetz und Wasserstoffkreisläufe in Deutschland installiert werden?
Bei der Diskussion in der Energiepolitik, in der Verkehrspolitik landen wir immer bei dem Thema Technologieoffenheit. Ich habe auch beim letzten Mal schon gesagt, dass ich es für einen Fehler halte, dass wir sagen: Wir konzentrieren uns nur auf die Elektromobilität.
({0})
Wir haben dabei vollkommen ausgeblendet, dass die Wasserstofftechnologie, die Wasserstoffverbrennung, aber auch die Entwicklung von Elektromotoren schon viel, viel weiter sind. Das meine ich mit „überambitionierten Zielen“. Deswegen schlage ich immer vor, das mit den Ingenieuren zu machen, das technologieoffen zu machen. Denn mir persönlich ist es völlig egal, welches Gramm und wo CO 2 eingespart wird; Hauptsache, es wird eingespart. Deswegen sage ich: Technologieoffenheit bringt uns weiter und nicht Ideologie.
({1})
Zur Ressourceneffizienz in der Energiepolitik: Energiepolitik ist ja mehr als nur die Formulierung von Klimaschutzzielen, sondern hier geht es in der Tat um saubere Luft, um einen vernünftigen Umgang mit den endlichen Ressourcen, um Versorgungssicherheit und um Bezahlbarkeit. Wir müssen die Energieziele mit Augenmaß setzen. Sonst geht es in die falsche Richtung. Aktionismus führt uns in die Sackgasse, Ignoranz führt zum Verderben. Deswegen müssen wir mit Augenmaß agieren.
Durch erfüllbare Vorgaben entstehen Technologiesprünge. Das passiert durch den Marktanreiz. Wir müssen die Macher, die Techniker, machen lassen, statt nur Dauersubventionen zu geben.
Die Energiewende bedeutet ja mehr, als nur den CO 2 -Ausstoß zu reduzieren. Wir sind auf der Suche nach alternativen Technologien, nach umweltverträglichen, sauberen und erneuerbaren Energien. Dazu gehören Wind- und Solarenergie, aber auch CCU, also die Nutzung von Kohlenstoffdioxid.
({2})
Das wurde in den letzten Jahren völlig ausgeblendet, und dadurch hat man versäumt, CO 2 im Kreislaufsystem wirklich zu nutzen und da zu forschen.
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Leute, ihr habt alle gesagt: CCS und CCU sind Schwachsinn. – Das ist kein Schwachsinn, sondern da muss die Forschung ansetzen.
({4})
Ein anderes Stichwort ist die bedarfsgerechte Versorgung der Kunden mit Strom durch Smart Meter, durch Smart Grids, also intelligente Netze.
Wo stehen wir jetzt also? Wir stehen gegenüber 1990 bei einer CO 2 -Reduktion von über 32 Prozent, mindestens. 40 Prozent war das Ziel. So ist es mit aufgeschriebenen Zielen: Das funktioniert nicht immer. Wir sind aber bei 32 Prozent plus – trotz Atomausstieg und trotz einer brummenden Industrie.
({5})
Der Anteil der Erneuerbaren 2017 liegt bei 36 Prozent.
({6})
– Im Strombereich, natürlich. Darüber reden wir doch die ganze Zeit. – Im Jahr 2000 lag dieser Anteil noch bei 6 Prozent. Da sagen Sie – das geht an beide Seiten –, wir hätten nichts gemacht; für mich unverständlich.
Also: Das ist eine unberechtigte Schelte. Nochmals: Energiepolitik, Energiewende brauchen ehrgeizige Ziele, brauchen erfüllbare Vorgaben, brauchen Mut und Augenmaß, brauchen Visionen und Realismus.
({7})
Vor allen Dingen braucht es Akzeptanz bei den Menschen, sonst bekommen wir nämlich gar nichts hin.
({8})
Letzter Redner der Debatte ist Timon Gremmels für die Fraktion der SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD möchte gerne „faktenbasiert“ über Klima- und Energiepolitik reden. Dann machen wir das mal. Ich habe mir Ihren Antrag und die Begründung genauer angeguckt. Sie fordern, der Deutsche Bundestag soll die Bundesregierung auffordern, Gesetze zu beenden. – Die Bundesregierung kann keine Gesetze beenden. Der Einzige, der das kann, ist das Parlament; das sind wir.
({0})
Das, was Sie uns vorlegen, ist auch faktisch falsch. Es ist eine Unverschämtheit, dass wir uns mit so einem Kram beschäftigen müssen, der überhaupt nicht auf dem Boden der Verfassung steht.
({1})
Das, was Sie fordern, geht nämlich nicht. Wir haben eine Gewaltenteilung. Gesetze hebt der Bundestag auf.
({2})
Dann machen Sie sich doch mal die Arbeit und legen einen Gesetzentwurf vor! Bringen Sie hier Gesetzentwürfe ein, mit denen Sie jedes einzelne Gesetz beenden. Machen Sie das!
({3})
Dann machen wir hierzu eine Anhörung, und wir sorgen dafür, dass die Anhörung öffentlich ist. Dann laden wir die 95 Prozent der Experten ein, die Ihnen öffentlich beweisen, dass das, was Sie vorgetragen haben, Quatsch ist.
({4})
Gehen Sie diesen Weg, und machen Sie hier nicht die populistische Nummer, indem Sie etwas vorschlagen, was gar nicht geht und was gar nicht auf dem Boden dieser Verfassung steht, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({5})
Ehrlich gesagt, liebe Kollegen – das „liebe“ nehme ich zurück –, Kollegen von der AfD, ein guter Antrag erklärt sich selbst. Man kann auch eine kleine Begründung anhängen. Aber fünf Seiten Begründung für einen wirklich schwachen Antrag, das ist ein Armutszeugnis für Sie.
({6})
Das zeigt, dass dieser Antrag einfach nur zusammengestückelt ist, weil Sie hier eine populistische Nummer abziehen wollten, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Dann wollen Sie wieder Mauern bauen. Jetzt wollen Sie nicht nur Mauern bauen, sondern Sie wollen auch Schutzdämme bauen. Es ist wie bei den Flüchtlingen: Sie wollen nicht an die Ursache des Problems gehen, sondern sich nur mit den Folgen beschäftigen.
({7})
Ich empfinde es als einen Hohn gegenüber den Menschen, dass Sie jetzt auf einmal Deiche bauen wollen. Wo wollen Sie denn den Deich bauen? Vor Hannover? Das ist ein Armutszeugnis, und das ist ein Hohn gegenüber den Menschen. Wir wollen die Ursachen bekämpfen und nicht die Folgen. Das ist nämlich Ihre Politik. Das ist völlig falsch. Wir wollen einen guten, einen modernen Klimaschutz.
({8})
Sie sagen, Sie glauben den Wissenschaftlern nicht. Sie sagen, Sie glauben der SPD nicht und der CDU nicht; Sie glauben uns einfach nicht, weil wir Ideologen seien.
({9})
Gucken Sie sich doch mal einen Bericht an, nämlich den der Munich Re. Die Munich Re ist der größte Rückversicherer. Das sind keine Ideologen. Denen geht es schlicht und einfach um Zaster. Sie wollen verdienen, und sie wollen sich absichern. Sie haben einen Schwerpunkt bei dem Thema Klimafolgen.
({10})
– Gucken Sie sich das mal bitte an.
({11})
Die Munich Re hat für das Jahr 2017 einen Bericht vorgelegt. Das ist das erste Jahr ohne El-Niño-Einfluss – das ist genau das, was Sie sagen –, ohne den Einfluss von natürlichen Klimaschwankungen. Das Jahr 2017 war das wärmste Jahr. Das ist ein deutlicher Ausdruck des menschgemachten Klimawandels, sagt Munich Re, der größte Rückversicherer. Wenn Sie nicht uns glauben, dann glauben Sie wenigstens denen. Denn denen geht es um bares Geld; das sind keine Ideologen.
({12})
– Anscheinend habe ich einen wunden Punkt getroffen. Sie brauchen aber gar nicht dazwischenzurufen. Ich bin lauter, auch ohne Mikrofon, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({13})
Wenn Sie schon nicht uns glauben und wenn Sie nicht der Munich Re glauben, dann glauben Sie doch Ihren eigenen Wählern! Es gibt aus dem letzten Jahr eine Umfrage im Auftrag des RWI, des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung – die habe ich bisher selten zitiert –,
({14})
zu der Frage, wie es mit der Akzeptanz der Energiewende aussieht. 59 Prozent der AfD-Wähler finden die Energiewende gut oder wollen sich sogar selbst daran beteiligen. 59 Prozent Ihrer Wähler! Ich finde: Entweder Sie folgen ihnen, oder wir fordern die Wähler auf, eine andere Partei zu wählen. Es gibt nämlich gute und sinnvolle Alternativen. In diesem Sinne: Alles Gute und Glück auf!
Vielen Dank.
({15})
Meine Damen und Herren, ich habe schon mehrere Zwischenfragen und Kurzinterventionen auch von Ihrer Seite zugelassen. Deshalb bitte ich um Verständnis, wenn ich keine weiteren zulasse.
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Wir kommen zum Ende dieses Punktes. Weitere Redner sind nicht vorgesehen. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/2998 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Warum eine Enquete-Kommission zur KI?“, fragen viele, wo Frankreich bereits sein eigenes KI-Zentrum hat und die Bundesregierung in drei Wochen Eckpunkte ihrer Strategie dazu vorstellen wird. Die Antwort liegt auf der Hand: Ich glaube, wir sind gut beraten, eine gesamtgesellschaftliche Debatte über diese neue disruptive Technologie zu führen.
Künstliche Intelligenz ist eine oder vielleicht sogar die größte Treiberin der Digitalisierung. Mit dem Sprung von rechnender zur kognitiven Informatik stellt sie einen Paradigmenwechsel dar. Selbstlernende Maschinen können Dinge tun, die bislang nur Menschen konnten, und vieles, was sie tun, können sie besser, präziser und effizienter als wir: Berechnungen aus gigantischen Datenmengen, die kein Mensch Zeit seines Lebens so je erfassen könnte, gehören dazu, Produktionsabläufe, Tätigkeiten wie Autofahren, Berufe im Banken-, Versicherungs- und Gesundheitswesen.
KI wird fast alle unsere Lebens- und Arbeitsbereiche beeinflussen, und zwar mehr, tiefgreifender und vermutlich auch schneller, als die meisten von uns sich das heute vorstellen können. Sie wird wegweisend sein für unsere Zukunft wie keine andere Entwicklung im technologischen Bereich. Möglicherweise stehen wir schon in Kürze vor bahnbrechenden Durchbrüchen. Darauf müssen wir vorbereitet sein – als Gesellschaft, in Politik und Wirtschaft.
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KI wirft Fragen auf und erfordert Antworten – in ethischer, sozialer, wirtschaftlicher, nationaler, europäischer und globaler Hinsicht. Wirtschaftlich ist KI von zentraler strategischer Bedeutung für Europa. Perspektivisch bietet sich für Europa mit KI die Chance, sich zwischen den USA und der Handelsmacht China zu behaupten.
Ich will, dass wir bei KI global die Innovationsführerschaft übernehmen, die untrennbar mit europäischen Werten verbunden ist.
({1})
Dafür muss Europa Vorreiter bei KI werden. Das ist unser erklärtes, ambitioniertes Ziel. Die Voraussetzungen dafür sind gut. Deutschland ist führend in der Verknüpfung von KI mit Robotik und Maschinenbau, Frankreich in KI, gerade im medizinischen Bereich.
Ich will, dass wir in Deutschland die Chancen durch KI maximieren und Risiken minimieren und dass wir mit einer intelligenten Industriepolitik dafür sorgen, dass mit KI neue Arbeitsplätze entstehen.
KI bietet unglaubliche Chancen für die Menschheit. Mit KI rückt die Vision, der Menschheitstraum von einem Leben ohne Mühsal in greifbare Nähe, eine Zukunft, in der lernfähige Maschinen für uns arbeiten, uns unangenehme schwere Tätigkeiten abnehmen und der Mensch durch weniger Arbeit und mehr Wohlstand ein Leben mit mehr Zeit für Familie, Freizeit, Selbstverwirklichung, Bildung und Kultur hat. Kurz: KI bietet die Chance auf ein besseres Leben für alle, vorausgesetzt, wir sorgen dafür – wie der kürzlich verstorbene Nobelpreisträger Stephen Hawking sagte –, dass der maschinell produzierte Reichtum auch verteilt wird.
({2})
Dafür brauchen wir eine kluge Bildungs- und Industriepolitik sowie eine intelligente Steuergesetzgebung. Für uns Sozialdemokraten ist das ein ganz klarer Auftrag, dafür zu sorgen, dass gesellschaftlich alle von dem durch KI erwirtschafteten Wohlstand profitieren.
Ich wünsche mir optimale Rahmenbedingungen für künstliche Intelligenz in Deutschland, für unsere Bildungs- und Forschungslandschaft, für unsere Industrie- und Arbeitswelt. Natürlich müssen wir dabei Arbeitnehmerrechte und Datenschutz im Blick haben. Genauso wie sich jeder Autofahrer in Deutschland an Regeln halten muss, brauchen wir Leitplanken für KI; denn neben allen Chancen birgt diese Technologie Risiken. Der Gesetzgeber muss hier für einen zeitgemäßen Rahmen sorgen.
KI bedeutet nicht nur Chancen, sondern auch große Herausforderungen für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Wir müssen uns perspektivisch grundlegend die Frage stellen, welche Entscheidungen wir Maschinen überlassen wollen und welche Entscheidungen zwingend letztlich der Mensch treffen muss.
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Diese und andere Fragen werden 19 Abgeordnete und ebenso viele Sachverständige erörtern und Handlungsempfehlungen erarbeiten. Wie jede technische Revolution sorgt Wandel für Verunsicherung, der man am besten mit Aufklärung und Information begegnet. Auch das soll mit dieser Enquete-Kommission geschehen.
Zum Schluss. Künstliche Intelligenz ist per se weder gut noch böse. Sie ist einfach das, was wir aus ihr machen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Der nächste Redner ist Uwe Kamann für die AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer auf den Tribünen und am TV! Künstliche Intelligenz ist nicht besser als menschliche Intelligenz. Aber sie ist besser als natürliche Dummheit.
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Bei der künstlichen Intelligenz darf es nicht um parteipolitische Profilierung gehen; denn es handelt sich um technologische Quantensprünge, die wir als Nation mitgehen müssen, wenn wir unsere wirtschaftliche Stellung in der Welt und den Wohlstand unseres Landes nicht aufs Spiel setzen wollen. Meine Fraktion, die AfD, wird sich hier mit Sachverstand und großem Engagement einbringen.
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Ich will aus Zeitgründen nicht auf die Versäumnisse der Vergangenheit eingehen; denn diese sind offensichtlich und jedem bekannt. Außerdem müssten wir dann bis morgen früh hier sitzen. Gefragt ist nun konstruktives und vorausschauendes Handeln für die Zukunft unseres Landes; nur darum geht es.
Der IBM-Computer Deep Blue hat im Mai 1997 den amtierenden Schachweltmeister Garri Kasparow geschlagen. Erfahrung und Intuition schachmatt gesetzt von einer Maschine! Deep Blue hatte eine unglaubliche Rechenleistung, die jedoch im Vergleich zum heutigen Stand an technologische Steinzeit erinnert. Der heutige IBM-Spitzenrechner Summit vollzieht 122,3 PetaFLOPS. Das sind Billiarden Rechenoperationen, und zwar pro Sekunde. China verfügt über mehr als 200 Megarechner und wird den IBM-Summit in wenigen Monaten übertrumpfen. Wie harmlos erscheint angesichts solch spektakulärer Rechenleistungen die KI, die wir aus dem Alltag kennen, zum Beispiel auf dem iPhone – „Hallo Siri, wie ist morgen das Wetter?“ – oder zu Hause, „Hallo Alexa, dimme das Licht!“ oder „Spiele Songs von Ed Sheeran!“ Im Übrigen sind das alles Datenkraken erster Güte.
KI auf dem Handy, KI auf dem Laptop und immer öfter auch im Auto, das gelernt hat, alleine Spur und Abstand zu halten. Doch das ist nur der Anfang. In der Industrie ist Robotik längst im Einsatz. Trotzdem lahmt die Entwicklung in Deutschland, während China KI-Masterpläne mit Milliarden Euro fördert.
Wir erleben atemberaubende Entwicklungen, die wir zum Teil in ihren Auswirkungen auf Arbeitswelt und Umwelt, auf die Wirtschaft unseres Landes, aber auch auf das Wichtigste, das Menschsein, noch nicht vollständig erfassen können.
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Menschsein, das ist mehr als Eizelle, Samen, DNA. Es ist der Verstand, die Kraft, zu gestalten. Es ist vor allem eines: Empathie. Sobald KI befähigt ist, kognitive, emotionale und soziale Intelligenz abzubilden, werden Risiken wie auch Chancen uns vor unvorstellbare Herausforderungen in allen Lebensbereichen stellen.
KI ermöglicht aber auch staatliche Überwachung. Der sogenannte Sozialkredit in China funktioniert nach einem Punktesystem und wird bis 2020 flächendeckend in China eingeführt. Der Sozialkredit berücksichtigt Familienstand, Zahlungsmoral, Strafregister, Einkaufsgewohnheiten und soziales Verhalten. China möchte damit den linientreuen, einwandfreien Bürger schaffen. Der Sozialkredit entscheidet zum Beispiel über Beförderungen. Dieses System, liebe Kolleginnen und Kollegen, existiert bereits, und die Zukunft von Millionen Menschen hängt davon ab. Wir müssen uns fragen, ob wir das auch wollen. Ich bin mir sicher: Nein, das wollen wir nicht.
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Vor einem solchen Hintergrund geht es eben nicht nur um Investitionen oder Technik; es geht vor allem auch um den verantwortungsvollen Umgang mit der Technologie und ihren Einsatzmöglichkeiten. Dass wir die Skrupellosigkeit von Facebook und Co schlucken, ist ein Beleg dafür, dass wir das noch nicht vollständig verstanden haben. Ich bin dankbar, dass dem Thema KI nun eine Enquete-Kommission gewidmet wird, um es endlich als Big Picture, also ganzheitlich, zu betrachten.
Verantwortungsvoller Umgang mit der KI, das muss für uns bedeuten – und das sollte das Mindestergebnis der Kommission sein –, dass wir umgehend ein Programm anwerfen, um die Entwicklung in allen relevanten Bereichen – Bildung, Medizin, Wirtschaft und Arbeitswelt – aufbauend auf einem ethischen Fundament auf den Weg zu bringen. Lassen Sie uns also gemeinsam an diesem Ziel arbeiten, und lassen Sie uns eine KI-Wirtschaftsinitiative lostreten, mit der wir den Anschluss an die USA und China erlangen! Wir haben immer noch die Möglichkeit, mit den richtigen Maßnahmen eine Spitzenposition insbesondere in der Maschinenindustrie zu erobern. Und wir haben die historische Chance, den Qualitätsbegriff „Made in Germany“ wieder mit neuem Leben zu erfüllen, auch wenn das für manche in diesem Hohen Hause nicht erstrebenswert sein sollte.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Nadine Schön für die Fraktion der CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei der letzten Münchner Sicherheitskonferenz hat ein Roboter die Gäste begrüßt – Sophia. Er hat gelächelt, hat ganz intelligent Fragen beantwortet – mithilfe von künstlicher Intelligenz. Wenn Sie bei Google ein Stichwort eingeben – sagen wir „Weltmeisterschaft“ –,
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dann finden Sie rechts einen Kasten. Hier werden die relevanten Informationen zu dem Stichwort, das Sie eingegeben haben, zusammengetragen. Das war nicht etwa ein fleißiger Praktikant bei Google; nein, Google stellt mithilfe von Deep Learning, einer Unterart von künstlicher Intelligenz, aus der Fülle der Daten, auf die Google zugreifen kann, diese relevanten Informationen kompakt zusammen – ebenfalls künstliche Intelligenz, die wir im Alltag längst benutzen. Auch in der Landwirtschaft, in der Medizin oder im Alltag begegnet uns längst künstliche Intelligenz.
Wieso diskutieren wir also jetzt seit Monaten oder wenigen Jahren verstärkt über dieses Thema? Der Hintergrund ist der, dass KI in den letzten Jahren eine völlig neue Dynamik erfahren hat. Intensität und Qualität von KI haben sich in den letzten Jahren massiv verändert. Es gibt immer mehr Daten, mit denen gearbeitet werden kann. Die Rechenleistung hat massiv zugenommen. Es werden enorme Summen in Forschung investiert, und dadurch werden immer schnellere Innovationssprünge vollzogen.
Das beflügelt Fantasien. Die einen denken an den Terminator, sehen die Maschine, die die Macht über die Menschen übernimmt. Die anderen setzen eine Menge Hoffnungen in KI, in Künstliche-Intelligenz-Systeme. Sie sehen darin die Lösung für viele Probleme der Menschheit wie Hunger und Klimakatastrophen und hoffen auf Heilung von Krankheiten und Vermeidung von Epidemien.
Alles scheint möglich mit künstlicher Intelligenz. Deshalb ist es kein Hype, über den plötzlich alle sprechen, weil es gerade modern ist; es ist Fakt, dass KI derzeit der größte Treiber der Digitalisierung ist und nahezu alle Bereiche – von der Medizin über die Mobilität bis hin zur Produktion oder auch das Versicherungswesen, ja sogar das Management von Konzernen – beeinflusst und mitgestaltet. Diese enorme Entwicklung vollzieht sich nicht nur bei uns. Die größten Treiber sind US-amerikanische Großkonzerne und die Volksrepublik China. Gerade bei China beobachten wir, dass massiv investiert wird, dass KI entwickelt und auch angewandt wird, allerdings auf einem ganz anderen Wertefundament, als wir das wollen. Hier spielen Persönlichkeitsrechte, der Schutz von Daten, der Respekt vor der Würde des Einzelnen eine, vorsichtig ausgedrückt, untergeordnete bis, manchmal, gar keine Rolle.
Wir haben also eine Entwicklung, die uns nicht nur vor die Fragen stellt, welche Chancen und Potenziale KI bietet, welche Risiken und Herausforderungen damit verbunden sind, welche Rahmenbedingungen wir setzen wollen und nach welchen Grundsätzen wir KI in Deutschland und in Europa entwickeln und anwenden wollen. Nein, wir müssen unsere Antworten auch in den internationalen Kontext stellen. Unsere Antworten müssen korrespondieren mit anderen Sichtweisen und Vorstellungen von künstlicher Intelligenz, die es in dieser Welt gibt.
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Wir als Union – ich denke, das ist auch gesellschaftlicher Konsens in unserem Land, zum Glück – wollen den technologischen Wandel auf der Grundlage unserer gesellschaftlichen und kulturellen Werte gestalten. „Gestalten“ ist das entscheidende Wort; denn wir wollen nicht Objekt sein und nur anwenden, sondern wir wollen Akteur sein. Wir wollen die Potenziale der Technologie nutzen und selbst Lösungen entwickeln und auch den Transfer in die Wirtschaft schaffen. Deshalb ist es richtig, dass das Thema ganz oben auf der politischen Agenda steht – in Deutschland wie in Europa. Genauso wichtig ist, dass es eine gesellschaftliche Debatte über das Thema gibt, und für diese gesellschaftliche Debatte gibt es keinen besseren Ort als diesen hier, den Deutschen Bundestag, das Herz der Demokratie. Deshalb setzen wir heute die Enquete-Kommission ein.
Die Enquete-Kommission, eine ganz besondere Art des Parlamentarismus, ist eine Kommission, in der ebenso viele Abgeordnete aus vielen fachlichen Bereichen wie Experten aus unterschiedlichen Bereichen sind. Wir diskutieren also mit Wissenschaftlern, mit Forschern, mit Theologen, mit Unternehmern, mit Sozialpartnern, mit Gesellschaftswissenschaftlern. Wir wollen eine breite gesellschaftliche Debatte in diesem Raum über künstliche Intelligenz führen, und wir wollen sie auch mit der Bevölkerung führen.
Wir werden definieren müssen, wo wir stehen, gerade im internationalen Kontext.
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Wir werden diskutieren, welche ethischen Maßstäbe wir anlegen und welche Grundsätze und Prinzipien wir für Forschung und Nutzung von KI aufstellen; denn letztlich muss der Mensch entscheiden, wo und wieweit er KI einsetzen will. Der Mensch ist auch verantwortlich für die Daten, die in intelligente Systeme eingespeist werden. Wir werden in der Enquete-Kommission herausarbeiten müssen, inwieweit KI unsere Arbeitswelt verändert.
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– „Tut sie doch schon längst!“, das war eine sehr intelligente Zwischenbemerkung. Natürlich tut sie das längst,
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aber genau diese Entwicklung muss man doch mitgestalten,
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und man muss die Konsequenzen und die politischen Schlussfolgerungen daraus ziehen.
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Es langt nicht, das Ganze nur von der Zuschauerbank aus zu betrachten. Es ist doch unsere Aufgabe in diesem Hohen Hause, das zu gestalten und diese Entwicklung mit zu beeinflussen.
Wir werden über Forschung reden.
Frau Schön, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD?
Ja, gerne.
Vielen Dank für das Recht, eine Zwischenfrage zu stellen. – Verzeihen Sie, Frau Schön, ich war, bevor ich in den Bundestag gekommen bin, in einem großen Finanzdienstleistungskonzern im Projekt Digitalisierung in der Zusammenarbeit mit einem Konzern – nennen wir ihn „IBM“ – zur Interpretation von Kundenanschreiben mit KI. Was wollen Sie jetzt noch definieren? Vor allem: Die Enquete-Kommission soll bis 2020 etwas vorlegen. Was wollen Sie da noch festlegen? Das läuft. Das passiert.
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Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was in der Wirtschaft momentan vor sich geht?
Politik hat nicht die Aufgabe, einzelnen Unternehmen vorzuschreiben, wie sie ihre Arbeitswelt gestalten. Ich glaube, da verkennen Sie die Aufgabe der Politik. Politik hat die Aufgabe, die politischen Rahmenbedingungen so zu setzen,
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dass wir technologische Chancen nutzen, Risiken bekämpfen
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und zusammen mit der Forschung und den Anwendern in der Wirtschaft dieses Umfeld gestalten.
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– Genau. Das ist genau das, was mein Vorredner in einer durchaus guten Rede gefordert hat: dass wir genau das in diesem Hohen Haus tun.
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Insofern empfehle ich Ihnen: Setzen Sie sich vielleicht in Ihrer eigenen Fraktion einmal mit den Experten auseinander, und bestimmen Sie dann für sich, wie Sie mit diesem wirklich wichtigen Thema, das die Menschen vor Ort auch umtreibt, umgehen wollen. Ich glaube, es gibt noch Diskussionsbedarf innerhalb der AfD. Ich sehe nämlich Kopfschütteln innerhalb der AfD. Also haben Sie hier in den nächsten Wochen eine interessante Aufgabe vor sich.
Sie müssen zum Schluss kommen, Frau Schön.
Gesellschaftliche Verantwortung, wirtschaftliche, soziale und ökologische Potenziale – das sind die Themen, über die wir gemeinsam diskutieren wollen. Dazu werden wir Handlungsempfehlungen erstellen – eine spannende Aufgabe für die nächsten zwei Jahre. Ich freue mich auf die gemeinsame Arbeit mit Ihnen und mit den Experten. Das wird ein guter und wichtiger Prozess für unser Land werden.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Mario Brandenburg für die FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Gäste! Lassen Sie mich mit einer Frage starten: Was hat Fußball mit Fortschritt gemeinsam?
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Seit gestern wissen wir leider, dass eine erfolgreiche Weltmeisterschaft 2014 nicht zwangsläufig zu einer erfolgreichen WM 2018 führt.
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Genauso verhält es sich mit Fortschritt; denn eine erfolgreiche industrielle Revolution führt nicht zwangsläufig zu einer erfolgreichen digitalen Revolution. Aus diesem Grund unterstützen wir Freien Demokraten ausdrücklich den Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission zur künstlichen Intelligenz, können aber nicht verschweigen, dass wir uns an der einen oder anderen Stelle schon etwas mehr Vorarbeit gewünscht hätten. Andere Nationen sind in der Entwicklung von und im Umgang mit nationalen Strategien schon wesentlich weiter: Kanada, UK, Finnland, Japan, Singapur, Südkorea, Indien, China und viele mehr haben bereits nationale Handlungsstrategien und wissen genau, wohin sie als Nation möchten und wohin nicht. Wir brauchen eine offene Debatte, um zu beweisen, dass Zukunftsängste überflüssig sind.
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Künstliche Intelligenz hat – wie auch der digitale Wandel – leider ein Kommunikationsproblem. In Teilen der Bevölkerung regen sich Bedenken hinsichtlich Datenschutz und Arbeitsplatzverlust oder generelle Technologie- und Fortschrittsfeindlichkeit. Hier müssen Politik, Wissenschaft und Wirtschaft gemeinsam ansetzen, um den Menschen konkreten Nutzen in ihrer Lebenswirklichkeit zu stiften. Möglichkeiten, dies zu tun, sind bessere medizinische Diagnostik und Versorgung, moderne Mobilitätskonzepte und daraus resultierende Reduzierung der Zahl der Verkehrsopfer, smarte Hilfssysteme, schnellere Verwaltungsprozesse und vieles, vieles mehr.
Künstliche Intelligenz ist kein Schicksal oder Alien, das vom Himmel auf uns gefallen ist, um uns zu versklaven, auch wenn der eine oder andere Zeitungsbericht dies anders darstellt. Vielmehr ist es eine Revolution in der Informatik, eine Informatik 2.0, wenn Sie so wollen, in der der Entwickler nicht mehr zwingend den Weg zum Ziel direkt kennen oder verstehen muss. Der Algorithmus probiert selbstständig aus und erlernt, ähnlich wie ein Kind, durch Wiederholen Muster für kommende Handlungen. Diese Veränderungen und die daraus resultierenden Möglichkeiten könnten der Schlüssel sein, um die digitale Transformation entscheidend voranzutreiben und alle in der Gesellschaft davon profitieren zu lassen.
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Warum ist eine politische Kommission an dieser Stelle so wichtig? Im Zusammenhang mit KI wird – wie auch hier – an Superlativen nicht gespart. So laufen wir als Gesellschaft Gefahr, dass künstliche Intelligenz als Hype abgetan wird und wir keine klaren Handlungsstrategien und Handlungsanweisungen definieren. Doch genau das wäre fatal. In Zeiten, in denen Googles DeepMind-Algorithmus in Stunden das Laufen erlernt, DNA-Informationen serialisiert und gespeichert werden können, smarte Maschinen immer weiter in menschliche Hoheitsgebiete vordringen und autonome Waffen eine nie dagewesene Bedrohung darstellen könnten, ist es umso wichtiger, politisch aus den Löchern zu kriechen und wieder in den Gestaltungsmodus zu kommen.
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Es fühlt sich manchmal an, als hätten wir in Deutschland aufgehört, zu träumen; denn während in den 60er-Jahren noch von Städten auf dem Mond oder unter Wasser geredet wurde, geht es heute leider oft nur noch um ein Weiter-so. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen aber wieder lernen, zu träumen; denn wenn wir als Deutsche und Europäer nicht schleunigst eine Utopie entwickeln, dann bestimmen eben die Utopisten aus dem Silicon Valley und China, wie die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder aussehen wird.
Europäische Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit, das Recht auf Privatsphäre müssen bei der Entwicklung von künstlicher Intelligenz im Mittelpunkt stehen.
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Algorithmen sollen den Menschen ergänzen, nicht ersetzen – assistieren ja, substituieren nein.
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Des Weiteren gibt es in Deutschland spezielle gesellschaftliche Gegebenheiten wie genaue Vorstellungen von ethischen Standards, einen starken Mittelstand als Rückgrat unserer Wirtschaftskraft und eine besondere Liebe zur Qualität. Als ehemaliger Softwareentwickler in einem großen internationalen Konzern kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass es unterschiedliche Ansprüche an Qualität von Softwaredienstleistungen auf beiden Seiten des Atlantiks gibt. Daher muss unser Ziel sein: hochqualitative KI made in Germany.
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Der Wettlauf um die künstliche Intelligenz hat erst begonnen. Wir in Europa verfügen über enormes Potenzial: Wissenschaft und Grundlagenforschung, diversifizierte Produktionsstandorte, Bildung, Kultur, verschiedene Sprachen und vieles mehr. Es muss uns gelingen, diese Potenziale im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz zu heben;
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denn die Zeit drängt. Sollte es die Politik, also wir, nicht schaffen, rechtzeitig ethische Leitplanken zu definieren, beginnen große Tech-Konzerne, selbst Ethikregeln zu definieren. Dies ist zwar durchaus eine lobenswerte Tat und geschieht vermutlich aus ehrenwerten Motiven, kann und darf aber nicht der Anspruch eines Parlaments sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Lassen Sie uns deshalb gemeinsam handeln und die Chancen im Blick behalten!
Wir Freien Demokraten wollen nicht vorauseilend regulieren und unseren Forschern stattdessen beispielsweise sogenannte Regulatory Sandboxes – ich erkläre das Wort gerne, bevor es zu Kritik kommt: kontrollierte, aber nur schwach regulierte Testumgebung – zur Verfügung stellen. Dies bietet die Möglichkeit, neue Erkenntnisse erst einmal geschützt auszutesten, bevor der Gesetzgeber möglicherweise regulierend eingreifen muss. Hätte der Gesetzgeber nach dem ersten Unfall von Carl Benz’ neuartigem Gefährt voreilig regulierend eingegriffen, würden wir vielleicht noch heute mit dem Pferd ins Krankenhaus geritten werden.
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Ich freue mich auf den Austausch in dem Gremium. Wir stimmen dem Antrag zu.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist Dr. Petra Sitte.
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Danke schön. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist immerhin 60 Jahre her, dass der Begriff „künstliche Intelligenz“ in dem heutigen Sinne geprägt worden ist. Nun könnte man annehmen, dass es selbst für den Bundestag ein bisschen spät sein könnte, diese Enquete-Kommission einzusetzen. Aber tatsächlich – das haben die Kolleginnen und Kollegen schon gesagt – ist die Auseinandersetzung derzeit hochaktuell und hat an Fahrt gewonnen.
Die technische Entwicklung bringt mit dem maschinellen Lernen, was eigentlich der korrektere Begriff ist, nicht nur neue Anwendungen hervor. Nein – Sie haben es schon gehört –, es stellen sich eine Menge grundsätzliche Fragen, beispielsweise wie mit Systemen umzugehen ist, deren Entscheidungslogik nicht mehr ohne Weiteres von Menschen nachvollzogen werden kann. Gleichzeitig werden es Fortschritte bei der Mustererkennung wahrscheinlich immer besser ermöglichen, autonome Softwareagenten in Bereichen einzusetzen, die vorher ausschließlich Menschen vorbehalten waren, beispielsweise im Straßenverkehr, bei zwischenmenschlicher Kommunikation oder eben, wie schon zitiert, im Rechtsverkehr.
Darüber hinaus stellen sich eine Reihe sehr grundsätzlicher ethischer, aber natürlich auch regulatorischer Fragen, und zwar in allen Politikfeldern.
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Einiges bedarf schneller Antworten, weil die Technologien längst im Einsatz sind oder weil es um Rahmenbedingungen der Entwicklung geht. Ein aktuelles Beispiel – darauf will ich vor allem die Kolleginnen und Kollegen der Union aufmerksam machen – ist Text- und Data-Mining als Basistechnologie für maschinelles Lernen. Auf EU-Ebene läuft die Debatte zur Urheberrechtsreform. Genau diese wird Einschränkungen mit sich bringen, die Auswirkungen auf die Anwendung von künstlicher Intelligenz haben und über die wir hier auch diskutieren sollten.
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Andere Fragen sind von grundsätzlicherer Natur. Die können wir – da haben Sie völlig recht, Frau Schön – nur in einem gesamtgesellschaftlichen Prozess behandeln. Die Frage, wie wir mit Maschinen umgehen, die plötzlich über Eigenschaften verfügen, die vergleichbar sind mit menschlichen Eigenschaften, und deren Existenz bisher für völlig unmöglich gehalten worden ist, weist weit über unser politisches Alltagsgeschäft hinaus. Ich finde es gut, dass das in dem Einsetzungsantrag enthalten ist.
Meine Hoffnung in Bezug auf die Enquete-Kommission ist, dass es ihr gelingt, diesen großen Bogen zu spannen, also von den Rahmenbedingungen der aktuellen technologischen Entwicklung über gesellschaftliche Fragen, die uns zivilisatorisch betreffen bzw. die die Gesellschaft dominieren könnten, bis hin zu der Frage: Wer dominiert da eigentlich wen? Das sollten wir klären. Das gehört auch heute schon in eine Enquete-Kommission.
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Es wäre also schön, wenn wir nicht nur Ergebnisse produzieren würden, die die Öffentlichkeit interessiert zur Kenntnis nimmt und über die wir uns freuen, die aber am Ende keinen Einfluss haben auf politisches Handeln und in Schubladen verschwinden. Das wäre sehr schade; denn die Arbeit wird aufwendig sein, und sie wird zukunftsweisend sein.
Danke.
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Nächste Rednerin ist Dr. Anna Christmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir diese Enquete-Kommission heute hier einsetzen. Als Grüne werden wir dem Antrag auch zustimmen, weil er nach guten fraktionsübergreifenden Gesprächen einen wirklich umfassenden Auftrag erteilt.
Wenn wir uns mit den Konsequenzen von KI befassen, dann müssen wir die wirtschaftlichen, aber auch die sozialen und die ökologischen Chancen und Risiken in den Blick nehmen. So ist es im Auftrag nun hinterlegt, und das ist richtig so.
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Das Gleiche gilt für die europäische Einbettung. Wir wollen, dass KI auf Grundlage europäischer Werte in Europa erforscht und entwickelt wird; das kam heute schon zur Sprache. Ich freue mich über die Einigkeit bei diesen Zielen. Wir dürfen nicht blind mit China und den USA konkurrieren, sondern müssen einen europäischen Weg entwickeln, der Grund- und Freiheitsrechte und gesellschaftliche Gerechtigkeitsfragen stets mit im Blick behält.
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Bei all der Einigkeit, die wir darüber haben, dass wir diese Enquete-Kommission einsetzen, möchte ich aber einen Punkt anmerken, bei dem wir uns als Grüne mehr Mut gewünscht hätten. Das ist das Thema „Beteiligung und Öffentlichkeit“. Sie, Frau Schön, haben angesprochen, dass Sie sich eine gesellschaftliche Debatte wünschen. Das tun wir auch, das halten wir sogar für essenziell. Wenn der Mensch bei KI im Mittelpunkt stehen soll, dann muss der Mensch aber auch informiert und einbezogen werden. Daher ist es doch falsch, die Enquete-Kommission hinter verschlossenen Türen tagen zu lassen.
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Es vergeht kein Tag, an dem nicht wilde Spekulationen in der Zeitung darüber zu lesen sind, was KI alles bewirken könnte. Die Menschen wissen oft eben nicht genau, was sie eigentlich von dieser Technologie zu erwarten haben.
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Das Vertrauen der Menschen in neue Technologien ist aus unserer Sicht Voraussetzung für ihre Akzeptanz und damit ihren Einsatz. Das erreichen wir sicher nur, wenn wir eine gesamtgesellschaftliche Debatte führen.
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Das erwarten übrigens nicht nur wir, sondern zum Beispiel auch die Wirtschaft. Der Bundesverband KI hat diese Woche einen Neun-Punkte-Plan herausgebracht, der benennt, was er von einer deutschen KI-Strategie erwartet. Aufklärung und gesellschaftliche Debatte sind zu Recht Teil dieser Strategie.
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Wir Grünen freuen uns also, bei dieser Enquete-Kommission dabei zu sein, und werden uns selber zur Aufgabe machen, die öffentliche Debatte über diese Enquete-Kommission sehr intensiv mit zu führen. Wir würden uns freuen, wenn wir die vertane Chance, Beteiligungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger schon im Auftrag mitzuformulieren, in der konkreten Arbeit wettmachen und dafür sorgen, dass wir die Menschen, sei es über Onlinebeteiligung oder Dialogforen, einbeziehen.
Neben unserer Freude über die Enquete-Kommission würden wir uns natürlich freuen, wenn nebenbei auch die Arbeit weitergeht; denn die Enquete-Kommission darf kein Feigenblatt dafür sein, all die Aktionen, die angekündigt sind, auf die lange Bank zu schieben. Für das Zentrum zur KI gemeinsam mit Frankreich habe ich bisher noch kein Konzept und noch kein Budget gesehen. Ich würde mich freuen, wenn die Regierung trotz der laufenden Enquete-Kommission endlich einmal loslegt.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die Fraktion der SPD ist die Abgeordnete Daniela Kolbe.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gestehe es gern ein: Ich persönlich mag Enquete-Kommissionen.
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Das sind Orte von intensiver Debatte. Sie sind erkenntnisorientiert und wissenschaftsbasiert. Sie arbeiten auf einen gesellschaftlichen Konsens hin, und dort wird versucht, fraktionsübergreifend zusammenzuarbeiten. Kurz gesagt: Sie haben so viel von dem, was ich in der aktuellen Politik häufig vermisse.
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Insofern freue ich mich, dass wir eine Enquete-Kommission einsetzen.
Künstliche Intelligenz ist ein super geeignetes Thema für eine Enquete-Kommission; denn wir spüren ja schon heute: Künstliche Intelligenz drückt unserem Leben und besonders unserer Arbeitswelt zunehmend ihren Stempel auf – auch in höher qualifizierten Berufen, in der Versicherungsbranche, in den Personalabteilungen, bei Ärzten, bei Anwälten usw. Ich bin mir sicher, dass das Leben meiner fast dreijährigen Tochter massiv von künstlicher Intelligenz bestimmt sein wird – ob zum Guten oder Schlechten, liegt auch in unserer Hand. Womöglich bestimmt künstliche Intelligenz darüber, wie wir alle im Alter, wenn wir einmal pflegebedürftig sind, leben. Es geht hierbei also um richtig viel.
Es gibt viele positive und negative Visionen zum Thema „Künstliche Intelligenz“. Es muss darum gehen, dass wir gemeinsam die Weichen so stellen, dass wir die Chancen für möglichst viele Menschen, für unsere Gesellschaft und für unsere Wirtschaft heben.
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Viele Menschen können von der Technik bzw. Technologie profitieren – etwa durch bessere Krankenversorgung –, wenn sie gut gemacht und gut reguliert ist. Wir können dafür sorgen, dass es in Zukunft weniger Diskriminierung gibt, wenn wir die Algorithmen von vornherein ordentlich regulieren. Wir können für sicherere Mobilität sorgen, wenn wir als Bundestag vernünftig Leitplanken setzen. Es kommt jetzt darauf an – vielleicht ist es der letzte Moment –, wirklich aktiv zu werden, um die Weichen richtig zu stellen.
Unser Anspruch als SPD ist, dass wir nicht nur über technischen Fortschritt reden, sondern dass wir auch darüber sprechen, wie wir aus technischem Fortschritt gesellschaftlichen Fortschritt machen, wie wir also dafür sorgen können, dass möglichst alle Menschen in Freiheit, Selbstbestimmung und Sicherheit ihr Leben gestalten können – mit künstlicher Intelligenz.
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Es geht aber auch darum, Risiken zu minimieren. Wir stehen vor der Entscheidung – ich glaube, dass wir die Entscheidung noch treffen können; das sage ich in Richtung des Zwischenrufers –, ob wir die Veränderungen designen oder ob wir verändert werden. Bevor die Dynamik zunimmt und man wie auf einer schiefen Ebene ein bisschen ins Rutschen kommt, ist es gut, dass wir jetzt Leitplanken und Haltegriffe einsetzen und uns darüber verständigen, wo Grenzen sind. Genau das können wir in einer Enquete-Kommission tun.
Es geht um viel. Ich sage es einmal ganz dramatisch: Es geht um Leben und Tod, wenn wir zum Beispiel darüber reden, wie viel Autonomie wir bei Waffensystemen zulassen wollen bzw. ob es Punkte gibt, an denen immer noch ein Mensch die Entscheidung treffen soll. Das ist eine politische Entscheidung – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.
Es geht um unsere Freiheit. Das sehen wir, wenn wir nach China schauen. Es ist schon angesprochen worden, in welche Richtung man sich dort bewegt. Oder schauen wir in die USA, nach Pennsylvania, wo es Algorithmen gibt, die es Richtern erleichtern, Entscheidungen darüber zu fällen, ob jemand vorzeitig freikommt. Diese Algorithmen können die Rückfallwahrscheinlichkeit berechnen, allerdings geht dort sehr stark die Hautfarbe ein. Wollen wir solche Algorithmen? Wie sollen Algorithmen designt sein, damit es eben weniger Diskriminierung gibt und sie nicht die gleiche Diskriminierung, die bisher besteht, perpetuieren? Es geht um die Würde des Menschen. Haben wir als zu pflegende Menschen ein Anrecht darauf, auch einmal von einem anderen Menschen berührt zu werden, oder ist es okay, dass das Maschinen übernehmen?
Das sind die großen Fragen, die sich stellen, und ich freue mich sehr, sie mit Ihnen allen fraktionsübergreifend intensiv zu diskutieren.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Marc Jongen, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Meine Redezeit heute beträgt ganze drei Minuten, für einen Menschen ein sehr kurzer Zeitraum, für einen Hochleistungsrechner eine Ewigkeit. Würde ich meine Rede im Jahr 2118 halten, dann hätten Sie vielleicht schon alle biokompatible Chips in Ihren Gehirnen implantiert, die es meinem Chip erlauben, in drei Minuten ganze Gigabytes an Informationen an Sie zu übermitteln, die Sie dann als menschliche Sprache oder auch als Bilder dekodieren.
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Vielleicht eine Schreckensvision für Sie, weil Sie so viel Informationen von der AfD gar nicht haben wollen; das mag sein.
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Aber Spaß beiseite: Diese Science-Fiction, die durch KI-Forschung in den Bereich des Denkbaren gerückt ist, ist faszinierend und zugleich beunruhigend. Welche Möglichkeiten der Manipulation des Denkens der Bürger eröffnen sich einem politischen Regime oder kriminellen Akteuren, wenn Mensch und Maschine derart verkoppelt sind? Die tagtägliche Manipulation der Bürger durch unsere Staatsmedien ist dagegen geradezu steinzeitlich primitiv. Was bedeutet es für die Identität des Menschen, wenn natürliche Intelligenz ohne Hilfe der künstlichen nicht einmal mehr den Standardanforderungen der Gesellschaft, der Bildung, der Arbeitswelt gerecht wird? Wie steht es dann noch um die Autonomie des Subjekts, um die Freiheit des mündigen Staatsbürgers? Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn lebenswichtige Entscheidungen nicht mehr von Menschen, sondern von Algorithmen getroffen werden? Ich glaube, das klamme Gefühl, das das autonome Fahren bei jedem Automobilliebhaber auslöst, gibt einen Vorgeschmack auf drohende Autonomieverluste in der digitalen Zukunft.
In meiner Dreiminutenrede des Jahres 2118 könnte ich auf all diese Fragen zu elaborierten philosophischen Antworten ausholen.
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Im steinzeitlichen Hier und Heute bleibt mir nur die Conclusio: Wir müssen die Herausforderungen der KI annehmen. Wir müssen mit dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz sogar eine Führungsrolle einnehmen. Aber es wird darauf ankommen, unsere humanistische Tradition, das christliche Menschenbild in das digitale Zeitalter zu überführen, sodass weiterhin selbstbestimmtes Leben für die Individuen und für die Gesellschaft möglich ist.
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Und wo, wenn nicht in Europa und Deutschland, sollen entsprechende Standards entwickelt werden? Wir dürfen die Schlüsseltechnologie KI nicht China oder den USA überlassen, meine Damen und Herren.
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Die AfD begrüßt daher die Einrichtung einer Enquete-Kommission zur künstlichen Intelligenz. Ich freue mich besonders auf die ethischen und damit philosophischen Diskussionen, die durchaus öffentlich stattfinden sollten, werte Kollegen von den Grünen. Wir bedauern nur, als Fraktion nicht gefragt worden zu sein, ob wir den Antrag mitzeichnen wollen.
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Man munkelt auf den Fluren, Frau Merkel habe dies verboten.
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Wie gut, dass Merkel bald Geschichte ist, möge sie auch als Avatar niemals wiederkehren.
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Der nächste Redner ist der Kollege Tankred Schipanski, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Bundestagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Kollege von der AfD, es sind alle Fraktionen gefragt worden. Ich kann Ihnen nicht sagen, warum die AfD gesagt hat, dass sie sich diesem Antrag nicht anschließt. Da müssen Sie sich einfach noch einmal erkundigen.
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Wer sich mit dem Thema KI und der Zukunft beschäftigt, merkt schnell: Es gibt Optimisten, die uns eine rosige Zeit voraussagen, in denen Maschinen den Alltag erleichtern, aber es gibt natürlich auch Skeptiker, die davor warnen, dass der Mensch durch künstliche Intelligenz ins Hintertreffen geraten könnte. Für uns stellt sich natürlich die Frage: Wem kann man da glauben? Gewiss ist: Zurzeit mag künstliche Intelligenz gemessen an ihrem Entwicklungspotenzial noch in den Kinderschuhen stecken. Von daher ist die Entwicklung der KI-Technologie für uns gegenwärtig noch in einer gewissen Art und Weise eine Reise ins Ungewisse. Doch das wird sich ändern; denn KI-getriebene Technologien entwickeln sich rasant. In unseren Alltag hat KI schon Einzug gehalten, dafür müssen wir keine Science-Fiction-Filme bemühen. Spracherkennung auf den Smartphones, Pflegeroboter – das wurde schon angesprochen –, medizinische Diagnostik, überall begegnen uns erste Anwendungen von ersten Stufen künstlicher Intelligenz, und weil es noch erste Stufen sind, liebe Frau Sitte, denke ich, kommt diese Enquete-Kommission auch zur rechten Zeit und nicht zu spät.
Die KI erzeugt gesellschaftliche Veränderung. Diese Veränderung gilt es politisch nicht nur zu begleiten, sondern zu gestalten. Um das komplexe Thema „Künstliche Intelligenz“ aufzubereiten, einen Überblick zu geben, es zu analysieren, dafür zu sensibilisieren, aber insbesondere, um Orientierung zu geben, dafür setzen wir heute diese Enquete-Kommission ein. Wir wollen einen Überblick über dieses umfängliche Thema gewinnen und wollen dann aus der Analyse der Enquete-Kommission die richtigen Schlussfolgerungen ziehen; denn es muss uns schon nachdenklich machen, wenn der Tesla-Chef Elon Musk ausdrücklich und dringend Regulierung für diesen Bereich wünscht.
Wir schauen dabei nicht nur technikverliebt auf eine neue Technologie, sondern es geht uns insbesondere um eine ethische Bewertung; das ist schon angesprochen worden. Das unterscheidet uns von den USA und von China, die mit Blick auf die reine Technologie immer wieder als Vorreiter genannt werden. Diesen technologieorientierten Blick wird mein Kollege Andreas Steier dann ein bisschen ausführen. Aber weil unsere Bundesforschungsministerin der Debatte beiwohnt, kann ich nur sagen, dass Deutschland im Bereich der KI-Forschung schon einen guten Platz einnimmt, nicht nur mit dem schon zitierten Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, in dem wir das Thema seit 1988 bearbeiten, sondern insbesondere mit vielen Instituten wie Fraunhofer, Max Planck und Leibniz und Universitäten, bei denen man im Übrigen an 20 bereits KI studieren kann.
Für die Enquete-Kommission geht es vor allen Dingen um die Frage: Welche ethischen Grenzen brauchen wir in der neuen Partnerschaft zwischen Mensch und Maschine? Wir wollen keine Entwürdigung des Menschen durch die KI-Technologie, und wir wollen durch KI auch keine Art „Über-Ich“ haben. Die öffentliche Debatte zum Thema KI verläuft zwischen Hype, Hysterie und Gemeinplätzen. Davon gilt es sich in dieser Enquete-Kommission zu lösen. Ich wünsche mir, dass uns der Enquete-Bericht in dieser breiten Thematik am Ende Orientierung gibt.
Dabei ist es unschädlich, dass die Regierung bereits im Herbst dieses Jahres die nationale KI-Strategie vorstellen wird und wir im Dezember dazu in Nürnberg einen Digitalgipfel veranstalten werden. Die Ergebnisse dieser Veranstaltung können vielmehr in die Arbeit der Enquete-Kommission einfließen. Selbstverständlich, liebe Frau Kollegin Dr. Christmann von den Grünen, arbeiten wir an allen Projekten, auch an den KI-Projekten, die wir im Koalitionsvertrag beschrieben haben, parallel zu dieser Enquete-Kommission weiter. Da müssen Sie sich nicht sorgen.
Meine Damen und Herren, Ziel für uns muss es sein, dass wir den wirtschaftlichen Nutzen aus KI-Technologien ziehen und dass wir die ethischen und rechtlichen Rahmenbedingungen des Einsatzes von KI gestalten. Für den Bundestagsausschuss Digitale Agenda, der diese Enquete-Kommission federführend begleitet, ist klar, dass KI-Technologie der stärkste Treiber bei der Weiterentwicklung der digitalen Gesellschaft ist. Es ist spannend, zu sehen, wie durch KI eigenständig Wissen aus einem Bereich auf einen anderen Bereich übertragen wird und fortentwickelt werden kann. Bündeln wir also unsere Kräfte und schauen genau hin, wie wir diese Chancen nutzen, Risiken mindern und KI als eine Technik gestalten, die dem Menschen dient! Die Enquete-Kommission wird ihren Beitrag zu diesem gesellschaftlichen Diskurs leisten. Ich freue mich auf die gemeinsame, sachorientierte Arbeit. Dabei sollten wir uns durch Kreativität, Selbstbewusstsein und Emotionen auszeichnen – menschliche Eigenschaften, von denen Maschinen gegenwärtig noch weit entfernt sind.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Jessica Tatti von der Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn es gestern Nachmittag vielleicht für Sie bitter war: Deutschland ist Weltmeister – im Roboterfußball. Einen herzlichen Glückwunsch an dieser Stelle an die Leipziger Hochschule zum Titel beim RoboCup in Montreal.
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In Sachen digitale Infrastruktur sind wir leider eher unter den Tabellenletzten. Der Europäische Rechnungshof hat festgestellt, dass der Breitbandausbau bis 2025 wahrscheinlich nicht zu verwirklichen sei.
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Das heißt, ganze Regionen bleiben bei der Digitalisierung weiterhin außen vor. Versuchen Sie einmal, unterwegs im Zug in Brandenburg oder in der Fläche Baden-Württembergs im Internet zu surfen oder ein Telefonat zu führen. Ohne passende digitale Infrastruktur brauchen wir aber zum Beispiel über autonomes Fahren gar nicht erst zu reden, wie es manche hier schon so gerne tun.
Die Bundesregierung sagt immer, dass sie Start-ups fördern möchte. Gleichzeitig bringt der CDU-Parteifreund Axel Voss auf EU-Ebene eine rückwärtsgewandte Urheberrechtsverschärfung auf den Weg. Diese gefährdet nicht nur das freie Netz an sich und widerspricht nicht nur dem Koalitionsvertrag der Bundesregierung, sondern wird auch die Monopolstrukturen der Superstar-Firmen aus Silicon Valley und Shenzhen zementieren; denn sie haben die finanziellen Mittel, um intelligente Upload-Filter zu entwickeln. Ein kleiner Forenbetreiber oder eine nichtkommerzielle Plattform ist dazu kaum in der Lage.
Auch in Sachen künstliche Intelligenz sind die großen Monopole marktführend. Wenn wir die Schaffung von Systemen künstlicher Intelligenz nicht nur den Internetgiganten wie Facebook, Alibaba, Google oder Amazon überlassen wollen und wenn wir transparente Lösungen wollen, dann müssen wir auch den rechtlichen Rahmen dafür festlegen.
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Wir müssen zudem wirksame Lösungen für die berufliche Weiterbildung schaffen, damit die Beschäftigten von heute auch morgen noch sichere Arbeitsplätze haben. Es braucht Antworten darauf, wie wir kleine und mittelständische Unternehmen, nichtkommerzielle und Open-Source-Anbieter absichern und fördern können. Gerade in Zeiten großer Umbrüche, die bei vielen Menschen Unsicherheiten auslösen, ist ein starker und verlässlicher Sozialstaat unverzichtbar.
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Wir tragen gesellschaftliche Verantwortung, der wir gerecht werden müssen. Dass wir in das Zeitalter der künstlichen Intelligenz eintreten, heißt doch nicht, dass wir das eigenständige Denken aufgeben könnten.
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Deshalb muss die Enquete-Kommission neoliberale Denkmuster hinterfragen, damit der digitale Wandel nicht ausschließlich im Interesse der Großkonzerne erfolgt,
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sondern im Interesse der Beschäftigten, der privaten Nutzer und Nutzerinnen und der gesamten Gesellschaft.
Vielen Dank.
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Der Kollege Dieter Janecek ist der nächste Redner für Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Dr. Jongen, ich finde, Ihre Rede hat sehr stark gezeigt, warum wir uns in dieser Enquete „KI“ um das Thema der diskriminierungsfreien Algorithmen kümmern müssen; denn wenn wir die DNA der AfD in Algorithmen umwandeln würden, dann würde jeder Roboter die Männlichkeitskrise ausstrahlen, die Sie in dieser Fraktion ausstrahlen. Das können wir nicht zulassen.
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Da müssen wir was machen. Das Weltbild von Ihnen sollte die KI nicht weiterverbreiten.
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Die Frage der Öffentlichkeit hat ja die Kollegin Christmann sehr intensiv thematisiert. Ich bin übrigens auch der Kollegin Kolbe dankbar für ihren Beitrag und dafür, mit dieser Euphorie an das Thema heranzugehen. Ich finde auch, das ist ein Geschenk.
Jetzt schauen wir einmal nach Frankreich. Wie hat es denn der Macron gemacht?
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Der hat über 200 dezentrale Veranstaltungen vor Ort mit Herrn Villani gemacht, ist an die Bürger rangegangen und hat das Thema KI mit den Bürgerinnen und Bürgern diskutiert. Ich denke, das muss auch ein Vorbild sein für uns. Wir sollten diese Enquete-Kommission nicht hinter verschlossenen Türen machen, sondern es schaffen, diese Fragen, die sehr viel Zuversicht, aber auch sehr viele Ängste ausstrahlen, breit mit der Gesellschaft zu diskutieren. Das ist notwendig.
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Ich habe mich zur Vorbereitung auf die Diskussion und auf die hoffentlich kommende Arbeit in der Enquete vor einigen Wochen bei der Technischen Universität Helsinki für einen Grundlagenkurs zur künstlichen Intelligenz eingetragen. Das kann ich nur jedem empfehlen. 30 Stunden dauert das Ding. Ich habe es noch nicht geschafft. Die letzten vier Sitzungswochen waren ein bisschen voll. Aber es ist hochinteressant. Machen Sie das auch.
Das Land Finnland will die Bevölkerung an den Möglichkeiten, Ideen, aber auch an der Komplexität des Themas teilhaben lassen. Das ist ein tolles Beispiel. Denn natürlich haben wir heute Datenmengen, die in den 50er-Jahren, als das Thema losging, noch gar nicht da waren, und deswegen sind auch die Anwendungsmöglichkeiten andere.
Die Anwendungsgebiete sind eben nicht wie die bei „Star Trek“ oder „Terminator“. Davon sind wir momentan noch weit weg. Wir reden über die schwache Anwendung von künstlicher Intelligenz. Anwendungsmöglichkeiten können zum Beispiel – das hat auch die französische Strategie aufgezeigt – ökologisches Wirtschaften oder Mobilitätssteuerung sein. Warum setzen wir nicht dort einen strategischen Impuls und sorgen dafür, dass die Mobilität neu gesteuert wird, dass sie ökologisch gesteuert wird und dass auch die Produktion verbessert wird? Das wird ein Schwerpunkt sein. Wir sind dankbar, dass die grünen Ideen in diesem Kontext von der Koalition und den Fraktionen aufgenommen worden sind, sodass wir intensiv arbeiten können.
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Die Bundeskanzlerin hat sich gestern mit der Roboterfrau Sophia zusammengesetzt. Das ist ein gutes Bild. Die Strategie KI kommt ja auch von der Bundesregierung. Ich habe nur eine Bitte an Sie: Nennen Sie es nicht „Masterplan“.
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Denn es muss etwas dabei herauskommen, was man am Ende auch versteht, was Sinn und Verstand hat, was durch eine Forschungsstrategie und eine Freiheitsstrategie hinterlegt ist, etwas, das ökologische und soziale Ziele verbindet. Wir brauchen einen ganzheitlichen Ansatz.
Ja, wir wollen nach vorne. Wir wollen es nicht machen wie China mit dem Scoring. Wir wollen es auch nicht machen wie die Amerikaner, wo in einer Militäragentur geforscht wird. Wir wollen es wertegeleitet, europäisch, freiheitlich, sozial und ökologisch machen, und das natürlich gemeinsam mit der riesigen Start-up- und Social-Entrepreneurship-Szene. Dann kann was daraus werden.
Ich freue mich auf die Arbeit in den nächsten zwei Jahren und auf die weiteren Diskussionen.
Vielen Dank.
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Herr Kollege Keuter von der AfD, Sie haben vorhin – ich weiß nicht, aus welcher Motivation heraus – „Hetzer“ gerufen. Das ist ein unparlamentarischer Ausdruck. Ich möchte Sie wirklich bitten, solche Ausdrücke zu unterlassen.
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Der nächste Redner ist der Kollege Mario Mieruch.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Auch wir begrüßen die Einsetzung der Enquete-Kommission, möchten aber auf ein paar Punkte hinweisen, die man aus unserer Sicht speziell in den Fokus nehmen sollte.
Fünf Jahre liegt nunmehr das Ende der Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ zurück. Die damals beteiligten Experten bemängeln noch heute, dass nahezu nichts von den Vorschlägen am Ende konkret zu politischen Entscheidungen führte oder umgesetzt wurde. Im Gegenteil: Wir führen heute noch immer unzählige Diskussionen über die Herausforderungen der Digitalisierung; und im Bundestag erhalten wir jetzt endlich WLAN.
Fußball ist heute schon als Beispiel angeführt worden. Ich fand das klasse und greife es auch auf. Da waren wir einmal richtig gut – in einzelnen Disziplinen sind wir das immer noch –, doch für das praktische Umsetzen und Gewinnen sind an vielen Stellen mittlerweile andere zuständig. Wir knipsen das Ding nämlich nicht mehr kaltschnäuzig rein, weil sich keiner mehr den Abschluss zutraut.
Wenn wir uns den Titel der Kommission anschauen, dann müssen wir aufpassen, dass wir nicht zu sehr verkopfen und im Mittelfeld 50-mal hin- und herpassen und am Ende alles gendergerechte Sternchen hat. Wir müssen Ergebnisse erarbeiten.
Schauen wir uns – bleiben wir beim Fußball – den Transfermarkt an. Er funktioniert ganz einfach nach drei Prinzipien: „The winner takes it all“, „Der aktuelle Trend ist schon wieder alt“ und „Wo kann ich mich wie entfalten?“. Als Spieler ist für mich Letzteres besonders wichtig.
Wenn wir unser Bildungssystem nicht im Eiltempo auf die Digitalisierung einstellen, dann bleibt uns am Ende nur noch eine Frage: „Alexa, was haben die anderen eigentlich besser gemacht?“
Danke.
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Der nächste Redner ist der Kollege René Röspel für die SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Kollege Uli Kelber hat mich gebeten, darauf hinzuweisen, dass die Roboter der Universität Bonn bei einem Fußballturnier für Roboter über 1,30 Meter Weltmeister geworden sind und wir deshalb Doppelweltmeister sind.
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Das sage ich deshalb, weil ich betonen will, dass künstliche Intelligenz nichts Neues ist. Das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Kaiserslautern ist vor rund 30 Jahren gegründet worden.
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Neu ist aber die Rasanz der Dynamik. Wir müssen vorbereitet sein auf das, was noch kommen kann. Deswegen ist es richtig, dass wir uns mit diesem Thema befassen.
Wenn Marc Zuckerberg euphemistisch sagt, dass diejenigen, die gegen künstliche Intelligenz seien, sich dafür verantworten müssten, in Zukunft Krankheitsbekämpfung verhindert zu haben, so bin ich längst nicht bei ihm. Es macht mich nachdenklich, wenn Stephen Hawking als grandioser Physiker befürchtete, dass künstliche Intelligenz möglicherweise das Schlimmste sei, was der Menschheit passieren könnte. Vor dem Hintergrund dieser sehr unterschiedlichen Einschätzungen von künstlicher Intelligenz wäre es doch geradezu pflichtverletzend, wenn wir uns als Parlament mit dieser zukünftig stärker in die Gesellschaft eintretenden Technologie nicht befassen würden.
Deswegen ist es richtig, dass wir die Enquete-Kommission einsetzen, die sich mit rechtlichen, ethischen und gesellschaftlichen Fragen zum Thema „Künstliche Intelligenz“ auseinandersetzen muss; denn anders als vor 20 oder auch 10 Jahren können wir heute Maschinen tatsächlich in die Lage versetzen, so intelligent zu entscheiden, wie das früher nur Menschen konnten. Das ist nicht ganz richtig; denn nicht wir können Maschinen dazu in die Lage versetzen, sondern einige können das. Auch das ist ein Punkt, über den wir diskutieren müssen: Wer eigentlich bringt den Maschinen bei, wie sie Probleme zu lösen haben? Es ist zumindest erforderlich, dass wir diese Entscheidungswege offen und transparent machen. Vielleicht müssen wir sogar Regulationen vorsehen, damit Manipulationen über automatisierte Verfahren nicht Tür und Tor geöffnet wird.
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Intelligenz ist immer gut – das ist gar keine Frage –; aber für eine funktionierende Gesellschaft braucht es sicherlich mehr als Intelligenz. Dafür braucht es nämlich Vernunft, Gefühl und Mitgefühl.
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– „Anstand“, ein bayerischer Zwischenruf. – Menschenähnlich werden Maschinen und Algorithmen tatsächlich erst dann, wenn sie auch diese Eigenschaften programmiert bekommen. Das kann ein Segen für Menschen sein, wenn sie sich zum Beispiel von einer Maschine menschlich gepflegt fühlen und in ihr einen echten Kontaktpartner sehen. Das kann aber auch zum Fluch werden. Deswegen ist es, wie ich finde, unsere Aufgabe, bei dieser Frage genau hinzuschauen und sicherzustellen, dass am Ende tatsächlich die Gesellschaft die Entscheidungen darüber trifft, welche Algorithmen über unsere Zukunft und über gesellschaftliche Verfahrensweisen entscheiden. Wir sollten das weiterhin in der Hand behalten.
Ein wesentliches Thema, das die Enquete-Kommission wahrscheinlich gar nicht bearbeiten kann, weil zwei Jahre sehr kurz sind und das Thema sehr umfassend ist, ist die Frage, welchen Stellenwert diese Gesellschaft dem Menschen gegenüber der künstlichen Intelligenz geben wird. Wenn die Entwicklung dazu führt, was absehbar ist, dass eine Reihe von Arbeitsplätzen verloren geht, zum Beispiel durch autonomes Fahren, dann wird es eine Reihe von Verlierern geben. Optimistisch betrachtet muss man richtigerweise sagen, dass es auch eine Reihe von Gewinnern geben wird, die von der künstlichen Intelligenz profitieren werden. Es ist unsere Aufgabe als Politik und Gesellschaft, sicherzustellen, dass der Nutzen in der Gesellschaft einigermaßen gleichmäßig verteilt wird. Ich finde nicht, dass wir das einfach auf uns zukommen lassen dürfen. Wir dürfen nicht einfach sagen: Künstliche Intelligenz wird kommen, und wir nehmen hin, was auch immer passiert.
Es ist unsere Aufgabe, darüber zu diskutieren, ob wir angesichts der Bedingungen, die Google, Apple und Amazon schon jetzt bieten, irgendwann auch eine gesellschaftliche Debatte darüber führen müssen, ob wir eine gerechte Verteilung des Nutzens von künstlicher Intelligenz in der Gesellschaft überhaupt im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft hinbekommen oder andere Modelle im Sinne eines gemeinwohlorientierten Gesellschaftsvertrages in Betracht gezogen werden müssen. Das ist eine große Diskussion, der sich die Gesellschaft insgesamt stellen muss. Wenn wir als Enquete-Kommission unsere Arbeit gut machen, können wir vielleicht den einen oder anderen Hinweis geben.
Jedenfalls wird das eine spannende Diskussion. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit und auf gute Ergebnisse.
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Nächster Redner: der Kollege Hansjörg Durz, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Immer mehr Maschinen und Systeme werden durch Informatik intelligent und lernfähig gemacht. Künstliche Intelligenz findet immer mehr Anwendung.
In der Debatte ist schon mehrfach angeklungen, dass die Grundlagen dafür bereits in den 40er- und 50er-Jahren gelegt wurden. In jüngerer Zeit wurde das maschinelle Lernen, ein Verfahren, bei dem Computeralgorithmen aus Daten selbst lernen, also ein Werkzeug, um künstliche Intelligenz zu realisieren, stetig weiterentwickelt. Dazu kam die enorme Steigerung der verfügbaren Rechenleistung sowie Big Data, also die massenhafte Erhebung von Daten. All das führt dazu, dass künstliche Intelligenz mehr und mehr unseren Alltag erobert, auch wenn uns das oft nicht bewusst ist.
Viele Beispiele sind schon angeklungen. Ich möchte noch einmal Spamfilter, Sprachassistenten, Suchmaschinen und Übersetzungsprogramme nennen. Überall steckt künstliche Intelligenz drinnen, die über Mustererkennung Zusammenhänge zwischen einer großen Menge an Daten herstellt und so Informationen gewinnt. Der Google-Translator etwa übersetzt täglich maschinell circa 100 Milliarden Wörter und wird dadurch stetig trainiert und optimiert. Gerade im Gesundheitssektor, zum Beispiel bei der Tumorerkennung, bietet sich ein enorm großes Anwendungsfeld mit viel Entwicklungspotenzial. Der Gewinn für die Gesellschaft liegt auf der Hand, und die Anwendung wird auch auf Akzeptanz treffen.
Wenn KI immer tiefer in unseren Alltag eindringt und immer mehr Entscheidungen auf Basis künstlicher Intelligenz getroffen werden, stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage dies ethisch passiert. Vielfach zitiert werden hier Entscheidungen im Bereich des autonomen Fahrens oder – sie sind schon angeklungen – computergestützte Prognosen über die Resozialisierungsfähigkeit verurteilter Straftäter, wie sie in den USA bereits zu Rate gezogen werden.
Worüber dürfen Maschinen und Programme selbstständig entscheiden? Anhand welcher Wertmaßstäbe sollen diese Entscheidungen getroffen werden? Wie verändert maschinelles Lernen die Beziehung zwischen Mensch und Maschine? Es liegt in der Verantwortung der Menschen – es liegt also in unserer Verantwortung –, ethische Grenzen zu setzen und das maschinelle Lernen so zu programmieren, dass die Technologie dem Menschen dient.
Deutschland hat gute Voraussetzungen, die großen Potenziale der künstlichen Intelligenz zu realisieren. Im Bereich der Forschung sind wir sehr gut aufgestellt; die Kollegen haben schon darauf hingewiesen. Der Aufbau eines nationalen Forschungskonsortiums für künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen sowie die Einrichtung des deutsch-französischen KI-Zentrums sind weitere wichtige Schritte. Diese werden durch einen Masterplan konkretisiert und in eine nationale Gesamtstrategie eingebettet werden. Dabei wird die enge Kooperation innerhalb der EU von überragender Bedeutung sein, gerade vor dem Hintergrund, dass China und die USA dieses Thema massiv vorantreiben und enorme Summen investieren.
Die weltweit hohen Investitionen in Forschung und Entwicklung im Bereich künstlicher Intelligenz verdeutlichen das Rennen um neue Marktchancen. Die Fähigkeit, künstliche Intelligenz einzusetzen, wird in Zukunft über den Erfolg ganzer Volkswirtschaften maßgeblich mitentscheiden. Auch deswegen müssen wir über dieses Thema mit Hochdruck, aber innovationsoffen und chancenbasiert diskutieren und es vorantreiben. In gleichem Maße müssen wir aber auch die Verantwortung für die Gesellschaft, für die Menschen in den Blick nehmen: Welche Auswirkungen hat KI auf die Arbeitswelt? Was bedeutet das für den Sozialstaat? Stellen sich neue Verteilungsfragen?
Herr Kollege, der ganze Satz von Stephen Hawking lautet:
Die künstliche Intelligenz könnte das Beste oder das Schlechteste sein, was der Menschheit je zugestoßen ist.
Er zeigt also eine gewisse Ambivalenz.
Fest steht: Künstliche Intelligenz hat eine Welle der Erwartungen ausgelöst, die viel Hoffnung, aber auch tiefe Befürchtungen weckt: einerseits die Hoffnung, dass bereits in naher Zukunft Lösungen für große Probleme der Menschheit gefunden werden könnten, andererseits Ängste, von denen ein möglicher Verlust des Arbeitsplatzes viele Menschen besonders umtreibt. Es ist eine richtige und gute Entscheidung, dass wir als Deutscher Bundestag uns die Zeit und die Kapazitäten nehmen, um uns gemeinsam mit Experten angemessen mit den Chancen und Herausforderungen der künstlichen Intelligenz auseinanderzusetzen. Ich freue mich sehr auf die gemeinsame Arbeit mit Ihnen.
Vielen Dank.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Andreas Steier von der CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Zuschauerrängen! Als letzter Redner will ich von meiner beruflichen Erfahrung berichten und so zur Diskussion über dieses Thema beitragen. Ich habe 20 Jahre in Luxemburg gearbeitet; das Thema „Künstliche Intelligenz“ ist ja kein neues Thema. Wir haben bei der Entwicklung von Fahrassistenzsystemen schon vielfach künstliche Intelligenz verwendet. Die wissenschaftliche Expertise bei der Entwicklung vor Ort stammt vom DFKI in Saarbrücken, von der Universität in Trier und von der Universität in Luxemburg. Der Transfer in die Wirtschaft findet vor Ort statt. Das heißt, eine europäische Zusammenarbeit ist in diesem konkreten Fall keine Zukunftsvision, sondern sie findet vor Ort schon statt.
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Die Aufgabe der Politik ist es nun, einen Rahmen für diese Entwicklung zu setzen. Wir müssen dafür sorgen – das ist in der Diskussion vielfach angeklungen –, dass eine gute Datenspeicherung und ‑verarbeitung sichergestellt werden. Denn die Daten sind das Wichtigste für die Entwicklung neuer Prozesse in der künstlichen Intelligenz.
Hierzu will ich den Blick ein bisschen auf den Wettbewerb in der Welt richten. In den USA gibt es sehr viele Consumer-Daten. Die USA haben einen sehr starken Unternehmergeist, der die Entwicklung neuer Start-ups vorantreiben kann. Und in China gibt es eine Datenethik, die nicht der unseren entspricht. Hier müssen wir uns auf unsere Stärken konzentrieren und sie gezielt vorantreiben.
Ich will an dieser Stelle eine Sache erwähnen: Wir haben auf dem Weltmarkt immer mit Qualität überzeugt. Der „German Engineer“ – das weiß ich aus meiner Erfahrung – ist in der Welt auch heute noch immer sehr geschätzt. Nun gilt es, diese Qualität voranzutreiben und im Wettbewerb unter dem großen Konkurrenzdruck mit dieser Qualität zu überzeugen und zu bestehen. Wir müssen aber auch hohe Sicherheitsstandards in der Entwicklung der künstlichen Intelligenz gewährleisten. Denn mit Sicherheit können wir überzeugen, und das gilt es in der Debatte voranzutreiben.
Wir müssen zusätzlich der Bevölkerung die Ängste nehmen. Das können wir erreichen, indem wir den Leuten erklären, wofür künstliche Intelligenz steht und welche Vorteile und welchen Nutzen wir daraus ziehen können. Ich möchte dabei ganz besonders daran erinnern, dass wir gerade durch neue, schnellere Algorithmen neue Erkenntnisse gewinnen können. Als Ingenieur weiß ich, dass wir da einen großen Fortschritt erzielen können.
Aber wir müssen auch auf bewährte Systeme zurückgreifen. Mit Blick auf die ethische Diskussion möchte ich Oswald von Nell-Breuning aus Trier erwähnen, der in der katholischen Soziallehre immer den Menschen in den Mittelpunkt gestellt hat. Und aus der Eigenverantwortung und der Verantwortung für den Nächsten entwickelt sich auch das Prinzip der Subsidiarität. Dieses Prinzip, dass die künstliche Intelligenz dem Menschen dienen muss, sollten wir auch in der digitalen Diskussion voranstellen. Und wir sollten dafür sorgen, dass wir in der Debatte in der Enquete-Kommission diesen Rahmen setzen bzw. diesem Leitbild folgen: Der Mensch steht im Mittelpunkt, und die künstliche Intelligenz hat dem Menschen zu dienen.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Die Linke auf Drucksache 19/2978 zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz – Gesellschaftliche Verantwortung und wirtschaftliche, soziale und ökologische Potenziale“.
Hierzu gibt es einen Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, den Sie auf Drucksache 19/3016 finden und über den wir zuerst abstimmen. Wer ist für diesen Änderungsantrag? – Das sind die Fraktion Die Linke, die Grünen und die AfD.
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– Und einer von der FDP. – Wer stimmt gegen den Änderungsantrag? – Enthaltungen? – Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt.
Wer stimmt für den Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission? – Das sind alle Fraktionen. Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Antrag angenommen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren Zuschauerinnen und Zuschauer! Wir wollen Sanktionen nicht grundsätzlich abschaffen; aber wir wollen auch nicht, dass es so bleibt, wie es ist, und ich denke, genau das war auch das Ergebnis der Anhörung.
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Wir wollen keine Sanktionen bei den Kosten der Unterkunft; denn sie können zu Obdachlosigkeit führen. Wir wollen keine Ungleichbehandlung von Arbeitslosen über 25 und unter 25, sondern gerade in junge Menschen wollen wir positive Energie stecken. Wir wollen, dass man nach Verhaltensänderungen die Sanktionen auch zurücknehmen kann; denn wir wollen die Arbeitslosen nicht bestrafen, sondern wir wollen, dass sie mitwirken.
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Unser politisches Ziel ist aber ein ganz anderes: Wir wollen, dass es am Ende keine Arbeitslosen und schon gar keine Langzeitarbeitslosen mehr gibt. Wir wollen unseren Sozialstaat so umbauen, dass er sich nicht an denen orientiert, die ihn vielleicht missbrauchen könnten, sondern an denen, die ihn brauchen.
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Das beginnt mit Chancengleichheit in der Schule, mit einer guten Berufsorientierung an den Schulen und mit einem guten Übergang von der Schule in den Beruf. Da haben wir schon vieles erreicht, anderes auf den Weg gebracht und viel investiert.
Unter anderem werden wir die assistierte Ausbildung weiterentwickeln. Das hilft gerade denen, die es nicht so leicht haben, den Weg in die Arbeit zu finden. Wir wollen Langzeitarbeitslosigkeit grundsätzlich verhindern, und deswegen investieren wir in bessere Reha und einen besseren Gesundheitsschutz.
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Deswegen investieren wir auch in die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Deswegen schaffen wir unter anderem das Recht auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule.
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Weil wir Langzeitarbeitslosigkeit grundsätzlich verhindern wollen, arbeiten wir an einer nationalen Weiterbildungsstrategie. Wir werden in dieser Legislatur das Recht auf Weiterbildungsberatung verankern.
Aber das reicht uns noch nicht. Wir wollen die Bundesagentur für Arbeit zu einer Agentur für Arbeit und Qualifizierung machen.
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Wir wollen, dass unser Sozialstaat nicht erst dann aktiv wird, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Wir wollen Weiterbildung und Qualifizierung während des Berufslebens ermöglichen, erleichtern und verschiedene Lebensphasen flexibel gestalten.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht um nicht mehr und nicht weniger als um einen Paradigmenwechsel im Hinblick darauf, wie der Sozialstaat den Menschen begegnet. Wir wollen einen transparenten Sozialstaat, in dem man weiß, welche Rechte und welche Pflichten man hat, mit einfacher und klarer Sprache, in dem man einfach zu seinen Rechten kommt – ohne Anwalt, tausend Beratungsstellen und Sozialgerichten –, einen Sozialstaat, der das Leben leichter macht, gerade dann, wenn man es selber schwer hat, einen Sozialstaat, der sich auf die individuellen Bedürfnisse und Möglichkeiten einstellt. Für arbeitslose Menschen heißt das: Die Maßnahmen müssen den Menschen angepasst werden und nicht die Menschen den Maßnahmen.
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Hilfe und Angebote müssen nachhaltig sein und Perspektive haben. Dafür müssen wir den Betreuungsschlüssel verbessern, eine Qualitätsoffensive in den Jobcentern starten und die richtigen Instrumente zur Verfügung stellen. Eines dieser richtigen Instrumente ist unser sozialer Arbeitsmarkt, den wir noch dieses Jahr beschließen wollen.
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Wir wollen die Eingliederungsvereinbarung zu einem echten Vertrag auf Augenhöhe ertüchtigen. Aktuell sind Eingliederungsvereinbarungen oftmals etwas für das juristische Seminar. Sie sollten aber eine verständliche Vereinbarung darüber sein, wie der gemeinsame Weg in Arbeit, manchmal aber auch erst einmal der Weg in gesellschaftliche Teilhabe überhaupt aussehen kann – mit einer Orientierung an dem, was sich die arbeitslose Person wünscht, und an dem, was realistisch in verschiedenen Schritten zu leisten und zu erreichen ist; denn ein selbstgesetztes Ziel zu verfolgen, ist allemal erfolgversprechender, als gezwungenermaßen Maßnahmen durchzuführen, an die man nicht glaubt.
Das alles kostet viel Einsatz und viel Geld: Einsatz der Menschen, die in unseren Jobcentern und Arbeitsagenturen arbeiten, Einsatz von gut ausgebildeten Coaches, die Menschen begleiten, und Geld für eine gute Ausstattung von Trägern und Bildungsinstitutionen, die mit den Menschen arbeiten. Uns ist es das wert; denn wir wollen keinen alimentierenden Sozialstaat nach dem Motto „Pay and forget“, sondern einen Sozialstaat, der sich kümmert und hilft, wenn man ihn braucht. Wenn aber viel Einsatz erfolgt und viel Geld in die Hand genommen wird, dann kann ich auch erwarten, dass sich an gemeinsam getroffene Verabredungen gehalten wird, dass mitgewirkt wird und dass sich angestrengt wird, dass der Grundsatz gilt, dass alle etwas zu unserem Gemeinwesen beitragen können, aber eben auch sollen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Johann Heinrich Pestalozzi hat gesagt:
Die Welt ist voll brauchbarer Menschen, aber leer an Leuten, die den brauchbaren Mann anstellen.
Das wollen wir ändern. Arbeit gibt es genug.
Glück auf!
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Für die AfD-Fraktion spricht als Nächster der Kollege Jörg Schneider.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! In vielen Gesprächen in Jobcentern in meiner Wahlkreisregion im Ruhrgebiet habe ich festgestellt: Dort wird mit dem Thema Sanktionen sehr verantwortungsvoll umgegangen. Das hat einen einfachen Grund: Sanktionen machen auch in den Jobcentern viel Arbeit. Da müssen Einsprüche bearbeitet werden. Unter Umständen geht es sogar darum, Prozesse vor Sozialgerichten zu führen. Die Sanktionen, die in Jobcentern verhängt werden, sind dort wirklich das letzte Mittel. Damit wird sehr verantwortungsvoll umgegangen.
Wenn ich die Anträge der Linken und der Grünen lese, dann habe ich den Eindruck, dass da unterschwellig unterstellt wird, dass Sanktionen leichtfertig verhängt werden. Ich glaube, Sie zeigen damit einmal mehr, welche Distanz Sie zur Realität in unserem Land bislang schon aufgebaut haben.
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Der größte Teil der Sanktionen beruht auf Meldeversäumnissen. Da wird also ein Arbeitsloser ins Jobcenter eingeladen. Er kommt einfach nicht, und er meldet sich auch nicht ab. Dann wird das sanktioniert.
Wissen Sie, von Arbeitnehmern in diesem Land verlangen wir, dass sie Urlaubsanträge stellen, dass sie sich krankmelden. Und von Arbeitslosen? Was für ein merkwürdiges Menschenbild haben Sie? Wir von der AfD sehen auch in einem Arbeitslosen einen mündigen Bürger, einen Menschen, der Anspruch auf wertschätzende Behandlung hat. Zur wertschätzenden Behandlung gehört eben auch, dass ich erfüllbare Forderungen stelle.
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Weswegen wird sanktioniert? Wird sanktioniert, weil ein Jobangebot abgelehnt wird? Die Bearbeiter in den Jobcentern wissen doch ganz genau: Wenn sie den Arbeitgebern mit unmotivierten, nichtgeeigneten Kandidaten die Zeit stehlen, dann werden diese zukünftig keine freien Jobs mehr an die Jobcenter melden. Dann wird es schwierig, die Quoten zu erfüllen.
Es gibt vielleicht einen Bereich, in dem in den Jobcentern tatsächlich von der Möglichkeit der Sanktionen Gebrauch gemacht wird, nämlich dann, wenn der Verdacht der Schwarzarbeit besteht. Die Bearbeiter in den Jobcentern haben, glaube ich, recht feine Antennen, das festzustellen – wenn sich beispielsweise ein sehr vitaler Arbeitsloser ständig krankmeldet oder wenn er vielleicht einfach sagt, wie die Situation in Wahrheit aussieht.
Eine vierköpfige Familie, Mutter, Vater, zwei Kinder, erhält im Arbeitslosengeld‑II-Bezug – das hängt ein bisschen von der Mietpreissituation in der Gemeinde ab – monatlich ungefähr 2 100 Euro. Die gleiche Familie hat bei einem sozialversicherungspflichtigen Bruttoeinkommen von 3 000 Euro am Monatsende 2 600 Euro in der Haushaltskasse. Wenn davon noch ein paar arbeitsbedingte Kosten wie Fahrtkosten abgezogen werden, dann bedeutet das pro Person und pro Monat 100 Euro. Dafür müssen, wenn sie im Mindestlohnbereich beschäftigt sind, Mutter und Vater Vollzeit arbeiten. Sie stellen fest: Das lohnt sich schlichtweg nicht.
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Dass man sich dann natürlich im Hartz‑IV-System einrichtet – vielleicht noch mit einem Nebenjob; dann gibt es Terminkollisionen, man hat ein Meldeversäumnis, wird sanktioniert –, liegt nahe.
Ich möchte es ganz klar sagen: Ich verurteile diese Menschen nicht. Sie haben sich in einem System eingerichtet, das schlichtweg absurd ist.
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Ich verurteile aber Sie, weil Sie die Absurdität des Systems kennen und nichts dagegen unternehmen.
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Wenn ich dann höre, wie man sich für die Wohltaten, die jetzt die Große Koalition den Familien versprochen hat, selber auf die Schulter klopft, kann ich nur sagen: Ich habe das einmal durchgerechnet. Für meine Musterfamilie bedeutet das 10 Euro pro Person und pro Monat.
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Wenn Sie, gerade von der SPD, von einer „maßgeblichen Entlastung“ sprechen, dann habe ich doch den Eindruck, Sie wollen auch noch die letzten Ihnen verbliebenen Wähler vergraulen.
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Wir haben in den Anhörungen viele Ideen bekommen, wie man tatsächlich Sanktionen vermeiden kann. Mit im Mittelpunkt standen dabei bessere Beratung, mehr Beratung und mehr Betreuung. In vielen Jobcentern funktioniert das auch schon ganz gut. Da werden Arbeitslose zu Bewerbungsgesprächen begleitet. Dort werden Menschen, die einen Job gefunden haben, auch noch in den ersten Wochen ihrer Berufstätigkeit weiter betreut, trotz dünner Personaldecke.
Und jetzt kommen Sie mit Ihrem sozialen Arbeitsmarkt. Das Ding wird krachend scheitern. Sie müssen nur nach Österreich gucken; da hat man nämlich genau das Gleiche probiert. Das hieß dort Aktion 20 000. Man wollte 20 000 ältere Langzeitarbeitslose vor allen Dingen in sozialen Berufen unterbringen. Nach einem halben Jahr waren es gerade mal 1 300, die man mit viel Aufwand vermittelt hat. Das Projekt wurde eingestampft. Da passte es ganz gut, dass es einen Regierungswechsel gab, und die neue Regierung tat sich vielleicht ein bisschen leichter damit, so einen alten Zopf abzuschneiden.
Natürlich haben wir noch eine gewisse Hoffnung, dass es auch hier vielleicht eine neue Regierung gibt. Aber diese Regierung wird mit Sicherheit nicht den Mumm haben, nach einem halben Jahr das gescheiterte Projekt sozialer Arbeitsmarkt einzustampfen.
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Es wird vielmehr Folgendes passieren: Sie werden in den Jobcentern Vermittlungskapazitäten in den Bereich sozialer Arbeitsmarkt hineinverlagern. Das wird dazu führen, dass Menschen nicht mehr beraten werden können, die vielleicht wirklich eine Chance haben, am regulären Arbeitsmarkt unterzukommen. Die Vermittlungsquoten werden runtergehen. Der Frust wird bei allen Beteiligten steigen. Arbeitslose werden eine Einladung zum Gespräch bekommen und sagen: Da gehe ich nicht hin. Die können mir eh nicht helfen. – Der frustrierte Vermittler im Jobcenter wird mit einer Sanktion reagieren.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das wird das Ergebnis Ihres sozialen Arbeitsmarktes sein:
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eine schlechtere Beratungsleistung in den Jobcentern, Frust bei allen Beteiligten und noch mehr Sanktionen.
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– Ich sage Ihnen jetzt sehr gerne, was ich will: Ich möchte, dass Sie aufhören, sich hier irgendwelche Denkmäler zu bauen mit einem sozialen Arbeitsmarkt.
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Statten Sie gefälligst die Jobcenter personell vernünftig aus! Sorgen Sie dafür, dass dort auch weiterhin eine gute und vielleicht zukünftig noch bessere Arbeit gemacht werden kann! Dazu gehören im Übrigen auch Sanktionen.
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Deswegen werden wir Ihre Anträge auf Abschaffung der Sanktionen ablehnen.
Und in Richtung der Großen Koalition die Aufforderung: Sorgen Sie dafür, dass sich für einen Menschen, der von Hartz IV lebt, auch der Wechsel in einen niedrig bezahlten Job im legalen Arbeitsmarkt tatsächlich lohnt!
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Wenn Sie das hinkriegen, wenn Sie tatsächlich dort die Möglichkeit schaffen, dass Menschen auch Jobangebote der Jobcenter annehmen können,
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dann werden wir mittelfristig, denke ich, auf Sanktionen verzichten können, und ich denke, da wollen wir alle hin.
Ich danke Ihnen.
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Der nächste Redner ist der Kollege Kai Whittaker, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Es ist ja nicht das erste Mal, dass wir in diesem Plenum über die Frage debattieren, ob wir die Sanktionen in Hartz IV abschaffen sollen. Die Linke begründet das in ihrem Antrag mit verschiedenen Aspekten, wenn ich das richtig gesehen habe.
Unter anderem sagen Sie, dass Hartz IV dazu führt, dass atypische Beschäftigung in Deutschland befeuert wird. Wenn man sich das einmal genauer anschaut, sieht man: Atypische Beschäftigung heißt kurzfristige Beschäftigung, ausschließlich geringfügige Beschäftigung und geringfügige Beschäftigung neben einem Hauptjob.
Schauen wir uns einmal die Zahlen an: Bei der kurzfristigen Beschäftigung haben wir 200 000 bis 300 000 Menschen in Deutschland, die kurzfristig, also wenige Wochen, beschäftigt sind. Diese Zahl ist stabil seit 2004, also vor Einführung von Hartz IV.
Auch im Bereich derjenigen, die ausschließlich geringfügig beschäftigt sind, also 450-Euro-Jobs haben, haben wir seit 2004 – also auch vor Hartz IV – stabil 5 Millionen Arbeitsplätze.
Der Aufwuchs bei der atypischen Beschäftigung, den Sie immer kritisieren, kommt daher, dass Menschen, die einen sozialversicherungspflichtigen Hauptjob haben, nebenher noch einen Nebenjob machen. Das hat vielleicht weniger etwas damit zu tun, dass die Menschen schlecht verdienen; es hat vielmehr etwas damit zu tun, dass sie sich noch was hinzuverdienen wollen,
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um sich etwas extra zu leisten und weil es steuerlich gefördert wird. Das ist, glaube ich, die eigentliche Wahrheit, die dahintersteht, und das hat nichts mit Hartz IV zu tun.
Sie bemängeln auch, Hartz IV würde die Löhne drücken. Auch da bitte ich Sie, einfach die Zahlen zur Kenntnis zu nehmen. Wenn man sich die ärmsten 30 Prozent der Beschäftigten anschaut, dann stellt man fest, dass diese in den Jahren 2000 bis 2005 real 6 bis 7 Prozent Lohn verloren haben. Seitdem haben sie aber reale Lohnsteigerungen zu verzeichnen. Seit der Einführung von Hartz IV sind die Löhne in diesen Kategorien um 4 bis 5 Prozent bis 2010 gestiegen. Seit 2009 sind sie noch einmal um 3 bis 6 Prozent real gestiegen. Sie können sich nicht ernsthaft hierhinstellen und sagen, Hartz IV drücke die Löhne. Das ist schlicht und ergreifend falsch.
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Dann kritisieren Sie, Hartz IV würde die Befristungen in Deutschland befördern. Auch das sind Fake News. Von 1999 bis heute haben wir einen stabilen Anteil an befristeten Beschäftigungsverhältnissen von 8 Prozent. Anders gesagt: Knapp jeder zehnte Beschäftigte ist befristet angestellt. Dieser Anteil ist stabil und hat nichts mit Hartz IV zu tun. Dann bemängeln Sie auch noch, dass es einen strukturellen Mangel an Arbeitsangeboten in Deutschland gibt. Auch darüber haben wir uns im Ausschuss schon ausgetauscht. 2005, als wir 5 Millionen Arbeitslose hatten, haben sich 190 Arbeitslose um zehn Arbeitsplätze bemüht. 190 Arbeitslose zu zehn freien Arbeitsplätzen! Heute sind es nur noch 40. Wenn ich mir die Zahl der Langzeitarbeitslosen anschaue, dann stelle ich fest, dass auf zehn freie Arbeitsplätze zwölf Langzeitarbeitslose kommen. Also fast jedem können wir in der Theorie einen Job anbieten. Das zeigt, dass es eben nichts mit einem Mangel an Arbeitsplätzen zu tun hat, sondern mit der Befähigung, die wir den Menschen geben müssen.
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Dass die soziale Verelendung in diesem Land eine Mär ist, hat man heute schön in der „FAZ“ nachlesen können. Kollegin Zimmermann hat nachgefragt, wie sich denn die Einkommen aus Vermögen im Verhältnis zu den Einkommen aus Sozialleistungen und Renten entwickelt haben. Da ist Interessantes zu lesen. Die Rente hat sich in den letzten 20 Jahren um 50 Prozent real erhöht, die Einkommen aus Vermögen nur um 36 Prozent. Auch die Hartz-IV-Bezieher haben deutlich höhere Abschlüsse von 20 bis 25 Prozent im Vergleich zu den Löhnen zu verzeichnen. Da muss man ganz klar sagen: Die Verelendung in diesem Land ist eine Mär, die Sie sich vielleicht zusammenreimen, die aber nichts mit der Realität in diesem Land zu tun hat.
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Wenn man ehrlich ist: Es geht schlicht und ergreifend um eine Debatte, bei der wir nicht zusammenkommen werden. Sie sagen: Sanktionen sind per se verfassungswidrig. – Das ist Ihr schlichtes Argument. Wir sagen: Es gibt einen Anspruch, von der Gesellschaft unterstützt zu werden; aber es gibt auch eine Verpflichtung, mitzuwirken, um diese Hilfe zu überwinden.
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Dazu gibt es keinen Kompromiss. Das ist das, worüber wir in der Debatte streiten.
Wir sollten uns aber eigentlich Gedanken über die Leute machen, für die wir konkret Hilfe anbieten. Ihre Idee der Sanktionsfreiheit betrifft in Deutschland 136 000 Menschen. So viele Arbeitslose werden tatsächlich pro Jahr sanktioniert. Aber was sagen wir bitte schön den anderen 764 000 Langzeitarbeitslosen, die sich an Recht und Gesetz halten? Was haben diese von Ihrem Antrag? Welche Hilfe können diese denn von uns hier im Plenum erwarten?
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Da muss man ganz ehrlich sagen: Dazu steht in Ihrem Antrag leider nichts.
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Ich möchte ganz klar darauf verweisen, was in der Praxis geleistet wird. Ich war in der letzten Woche bei der Firma Metis in Stuttgart. Metis ist ein schöner Name und stammt aus der griechischen Mythologie. Das war die erste Geliebte von Zeus und steht für klugen Rat, praktisches, komplexes und implizites Wissen. Man kann von einer solchen Firma durchaus lernen. Diese Firma hat 2005 schlicht und ergreifend ein Beratungs- und Trainingszentrum installiert. Sie nimmt die Langzeitarbeitslosen in Stuttgart, die am längsten arbeitslos sind, in ihre Obhut. Seit 2005 waren das 7 000 Menschen. Die Firma schaut sich diese Menschen individuell an und klärt mit ihnen innerhalb von sechs bis zwölf Monaten, wo sie Hilfe brauchen. Das Ergebnis ist, dass die Firma 40 Prozent dieser 7 000 Menschen in den ersten Arbeitsmarkt integriert hat. Das zeigt: Wenn wir uns der Menschen individuell annehmen, uns um ihre Sorgen und Nöte kümmern und ihnen im Alltag konkrete Hilfestellung geben, haben sie eine Chance, aus ihrer Hilfebedürftigkeit herauszukommen. Das ist der Ansatz, den wir als Union verfolgen wollen, auch in Zusammenarbeit mit der SPD, wenn wir den sozialen Arbeitsmarkt innerhalb dieser Legislaturperiode – in den nächsten Monaten, denke ich – auf den Weg bringen.
Dafür werbe ich, und deshalb meine herzliche Bitte an Die Linke: Seien Sie ein bisschen mehr wie die Geliebte von Zeus:
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Ein bisschen klugen Rat annehmen, und von dem Baum der Empörung runterkommen, dann können wir, glaube ich, auch zusammenkommen.
Danke schön.
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Der nächste Redner ist der Kollege Pascal Kober von der FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, in Ihren Anträgen fordern Sie, dass den Jobcentern die Möglichkeit genommen werden soll, Leistungen des Arbeitslosengeldes II zu kürzen, wenn Arbeitsuchende ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, beispielsweise Termine nicht wahrnehmen oder Maßnahmen nicht durchführen, die dazu geeignet sind, die Zeit der Arbeitslosigkeit zu verkürzen.
Im Kern bedeuten Ihre Anträge eine Infragestellung der zwei wesentlichen Grundprinzipien, der Grundpfeiler, unseres Sozialstaates.
Erstens: das Subsidiaritätsprinzip. Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass jede und jeder zunächst einmal die eigenen Kräfte und die eigenen Möglichkeiten mobilisieren muss, bevor dann die Solidargemeinschaft einspringt, wo die eigenen Kräfte nicht mehr ausreichen.
Zweitens: das Solidaritätsprinzip. Jede und jeder ist in dieser Gesellschaft zu wechselseitiger Solidarität verpflichtet. Natürlich dürfen wir das als Gesellschaft auch von allen Menschen einfordern. Natürlich darf die Nichterfüllung von solidarischen Pflichten auch zu Konsequenzen führen. Das ist ein ganz normales Grundprinzip unseres Sozialstaates. Das heißt beispielsweise, dass derjenige, der seine Sozialversicherungsbeiträge oder seine Steuern hinterzieht, zu einer Strafe verurteilt wird. Selbstverständlich darf eine Solidargemeinschaft verlangen, dass ein Arbeitsuchender nach seinen eigenen Möglichkeiten, nach seinen eigenen Kräften daran mitwirkt, wenn die Jobcenter sich bemühen, für ihn, ihn unterstützend, einen Arbeitsplatz zu finden. Eigenverantwortung und Solidarität, das sind die Grundpfeiler eines starken Sozialstaates. Das sollten wir nicht infrage stellen.
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Deshalb glauben wir, dass es gerechtfertigt ist, dass nicht nur gefördert wird, sondern dass auch vom Einzelnen etwas gefordert wird. Dabei überfordern wir aber auch niemanden. Das zeigen die Statistiken: 97 Prozent der Menschen im Leistungsbezug Arbeitslosengeld II kommen ja mit dem System der Sanktionen zurecht; sie werden nicht sanktioniert. Es sind also nur 3 Prozent, die von einer Kürzung betroffen sind, und von diesen 3 Prozent sind es wiederum 77 Prozent, die das aufgrund von sogenannten Meldeversäumnissen erfahren, nämlich weil sie einen Termin – beispielsweise unentschuldigt – nicht wahrnehmen oder etwas anderes ohne Grund versäumen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen immer im Blick haben, über welche Menschen wir reden. Wir reden von Menschen, von denen wir annehmen und für die wir hoffen, dass sie im Idealfall am nächsten Tag einen Arbeitsplatz finden und eine Arbeit aufnehmen. Jede Berufstätigkeit ist natürlich mit Pflichten verbunden. Man muss dann pünktlich zur Arbeit erscheinen, Formulare ausfüllen und einreichen, seine Arbeit gewissenhaft und pünktlich erledigen.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken und den Grünen, sagen: Das trauen wir den Menschen letztlich nicht zu. – Sie sollten sich fragen, welches Bild von diesen Menschen Sie diesen Menschen durch diese Anträge spiegeln, welches Bild Sie von diesen Menschen selber haben und welches Bild Sie von den betroffenen Menschen in der Gesellschaft verbreiten.
Wir Freien Demokraten wollen den Menschen auf Augenhöhe begegnen. Wir trauen ihnen zu, dass sie Verantwortung leben und dass sie Pflichten übernehmen. Wir lehnen Ihre Anträge ab, weil wir gerade nicht klein von diesen Menschen denken, sondern ihnen mit Respekt begegnen.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Kipping, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von Hartz‑IV-Sanktionen sind auch jene betroffen, die womöglich nicht eine Sanktion sofort bekommen, aber sich davon bedroht fühlen. Diese Sanktionen wirken nämlich wie ein Damoklesschwert über jedem, der einen Bescheid bekommt und in der Rechtsbehelfsbelehrung immer die Androhung einer Sanktion lesen muss.
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38,5 Prozent aller Klagen gegen Hartz‑IV-Sanktionen bekommen recht. Das heißt, mehr als jede dritte Klage gegen Sanktionen bekommt recht. Es gibt also hier eine enorm hohe Fehlerquote – und das selbst nach den strengen Gesetzen, die wir als Linke ja ändern wollen. Jeder dieser Fehler geht zulasten von armen Menschen. Wir reden hier schließlich von Leuten, die kein Finanzpolster haben, womit sie eine Zeit mit gekürzten oder gestrichenen Sozialleistungen einfach mal so überbrücken können. Ich sage: Angesichts dieser hohen Fehlerquote gibt es hier einen Aufklärungs- und Untersuchungsbedarf.
({1})
Die Bundesregierung kann sich jetzt nicht hinter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verstecken.
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Sie leisten unter schwierigen Bedingungen Großes. Aber ganz offensichtlich gibt es hier ein strukturelles Problem. Von oben, also von der Spitze der Bundesagentur oder vonseiten der Bundesregierung, gibt es einen enormen Einspardruck, und ganz offensichtlich ist von oben die Losung rausgegeben worden „Im Zweifelsfall gegen die Betroffenen“, und das ist weder im Sinne eines Sozialstaats noch im Sinne eines Rechtsstaats.
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Herr Heil, der es ja nicht für nötig hält, an dieser Debatte teilzunehmen, steht hier als zuständiger Minister ganz klar in der Pflicht. Er muss aufklären, wie es zu dieser hohen Fehlerquote kommt, wie es zu solchen Fehlern kommt, die Menschen unrechtmäßig in Existenznot treiben. Ganz klar seine Aufsichtspflicht! Er muss Existenznot verhindern.
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Der Antrag der Linken auf Sanktionsfreiheit ist im Ausschuss abgelehnt worden mit den Stimmen der Regierungsfraktionen, mit den Stimmen der FDP und den Stimmen der AfD. Jawohl, auch die AfD reiht sich ein in die ganz große Koalition der Befürworter von Hartz‑IV-Sanktionen – und das, obwohl Sie immer so tun, als ob Ihnen die deutschen Arbeitslosen so sehr am Herzen liegen. Nun ist es amtlich: Wer von Hartz‑IV-Sanktionen bedroht ist, hat von dieser Truppe nichts, aber auch gar nichts zu erwarten.
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Wir als Linke hingegen sagen ganz klar: Das Hartz‑IV-Sanktionssystem gehört ersetzt, und zwar durch gute Arbeit, durch aktive Arbeitsmarktpolitik, durch eine Arbeitslosenversicherung, die länger trägt, und durch eine sanktionsfreie Mindestsicherung in Höhe von 1 050 Euro.
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Frau Kollegin, würden Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion zulassen?
Na, aber immer her damit!
Frau Kollegin Kipping, wir sind ja alle hier in diesem Haus sicherlich gleichermaßen der Überzeugung, dass der überwiegende Anteil der Menschen, die Hartz‑IV-Leistungen empfangen, die gesellschaftliche Solidarität verdienen, weil sicherlich der allergrößte Anteil von ihnen ohne eigenes Verschulden in eine prekäre Situation geraten ist. Aber ist es nicht trotzdem unglaublich naiv, anzunehmen, dass es von dieser Regel keine Ausnahmen gibt? Genau für diese Ausnahmen hat immer gegolten – und aus meiner Überzeugung sollte es doch auch immer gelten – das System „Fördern und Fordern“. Oder sind Sie, verehrte Kollegin Kipping, vielleicht tatsächlich der Meinung, dass es in dieser Gesellschaft ein verbrieftes Recht auf Faulheit geben darf?
({0})
Vielen Dank für diese Frage. Sie erinnert mich an etwas. Sie selber haben sich hier die Losung „Fördern und Fordern“ zu eigen gemacht. Das war die große Überschrift, die über der Einführung von Hartz IV stand. Ich finde, diese Zwischenfrage zeigt einmal mehr: Die AfD steht hinter dem System von Hartz IV. – Das ist gut zu wissen. Vielen Dank für die Zwischenfrage. Das werden wir auf jeden Fall verbreiten. Ich selber bin sehr oft frühmorgens vor dem Jobcenter. Ich freue mich darüber, die Erwerbslosen aufklären zu dürfen.
({0})
Innerhalb weniger Wochen sofort beim Hartz-IV-Establishment gelandet. Herzlichen Glückwunsch!
Es gibt viele gute Gründe, warum wir als Linke die Sanktionen ganz generell ablehnen. Ich will nur auf einige in aller Kürze eingehen. Wir haben durch den Wissenschaftlichen Dienst die verschiedenen Studien, die es gibt, auswerten lassen, und die sagen Folgendes:
Erstens ist immer wieder zu beobachten: Es gibt einen Rückzug aus dem sozialen Leben. Menschen, die von Sanktionen betroffen sind, kommen rein in die Isolation. Das heißt, es gibt Vereinsamung.
Zweitens. Sanktionen führen auch dazu, dass sich Menschen vom Jobcenter zurückziehen. Es ist so eine Art lähmende Wirkung, ja auch eine Arbeitsdemotivation zu beobachten gewesen. Also, Sanktionen ermuntern Menschen mitnichten, sich sinnstiftend in die Gesellschaft einzubringen. Auch mit Blick auf die Arbeitsmarktpolitik wirken sie oft kontraproduktiv und gehören deswegen abgeschafft.
({1})
Drittens. Sanktionen befördern Existenznot. Ja, wenn eine Sanktion greift, kann das zu ungenügender Ernährung führen, zu Mietschulden bis hin zum drohenden Wohnungsverlust, zum Verlust des Krankenversicherungsschutzes.
Viertens. Sanktionen verschlechtern die Verhandlungssituation von Beschäftigten, Herr Whittaker. Das haben nicht wir uns ausgedacht. Es gibt eine offizielle Studie des IAB, die ganz klar gesagt hat: Wenn Menschen – sozusagen als Alternative – Hartz-IV-Sanktionen drohen, sind sie eher bereit, niedrigere Löhne zu akzeptieren.
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Frau Kollegin, lassen Sie noch eine Zwischenfrage zu?
Ich würde jetzt gern in die Schlussphase kommen.
Fünftens. Sanktionen bedeuten auch Schikane gegenüber widerständigen Menschen. Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen: Vielleicht erinnern Sie sich an Frau Sandra Schlensog. Das ist eine alleinerziehende Mutter, die eine Massenpetition gestartet hat, unter der Überschrift: Jens Spahn in Hartz IV. Das ist eine Frau, die eine Massenpetition startet, die es wagt, dem Gesundheitsminister die Stirn zu bieten, die jede Menge Interviews gibt, eine Demonstration organisiert. Und diese Frau muss jetzt in eine Coachingmaßnahme, die das Ziel haben soll, ihr Selbstbewusstsein zu erhöhen.
({0})
Ja, merkt man das noch? Da bietet eine Frau dem Minister die Stirn, und dann sagt man – übrigens unter Androhung von Sanktionen –: Sie müssen jetzt Ihr Selbstbewusstsein erhöhen und deswegen in eine Coachingmaßnahme. – Da merken Sie doch selber, dass da was nicht stimmt.
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– Ja, Herr Kauder.
Auch Kinder sind von Hartz‑IV-Sanktionen betroffen. Ich habe ja nachgefragt: 310 000 Sanktionen wurden gegenüber Familien mit Kindern verhängt. Und wenn in den Familienkassen das Geld fehlt, dann ist auch Kindeswohl gefährdet. Schon deswegen gehören Sanktionen sofort abgeschafft.
({2})
Es handelt sich bei der Sozialleistung nicht um eine Mildtätigkeit. Es geht hier um ein Grundrecht, und Grundrechte muss man sich nicht verdienen. Deswegen sagen wir ganz klar: Grundrechte kürzt man nicht.
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Aus all diesen Gründen – ich komme zum Schluss – ist es für Die Linke ein wichtiges Ziel und auch mir ganz persönlich ein Anliegen: Wir werden nicht ruhen, bis endlich die Hartz‑IV-Sanktionen fallen. Das machen wir auch, weil wir nicht nur über Hartz‑IV-Betroffene reden, sondern regelmäßig mit ihnen reden. All diese Gespräche sind für uns ein Ansporn, nicht lockerzulassen, bis sich auch hier irgendwann mal rumgesprochen hat: Hartz‑IV-Sanktionen gehören abgeschafft.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Sven Lehmann, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stimmen heute über ein Anliegen ab, das das Leben von Millionen von Menschen direkt oder indirekt betrifft. Wir haben sehr viele Theorieargumente gehört. Deswegen möchte ich mit einem sehr konkreten Beispiel aus dem Leben beginnen.
80 Prozent aller Sanktionen werden wegen Meldeversäumnissen ausgesprochen. Jetzt sagen hier einige: Was ist eigentlich so schwer daran, einen Termin einzuhalten? – In Berlin wurde erst kürzlich die Wohnung einer Frau zwangsgeräumt, und diese Frau passt so gar nicht in das Bild der faulen Arbeitslosen. Sie ist Wirtschaftswissenschaftlerin und Mutter von drei Kindern. Nach einer Trennung und Verlust ihres Jobs leidet sie unter Depressionen und versucht irgendwie, diese Trennung, den Umzug und das ganze Chaos zu bewältigen. Das Jobcenter schreibt ihr nun, sie müsse zu einem Termin vorstellig werden, aber die Frau ist krank und reicht das falsche Formular ein. Erste Sanktion: Die Gelder werden gekürzt. Sie legt Widerspruch ein, aber leider nicht korrekt.
Kurz darauf soll sie wieder ins Jobcenter kommen, aber sie kann nicht, weil eines ihrer Kinder eine Lungenentzündung hat. Zweite Sanktion: Die Gelder werden gekürzt.
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Sie hat Angst vor dem Mitarbeiter im Jobcenter, und deshalb ignoriert sie seine Vorladungen. In dieser Spirale ist es irgendwann zu spät, und die Wohnung der ganzen Familie wird zwangsgeräumt. Und das Schlimme ist, dass diese Frau nun die komplette Schuld dafür auf sich nimmt und sagt:
Weißt du, wenn man fit ist, dann schafft man das alles. Aber wenn du überfordert bist, vergisst du Sachen, liest nicht richtig, verpasst Termine, und mit jeder Niederlage wirst du schwächer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt kann man natürlich sagen: Selber schuld! – Man kann aber auch sagen, dass diese Praxis mit der Würde des Menschen und mit dem Sozialstaatsgebot unseres Grundgesetzes nicht mehr viel zu tun hat.
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In der Anhörung haben sieben von zehn Sachverständigen dafür plädiert, das harte Sanktionsregime deutlich zu entschärfen oder ganz abzuschaffen oder zumindest auszusetzen; es gab einen sehr breiten Konsens, zumindest die Kosten der Unterkunft und die Heizkosten ganz von Sanktionen auszunehmen. Nichts davon findet sich im Koalitionsvertrag von Union und SPD wieder, noch nicht einmal ein Prüfauftrag. Ich finde, ein Vertrag, der so ein zentrales Thema ausblendet, geht komplett am Leben vieler Menschen vorbei, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich möchte deshalb vier zentrale Argumente aus unserem Grünenantrag nennen.
Erstes Argument. Im SGB II heißt es: Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll ein Leben in Würde ermöglichen. – Nun sind die Regelsätze aber eh schon auf Kante genäht. Eine Kürzung führt dazu, dass Menschen in existenzielle Notlagen gedrängt werden. Im letzten Jahr hatten wir sogar 34 000 Totalsanktionen. Ein Existenzminimum – das sagt der Name bereits – ist ein Minimum, und ein Minimum sollte nicht gekürzt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Zweites Argument. Für eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt sind Kooperation und Vertrauen zwischen Arbeitsuchenden und Jobcentern zentral. Dazu gehört Augenhöhe; denn nur auf Augenhöhe können Menschen ihre Fähigkeiten und Talente einbringen. Viele Menschen gehen mit dem Wunsch einer klar definierten Weiterbildung oder sogar Umschulung in die Jobcenter und kommen mit etwas komplett anderem heraus. Das ist das Gegenteil von Augenhöhe, das ist einseitige Machtausübung, und das ist Gift für das Klima in den Jobcentern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Drittes Argument. Die Sanktionspraxis frisst Zeit und Energie auch des Personals in den Jobcentern. Die Agenturen für Arbeit sollen unterstützen und befähigen, nicht verwalten und kontrollieren. Im vergangenen Jahr wurde fast 1 Milliarde Euro, die eigentlich für die Förderung und Qualifizierung von Arbeitsuchenden vorgesehen ist, in den Verwaltungshaushalt der BA umgeschichtet. 1 Milliarde Euro, um ein System zu verwalten, das Menschen in Armut weiter ausgrenzt. Es wurde eben von Solidargemeinschaft gesprochen; ich finde, das ist für die Solidargemeinschaft genauso wie für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler nicht akzeptabel, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Viertes Argument. Solange der Vorrang der Vermittlung gilt, so lange werden Menschen immer auch in schlechte Arbeitsverhältnisse gezwungen, die prekär oder unterbezahlt sind. Wenn hier von Lohnabstandsgebot geredet wird, dann entgegne ich Ihnen: Es ist doch besser, für gute Arbeit und bessere Löhne zu sorgen, als gesetzlich Menschen in schlechte Arbeit zu zwingen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Zum Schluss mal grundsätzlich: Hartz IV ist zum Symbol für Abgehängtsein geworden; das können wir nicht länger leugnen. Hartz IV wird von vielen Menschen als Angstsystem aus genau diesen Gründen wahrgenommen. Ich finde, es kann nicht sein, dass viele Jobcenter immer mehr zu Hochsicherheitstrakten werden, weil Menschen den Staat nicht mehr als Unterstützung, sondern als Bedrohung erleben. Wie bitte schön soll da Vertrauen entstehen? Das, worum es, glaube ich, vielen in Wahrheit geht, ist – das ist auch in der Anhörung gesagt worden – Disziplinierung. Dieser Ansatz ist nicht nur gescheitert; er zeigt auch ein ganz fatales Menschenbild, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Die Leiterin des Kölner Arbeitslosenzentrums, die als Sachverständige präsent war, hat das in der Anhörung sehr treffend auf den Punkt gebracht: Menschen sind keine Postpakete. Man kann sie nicht einfach auf ein Fließband stellen, und dann kommen sie schon irgendwo richtig an. In Menschen muss man investieren und sich mit ihnen auseinandersetzen. – Genau das beantragen wir Grüne heute.
Ich bitte Sie: Schaffen Sie mit uns die Sanktionen ab! Stärken Sie die Rechte der Arbeitsuchenden! Verbessern Sie die Arbeit der Jobcenter! Schaffen Sie Anreize statt Bestrafung! Und ich prophezeie Ihnen: Sie werden sehen, wie viel Potenzial in Menschen steckt, das heute völlig brachliegt. Deswegen bitte ich Sie, dem Antrag zuzustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Matthias Bartke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, zum wievielten Mal wir hier über dieses Thema sprechen.
({0})
Jedes Mal ist es so, dass Sie ein völliges Zerrbild von dieser Gesellschaft zeichnen. Herr Lehmann, Sie haben eben gesagt, Jobcenter würden Menschen wie Postpakete behandeln.
({1})
Ich finde das unmöglich.
Sie erwecken mit Ihren Anträgen und den ständigen Wiederholungen den Eindruck, Sanktionen seien das zentrale Problem in der Grundsicherung. Das Schlimme ist: Sie erwecken damit auch den Eindruck, Arbeitsuchende würden am laufenden Band gegen Pflichten verstoßen und entsprechend sanktioniert werden. Ich sage Ihnen: Das ist völliger Unsinn.
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Es ist doch bekannt, dass gerade mal 3 Prozent aller Leistungsempfänger im vergangenen Jahr überhaupt sanktioniert wurden. Das Gros der Sanktionen – Herr Kober hat es erwähnt – wurde auch nur wegen Meldeversäumnissen verhängt. Lassen Sie mich in aller Deutlichkeit sagen: Die überwiegende Mehrheit der Arbeitslosen will unbedingt wieder arbeiten, und sie nehmen dafür alle Möglichkeiten in Anspruch, die sich ihnen bieten.
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Viel mehr als die Sanktionen machen mir doch diejenigen Sorgen, die arbeiten wollen, es aber trotz aller Mühen nicht wieder schaffen.
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Das sind die Menschen, bei denen Sanktionen wirklich fehl am Platz sein können, bei denen mehr Druck nicht zur Integration in den Arbeitsmarkt führt, sondern zum Kontaktabbruch zum Jobcenter. Es gibt Langzeitarbeitslose, bei denen ist das Prinzip von Fördern und Fordern in der Tat in eine Unwucht geraten.
Für mich war es daher ein ganz entscheidender Punkt, im Koalitionsvertrag festzulegen, dass wir für diese Menschen einen sozialen Arbeitsmarkt schaffen.
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Und damit warten wir auch nicht: Anfang Juni hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil die Ressortabstimmung zur Umsetzung des sozialen Arbeitsmarktes eingeleitet. Endlich schaffen wir ein Regelinstrument für eine ehrliche und langfristige Perspektive für Langzeitarbeitslose.
Herr Schneider, Sie verweisen auf Österreich – es wundert mich nicht, dass Sie auf Österreich schauen; das ist ja Ihr großes Vorbild –; ich rate Ihnen: Gucken Sie einfach mal auf Deutschland.
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Wir haben das Programm „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ entwickelt, und es war ein so großer Erfolg, dass wir es jetzt zu einem Regelinstrument machen. Also: nicht nach Österreich gucken, sondern nach Deutschland gucken. Wir machen hier eine gute Politik.
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Wer absehbar keine Chance mehr auf dem ersten Arbeitsmarkt hat, soll eine geförderte Beschäftigung erhalten – sozialversicherungspflichtig und nach Mindestlohn oder Mindesttarif bezahlt. Denn Arbeit ist mehr als nur ein Broterwerb. Arbeit schafft Teilhabe.
Vor ein paar Tagen habe ich ein interessantes Porträt über einen 50 Jahre alten Mann gelesen, der seit seiner Jugend unter Ängsten litt. Er hat trotzdem eine Ausbildung als Krankenpfleger gemacht und auch als Krankenpfleger gearbeitet und Verschiedenstes gegen seine psychischen Probleme unternommen. Am Ende hat er der Belastung doch nicht standgehalten. Es folgten Arbeitslosigkeit und verschiedene Maßnahmen. Heute engagiert er sich in einem sozialen Treffpunkt. Eine neue Beschäftigung hat er nicht gefunden.
Meine Damen und Herren, das ist für mich ein Paradebeispiel dafür, dass mehr Druck in einzelnen Situationen genau die falsche Lösung sein kann. Stattdessen wollen wir einen Paradigmenwechsel hin zu mehr individueller und passgenauer Förderung. Ein erfolgreicher Integrationsprozess braucht eine qualitativ hochwertige Beratung und eine Kooperation auf Augenhöhe – Herr Lehmann, da bin ich ganz bei Ihnen.
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In der Eingliederungsvereinbarung sollten daher nicht nur die Pflichten der Leistungsbeziehenden, sondern auch die Arbeitsschritte der betreuenden Mitarbeiter festgelegt werden.
({9})
Ein vertrauensvolles Miteinander würde Sanktionen an vielen Stellen überflüssig machen.
Meine Damen und Herren, sich allein auf die Sanktionen zu versteifen, finden wir falsch. Das heißt aber nicht, dass wir an der aktuellen Sanktionspraxis alles richtig finden. Die scharfen Sanktionen für junge Menschen unter 25 Jahren wollen wir aufheben. Die Kürzung der Kostenübernahme für Unterkunft und Heizung lehnen wir ebenso ab.
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Wo Sanktionen sinnlos ins Leere laufen und nur lähmende Überforderung und Abwehr produzieren, brauchen wir mehr Flexibilität. Sanktionen müssen im Einzelfall entschieden und auch zurückgenommen werden können.
Liebe Linke, liebe Grüne, Ihre Anträge sehen vor, dass jegliche Sanktionen abgeschafft werden. Wir halten das für den falschen Weg. Darin sind wir bei der Anhörung von den Sachverständigen auch mehrheitlich bestätigt worden.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns an den Stellschrauben drehen, die für die Betroffenen wichtig sind. Eine Komplettabschaffung der Sanktionen gehört nicht dazu.
Ich danke Ihnen.
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Nächster Redner ist der Kollege Till Mansmann, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Geschätzte Bürger auf den Tribünen! Ihre Anträge, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion und von den Grünen, aber insbesondere von der Linksfraktion, zeigen deutlich, wie schief Ihr Blick auf den deutschen Arbeitsmarkt ist. Wenn die deutschen Steuerzahler der Auffassung sind, dass jeder, der Transferleistungen bezieht, sich selbst aktiv darum kümmern muss, da wieder herauszukommen, dann nennen Sie das eine Aktivierungsideologie. Ich sage Ihnen, warum ich Ihren Blick auf den Arbeitsmarkt für perspektivisch völlig falsch halte: Sie verstehen Arbeit viel zu oft als eine Art öffentliches Gut, das der Staat zu verteilen, schlimmer noch: selbst zu erschaffen hätte.
Lieber Kollege Dr. Bartke, ich fürchte ein bisschen, dass das auch hinter Ihrem Gedanken vom sozialen Arbeitsmarkt steht. Es ist aber nicht der Staat, der Arbeit schafft. Es sind die Menschen in Deutschland mit ihren Unternehmen, Geschäften und Firmen, die den allergrößten Teil des Arbeitsmarkts erzeugen.
({0})
Auf diesem Arbeitsmarkt müssen Arbeit und Qualifikation irgendwie zueinanderpassen. Aber auch Ihr Blick auf die Menschen, die Arbeit suchen, ist verkehrt; denn Sie sprechen ihnen die Einflussnahme auf ihre Zukunft, auf ein verantwortliches Leben einfach ab. So machen Sie aus mündigen Bürgern kleine Leute.
Die meisten Sanktionen, die Sie abschaffen wollen, gehen darauf zurück, dass Leistungsempfänger einfach nicht zu Terminen erscheinen. Von den Steuerzahlern erwarten Sie aber ganz selbstverständlich, dass sie jeden Morgen pünktlich zur Arbeit kommen; denn das müssen sie tun, um das zu erwirtschaften, was Sie ohne Überprüfung, ohne Verpflichtung und, ohne mit der Wimper zu zucken, verteilen wollen.
({1})
Deshalb ist Ihr Bild von den Menschen, die das Geld erwirtschaften und damit die Sozialleistungen in Milliardenhöhe erst möglich machen, ziemlich schräg. Das, meine Damen und Herren, ist gegenüber denjenigen, die diese Leistungen brauchen, aber auch gegenüber denjenigen, die diese Leistung erbringen, unverantwortlich.
({2})
Und schließlich werden Sie auch den Menschen nicht gerecht, die jeden Tag in den Jobcentern ihre Arbeit erledigen, wie wir es ihnen aufgetragen haben. Sie entscheiden darüber, ob es sinnvoll ist, jemanden, der die Regeln verletzt, zur Ordnung zu rufen. Wir sollten als Parlament doch das grundsätzliche Vertrauen in all die Leute haben, die wir von Staats wegen mit Aufgaben betrauen. Und, liebe Grüne, wenn wirklich einmal der begründete Verdacht besteht, dass jemand seine Arbeit an einer wichtigen Stelle nicht ordentlich macht, dann ist es tatsächlich Aufgabe des Parlaments, das zu untersuchen; aber gerade das verweigern Sie uns ja leider.
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Wenn Sie etwas tun wollen, dann überlegen Sie doch einmal, wie man den Arbeitsmarkt als Gesetzgeber so gestalten kann, dass es für Unternehmen leichter ist, neue Jobs zu schaffen, dann bekämpfen Sie die Bürokratie. Flexibilisieren Sie die Arbeitszeiten so, wie es zum 21. Jahrhundert passt! Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass sich der Wechsel von Transferleistungen zu eigenständig erwirtschaftetem Arbeitslohn für jeden Einzelnen wirklich lohnt! Lassen Sie uns deshalb an das Instrument des Lohnzuschusses noch einmal ordentlich herangehen; dann lässt sich da etwas bewegen!
Sie reden nicht über die wirklichen Probleme, die wir auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie zerreden das Ganze. Wir sind nur dann in der Lage, den Menschen im Land zu helfen, wenn wir uns an die Lösung der wirklichen Probleme machen. Wir schlagen Ihnen vor: Lassen Sie uns an die echten Probleme herangehen!
Wir verweisen Ihre Anträge an die Ausschüsse,
({4})
auch wenn wir überzeugt sind, dass es in diesem Fall nicht zu einer Diskussion führt, die wirklich für die Zukunft gestaltend wirkt; aber dafür haben Sie ja dann uns, die Fraktion der Freien Demokraten.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Matthias Zimmer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Mitgliedschaft in einer staatlich verfassten politischen Gemeinschaft begründet Rechte und Pflichten. Das ist eine ziemlich banale Aussage. Ohne Pflichten könnte eine Gemeinschaft nicht existieren. Dazu gehört die Pflicht, den Gesetzen zu folgen oder Steuern zu zahlen. In Demokratien ist dieses Grundverständnis noch zusätzlich dadurch legitimiert, dass sich der Einzelne als Mitautor des Rechtsbefehls begreifen kann, dem er unterworfen ist. Komme ich den Pflichten nicht nach, kann ich sanktioniert, kann ich bestraft werden. Ich denke, in diesem Grundverständnis sind wir uns einig. Der Kollege Kober hat ja auch entsprechend argumentiert.
Nun geht es in der Debatte über Sanktionen, die wir führen, im Kern um die Frage, ob das Prinzip der Menschenwürde die Pflichten gegenüber der Gemeinschaft außer Kraft setzt. Dazu ist systematisch zweierlei zu sagen:
Erstens. Der Schutz der Menschenwürde als Aufgabe und Verpflichtung staatlicher Gewalt setzt voraus, dass der Einzelne diese Pflicht anerkennt. Otfried Höffe hat in diesem Zusammenhang einmal von einem transzendentalen Tausch gesprochen. Ich kann Rechte nur dann geltend machen, wenn ich gleichzeitig die Notwendigkeit von Pflichten anerkenne.
Zweitens. Einige Menschen können Pflichten einhalten, andere nicht. Für die einen ist also Solidarität wechselseitig, für andere nicht. Konkret bedeutet das: Die Menschen, die Leistungen nach SGB II erhalten, sind grundsätzlich zur Wechselseitigkeit fähig. Sie brauchen Hilfe zur Selbsthilfe, und die Erwartung ist legitim, dass sie die mit der Hilfe zur Selbsthilfe einhergehenden Bedingungen erfüllen und sich bemühen, möglichst schnell wieder aus der Hilfe entlassen zu werden.
Das unterscheidet die Hilfe im Rechtsrahmen des SGB II von der Hilfe in anderen Rechtsbereichen, in denen Wechselseitigkeit, also Reziprozität, nicht gefordert oder nicht möglich ist. Diese Konditionalität ist im Übrigen auch die Voraussetzung dafür, dass solidarische Leistungen des Gemeinwesens als legitim empfunden werden. Warum sollte ein Familienvater, der mit seiner Arbeit sich und seine Familie ernährt, mit seinen Steuerzahlungen einen anderen arbeitsfähigen, aber arbeitslosen Familienvater unterstützen, wenn dieser nichts dafür tut, um seine Lage zu ändern?
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Mehr noch: Warum sollte er diese Unterstützung erbringen oder gar noch arbeiten, wenn er sieht, dass sich der gleiche Lebensstandard für sich und die Familie auch ohne Arbeit erreichen lässt? Nein, dies führt zu einer gesellschaftlichen Delegitimierung von Solidarität, und das wollen wir nicht.
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Meine Damen und Herren, das ist der tiefere Grund, warum wir davon überzeugt sind: Sanktionen sind nicht nur richtig und notwendig, sie sind auch von zentraler Bedeutung für die Erneuerungsfähigkeit der gesellschaftlichen Ressource Solidarität. Sie sind kein Eingriff in die Menschenwürde, sondern eine Vorbedingung für die Akzeptanz gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die Menschenwürde ist der Geltungsgrund der Menschenrechte, und diese Grundrechte stehen nicht nur in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander, sondern sind ohne die damit einhergehenden Pflichten weder zu verstehen noch zu begründen.
Es ist schade, dass Die Linke, die sich einmal dem Leitbild des arbeitenden Menschen verschrieben hatte, nun zumindest in Teilen, Frau Kipping, die anstrengungslose Subventionierung des Lebens durch den Staat bevorzugt. Karl Marx wäre wenig erfreut gewesen.
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Ich darf daran erinnern, dass es eine der noblen Visionen des Trierer Bürgersohns war, dass die Menschen in der von ihm erträumten Welt heute dies, morgen jenes tun, morgens jagen, nachmittags fischen, abends Viehzucht treiben, nach dem Essen kritisieren, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu sein.
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Nein, danke. – Es ging also nicht um die Befreiung des Menschen von der Arbeit, sondern von der entfremdeten Arbeit. Ich kann mir allerdings nichts vorstellen, was stärker zu Entfremdung führt, als ohne Gegenleistung von Staatskohle zu leben.
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Es ist schade, dass die Grünen, die dem verantwortlichen Menschen zu Recht das Wort reden, die Verantwortung hier zugunsten einer gut gemeinten, aber von Eigenverantwortung entkernten Alimentierung suspendieren.
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Herr Lehmann, Ihre Rede war ein besonderes Beispiel dieser Auffassung.
Solange es aber politische Kräfte wie die Union und die Sozialdemokratie gibt, meine Damen und Herren, die den engen Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung betonen, so lange besteht noch Hoffnung für die Zukunft einer normativ gehaltvollen Solidarität in unserem Land, die das gesellschaftliche Zusammenleben fördert.
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Frauke Petry.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wieder einmal führen wir eine Scheindebatte; denn wir haben zwar massive Probleme mit Hartz IV, nicht aber mit den gar nicht so zahlreichen Sanktionen. Meine Damen und Herren von den Linken oder den Grünen, nennen Sie mir doch bitte mal eine Gesellschaft, die es geschafft hat, durch Umverteilung dauerhaft Wohlstand zu erzeugen.
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Das können Sie nicht – natürlich nicht –, weil es dieses System nicht gibt. In der Umsetzung sind solche Gesellschaften tendenziell immer totalitär, während freiheitliche Systeme dafür sorgen, dass die Zahl derer, die unter extremer Armut leiden, so gering ist wie sonst nirgendwo.
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Hören Sie bitte auf, den Bürgern zu suggerieren, dass Umverteilung eine Medizin ist.
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In hoher Dosis ist Umverteilung leider Gift und führt zu Altersarmut, stagnierender Kaufkraft und hemmungsloser Verschuldung auf Kosten zukünftiger Generationen. Es ist eigentlich ganz einfach zu verstehen – die meisten Bürger wissen es auch –: Wird der Anreiz, arbeiten zu gehen, genommen, arbeiten weniger Menschen. Wird der Anreiz vergrößert, lohnt sich Arbeit, auch Teilzeitarbeit – anders als bisher bei Hartz IV –, dann wächst die Zahl derer, die arbeiten. Wir sprechen hierbei über Lohn, Arbeitsbedingungen, Lebenshaltungskosten, Steuern, Abgaben oder eben über Umverteilung. Ebenso gestaltet es sich beim Arbeitsmarkt: Höhere Markteintrittsschranken, überbordende Regulierung, Abgaben und Steuern lassen ein sonst profitables Unternehmen rote Zahlen schreiben, die Zahl möglicher Arbeitsplätze wird verringert, wird verkleinert.
Die von Ihnen zitierte Teilhabe bedeutet eben nicht nur, dass man mitmachen darf, man muss auch mitmachen wollen und darf letztendlich nicht in Kauf nehmen, nur von den Früchten der Arbeit anderer zu leben. Dazu gehört auch, wie das bei vielen Arbeitnehmern in Deutschland der Fall ist, dass man Arbeiten verrichtet, die nicht den eigenen Wunschvorstellungen entsprechen, und dass man, wenn notwendig, auch umziehen muss. Um das zu vermeiden – denn wer verlässt schon gerne seine Heimat –, muss es durch niedrigere Steuern ermöglicht werden, Arbeitsplätze zu schaffen, und der Anreiz muss geschaffen werden, sich, statt Sozialhilfe zu beziehen, einen Job zu suchen.
Mit Vorschlägen wie die Regelsätze zu erhöhen oder Sanktionsregelungen gänzlich abzuschaffen, verfehlen Sie das Thema absolut. Das wird den Bürgern nicht helfen, sondern wird die Lage mittel- bis langfristig verschlimmern. Das Geld muss schließlich irgendwo herkommen, es muss anderen weggenommen werden. Dadurch schwindet der Anreiz, in Deutschland Leistung zu erbringen. Leistungswilligen Bürgern, die aus der Zwangsobhut des Staates entkommen wollen, wird im derzeitigen System durch die fast vollständige Anrechnung des Einkommens aus ihrer Mehrarbeit am Ende staatlicherseits suggeriert: Arbeiten lohnt sich nicht.
Wir von der Blauen Partei plädieren deshalb für eine zielorientierte Sozialpolitik, die Hilfe zur Selbsthilfe gibt.
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Diese, verbunden mit einer vernünftigen Steuerpolitik und einem Grundeinkommen in Form einer negativen Einkommensteuer, würde genau diese Anreize schaffen, Bürokratie entschlacken und Kosten reduzieren. Ja, es muss etwas getan werden, aber bitte nicht so. Der Ausschuss hat zu Recht beide Anträge abgelehnt. Jetzt müssen wir das Problem beheben, und das bitte lösungs- und nicht ideologisch orientiert.
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Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Martin Rosemann, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Dagmar Schmidt und Matthias Bartke haben schon darauf hingewiesen: Wir wollen die Sanktionsregeln ändern, vor allem an zwei Stellen:
Wir wollen das Sanktionsrecht für unter 25-Jährige an das für über 25-Jährige angleichen; denn es gibt keinen Grund dafür, Jugendliche stärker zu sanktionieren als Erwachsene. Ganz im Gegenteil, das ist sogar schädlich. Das hat auch die Anhörung gezeigt. So hat der Sachverständige Künkler vom DGB auf eine Studie des IAB verwiesen, in der festgestellt wurde, dass junge Erwachsene, die in sehr viel stärkerem Maße sanktioniert werden als Ältere, den Kontakt zum Jobcenter abbrechen, im Zweifel auf der Straße landen und dann mühsam durch Sozialarbeiter aufgesucht werden müssen. Das ist am Ende für den deutschen Staat teurer, als sich bereits früher um die jungen Leute zu kümmern und ihnen Perspektiven zu geben.
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Wir wollen nicht, dass die Sanktionen die Kosten der Unterkunft betreffen; denn wir wollen verhindern, dass Obdachlosigkeit die Folge von Sanktionierung ist. Ich bedauere, dass die beiden Redner der CDU hierzu gar nichts gesagt haben. Da waren wir in der vergangenen Wahlperiode schon etwas weiter.
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Wir sehen also Änderungsbedarf.
Natürlich, Herr Lehmann, gibt es unter den gut 3 Prozent von Sanktionen Betroffenen Fälle, die nicht in Ordnung und nicht angebracht sind. Wir meinen, es wäre schon viel geholfen, wenn wir Ombudsstellen in den Jobcentern einrichten würden, an die sich die Menschen wenden können. Dadurch könnten wir die Zahl der Prozesse und Klagen deutlich reduzieren. Entscheidend ist aber, dass wir endlich das Versprechen auf individuelle Förderung nach dem SGB II umsetzen und die Unterstützung leisten, die im Einzelfall nötig ist. Dazu gehört eben auch, dass wir den Menschen, die keine Perspektiven auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, Teilhabe durch Arbeit auf einem sozialen Arbeitsmarkt ermöglichen. Lieber Herr Mansmann, das gehört auch dazu. Das leistet die Wirtschaft nämlich nicht von alleine, da kann der Arbeitsmarkt so gut funktionieren, wie er will.
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Vor allem geht es um gute Beratung und Betreuung in den Jobcentern. Das ist der Schlüssel für einen erfolgreichen Integrationsprozess. Dafür müssen wir die Personalschlüssel verbessern und eine gute Qualität der Beratung und Betreuung sicherstellen. Es ist eine anspruchsvolle Arbeit, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern leisten, eine Dienstleistung von Menschen am Mensch. Wir müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern befähigen und unterstützen, und zwar durch eine bessere Ausstattung des Verwaltungstitels, durch eine Qualifizierungsoffensive und auch durch bessere Führung, also bessere Führungskräfte, in den Jobcentern.
Vor allem aber brauchen wir einen Kulturwandel in den Jobcentern; meine Kollegin Dagmar Schmidt hat es schon angesprochen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen das Jobcenter zum Partner der Hilfesuchenden machen, und dazu braucht es ein vertrauensvolles Miteinander und eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen den Jobcentern und denen, die auf ihre Unterstützung angewiesen sind.
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Es ist unsere feste Überzeugung, dass wir damit auch die Sanktionsproblematik entschärfen werden. Die Sachverständige Fix von der Caritas hat in der Anhörung am Montag Folgendes gesagt:
Ich glaube auch, dass sich, wenn wir zu einer anderen Beratungspraxis kämen, das Sanktionsproblem in großen Teilen auflösen würde.
Dem kann ich nur zustimmen.
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Deswegen: Es geht darum, Fördern und Unterstützen des Einzelnen und der Familie und der Bedarfsgemeinschaft in den Mittelpunkt zu stellen. Daran arbeiten wir.
Herzlichen Dank.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Peter Aumer, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren erneut über Anträge der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen über Sanktionen nach dem SGB II und Leistungseinschränkungen nach dem SGB XII. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man Ihre Anträge durchliest, dann merkt man, dass es mehr um Ideologie und Klassenkampf geht, als dass Sie das Wohl der Menschen im Auge haben. Vor allem im Antrag der Linken ist das deutlich zu erkennen. Wenn Sie vom kapitalistischen Wirtschaftssystem sprechen, wenn Sie von Aktivierungsideologie sprechen,
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und wenn Sie davon sprechen, dass wir einen Mangel an Arbeitsplätzen in unserem Land haben, was soll man dann noch sagen? Die Frage, die sich eher stellt, lautet: In welcher Welt leben Sie?
Unser Land hat die soziale Marktwirtschaft groß gemacht, deren 70. Geburtstag wir vor kurzem gefeiert haben – nicht ein kapitalistisches Wirtschaftssystem, wie Sie das darstellen.
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Bundeskanzlerin Merkel hat bei ihrer Rede – das ist der Unterschied – zum 70. Geburtstag der sozialen Marktwirtschaft zum Ausdruck gebracht, um was es auch bei diesem Thema geht: Es geht um Chancengerechtigkeit, die auf den Einzelnen abstellt und nicht auf das Kollektiv.
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Jeder soll die gleichen Möglichkeiten und Freiheiten haben, sich nach seinen Neigungen und Fähigkeiten zu entfalten – eigenverantwortlich, aber eben auch immer verantwortlich gegenüber anderen.
Diese Gedanken werden in zentralen Zielen des SGB II beispielsweise zum Ausdruck gebracht. Erstens. Jeder Mensch in unserem Land muss die Möglichkeit haben, ein Leben in Würde zu leben. Zweitens. Die Überwindung von Hilfsbedürftigkeit ist ein grundlegendes Element im SGB II; das gilt vor allem für die Eingliederung in Beschäftigung. Das allererste Ziel des Staates muss deswegen die Existenzsicherung sein. Zweites Ziel muss es sein, Arbeitsplätze zu schaffen und sicherzustellen und die Menschen mit aktivierenden Maßnahmen zu diesen Arbeitsplätzen zu führen.
Genau dazu gibt es auch Sanktionen. Wenn das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung davon spricht, dass Sanktionen durchaus mit Verhaltensänderungen und verstärkten Bemühungen der Arbeitsuchenden einhergehen, dass Arbeit aufgenommen wird, dann ist das aus meiner Sicht auch der richtige und ein wichtiger Weg. Wenn man dieses Gutachten des IAB durchliest, werden Ihre Anträge umso schwerer verständlich. Das IAB stellt also ganz klar Anreizwirkungen fest.
Ich war in den letzten Wochen bei meinen beiden Jobcentern und der Agentur für Arbeit im Wahlkreis unterwegs. Übereinstimmend haben alle die Wichtigkeit und Notwendigkeit der Sanktionen aufgezeigt.
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Die Sanktionen sind wichtig für die Aktivierung in Arbeit und sind nicht Teil einer Aktivierungsideologie, wie Sie, meine Damen und Herren der Linken, das darstellen.
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Sanktionen werden nur in schweren Fällen der Leistungsverweigerung eingesetzt.
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– Ich habe Ihnen doch gerade gesagt, dass ich vor Ort war und mich über die Arbeit informiert habe.
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Das ist Ihre Ideologie, meine Damen und Herren der Linken, unter der Sie leiden. Vielleicht sollten Sie sich die einzelnen Maßnahmen genauer anschauen.
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– Hören Sie doch bitte zu, wenn ich rede!
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Zur Praxis gehört auch, dass es die Möglichkeit gibt, dass die Sanktionen zurückgenommen werden, wenn man sich entschuldigt und einen wichtigen Grund nennen kann, warum man einen Termin versäumt hat.
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Ich möchte am Beispiel des Jobcenters der Stadt Regensburg die Zahlen aufzeigen: Bei durchschnittlich 5 400 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im Jahr 2017 gab es 996 Sanktionsmaßnahmen. Das heißt, bei nur knapp 1,5 Prozent der Leistungsempfänger werden Sanktionen überhaupt ausgesprochen. Ich glaube, das sind Zahlen, die durchaus repräsentativ für das ganze Land sind.
Wenn man sich die Entwicklung der letzten zehn Jahre ansieht, stellt man fest, dass die Zahl der Sanktionen um 50 Prozent gesunken ist; das sollte man sich vor Augen führen, wenn man einen solchen Antrag vorlegt. Und warum ist das so? Das liegt an der hochwertigen Einzelberatung der Leistungsempfänger durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern und der Bundesagentur, an der individuellen Beratung der Kunden, die jeden Tag kommen und sich beraten lassen, wie sie ihren Lebensweg meistern können.
Und lieber Herr Kollege Lehmann von den Grünen, es geht nicht darum, dass wir Macht ausüben wollen. Uns geht es vielmehr darum, dass erwerbsfähigen leistungsberechtigten Menschen eine Zukunft auf dem Arbeitsmarkt gegeben wird.
Liebe Kollegen der Linken und der Grünen, eine Zukunft auf dem Arbeitsmarkt gibt es auch deswegen, weil die Situation auf dem Arbeitsmarkt prekär ist. Es gibt einen Fachkräftemangel. Da bedarf es eines jeden, der seine Leistung mit einbringt.
Wir von CDU und CSU haben ein klares Menschenbild. Bei uns steht der Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit auf der Agenda. Ein Schwerpunkt der Union ist es, einen sozialen Arbeitsmarkt zu schaffen. Durch dieses Maßnahmenpaket soll Menschen, die langzeitarbeitslos sind, die Möglichkeit gegeben werden, auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Zukunft zu finden. Wir lehnen die Anträge ab.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Aumer.
Ich schließe die Aussprache, und wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 19/2748. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/103 mit dem Titel „Sanktionen bei Hartz IV und Leistungseinschränkungen bei der Sozialhilfe abschaffen“. Wir stimmen über den Buchstaben a der Beschlussempfehlung auf Verlangen der Linken namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Alle Urnen sind besetzt. Ich eröffne die Abstimmung über Buchstabe a der Beschlussempfehlung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? – Sind jetzt alle Stimmen abgegeben? – Dann haben jetzt alle ihre Stimme abgegeben. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Wir setzen die Abstimmung zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 19/2748 fort. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/1711 mit dem Titel „Soziale Teilhabe und Selbstbestimmung in der Grundsicherung statt Sanktionen und Ausgrenzung“. Wir stimmen nun über den Buchstaben b der Beschlussempfehlung auf Verlangen von Bündnis 90/Die Grünen namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind überall Schriftführer? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung zu Buchstabe b der Beschlussempfehlung.
Ist jetzt noch ein Mitglied des Hauses hier, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Haben alle ihre Stimme abgegeben? – Alle Mitglieder des Hauses haben also ihre Stimme abgegeben. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Die Ergebnisse der beiden Abstimmungen gebe ich Ihnen später bekannt.
Wir kommen nun zu den Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte, und zwar zunächst zu den unstrittigen Überweisungen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Europäische Gerichtshof hat am 21. Juni 2018 mit seinem Urteil wegen Nichterfüllung der EU-Nitratrichtlinie der Bundesregierung eine heftige Quittung für ihr jahrelanges Nichtstun gegen die Wasserverschmutzung mit Nitrat ausgestellt.
Schon am 4. Mai 2018 hat die EU-Kommission im Nitratbericht die hohe Belastung des Grundwassers durch Nitrate in Deutschland, besonders in Tierhaltungskonzentrationsgebieten, gerügt. Deutschland hat in der EU nach wie vor mit die höchste Nitratbelastung von Grundwasser. 28 Prozent der Messstellen weisen mehr als 50 Milligramm Nitrat pro Liter auf. Wir haben damit ein Riesenproblem. Das Problem lautet: zu viel Tiere auf zu wenig Raum. Das zeigen auch die Zahlen aus dem Nitratbericht der EU-Kommission. Von 2010 bis 2013 haben 5 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe aufgegeben, die durchschnittliche Größe stieg um 4,9 Prozent, die Gesamtzahl der Tiereinheiten erhöhte sich um 3,5 Prozent. Der Vergleich der Bezugszeiträume 2008 bis 2011 und 2012 bis 2015 zeigt: In diesem Zeitraum hat die Zahl der Schweine abermals um 4,3 Prozent, die Zahl bei Geflügel um 37 Prozent zugenommen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, entscheidend ist für uns in der Betrachtung: Am Ende dieser massiven Konzentration stehen die enormen Güllefluten. Sie belasten unser Grundwasser, unser Süßwasser in Flüssen und Seen, und tragen zur Eutrophierung küstennaher Ökosysteme aber auch der Weltmeere bei. Der Stickstoffeintrag in die Biosphäre ist neben dem Artensterben die größte Belastung unserer planetaren Grenzen und eine der dringendsten globalen Aufgaben, die wir lösen müssen, um unsere Lebensgrundlagen zu erhalten.
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Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, Deutschland ist beim EuGH-Verfahren mit der Übernahme der Verfahrenskosten ausgesprochen glimpflich davongekommen. Das liegt aber nicht an ihren Leistungen beim Wasserschutz, sondern allein daran, dass es ein Feststellungsurteil war, das sich auf die alte Düngeregelung bezog, und dass es ausdrücklich nicht um Strafzahlungen ging. Der Ball liegt nun aber wieder bei der EU-Kommission. Sie muss über mögliche Strafzahlungen und die neue nachgebesserte Düngeregelung von 2017 entscheiden.
Der Urteilsspruch des Europäischen Gerichtshofs bestätigt aber, dass die Bundesregierung über Jahre nichts getan hat, sondern die Probleme immer wieder auf die lange Bank schob und die fachlichen Verbesserungen und Empfehlungen der Wissenschaft, die uns weitergebracht hätten, immer ignoriert hat.
2017 haben Sie von der Koalition mit schwersten Geburtsschmerzen die neue Düngegesetzgebung auf den Weg gebracht. Wir als Fachpolitiker entsinnen uns noch alle daran, welche Schlachten da geschlagen wurden. Die Vorgaben – so lesen wir – sind lascher geworden, nicht strenger; so lautet das aktuelle Gutachten des renommiertesten Düngeexperten Deutschlands, Professor Taube. Aber auch die Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft Wasser spricht sich für deutliche Nachbesserungen beim Düngerecht aus.
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Professor Taube listet auf 25 Seiten minutiös die Defizite des neuen Düngerechts auf. Und Professor Taube ist als Schattenminister des CDU-Kandidaten Günther in Schleswig-Holstein nicht verdächtig, Grünen-nah zu sein. Er listet minutiös die vielen neuen großen und kleinen Baustellen auf. Wir haben hier ganz sicher noch ganz viel zu tun. Die Schlupflöcher müssen unbedingt geschlossen werden; ansonsten reicht es nicht aus, die Probleme zu lösen.
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Seit einigen Tagen, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegt aber auch eine umfassende Studie aus Bayern vor, die Standardberechnungswerte für Gülle untersucht und diese mit den Nährstoffen vergleicht, die sich in der tatsächlich ausgebrachten Gülle finden. Siehe da, es fand sich zwischen dem Wert der Standardberechnungsmethode – 3,8 Prozent Nitrat pro Kubikmeter Gülle – und den tatsächlich gemessenen Werten von 7 bis 9 Kilogramm Nitrat eine gewisse Spreizung. Wir müssen also in Betracht ziehen, ob der Kubikmeter Gülle vielleicht deutlich mehr Nitrat auf den Acker bringt als bisher angenommen.
Wir als Grüne glauben, dass Deutschland sich wieder auf dem Weg in ein neues Vertragsverletzungsverfahren befindet. Es wird ja gerne vom „Musterknaben Europas“ gesprochen und von Übererfüllung europäischer Vorgaben – wie man das zusammenbringen kann, kriegen wir nicht auf die Reihe.
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Meine Damen und Herren von der Union und der SPD: Sie müssen nacharbeiten. Die Düngegesetzgebung muss überarbeitet werden. Die Nitratfrachten müssen drastisch reduziert werden. Die Zukunft der deutschen Tierhaltung kann nicht darin liegen, die Welt mit Billigfleisch zu überschwemmen.
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Wir brauchen eine andere Agrarpolitik. Wir brauchen den Umbau der Tierhaltung. Agrarpolitik für Mensch und Umwelt ist gefragt statt Agrarindustrie auf Kosten der Umwelt,
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aber auch auf Kosten der Gesellschaft.
Der Schutz des Wassers hat oberste Priorität. Die Politik der Großen Koalition des sehenden Verdrängens müssen wir endlich beenden.
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Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Michael Stübgen.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Ostendorff, ich stimme Ihnen zu: 6 : 0 ist ein klares Ergebnis. 6 : 0 ist ein schlechtes Ergebnis. Ich rede im Übrigen nicht vom Fußball. Ich rede von der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes in der vergangenen Woche, die allen sechs Klagepunkten, die die Europäische Kommission gegen Deutschland vorgebracht hat bezüglich der deutschen Umsetzung der Düngemittelrichtlinie von 2006 in nationales Recht, stattgegeben hat. Ich will überhaupt nicht drumherum reden, es ist eindeutig: Wir haben die alte Düngemittelrichtlinie mit der alten Düngemittelverordnung nicht ausreichend entsprechend den Vorgaben der Europäischen Union umgesetzt.
Ich will aber noch einen anderen Punkt nennen, ohne das als Entschuldigung zu werten oder damit auszuweichen: Wir können in ganz Europa beobachten, dass alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die eine intensive Tierhaltung betreiben – in bestimmten Regionen oder überwiegend –, vergleichbare Probleme wie Deutschland haben bei der Umsetzung dieser Düngemittelrichtlinie. Es hagelt Vertragsverletzungsverfahren, Vorverfahren, europäische Gerichtsverfahren und Niederlagen vor dem Europäischen Gerichtshof. Ich will zwei Dinge damit feststellen:
Punkt eins. Es ist in der Tat objektiv schwierig, die Vorgaben für mehr Wasserschutz umzusetzen – den wir alle wollen; das ist in der Tat richtig –, wenn man gleichzeitig Strukturbrüche in der Landwirtschaft verhindern will. Das scheint bei den Grünen überhaupt keine Rolle zu spielen.
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Zweiter Punkt. Es ist doch ziemlich eindeutig, glaube ich, dass auch die EU-Richtlinie – auch im Lichte neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse – Fallstricke hat, die nicht unbedingt das Ziel erfüllen, das wir alle erreichen wollen. Deswegen glaube ich, dass in der nächsten Legislaturperiode des Europäischen Parlamentes eine gründliche Evaluierung stattfinden muss, die möglicherweise auch zu Anpassungen und Novellierungen führt.
Ich will jetzt aber bei der Situation bleiben, die wir in Deutschland haben. In der Tat ist klar festzustellen: Die alte Düngemittelverordnung ist nicht ausreichend. Es gibt seit 2017 eine neue Düngemittelverordnung; die ist von der Europäischen Kommission notifiziert worden und gültig, also seit knapp einem Jahr. Natürlich kann man nach knapp einem Jahr noch nicht feststellen, welche Auswirkungen sie hat und ob die Ziele, die wir mit dieser Düngemittelverordnung verfolgen, wirklich ausreichen.
Wie immer gibt es natürlich Gutachter, die behaupten: Das wird alles sowieso nichts; das wird alles noch viel schlechter. – Ich will Ihnen nur eines sagen: Dagegen spricht die Situation vieler landwirtschaftlicher Betriebe in Deutschland, die durch die hohen Anforderungen, die sie mit dieser neuen Verordnung umsetzen müssen, gerade existenziell bedroht werden. Das heißt, wenn das alles nichts wäre, dürfte es ja bei den landwirtschaftlichen Betrieben überhaupt keine Schwierigkeiten geben.
Ich will mich aber nicht so intensiv mit der Vergangenheitsbewältigung beschäftigen, sondern mehr auf die Fakten und Daten, die wir jetzt haben, eingehen. Deutschland hat im letzten Jahrzehnt ein neues Messnetzsystem für Nitrat und andere Schadstoffe im oberflächennahen Grundwasser installiert, das repräsentativer und faktenbasierter ist als das vorherige System. Für dieses System sind viermal so viele Messstellen aufgebaut worden als für das damalige alte Belastungsmessnetz, für das im Prinzip nur dort Messstellen aufgebaut wurden, wo man eine stärkere Belastung des Grundwassers vermutet hatte.
Wir haben seitdem konkrete Ergebnisse in zwei Überwachungszeiträumen, nämlich von 2008 bis 2011 und von 2012 bis 2014. Laut den Ergebnissen, die repräsentativ sicher sind, zeigen 49,3 Prozent der Messstellen geringe Belastungen, also unter 25 Milligramm Nitrat pro Liter Grundwasser, 23 Prozent der Messstellen Belastungen, allerdings unter dem Grenzwert von 50 Milligramm Nitrat pro Liter Grundwasser, 28 Prozent der Messstellen allerdings Belastungen über dem Grenzwert von 50 Milligramm Nitrat pro Liter Grundwasser.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, selbstverständlich ist das eindeutig zu viel. Es muss aber auch in der richtigen Relation betrachtet und bewertet werden; denn die Ergebnisse dieser Messzeiträume zeigen auch, dass sich zwischen 2008 und 2014 die Situation des Grundwassers nicht verschlechtert hat. Diese Bewertung ist deshalb interessant, weil es in diesem Zeitraum – Herr Ostendorff, Sie haben das ja gerade aufgezählt – gleichzeitig eine massive Produktionserhöhung in viehhaltenden Betrieben gab. Das heißt, die alte Verordnung hat wenigstens dafür gesorgt, dass sich die Situation nicht verschlechtert hat. Ich stimme Ihnen aber in einem Punkt zu: All das reicht letztendlich natürlich nicht aus.
Die neue Düngemittelverordnung, die wir haben, geht bereits intensiv auf Mängel ein, die die alte Verordnung gehabt hat. Nach Auffassung der Bundesregierung beheben wir mit dieser neuen Verordnung diese Mängel zum großen Teil. Ich muss im Namen des Landwirtschaftsministeriums darauf hinweisen, dass uns bei der Umsetzung von notwendigen Beschlüssen immer wichtig war – und das wird auch so bleiben –, im Zielkorridor zu bleiben, einerseits den Schadstoffeintrag ins Grundwasser gerade in den besonders belasteten Gebieten in Deutschland deutlich zu verringern, auf der anderen Seite aber Strukturbrüche besonders bei unseren viehhaltenden landwirtschaftlichen Betrieben zu vermeiden.
Es ist klar, dass nach knapp einem Jahr die Auswirkungen dieser neuen Verordnung überhaupt noch nicht festgestellt werden können. Wir bemerken aber auch – teilweise besorgt uns das –, dass eine ganze Reihe landwirtschaftliche Betriebe mit der Umsetzung dieser neuen Maßnahmen, die ja jetzt erst greifen und in den nächsten Jahren Wirkung zeigen müssen, vor ganz besondere, teilweise existenzbedrohende Herausforderungen gestellt werden. Ich bleibe dabei: Wir wollen keine Strukturbrüche. Wir wollen eine Verbesserung der Grundwasserqualität. Wir wollen aber auch, dass viehhaltende Betriebe ihre Arbeit in Deutschland weiterhin erfolgreich und am Weltmarkt orientiert machen können.
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Lassen Sie mich in den letzten Sekunden meiner Redezeit noch auf einen Konstruktionsfehler, den die gültige Verordnung meines Erachtens hat, eingehen. Und zwar dachte ich zunächst, die EU gebe das zwingend vor; das ist aber gar nicht der Fall. Ich muss da ein bisschen ausholen: Wir haben die Situation, dass Industriedünger, also Mineraldünger, sehr klar definiert ist. Er hat den Riesenvorteil, dass, wenn ich ihn in der Fläche auf dem Acker ausbringe, nahezu 100 Prozent der Mineralien, der Nährstoffe, unmittelbar in der Vegetationsperiode verfügbar sind. Damit habe ich die Möglichkeit, die Notwendigkeit des Einsatzes von Düngemitteln geradezu grammgenau pro Hektar zu bestimmen. Nachteilig an Mineraldüngern ist, dass sie überwiegend importiert werden. Der Weltmarkt wird von einigen großen Konzernen beherrscht, und die Rohstoffe für diesen Mineraldünger werden am anderen Ende der Welt unter Bedingungen gewonnen, die das Gegenteil von umweltfreundlich sind.
Deshalb sind wir seit Jahren der Meinung: Wir wollen den Einsatz von Mineraldünger reduzieren bis zu der Möglichkeit, ganz darauf zu verzichten, und mehr sogenannten Wirtschaftsdünger, das heißt Gülle, Mist und Kompost, die ja eh in tierhaltenden Betrieben anfallen, nutzen. Nur hier haben wir die Situation, dass im Gegensatz zum Mineraldünger der deutlich vorteilhaftere Wirtschaftsdünger chemisch-physikalisch nicht so eindeutig funktioniert wie der Mineraldünger. Wir haben die Situation – das ist mittlerweile ganz eindeutig wissenschaftlich nachgewiesen –, dass bei Wirtschaftsdünger zum Beispiel im Hinblick auf den Stickstoff- oder Phosphorgehalt die Verfügbarkeit dieser notwendigen Nährstoffe für unsere Kulturpflanzen in der Vegetationsperiode deutlich niedriger ist. Sie liegt nach eindeutigen Forschungen zwischen 10 und 60 Prozent, teilweise, wie gesagt, nur bei 10 Prozent. Trotzdem haben wir in unserer Verordnung festgelegt, dass wir den Eintrag mit 100 Prozent ansetzen. Das hat einige schädliche Folgen, nach meiner Einschätzung mehr schädliche Folgen als nützliche.
Wir haben jetzt die Situation, dass viehhaltende Betriebe ihren Dünger nicht mehr auf ihre Flächen bekommen, weil sich die auszubringende Menge aufgrund des Ansatzes von 100 Prozent enorm reduziert hat. Wir haben die Situation, dass diejenigen Betriebe, die sich daran halten, ihre Kulturpflanzen nicht mehr mit genügend Nährstoffen versorgen können. Um nur einmal ein Beispiel zu nennen, in welche falsche Richtung das geht: Insbesondere Biobetriebe betrifft das; denn sie zeichnen sich ja dadurch aus, dass sie schon seit Jahrzehnten gänzlich auf Mineraldünger verzichten. Sie haben nun das Problem, unter diesen Vorgaben ausreichend Nährstoffe für ihre Pflanzen bereitzustellen.
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Außerdem haben wir die Situation, dass Ackerbaubetriebe, die eigentlich umsteigen könnten auf Wirtschaftsdünger – das wollen wir doch eigentlich –, sich aufgrund dieser unsicheren Situation scheuen, das zu tun.
Wir erreichen mit dieser Regelung – das ist meine Überzeugung – das Gegenteil von dem, was wir erreichen wollen. Deshalb denke ich: Wenn wir von der Europäischen Union gezwungen werden – das ist möglich –, müssen wir uns mit dieser Frage noch einmal intensiv beschäftigen, um einen realistischeren, klareren Umgang zu bekommen. Ich glaube, uns eint hier, dass wir mehr für den Schutz des Grundwassers tun wollen. Aber den Eintrag statt mit 10 Prozent mit 100 Prozent anzusetzen, –
Kollege Stübgen, ich bin jetzt gezwungen, Sie auf Ihre Redezeit hinzuweisen.
– ist auf jeden Fall der falsche Weg.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Abgeordnete Wilhelm von Gottberg für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren! Herr Staatssekretär! Das Urteil des EuGH bezieht sich auf eine Situation in der Vergangenheit. Mit der Einführung der Novellierung der Düngeverordnung vom 17. Februar 2017 hat das Ministerium reagiert. Das Ministerium rechnet mit einem Mehraufwand durch diese neue Düngeverordnung in Höhe von 111 Millionen Euro im Jahr, für die Bundesländer mit 81 Millionen Euro pro Jahr.
Mit der Düngeverordnung wird entgegen allen Sonntagsreden die gesamte Landwirtschaft mit einem neuen Bürokratiemonster beglückt.
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Alle werden mit Auflagen und Dokumentationspflichten belastet, ohne dass die wirklichen Ursachen für das Problem richtig angesprochen werden. Die wirklichen Ursachen der Nitratbelastung des Grundwassers in Deutschland sind neben landwirtschaftsfremden Verursachern – die gibt es tatsächlich; aber über die wird gar nicht gesprochen –:
Erstens die intensive Viehhaltung in einigen Regionen Deutschlands. Schon die bisherige Düngeverordnung hat darauf reagiert. Deshalb wird schon lange Gülle Lkw-weise aus den intensiven Tierhaltungsgebieten Norddeutschlands zum Teil über Hunderte von Kilometern in die Ackerbaugebiete gefahren und dort entsorgt.
Dazu kommt zweitens eine immer weitere Intensivierung und Konzentration des Anbaus von Sonderkulturen in besonders begünstigten Lagen. Deshalb kann es zum Beispiel am Oberrhein, von Basel bis in die Pfalz, zu Nitratproblemen kommen.
Unverständlich für die Landwirte und ineffizient auch für die Verwaltung ist das dann, wenn auch die vielen Grünlandgebiete der Mittelgebirge, der Marsch und andere Gebiete mit weniger natürlichem Ertragspotenzial mit denselben Verwaltungs- und Berichtspflichten belastet werden, obwohl in diesen Gebieten und Regionen aus ganz logischen Gründen noch nie Nitratprobleme festgestellt wurden.
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Der Koalitionspartner der Grünen in Baden-Württemberg, Minister Hauk, beklagte dies am letzten Freitag auf einer Pressekonferenz in Stuttgart – völlig zu Recht. Wir können ihm nur beipflichten.
Die Regierung, die Verwaltung, der Gesetzgeber machen sich durch solche Verordnungen nicht nur unbeliebt, sondern auch unglaubwürdig und belasten unnötigerweise die Einsicht der Bauern und Bürger in staatliches Handeln. In noch höherem Maße tun dies die Europäische Kommission und der EuGH. Jeder Privatmann, der eine Klage eingereicht hat und dem bekannt ist, dass der Klagegrund weggefallen ist, wird die Klage zurückziehen. Nicht so die Kommission und der EuGH: Sie ziehen ein Verfahren durch, das sich nur auf die Vergangenheit bezieht und durch die novellierte Düngeverordnung obsolet geworden ist.
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Dem Wasser und den Menschen wird dadurch nicht geholfen. Das Urteil ist somit zu einer rein formaljuristischen Fingerübung verkommen.
Wenn wir der Landwirtschaft und dem Wasser gleichzeitig helfen wollen, werden wir die von der Kommission aus ganz anderen Gründen betriebene Renationalisierung der Agrarpolitik weiterbetreiben müssen. Wir können von der Landwirtschaft nicht alles Mögliche verlangen – Nahrungsmittelproduktion, Pflege der Kulturlandschaft, Arbeitsplätze, Ferien auf dem Bauernhof bis hin zum sauberen Wasser – und sie gleichzeitig der Preiskonkurrenz des Weltmarktes aussetzen.
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Die meisten Länder produzieren mit weit weniger Umwelt- und Sozialauflagen bei viel geringeren Faktorkosten als unsere Landwirte.
Aber die Dinge sind im Fluss. Im September findet in Wien eine neue, EU-weite Wasserkonferenz statt. Die Ergebnisse dieser Konferenz werden wir aufmerksam beachten und in unsere Politik einbeziehen.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Florian Pronold.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bürokratiekosten der novellierten Düngeverordnung sind gerade angesprochen worden. Was mich wundert, ist, dass die AfD nicht mit Wasserzweckverbänden redet. Wasserzweckverbände haben reihenweise enorme Kosten, die auf die Bürgerinnen und Bürger umgelegt werden, weil immer mehr Gewässer mit Nitrat belastet sind und dieses Wasser als Trinkwasser nicht mehr verwendet werden kann. Deswegen ist es so wichtig, dass wir alles tun, um unser Grundwasser zu schützen. Darum geht es. Wasser ist unser Leben, und wir müssen alles dafür tun, dass es weniger belastet wird, nicht gleich und auch nicht mehr belastet.
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Das Urteil des EuGH bezieht sich auf die Düngeverordnung von 2006. Mit den Anforderungen, die die Richtlinie und das Aktionsprogramm der EU vorsehen, hat die Düngeverordnung von 2006 nicht mithalten können. Nach langen und intensiven Diskussionen, auch zwischen unterschiedlichen Ministerien, ist es dem Druck des Vertragsverletzungs- und Klageverfahrens zu verdanken, dass wir überhaupt eine Novellierung der Düngeverordnung 2017 bekommen haben. Sie war dringend notwendig. Das kann angesichts der objektiven Messdaten niemand bestreiten. Sie sind angesprochen worden: An 28 Prozent der Messstellen sind zu hohe Nitratwerte gemessen worden. Mein Kollege hat darauf hingewiesen, dass an einer ganzen Reihe von Messstellen Belastungen im mittleren Bereich festgestellt wurden. Da besteht aber auch die Gefahr, dass es höher werden kann. Deswegen müssen wir alles tun, damit der Nährstoffeintrag aus der Landwirtschaft in unsere Gewässer deutlich verringert wird.
Über die neue Düngeverordnung haben wir eine Menge Diskussionen geführt. Wenn man das Urteil genau liest, stellt man fest, dass in diesem Urteil viele Punkte angesprochen werden, die schon bei der Novellierung der Düngeverordnung debattiert wurden.
Deswegen ist es wichtig, Herr Kollege, dass wir im Juli gemeinsam mit der EU-Kommission reden werden, um abschätzen zu können, wie die EU-Kommission die Düngeverordnung einschätzt und ob das, was Deutschland gemacht hat, was notifiziert ist, ausreichend ist, um ein erneutes Verfahren zu verhindern. Darauf kommt es an. Ich finde, es ist gut, dass wir dieses Gespräch suchen und dort, wo es erforderlich ist – das haben Sie ja heute auch deutlich gemacht –, alles tun, um die Gewässer zu schützen. Wir hatten Debatten darüber, und es gibt viele Fragestellungen, die man so oder so beurteilen kann; aber ich glaube, dass es wichtig ist, dass man die Offenheit hat, angesichts des Zustands unserer Gewässer da auch noch mal ranzugehen.
Liebe Grüne, die neue Düngeverordnung sieht etwas ganz Wichtiges vor, nämlich dass die einzelnen Länder dort, wo die Belastungen hoch sind, selbst weitere, über die jetzige Düngeverordnung hinausgehende Maßnahmen ergreifen können. Das ist wichtig, weil wir nicht überall die gleiche Nitratbelastung haben. Natürlich kommt es darauf an, dass dort, wo die Probleme besonders groß sind, wirkungsvoller und schneller dagegen vorgegangen wird.
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Bloß, wir hören sehr Unterschiedliches aus den Ländern: Zuerst hat nur Niedersachsen deutlich gemacht, dass sie weitere Maßnahmen ergreifen werden. Aus Nordrhein-Westfalen hat man nach dem Regierungswechsel nichts mehr davon gehört. Letzten Donnerstag hat sich die neue Umweltministerin allerdings dahin gehend geäußert, dass sie daran denkt, weitere Maßnahmen zu ergreifen. Aber es ist schon auffällig, dass man insgesamt aus den Ländern, die ja auch an den Problemen viel näher dran sind, relativ zurückhaltende Stimmen hört; das ist nicht so, wie man das angesichts der Situation erwarten könnte. Man könnte ortsnah Maßnahmen ergreifen, die zu einer Verbesserung beitragen.
Ich finde übrigens, dass wir EU-weit nicht nur über die Frage des Ordnungsrechts reden müssen, sondern wenn es um die Neuausrichtung der Subventionierung in der Landwirtschaftspolitik geht, müssen wir auch alles dafür tun, dass es hier zu Veränderungen kommt. Die naturschonenden Maßnahmen, die zum Beispiel zu einer geringeren Erosion von Böden führen, müssen Berücksichtigung finden; denn wenn die Böden vorher gedüngt wurden, trägt auch das zur Eutrophierung bei. Das sind wichtige Maßnahmen, die wir versuchen müssen auf EU-Ebene gemeinsam zu erkämpfen.
Es geht darum, alle Maßnahmen zu ergreifen, die dazu führen, dass die Nitratbelastung der Gewässer zukünftig geringer ist. Wir alle hier wissen, dass es noch einige Jahre dauert, bis solche Maßnahmen wirken, weil ein Großteil des Nitrats, das die Belastung bewirkt, bereits im Boden ist. Deswegen wird auch das, was wir jetzt tun, nur verzögerte Wirkung haben. Aber wir müssen es tun. Es ist nichts wichtiger, als unser Wasser zu schützen.
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Das Wort hat die Kollegin Carina Konrad für die FDP-Fraktion.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind in dieser Debatte gerade Zeugen einer „hervorragenden“ Ressortabstimmung zwischen dem Umwelt- und dem Landwirtschaftsministerium geworden. Uneiniger kann man in der Frage, wie wir in Zukunft unsere Gewässer, unsere Ressourcen schützen sollten, wohl nicht sein. Ich glaube, dieses Thema ist zu wichtig und zu zentral, als dass zwischen den Ressorts solche Uneinigkeiten herrschen dürften, dass keine Abstimmung zustande kommen kann, wie wir in Zukunft mit dem Eintrag aus der Landwirtschaft, mit der Düngung in der Landwirtschaft, mit diesem Thema, umgehen. Ich wünsche mir, dass da in Zukunft eine bessere Abstimmung stattfindet. Die Unwissenheit, die Sie, Herr Pronold, hier in Bezug auf die Entwicklung der Trinkwasserpreise und in Bezug auf die Nitratbelastung an den Tag gelegt haben, war schon bemerkenswert.
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Worüber reden wir hier eigentlich? Wir reden über die Klage der EU-Kommission, der jetzt vom EuGH stattgegeben wurde. Wir haben seit dem letzten Jahr eine neue Düngeverordnung. Sie ist in diesem Land in Kraft, und sie bringt für die Leute, die sie umsetzen müssen, enorme Belastungen und enorme Kosten mit sich. Jetzt zu behaupten, einzelne Bereiche hätten kein Interesse daran, unsere Ressource Wasser zu schützen, ist schlichtweg falsch und auch unethisch.
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Es geht darum – Herr Stübgen hat das schön beschrieben –, zweierlei in Einklang zu bringen, nämlich auf der einen Seite unsere Gewässer zu schützen und auf der anderen Seite eine flächendeckende Landwirtschaft in diesem Land zu erhalten; denn die Erzeugung von Lebensmitteln ist ebenfalls zentral.
Düngung ist für die Ernährung der Pflanze wichtig. Das sollten auch Sie, Herr Ostendorff, wissen. Wenn Sie hier Wörter wie „Gülleflut“ verwenden, suggeriert das, die Landwirte würden die Gülle gerade so ins Gewässer kippen. Sie selbst müssten das als Landwirt besser wissen. Gülle wird zur Ernährung der Pflanzen verwendet. Sie wird auf die Flächen aufgetragen, nicht, um Gewässer zu verschmutzen, sondern um Pflanzen zu ernähren.
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Seit Justus von Liebig haben wir in diesem Land keinen Hunger mehr. Seit Mineraldünger flächendeckend verfügbar ist, haben wir in diesem Land in Bezug auf die Pflanzenernährung enorme Fortschritte erzielt.
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Aber Mineraldünger darf nur als Ergänzung zur organischen Düngung gesehen werden. Stickstoff insgesamt ist wichtig. Denn wo Stickstoff fehlt, geht die Bodenfruchtbarkeit verloren, weil die Strohrotte einfach nicht richtig stattfinden kann, und dann geht die Humusbildung zurück. Das kann nicht unser Ziel sein.
Wenn Sie jetzt versuchen, durch starre Regulation die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren, muss ich Ihnen sagen: In der Praxis sehen wir im Moment, dass das nach hinten losgeht. Denn – das wurde eben schon schön beschrieben – die starren Regulationen und die Düngeverordnung verbieten der Landwirtschaft zum Teil eine ordnungsgemäße Bewirtschaftung. Mit Interesse habe ich die Bemerkungen des Vorsitzenden des Bioverbandes gelesen, der zu Recht in der „Agra Europe“ kritisiert, dass man Kompost, Gülle und Festmist nicht mit der Mineralisierung vergleichen kann. Ich bin froh, dass ein Jahr, nachdem die Düngeverordnung in Kraft ist, auch im Landwirtschaftsministerium angekommen ist, dass sich unterschiedliche Düngersorten unterschiedlich im Boden umsetzen und verhalten.
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Es ist auch nicht zu erklären, dass Betriebe, die aufgrund ihrer Struktur und ihrer Düngepraxis nicht zu den Verursachern der Nitratproblematik gehören, unnötig mit Bürokratie überbordet werden. Das ist ausdrücklich nicht das Ziel des neuen Düngerechts, und das ist in der Praxis auch nicht zu vermitteln. Schließlich gibt es ja auch keine Abgasuntersuchung für Fahrräder.
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Ein solches Vorgehen leitet sich auch nicht aus den Anforderungen ab, die die EU-Kommission vor dem Hintergrund der EU-Nitratrichtlinie an das deutsche Düngerecht stellt.
Praxisferne Regelungswut führt zu Frust und Demotivation, und zwar bei allen:
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bei den Landwirten, bei den Kontrolleuren und bei den Beratern, sowohl bei den konventionellen als auch bei den biologischen. Das kann nicht das Ziel sein. Wenn es immer weniger Landwirte gibt, schließen sich Hoftore für immer.
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Doch wie kann man dieses Problem lösen? Wir sehen in der Praxis, dass gerade Standorte mit intensiver Tierhaltung, seit die neue Düngeverordnung in Kraft ist, Probleme haben, ihren Wirtschaftsdünger in Ackerbauregionen, in denen weniger Tiere sind, zu transportieren, weil nämlich aufgrund der überbordenden Bürokratie die Bereitschaft abgenommen hat, diese Nährstoffe aufzunehmen. Da müssen wir ansetzen. Das muss möglich sein.
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Ich bin sehr dankbar, dass Sie das EU-Nitratmessstellennetz angesprochen haben. Wir Freie Demokraten setzen uns dafür ein, dass dieses Nitratmessstellennetz bundesweit bzw. europaweit einheitlich und repräsentativ weiterentwickelt wird, und zwar ohne Beeinflussung durch die Politik, sondern auf wissenschaftlicher Basis; denn das alte Belastungsnetzwerk ist immer noch Teil des neuen Nitratmessnetzes. Das kann nicht funktionieren.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Die Linke hat der Abgeordnete Ralph Lenkert das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Viele Dieselfahrer sind in Aufregung, weil Abgaswerte manipuliert wurden, und sie ahnen, dass die überhöhten Stickoxidwerte Probleme verursachen – mit Sicherheit.431 000 Tonnen Stickoxide sind 2016 im Straßenverkehr ausgestoßen worden – errechnet auf der Grundlage der vorgeschriebenen Grenzwerte, des Fahrzeugparks und der verwendeten Kraftstoffe. Weitere 55 000 Tonnen Stickoxide kommen von der Binnenschifffahrt und von der Bahn, 137 000 Tonnen vom Flugverkehr, 124 000 Tonnen von der Seeschifffahrt. In Summe werden also jedes Jahr 747 000 Tonnen Stickoxide über die Luft verteilt. Auch sie tragen zur Nitratbelastung unserer Gewässer bei.
In meinem Heimatland Thüringen hat die Landesanstalt für Umwelt und Geologie die Nitratwerte gemessen und, wie überall in Deutschland, Überschreitungen festgestellt. Sie ging noch einen Schritt weiter und wollte wissen, woher die Stickoxide, die Stickstoffüberschüsse kommen. Das Thünen-Institut für Landwirtschaft und das Forschungszentrum Jülich haben festgestellt, dass die Hälfte der Stickstoffüberschüsse aus dem bekannten Verursacherkreis kommt: der Landwirtschaft und den Haushalten, und zwar 25 000 Tonnen aus der Landwirtschaft, 8 000 Tonnen aus dem Abwasser. Weitere 33 000 Tonnen, die zweite Hälfte, kamen aus der Luft. Das macht 19 Kilogramm Stickstoffüberschüsse je Hektar und Jahr, die aus der Luft in unser Land getragen werden.
Das wird überall in Deutschland so sein. NO x wandeln sich in Nitrate um, und Nitrate schädigen das Trinkwasser. Das EuGH-Urteil besteht zu Recht, da Deutschland die Nitratwerte nicht einhält. Die Bundesregierung hat gehandelt, ja: beim Ackerbau mit einer neuen Düngeverordnung. Die moderne Landwirtschaftstechnik, die im Moment eingesetzt wird, ist in der Lage, weitere Stickstoffüberschüsse zu reduzieren, indem sie beim Düngen misst, wie die Pflanzen sich fühlen, und den Dünger dann zielgenau zubringt. Aber das reicht nicht. Die Massenkonzentration von Tierhaltung in einigen Regionen muss beendet werden.
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Deshalb fordern wir Linke, dass es eine Obergrenze für die Tierbestände je Hektar gibt.
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0,5 Großvieheinheiten je Hektar – das ist machbar; das kann man umsetzen.
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Haushalte leisten wie die Landwirtschaft ihren Beitrag, und zwar über Kläranlagen. Trotzdem werden im Moment nur 50 Prozent der Nitratüberschüsse, die reduziert werden sollten, betrachtet. Die anderen 50 Prozent stammen aus der Luft: aus Industrie, auch aus Viehzucht und aus Verkehr. Aber mindestens 8 Kilogramm Stickstoffüberschuss pro Jahr in Thüringen werden durch den Verkehr verursacht – gerechnet nach den gesetzlichen Vorschriften für Abgaswerte von Diesel-Pkw. Wir können also davon ausgehen, dass in der Realität der Stickstoffeintrag aus dem Verkehr deutlich höher ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Landwirtschaft steht unter Druck, zu handeln. Dort wird er ausgeübt. Bei den Haushalten wird auch Druck ausgeübt – über Abwassergebühren für die Kläranlagen. Die Kosten, die durch Nitrat im Trinkwasser entstehen, landen auch bei Landwirten und Haushalten.
Es ist uns aber unverständlich, weshalb die Bundesregierung die Autoindustrie verschont. Die Stickoxidausstöße aus dem Diesel sind um ein Vielfaches höher, obwohl die Einhaltung der Grenzwerte technisch möglich ist. Deswegen kann kein Landwirt, kein Haushalt verstehen, weshalb, während er Maßnahmen ergreift, um die Nitratbelastung zu reduzieren, und trotzdem höhere Trinkwasserpreise bezahlen muss, die Autokonzerne mit ihren Milliardengewinnen nicht zur Nachrüstung verpflichtet werden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann sich sicherlich auf nur ein Problem konzentrieren, aber aus unserer Sicht ist es zwingend erforderlich, alle Probleme in den Blick zu nehmen, also nicht nur bei der Landwirtschaft zu gucken. Wir müssen dort gucken, wir müssen dort eine bessere Praxis durchsetzen, aber wir müssen auch entsprechende Gesetze für die Autoindustrie durchsetzen. Wenn Sie das nicht machen, werden die Nitratgrenzwerte nicht eingehalten werden können. Helfen Sie uns, das Trinkwasser zu schützen, damit wir auch zukünftig alle gemeinsam Wasser aus der Leitung trinken können, ohne Angst zu haben, wegen Nitrat krank zu werden.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Astrid Damerow für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 21. Juni 2018 zur Umsetzung der EU-Richtlinie zum Schutz des Wassers vor Nitrateinträgen bezieht sich – das ist hier schon erwähnt worden – auf Daten, die die EU-Kommission für den Berichtszeitraum 2012 bis 2015 zusammengestellt hat. Demnach wiesen 28 Prozent der Messungen kritische Werte oberhalb der zulässigen Höchstgrenze für Nitrat aus.
Mir geht es hier an dieser Stelle aber auch darum, die Daten, über die wir heute reden, in die richtige Relation zu setzen. Die Daten stammen aus dem Jahr 2014. Damals galt noch die alte Düngemittelverordnung aus dem Jahr 2006. Zudem waren alle in die Datenlage eingegangenen Messstationen landwirtschaftlich beeinflusst. Das war im Übrigen in anderen EU-Ländern nicht der Fall. Würden wir alle Messungen mit einbeziehen, wie das andere EU-Länder tun, so kämen wir zu anderen Ergebnissen. Sie würden nämlich zeigen, dass 82 Prozent der Messwerte in Ordnung waren.
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Halten wir uns hier jetzt aber an die im Bericht ausgewiesenen 28 Prozent kritischer Messungen. Mit der 2017 beschlossenen Düngemittelverordnung haben wir darauf reagiert und, ich finde, die richtigen Maßnahmen getroffen, um die Situation weiter zu verbessern.
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Die damalige Bundesregierung hat sich gemeinsam mit den Ländern auf eine stärkere Differenzierung des Düngerechts geeinigt, um den regional unterschiedlichen Belastungen und Gefährdungen Rechnung zu tragen. Es gibt nun zusätzliche Vorgaben für kritische Gebiete, aber auch Entlastungen für unproblematische Gebiete. Dabei ging es bei der Düngemittelverordnung auch darum, neben den wichtigen Interessen des Umweltschutzes auch die Umsetzbarkeit für unsere Landwirtinnen und Landwirte im Blick zu haben, und das ist – wir haben das heute hier schon gehört – eine große Herausforderung.
Landwirtschaftliche Betriebe sind nun gefordert, Stickstoff bei der Düngung gezielter einzusetzen. Hierbei müssen wir sie auch noch unterstützen. Es gibt technische Möglichkeiten, die ihnen das deutlich erleichtern werden. In Gewässernähe wurden die Abstände für Stickstoff- und Phosphatdüngungen ausgeweitet, und seit dem 1. Januar 2018 müssen unsere landwirtschaftlichen Betriebe Buch über den Einsatz von Düngemitteln führen.
All das belastet unsere landwirtschaftlichen Betriebe und ist für sie eine große Herausforderung.
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Wir denken aber, dass diese Maßnahmen dazu führen werden, dass wir in Deutschland die Nitrateinträge im Wasser weiter senken können, und wir alle wissen ganz genau, dass wir die Ergebnisse dieser Maßnahmen erst in einigen Jahren werden messen können.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auch noch mal sagen – der Kollege Lenkert hat das eben in einem Nebensatz auch getan –: Nach wie vor – das will ich betonen – können wir in Deutschland das Wasser aus unseren Wasserhähnen trinken.
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Ich finde, das ist keine Selbstverständlichkeit, und das muss dann auch mal entsprechend gewürdigt werden. Selbstverständlich wollen wir alle, dass das in Zukunft auch so bleibt. Das wollen auch unsere Landwirte.
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Soll heißen: Bei allem, was wir in Zukunft tun, müssen unsere Landwirte unsere Partner sein. Sie sind nicht unsere Gegner, und sie sind auch nicht hinderlich. Wir müssen partnerschaftlich sehen, dass wir hier zu besseren Ergebnissen kommen.
Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner hat nach der Urteilsverkündung richtigerweise darauf hingewiesen, dass sie mit der Europäischen Kommission in einen Dialog treten wird, um zu prüfen, ob die getroffenen Maßnahmen ausreichend sind. Ebenso wird man auch Forschungsergebnisse hinzuziehen.
All dies halten wir für die richtige Reaktion und vor allem auch für eine Reaktion mit Augenmaß. Blinder Aktionismus hat noch nie wirklich weitergeholfen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Abgeordnete Andreas Bleck für die AfD-Fraktion.
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Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Nach Kohlendioxid, Feinstaub und Stickoxid wird jetzt die nächste Sau durchs Dorf getrieben. Diesmal ist es Nitrat. Der Anlass ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofes gegen Deutschland wegen Verletzung der Nitratrichtlinie.
Fakt ist: Der Grenzwert von Nitrat im Trinkwasser – wir haben dieses Thema hier vorhin ja auch schon angesprochen – beträgt 50 Milligramm pro Liter, ist wissenschaftlich gut begründet und wird fast immer eingehalten. Durch die Trinkwasseraufbereitung wird gewährleistet, dass die Nitratkonzentration von Trinkwasser aus dem Wasserhahn immer unter diesem Grenzwert liegt. Ja, im kommunalen Bereich haben wir spezifisch in Regionen, wo Nitratbelastung eine Rolle spielt, ein Problem. Da muss belastetes und unbelastetes Trinkwasser gemischt werden, um die Nitratkonzentration unter diesen Grenzwert zu bekommen. Aber das ist weder ein gesamteuropäisches noch ein gesamtnationales Problem.
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Um es kurz zusammenzufassen: Das Trinkwasser in Deutschland ist also von höchster Qualität. Es gibt keinen Grund zur Hysterie. Zum Vergleich: In Blatt-, Kohl- und Wurzelgemüse ist die Nitratkonzentration 20- bis 80-fach höher. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass die durchschnittliche Nitrataufnahme eines Menschen zu 62 Prozent durch Gemüse, zu 26 Prozent durch Trinkwasser und zu 12 Prozent durch sonstige Lebensmittel erfolgt. Wenn Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke, wirklich Angst vor einer Nitratvergiftung haben, sollten Sie dringend Ihre Haltung zu Gemüse, Vegetarismus und Veganismus überdenken.
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Der Erfolg oder Misserfolg der Nitratrichtlinie lässt sich in der Europäischen Union übrigens kaum feststellen. Die Methodik von Probenahmestellen und Probenahmen selbst ist weitgehend beliebig. Das macht die Nitratmessung für Vergleichszwecke nahezu unbrauchbar. Die Netzdichte der Probenahmestellen variiert von Land zu Land: von unter 5 bis zu über 120 pro 1 000 Quadratkilometer Fläche. In einigen Ländern wird eine Probe pro Jahr entnommen, in anderen fünf. In Rumänien ist die Zahl der Probenahmestellen um 30 Prozent zurückgegangen, in Slowenien um 90 Prozent gestiegen.
Auch Ort, Zeit und Tiefe der Probenahme sind häufig vage. Es ist offenkundig, dass man mit der Wahl der Probenahmestellen auch das Ergebnis der Nitratmessung beeinflussen kann. Wer an weniger nitratbelasteten Orten im Sommer und in großen Tiefen Proben entnimmt, kommt bei der Nitratbemessung besser weg. In einer Europäischen Union, in der die Griechen ungestraft türken, ist es nicht unwahrscheinlich, dass dies einige Länder zu ihren Gunsten ausnutzen.
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Deutschland hat damals das Gegenteil gemacht: Wir haben der Europäischen Kommission Nitratmessungen von 162 vornehmlich nitratbelasteten Probenahmestellen geschickt. Damit haben wir der Europäischen Kommission die Anklageschrift doch selbst geliefert.
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Kurzum: Die Berichte der Europäischen Kommission über die Durchführung der Nitratrichtlinie sagen wenig über die wahre Nitratbelastung im Grundwasser der Europäischen Union aus.
In Deutschland ist übrigens auch die grüne Energiepolitik für die Nitratbelastung mitverantwortlich; eine Tatsache, die offenbar in Vergessenheit gerät. Die hohe Nitratbelastung lässt sich vielerorts auf den Bauboom von Biogasanlagen zurückführen.
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Bekanntlich werden darin Lebensmittel für die Energiegewinnung verwertet; moralisch sehr fragwürdig, wobei sich die Grünen doch sonst so gerne als Moralapostel aufspielen. Da sich viele unserer Bauern durch die grüne Landwirtschaftspolitik in einer Notlage befinden, konnten sie sich das Geschäft nicht entgehen lassen. Aus Grünland wurde somit Maismonokultur.
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Diese wurde dann häufig großzügig mit Gärresten aus den Biogasanlagen gedüngt. Der Teufelskreis schließt sich. Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, sind also nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Das haben Sie teilweise auch verstanden.
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Unsere Aufgabe als Politiker besteht darin, uns mit gesundem Menschenverstand des Sachverhalts anzunehmen. Und siehe da: Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs – das ist schon angesprochen worden – bezieht sich auf einen Sachverhalt, den es heute gar nicht mehr gibt. Seit dem Jahr 2017 gilt die neue Düngemittelverordnung, deren Auswirkungen wir mit Geduld und wissenschaftlichem Sachverstand untersuchen müssen. Genau wie ein guter Arzt sollten wir dabei zuerst die Diagnose stellen und danach die Therapie durchführen.
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Die Bundesregierung ist also gut beraten, sich von den Grünen nicht treiben zu lassen;
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denn wenn die Düngung ohne belastbare Erkenntnisse noch stärker eingeschränkt wird als in der neuen Düngemittelverordnung vorgesehen, drohen den Bauern Ertragsverluste bei der Ernte. Das wirkt sich auf die Preise und somit auf die Verbraucher aus. Daher steht meine Fraktion für eine bauern- und verbraucherfreundliche Politik, die eine reine Verdachtspolitik ohne wissenschaftliche Grundlage ablehnt.
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Unsere Bauern gehen oftmals nicht wegen, sondern trotz grüner Landschafts- und Umweltpolitik verantwortungsbewusst mit Umwelt und Natur um.
Vielen Dank.
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Dem Präsidium wurde gerade erst die Tatsache übermittelt, dass dies die erste Rede des Abgeordneten sBleck für seine Fraktion war. Das möchte ich hier für das Protokoll natürlich nachtragen.
Das Wort hat der Abgeordnete Michael Thews für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Bleck, ich gratuliere zur ersten Rede. Aber ich muss ganz ehrlich sagen: Das, was Sie da schönrechnen wollten, ist keine Lösung der Probleme. Vielmehr haben wir es hier mit einem Problem zu tun, das real ist. Es geht um etwas, das im Boden ist, und unser Boden hat ein verdammt langes Gedächtnis. Alles das, was wir ausbringen – wir reden jetzt von Düngemitteln, von Nitrat –, geht in den Boden. Was von den Pflanzen nicht aufgenommen wird, geht durch den Boden in unser Grundwasser, und letzten Endes belastet es dann auch unser Trinkwasser. Das sind Vorgänge, die teilweise Jahrzehnte dauern, aber wenn sie dann so weit fortgeschritten sind, sind sie akut, und wir haben in Deutschland viele Messstellen, die heute schon auf Probleme hinweisen.
Das Ganze ist durchaus auch in Zahlen zu fassen. 767 Millionen Euro pro Jahr würde es uns kosten, wenn wir hier nichts unternehmen. Da reden wir nicht von den Strafzahlungen der EU, sondern von Zahlungen, die notwendig sind, um bei den Wassergebühren nachzusteuern, wenn wir nichts gegen den Nitrateintrag tun. Derzeit schaffen es unsere Wasserversorger noch, dafür zu sorgen, dass das Trinkwasser überall eine gute Qualität hat. Man kann es nicht oft genug sagen: Unser Wasser ist das bestuntersuchte Lebensmittel, das wir haben. Aber wenn die Belastung des Grundwassers zunimmt, dann kann es sein, dass die Versorger in Zukunft das Nitrat durch weitere teure technische Maßnahmen aus dem Wasser entfernen müssen, und das wird dann richtig teuer.
Schon jetzt müssen die Wasserversorger einiges tun, um unser Trinkwasser zu schützen. Sie verdünnen immer häufiger belastetes Wasser mit unbelastetem Wasser. Sie schließen Brunnen, müssen tiefer bohren oder verlagern sie. Auch diese Kosten fließen schon heute in die Wassergebühren ein. Ich will es noch einmal ganz deutlich sagen: Wir sehen hier eine hohe Verantwortung. Bezahlbares Wasser mit guter Qualität ist ein wichtiger Teil der Daseinsvorsorge.
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In der letzten Legislaturperiode ist schon einiges passiert. Es gibt eine Novelle des Düngemittelrechts und einige Maßnahmen, die durchaus sinnvoll sind. Die Betriebe müssen jetzt eine Bilanzierung vornehmen, wie viel sie auf den Boden aufbringen und wie viel sie herausholen. Bestimmte Böden werden weiter gehend geschützt, und auch die Zeiträume, in denen Düngemittel ausgebracht werden, sind begrenzt worden. Es ist durchaus davon auszugehen, dass diese Maßnahmen zu einer Reduzierung des Eintrags führen werden.
Es gibt aber auch Stimmen – und die müssen wir ernst nehmen –, die sagen: Das wird nicht ausreichen. Wir haben heute schon von Herrn Pronold gehört, dass es Diskussionen mit der Kommission geben wird. Dann wird sich zeigen, ob das Düngemittelpaket, das wir beschlossen haben, wirklich ausreicht. Ich glaube durchaus, dass es noch Änderungen geben muss, aber wir können schon heute einiges tun; das wurde angesprochen. Es gibt eine Verschärfungsmöglichkeit in der Gesetzgebung. Das heißt, die Länder können dort, wo es akut wichtig ist, handeln. Wir wissen: Das Problem ist nicht überall gleich. Wir haben große Probleme in Norddeutschland – Schleswig-Holstein, Niedersachsen – bis hinunter nach Nordrhein-Westfalen, teilweise auch in Bayern und Baden-Württemberg. Die Länder sind angehalten, diese Möglichkeit zu nutzen und dort gegenzusteuern, wo es notwendig ist. Dann können wir bessere Ergebnisse erzielen und die Kommission gegebenenfalls überzeugen, keine Strafzahlungen geltend zu machen.
Wir haben gestern im Umweltausschuss über die Umsetzung der Nitratrichtlinie und das Ergebnis des Berichts, den wir für die Zeit von 2012 bis 2015 bekommen haben, gesprochen. Daraus möchte ich einen Punkt aufgreifen, und zwar die Tierbesatzdichte in Deutschland. Wir hatten in diesem Zeitraum einen Zuwachs der Tierbesatzdichte um 3,5 Prozent, während wir in der EU einen Rückgang um 2,9 Prozent gehabt haben. Das sind – man muss sich das vor Augen halten – 1,2 Millionen Schweine und 50 Millionen Tiere beim Geflügel. Wir produzieren also mehr Fleisch, als wir selber konsumieren, und vieles davon geht in den Export. Barbara Hendricks hat es in der letzten Legislaturperiode auf den Punkt gebracht. Sie hat gesagt, wir sollten nur so viele Schweine, Rinder und Hühner halten, wie wir auch Boden zum Ausbringen von Mist und Gülle haben. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt.
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Meine Damen und Herren, es kann nicht sein, dass wir Fleisch auf Kosten unseres Grundwassers exportieren. Wir müssen gemeinsam mit den Bauern an einer Lösung arbeiten. Gewässerschutz und Landwirtschaft dürfen kein Widerspruch sein. Hier ist auch die Europäische Union gefragt. Wir brauchen eine Agrarförderung, die den Umweltschutz, die Artenvielfalt und das Tierwohl stärker berücksichtigt.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Oliver Krischer das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ehrlich gesagt glaube ich, dass es erforderlich ist, die Debatte vom Kopf auf die Füße zu stellen.
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Worüber reden wir hier eigentlich? Wir reden darüber – ich hatte bisher gedacht, dass darüber Konsens herrscht –, dass Nitrat im Trinkwasser nichts verloren hat; denn Nitrat verhindert die Sauerstoffaufnahme, und die Abbauprodukte sind krebserregend. Nitrat hat also im Trinkwasser nichts zu suchen. Ich erwarte von jeder Bundesregierung und jedem verantwortungsvoll handelnden Politiker in diesem Raum, von jedem Abgeordneten, dass wir uns darum kümmern, dass Nitrat nicht am Ende im Trinkwasser landet.
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Herr Stübgen, ehrlich gesagt habe ich Ihre Ausführungen so verstanden – bei der AfD oder teilweise bei der FDP erwartet man nichts anderes –, dass wir nun erneut eine seltsame Grenzwertdebatte wie bei den Messstellen und Stickoxiden führen werden. Dass Sie das auch anfangen und mit der EU-Kommission darüber reden, ist doch ein absolutes Unding. Sie verfahren nach dem Motto: So lange messen, bis es passt, bis man das Problem weggemessen hat!
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Man muss vielleicht noch einmal klar sagen, worum es hier in Deutschland geht. Wir sind nach Malta – das ist bekanntlich ein Inselstaat in einer besonderen Situation – das Land, wo das Problem am größten ist. Fast 30 Prozent unserer Grundwasservorräte weisen Nitratgehalte oberhalb des Grenzwertes auf. Das Schlimme daran ist: Das Problem ist in den letzten Jahren nicht kleiner, sondern größer geworden. Das ist das Ergebnis des Nichtstuns dieser Bundesregierung. Das muss an dieser Stelle klar ausgesprochen werden.
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Kollege Lenkert, es ist richtig, über die Verkehrsthematik und Stickoxide zu reden. Natürlich ist das auch ein Problem und ein weiterer Grund dafür, warum wir emissionsfreie Mobilität brauchen. Aber Hauptverursacher ist nun einmal die industrielle Landwirtschaft, die übermäßige Mengen an Nitrat und Dünger auf die Felder bringt. Ich sage ganz ehrlich: Das hat teilweise nichts mehr mit Düngung zu tun. Das, was auf unseren Äckern stattfindet, ist Gülleentsorgung.
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Ich komme aus der Zülpicher Börde und kann Ihnen das ganz genau beschreiben. Nach der Ernte rollt ein Güllelaster nach dem anderen. Wenn Sie auf die Karte für das Grundwasser dort schauen, dann stellen Sie fest, dass sie voller roter Punkte ist. Gehen Sie einmal zu dem zuständigen Wasserversorger, einem ganz strammen CDU-Mann. Er sagt, dass das, was in der Landwirtschaft geschieht, so nicht weitergehen kann.
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Es ist völlig klar: Es geht nicht gegen einzelne Landwirte, sondern gegen Ihre Landwirtschaftspolitik, die am Ende die Bauern dazu zwingt, industrielle Landwirtschaft auf Kosten unserer Trinkwasservorräte zu betreiben. Das Ergebnis dieser Politik wird sein – nicht nur bei mir zu Hause, sondern überall –, dass wir investieren müssen, dass wir teure Wasseraufbereitungsanlagen kaufen müssen.
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Sie sorgen dafür, dass die Folgekosten Ihrer Landwirtschaftspolitik bei den Wasserverbrauchern abgeladen werden. Das kann nicht sein.
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Sie alle haben gesagt, die neue Düngeverordnung habe viel gebracht. Sie müssen sich nur die Pressemitteilung des BDEW – das ist nun wirklich keine grüne Vorfeldorganisation – anschauen. Dort wird in aller Klarheit gesagt, diese Verordnung bringe überhaupt nichts. Sie löst kein Problem. Sie verschlimmert das Problem am Ende in Teilen sogar. Professor Grethe, der in dieser Woche im Agrarausschuss war, hat das als Berater der Bundesregierung genauso bestätigt. Das heißt, Sie reden über das Problem, handeln aber seit Jahren nicht. Deshalb fordere ich Sie an dieser Stelle auf: Wenn das Urteil des EuGH einen Sinn haben soll, dann handeln Sie jetzt endlich. Packen Sie das Thema an! Sorgen Sie dafür, dass Nitrat und Gülle nicht mehr im bisherigen Ausmaß auf unsere Felder kommen! Packen Sie die Düngeverordnung an, und schaffen Sie Regelungen, die dafür sorgen, dass am Ende unser Grundwasser nicht mit Nitrat verseucht wird.
Ein ganz entscheidender Baustein dabei ist, dass wir uns am Ende für eine europäische Agrarpolitik einsetzen, bei der es Förderung nur dann gibt, wenn es eine gesellschaftliche Gegenleistung der Landwirtschaft gibt. Es kann nicht sein, dass wir Agrarbetriebe weiter subventionieren, die dafür sorgen, dass das Zeug am Ende in unserem Grund- und Trinkwasser landet. Deshalb brauchen wir eine neue Agrarpolitik. Wir brauchen eine Agrarwende, die dafür sorgt, dass das Nitrat nicht im Grundwasser landet, dass Umwelt- und Naturschutz im Zentrum stehen und dass hier nicht auf Kosten von Umwelt und nachfolgenden Generationen gehandelt wird.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Artur Auernhammer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe fast den Eindruck, dass diese Aktuelle Stunde beantragt worden ist, um wieder einmal die große Keule gegen die deutsche Landwirtschaft rauszuholen.
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Das möchte ich hier nicht durchgehen lassen. Wir haben ein Urteil vom Europäischen Gerichtshof bekommen – ja, das ist richtig. Wir müssen uns um unser Trinkwasser kümmern – ja, wir machen das auch. Ich möchte aber, wenn hier ständig gegen die Landwirtschaft gewettert wird, zur Klarstellung sagen – ein Kollege hat bereits darauf hingewiesen –: Gerade einmal 51 Prozent der deutschen Landesfläche werden von der Landwirtschaft in Form von Äckern, Grünland und Wiesen bewirtschaftet. Die restliche Fläche – Wald, Siedlungsflächen und dergleichen; dazu gehört auch die Stadt Berlin – wird nicht von der Landwirtschaft bewirtschaftet, und auch da erfolgt ein Eintrag ins Grundwasser. Das sollten wir bei der gesamten Diskussion bedenken.
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Die jetzt angesprochene neue Düngeverordnung, die wir in der letzten Legislaturperiode durch langes Ringen miteinander in ewigen Gesprächen ausdiskutiert haben, ist mittlerweile in Kraft; aber sie wirkt natürlich noch nicht. Das liegt in der Natur der Sache. Wenn wir hier im Deutschen Bundestag eine Verordnung beschließen, dann sind die Ergebnisse nicht sofort im Trinkwasser nachweisbar; denn sie muss erst einmal in der Praxis umgesetzt werden, und ich muss Ihnen leider sagen, dass die Umsetzung in der Praxis nicht so einfach ist, wie es sich hier vielleicht darstellt.
Gerade bei uns in Bayern merken wir, dass die hohen Auflagen zum Beispiel bei der Ausbringtechnik sehr große Belastungen für die kleinstrukturierten Betriebe mit sich bringen und dass sich jetzt viele Betriebe überlegen, lieber mit der Tierhaltung aufzuhören, als noch zu investieren. Ich habe mit Fällen zu tun, dass bei mir Bauern anrufen und sagen: „Bitte, komm mit der Technik des Maschinenrings, und bring die Gülle umweltfreundlich aus, damit ich diese Auflage erfülle“, wo wir dann, wenn wir vor Ort sind, nur sagen können: Dein Betrieb ist zu klein. Wir kommen mit der Technik gar nicht ran. – Wir befördern mit dieser Düngeverordnung den Strukturwandel, und das wollen wir doch auch nicht.
Ich habe in dieser Debatte oft gehört, wie die große Keule gegen die Tierhaltung geschwungen wurde. Schauen wir uns auf der Deutschlandkarte doch einmal an, wo Grundwasserkörper belastet sind. Das sind Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen.
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Ich möchte einmal ganz dezent die Frage stellen: Wer hat denn in diesen Ländern in der Vergangenheit die politische Verantwortung gehabt?
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Wer hat denn die Baugenehmigungen in diesen Ländern erteilt? Darüber sollte auch einmal nachgedacht werden.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will damit sagen: Wir haben in Deutschland kein Problem mit zu viel Wirtschaftsdünger; wir haben nur ein Problem mit der gerechten Verteilung im ganzen Land. Es geht doch darum: Wir wollen unsere Pflanzen ernähren. Wir wollen Pflanzen auch nutzen; wir wollen mit Pflanzen Tiere ernähren und auch uns selber. Der Grenzwert von 170 Kilo Stickstoff aus Wirtschaftsdüngern, den wir jetzt haben, ist sicherlich eine Maßgabe für ganz Deutschland. Aber im Einzelfall – blicken wir zum Beispiel in Intensivgrünlandregionen, wo der Niederschlag stimmt, wo fünf bis sechs Grünlandschnitte pro Jahr vorgenommen werden, etwa in den Alpenregionen – sind 170 Kilo Stickstoff aus Wirtschaftsdüngern viel zu wenig. Also muss hier mineralisch aufgedüngt werden. Wir verzichten auf den Einsatz unseres eigenen wirtschaftlich erzeugten Düngers und kaufen Mineraldünger aus dem Ausland zu. Das kann doch auch nicht Sinn und Zweck dieser Verordnung sein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ja, wir müssen neu nachdenken bei der anstehenden Diskussion zur europäischen Agrarpolitik. Aber ich bitte Sie: Denken wir darüber nach, wie wir mit unseren landwirtschaftlichen Betrieben, mit unseren Bäuerinnen und Bauern umgehen, wie wir unseren ländlichen Raum mit dieser neuen europäischen Agrarpolitik unterstützen und gestalten können! Das sollte im Vordergrund stehen und nicht einseitige Schuldzuweisungen an einen Berufsstand.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Rainer Spiering für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Aus gegebenem Anlass wende ich mich auch an das Publikum, in dem sich heute eine Schulklasse aus meiner Heimatstadt Osnabrück befindet: Ich freue mich total, dass ihr da seid!
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Die Schulklasse hat mich übrigens auch dazu gebracht, meine vorbereitete Rede zu ändern.
Ich habe es gestern Abend schon in einem Beitrag gesagt, und das ist mir ganz wichtig: Das, was wir hier tun, Demokratie leben, hat nur eine Währung, und die Währung heißt „Vertrauen“. Ich finde, um dieses Vertrauen sollten wir uns jetzt mal bemühen, und zwar sehr intensiv.
Lieber Artur, ich kann dich gut verstehen. Ich kann auch Frau Konrad in ihrer Betroffenheit verstehen. Aber ich glaube nicht, dass uns eine Betroffenheitsdiskussion weiterhilft, überhaupt nicht.
Ich habe hier eine Pressemeldung aus dem Hochsauerland, die mich auch sehr betroffen gemacht hat: Gülle-Tourismus gefährdet Böden. Es gibt hohe Nitratbelastungen in den Mastviehregionen. Deshalb gibt es zunehmend Transporte in andere Regionen, auch ins Sauerland. – Dann werden die Regionen aus Deutschland genannt, in denen der Wirtschaftsdünger produziert wird, nämlich das Münsterland und Weser-Ems. Wenn man ganz nüchtern an die Frage herangeht, dann kann man auch nachvollziehen, warum das so ist. Wir haben relativ hohe Tierbestände. Das heißt, unser Acker ist nicht dazu in der Lage, die Nahrung zu produzieren, die dieser Tierbestand braucht; also kaufen wir uns Nahrungsmittel zu. Das heißt, das Gleichgewicht zwischen Tierbestand und Nahrungsmittelaufnahme der Tiere ist nicht gegeben. Automatisch muss über die Prozesse im Tier mehr Wirtschaftsdünger entstehen, als die Region in sich aufnehmen kann. Das ist eine geschlossene Logik.
Jetzt ist die Frage aufgeworfen worden: Was machen wir mit dem Wirtschaftsdünger? Der Frage müssen wir uns stellen. Wir müssen uns vor allen Dingen auch der Frage stellen: Ist es richtig, dass wir für Regionen, die erzeugen, alle die gemeinsame Verantwortung übernehmen? Wenn ich Landwirtin aus Baden-Württemberg wäre, wo nur partiell die Nitratbelastung hoch ist, Kollegin Konrad, dann wäre ich vielleicht auch grantig.
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Aber es gibt doch in Deutschland eine wunderschöne Regelung, nämlich das Verursacherprinzip. Wenn wir uns dem Verursacherprinzip nähern und dem Produkt, das erzeugt worden ist, nämlich dem Wirtschaftsdünger, dann muss doch die Region, die das Problem erzeugt, das Problem auch lösen, wenn ich das einigermaßen richtig verstanden habe. Bei Automobilen: Wenn zu viel Stickoxid produziert wird, erwarte ich von dem Autobauer, dass er, um das Vertrauen zurückzugewinnen – –
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– Genau. Frau Konrad, ich komme noch dazu. Nicht so schnell! Ich bin ein bisschen älter.
Jetzt hat der Wirtschaftsdünger tatsächlich einen inneren Nährwert, und da sagt der Staatssekretär: Das müssen die anderen doch anerkennen. – Er sagt auch: Aber wir haben ein Problem. Wenn wir 100 Liter Gülle aufbringen, dann können wir die nicht zu 100 Prozent anrechnen. – Genau da liegt die Krux. Darauf würde ich vom Parlamentarischen Staatssekretär eine entsprechende Antwort erwarten.
Vielleicht ist das technisch tatsächlich machbar. Wir können mit moderner Technologie dafür sorgen, dass dem Wirtschaftsdünger die wässrige Phase entzogen wird und wir ein Trockensubstrat bekommen. Jetzt ist die Frage: Warum nehmen die Ackerbauern der Region, übrigens auch in Niedersachsen, diesen Wirtschaftsdünger nicht auf?
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Die Antwort ist nicht, dass die Mengendifferenz nicht passt, sondern – jetzt komme ich wieder zum Vertrauen –: Unsere Ackerbauern in Niedersachsen trauen der Gülleregion nicht. – Ich habe überhaupt nicht zu beurteilen, ob zu Recht oder zu Unrecht; ich habe nur festzustellen, dass sie es nicht tun.
Wenn man jetzt dazu überginge, daraus ein Trockensubstrat zu machen, dessen Bestandteile man definiert, dann wäre man in der Lage, aus dem Wirtschaftsdünger ein Gut zu machen, das Mineraldünger ersetzt. Dann wären wir an der absolut richtigen Stelle. Der Mineraldünger hinterlässt natürlich auch eine CO 2 -Spur, die gar nicht mal ohne ist. Aber dann wäre es doch eine Frage der technischen Intelligenz, dafür Sorge zu tragen, aus dem Wirtschaftsdünger einen Ersatz für den Mineraldünger zu machen. Dann kämen wir von der Belastung durch Nitrate weg, und man könnte einen zertifizierten Mineraldünger deutschlandweit verkaufen, ohne Unmengen an Fahrzeugen mit Unmengen an wässeriger Lösung auf die Straße zu bringen. So schwierig wäre das doch nicht, Herr Staatssekretär. Aber dann müsste man eine entsprechende Lösung anbieten.
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Dann kommt natürlich auch die Frage, wie man das finanziert. Herr Krischer, ich war dabei, als Herr Grethe gesprochen hat, Sie ja leider nicht. Aber es ist ja offensichtlich einfach, jemanden zu zitieren, auch wenn man selber gar nicht da war.
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Herr Grethe hat etwas ganz Ursächliches gesagt. Er hat gesagt: Wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie öffentliche Gelder verwendet werden. – Es geht um Steuermittel, und die Steuermittel würde ich zielgerichtet einsetzen, um eine Technologie voranzutreiben, die die Probleme lösen kann. Das wäre eine ordentliche deutsche Lösung.
Danke schön.
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Zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag hat nun der Abgeordnete Dr. Michael von Abercron für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Wenn wir heute im Zusammenhang mit einem EU-Gerichtsurteil über eine Stickstoffverbindung namens Nitrat reden, dann wird uns nicht so richtig klar sein, um welches wichtige Element es sich eigentlich handelt. Es handelt sich um Stickstoff. Stickstoff ist der Baustein für Protein, für unser Leben. Es hat eine ganz große Bedeutung im Bereich der Pflanzenernährung, es ist ein notwendiges Pflanzennährelement. Wir hatten so große Forscher wie Justus von Liebig – meine Kollegin hat es angesprochen –, der vor über 150 Jahren herausgefunden hat, dass die mineralische Ernährung der Pflanzen essenziell wichtig ist. Diese Entwicklung hat uns dazu gebracht, dass wir Hunger und Mangelernährung in Deutschland und in Europa fast vollständig überwinden konnten.
Die neue, moderne Landwirtschaft brachte seit Ende des letzten Jahrhunderts eine Konzentration, eine Spezialisierung mit sich, die dazu geführt hat, dass in der Tierhaltung Betriebe mit hohen Tierzahlen entstanden sind, und das leider im Zusammenhang mit Böden, die relativ leicht waren und bestimmte Mengen von Jauche bzw. Gülle schwer verdauen konnten. Zu der damaligen Zeit war man noch nicht in der Lage, so richtig einzuschätzen, was für eine Bedeutung das hat. Es hat ein bisschen gedauert, die Gülle als solche als einen Dünger und Nährstoff wahrzunehmen. Aber inzwischen ist man da auf einem sehr guten Wege, und man weiß ganz genau, was man an diesem Dünger hat.
Es haben sich dadurch aber Folgewirkungen ergeben, nämlich Überschüsse bei den Nitratkonzentrationen in den Oberflächengewässern und auch in den Grundwasserleitern. Dies hatte die Europäische Kommission gemerkt, weil es nicht nur in Deutschland so war, und so hat sie in den 90er-Jahren eine EU-Nitratrichtlinie erlassen. Alle Länder, die davon betroffen waren, haben mehr oder weniger versucht, sie einigermaßen umzusetzen.
Dann haben wir festgestellt – nach langem Hin und Her, auch mit großen politischen Schwierigkeiten –, dass eine neue Düngemittelgesetzgebung auf den Weg zu bringen ist. Sie ist seit 2017 in Kraft. Aber man fragt sich: Warum hat das eigentlich so lange gedauert? Wenn man mal genau überlegt, dann merkt man, dass es – neben den ganzen politischen Streitereien – auch viel Arbeit war; denn die Düngung von Kulturpflanzen ist nun mal keine Kleinigkeit. Es geht um Erträge, es geht um Qualität, auch für die Landwirtschaft. Es geht aber auch um die Frage der Stickstoffdynamik im Boden. Die Stickstoffdynamik im Boden lässt sich nun mal schwer in Gesetze pressen, weil man nicht genau weiß, wie es sich unter bestimmten Faktoren verhält. Und, meine sehr geehrten Damen und Herren, die Kulturpflanzen selbst haben ganz unterschiedliche Ansprüche.
Insofern war es keine leichte Aufgabe. Herausgekommen ist ein Exponat, das, wie wir alle wissen, auch für den Landwirt relativ schwierig zu lesen ist und einen erheblichen Bürokratieaufwand mit sich bringt. Aber die Nitratproblematik – das hat ein Kollege auf der linken Seite richtig beschrieben – ist natürlich nicht nur eine Frage der Landwirtschaft selber; auch Industrie, Besiedlung und Verkehr leisten einen erheblichen Beitrag dazu.
Haben wir uns eigentlich mal genau überlegt, was in unseren Abwasseranlagen passiert? Funktionieren eigentlich alle Kläranlagen ordentlich? Was passiert bei den dauernden Überschwemmungen in den letzten Jahren, die wir erlebt haben, in den Kläranlagen? Was ist mit der Dichtigkeit? Wir haben durch die EU-Wasserrahmenrichtlinie die Vorgabe, Dichtigkeitsprüfungen durchzuführen. Das kommt nicht von ungefähr, weil wir ahnen, dass ein ganz großer Teil der Hauskläranlagen nicht in Ordnung ist. Wo bleibt das alles? 80 Millionen Menschen verursachen genau die gleichen Probleme wie 21 Millionen Hausschweine. Auch die Menschen scheiden etwas aus, was vom Grundsatz her zur gleichen Belastung führt. Insofern ist es ein dringender Auftrag, nicht nur über die Landwirtschaft zu sprechen, sondern auch über diesen Bereich. Davon möchte ich Sie gerne überzeugen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Die angesprochene Klage bezieht sich aber nicht auf die Düngemittelverordnung von 2017, sondern auf deren Stand von 2006. In der Zwischenzeit ist aber viel passiert. Ich habe Zahlen aus dem Nitratbericht 2016 vorliegen. Darin ist zu lesen, dass unser Zielwert von 50 Milligramm Nitrat pro Liter bei oberirdischen Gewässern fast komplett eingehalten wurde. An rund 89 Prozent der Messstellen an Fließgewässern und etwa 72 Prozent der Seen ist ein abnehmender Trend bei den Nitratbelastungen erkennbar. Beim Grundwasser ist es etwas schwieriger. Dort wurde der Grenzwert von 50 Milligramm immerhin noch bei 72 Prozent der Messstellen erreicht. Wenn man sich allerdings die Berechnungsgrundlage anschaut, stellt man fest, dass sie etwas anders ist: In dem Moment, wo ein Grundwasserradar den Grenzwert von 50 Milligramm übersteigt, ist dies nämlich ein Fehlwert, der als Überschreitungswert berechnet wird. Das muss man wissen, wenn man sich über diese Dinge unterhält.
Was soll eigentlich diese Aktuelle Stunde, nachdem wir wissen, liebe Grüne, dass sich die Lage verbessert? Sie sind sich doch darüber im Klaren, dass eine N-Dynamik an der Stelle nicht so schnell zu messen ist, schon gar nicht nach einem Jahr. Wollen Sie wirklich nur wieder die übliche Diskussion führen und die Landwirte als Umweltsünder an den Pranger stellen? Ich hoffe, nicht.
Wir sind der Meinung, dass wir Taten folgen lassen müssen, und zwar: die Umsetzung der Düngeverordnung so schnell wie möglich umsetzen, die Beratung der Landwirtschaft intensivieren und die Gülleverteilverfahren verbessern. Ich sage ganz ausdrücklich: Es ist unmöglich, dass immer noch Prallteller durch die Gegend fahren, die einen erheblichen Verlust an Stickstoff und eine völlig ungenaue Verteilung von Ammonium bedeuten. Das Ganze entweicht in die Luft. Das muss verschwinden, und dafür müssen wir Programme auflegen, meine Damen und Herren.
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Kollege Abercron, auch wenn es Ihre erste Rede ist, müssen Sie jetzt bitte zum Schluss kommen.
Ich beeile mich. – Programme zur Erreichung von Güllebanken sind ebenso wichtig wie Lagerkapazitäten.
Ich möchte einen letzten Satz sagen: Das Bemühen muss sein, die Stickstoffdüngung so zu erhalten, dass wir Qualität erzeugen. Es darf nicht kommen wie in Dänemark, dass wir so strenge Regeln haben, dass wir keinen Qualitätsweizen mehr erzeugen können. Das darf nicht das Ende unserer Landwirtschaft sein.
Herzlichen Dank.
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Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Kees de Vries für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch auf den Tribünen! Ja, wir haben in Deutschland leider hier und da zu hohe Nitratwerte im Grundwasser. Dafür gibt es viele Ursachen. Manche kann man kaum beeinflussen, andere kann man angehen und optimieren. Und mit Blick auf die zu optimierenden Dinge sind wir gar nicht so weit auseinander, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Die Frage ist immer das Wie. Ich möchte Sie einladen, gemeinsam mit uns ans Ziel zu kommen und dabei immer das Ganze im Blick zu haben: Natur, Umwelt und Landwirtschaft.
Zwei Fakten stehen sich hier gegenüber. Bei 25 Prozent der Messstellen werden die Grenzwerte von Nitrat überschritten – wohlgemerkt: 25 Prozent der Messstellen in sensiblen Gebieten, was andersrum heißt: In 75 Prozent der Fälle, wo man Probleme erwarten könnte, haben wir keine.
Andererseits verbessert sich in vielen Regionen Deutschlands, wie zum Beispiel in meinem Wahlkreis Anhalt, von Jahr zu Jahr die Wasserqualität. Wie kommt das? Ich denke, wir sind uns einig, dass wir es bei dieser Problematik immer mit einer Langzeitwirkung zu tun haben. Die Auswirkungen von Fehlern, die wir jetzt machen, sehen wir in 20 bis 30 Jahren. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass das, was wir jetzt sehen, vor 20 bis 30 Jahren entstanden ist. In diesen gleichen 20 bis 30 Jahren haben wir die Düngepraxis regelmäßig an neue wissenschaftliche Erkenntnisse angepasst. Deshalb, Herr Staatssekretär, sehen wir erst jetzt Verbesserungen, und die werden sich auch durchsetzen. Dafür brauchen wir nicht einmal ein schärferes Düngegesetz. Trotzdem: Einiges ist zu optimieren.
Ich möchte auf eine der möglichen Ursachen der Nitratbelastung eingehen. Ja, es ist so, dass zu hohe regionale Tierbestände die Ursache dafür sein können. Die gerne kolportierte Lösung ist dann: Abbau der Tierbestände. Aber mit durchschnittlich 1,38 Großvieheinheiten pro Hektar bundesweit liegt Deutschland deutlich unter der EU-Verordnung zum ökologischen Landbau von 2 Großvieheinheiten pro Hektar.
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Damit ist eindeutig klar, dass wir in Deutschland nicht zu viele Tiere halten; aber der Viehbestand ist ungünstig verteilt, und wo besonders viele Tiere gehalten werden, werden die entsprechenden Grenzwerte eben auch manchmal, aber nicht überall überschritten. Herr Krischer, leider hat Ihre viel zu emotional geführte Diskussion mit Halbwahrheiten und glatten Lügen
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dazu geführt, dass wir auch da, wo wir mehr Tierhaltung brauchen, immer mehr Probleme haben, neue Ställe zu bauen, ohne grundlosen Protesten zu begegnen.
Die heutige Diskussion stellt meiner Meinung nach eines klar: Wir brauchen in Deutschland eine bessere Verteilung der Tiere. Wenn wir es tatsächlich schaffen würden, zu einer optimalen Verteilung der Tierhaltung und damit der organischen Düngemittel in Deutschland zu kommen – ein Umstand, der übrigens eins zu eins für Europa zutrifft –, hätten wir überall in Deutschland gesündere Böden und damit insgesamt weniger Stickstoffbedarf. Dies kann nur dazu führen, dass wir weniger Emissionen haben werden, sowohl in der Luft als auch im Grundwasser. Das nenne ich eine echte Win-win-Situation:
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gut für die Umwelt und gut für das Portemonnaie der Landwirte. Wir sollten klären, ob eine Flächenbindung der Tierhaltung mehrheitsfähig ist
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und wie diese ausgestaltet werden kann.
Ich lade Sie ein, hier gemeinsam mit uns anzusetzen, um die Akzeptanz der modernen Landwirtschaft in der Gesellschaft zu bewahren und das Vertrauen in die Arbeit der Bäuerinnen und Bauern in Deutschland zu stärken. Eines muss ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, noch mitgeben: Ein solcher Prozess kann nur auf sachlicher und fachlicher Ebene gelingen, ohne Emotionen und ohne das Schüren von Ängsten. Packen wir es an!
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Vielen Dank, Kollege Kees de Vries. – Schönen Nachmittag von mir, liebe Kolleginnen und Kollegen. Damit schließe ich die Aktuelle Stunde. Sie ist mit dem letzten Redner beendet.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unsere Ministerin Anja Karliczek hat vor kurzem den Bericht „Bildung in Deutschland 2018“ vorgestellt. Im Bericht wird festgestellt, dass zum fünften Mal in Folge über eine halbe Million junge Menschen ein Studium begannen, sich also in eine Hochschulausbildung begeben haben. Auch wenn man berücksichtigt, dass es sich hierbei um die Geburtsjahrgänge von etwa 1997 bis 2001 handelt und wir in diesen Jahrgängen durchschnittlich etwa 750 000 Geburten hatten, kann man natürlich nicht sagen: 750 000 minus 500 000, dann bleiben noch 250 000 für die anderen Ausbildungsformen übrig. – Natürlich kommen diverse Studenten aus dem Ausland, andere gehen zum Studium ins Ausland; außerdem sind die doppelten Abiturjahrgänge, die durch die sogenannte G-8-Reform entstanden sind, zu berücksichtigen, und eine Reihe von Leuten haben den zweiten und dritten Bildungsweg begonnen. Gleichwohl beginnt, gemessen an unserer Bevölkerungszahl, eine enorme Anzahl Menschen eine akademische Ausbildung.
Demgegenüber stehen – so sagt es zum Beispiel der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks – insgesamt 15 000 unbesetzte Stellen im Handwerksbereich. Das ist eine alarmierende Zahl; denn auch Akademiker brauchen, wenn sie dann im Leben stehen, Handwerker. Sie brauchen Bäcker. Sie brauchen Elektriker, sie brauchen Menschen, die die Infrastruktur in Gang halten usw.
Deshalb ist es dringend erforderlich, dass wir dieser langjährigen Tendenz einmal eine Untersuchung entgegensetzen, die aufzeigt, was wir tun können, um diesem Mangel an Bewerbern in den Ausbildungsberufen langfristig zu begegnen und diese Entwicklung zum Guten zu wenden. Das ist das Ziel.
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Weil durch den politischen Mikrokosmos allein über viele Jahre keine Verbesserungen erzielt wurden, sind wir auf die Idee gekommen, dass es das Beste wäre, eine Enquete-Kommission einzusetzen, die ja die Eigenschaft hat, dass man alle Bereiche und politischen Strömungen mitnehmen und sich vor allem auch des Sachverstandes von außen bedienen kann.
Aus diesem Grund legen wir heute einen gemeinsamen Antrag der genannten Parteien vor. Ich bedaure, dass die beiden anderen noch nicht dabei sind. Sie können sich das ja noch überlegen. Es geht erst einmal nur darum, beim Einsetzungsantrag dabei zu sein, das heißt, das ganze Projekt mitzutragen.
Wir haben also einen Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ vorgelegt. Mit diesem Titel drücken wir aus, dass sich in der beruflichen Bildung noch etwas ganz Wesentliches geändert hat. Der Lehrling der Vergangenheit mit Zollstock und Schraubenzieher ist nicht mehr das Typische. Vielmehr müssen wir feststellen, dass sich im beruflichen Bereich die Anforderungen an die Auszubildenden dramatisch verändert haben, dass wir hochqualifizierte Leute brauchen, die mit der digitalen Arbeitswelt umgehen können. Das erfordert nach unserer Auffassung weiter gehende Überlegungen, wie die Rahmenbedingungen und Zielvorstellungen geändert werden müssen.
Insbesondere kommt es uns darauf an, die Attraktivität der beruflichen Ausbildung zu erhöhen, das heißt klarzumachen, dass berufliche Ausbildung und akademische Ausbildung gleichwertige Biografien nach sich ziehen, die dieselbe Achtung und Wertschätzung in der Gesellschaft und außerdem die gleichen Entfaltungschancen verdienen.
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Es ist natürlich auch notwendig, gemeinsam zu überlegen, welche Voraussetzungen die Berufsschulen vorhalten müssen und welche Rahmenbedingungen die ausbildenden Betriebe beachten müssen, um mehr und attraktivere Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen zu können.
Ich denke, wir machen heute einen guten Anfang, indem wir diesen Beschluss gemeinsam fassen und dann erfolgreich arbeiten. Wenn wir am Ende eine vernünftige Argumentationsgrundlage und eine vernünftige Faktengrundlage für die weiteren politischen Entscheidungen zustande bringen, dann haben wir unsere Hausaufgaben gemacht. Ansonsten waren die Bemühungen sinnlos. Das glaube ich aber nicht; denn wir sind ja alle voller Optimismus.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Vaatz. – Nächster Redner für die AfD-Fraktion: Jörn König.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuseher auf den Tribünen und an den Fernsehbildschirmen! Vielen Dank, Herr Vaatz, für diese Rede. Das passt ja wie die Faust aufs Auge. Die AfD-Fraktion wird dem Antrag zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ zustimmen.
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Wir erwarten allerdings – jetzt kommt es –, dass die geplante Kommission Bodenhaftung behält und die betriebliche Realität des Mittelstandes in den Mittelpunkt stellt.
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Der Mittelstand braucht keine abgehobenen Konzepte, sondern digitale Hilfestellungen im Alltag. Wir unterstützen dies auch mit der Hoffnung, dass das deutsche System der dualen Bildung weiter gestärkt wird. Die OECD hat diese besondere Berufsausbildung bis heute noch nicht vollständig begriffen. Von dort kommt nämlich immer die Aufforderung, immer noch mehr zu akademisieren. Sie haben die Zahlen genannt: 500 000 von 750 000 Personen studieren inzwischen. Uns ist aber ein zupackender, kompetenter Handwerker lieber als ein weiterer Schreibtischtheoretiker.
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Die deutsche duale Berufsausbildung wird oft kopiert, aber Gott sei Dank so gut wie nie erreicht. Die deutsche Wirtschaft hat ein klares Profil: Wir sind besonders gut darin, Investitionsgüter herzustellen, die andere Partner dazu nutzen, um Produkte für den Massenmarkt zu produzieren. Wir stellen die Maschinen her, mit denen in Fernost die Chipfertigung stattfindet, wir sind gut in der Logistik, wie SAP und auch unsere Spezialisierung innerhalb der NATO zeigen. Wir verstehen und strukturieren besonders gut Geschäftsprozesse und -modelle. Wir müssen daher die jungen Leute fit machen für das Verstehen und Erleben der Geschäftsprozesse und für die Optimierung der Prozesse mittels der Digitalisierung, also zum Beispiel durch Programmieren lernen in einem sehr spezifischen Geschäftsumfeld. Der Idealfall: Ein Küchenbauer, der alle Fallstricke kennt, etwa die Elektroanschlüsse, lernt in einer Berufsausbildung auch das Programmieren, um a) eine Raumplanung, b) eine Arbeitsplanung erstellen zu können und c) gleich die notwendigen Bestellungen auslösen zu können. Mindestens sollte er die Ergebnisse entsprechender Softwareprogramme auf Plausibilität prüfen können. Quelloffene Software, Open Source genannt, muss dabei bevorzugt werden, damit wir uns als Deutschland die digitale Souveränität zurückholen können. Diese Kombination von traditionellen Fertigkeiten, von Bodenständigkeit mit den Optimierungsmöglichkeiten der Digitalisierung ist für Deutschland eine Riesenchance. Nutzen wir sie gemeinsam!
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Liebe Kollegen, was Digitalisierung nicht unbedingt ist, ist das plakative Ausstatten der Schulen mit Tablets, WLAN und Smartphones. Das ist oft zum Fenster hinausgeworfenes Geld. Bei uns in Hannover sind sogar die Turnhallen mit WLAN ausgestattet worden. Ich frage immer noch nach der Anwendung.
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Manchmal allerdings erlaubt der digitale Fortschritt auch völlig neue Geschäftsmodelle. Das sind dann disruptive Innovationen. Hier brauchen wir absolut dringend einen Bürokratieabbau.
Liebe Kollegen, Ihre Parlakom-Laptops wurden von Hewlett Packard geliefert. William Hewlett und David Packard gründeten mit 500 Dollar das Unternehmen HP in einer Garage. Das wäre im Deutschland von heute nicht möglich gewesen.
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Eben wegen der „Garage“. Die wäre wegen bürokratischer Auflagen nicht möglich gewesen. So etwas ist hier nicht zugelassen.
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Tja, wieder eine Chance vertan. Wirtschaftliche Freiheit ist in diesem Fall im Hochtechnologiebereich das Einzige, was zählt. Mit diesen Hoffnungen stimmen wir der Einsetzung der Enquete-Kommission zu.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Danke schön. – Nächster Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten: Dr. Karl Lauterbach.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst ist festzustellen: Die Ausbildung muss reformiert werden, das Studium muss reformiert werden, wir müssen die Produktion reformieren. Wir stehen vor dem größten Umbruch unserer Arbeitswelt seit Jahrzehnten. Das wird die Arbeitswelt nicht nur in Deutschland massiv verändern.
Dieser Umbruch ist seit Jahren wissenschaftlich vorbereitet, aber er wird erst langsam fühlbar. In ersten Studien dazu von Brynjolfsson und McAfee oder von Osborne und Frey ist man zunächst davon ausgegangen, dass die Hälfte der Berufe schlicht wegfällt. Wir wissen heute, dass das wahrscheinlich nicht passieren wird.
Es gibt drei Auswirkungen, die wir unterscheiden müssen. Das ist auch die Aufgabe der Kommission, die wir einsetzen.
Zum einen wird es Berufe geben, die tatsächlich wegfallen. Sie werden durch Maschinen und Dienstleistungsprogramme ersetzt. Die wird es nicht mehr geben. Das ZEW in Mannheim geht davon aus, dass das etwa 5 Millionen Beschäftigte in Deutschland betreffen wird.
Ein zweiter Punkt ist der, dass sich existierende Berufe dahin gehend verändern, dass man weniger qualifiziert sein muss als heute, um diese Berufe ausüben zu können, weil künstliche Intelligenz, Robotik oder andere Hilfestellungen, die aus der Digitalisierung kommen, das Anforderungsprofil absenken. Das heißt, diese Berufe werden schlechter bezahlt werden, und sie werden auch leichter ersetzbar sein, zum Beispiel in anderen Ländern. Da geht uns ein Vorteil verloren, den wir immer gehabt haben. Unser Mittelstand – das hat der Kollege von der AfD ja auch ausgeführt – ist darauf besonders schlecht vorbereitet.
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Wir haben zum jetzigen Zeitpunkt auf der Grundlage der Einschätzung von Wissenschaftlern sehr wenige mittelständische Firmen, die das System der sogenannten Smart Factory umsetzen. Das hängt an vielen Schnittstellen, aber es ist tatsächlich so – das sagen Experten –, dass wir nicht so gut vorbereitet sind, wie wir es sein müssten.
Die dritte Auswirkung ist: Es werden ganz neue Möglichkeiten an Berufen und auch Geschäftsfeldern entstehen. Sie entstehen durch den Umbau selbst. Derjenige, der die Maschinen, die Intelligenz, die Netze und die Dienstleistungsplattformen aufbaut, die diesen Wandel anderswo möglich machen, wird das exportieren können. Das ist für uns eine große Chance.
Wenn man das alles zusammenfügen will, muss man auf allen Ebenen arbeiten. Wir brauchen so etwas wie einen „Masterplan künstliche Intelligenz“, wir brauchen die Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“, aber wir brauchen auch eine Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz und berufliche Bildung“; denn zum jetzigen Zeitpunkt werden die Grundlagen der Programmierung von Maschinen in fast keinem Ausbildungsberuf vermittelt, auch in vielen großen Unternehmen nicht. Es gibt nur wenige, die das bisher machen. Auch die Berufsschullehrer sind wenig auf diese Form der Ausbildung vorbereitet.
Sie können mir glauben, dass ich mir selbst vor Ort ein Bild machen konnte. Bei mir im Wahlkreis gibt es große Unternehmen, beispielsweise in der Pharma- und in der Chemieindustrie, die sofort einräumen würden, dass sie noch einen Weg zu gehen haben. Für diesen Weg braucht man unsere Unterstützung. Wir müssen diese Bereiche durch Forschungsförderung, aber auch durch konzertierte Vorgaben, wie wir die Umstellung schaffen, vorbereiten. Dafür brauchen wir tatsächlich die beiden wichtigen Enquete-Kommissionen und auch die Arbeit des Ministeriums. Ich freue mich daher ganz besonders – wenn ich das richtig einschätze –, dass zum Schluss alle Fraktionen hinter der Einsetzung der Enquete-Kommission stehen. Das würde mich zumindest sehr erfreuen. Das wird eine wichtige Arbeit sein, auf die ich mich persönlich auch freue.
Ich danke Ihnen sehr für die vorzügliche Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, lieber Karl Lauterbach. Ich danke für die fast vorzügliche Einhaltung der Redezeit. Heute wird nämlich streng darauf geachtet, sonst tagen wir bis morgen früh.
Nächster Redner: Dr. Jens Brandenburg für die FDP-Fraktion.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. Damit bin ich schon einmal vorgewarnt. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über eine Stärkung der beruflichen Bildung, über das gemeinsame Ziel, mehr junge Menschen in die berufliche Aus- und Weiterbildung zu bringen. Warum denn eigentlich? Zum Ersten, weil junge Menschen sehr unterschiedliche Wünsche, Ziele und Talente haben, manche eher theoretisch, andere sehr praktisch veranlagt. Wir wollen jedem die weltbeste Bildung mit auf den Weg geben. Zum Zweiten, weil wir auch in Zukunft, gerade im Zeitalter der Digitalisierung, gute Fachkräfte brauchen, die theoretische Innovationen in praktische Anwendungen, Produkte und Dienstleistungen übersetzen können. Sie können einem Akademiker durchaus die weltbeste CNC-Fräse oder einen 3-D-Drucker vor die Nase setzen; aber er wird ohne entsprechende Vorqualifikation Probleme haben, daraus einfach Flugzeugteile oder gar eine Hüftprothese herzustellen. Deshalb wollen wir die berufliche Bildung stärken.
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Die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung darf keine leere Floskel sein. Der Deutsche Qualifikationsrahmen, der DQR, setzt ja zu Recht den beruflichen Meister und den akademischen Bachelor auf ein Qualifikationsniveau, weil die Anforderungen sehr vergleichbar sind. Es geht um eigenständiges Arbeiten, um sehr komplexe Problemlagen und Aufgaben, die sich im Laufe der Zeit sehr schnell verändern. Gerade in der beruflichen Bildung sind die Anforderungen in der Praxis sehr hoch. Denken wir an die Konzentrationsfähigkeit. Ich bin selbst Akademiker und weiß, man kann durchaus den einen oder anderen Flüchtigkeitsfehler in einer akademischen Analyse später korrigieren. Das geht in der beruflichen Praxis häufig nicht. Denken Sie an Pflegekräfte, die Medikamente an Patienten austeilen, an einen Schreiner, der direkt an der Maschine arbeitet, oder auch an einen Gasleitungsinstallateur.
All diese Anforderungen spiegeln sich Gott sei Dank zunehmend im Gehaltsniveau wider. Das Einstiegsgehalt eines Tischlermeisters beispielsweise ist durchschnittlich auf dem Niveau des Einstiegsgehalts eines Bachelors der Geschichtswissenschaften. Dennoch drängen wir zunehmend junge Menschen in die Hochschulen. Das hat verschiedene Gründe: gesellschaftliche Vorurteile, die Kommunikation an Schulen, die Berufsorientierung, aber eben auch, was wir als Politik vorleben. Frau Ministerin, Ihr Haus möchte 2,2 Milliarden Euro allein in den Hochschulpakt investieren. So weit, so gut, aber gerade einmal etwa ein Drittel dieser Summe ist Ihrem Haus die Qualität der beruflichen Bildung wert. Im Hochschulbereich haben wir eine etablierte Exzellenzinitiative als Innovationsmotor, als Wettbewerb um die besten Ideen. Etwas Vergleichsbares in ähnlicher Größenordnung – Frau Fahimi, wir haben ja gestern darüber gesprochen – gibt es im Bereich der beruflichen Bildung überhaupt nicht.
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Erasmus+ steht formal allen offen; aber so etwas wie den DAAD, eine solche Austauschagentur, kennen wir in der beruflichen Bildung nicht. Wer einen akademischen Bachelor anstrebt, studiert in aller Regel gebührenfrei, anders derjenige, der den Meister in der beruflichen Bildung macht. Zur Begabtenförderung gibt es umfangreiche Systeme im Hochschulbereich, aber kaum etwas in der beruflichen Bildung. Selbst im öffentlichen Dienst kommen Sie als Einsteiger – trotz vergleichbarer Qualifikation – nur dann in die höheren Entgelt- und Besoldungsgruppen, wenn Sie einen formalen Hochschulabschluss mitbringen. Wer von Gleichwertigkeit redet, muss den Worten endlich Taten folgen lassen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns die Enquete-Kommission – ich hoffe, dass wir sie gleich einmütig hier beschließen – nicht als Feigenblatt nutzen, auf dass in drei Jahren einfach ein paar wohlklingende Worte beschlossen werden, sondern als mutigen Schritt nach vorne für ein wirkliches Update der beruflichen Bildung. Das sind wir all den jungen und älteren Menschen in der beruflichen Aus- und Weiterbildung schuldig.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Brandenburg. – Nächste Rednerin: Birke Bull-Bischoff für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Damen und Herren! Für Die Linke ist bei der Arbeit der Enquete-Kommission vor allen Dingen eines wichtig: Wir wollen, dass die Abhängigkeit von beruflicher Bildung und sozialem Status entkoppelt wird.
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Leistung muss sich lohnen, und nicht soziale oder kulturelle Herkunft.
Das heißt aus der Perspektive junger Menschen: Berufliche Bildung ist wichtig für ein selbstbestimmtes Leben in Würde. Bildung ist gewissermaßen der Rohstoff in einer Wissensgesellschaft. Aus der Perspektive der Arbeitsgesellschaft heißt das selbstverständlich auch: Wir brauchen qualifizierte, gut ausgebildete Fachkräfte.
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Dabei geht es um junge Leute, die neben ihrer fachlichen Ausbildung auch einen Blick dafür haben, wie nachhaltig unsere Gesellschaft sich entwickelt, die Mut haben zu Kreativität, die auch Mut zum Widerspruch haben, die ein Gefühl für den sozialen Zusammenhalt und für all die Entwicklungslinien haben, die unsere Gesellschaft ausmachen.
Ich möchte trotzdem gern einen Punkt betonen, und zwar die Situation von jungen Menschen, die mit wenig Erfolg die Schule verlassen, deren Eltern beispielsweise von Hartz IV leben bzw. leben müssen, die in ihrer Bildungsbiografie schon vielfältiges Scheitern ertragen mussten und Benachteiligungen erfahren haben. Denn ich denke, unser Anspruch muss sein, sie zu unterstützen und ihnen den Spaß an eigener Entwicklung, Motivation und Anreiz zurückzugeben.
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Wir müssen alles versuchen, um ihnen den Zugang, vor allem aber den Erfolg im dualen System zu ermöglichen.
Was heißt das für die Arbeit in der Enquete-Kommission? Das heißt, es muss gefragt werden: Wie kann Erfolg gelingen? Welche Unterstützungssysteme sind lediglich Warteschleifen oder Sackgassen, und welche machen Sinn? Es muss aber auch gefragt werden: Welche Anreize und welche sozialen Sicherungen sind für diese jungen Menschen nötig?
Hinzu kommt die Digitalisierung der Arbeitswelt; sie ist ja ein ganz zentraler Bestandteil der Arbeit der Enquete, deren Einsetzung wir gleich hoffentlich beschließen. Diese Entwicklung ist mit Blick auf diese jungen Menschen eine ganz besondere Herausforderung, weil die helfenden und die Fachberufe – so sagen es zumindest Experten – langfristig sehr stark gefährdet sind. Experten sprechen von 50 Prozent, die wegfallen und durch digitale Angebote in der Arbeitswelt ersetzt werden. Daraus folgen die Fragen: Was haben wir diesen jungen Menschen in der beruflichen Bildung zu bieten? Welche Perspektiven haben wir für diese jungen Menschen in der digitalisierten Arbeitswelt? Welche Unterstützungsmaßnahmen brauchen wir, um digitale Spaltung zu verhindern oder wenigstens abzubauen?
Wir können auf niemanden verzichten, meine Damen und Herren. Wir brauchen kluge Köpfe, auch diejenigen, die bereits wegen ihrer sozialen Herkunft ausgebremst wurden.
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Wir wollen auch auf niemanden verzichten. Denn am Ende ist das eine grundsätzliche Frage, nämlich eine Frage des sozialen Zusammenhalts.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Bull-Bischoff. – Nächste Rednerin: Margit Stumpp für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Endlich – „endlich“ ist man geneigt zu sagen – wird das Thema „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ auch hier im Bundestag angegangen, spät zwar – und ob eine Enquete die geeignete Form ist, darüber ließe sich trefflich streiten –, aber immerhin.
Liest man den Einsetzungsantrag, kehrt allerdings schnell Ernüchterung ein. Zu Beginn wird von Innovationspotenzialen sowie von Beschäftigungs- und Teilhabechancen jedes Einzelnen gesprochen, gar von der dynamischsten Innovationsphase unserer Geschichte. Gespannt liest man den Auftrag, den die Koalition aus dieser Beschreibung ableitet. Von der Sicherung des Fachkräftebedarfs ist die Rede und von einer klaren Strategie für die Weiterentwicklung der beruflichen Bildung, auch von Gleichwertigkeit zur akademischen Bildung – alles Themen, die unstrittig sind. Darum dreht sich die Diskussion seit Jahren.
Sehr geehrte Ministerin Karliczek, die Weiterentwicklung von Ausbildungsinhalten und -methoden ist ständiges Thema in den Kommissionen und an den beruflichen Schulen. Herr Lauterbach, aus meiner langjährigen Erfahrung als Berufsschullehrerin sage ich: Die Schulen sind da deutlich weiter, als Sie es beschrieben haben. Allein, das kostet die Träger eine ganze Menge Geld. Auch Weiterbildung ist dort längst angekommen. Denn die Frage: „Wie verändert sich das Verhältnis von Erstausbildung und beruflicher Weiterbildung?“, mit der sich die Enquete beschäftigen soll, ist leicht zu beantworten: Eine Erstausbildung dauert in der Regel 3 oder auch einmal 3,5 Jahre, ein Berufsleben rund 40 oder 45 Jahre. Oft beginnt die Weiterbildung schon in der Erstausbildung. Das zeitliche Verhältnis ist also rund 1 : 15. Da ist es doch augenfällig, dass man sich dringend mit der Frage beschäftigen muss, wie Methoden und Strukturen der Weiterbildung als Teil und Notwendigkeit des lebenslangen Lernens aussehen sollen.
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Leider haben Sie unsere Vorschläge dazu nicht aufgegriffen. Der Begriff „Weiterbildung“ ist zwar angekommen, wurde aber nicht substanziell mit Aufträgen hinterlegt.
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Dieses Versäumnis wiegt umso schwerer angesichts der Tatsache, dass – so der nationale Bildungsbericht – die sozialen Unterschiede im Bildungsbereich unverändert stark ausgeprägt sind. Gerade Weiterbildung kann die Schwächen von Menschen ohne Schulabschluss und/oder ohne Erstausbildung kompensieren.
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Benachteiligte Gruppen können, auch mithilfe der Digitalisierung, nachqualifiziert werden. Dafür sind geeignete Maßnahmen und übersichtliche Strukturen längst überfällig. Eine Koordination ist dringend notwendig. Dazu aber steht in der Aufgabenplanung: nichts!
Noch ein Befund aus dem nationalen Bildungsbericht: Die Einkommensunterschiede von Männern und Frauen nehmen mit steigendem Einkommen zu; verschärft wird die Einkommensdifferenz aber auch durch die geschlechtsspezifische Berufswahl.
Trotz dieser – im Übrigen alten, aber dennoch nicht weniger signifikanten – Erkenntnisse wollen Sie das Thema Geschlechtergerechtigkeit nicht einmal im Hinblick auf den Fachkräftemangel in MINT-Berufen angehen. Andererseits kündigt die Ministerin an, im MINT-Bereich 50 Millionen Euro investieren und insbesondere in Sachen Berufswahl die Mädchen und jungen Frauen als brachliegendes Potenzial in den Blick nehmen zu wollen. Darum bemüht sich die Industrie seit Jahren – leider überwiegend vergeblich.
Mich selbst verfolgt das Thema seit meinem Ingenieursstudium. Es mangelt ja nicht an guten Untersuchungen und Studien – allein, es fehlt an der Umsetzung. Vor diesem Hintergrund ist es ein geradezu sträfliches Versäumnis, das Thema „Frau und Technik“ – so nenne ich es einmal plakativ – in einer Enquete zur beruflichen Bildung auszusparen.
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„Geschlechtergerechtigkeit“ unter „Diskriminierung“ zu subsumieren, trifft das Problem nicht. Thema verfehlt!
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Insgesamt sollen in dieser Enquete Fragen behandelt werden, deren Beantwortung dringend – um nicht zu sagen: überfällig – ist. Deswegen halten wir es für sinnvoll und geboten, Zwischenberichte zu veröffentlichen, um aus den Empfehlungen parlamentarische Initiativen oder gar Regierungshandeln ableiten zu können. Denn, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, das Thema „Reform der beruflichen Bildung“ liegt schon viel zu lange brach.
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Noch drei Jahre – oder angesichts des besorgniserregenden Zustands der Regierung vielleicht besser: eventuell noch drei Jahre – zu warten, bis dann die nächste Regierung vielleicht Empfehlungen aufgreift, das können und sollten wir uns im Hinblick auf den schnellen Wandel der Berufsprofile nicht leisten.
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Doch auch diese Forderung wurde nicht übernommen. Angesichts des Flickwerks von Ankündigungen der Koalition nährt dies den Verdacht: Es gibt kein Konzept. – Und wenn ich nicht mehr weiterweiß, dann gründe ich ‘nen Arbeitskreis.
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, im Koalitionsvertrag ist vom „Chancenland“ die Rede. Diese Enquete hätte im Hinblick auf die Chancen vieler Menschen durch die berufliche Aus- und Weiterbildung tatsächlich einen Mehrwert bieten können. Wer aber wichtige Themen wie Fortbildung, lebenslanges Lernen oder die Integration benachteiligter Gruppen weitgehend ausblendet, hat diese Chance verschenkt.
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Der konkreten Arbeit an diesem wichtigen Thema verschließen wir uns selbstverständlich nicht, aber diesem völlig unzureichenden Einsetzungsbeschluss werden wir nicht zustimmen.
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Vielen Dank, Margit Stumpp. – Nächster Redner: Dr. Stefan Kaufmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die berufliche Bildung steht vor einem tiefgreifenden Wandel. Auf der einen Seite entscheiden sich immer weniger junge Menschen für eine berufliche Ausbildung. Viele Betriebe – nicht nur in meiner Region – suchen händeringend nach Jugendlichen. Und es gibt große Passungsprobleme zwischen den verfügbaren Ausbildungsplätzen und den Wünschen der Jugendlichen. Auf der anderen Seite steigen die Anforderungen in den Ausbildungsberufen seit Jahren an – nicht nur in den industrienahen technischen Ausbildungsberufen, sondern auch im Handwerk.
Eine wesentliche Ursache hierfür ist die Digitalisierung, die alle Bereiche der beruflichen Bildung und des Arbeitens nachhaltig beeinflusst. In diesem Spannungsfeld stellt sich in vielen Betrieben nun die Frage, wie sie ihren Fachkräftebedarf der Zukunft decken können und welches Rüstzeug junge Auszubildende, aber auch jene, Frau Stumpp, die schon im Betrieb sind, brauchen, um den Anforderungen der Zukunft gerecht zu werden. Ich sehe im Übrigen, Frau Stumpp, das Thema Fort- und Weiterbildung in der Enquete nicht ausgeklammert.
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In der Enquete-Kommission, die wir heute einsetzen, wird es genau darum gehen.
Aber auch darum wird es gehen: dem Thema berufliche Bildung in der Öffentlichkeit mehr Sichtbarkeit zu verleihen. Diese Sichtbarkeit hat die berufliche Bildung mehr als verdient.
Wir haben es gehört: Im Zuge einer fortschreitenden Akademisierung der Gesellschaft stellt sich die Frage nach der Rolle der beruflichen Bildung und der dualen Ausbildung immer dringender. Es wird viel vom Attraktivitätsverlust der beruflichen Bildung gesprochen. Dabei bildet die berufliche Bildung – darin sind wir uns hier ja alle einig – eine hervorragende Grundlage für ein gutes Leben.
Meine Damen und Herren, die Einsetzung einer Enquete bedeutet im Übrigen nicht, Frau Stumpp, dass wir die Fragen und das Thema „Berufliche Bildung“ seitens der Koalition auf die lange Bank schieben.
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Union und SPD haben in ihrem Koalitionsvertrag einen ganzen Maßnahmenkatalog zur Stärkung der beruflichen Bildung verabredet, zum Beispiel – auch an Ihre Adresse, lieber Kollege Brandenburg – ein Berufsbildungspaket zur Modernisierung der beruflichen Bildung und der Berufsschulen, die Stärkung der Berufsorientierung, die Stärkung regionaler Ausbildungsmärkte, Verbesserungen beim Aufstiegs-BAföG, die Stärkung der höheren Berufsbildung und des dualen Studiums und natürlich auch die Novelle des Berufsbildungsgesetzes.
All dies dient dazu, die berufliche Bildung aufzuwerten und die duale Ausbildung attraktiver zu machen. Dazu haben wir gestern im Ausschuss im Gespräch mit Professor Esser einige Ideen gehört bzw. entwickelt, beispielsweise eine mögliche Verlängerung der Schulpflicht auf zwölf Jahre, vor allem aber eine mögliche Ausdehnung der Berufsschulpflicht auf das Alter von 21 Jahren – hier ist Bayern im Übrigen vorbildlich –, eine Verbesserung der Ausbildung der Berufsschullehrer, die Erhöhung der Attraktivität des Berufsbildes und die Erhöhung der Ausbildungsbetriebsquote vor allem bei Kleinbetrieben durch neue Anreizsysteme; man könnte hier über steuerliche Anreize oder die bevorzugte Berücksichtigung von Ausbildungsbetrieben bei der Vergabe öffentlicher Aufträge anstelle einer, wie es die Linken vorschlagen, solidarischen Umlagefinanzierung nachdenken. Das sind die Themen, an denen wir gemeinsam arbeiten können.
Im Übrigen freue ich mich, Kollege Brandenburg, dass im Bereich der Internationalisierung immer mehr – Sie haben das Thema angesprochen – junge Berufsschüler an europäischen Austauschprogrammen teilnehmen, auch ohne einen DAAD für die Berufsbildung. Wir setzen uns in Brüssel massiv dafür ein, dass in Zukunft noch mehr junge Menschen die Möglichkeit haben, einen Teil ihrer Ausbildung in einem anderen Mitgliedstaat zu absolvieren. Deshalb ist es richtig, dass der Anteil für den Bereich der beruflichen Bildung im neuen Programm Erasmus+ auf über 5,2 Milliarden Euro erhöht werden soll.
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Was ist nun zu tun? Einzelne Aspekte, wie beispielsweise die dringend notwendige Digitalisierung unserer Berufsschulen, sind in absehbarer Zeit mit ganz konkreten Maßnahmen – Stichwort „Digitalpakt“ – zu bewerkstelligen. Das werden wir umsetzen. Andere Maßnahmen sind von eher systemischer Natur. Hierfür brauchen wir eine strategische Neupositionierung.
Unter anderem mit solchen systemischen Fragen werden wir uns in der Enquete-Kommission beschäftigen – in einem angemessenen Zeitrahmen mit externen Expertinnen und Experten.
Am Ende soll dann der Weg klar sein, wie wir in Zukunft die Menschen in unserem Land mit beruflicher Bildung fit machen für die Arbeit in einer lernenden Wissensgesellschaft mit dynamischen Produktionslebenszyklen, flexiblen Arbeitsverhältnissen und assistiven Systemen, –
Kommen Sie bitte zum Schluss.
– damit die berufliche Bildung auch in Zukunft ein gutes Rüstzeug für junge Menschen bilden kann. Auf diese spannende Aufgabe und auf die gemeinsame Diskussion freue ich mich.
Danke sehr.
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Vielen Dank, Dr. Kaufmann. – Nächste Rednerin für die AfD-Fraktion: Nicole Höchst.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Mal ganz vorneweg: Den Antrag für die Enquete-Kommission tragen wir sehr gerne mit. Die Mitzeichnung ist uns aber aus kindergartensymbolpolitischen Gründen von den Konsensparteien in Einigkeit verwehrt worden. Nun denn, liebe Kartellparteien: Sie lassen uns vielleicht nicht mit Ihren Sandkastenförmchen spielen,
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aber bei der Arbeit der Enquete-Kommissionen werden sich unsere Experten einbringen, ob Ihnen das nun passt oder nicht.
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Meine Damen und Herren, wir leben in spannenden Zeiten. Wir müssen gemeinsam für unser Land und unsere Zukunft wichtige Weichen stellen. Die duale Ausbildung als deutsches Erfolgsmodell gilt es intelligent und mit Bedacht an die neuen Herausforderungen in Zeiten des digitalen Wandels anzupassen. Die rasanten Entwicklungen im Bereich der digitalen Technologien stellen unser bewährtes System auf die Probe. Die Gefahr, dass durch Schnellschüsse an den falschen Stellschrauben gedreht wird, ist hierbei groß. Umso sinnvoller ist es, endlich darauf zu reagieren und eine Enquete-Kommission zu installieren, welche mit Experten aus Wirtschaft, Bildung und Politik eine Strategie entwickeln soll.
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Meine Damen und Herren der uns schon länger Regierenden, das müssen Sie sich tatsächlich vorhalten lassen: Sie haben die Entwicklungen, die sich seit Jahren rund um die Digitalisierung abzeichnen, schlichtweg verschlafen.
Bei der Vorbereitung auf die heutige sowie die zukünftige Arbeitswelt und die damit verbundenen Entwicklungen, wie zum Beispiel E‑Health, digitale Landwirtschaft, smartes Handwerk, digitales Bauen etc., müssen diese zeitnah auch in den Ausbildungen ankommen. Hierbei ist genau zu schauen, welcher Partner welcher Entwicklung am ehesten Rechnung tragen kann. Da sich schulische Systeme aber nur sehr behäbig umsteuern lassen, kann der schulische Partner zumindest eines tun: allzeit aktuelle Fähigkeiten und Fertigkeiten vermitteln, während gleichzeitig sinnvolle digitale Veränderungen mit Bedacht und konzertierter Macht betrieben werden.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Herrn Vaatz?
Sehr gerne.
Herr Vaatz, bitte.
Frau Kollegin, dürfte ich von Ihnen erfahren, wer konkret Ihnen die Mitzeichnung des Antrags zur Einsetzung einer Enquete-Kommission verweigert hat?
Sehr gerne. Vielen Dank für die Frage. – Natürlich lassen wir von der AfD keinen von den Mitarbeitern hier in diesem Hohen Hause ins offene Messer laufen. Aber seien Sie sich gewiss, dass wir vom Bildungsarbeitskreis der AfD explizit darum ersucht haben, auf diesem Antrag zur Einsetzung der Enquete-Kommission zu stehen. – Vielen Dank.
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Hierbei ist genau zu schauen, welcher Partner welchen Entwicklungen am ehesten Rechnung tragen kann – da waren wir gelandet. Es war die Rede davon, sinnvolle Veränderungen mit Bedacht und mit konzertierter Macht zu betreiben.
Es ist eben nicht damit getan, ein Smartboard ins Klassenzimmer zu stellen und schnelles Internet zu legen, und schon läuft das mit dem digitalen Wandel. Wir müssen zuallererst eine gemeinsame Vision und ein tragfähiges Konzept erstreiten, wie wir zukunftsfähige berufliche Bildung gestalten wollen, und zwar frei von ideologischen und zwangsneurotischen Hirngespinsten.
Auch der zunehmenden Entmenschlichung und Ökonomisierung von Bildung, die Schüler nur noch als Humankapital wahrnimmt, treten wir entschieden entgegen. Wir brauchen wieder Mut zur Leistung, Mut zu Qualität und Exzellenz in der Bildung. Wir brauchen Mut zu einer Zukunftsperspektive für Deutschland, eingebettet in ein Europa der Vaterländer.
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Wir brauchen Meister statt Master und ein Umfeld, das die Berufung junger Menschen, ihre Leistung, ihr Engagement und ihre erworbene Expertise in jeder Form wertschätzt.
Meine Damen und Herren, es ist an uns allen, in dieser Enquete-Kommission gemeinsam unser Menschenmöglichstes zu tun, um die berufliche Bildung für die digitale Arbeitswelt zukunftssicher zu machen und hier die richtigen Weichen zu stellen. Es darf nicht gekleckert, es muss geklotzt werden.
Vielen Dank.
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Danke schön. – Nächste Rednerin: Yasmin Fahimi für die Fraktion der Sozialdemokraten.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrtes Haus! Frau Höchst, wissen Sie, wenn Sie hier Vorwürfe eines undemokratischen Verhaltens an dieses Haus richten, dann müssen Sie schon auch Beweise vorlegen. Wenn Sie das nicht können oder wollen, dann schweigen Sie einfach.
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Abgesehen davon habe ich in Ihrer Rede nur darauf gewartet, wann Sie es tatsächlich schaffen, selbst beim Thema berufliche Bildung Ihre Deutschtümelei einzubringen. Zum Schluss haben Sie das tatsächlich geschafft. Dafür zumindest Respekt.
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Aber wir kommen jetzt zurück zum Thema. Wir sind uns hier insgesamt einig, egal was den Antrag im Einzelnen angeht, dass das duale System in Deutschland ein Erfolgsschlager ist, und zwar über die nationalen Grenzen hinaus.
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Jetzt wollen wir aber in dieser Enquete-Kommission über eins reden, nämlich darüber, wie wir diesen Erfolgsschlager im Zuge des Wandels für uns erhalten können.
Ich will hier noch ein Element einbringen, das mir wichtig ist, nämlich dass wir im Kontext dieses Wandels nicht nur über Technik und technisches Know-how reden, sondern auch darüber, dass der Wandel, der uns im Zuge der Digitalisierung erwartet, einer ist, der uns viel substanzieller trifft. Dann reden wir nämlich in der Frage, was denn eigentlich produktive und notwendige Arbeit von morgen ist, nicht nur über das technische Know-how, das wir brauchen, sondern auch darüber, dass wir viel mehr pädagogische, soziale und pflegerische Tätigkeiten brauchen, die im Übrigen gut organisiert und gut bezahlt sein müssen, über die Rolle des Menschen in der zukünftigen Arbeitswelt und natürlich auch über den jeweiligen Wert der Tätigkeiten darin.
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Mit anderen Worten: Wenn ich jetzt zwei Ziele, die wir uns in der Enquete-Kommission vorgenommen haben, beschreibe, dann müssen wir das vor allem auch mit diesem Fokus tun, nämlich Entwicklungsperspektiven der beruflichen Aus- und Weiterbildung, und das eben nicht nur aus einer Angstecke heraus getrieben, sondern mit der Fragestellung: Wie können wir für die junge Generation neue Horizonte schaffen?
Ich hoffe doch – davon gehe ich jedenfalls aus –, dass wir alle nicht nur ein Talent haben, sondern dass wir viele Potenziale und Talente haben – jedenfalls die meisten hier. Insofern muss man doch darüber reden, welche Ansprüche, Wünsche und natürlich auch Finanzierungen gerade hinter der Verzahnung und dem Thema Weiterbildung stehen.
Wirtschaftliche und soziale Modernisierungsmöglichkeiten herauszufinden, das ist unser Ziel. Es geht eben nicht alleine um die Passgenauigkeit zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsmarkt. Es geht darum, beispielsweise Berufsorientierung so auszurichten, dass das Potenzial erkannt wird und dass der einzelne junge Mann oder die einzelne junge Frau tatsächlich den Beruf findet, der zu ihnen passt und mit dem sie glücklich und zufrieden werden. Das muss doch unser Ziel sein: dass wir die Attraktivität der betrieblichen Ausbildung erhöhen, dass wir Kleinstbetriebe in der Qualität ihrer Ausbildung unterstützen, dass wir Erst- und Weiterbildung miteinander verzahnen und dass wir Berufsschulen für die zukünftigen Aufgaben auch mit Blick auf die Qualifikation der Berufsschullehrer weiter ausbauen.
Das geht aber nur dann, sehr verehrte Damen und Herren, wenn wir über die Durchlässigkeit zwischen akademischer und beruflicher Ausbildung reden, über die Gleichwertigkeit, die wir dafür schaffen müssen, und vor allem – und das soll mein Ziel sein; das will ich hier noch einmal betonen – darüber, dass die Menschen selbstbestimmt über ihren Bildungsweg entscheiden können. Dafür brauchen sie Informationen. Dafür brauchen sie Orientierung und Unterstützung und eben bestmögliche Bildungswege.
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Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Frau Kollegin Christmann von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?
Ich bin so gut wie am Ende.
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Deswegen würde ich das jetzt gerne zu Ende bringen.
Ich möchte gerne noch auf eines hinweisen – auch weil das hier immer wieder sozusagen gegeneinander ausgespielt wird –: Die duale Ausbildung ist kein Widerspruch von Kopf- und Handarbeit.
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Erfolgreiche Werbung für die berufliche Bildung macht man nicht, indem man vor der Akademisierung warnt und so tut, als ob es eine Überakademisierung in unserem Land gäbe.
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Ich sehe das ganz anders. Ich will das hier ganz deutlich sagen: Ich möchte keinen jungen Menschen davon abhalten, einen möglichst guten Schulabschluss zu machen und, wenn er möchte, auch ein Studium anzutreten. Ich möchte – und das sehe ich als unser Ziel –, dass wir die Möglichkeiten aufzeigen und die besten Bedingungen für das bestmögliche Lernen in allen Bildungswegen schaffen. Dann halten wir ein Versprechen, zu dem wir eigentlich der jungen Generation gegenüber auch verpflichtet sind, nämlich dass Bildung und Qualifizierung, insbesondere auch die duale Ausbildung, ein Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben sein sollen. Dafür müssen wir die jungen Menschen motivieren und anspornen, und dafür müssen wir die Wege und die Ressourcen organisieren, damit das auch möglich ist. Nur über Attraktivität und Motivation entstehen die Bildungswege von ganz alleine, ohne dass wir sie in irgendetwas hineinzwingen.
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Vielen Dank, Yasmin Fahimi. – Nächster Redner: Dr. Thomas Sattelberger für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Akademikerschwemme – Unwort des Jahrzehnts! Bildungssysteme gegeneinander auszuspielen, um die Fachkräftelücke zu mindern – wie dumm!
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Aber kann berufliche Bildung wieder gleichziehen mit dem Studium?
Vier Punkte für die Enquete:
Erstens. Akademische und berufliche Abschlüsse müssen anschlussfähig sein, wechselseitig. Berufliche Bildung muss Studienmodule anerkennen, Hochschulen berufliche Qualifikation. Vom Wissenschaftsrat vor vier Jahren gefordert, von der GroKo verschlampert!
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Damit Gleichwertigkeit gelingt, müssen Unternehmen beruflich Qualifizierten auch endlich wieder Karrierewege bieten, jenseits von Meister und Fachwirt; denn deren Anteil an Führungspositionen hat sich fast halbiert. Wertschätzung statt Resterampe!
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Punkt zwei. Viele unserer heutigen Berufe sind in zehn Jahren ausgestorben. Die gute Nachricht ist, dass neue Berufe entstehen: 3‑D-Druck-Experte, Industrial Data Analyst. Die Metall- und Elektroindustrie lebt es vor, industrielle Berufsbilder mit dem „Agilen Verfahren“ zügig fitzumachen. Andere schlafen. Kaufmann E-Commerce – 2018 eingeführt, zehn Jahre zu spät! Amazon hat heute 40 Prozent des deutschen Onlinehandels erobert. Wir dürfen nicht schlafen, liebes Bildungs- und liebes Wirtschaftsministerium! Aufwachen, bitte!
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Punkt drei. Nur ein Drittel der Unternehmen wird von Akademikern gegründet, die Hälfte von beruflich Qualifizierten. Reinhold Würth, Artur Fischer, René Obermann – Unternehmer ohne Studium! Dieses Land investiert 340 Millionen Euro im Jahr für Akademikerstipendien, für Spitzenleister beruflicher Bildung klägliche 25 Millionen Euro. Unsere Top- und Facharbeiter, unsere Techniker und unsere Meister brauchen eine adäquate Stiftung für Begabte und Exzellenzwettbewerbe für unsere Berufsbildungszentren.
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Punkt vier. Deutschland hat mehr als 2 Millionen junge Menschen ohne Berufsausbildung, verschüttete Talente zwischen 20 und 34 Jahren, Ausbildungsabbrecher, Schulabbrecher, Schulabgänger ohne Berufsausbildung. Oft Alleinerziehende, die sich strecken müssen, ihre Kinder großzuziehen, Geld zu verdienen, einen Beruf zu erlernen. Und Geflüchtete, die zudem ihre Familien zu Hause unterstützen. Hier hilft nur Ausbildung in Teilzeit und in Modulen bis zum Abschluss.
Meine Damen und Herren, all das ist der Bundesregierung seit Jahr und Tag bekannt. Aber sie handelt nicht. Sie versucht, uns mit Ankündigungslyrik müde zu spielen. Das reicht nicht, und das klappt nicht. Spucken Sie in die Hände! Packen Sie es endlich an! Ran an den Speck, Frau Karliczek!
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Tja, das ist so eine Sache mit der Lyrik. – Nächste Rednerin: Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Digitalisierung ist das Zauberwort und muss zurzeit für ganz viele Dinge herhalten, von Arbeitszeitgesetz bis Berufsbildung. Als Gewerkschaftssekretärin der IG Metall habe ich in den 80er-Jahren miterlebt, wie in Industriebetrieben analoge Werkzeugmaschinen durch computergesteuerte Maschinen ersetzt wurden. In der Metallindustrie mussten Tausende Beschäftigte in kurzer Zeit mit neuen Technologien zurechtkommen. Maschinenschlosser, die noch an Werkbänken ausgebildet wurden, hatten es nun mit computergesteuerten Anlagen zu tun. Das war eine riesige Herausforderung, da die Qualifikation der Beschäftigten nicht mehr passte. Fachkräfte wurden plötzlich nur noch als einfache Maschinenbediener eingesetzt. Manche wurden arbeitslos. Das geschah nicht nur in Metallbetrieben. In allen Branchen, in die Computer Einzug hielten, wurden die Qualifikationen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entwertet.
Die Antwort, die dafür sorgte, dass die bisherigen Fachkräfte nicht auf der Strecke bleiben und nur neue oder junge Beschäftigte eine Chance haben, waren Weiterbildung und Anschlussqualifikation, Überarbeitung der Berufsbilder und Veränderung der Berufsausbildung durch neue Lernformen und neue Prüfungsordnungen. Die Maschinenschlosser mit CNC-Kenntnissen hießen von da an Industriemechaniker, Elektriker hießen Industrieelektroniker, und Dreher hießen Zerspanungsmechaniker.
Mit Sicherheit ist der digitale Wandel der Arbeitswelt, um den es heute geht, noch einschneidender. Jetzt müssen passgenaue Lösungen her.
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Deshalb ist es gut, dass diese Enquete-Kommission eingerichtet wird. Wir brauchen Antworten auf die Frage, wie die Zukunft der beruflichen Aus- und Weiterbildung aussehen wird und was die Politik beitragen muss. Aus unserer Sicht brauchen wir ein umfassendes Konzept, um Beschäftigte für die digitale Arbeitswelt fit zu machen und sie einzubinden. Für Die Linke stehen die arbeitenden Menschen und ihre Interessen im Mittelpunkt.
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Es darf nicht passieren, dass Arbeit entwertet wird. Eingruppierungen und damit Einkommen müssen gesichert werden.
Damit dieser Prozess gelingt, muss er durch die Beschäftigten mitbestimmt werden. Nur gemeinsam werden gute Arbeit und Weiterbildung in der digitalen Arbeitswelt gelingen. Dafür werden wir uns in der Enquete-Kommission einsetzen und starkmachen. Dafür stehen wir als Fraktion Die Linke.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Jutta Krellmann. – Nächster Redner: Stephan Albani für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An dieser Stelle im Reigen wird es langsam schwierig, etwas zu sagen, vor allen Dingen, wenn wir uns alle verhältnismäßig einig sind. So möchte ich mit einem kurzen Gedanken beginnen: Gewohntes hat die Eigenschaft, selbstverständlich zu werden. Das gilt für Freundschaften, das gilt für Gemeinschaften, das gilt für so vieles im Leben. Erst wenn es fehlt, wenn es in Leiden gerät, dann stellt man fest, was man daran gehabt hat.
Die berufliche Bildung, vor kurzem im Berufsbildungsbericht vorgestellt, ist per situationsbezogenem Blick eine Erfolgsgeschichte. Sie ist auch heute ein Erfolg. Es gibt allerdings natürlich Veränderungen, die nachdenklich machen. Aber schaut man aus dem benachbarten Ausland hierher, sei es von Skandinavien mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 19 Prozent, sei es von anderen Ländern wie zum Beispiel Serbien, das diese berufliche Ausbildung momentan erst einführt und wo man überhaupt keine Passgenauigkeit von Bedarf und entsprechender Ausbildung hat, dann weiß man, was man an dieser Stelle hat.
Natürlich haben wir Dinge, denen wir uns stellen müssen. Wir haben gesagt: Wir haben zwar ein Überangebot an Ausbildungsstellen, aber wir haben Passungsprobleme, und wir haben eine Abwanderung in Richtung akademischer Berufe. Aber es wird überhaupt nichts helfen, Herr König, wenn wir akademisch Ausgebildete als Schreibtischtäter bezeichnen und auf diese Art und Weise herabwürdigen; das wird der beruflichen Bildung gar nichts helfen.
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Vielmehr müssen wir aufklären und bessere Perspektiven schaffen. Schaut man sich die Auflösungsquoten bei den Ausbildungsverträgen in den entsprechenden Statistiken an, so stellt man von oben herunter fest: Da steht so etwas wie „Sicherheitsfachleute“, „Koch“ oder „Restaurantfachleute“. In dem Moment wird deutlich: Das sind Berufe, mit denen bei Berufsbeginn wahrscheinlich völlig falsche Vorstellungen verbunden sind. Denn ein Koch hat halt nichts mit „The Taste“ zu tun, und nicht jede Sicherheitsfachkraft landet später bei CSI. Wenn wir an dieser Stelle während der schulischen Ausbildung hierzu besser beraten entsprechend den Talenten, dann wird dieses besser funktionieren. Es wird uns also nicht weiterbringen, das Ganze gegeneinander auszuspielen, sondern, es miteinander zu entwickeln.
Deswegen ist diese Enquete-Kommission wichtig; denn wir haben heute mit der digitalen Herausforderung letzten Endes alle Berufe auf den Prüfstand zu stellen und sie an dieser Stelle auch zukunftssicher zu gestalten. Ja – Herr Lauterbach hat es schon gesagt –, es wird auch Berufe geben, die sich deutlich ändern werden. Aus dem Kfz-Mechaniker ist der Kfz-Mechatroniker geworden. Mittlerweile ist das kein Drama mehr. Aber wenn wir immer nur über junge Leute reden, vergessen wir ein ganz klein bisschen, dass diejenigen, die diese Berufe heute innehaben, genauso von diesem Wandel betroffen sind, und sie sind vor allen Dingen die Werbeflächen für die Auszubildenden der Zukunft. Insofern ist es wichtig, auch hier die Sorge und die Angst zu nehmen, dass diese Veränderungen sie an dieser Stelle abhängen; vielmehr werden wir auch diese Leute mitnehmen müssen.
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Ein letzter Punkt, den ich nennen möchte: Ja, es wird auch Berufe geben, die wegfallen. Das wird so sein. Wenn ich in Berufsschulen zu Gast bin und frage: „Wer von euch kennt den Küfer noch?“, dann kommen nicht allzu viele Finger hoch. Ich glaube, es ist auch niemand traurig, dass vor 100 Jahren der Beruf des sogenannten Gasriechers abgeschafft worden ist. Der Gasriecher ist losgegangen und hat bei den Stadtwerken Gaslecks aufgespürt. Hier hat die technische Entwicklung dazu geführt, dass dieser Beruf aufgehört hat, zu existieren. Ich bin mir sicher, dass es Menschen gegeben hat, die ihn mit großem Stolz ausgeführt haben, und dennoch hat die Zeit einen Wandel gebracht.
Heute geht es bei den Berufen in andere Richtungen. Dafür ist die Enquete-Kommission da. Das machen wir gemeinsam. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Albani, auch dafür, dass Sie uns an den Gasriecher erinnert haben. Da haben wir wieder was gelernt. Danke schön.
Nächste Rednerin: Marja-Liisa Völlers für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Die akademische Bildung ist nicht die einzig wahre. Jetzt wundern Sie sich vielleicht und denken: Wieso sagt genau die das? Ist die nicht Gymnasiallehrerin? – Ja, das bin ich, und genau deshalb sage ich, dass die akademische Bildung nicht das Nonplusultra ist.
Bis vor kurzem habe ich das noch meinen Schülerinnen und Schülern meiner integrierten Gesamtschule gesagt. Ich möchte nicht mehr erleben müssen, dass mir Jugendliche, die den Übertritt in die gymnasiale Oberstufe nicht schaffen, sagen, dass sie große Verlierer seien oder, noch viel schlimmer, dass sie sich sogar für dumm halten. Heute sage ich es hier am Rednerpult im Deutschen Bundestag. Warum? Im Koalitionsvertrag steht: Die berufliche Bildung ist für uns gleichwertig mit der akademischen. – Das müssen wir in die Köpfe von allen reinbekommen, in die Köpfe hier im Parlament und in die da draußen im ganzen Land. Um diese Gleichwertigkeit wieder hinzubekommen, müssen wir die berufliche Bildung unbedingt wieder attraktiver machen; das ist heute auch mehrfach schon angesprochen worden.
Viele Länder beneiden uns immer noch um unser Aus- und Weiterbildungssystem – zu Recht. Auf diesen Lorbeeren dürfen wir uns aber nicht ausruhen. Wir müssen unser System zukunftsfest machen. Das bedeutet für mich unter anderem, dass wir einen Imagewechsel hinbekommen müssen. Keiner sollte mehr hören müssen: Wie, du machst nur eine Ausbildung? – Ich möchte weiß Gott niemanden von seinem Wunsch nach einem Studium abbringen oder gar zu einer Ausbildung überreden; es geht mir vielmehr darum, dass junge Menschen echte Wahlfreiheit haben, dass sie das machen können, für das sie sich begeistern, für das sie brennen und für das sie arbeiten wollen.
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Als Azubine oder Azubi ist man doch kein Loser. Eine Ausbildung ist nichts Schlechtes und bedeutet nicht den Verlust von Ansehen in unserer Gesellschaft. Von diesen Hirngespinsten müssen wir dringend wegkommen. Wir brauchen jede Einzelne und jeden Einzelnen, damit wir genug gut ausgebildete Fachkräfte in unserem Land haben. Der aktuelle Berufsbildungsbericht zeigt es ganz deutlich: Immer weniger Betriebe bilden aus, und immer mehr Jugendliche sind ohne Ausbildung. – Diese Entwicklung müssen wir nicht nur aufhalten; nein, wir müssen sie umkehren.
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Meine Damen und Herren, zur Attraktivitätssteigerung der beruflichen Bildung gehört auch unbedingt dazu, dass wir sie fit zu machen haben für das Zeitalter der Digitalisierung. Ganz bewusst trägt diese Enquete-Kommission den Titel „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ und nicht nur „Berufliche Bildung“.
Digitalisierung – ja, dieses Wort ist omnipräsent. Der eine oder die andere mag jetzt denken: Ach nee, nicht schon wieder! – Ich gebe zu: Dieser Begriff ist tatsächlich überall, aber es ist doch nicht das Wort, das überall ist, sondern der Prozess. Die Digitalisierung ist doch schon längst da. Wir befinden uns mitten in ihr. Wir reden hier nicht über irgendetwas, das in der fernen Zukunft geschehen wird, sondern über das, was passiert, tagtäglich, und was es vor allem mitzugestalten gilt.
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In unseren Schulen und Betrieben muss sich etwas tun. Nur weil man jung ist und ständig ein Smartphone in der Hand hält, ist man nicht automatisch bereit für die digitale Arbeitswelt. Nur weil man seit vielen Jahren in der beruflichen Bildung aktiv ist, weiß man nicht automatisch alles am besten und ist auf dem neuesten Stand der Technik. Wir müssen alle, die man gern als „Digital Natives“ bezeichnet, mit den Fähigkeiten ausstatten, die sie brauchen, um im Beruf später bestehen zu können. Das gilt sowohl für diejenigen, die den Weg der beruflichen Bildung einschlagen, als auch für Akademikerinnen und Akademiker.
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Und natürlich brauchen wir Weiterbildung, Weiterbildung, Weiterbildung. Nie war lebenslanges Lernen so wichtig wie heute.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir geben uns mit dem Antrag auf Einsetzung dieser Enquete-Kommission eine ganz klare Aufgabe, nämlich eine gemeinsame, klare Strategie zur Weiterentwicklung der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu formulieren. Ich persönlich freue mich darauf, mit 18 weiteren Abgeordneten aus diesem Hohen Hause und 19 Sachverständigen daran mitarbeiten zu dürfen.
Herzlichen Dank, und auf eine gute Zusammenarbeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Völlers. – Nächste Rednerin: Katrin Staffler für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede das hervorheben, was meiner Meinung nach ganz zentral für die Debatte ist, die wir hier führen: Die berufliche Bildung ist einer der wichtigsten Grundpfeiler der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands. Die Verzahnung von Theorie auf der einen Seite und Praxis auf der anderen Seite, von beruflichen Schulen und Betrieben, ist das, was die berufliche Bildung hierzulande, in Deutschland, so stark gemacht hat und immer noch stark macht.
Nicht ohne Grund genießt unsere duale Ausbildung auch international ein so hohes Ansehen, und nicht ohne Grund orientieren sich andere Länder an unserem Erfolgsmodell.
Moment mal. – Könnten die Herren ihre Gespräche draußen führen? Hier redet nämlich gerade Ihre Kollegin, und wir haben eine spannende Debatte. – Ich meine das ernst, liebe Kollegen von FDP und Union.
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Bitte, Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
Danke schön. – Trotzdem steht die berufliche Bildung vor großen Herausforderungen. Wir wissen alle, dass die heutige Berufswelt in einem stetigen Wandel ist. Gerade durch die Digitalisierung verändern sich die Anforderungen an unsere Auszubildenden. Genauso wie die Auszubildenden müssen auch die Lehrenden sich auf den Wandel einstellen.
Wir wissen auch, dass es nicht nur der digitale Wandel ist, der Herausforderungen mit sich bringt. Deswegen ist es richtig und aus meiner Sicht auch ganz wichtig, dass wir uns in dieser Enquete-Kommission mit der beruflichen Bildung beschäftigen; denn es ist an der Zeit, darüber nachzudenken, wie wir die berufliche Aus- und Weiterbildung weiterentwickeln und modernisieren können. Unser Ziel muss sein, dass die berufliche und die akademische Bildung in der Gesellschaft den gleichen Stellenwert haben. Eine Ausbildung muss für junge Menschen eine echte, eine attraktive Alternative zum Studium sein, weil das Studium eben nicht für jeden der passende Weg ist – und ich glaube, das ist auch gut und richtig.
Meine Kolleginnen und Kollegen – es haben in der Debatte ja schon einige gesprochen – haben einige Punkte genannt, mit denen sich die Kommission beschäftigen soll. Ich möchte an der Stelle gerne einen Aspekt herausgreifen, der mir persönlich wichtig ist und der meines Erachtens auch eine zentrale Rolle in der Zukunft spielen wird, und zwar die Stärkung der Internationalisierung und die Förderung des Austausches im Rahmen der beruflichen Bildung unter den EU-Mitgliedstaaten und natürlich auch über diese Staaten hinaus.
Ich glaube, es ist sehr erfreulich, dass die berufliche Bildung einen immer höheren Stellenwert in den bildungspolitischen Initiativen der Europäischen Union einnimmt. Wir sehen das zum Beispiel an den Kommissionsvorschlägen zur Weiterführung von Erasmus+; Kollege Kaufmann hat gerade schon darauf hingewiesen. Ich finde es gut, dass wir damit die besondere Bedeutung der beruflichen Bildung für die europäische Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit deutlich machen. Damit können nicht nur die Studentinnen und Studenten, sondern eben auch die Azubis, die beruflichen Fachkräfte und die betrieblichen Ausbilder von Erasmus profitieren, weil sie Lern- und Arbeitserfahrungen auch im Ausland sammeln können. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen: Solche Erfahrungen sind für jeden Einzelnen unbezahlbar.
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Mit so einer Enquete-Kommission haben wir die Möglichkeit, zu klären, welche Hürden es bei der Mobilität im Bereich der beruflichen Bildung gibt und wie wir die Hürden meistern können. Zum Beispiel muss ein neues Erasmus-Programm viel mehr auf die spezifischen Bedürfnisse gerade von kleinen und mittelgroßen Betrieben und Unternehmen eingehen. Wir müssen darüber nachdenken, die Antragsstellung zu erleichtern, damit auch kleine Bildungseinrichtungen motiviert sind, sich an so einem Programm zu beteiligen.
Für mich ist klar, dass es eine Vielzahl von drängenden Fragen im Bereich der beruflichen Bildung gibt. Mit der Enquete-Kommission haben wir die Möglichkeit, diese zu beantworten. Deswegen kann ich Sie – ich schaue absichtlich in Ihre Richtung – nur ermuntern und ermutigen: Unterstützen Sie den Antrag, weil Sie damit die Weiterentwicklung der für Deutschland so wichtigen beruflichen Bildung unterstützen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Katrin Staffler. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Axel Knoerig für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gehen wir doch einmal zehn Jahre zurück: 2008 hatten wir 5 Millionen Arbeitslose, und es war schlussendlich richtig, dass wir zwei Konjunkturpakete durchgeführt haben, um gerade kleinere Betriebe bei der Fachkräftesicherung zu unterstützen.
Wir haben das umschrieben mit „Qualifizieren statt entlassen“ – so hieß das Motto während der Finanz- und Wirtschaftskrise. Mit Kurzarbeit und beruflicher Weiterbildung konnten viele mittelständische Unternehmer ihr Personal halten. Und, meine sehr verehrten Damen und Herren: 1,8 Millionen Arbeitnehmer wurden in Arbeit und Brot gehalten. Diese Arbeitsmarktpolitik war vorausschauend und sehr wohl verantwortungsvoll. Wir haben schon vor zehn Jahren eine langfristige Fachkräftestrategie mit Blick auf künftige Krisen gestartet.
Als weitere Herausforderungen kamen erst der demografische und dann der digitale Wandel hinzu. In der Vergangenheit hatten wir eine Enquete-Kommission zur demografischen Entwicklung und eine zu „Internet und digitaler Gesellschaft“. Über acht Jahre lang sind diese beiden Enquete-Kommissionen eingesetzt worden.
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Diese haben den Weg bereitet für eine neue Enquete-Kommission mit dem Titel „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“.
Meine Damen und Herren, die duale Berufsausbildung ist die wesentliche Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes. Gerade im Rückblick auf die Wirtschaftskrise dient sie heute als ein Exportmodell für andere Staaten; denn durch die Nähe zum Arbeitsmarkt ist sie krisenfest. Die duale Ausbildung schafft Stabilität im beruflichen Bildungssystem.
Angesichts des Zwischenrufs von den Grünen erinnere ich mich noch gut daran, dass Sie es gewesen sind, die DualPlus gefordert haben. Mit diesem System wollten Sie eine staatliche Ausbildung für Jugendliche schaffen. Hunderte Millionen Euro sollten dafür eingesetzt werden. Während die duale Ausbildung ganz praxisnah erfolgt und das Wissen an verschiedenen Lernorten vermittelt wird, nämlich einmal im Betrieb bzw. im Unternehmen und in der Berufsschule als überbetriebliche Ausbildungsstätte, wollten die Grünen das Ganze im Grunde genommen aushöhlen und um eine weitere staatliche Säule ergänzen.
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Es ist heute richtig gesagt worden, dass betriebliche und akademische Ausbildung längst als gleichwertig gelten. Dennoch müssen wir die duale Berufsausbildung attraktiver machen; denn die irrige Annahme, dass ein Studium mehr Verdienst mit sich bringt, hält sich immer noch hartnäckig.
Der Bildungsbericht 2018 zeigt, wo wir bei der beruflichen Bildung ansetzen müssen. So gibt es zunehmende Probleme bei Angebot und Nachfrage. Stellenprofile und Qualifikationen passen vor Ort nicht immer zusammen. Wir stellen auch fest, dass die Ausbildungsquote der Betriebe in den letzten zehn Jahren um 16 Prozent zurückgegangen ist. Deshalb ist es richtig, dass wir uns die Frage stellen: Was müssen wir beim Modell der beruflichen Bildung anpassen, damit es zukünftig weiter erfolgreich ist?
Erstens. Es gibt ein altes Stichwort: das lebenslange Lernen. Das bedarf einer konkreten Umsetzung in die Praxis. Gerade in hoch digitalisierten Berufen ist alle paar Jahre eine grundlegende Weiterbildung der Mitarbeiter notwendig.
Zweitens. Das Fachwissen muss arbeitsplatznah aktualisiert werden. Das heißt: Die berufliche Weiterbildung sollte im Betrieb stattfinden. Damit werden die Arbeitsplätze in den Branchen zukunftssicherer gemacht.
Und drittens – ganz wichtig –: Wohlstand gibt es nicht zum Nulltarif. Wir brauchen eine vorausschauende Struktur- und Wachstumspolitik, aber wir müssen auch in die Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik investieren. Zum Thema Arbeitswelt 4.0 sage ich immer wieder gerne: Das ist doch das Ergebnis von Bildung und Forschung, Wirtschaft und Arbeit.
Diese drei Punkte sind relevant: lebenslanges Lernen, das arbeitsplatznahe Aktualisieren des Fachwissens und die Erkenntnis, dass Wohlstand sehr wohl auch Infrastrukturaufgaben umfasst.
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Meine Damen und Herren, ich bin mir sicher, dass wir mit dieser Enquete die berufliche Bildung und die Arbeitswelt 4.0 langfristig zusammenbringen werden. Damit bleibt unser Modell der beruflichen Bildung auch in Zukunft erfolgreich. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen in der Enquete-Kommission.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Kollege Knoerig. – Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Die Linke auf Drucksache 19/2979 zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/3031 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke und die AfD-Fraktion. Dagegen waren CDU/CSU und die SPD-Fraktion. Enthalten hat sich die FDP.
Wer stimmt für den Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Zugestimmt haben Die Linke, die SPD, die CDU/CSU, die FDP und die AfD. Enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen. Damit ist der Antrag angenommen. Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen eine sehr erfolgreiche Arbeit in der Enquete.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Uninspiriert, gelangweilt und ohne Konzept. Nach zehn Jahren unter der gleichen Führung scheint sich eine Selbstgefälligkeit und Selbstüberschätzung gepaart mit Bequemlichkeit breitzumachen. – Nein, ich spreche nicht über die Nationalmannschaft.
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Aber die Fußballweltmeisterschaft ist genauso wenig etwas, auf das wir abonniert sind, wie die Exportweltmeisterschaft.
Meine Damen und Herren, Wohlstand, nachhaltiges Wachstum, Lebens- und Berufschancen für Millionen Menschen, Chancen für die zukünftige Generation müssen täglich neu erarbeitet werden. Wir brauchen bessere Rahmenbedingungen für die Wirtschaft in unserem Land. Und vor allen Dingen brauchen wir eine Entlastung für unsere Bürgerinnen und Bürger.
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Was tut aber die Regierung für die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger?
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Wenn es gut läuft: nichts. Wenn es schlecht läuft, dann werden noch zusätzliche Belastungen draufgesattelt. Wir halten das für falsch.
Wenn wir mal die Industrieländer vergleichen, dann stellen wir fest, dass die Belastung durch Steuern und Abgaben für den Normalverdiener in der Bundesrepublik Deutschland die zweithöchste aller Industrieländer ist. Das muss uns wachrütteln. Wenn jetzt die Steuerreformen in Frankreich und in den USA umgesetzt werden, dann fällt Deutschland auch bei den Unternehmensteuern zurück.
Heute berichtet die „FAZ“ über die Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion. Die Antwort dürfte den Fragesteller politisch nicht zufriedenstellen. Denn die Statistiken der Bundesregierung zeigen: Die Einkommen aus Rente sind in den letzten Jahren schneller gestiegen als die Einkommen aus Arbeit und Vermögen.
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Wir sagen: Arbeit muss sich wieder lohnen. Wir sagen: Mehr Netto vom Brutto. Wir sagen: Jetzt ist es an der Zeit, die Bürgerinnen und Bürger zu entlasten.
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Meine Damen und Herren, ich will zwei Punkte hervorheben, zu denen wir konkrete Gesetzesinitiativen eingebracht haben. Erstens: die Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Für 3 Millionen Personengesellschaften in Deutschland ist die Einkommensteuer die Unternehmensteuer. Genau diese mittelständischen Unternehmen sollte man entlasten; der verfassungswidrige Soli sollte abgeschafft werden, und er sollte, liebe Kolleginnen und Kollegen von Linksfraktion und den Grünen, komplett abgeschafft werden.
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Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge. Die Experten sind sich einig: Die Wirtschaftsweisen halten eine Senkung um 0,5 Prozentpunkte für möglich. Die Sozialkassen sind keine Sparkassen. Rücklagen von 20 Milliarden Euro reichen aus, um konjunkturelle Dellen abzufedern. Deshalb ist jetzt der richtige Zeitpunkt, diese Beiträge zu senken.
Ich kann die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, die das ja immer wieder öffentlich gefordert haben und gesagt haben, dass sie das auch wollen, nur ermutigen: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Mit Ihrer Zustimmung zu unserem Antrag zu einem Bürgerentlastungsprogramm können Sie heute ein Zeichen dafür setzen, dass Sie es ernst damit meinen, wenn Sie sagen, dass die Belastungsschraube nicht immer weiter angezogen werden kann. Vielmehr haben es die Bürgerinnen und Bürger verdient, jetzt entlastet zu werden; denn wenn die Steuereinnahmen weiter so wachsen, wie sie in den letzten Jahren gewachsen sind, werden sie sich von 2005 bis 2021 verdoppelt haben. Wann, wenn nicht jetzt, soll man die Bürgerinnen und Bürger entlasten?
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Deshalb werbe ich um Unterstützung für unseren Antrag.
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Vielen Dank, Michael Theurer. – Nächster Redner: Torbjörn Kartes, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Dieser Antrag der FDP ist ein Musterbeispiel, das zeigt, wo der Unterschied zwischen einem Antrag der Opposition, zwischen dem Handeln der Opposition und einem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt.
Es ist vergleichsweise leicht, ein paar Zahlen in einen Antrag zu schreiben – und es sind sicher auch ein paar gute Ideen dabei –, wenn man keine Regierungsverantwortung trägt. Es ist bequem, den Bürgerinnen und Bürgern Entlastungen zu versprechen, wenn man keine Haushaltsverantwortung zu tragen hat und Entlastungen im Übrigen auch nicht finanzieren muss, also Einsparungen an anderer Stelle vornehmen muss.
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Es ist einfach, der Bundesregierung vorzuwerfen, nicht in die Gänge zu kommen, wie Herr Lindner das in der letzten Woche auf seiner Pressekonferenz getan hat. Dabei verschweigen Sie immer wieder, dass Sie ganz stark dafür mitverantwortlich sind, dass es überhaupt zu diesen Verzögerungen bei der Regierungsbildung gekommen ist, liebe Kollegen von der FDP.
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Es ist in der Sache völlig falsch, der Bundesregierung insgesamt Untätigkeit vorzuwerfen. Genau das Gegenteil, meine Damen und Herren, ist der Fall. Um es ganz deutlich zu sagen: Wir haben zur Entlastung der Bürgerinnen und Bürger und insbesondere der Familien schon eine ganze Reihe wichtiger Maßnahmen beschlossen, und im Unterschied zu Ihnen werden wir diese in dieser Legislaturperiode auch umsetzen.
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Ich möchte zumindest auf zwei Punkte Ihres Antrags ganz kurz eingehen. Sie fordern eine Absenkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung um 0,5 Prozentpunkte. Das hört sich gut an.
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Das können wir uns auch gut vorstellen, solange die Konjunktur so ist, wie sie ist. Aber wir müssen uns auch auf andere Zeiten einstellen; denn wir wollen den Beitrag möglichst lange stabil halten können. Deshalb muss man solche Entscheidungen auch ganz genau abwägen, wenn man Verantwortung trägt. Man braucht dafür im Übrigen auch Mehrheiten.
Wir sind aber auch an dieser Stelle längst nicht untätig. Vielmehr werden wir den Beitrag zunächst um 0,3 Prozentpunkte senken. Damit entlasten wir ganz konkret alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land.
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Das ist ein guter und vernünftiger Weg; er ist von Verantwortung gekennzeichnet.
Gleiches gilt für die Streichung des Solidaritätszuschlags ab dem Jahr 2020. Es ist ganz klar: Das wollen wir auch. Wir wollen, dass in Deutschland niemand mehr Solidaritätszuschlag zahlen muss. Da wir dies aber haushaltsverträglich abbilden müssen, werden wir auch hierbei in Schritten vorgehen, sodass – das ist ja die gute Nachricht; die verschweigen Sie – bis 2021 immerhin 90 Prozent aller Steuerzahler den Solidaritätszuschlag nicht mehr zahlen werden. Das betrifft insbesondere natürlich kleinere und mittlere Einkommen. Das sind gute Nachrichten für die Menschen in unserem Land.
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Es ist im Übrigen so, dass wir auch sonst in den ersten 100 Tagen schon einiges auf den Weg gebracht haben, was Familien entlastet. In der gebotenen Kürze: Da ist erstens das Baukindergeld, das gestern vom Bundeskabinett beschlossen worden ist. Das war unsere Forderung. Das war eine Forderung der Union im Wahlkampf. Es kommt jetzt – im Übrigen ohne Begrenzung des Wohnraums.
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Wir werden zweitens das Kindergeld erhöhen, zunächst um 10 Euro, später um 15 Euro, also um insgesamt 25 Euro in dieser Legislaturperiode. Auch hier gehen wir in Schritten vor und verlieren vor allen Dingen nicht aus dem Auge, dass wir am Ende – ich denke, das sind wir zukünftigen Generationen schuldig – immer auch an einem ausgeglichenen Haushalt arbeiten müssen.
Drittens – letzter Punkt –: Wir stellen die Beitragsparität in der gesetzlichen Krankenversicherung wieder her
({7})
und entlasten so ganz erheblich Rentnerinnen und Rentner, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land.
({8})
Sie sehen also: Wir sind mittendrin, wenn es darum geht, Menschen bei uns im Lande zu entlasten.
Wir werden nächste Woche den Bundeshaushalt 2018 beschließen. Dies ist ein Haushalt, der uns finanzielle Spielräume ermöglicht, um gestalten zu können. Diese Spielräume sind tagtäglich erarbeitet worden von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in unserem Land, die jeden Tag früh aufstehen, die hart arbeiten und die ihre Steuern zahlen. Dafür sage ich zum Abschluss – dazu haben wir durch Ihren Antrag immerhin Gelegenheit – ganz herzlich Danke.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Torbjörn Kartes. – Nächster Redner für die AfD-Fraktion: Martin Sichert.
({0})
Meine Damen und Herren! Wertes Präsidium! Ich danke der FDP ausdrücklich für diesen Antrag; denn er zeigt, warum die freiheitliche Partei in diesem Land AfD und eben nicht FDP heißt.
({0})
In Ihrem Antrag stehen viele gute Dinge. Ja, wir müssen die besondere Belastung der Mittelständler abbauen. Ja, wir müssen die versicherungsfremden Leistungen aus der Rentenkasse herausbekommen. Ja, wir müssen die Steuer- und Abgabenlast senken. Ja, wir müssen die Bürokratie deutlich reduzieren. Und ja, der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung gehört gesenkt, und ja, der Solidaritätsbeitrag gehört abgeschafft.
({1})
Als jemand mit viel Erfahrung im öffentlichen Dienst, der weiß, dass wir immer noch Behörden haben, in denen jeder einzelne noch so unwichtige Vorgang ausgedruckt und in Papierform erfasst und archiviert wird, kann ich Ihnen auch aus vollem Herzen sagen: Ja, die öffentliche Verwaltung braucht dringend einen Schub in Richtung Digitalisierung.
({2})
All diese Forderungen sind richtig und gut. Und dann kommt da die eine Forderung, die typisch FDP ist und die die ganzen guten Ideen kaputtmacht. Diese eine Forderung lautet – ich zitiere aus Ihrem Antrag –, „europäisches Recht in Deutschland prinzipiell eins zu eins umzusetzen, ohne zusätzliche nationale Maßnahmen“.
({3})
Dieser eine Satz zeigt ganz klar den Unterschied in der Denkweise zwischen AfD und FDP. Sie wollen die nationale Souveränität aufgeben. Sie wollen den Deutschen Bundestag zu einem willfährigen Erfüllungsgehilfen Brüssels machen.
({4})
Es gibt 30 000 Bürokraten der Europäischen Kommission, die alle ihren Job rechtfertigen müssen. Und wie tun die das? Ganz genau: indem sie ständig neue Bürokratie erfinden und alles in Europa bis ins letzte Detail regeln wollen. Die Europäische Union ist ein Monster der Bürokratie. Sie ist das größte Hemmnis für die Wettbewerbsfähigkeit Europas.
({5})
Jedes Unternehmen, jeder Freiberufler in Deutschland kann ein Lied davon singen, was Ende Mai passiert ist, als man, wie Sie es hier fordern, europäisches Recht in Deutschland prinzipiell eins zu eins umgesetzt hat ohne zusätzliche nationale Maßnahmen. Ende Mai trat die Datenschutz-Grundverordnung in Kraft. Sie hat unglaubliche rechtliche Unsicherheit und einen immensen bürokratischen Aufwand erzeugt.
({6})
Ich möchte dazu einen kleinen Unternehmer zitieren, den Sie, liebe Kollegen von der FDP, sicherlich kennen sollten; denn er war bis 2013 Ihr Fraktionsvorsitzender hier im Deutschen Bundestag. Ich zitiere, was Rainer Brüderle diesen Monat gesagt hat: Brüssel habe ich immer sehr skeptisch gesehen, weil Brüssel zu detaillistisch hineingeht. Sie können nicht von Hammerfest bis Palermo alles gleichschalten. Das funktioniert nicht. Europa wird nur überleben, wenn wir den Ländern ein Stück Identität überlassen. Sie brauchen Wurzeln, wo sie herkommen und wo sie hingehören. Und weiter sagte er: Wir stellen die Weichen in Deutschland falsch. Die Großen, Google und Facebook, sitzen drüben in Amerika. Bei uns machen wir die Datenschutz-Grundverordnung, die keiner versteht. Ich habe ein kleines Unternehmen gegründet. Ich muss für meine Internetseite, wo es nur ein Kontaktformular gibt, sechs Seiten Datenschutzerklärung anheften. Kein Land in Europa macht das.
({7})
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung oder -frage aus der FDP-Fraktion?
Gerne.
Bitte schön.
({0})
Herr Kollege, Sie haben gerade den Eindruck erweckt, dass die FDP etwas ganz Schlimmes sei. Wie ist denn Ihr Vorschlag? Wollen Sie aus der Europäischen Union am liebsten austreten?
({0})
Also, unser Vorschlag ist ganz klar: Wir müssen alle Vorschläge, die aus Brüssel kommen, bis ins letzte Detail prüfen, gegebenenfalls, wie bei der Datenschutz-Grundverordnung, muss man dann eben nationale Maßnahmen ergreifen, wie sie beispielsweise die Österreicher ergriffen haben, die dann gesagt haben:
({0})
Wir nehmen die kleinen Unternehmen an der Stelle aus. Wir schützen die kleinen Unternehmen vor einem massiven bürokratischen Wust, der aus Europa kommt.
({1})
Machen wir doch weiter mit dem Zitat von Rainer Brüderle: „Kein Land in Europa macht das.
({2})
Die Österreicher führen es mit ein, aber die kleinen Unternehmen sind ausgenommen. Wir Deutsche machen den Brüsseler Blödsinn in Perfektion!“ Das, liebe FDP, sagt Ihr ehemaliger Fraktionsvorsitzender, aber Sie wollen hier machen, was kein Land in Europa macht, und den Brüsseler Blödsinn perfektionieren.
({3})
Es sei Ihnen allen hier gesagt: Uns ist die Souveränität Deutschlands heilig. Wir werden im Gegensatz zu Ihnen nicht zum Vollstrecker der Befehle von Herrn Juncker werden.
({4})
Sie mögen statt von Deutschland nur noch von „unserem Land“ reden, Sie mögen von den Deutschen nur noch als den „länger hier in diesem Land Lebenden“ reden und Sie mögen aus der Nationalmannschaft die „Mannschaft“ gemacht haben und in ihr Leute spielen lassen, die mit der Verehrung eines islamistischen Autokraten die deutschen Grundwerte mit Füßen treten.
({5})
So, Herr Sichert, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Herrn Janecek, Bündnis 90/Die Grünen?
Gerne.
Sehr geehrter Herr Sichert, ich glaube, die Gesetze der Logik müssen in Ihren Ausführungen noch ein bisschen bedacht werden. Sie können doch nicht die relativ schlanke europäische Datenschutz-Grundverordnung dazu hernehmen, um zu argumentieren, dass die Ausführungsbestimmungen in Nationalstaaten, die wiederum durchaus zu kritisieren sein können, das Problem sind.
Wo sind Sie jetzt? Wollen Sie 28 verschiedene Einzelstaatsregelungen in allen bürokratischen Bereichen? Dann müssten Sie den Unternehmen und Mittelständlern erklären, dass Sie 28 Rechtssysteme beachten müssen, um auf dem europäischen Binnenmarkt gut agieren zu können.
({0})
Oder ist es vielleicht sinnvoller, dass wir eine europäische Regulierungsebene haben, die möglichst schlank und gut ist?
Beim Handel ist es das Gleiche: Wollen Sie, dass wir 28 Einzelhandelsabkommen mit den USA abschließen? Glauben Sie, dass wir dann im internationalen Kontext überhaupt noch eine Chance hätten?
Sie behaupten, dass nationalstaatliches Handeln uns stark macht. Das Gegenteil ist der Fall: Nur europäisch können wir stark agieren. Was Sie machen, ist gegen die Interessen unseres Landes.
({1})
Auf die Frage antworte ich sehr gerne. Ich zitiere noch einmal Rainer Brüderle:
({0})
Sie können nicht von Hammerfest bis Palermo alles gleichschalten. Das funktioniert nicht.
({1})
Wir sind als Abgeordnete in den Deutschen Bundestag gewählt. Es ist die Verantwortung von jedem, der in diesem Parlament sitzt, dass wir die besonderen Herausforderungen und die besonderen Anforderungen in Deutschland berücksichtigen
({2})
und nicht eins zu eins alles durchwinken, was aus Europa kommt.
({3})
Vielmehr müssen wir überlegen, was für Deutschland vernünftig ist und sinnvoll umgesetzt werden kann. Das ist die Aufgabe jedes Volksvertreters, jedes Abgeordneten im Deutschen Bundestag.
({4})
Ihren Plan – den Sie mit Ihren Zwischenfragen wieder bestätigt haben –, den Deutschen Bundestag zum Abnickverein der EU zu machen,
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werden wir zu verhindern wissen.
({6})
Ich prophezeie Ihnen eins: Solange Sie Deutschland an Brüssel verscherbeln wollen, so lange wird die AfD von Wahlsieg zu Wahlsieg eilen, weil die Deutschen sich eben nicht zu fremdbestimmten Untertanen von 30 000 Bürokraten in Brüssel machen lassen wollen.
({7})
Wenn Christian Lindner sagt: Jede Lösung fängt für uns mit einem Wort an, und dieses Wort heißt „Europa“, dann sagen wir: Jede Lösung muss sich an den Interessen des deutschen Volkes und nicht an den Interessen der EU orientieren. Das ist unser Auftrag hier als Volksvertreter. Deshalb werden wir uns mit aller Kraft jedem entgegenstellen, der Deutschland im Rahmen der EU gleichschalten lassen will.
Deutschland ist unsere Heimat. Wir haben nur diese eine Heimat, und die werden wir nicht aufgeben.
({8})
Nächste Rednerin: Gabriele Hiller-Ohm für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich sage nur: Oje, AfD,
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und komme zum Antrag der FDP. Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Ihr Antrag erinnert mich an eine Streuobstwiese: Sie reihen Vorschläge aus den unterschiedlichsten Bereichen aneinander, verzichten auf ein Gesamtkonzept und nennen Ihren Antrag dann auch noch „Bürgerentlastungsprogramm“. Was Sie uns präsentieren, sind in der Mehrzahl allerdings alte Hüte. Vieles, was Sie fordern, machen wir schon. Sie verfahren nach dem Motto an der Fleischertheke: Darf’s noch etwas mehr sein?
({1})
Dazu ein Beispiel. Die SPD sagt im Koalitionsvertrag: Wir wollen die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um 0,3 Prozentpunkte senken, um die Beitragszahler und Beitragszahlerinnen zu entlasten. Sie schreiben: „Oh nein, das ist ja viel zu ängstlich“, und fordern stattdessen eine Senkung um 0,5 Prozentpunkte. Wir wollen im Gegensatz zu Ihnen die Rücklagen der Sozialkassen nicht zu stark angreifen. Zurzeit haben wir eine sehr gute Konjunkturlage, und wir werden alles dafür tun, dass das auch so bleibt;
({2})
aber leider schwappt die unsägliche „America first“-Handelspolitik auch zu uns rüber und könnte unseren Wirtschaftsaufschwung dämpfen.
Außerdem hat sich die SPD im Koalitionsvertrag einiges vorgenommen, das natürlich solide finanziert werden muss. So werden wir, übrigens genau, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern, eine Bildungs- und Weiterbildungsoffensive starten.
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Damit machen wir die Menschen fit für die Zukunft und die Herausforderungen des digitalen Wandels. Dafür brauchen wir die Rücklagen der Bundesagentur für Arbeit.
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Endlich stellen wir auch die Rentenpolitik auf sichere Beine.
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Sie kritisieren das. Ich sage: Danke, Andrea Nahles, danke, Hubertus Heil!
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Die SPD will das Rentenniveau bei mindestens 48 Prozent stabilisieren und damit den Rentnerinnen und Rentnern Sicherheit geben. Die Beiträge sollen nicht über 20 Prozent steigen. Damit sorgen wir dafür, dass die Beschäftigten nicht zu stark belastet werden. Die Vorschläge der SPD sind eins zu eins in den Koalitionsvertrag eingeflossen, und das ist auch gut so.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle kennen die Geschichte vom Hasen und dem Igel. Genau diese Geschichte finden wir im Antrag der FDP. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, fordern den Ausbau der Infrastruktur, mehr Investitionen in Bildung, Kitas, Ganztagsbetreuung, Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur, leistungsfähige Datennetze und Anreize zur Schaffung von Wohneigentum. Wenn Sie in unseren Koalitionsvertrag schauen, finden Sie gerade zu diesen Bereichen sehr viele ganz konkrete Maßnahmen.
({8})
Anreize zur Schaffung von Wohneigentum haben wir zum Beispiel vor wenigen Tagen mit dem Baukindergeld auf den Weg gebracht.
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Da sage ich nur: Armer Hase FDP! Sie laufen, wir machen!
({10})
In Ihrem vorliegenden sogenannten Bürgerentlastungsprogramm fordern Sie unter anderem auch mehr Flexibilität bei der Arbeitszeit. Sie wollen, dass Beschäftigte zukünftig noch länger als bisher am Stück arbeiten.
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Acht bis zehn Stunden am Tag sind Ihnen nicht genug. Sie lassen bei dieser Forderung den Arbeitsschutzgedanken vollkommen außer Acht und geben vor, die Menschen wollten gerne mehr als zehn Stunden arbeiten.
({12})
Nein, das wollen sie nicht, meine Damen und Herren. Sie müssen es oft, weil sie im Gegensatz zu uns Gutverdienenden keine andere Wahl haben. Es ist erwiesen, dass Arbeitszeiten ab der neunten Stunde schwerwiegende gesundheitliche Auswirkungen haben können.
Das gilt auch für Redezeiten.
Ich komme zum Schluss. – Ihr Angriff auf das Arbeitszeitgesetz hat nichts, aber auch rein gar nichts mit Bürgerentlastung zu tun. Es ist als klares Entlastungsgeschenk an Unternehmen gedacht, die Arbeit nicht am Menschen, sondern am Profit ausrichten.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP – ich komme zum Schluss –, –
Ja, Sie kommen zum Schluss; sonst ziehe ich die Zeit bei Ihren Kollegen ab.
– Sie fordern in Ihrem Antrag den Abbau von Bürokratie. Ja, genau das wollen SPD und CDU/CSU. Das dritte Bürokratieentlastungsgesetz ist fest im Koalitionsvertrag verankert und wird kommen.
({0})
Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP: Auch hier sind Sie wieder in der Rolle des mittlerweile sehr erschöpften Hasen.
Danke.
({1})
Wenn Sie über Arbeitszeiten reden, dann bitte ich, auch daran zu denken, dass die Stenografinnen und Stenografen und die Parlamentsassistenten und -assistentinnen hier einen Hammerjob machen.
({0})
Ich bitte Sie: Halten Sie sich an die Redezeiten! Wir sind jetzt schon wieder bei weit nach Mitternacht.
({1})
– Bitte was? Was wollen Sie? – Ich bitte Sie deswegen von Herzen: Denken Sie auch ein bisschen daran, dass Menschen unseren Betrieb hier aufrechterhalten. Wenn wir über Arbeitszeiten reden, dann sollten wir sie nicht vergessen. Ich brauche da keine Belehrung von Ihrer Seite.
Nächster Redner: Bernd Riexinger für Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer den Antrag der FDP liest, stellt fest, dass sie darin ihre neoliberalen Ladenhüter der letzten Jahre aufwärmt. Mehr ist es nicht.
({0})
Die FDP fordert mehr Wettbewerb im Gesundheitssystem, mehr private Investoren im Bereich der öffentlichen Infrastruktur
({1})
und eine Liberalisierung der Arbeitszeit – alles nicht neu, alles wie gehabt. Das sind die Rezepte der sozialen Kälte aus der Küche von McKinsey und Goldman Sachs.
({2})
Diese Art von Entlastung wird die Mehrheit der Beschäftigten und der Bürgerinnen und Bürger mehr belasten und nicht weniger.
({3})
Über Jahrzehnte ist nur eine Gruppe wirklich spürbar entlastet worden: die Reichen und Superreichen in diesem Land. Daran will die FDP selbstverständlich nichts ändern. Wir wollen, dass die Bürgerinnen und Bürger entlastet werden, aber auf eine Art und Weise, die für mehr Gerechtigkeit sorgt, die die Lebensverhältnisse der Mehrheit der Menschen in diesem Land verbessert.
({4})
Es ist höchste Zeit, Bürgerinnen und Bürger zu entlasten, indem zum Beispiel die Zuzahlungen in der Krankenversicherung gestrichen werden.
({5})
Wir können und wollen auch die Beiträge zur Krankenversicherung senken. Wenn das aber nicht auf Kosten der Pflegekräfte und der medizinischen Versorgung gehen soll, dann muss man schon den Mut haben, die Finanzierung auf eine andere Grundlage zu stellen. Das bedeutet, dass alle in die gesetzliche Versicherung einzahlen: auch Beamte, auch Politiker und auch Selbstständige.
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Und: Es müssen alle Einnahmen veranlagt werden, auch Mieteinnahmen von Immobilienbesitzern, auch Dividenden von Großaktionären. Das wäre gerecht und das Gegenteil der Klientelpolitik der FDP.
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Auch die Mehrheit der Mieterinnen und Mieter muss dringend entlastet werden. Es kann doch nicht sein, dass bei einer Krankenpflegerin oder einer Erzieherin in Stuttgart oder München 50 oder gar 60 Prozent des Lohnes für die Miete draufgehen.
({8})
Die Mieten sind doch gerade wegen der Deregulierung und der Marktorientierung der Wohnungspolitik durch die Decke geschossen. Deshalb müssen die Mieten gedeckelt und Hunderttausende Sozialwohnungen gebaut werden, in öffentlicher und genossenschaftlicher Hand.
({9})
Es wird höchste Zeit, dass die Bezieher unterer und mittlerer Einkommen entlastet werden. Im Unterschied zu allen anderen Parteien haben wir ein Konzept vorgelegt, nach dem alle Bürgerinnen und Bürger mit weniger als 7 000 Euro Monatseinkommen deutlich entlastet werden würden. Bei uns würden die Busfahrerin, die Verkäuferin, der Facharbeiter und die Sozialarbeiterin zwischen 100 und 250 Euro mehr im Monat herausbekommen. Dafür muss man aber schon den Mut haben, diejenigen, die Hunderttausende oder Millionen Euro verdienen, stärker zu besteuern.
({10})
Wir wollen die Bürgerinnen und Bürger entlasten, indem wir ihnen gute Kitas, ordentliche Schulen, gesunde Krankenhäuser und einen gut angebundenen, günstigen Nahverkehr bieten. Die Fahrpreise müssen gesenkt werden.
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Bund und Länder müssen deutlich mehr in Bildung, Gesundheit und Infrastruktur investieren, statt sich dem neoliberalen Diktat der schwarzen Null und dem Artenschutz für Superreiche zu beugen. Oder, anders gesagt: Milliardäre und Millionäre müssen endlich höhere Steuern zahlen, damit Altenpflegerinnen und Erzieherinnen besser bezahlt werden können.
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Der Antrag der FDP erfüllt nicht ein einziges dieser Kriterien. Deshalb lehnen wir ihn ab.
({13})
Danke, Bernd Riexinger. – Nächster Redner für Bündnis 90/Die Grünen: Markus Kurth.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Riexinger, ich habe in meinem Büro gewettet, wie viele Sekunden es dauert, bis Sie zum ersten Mal das Wort „neoliberal“ sagen.
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Ich habe auf 28 Sekunden getippt und die Wette verloren.
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Ich finde, so einfach kann man es sich mit dem Antrag der FDP nun auch nicht machen; einige dieser Forderungen muss man durchaus bedenken.
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Zum Beispiel fordern Sie gleich im ersten Punkt, „die Rentenkasse nicht mit zusätzlichen versicherungsfremden Ausgaben … zu belasten“. – Wohl wahr!
({3})
Da blicke ich – „Mütterrente“ ist das Stichwort – auf die Große Koalition.
Aber, liebe FDP, was hatten wir denn in den Sondierungsgesprächen vereinbart? Das kann ich Ihnen, auch wenn es schon einige Monate zurückliegt, an dieser Stelle nicht ersparen. Wir haben Formulierungen gefunden wie diese: Wir wollen die Sozialversicherungsbeiträge stabilisieren. Dazu sollen unter anderem versicherungsfremde Leistungen aus Steuern finanziert werden. – Warum haben Sie diese Gelegenheit nicht wahrgenommen?
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Eine weitere Forderung aus Ihrem Antrag ist, die Bundesagentur für Arbeit mit einzubinden, um die Qualifizierung Beschäftigter mit einer Teilfinanzierung zu unterstützen. – Sehr richtig! Auch wir fordern die Weiterentwicklung der Bundesagentur für Arbeit zu einer Arbeitsversicherung. Und wir hatten vereinbart, Langzeitarbeitslosen mit nachholender Qualifizierung den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Sie haben gekniffen! Das muss einem klar sein.
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Das ist der Vorwurf, den man der FDP an dieser Stelle mit Blick auf diesen Antrag viel eher machen kann. Und wenn Sie ehrlich sind, dann geben Sie zu, dass Sie abends in Ihre Kissen weinen, wenn Sie jetzt sehen, was hier passiert ist.
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In den Umfragen haben Sie dafür ja auch die Quittung bekommen; Sie sind etwas abgesackt. Jetzt kommen Sie in den Umfragen wieder einen Prozentpunkt nach oben, weil sich eine Partei als politisch noch verantwortungsloser entpuppt – das ist gleich eine ganze Zehnerpotenz –, und das ist die CSU.
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In der knappen Zeit, die ich habe, muss ich doch noch auf ein paar Widersprüche in Ihrem Antrag eingehen. Wenn Sie fordern, dass die Bundesagentur für Arbeit Qualifizierungen von Beschäftigten mitfinanzieren muss, dann passt das nicht damit zusammen, dass Sie den Arbeitslosenversicherungsbeitrag noch weiter absenken wollen. Das ist ein klarer Widerspruch.
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Und wenn Sie, was ja löblich ist, Kitas und schulische Bildung ausbauen wollen, dann dürfen Sie nicht gleichzeitig den Soli vollständig abbauen oder einfach die Grundsteuer als Einnahmequelle der Länder, die auch der Finanzierung der Kommunen dient, schwächen. Auch das ist ein eklatanter Widerspruch.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Vogel, FDP?
Ja, bitte schön. Gerne.
Kurz. – Das gilt für alle.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Lieber Markus Kurth, auf dein selektives Gedächtnis bezüglich unserer gemeinsamen Jamaika-Gespräche will ich gar nicht eingehen, sondern nur fragen, ob dir die letzte Finanzprojektion der Bundesagentur für Arbeit bekannt ist, die nämlich besagt, dass selbst bei einer Absenkung des Beitrags um 0,5 Prozentpunkte jedes Jahr noch zusätzliche Milliarden Gewinn gemacht würden, die in die Weiterbildung von Beschäftigten gesteckt werden könnten. Wenn das so ist, wäre es dann nicht sinnvoll, die Beschäftigten wirklich zu entlasten? Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, wenn auf der einen Seite der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um nur 0,3 Prozentpunkte gesenkt wird, aber auf der anderen Seite der Beitrag zur Pflegeversicherung um 0,3 Prozentpunkte erhöht wird, dann entlasten Sie die Beschäftigten leider um 0,0. Das ist nicht überzeugend.
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Herr Kurth, bitte.
Herr Vogel, Sie wissen, dass die Weiterbildung und Qualifizierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gerade im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen völlig unzulänglich ist, und zwar nicht nur, weil kleine Unternehmen nicht so große Budgets haben, sondern auch deshalb, weil dort die Fluktuation von Beschäftigten relativ hoch ist und die Unternehmen, wenn sie in eine Weiterbildung oder eine umfassende Qualifizierung investieren, nicht wissen, ob der Beschäftigte in fünf Jahren noch bei ihnen angestellt ist oder sie das Geld in den Sand gesetzt haben. Genau aus diesem Grunde und weil wir in diesem Segment angesichts des digitalen Wandels mehr Beschäftigungs- und auch Zukunftssicherheit brauchen, brauchen wir einen richtig massiven Einstieg in die Qualifizierung von Beschäftigten, und dafür brauchen wir diese Mittel.
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Sie sollten sich zu guter Letzt auch mal fragen – wir diskutieren das ja noch im Ausschuss –, ob Sie wirklich eine wirksame Entlastung für viele oder eben nur eine sogenannte Entlastung für wenige wollen. Sie wollen bei der Grunderwerbsteuer Freibeträge einführen. Ich sage Ihnen, wie Sie die Leute viel mehr entlasten könnten, nämlich zum Beispiel durch die Abschaffung der Modernisierungsumlage, wegen der Millionen Mieter zittern.
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Die Modernisierungsumlage ist im Moment aufgrund der niedrigen Zinsen praktisch eine Lizenz zum Gelddrucken für Leute, die die notwendigen Sanierungen teilweise unterlassen. Das machen im Moment große Wohnungsbaugesellschaften, wie zum Beispiel die LEG bei mir in Dortmund. Auf der anderen Seite bauen sie den Balkon außen dran, finanzieren das Ganze fast zu null Prozent am Kreditmarkt und erhöhen dann die Mieten um 11 Prozent über die Modernisierungsumlage. Hier sind die großen Zukunftsthemen, die Sie anpacken könnten.
Die Große Koalition könnte – das möchte ich an dieser Stelle noch mal loswerden – sinnlose Subventionen, die die Immobilienpreise in die Höhe treiben, wie das Baukindergeld, ebenfalls unterlassen, um die Bevölkerung zu entlasten und Spielräume finanzieller Art zu schaffen. Das werden wir im Ausschuss diskutieren. Ich glaube, wir haben noch einiges, womit man Ihren Antrag qualifizieren kann.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Markus Kurth. – Nächste Rednerin: Antje Lezius für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kitaausbau, mehr Geld für Bildung, sinkende Krankenkassenbeiträge, ein Sofortprogramm für die Altenpflege und die Brückenteilzeit, neue Programme für Langzeitarbeitslose, die Neureglung des Familiennachzugs für Flüchtlinge, mehr Verbraucherrechte durch die Musterfeststellungsklage, ein schuldenfreier Bundeshaushalt mit Rekordinvestitionen bis zum Jahr 2022, das Ende des Kreditprogramms für Griechenland, neue Kommissionen für die wichtigen Zukunftsfragen der Digitalisierung, der beruflichen Bildung und für die Entwicklung einer generationengerechten Rente und für das Hier und Jetzt 10 Milliarden Euro Entlastung für Familien und das neue Baukindergeld: All das haben wir in den ersten 100 Tagen beschlossen oder schon umgesetzt.
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Ein ganzes Bündel an Maßnahmen ist auf den Weg gebracht, und viele weitere werden folgen.
Das alles bezeichnet die FDP in ihrer Kampagne öffentlich als Katastrophe.
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Liebe Kollegen und Kolleginnen der FDP, Sie übertreiben hier nicht nur, sondern Sie liegen falsch. Mit diesen Maßnahmen verbessern wir die Lebenssituation unserer Bürger und Bürgerinnen ganz konkret.
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Viele werden sich wegen Ihrer Wortwahl wohl die Augen reiben.
Tatsächlich findet sich vieles, was Sie hier als Bürgerentlastungsprogramm mit uns debattieren, in unserem Koalitionsvertrag wieder. Die Überschrift lautet ganz ähnlich: „Entlastung der Bürgerinnen und Bürger“. Es freut mich, dass hier zwischen der Koalition und der Opposition so viel Einigkeit herrscht und so vieles aus dem Koalitionsvertrag – wir haben es eben schon mal gehört – im Blumenstrauß des breitgefächerten Antrags der FDP wiederzufinden ist. Wir von der Union haben die Bürgerentlastung aber nicht nur im Wahlkampf angekündigt, sondern wir waren auch bereit, den Wählerauftrag anzunehmen, und können die Punkte jetzt umsetzen. Ich glaube, das müssen Sie sich noch ein paarmal anhören.
Wir werden den Solidaritätszuschlag bis 2021 für Bezieher unterer und mittlerer Einkommen abschaffen, wir werden die Einkommensteuertarife bereinigen – Stichwort „kalte Progression“ –, wir werden die Geringverdiener bei den Sozialbeiträgen entlasten, und auch eine Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung ist bereits vereinbart. Umso höher die Entlastung ausfällt, umso besser ist es natürlich. Wir müssen jedoch sicherstellen, dass die Rücklagen der Bundesagentur ausreichend hoch sind, um in Krisenzeiten für Stabilität zu sorgen. Was wir nicht tun werden, ist, am Fließband Gesetze zu produzieren, ohne sie ausreichend zu prüfen und die Finanzierung sicherzustellen.
In der letzten Wahlperiode haben wir knapp 80 Prozent unserer Vorhaben umgesetzt. Meine Damen und Herren, versprochen – gehalten.
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Auch in dieser Wahlperiode haben wir direkt nach der Koalitionsbildung – sie hat allerdings ein bisschen gedauert – mit der Umsetzung des vereinbarten Regierungsprogrammes begonnen. Jetzt sind die ersten 100 Tage vorbei. Über 1 300 Tage liegen noch vor uns.
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Ich bin zuversichtlich, dass wir wieder eine hohe Prozentzahl, ja vielleicht eine noch höhere Prozentzahl als beim letzten Mal erreichen werden. Wir meinen es ernst, verantwortungsvoll im Sinne der Bürgerinnen und Bürger und meiner beiden Enkel, die vor ein paar Stunden geboren wurden.
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Danke schön.
Ich gehe einmal davon aus, dass es Zwillinge sind.
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Dann wünsche ich den beiden alles, alles Gute, ein glückliches Leben in Frieden und viel Lebensfreude.
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Sind es Mädchen oder Jungs?
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– Ah, ein Pärchen. Ganz kurz: Haben sie eine ältere Schwester?
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– Ansonsten hätte ich einiges zu erzählen gehabt, was auf sie zukommt. Ihren Enkelkindern alles, alles Gute. – Der nächste Redner – jetzt bin ich gespannt, was er alles mitbringt –: Lothar Binding für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich finde, für eine Gratulation muss Zeit sein. Wenn das nicht mehr gehen würde, wären wir kulturell kurz vor dem Ende.
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Es gab einmal ein Plakat von der FDP – ich kann mich nicht mehr erinnern, aus welchem Jahr –: „Mehr Netto vom Brutto.“ Ich habe mich – das fiel mir wieder ein, weil Herr Theurer das zitiert hat – damals immer gefragt, wo das endet. Das endet dort, wo netto gleich brutto ist; denn immer ist mehr Netto vom Brutto erst dort zu Ende, wo brutto gleich netto ist.
Was ist eigentlich die Differenz zwischen Netto und Brutto? Das will ich Ihnen sagen: der Bau von Straßen, auf denen alle fahren; Theater, in die alle gehen können; innere Sicherheit, die allen dient;
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eine gute Polizei, die allen hilft;
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Schwimmbäder!
Schulen, in die alle gehen können; berufliche Bildung; Frieden in Europa; Kindergärten; Schienen, auf denen alle fahren können; Datennetze, auf denen unsere Daten fließen; geförderter Wohnungsbau; Kindergeld und Kinderzuschlag usf.
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All das ist die Differenz zwischen Brutto und Netto. Wenn Sie die abschaffen wollen, dann: Gute Nacht, Deutschland!
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Das ist keine gute Sache.
Ich verstehe aber, ehrlich gesagt, weil der Herr Lindner so nett lächelt, warum die FDP nicht regieren wollte. Dann hätte man so einen Antrag gar nicht stellen können. Er klingt ja unheimlich gut. Das ist so ein Ich-wünsch-mir-was-Antrag. Ich muss sagen: In dem Antrag findet sich ein verräterischer Satz. Bürgerentlastung klingt zwar gut. Aber wenn man der Sache auf den Grund gehen will, dann findet man diesen Satz:
Es gilt wieder eine faire Balance zwischen den Belastungen von Bürgerinnen und Bürgern und den Einnahmen des Staates herzustellen.
Ehrlich gesagt: Die Einnahmen des Staates sind doch die Belastungen des Bürgers. Sie sind doch geradezu gleich. Die Steuern, die die Bürger zahlen, sind die Einnahmen des Staates. Da kann man keine Fairness herstellen. Das ist ja sogar gleich.
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– Ja, das muss man sich einmal überlegen. Darum geht es doch. – Es ist anders: Die Bürgerinnen und Bürger sind nämlich der Staat. Das ist die zweite Dimension. Ich kann keine Differenz zwischen uns als Bürger und unserem Staat sehen. Deshalb sagen wir auch „Staatsbürger“. Also, das ist doch verständlich.
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Uns geht es vielmehr um die Frage der Differenz zwischen Arm und Reich – da könnten wir einmal genauer hingucken – und nicht um die Differenz zwischen Bürger und Staat.
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Sie sagen, Sie wollen gerade die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen steuerlich am stärksten entlasten. Das ist vielleicht eine gute Idee. Sie schlagen hier vor, den zweiten Tarifeckwert nach rechts zu verschieben. – Jetzt frage ich: Hilft dieser Vorschlag tatsächlich der Behauptung, die Sie aufstellen, nämlich die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen zu entlasten? Die Antwort ist Nein. Es entlastet die Bezieher höherer Einkommen stärker.
Übrigens ist das systematisch unvermeidbar: Wenn man Steuern auf diese Weise senkt, entlastet das diejenigen am stärksten, die am meisten Steuern zahlen. Das also wollen Sie. Sie haben das aber nicht explizit gesagt. Hätten Sie es ehrlich gemeint, dann hätten Sie gesagt: Wir müssen den Spitzensteuersatz, der heute schon bei weniger als dem Doppelten des Durchschnittseinkommens beginnt, deutlich nach rechts verschieben. – Das wäre unbezahlbar. Also wäre es gerecht, zu sagen: Wir heben den Spitzensteuersatz deutlich an. – Das wäre ein richtig guter FDP-Vorschlag, weil das die Steuerstrukturkurve auf eine gerechte Progression zurückführen würde.
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Stattdessen beantragen Sie ein Sammelsurium von Steuergeschenken. Sie geben den Staatsbürgern sozusagen das zurück, was Sie ihnen vorher genommen haben. Das macht irgendwie keinen Sinn. Wir lehnen diese unrealistischen Versprechungen ab. Das ist das Blaue vom Himmel. Deshalb ist es schön, dass Gabriele Hiller-Ohm und einige Kollegen von der CDU/CSU schon vorgetragen haben, welche Maßnahmen wir konkret machen. Die sind kein „Wünsch dir was“, sondern ganz konkret. Dabei gibt es aber etwas richtig Dummes: Das, was wir vorschlagen und machen, muss ja bezahlt werden. Das Familienentlastungsgesetz muss im Haushalt abgebildet werden. Der Grundfreibetrag soll angehoben werden. Die kalte Progression wird kompensiert. Zur kalten Progression steht auch wieder etwas in Ihrem Antrag. So etwas Überflüssiges: Die ist schon längst erledigt.
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Seit über 20 Jahren wird sie kompensiert. Sie müssen nur auf die Tarife und auf die Bemessungsgrundlage schauen. Man muss eine kleine Berechnung anstellen, um das zu sehen; das stimmt.
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Wir wollen den Solidaritätszuschlag abschaffen, und zwar in einem ersten Schritt zur Hälfte. Später sehen wir dann, ob sich noch mehr machen lässt. Das Kindergeld wird angehoben, und es ist alles finanziert. Das macht unsere Arbeit seriös, und Ihre Arbeit ist dort, wo ich sie eben angesiedelt habe.
Schönen Dank.
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Vielen Dank, Lothar Binding. – Der letzte Redner in der Debatte: Stephan Stracke für die CDU/CSU-Fraktion. Jetzt müssen Sie ran.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dass dem Kollegen Binding angesichts der Rekordsteuereinnahmen gleich die Erhöhung des Spitzensteuersatzes einfällt, ist natürlich eine Spezialität der SPD.
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Nun zur FDP: Der Antrag ist ein wildes Sammelsurium von Einzelvorschlägen ohne erkennbaren konzeptionellen roten Faden. Er enthält im Übrigen auch kein einziges Wort dazu, welche finanziellen Auswirkungen die vorgeschlagenen Maßnahmen tatsächlich hätten. Der Antrag hat etwas von einem Wühltisch im Schlussverkauf: Man gräbt sehr lange, aber am Ende findet man nichts Gescheites. Deswegen will ich mich nicht so intensiv inhaltlich mit dem Antrag befassen, sondern einfach mal deutlich machen, was diese Regierungskoalition tatsächlich tut.
Sie steht nämlich für die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger. Wir halten in diesem Bereich Wort und haben schon in den ersten 100 Tagen im Amt zwei große Entlastungspakete mit einem Umfang von 12 Milliarden Euro für 2019 und 18 Milliarden Euro ab dem Jahr 2020 auf den Weg gebracht. Dabei steht zunächst im Vordergrund: Wir wollen, dass der Beitrag zur Krankenversicherung wieder zu gleichen Teilen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gezahlt wird. Das ist gut und kommt vor allem den Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung zugute, mit einem Entlastungsvolumen von jährlich 8 Milliarden Euro. An dieser Stelle schrubbelt die FDP. Es ist ganz offenkundig: Wir wollen, dass den Bürgerinnen und Bürgern bzw. den Versicherten mehr Geld in der Tasche bleibt, die FDP will das natürlich nicht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind diejenigen, die einen klaren Schwerpunkt bei den Familien mit Kindern setzen. Sie erhalten eine milliardenschwere Unterstützung durch den Bund. Ich denke hier an das Kindergeld, das wir erhöhen, den Kinderfreibetrag, den wir erhöhen, das steuerliche Existenzminimum, das wir anheben wollen, und den Abbau der kalten Progression. Davon profitieren vor allem die unteren und mittleren Einkommen mit einem Entlastungsvolumen von 4 Milliarden Euro im nächsten Jahr. Das steigt dann auf über 10 Milliarden Euro an. Das zeigt: Auch wir haben einen klaren Blick auf diejenigen, die es nötig haben, auf Kinder und Familien, und deswegen stellen wir das in den Vordergrund.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, Kollegin Hiller-Ohm hat die Arbeitslosenversicherung angesprochen. Wir haben uns im Rahmen des Koalitionsvertrages darauf verständigt, den Beitrag um 0,3 Prozentpunkte absenken zu wollen. Das ist auch fest so vereinbart. Ich hoffe, der Minister bringt das jetzt auf den Weg. Dennoch: Die Idee dabei war ja, die Menschen netto in Höhe von 1,8 Milliarden Euro zu entlasten. Jetzt sehen wir natürlich die Entwicklungen, die wir beispielsweise bei der Pflegeversicherung haben.
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Deswegen ist es sinnvoll, bei der Arbeitslosenversicherung weiterzugehen und um bis zu 0,5 Prozentpunkte zu senken. Die Rücklagen sind doch da: 22,5 Milliarden Euro am Ende dieses Jahres, und das baut sich selbst bei 0,5 Prozentpunkten auf über 28 Milliarden Euro auf. Der Spielraum ist da, und wir sollten das tun, weil es letztendlich auch den Geist des Koalitionsvertrages atmet.
Wir haben einen weiteren wesentlichen Punkt für Familien auf den Weg gebracht, nämlich das Baukindergeld, ein schneller und wirksamer Impuls für die Eigentumsbildung durch Familien. 12 000 Euro Zuschuss pro Kind, rückwirkend ab dem 1. Januar dieses Jahres! Bayern legt noch 3 000 Euro pro Kind drauf. Das nennt man Baukindergeld Plus. Da merkt man: Ein großer Wurf für das Wohnen! Das gibt einen echten Schub für mehr in diesem Bereich. Das zeigt: Wir machen uns entschlossen daran, die Menschen zu entlasten. Das tun wir in dieser Koalition und vor allem unter dieser Bundesregierung.
Herzliches Dankeschön.
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Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/2986 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Pflegeberufe reiht sich ein in das Gesamtpaket, das wir in der Koalition gemeinsam angehen, um die Vertrauenskrise, die es in der Pflege gibt und die wir alle im Kontakt mit Pflegekräften in der Alten- und Krankenpflege spüren, zu überwinden. Wir haben gesagt: Wir wollen 13 000 neue Stellen in der Altenpflege schaffen. Wir senden für die Krankenpflege die klare Botschaft: Jede zusätzliche Stelle in den Krankenhäusern für die Pflege wird finanziert. „Kein Geld“ ist keine Ausrede mehr für die Arbeitgeber, für die Kliniken.
Wir beginnen in der nächsten Woche zusammen mit dem Arbeitsministerium und dem Familienministerium die konzertierte Aktion für die Pflege. Denn jeder weiß: Stellen schaffen alleine löst das Problem nicht. Die Stellen müssen auch besetzt werden. Da geht es um die Attraktivität des Pflegeberufs. Die Ausbildung für einen solchen Beruf, also Fragen, wie die Ausbildung angelegt ist und welche Perspektiven sie für den weiteren Weg bietet, ist ein ganz wichtiger Baustein. Deswegen ist es gut, dass wir mit der Verordnung, die heute hier beschlossen werden soll, die Einzelheiten – auf diese warten alle, damit es zum 1. Januar 2020 mit der einheitlichen Pflegeberufsausbildung losgehen kann – eines gut qualifizierten, perspektivebietenden Pflegeberufs für die berufliche und die hochschulische Ausbildung festlegen. Ich bin dem Familienministerium und der Frau Kollegin Giffey genauso wie den Kollegen in der Koalition sehr dankbar, dass wir das so zügig miteinander hinbekommen haben. Das ist ein starkes Signal für die Pflege und die Pflegekräfte in Deutschland.
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Dazu gehört – wir haben die Finanzierungsverordnung parallel vorgelegt – ein ganz wichtiges Thema. Zu Recht gab es über viele Jahre Aufregung darüber, dass in der Pflege noch Schulgeld zu zahlen war, und zwar in manchen Bundesländern bis heute. Es kann doch nicht sein, dass man in einem Bereich, wo wir so dringend Nachwuchs und jede einzelne Pflegekraft brauchen, Schulgeld zu zahlen hat, also noch Geld mitbringen muss. Das beenden wir hiermit und legen fest, dass es endlich eine Ausbildungsvergütung gibt. Das haben diejenigen, die sich für diesen Ausbildungsberuf entscheiden, verdient. Schluss mit Schulgeld und endlich eine Ausbildungsvergütung!
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Natürlich gehören zum Pflegeberuf Empathie, Leidenschaft und Einfühlungsvermögen, aber auch Wissen und Können. Deswegen ist es wichtig, dass wir den Stand des Jahres 2018 für die Pflege von Kindern und Jugendlichen, von alten und älteren Menschen genauso mit Blick auf die Krankenpflege in den Krankenhäusern wie mit Blick auf die Altenpflege in den ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen hier gemeinsam sowohl in berufspädagogischer Hinsicht als auch bei den Inhalten und vor allem im Hinblick auf die Aufgaben, die uns in Zukunft erwarten, mit dieser Ausbildungs- und Prüfungsverordnung festschreiben.
Aber ich will eines schon sagen, weil ich ja auch ahne, was der eine oder andere nach den Stellungnahmen der letzten Tage und nach der Anhörung öffentlich gesagt hat: Mich irritiert etwas, wie die Debatte mit Blick auf die Altenpflege geführt wird. Denn natürlich geht es darum, eine gute Balance zu schaffen; darum haben wir ja auch gerungen. Es ist uns gelungen, gut austariert ein hohes Niveau für diejenigen, die sich im dritten Jahr für die Altenpflege entscheiden, festzuschreiben; denn natürlich – ich sage es noch mal – gehört das nötige Wissen zur Ausbildung und zur Pflege mit dazu.
Aber ich finde, es ist genauso richtig, dass niemand von zu hohen Anforderungen abgeschreckt werden soll. Ich möchte, dass auch in Zukunft Haupt- und Realschüler die Möglichkeit haben, eine solche Ausbildung nicht nur zu beginnen, sondern auch erfolgreich abzuschließen; denn wir brauchen in der Pflege jeden, der kann und will. Deswegen finde ich manche Debatte der letzten Tage ziemlich irritierend.
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Ich muss dazu sagen – ich meine das sehr ernst –: Überlegen Sie auch angesichts dessen, was wir an hohem Niveau in den Anforderungen festgeschrieben haben, genau die Worte für die Debatte heute und in den nächsten Tagen. Denn die Art, wie wir jetzt über die Altenpflege und über das Niveau der Altenpflegeausbildung reden – es wird so getan, als stünde in der Verordnung all das, was so behauptet wird –, bestimmt mit darüber, wie das Bild dieses Berufes ist und wie attraktiv es für junge Menschen ist, in diesen Bereich hineinzugehen. Ich habe nichts dagegen, dass wir fachlich darüber reden, wie die Anforderungen sind. Aber so, wie die Wortwahl in manchen Bereichen in den letzten Tagen gewesen ist, ist das ein Schlag ins Gesicht von vielen jungen Menschen, die sich für diese Ausbildung entscheiden wollen. Das möchte ich hier mal ausdrücklich gesagt haben.
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Ich finde, es ist uns gelungen, hier einen langjährigen Prozess der Debatte sowohl der Berufsverbände, der Pflege insgesamt als auch politisch mit dem Pflegeberufegesetz aus der letzten Legislatur und mit den beiden Verordnungen – eine davon wird heute hier im Bundestag hoffentlich, ich bitte Sie jedenfalls darum, verabschiedet – abzuschließen. Damit setzen wir einen ganz, ganz wichtigen Meilenstein für einen der wichtigsten Ausbildungsberufe, die wir in Deutschland haben, und vor allem für einen der Berufe, für den gilt, dass wir in Zukunft noch Zigtausende junge Menschen gemeinsam davon überzeugen wollen und, ich denke, auch können, dass es ein Beruf ist, der Zukunft hat, der Perspektive hat, der vor allem aber eben auch Wissen und Wissensvermittlung braucht; denn es geht um die Pflege von kranken und alten Menschen.
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Ich erteile das Wort dem Kollegen Detlev Spangenberg von der AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Immer wenn ich eine neue Stelle antrat, hat man mich gefragt, was ich da so machen will, und dazu hatte ich mir einen Satz zurechtgelegt: Bewährtes bleibt, und Neues wird angegangen.
Die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Pflegeberufe passt hier. Warum haben wir bewährte eigenständige, spezielle Berufsbilder einfach abgeschafft? Der Beruf der Säuglingsschwester, der Krankenschwester – wir haben auch schon über den Begriff des Altenpflegers gesprochen –: Damit einher gingen nationale gute Berufsabschlüsse. Die sind natürlich durch die EU-Berufsanerkennungsrichtlinie verschwunden. Das sehe ich als Eingriff in eigenständige nationale Entscheidungen, die ich für nicht notwendig halte.
Eine Generalisierung, die hier vorgesehen ist, um verschiedene berufliche Anforderungsprofile in einer Ausbildung zusammenzufassen, kann auch sehr nachteilig sein. Da gibt es den berühmten Vergleich zwischen dem Philosophen und dem Fachmann, den Sie alle kennen: Der Philosoph weiß von vielem wenig, und der Fachmann weiß von wenig sehr viel. – Hier besteht die Gefahr, dass die Generalisierung in diese Richtung geht. Dazu kommen noch spezielle Länderregelungen, eigene Curricula verschiedener Berufsschulen. Somit besteht keine sichere Vergleichbarkeit der Qualifikationen verschiedener Absolventen, und es besteht ein Mehraufwand für schulische Einrichtungen.
Das Gegenteil wäre eigentlich richtig: Eine neuzuschaffende Ausbildungs- und Prüfungsverordnung sollte eine bundeseinheitliche Regelung gewährleisten. Es ist unsinnig, einerseits nach europäischen Vereinheitlichungen zu streben, aber andererseits bei uns einen föderalen Bildungsflickenteppich mit uneinheitlichen Lehrplänen an den einzelnen berufsbildenden Einrichtungen zuzulassen.
Wichtiger, als an der Ausbildung derartige weitreichende Experimente vorzunehmen, ist es, die Arbeitsbedingungen in allen Pflegeberufen zu verbessern, die Bezahlung den Anforderungen anzupassen, also deutlich zu erhöhen; denn damit bleiben die Pflegekräfte länger in ihrem Beruf oder generell in ihrem Beruf.
Da die Auszubildenden wechselnd an mehreren, oft weit auseinanderliegenden Einrichtungen arbeiten sollen, entsteht für diese wie auch für die Ausbildungsbetriebe ein erhöhter Aufwand, der bis zur Überforderung gehen kann. Das halten wir für nicht günstig.
Es ist auch schlicht unmöglich, alle Auszubildenden in der generalistischen Phase der Pflegeausbildung durch zum Beispiel eine Kinderklinik zu schleusen; so sinngemäß die Stellungnahme von Professor Wolfgang Kölfen, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin.
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Durch die vorgesehene Generalisierung verhindert man eine durchgängige spezialisierte Vermittlung von Fertigkeiten und Wissen. Dies erschwert somit den Ausbildungsbetrieben wie auch den Auszubildenden die Umsetzung. Die Generalisierung sollte aus unserer Sicht allenfalls im Laufe des ersten Ausbildungsjahrs abgeschlossen sein.
Zu den Ausbildungsvoraussetzungen; das ist eben schon beim Minister angeklungen: Den Hauptschulabschluss nach der neunten Klasse zuzulassen, aber nicht den erweiterten Hauptschulabschluss als Forderung einzubringen, das ist auch unsere Forderung; denn zahlreiche junge Leute arbeiten bereits darin. Diese erschwerende Forderung nach dem erweiterten Hauptschulabschluss könnte dazu führen, meine Damen und Herren, dass junge Leute davon abgehalten werden, die Ausbildung anzugehen.
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Hauptschüler – so ist es in einer Erklärung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände vom 19. Juni 2018 noch mal betont – sind ein Potenzial, auf das wir nicht verzichten können.
Empathie, soziale Kompetenz sind hier gefragt. Zusätzlich haben diese Menschen auch eine Chance auf ein erfülltes Berufsleben. Dazu passt auch ein Zitat des ehemaligen Bundesgesundheitsministers von der FDP, Daniel Bahr. Er sagte sinngemäß: Es kommt viel mehr auf die soziale Kompetenz an als auf ein oder zwei Jahre mehr Schulzeit.
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Meine Damen und Herren, wir brauchen eine schnelle Lösung und kein Rumbasteln, nicht irgendwelche Ausbildungsexperimente.
Übrigens: Frühere Zivildienstleistende, die teilweise sogar ohne Ausbildung mit in diesem Beruf gearbeitet und geholfen haben, waren eine sehr wichtige Stütze und haben dafür sehr hohe Anerkennung erfahren. Das sollten wir nicht vergessen.
Die Anhörung am Montag, dem 25. Juni, hat gezeigt, dass Anregungen und Kritik von vielen Seiten gekommen sind. Zum Beispiel wurde die Reduzierung der praktischen Ausbildung negativ angesprochen: halbiert von 2 500 Stunden auf 1 300 Stunden. Dann wurde auch gesagt, die Qualifikation sollte sich mehr auf die direkte Arbeit mit den Menschen beziehen; das sagte ich eben. Weiter: Häufige Zwischenprüfungen haben eventuell einen sehr hohen Prüfungsdruck zur Folge; so sagt es zum Beispiel Verdi.
Die Senkung des Qualitätsstandards und die Wertigkeit für die Altenpflegeausbildung werden auch in Bezug auf die Anlage 4 kritisiert: Die Zugangsvoraussetzungen würden mit den Prüfungsanforderungen kollidieren. Die Formulierungen würden wegen ihrer substanziellen Schlechterstellung gegenüber den Anlagen 2 und 3, also Pflege und Gesundheit, abgelehnt; so das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung.
Meine Damen und Herren, die Ablehnung dieser Verordnung durch uns ist damit begründet, dass grundsätzliche Einlassungen in der Sachverständigenanhörung vom 25. Juni nicht eingearbeitet worden sind. Man sollte die erst mal auswerten. Was haben wir davon, wenn wir eine Sachverständigenanhörung machen und ihre Erkenntnisse dann nicht einfließen? Das sollte erst mal gemacht werden. Wenn wir das alles beachtet haben, denke ich, dann kommt auch mehr dabei heraus.
Recht vielen Dank.
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Die nächste Rednerin ist Frau Bundesministerin Dr. Franziska Giffey.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Wer Pflege braucht, muss gut gepflegt werden. In Deutschland gibt es 2,9 Millionen Pflegebedürftige. 1,4 Millionen werden durch die Familie gepflegt; das muss auch mal gesagt werden. Manche werden durch Familie und Pflegedienste gepflegt. Aber mindestens 1,5 Millionen werden von denjenigen gepflegt, die in der Altenpflege arbeiten. Auch wenn die Zahlen sich in den letzten Jahren gesteigert haben – wir haben im Moment gut 750 000 Pflegefachkräfte in Deutschland; das ist eine Steigerung in den letzten 20 Jahren um 74 Prozent –: Es reicht noch nicht. Es ist ganz klar – wir sind uns alle darüber einig –: Es sind zu wenige. Wir brauchen mehr. Erst recht für die Zukunft muss man das sagen; denn die Zahl der Pflegebedürftigen wird sich weiter erhöhen. Die Prognosen sagen: Bis 2050 wird sie sich fast verdoppeln.
Wir arbeiten dafür, dass diejenigen, die Pflege brauchen, gut gepflegt werden. Dafür ist die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Pflegeberufe ein ganz wichtiger Schritt.
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Wir brauchen Fachkräfte, die sich kümmern; wir brauchen gut ausgebildete Fachkräfte. Das Pflegeberufegesetz ist dafür die Voraussetzung. Wir modernisieren die Pflegeausbildung und gestalten sie attraktiver. Wir schaffen – das hätte eigentlich auch schon früher passieren können – das Schulgeld an Pflegeschulen ab, dieser überfällige Schritt wird endlich gemacht.
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Wir schaffen aber nicht nur das Schulgeld ab, sondern garantieren auch eine angemessene Ausbildungsvergütung. Das wird vielen jungen Leuten den Schritt erleichtern, diesen Beruf zu wählen.
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Niemand soll sich mehr fragen müssen, ob er es sich leisten kann, diesen Beruf zu erlernen.
In einer modernen Pflegeausbildung hat die Pflege älterer Menschen auf jeden Fall eine hohe Bedeutung, weil es einfach auch immer mehr ältere Menschen gibt. Die Verordnung zeigt, wie anspruchsvoll die Pflegeberufe sind, gerade, wenn man sich ansieht, wie künftig Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner Prävention mitdenken müssen, wie sie den Erhalt der Selbstständigkeit der älteren Menschen, die sie pflegen, im Blick behalten müssen. Sie müssen in kritischen und krisenhaften Pflegesituationen eigenständig entscheiden können, was zu tun ist. Sie müssen ärztliche Anordnungen in der jeweiligen Situation richtig auslegen und umsetzen. Das kann nicht jeder. Darauf muss man vorbereitet werden, das muss gelernt sein, und erst dann werden junge Leute richtig gut darin.
Wir wollen, dass die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung eine große Rolle im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege spielt. Wir haben uns gemeinsam mit Jens Spahn und Hubertus Heil auf einen Schwur geeinigt, nämlich darauf, zusammenarbeiten und unseren Job gemeinsam machen. Diese Aufgabe wird nur gut zu leisten sein, wenn die drei betreffenden Ministerien an dieser Stelle zusammenarbeiten. Wir wollen, dass die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung ein erster Schritt im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege ist, und es muss weitergehen – mit attraktiver Ausbildung, mit der Unterstützung der Pflegeschulen, mit Möglichkeiten zur Umschulung, mit attraktiven Arbeitsbedingungen und vor allen Dingen einer besseren Bezahlung.
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Wir werden nächste Woche damit starten. Es geht darum, dass wir zusammenarbeiten und es auch schaffen, dass der Pflegeberuf einen Imagewandel erfährt.
Ich bin letztens an einer Pflegeschule gewesen. Mir haben die Pflegekräfte gesagt, sie wünschen sich vor allen Dingen mehr Zeit, aber auch, dass es wieder cool ist, Pflegefachkraft zu sein.
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Dafür müssen wir sorgen – durch mehr Anerkennung, bessere Bezahlung, bessere Arbeitsbedingungen und eine moderne Ausbildung –, damit diejenigen, die sich um die anderen kümmern, auch das Gefühl haben, dass sich jemand um sie kümmert und sie einen Beruf haben, der wertgeschätzt und anerkannt wird. Dafür ist die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung ein wichtiger Grundstein. Ich hoffe sehr, dass Sie uns dabei unterstützen werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Ministerin. – Die nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Westig für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Endlich liegt die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung vor, auf die die Pflegeschulen seit langem warten. Vor dem Hintergrund des akuten Personalmangels in der Pflege sieht es allerdings so aus, als sollten hier möglichst schnell möglichst viele Menschen die Pflegeausbildung durchlaufen – zulasten der Qualität.
Die neue Pflegeausbildung sollte der große Wurf werden – wir haben es gerade gehört –, für mehr Attraktivität und für eine Aufwertung des Pflegeberufs. Aber, meine Damen und Herren, wenn man einen Beruf aufwerten will, dann fängt man doch nicht mit einer Abwertung der Qualität an –
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so geschehen in der Altenpflege. Mit der neuen Anlage 4 der Verordnung sind die Standards in der Altenpflegeausbildung derart heruntergesetzt worden, dass die Altenpflege damit zu einer „Pflege light“ verkommt. – Herr Minister, das sind jetzt keine bösen Äußerungen aus der öffentlichen Debatte; das ist die nahezu einhellige Meinung der Experten in der Anhörung am vergangenen Montag.
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Wir sollten da schön differenzieren. Die Experten waren sich nahezu einig, aber das hatte keine Konsequenzen. Ein Nachbessern oder wenigstens eine Rückkehr zur Ursprungsfassung hält diese Regierung nicht für nötig.
Freie Demokraten wollen beste Bildung. Das gilt auch für die berufliche Ausbildung, und das gilt erst recht für die neue Pflegeausbildung. Die alternde Gesellschaft stellt uns vor besondere Herausforderungen: Wie gehen wir mit Demenz um, wie mit Multimorbidität? Die Antworten auf diese Fragen gehören in die Ausbildung, und zwar mit professionellen, etablierten und evidenzbasierten Instrumenten.
({2})
Das ist auch eine Frage der Verantwortung und Wertschätzung gegenüber unseren alten Menschen, meine Damen und Herren.
Die FDP vermisst zudem einen eigenen Kompetenzbereich zur Digitalisierung.
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Wir haben gerade viel von dem modernen Berufsbild gehört. Aber: Wie bitte schön lässt sich heute noch ein Berufsbild modern definieren ohne Digitalisierung? In der Digitalisierung liegt ein Schlüssel für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege. Digitale Anwendungen können Pflegekräfte spürbar entlasten und ihnen das zurückgeben, was ihnen aktuell am meisten fehlt: Zeit – Zeit für den Pflegebedürftigen, Zeit für die Pflege am Bett.
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Die Digitalisierung ist jedoch kein Selbstzweck. Sie muss reflektiert angewandt werden. Die Vermittlung digitaler Kompetenzen kommt hier entschieden zu kurz. Gerade in der Pflege geht es doch auch um rechtliche und ethische Fragen der Digitalisierung. Es geht um sensible Patientendaten, deren Umgang erlernt werden muss. All das fehlt in der Verordnung.
Ein weiteres Gebot der Stunde ist die Entbürokratisierung der Pflegedokumentation. Dazu wurde das in der Langzeitpflege vielfach eingesetzte Strukturmodell entwickelt. In der Verordnung ist das Strukturmodell aber nicht konsequent abgebildet. Dabei ist es wichtig, dass Auszubildende einen Überblick über die verschiedenen Pflegeprozesse und die Konzepte der Pflegeziele und Pflegediagnosen erhalten, also auch hier eine verpasste Chance.
Aus diesem Grunde können die Freien Demokraten der Verordnung nicht zustimmen. Allerdings drängt die Zeit: Die Pflegeschulen stehen unter einem enormen Zeitdruck; sie müssen schnell ihre Curricula für 2020 entwickeln. Vor diesem Hintergrund können wir es nicht verantworten, die Verordnung abzulehnen, und werden uns enthalten.
Die Auswirkungen der neuen Pflegeausbildung werden wir im Blick behalten. Gelingt es, mehr Menschen für den Pflegeberuf zu begeistern? Was geschieht mit der Qualität der Ausbildung? Wie entwickeln sich die Anzahl der Auszubildenden und die der Ausbildungsbetriebe? Was ist mit der Ausbildung zum Pflegeassistenten als Einstieg und Möglichkeit zur Weiterbildung? Diese und weitere Fragen werden wir kritisch-konstruktiv begleiten.
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin: die Kollegin Pia Zimmermann, Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Liebe Gäste auf den Tribünen! Werte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie haben eine Ausbildungs- und Prüfungsverordnung vorgelegt, die von vielen Seiten kritisiert wurde und kritisiert wird, zuletzt in der Anhörung am Montag. Dort kamen Fachleute zu Wort, denen Sie offensichtlich nicht richtig zugehört haben.
({0})
Vor allem zur Ausbildung zur Altenpflege haben Sie sich mehrfach anhören müssen, dass die vorliegende Ausbildungs- und Prüfungsverordnung keine geeignete Basis für eine gute Berufsausbildung darstellt.
Am Montag bei der Anhörung wurde allerdings die Zustimmung der Arbeitgeberverbände zu dieser Verordnung ersichtlich, mit der die Altenpflege deutlich in die zweite Reihe gestellt wird. Die Hoffnung, auch weiterhin billige Arbeitskräfte in der Altenpflege beschäftigen und damit satte Profite einfahren zu können, scheint sich zu erfüllen.
({1})
Und noch ein Geschenk macht die Bundesregierung ihren erfolgreichsten Lobbyisten in der Pflegepolitik: Die bestandene Zwischenprüfung kann mit nur wenigen Kniffen als Abschluss in der Pflege anerkannt werden, und damit können Absolventinnen und Absolventen als Fachkräfte gezählt werden. Das bringt dann, schwuppdiwupp, mal wieder Geld in die Kassen; das kann doch wohl nicht wahr sein.
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Meine Damen und Herren, es sind nicht nur die Sozialverbände, kirchlichen und gemeinnützigen Verbände, die vor einer Entprofessionalisierung der Altenpflege warnen. Auch zwei Pflegeexpertinnen von der Uni Bremen, die maßgeblich an der Ausbildungs- und Prüfungsordnung mitgearbeitet haben, distanzieren sich nunmehr von diesem Papier, an deren Veränderungen sie nicht mehr beteiligt wurden.
({3})
Sie schreiben in einer Stellungnahme an den Gesundheitsminister – Zitat –:
Diese Veränderungen sind von substanzieller Bedeutung und dürften erhebliche negative Auswirkungen auf die Ausbildung in der Altenpflege, das Berufsbild der Altenpflegerin/des Altenpflegers und die pflegerische Versorgung von alten Menschen haben.
Die Umsetzung dieser Ausbildungs- und Prüfungsverordnung begünstigt eine pflegerische Einheitsversorgung und führt zu einer Abwertung der Altenpflege, wie wir es bisher nicht kannten. Meine Damen und Herren, Die Linke lehnt eine solche Deprofessionalisierung der Altenpflege entschieden und mit aller Deutlichkeit ab.
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Wir wollen eine Berufsausbildung, in der theoretische Grundlagen eine wichtige Rolle spielen; denn nur so kann der Pflegeprozess kompetent und umfassend umgesetzt werden. Wir wollen eine Pflege, die Familien und soziale Bezugssysteme in den Mittelpunkt stellt, und dass entsprechende Kompetenzen in der Ausbildung verantwortungsvoll vermittelt werden. Wir wollen eine Pflegeausbildung, in der kommunikative Kompetenzen unterrichtet werden. Und wir sagen Ja zu einer Altenpflege, die aktuelle pflegewissenschaftliche Erkenntnisse in der Arbeit nutzt. Das Erlernen dieser Kompetenzen darf aus dem Curriculum nicht ersatzlos gestrichen werden.
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Wir wollen eine Ausbildung, in der alle Pflegekräfte – auch in der Altenpflege – qualifiziert und kompetent ausgebildet werden. Und wir wollen, dass Menschen mit Pflege- und/oder Assistenzbedarf teilhabeorientiert versorgt werden und ihre sozialen Kompetenzen und Kontakte nicht verlieren, sondern behalten und ausbauen können. Denn unser Motto lautet: Menschen vor Profite – Pflegenotstand stoppen!
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Meine Damen und Herren, es macht mich wütend, dass Sie mit dieser Reform einen Kniefall vor den Arbeitgeberverbänden vorziehen, statt die Sorgen und Probleme der Kolleginnen und Kollegen in den Einrichtungen ernst zu nehmen und Abhilfe zu schaffen. Ich weiß ganz genau: Ich bin nicht die Einzige, die wütend ist. Und ich wünsche mir, dass noch viel mehr wütend werden, die von solchen Gesetzen und Verordnungen seit Jahren getrieben werden. Das sind nicht nur Pflegekräfte und Auszubildende, sondern das sind auch die Menschen mit Pflegebedarf und deren Angehörige, die immer mehr Geld für immer schlechtere Pflege zahlen müssen. Das sind diejenigen, für die wir uns einsetzen – nicht für die Geldbeutel der Pflegewirtschaftsbosse.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
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Nächste Rednerin die Kollegin Kordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute liegt uns eine Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Pflegefachkräfte zur Abstimmung vor. Erlauben Sie mir, dass ich darauf hinweise, dass wir als Grüne eine eigene Reform vorgeschlagen hatten mit einer integrierten Ausbildung, die sicher, was die inhaltliche Vertiefung der Abschlüsse, gerade im letzten Abschnitt der Ausbildung, angeht, besser gewesen wäre als das, was Sie jetzt vorgelegt haben.
({0})
Andererseits ist auch klar, dass es jetzt darum geht, dass die Ausbildungsstätten endlich Sicherheit bekommen, wie sie sich auf eine neugeordnete Ausbildung vorbereiten können. Von daher werden wir uns jetzt darauf konzentrieren, die Umsetzung kritisch zu begleiten.
({1})
Lassen Sie mich aber auch sagen: Hinter der praktischen Umsetzung stehen noch viele Fragezeichen; auch das ist in der Anhörung deutlich geworden. Wie wollen Sie eine praktische Ausbildung für 40 000 Auszubildende in der Generalistik an über 300 Kinderstationen in diesem Land ermöglichen? Dahinter steht ein ganz, ganz großes Fragezeichen.
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Da muss ich Ihnen sagen: Wir werden genau hinschauen, wie das in der Praxis umgesetzt wird.
Dem Entschließungsantrag der Linken werden wir zustimmen, obwohl wir ihm nicht hundertprozentig in allen Punkten folgen können.
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Mir ist wichtig, jetzt zur Anlage 4 dieser Ausbildungsverordnung zu kommen, wo es um die eigenständige Altenpflegefachausbildung geht. Ich sage: Vom Referentenentwurf bis zur jetzigen Vorlage ist eine Altenpflegefachausbildung zweiter Klasse entstanden.
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Herr Minister Spahn, ich habe ehrlich gesagt nicht verstanden, was Sie vorhin mit Ihrer Warnung bezüglich der Wortwahl meinten. Sie können uns Parlamentarier ja nicht gemeint haben. Meinten Sie alle Fachleute in der Anhörung am Montag, die alle diese Altenpflegeausbildung, wie sie jetzt vorliegt, kritisiert haben?
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Oder meinten Sie vielleicht die Mitarbeiter in Ihrem Ministerium, die den Referentenentwurf vorgelegt haben, den Sie nachträglich abgeschwächt haben? Oder meinten Sie vielleicht die beiden Mitarbeiterinnen bzw. Professorinnen, die wesentlich an der Erarbeitung beteiligt waren und gestern einen Brandbrief an Sie geschrieben haben, in dem sie völlig zu Recht gesagt haben, dass eine hochwertige Versorgung so nicht gewährleistet ist,
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wenn desaströse Gehälter und die Unterbewertung des Berufsbilds zementiert werden?
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Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, Sie haben immer noch nicht verstanden, was angesichts des demografischen Wandels und des heutigen Pflegenotstandes in der Altenfachpflege wirklich notwendig ist. Pflegen kann nicht jeder; aber viele sollten Pflegen lernen. Deswegen brauchen wir eine gute Ausbildung. Pflegebedürftige Menschen haben das Recht, auf eine menschenwürdige Pflege.
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Sie haben häufig mehrere Erkrankungen, sie haben Depressionen oder Demenz, sie haben andere Einschränkungen und Behinderungen. Deshalb brauchen wir Fachkräfte, die in der Lage sind, professionell zu pflegen und Rehabilitation anzubieten, die umfassende medizinische Kenntnisse auf dem Stand der Wissenschaft haben und komplexe Pflegeprozesse gestalten und steuern können; das Stichwort „Digitalisierung“ ist gefallen. Und wir brauchen Pflegefachkräfte, die mit Beteiligten aus anderen Gesundheitsberufen, auch mit den Ärzten, auf Augenhöhe zusammenarbeiten können. All das brauchen wir.
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Meine Damen und Herren, Altenpflegefachkräfte müssen in der Lage sein, mit den schwierigen sozialen Lebenslagen wie Einsamkeit und Armut, in denen alte Menschen leben, professionell umzugehen. Dafür muss man in Netzwerken sozialer Arbeit eingebunden sein; auch das gehört zur Altenpflege. Nicht zuletzt brauchen wir bestens ausgebildete Altenpflegefachkräfte, die in der Lage sind, die vielen pflegenden Angehörigen zu schulen, zu beraten, zu unterstützen und zu entlasten. Dafür brauchen sie eine hohe Qualifikation.
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Meine Damen und Herren, ich rede hier von den Kernkompetenzen einer guten Altenpflege, die wissenschaftlich fundiert und auch in den Nachbarländern Standard ist.
Sie haben es versäumt, unserem Antrag zuzustimmen, mit dem dafür hätte gesorgt werden können, dass die Altenpflege endlich zu einem umfassenden, modernen und attraktiven Beruf für junge Menschen gemacht wird im Interesse älterer Menschen und ihrer Familien.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun das Wort der Kollege Erich Irlstorfer.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir haben gestritten, wir haben diskutiert, wir haben debattiert, und wir werden heute auch entscheiden. Ich möchte gerade Ihnen, verehrte Frau Zimmermann, schon einmal sagen: Wir haben diesen Prozess in den letzten Jahren begleitet. Uns hat dabei in der Koalition immer geleitet, dass wir in das Gelingen verliebt waren. Wir haben uns hier nicht hingestellt, eventuell Negatives zusammengetragen und das Ganze nicht in einem Klassenkampf enden lassen.
({0})
Nein, wir brauchen die Arbeitgeber, wir brauchen die Arbeitnehmer, und wir brauchen ein Verhältnis, das ordentlich auf Augenhöhe ist. Es ist nicht unanständig, wenn man mit guter Arbeit in der Altenpflege auch Geld verdient.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist ein mutiger Versuch. Wir halten an unserem Ziel fest, durch neue Rahmenbedingungen mehr Menschen für den Pflegeberuf zu gewinnen. Nach einem enormen fachlichen Austausch und einem parlamentarischen Verfahren, das Befürworter und Skeptiker sehr gefordert hat, geht das jetzt in die Umsetzung. Die Fronten waren verhärtet. Ja, das stimmt. Wir haben hier um Lösungen gerungen. Und niemand von denjenigen, die in der Anhörung dabei waren, und aus egal welchem politischen Lager ist heute hundertprozentig zufrieden und sagt: Ja, genau so wollte ich das von Anfang an. – Nein, aber wir haben ein Grundgerüst. Wir haben eine duale Ausbildung, die sich in Praxis und Theorie weiterentwickelt hat. Und wir werden – das ist wesentlich – keine Jugendlichen auf der Strecke verlieren, weil wir ein System für alle Schultypen entwickelt haben; das war uns wichtig.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir brauchen auch alle Hände, die diese große Aufgabe gemeinsam mit uns meistern wollen. Die Kollegin Schulz-Asche hat die Kinderkrankenpflege angesprochen. Ich weiß, wir haben eine extrem hohe Qualität, wir haben mehr Bewerber als Stellen und ein hervorragendes Beschulungssystem. Aber wir wollen das ändern, weil wir auch die Durchlässigkeit im System, die Attraktivitätssteigerung und somit auch die Generalistik als extrem wichtig erachten. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie können mich beim Wort nehmen: Ich werde als Erster hier den Finger in die Wunde legen, wenn wir nach dieser Erprobungs- und Umsetzungsphase nicht mehr dieser Meinung sind – deshalb gibt es ja auch eine Evaluierung –, und dafür sorgen, dass wir dann auch nachbessern. Die Kinderkrankenpflege ist für uns extrem wichtig. Wir haben diese Worte natürlich gehört. Aber ich würde schon sagen: Lassen Sie uns jetzt auch beginnen.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, Deutschland kann und muss seine Anstrengungen in der Pflege auf allen Ebenen noch deutlich intensivieren. Deshalb ist es notwendig, dass wir eine sinnvolle Akademisierung des Berufs klug vorbereiten. Frau Westig, ich muss Ihnen schon sagen: Blinder Aktionismus und eine übertriebene Verschärfung der Anforderungen, zum Beispiel bei Zwischen- und Abschlussprüfungen, würden weder eine Qualitätssicherung noch eine Qualitätssteigerung hervorrufen, sondern nur die Abbrecher- und Durchfallquote erhöhen. Das wollen wir nicht.
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Insofern möchte ich schon noch einmal sagen – das gilt für uns alle –: Trauen wir der Szene etwas zu. Wir haben gute Auszubildende, wir haben gute Betriebe, wir haben gute Lehrende, und wir haben vor allem junge Menschen, Schülerinnen und Schüler, die diesen Beruf gerne erlernen möchten. Deshalb kann ich nur dafür plädieren: Pflege von Kindern, von Jugendlichen, von Kranken, Behinderten, Rehabilitanden und vor allem auch von alten Menschen ist nicht nur ein Zukunftsberuf, sondern auch ein schöner Beruf, der gesellschaftliche Anerkennung, ein ordentliches Gehalt sowie Sicherheit und Attraktivität bei den Rahmenbedingungen verdient. Menschlichkeit, Empathie, Gespür, Gefühl plus hohe Fachlichkeit – das ist unser Weg, und den gehen wir hiermit.
Herzlichen Dank.
({5})
Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Karl Lauterbach.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal will und muss ich in Erinnerung bringen, dass wir bei der Anhörung wie von der gesamten Fachwelt für die Reform, wenn man von der Anlage 4 einmal absieht, zu der ich gleich kommen werde, insgesamt gelobt worden sind.
({0})
Und ich bringe in Erinnerung, was diese Reform für uns leisten wird.
Zum Ersten. Diese Reform wird es möglich machen, dass man mit einer Ausbildung in allen Bereichen der Pflege arbeiten kann. Das heißt, der Beruf wird viel flexibler, und die Ausbildung ist dann auch mehr wert.
({1})
Eine Ausbildung, die es mir erlaubt, von der Kinderheilkunde bis zur Altenpflege in allen Bereichen zu arbeiten, ist eine deutlich attraktivere Ausbildung.
({2})
Das wertet den Beruf auf.
Zum Zweiten. Wir haben die Qualität der Ausbildung massiv verändert. Wenn Sie sich die alten Ausbildungsverordnungen angeschaut haben, dann konnten Sie feststellen: Dort fehlte jedes Mal der Bezug zu den anderen Bereichen. Wir haben jetzt aber sichergestellt, dass bei der Krankenpflege Elemente der Langzeit- und der Altenpflege aufgenommen werden, bei der Kinderkrankenpflege Elemente der Langzeitpflege und bei der Altenpflege Elemente der Langzeitpflege und der Kinderkrankenpflege. Diese Verbesserung der Qualität der Ausbildung ist hier mit keinem Wort erwähnt worden. Das ist doch viel wichtiger als kleine Veränderungen in der Anlage 4, zu denen ich gleich kommen werde.
({3})
Zum Dritten. Wir werden die Rahmenbedingungen für den Beruf deutlich besser machen. Die Rahmenbedingungen eines Berufs hängen auch von der Frage ab: Was kann aus mir werden, wenn ich den Beruf ergreife? Ich kann mit diesem Abschluss in anderen Bereichen arbeiten, ich kann nach dem Abschluss studieren, habe dann eine akademische Ausbildung, für die alles, was ich bis dahin gemacht habe, relevant ist. Wir haben sozusagen die Akademisierung abgestimmt auf den Beruf. Ich kann darüber hinaus, wenn ich in der Altenpflege tätig bin, auch deutlich besser verdienen; denn wenn der Abschluss in allen Bereichen gilt, kann ich auch im Krankenhaus tätig werden. Somit muss die Altenpflege besser bezahlt werden, sonst werden die Altenpflegekräfte die Altenpflege verlassen und in den Krankenhäusern, wo es auch viele Stellen gibt, arbeiten. Diese Aufwertung des Berufes haben wir doch gewollt.
({4})
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage von Frau Haßelmann zu?
Ja, sehr gerne.
Vielen Dank, Herr Präsident, vielen Dank auch, Herr Kollege Lauterbach. – Gerade weil uns dieses Thema so umtreibt und weil es so bedeutend ist für die Frage, wie wir in Zukunft den Bereich der Pflegeberufe regeln: Können Sie mir erklären, warum Ihre Ministerin Giffey hier eine Rede zum Thema Pflege hält und danach den Raum verlässt und das Ministerium dann nur noch durch eine Staatssekretärin vertreten ist? Ich finde, das ist so eine Missachtung gegenüber dem Parlament, sich hierhinzustellen und zu sagen: „Es ist das Allerwichtigste, dass wir dieses Gesetz jetzt durchkriegen, und ich verbinde damit unheimlich viel Leidenschaft“, aber dann, wenn wir hier im Parlament diskutieren und um Lösungen ringen, den Raum zu verlassen, bevor die Debatte zu Ende ist. Ich finde das reichlich stillos. Ich frage mich einfach: Was ist hier los?
({0})
Ich kann sagen, dass die Ministerin diese Reform viele Stunden begleitet und mich bei der Umsetzung der Reform massiv unterstützt hat. Ich schaue hier auf das Ergebnis.
Wenn Sie von stillos sprechen, dann muss ich ganz offen sagen – und ich sage es nicht gerne –: Ich fand auch einen Teil der Kritik hier völlig überzogen; so wurde zum Beispiel von einer Deprofessionalisierung der Altenpflege gesprochen.
({0})
Die schrille Kritik der FDP und der Linkspartei bin ich gewohnt, aber die Kritik der Grünen an der Anlage 4 fand ich überzogen. Das gehört auch hierhin.
({1})
Wir werden den Pflegeberuf attraktiver machen. Ich komme jetzt ganz gezielt auf die Anlage 4 zu sprechen, die ich selbst verhandelt habe. Ich möchte darauf hinweisen: Kollege Spahn hat in gewisser Weise recht.
({2})
Eine Diskussion ist richtig, aber man darf das Ergebnis nicht auf diese Art und Weise zerreden.
({3})
Ist Ihnen aufgefallen, dass hier kein einziges konkretes Beispiel dafür genannt worden ist, in welchem Bereich die Anlage 4 zu einer substanziellen Abwertung geführt hat? Wir haben zum Beispiel bei den Kenntnissen, die notwendig sind, um Pflegepläne zu erstellen und Pflegebedarfe zu ermitteln, das Wort „evaluieren“ durch „bewerten“ ersetzt. Wir haben in vielen Bereichen beispielsweise „tiefgreifende“ Kenntnisse durch „ausreichende“ Kenntnisse ersetzt. Wir haben in einigen Bereichen Teile aus den Ausbildungsplänen herausgenommen, zum Beispiel bei der Lebensphasenbegleitung die Begleitung in der Sterbephase, um dafür Platz für andere Inhalte zu schaffen.
Herr Kollege, es gibt noch einen Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Ja, sehr gern, aber ich möchte diesen Gedanken noch ausführen. – Das heißt, Sie haben keine konkreten Beispiele gebracht. Ich habe diese Reform mit vielen Praktikern besprochen; ich spreche jetzt nicht von Verbandsfunktionären, die die Reform zum Teil im Abstrakten kritisieren; das organisieren wir ja zum Teil auch. Vielmehr habe ich versucht, mit denjenigen aus der Szene, die eine solche Reform umsetzen müssen, einen Kompromiss zu verhandeln, der tatsächlich die Aufwertung ermöglicht. Ich halte daher die Kritik an der Anlage 4 für massiv überzogen.
({0})
So, Zwischenfrage.
Herr Lauterbach, Sie hatten um konkrete Beispiele gebeten. Im Grunde haben Sie sie sogar selber geliefert; denn natürlich ist es ein großer Unterschied, ob ich von „ausreichenden“ Kenntnissen rede – in der Schule wäre das eine 4 – oder ob ich von „außerordentlichen“ Kenntnissen rede; das wäre dann eine 2 oder eine 1. Das ist ein ziemlich großer Unterschied. Die Einschränkungen jedoch, die Sie für Einsatzgebiete genannt haben, betreffen Bereiche, in denen zum Beispiel eine ausgebildete Altenpflegekraft ganz klassisch tätig ist und in Zukunft in einem noch größeren Umfang tätig sein wird, als wir das heute kennen, gerade was die Begleitung von Menschen in der letzten Lebensphase angeht. Das ist das eine.
Das andere ist: In der Anhörung ist sehr deutlich geworden – und wir reden hier nicht mehr über eine Grundsatzentscheidung, sondern wir reden über die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung, mit der die konkrete Ausgestaltung festgelegt wird –, dass Sie bis heute nicht sagen können, wie die Vielzahl aller Auszubildenden in der Pflege die wenigen Plätze in der Kinderkrankenpflege durchlaufen soll.
({0})
In der Anhörung ist deutlich gesagt worden, dass das ein Nadelöhr darstellen wird, dass das zu Verzögerungen im Ausbildungsablauf führen wird oder aber die Kinderkrankenhäuser und Abteilungen überrannt werden von Praktikanten, die fünf bis sieben Tage betreut werden müssen. Wie soll das in der Praxis ausgestaltet werden? Dazu haben Sie bisher noch keinen einzigen Ton gesagt.
({1})
Und das lässt sich nicht einfach über einen Kompromiss lösen, sondern Sie müssen ganz sachlich und konkret sagen, wie Sie es machen. – Bitte schön. Diese Frage hätte ich gerne beantwortet.
Zunächst einmal: Dazu habe ich noch nichts gesagt, weil ich dazu noch nicht befragt worden bin. Ich fange mit dem zweiten Teil Ihrer Frage an. Sie haben gefragt: Wie bekommen wir alle durch die 300 Kinderfachabteilungen? Das ist die falsche Frage; denn wenn Sie in den Entwurf blicken, werden Sie sehen, dass das nicht auf die Kinderfachabteilungen beschränkt ist, sondern dass zum Beispiel auch Einrichtungen der Eingliederungshilfe, der Behindertenhilfe, die Kinderpraxen und Einrichtungen der Jugendhilfe umfasst sind.
({0})
Wir haben das sehr viel breiter gefasst, um das von mir nicht bestrittene Problem, dass das knapp wird, zu lösen. Ich kann nicht alle mit einer ausreichenden Grundbildung durch den Bereich der Kinderkrankenpflege bringen, wenn ich nicht das gesamte Angebot nutze.
({1})
Wenn wir uns auf die 300 Fachabteilungen beschränkt hätten, dann hätten wir das ganz sicher nicht geschafft.
({2})
Zum Zweiten. Ich bilde mir ein, dass ich viel Erfahrung habe mit Notengebung und Prüfungen. Wenn ich über ausreichende Kenntnisse für einen Beruf spreche, dann hat das nichts mit der Note zu tun.
({3})
Wenn ich zum Beispiel ein Physikstudium anbiete und es für den normalen Physikingenieur notwendig oder ausreichend ist, sich mit der Elektromechanik auszukennen, dann kann er das am Ende des Studiums besser oder schlechter. Ich kann ihn sehr unterschiedlich benoten. „Ausreichend“ bedeutet somit, dass die Fähigkeiten für den Beruf voll ausreichend sind. Das müssen wir machen. Es handelt sich bei der Altenpflegeausbildung nicht um ein Studium. Es handelt sich um eine Ausbildung,
({4})
und das ist auch richtig so.
({5})
Ich komme zum Schluss. Es wird sich zeigen, dass sich diese Ausbildung am Ende in der Fachwelt durchsetzen wird. Ich halte die Diskussion, die wir heute geführt haben, für wichtig. Aber ich möchte darum bitten, die Ausbildungsreform nicht zu zerreden, bevor wir sie umgesetzt haben; denn sonst wird das Image die Wirklichkeit bestimmen, dann wird der Beruf der Altenpflege als ein Beruf zweiter Klasse angesehen werden.
({6})
Wenn wir das hart erkämpfte Ergebnis, das unstrittig besser ist als das, was wir vorher hatten, hier schon im Vorfeld mit zum Teil theoretischen Überlegungen kaputtreden, dann machen wir unsere eigene Arbeit zunichte.
({7})
Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Roy Kühne von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
– Vielleicht können wir dem Redner zuhören.
Sehr geehrte Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Karin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das scheint doch ein sehr emotionales und bewegendes Thema zu sein mit offensichtlich sehr vielen unterschiedlichen Ansichten.
Eines möchte ich gleich zu Anfang sagen: Eine Expertenanhörung ist eine Expertenanhörung. Ich kann Herrn Lauterbach da nur zustimmen. Gehen wir mal raus, und reden wir mit den Menschen, die die Menschen pflegen!
({0})
Gehen wir mit denen doch mal das Curriculum durch! Ich habe das gemacht. Ich war draußen. Ich bin mit verschiedensten Menschen in den Schulen, in den Heimen ins Gespräch gekommen. Ich habe gefragt: Wollt ihr das? Ist das für euch absehbar? Oftmals wurde gesagt: Ja, wir wollen das lernen, was wir in der Praxis umsetzen können. Das oberste Ziel, die oberste Berufsbefriedigung besteht nicht in einer tiefgreifenden bzw. supertiefen Verwissenschaftlichung der Arbeit, sondern in der Anwendungspraxis. Pflegekräfte wollen den Menschen helfen. Das ist ihre Intention. Darum erlernen sie diesen Beruf, und dafür bilden wir sie aus.
({1})
Das heißt nicht, dass wir irgendwelche Akademiker züchten müssen.
Frau Kordula Schulz-Asche, lassen Sie uns beide einmal in eine Einrichtung gehen – tun Sie sich das bitte einmal an – und mit den Altenpflegern reden. Wir gehen dann das Curriculum Punkt für Punkt durch. Sie werden schon sehen, was die sagen. Das machen wir beide einmal, hier in Berlin. Ich lade Sie gerne dazu ein.
({2})
– Experten! Wir machen Gesetze für die Menschen draußen, für den Alltag, wir wollen, dass die Gesetze wirken.
Ich habe heute noch einmal mit dem Kollegen, dem Professor, darüber geredet, wie das mit der Kinderkrankenpflege sein wird. Er ist für viele Vorschläge durchaus offen. Wir wollen gucken, wie wir das justieren können. Natürlich wurde auch gesagt, dass das schwierig werden könnte. Aber wir reden auch über Kinderarztpraxen. Der Kollege Irlstorfer hat das ja auch gesagt. Wir sind da offen. Aber eines dürfen wir nicht machen – das ist wichtig –: Wir dürfen nicht schon am Anfang das Kind mit dem Bade ausschütten. Das Image ist wichtig; Herr Lauterbach hat das auch gesagt. Es fängt damit an, dass wir erst einmal positiv an die Sache herangehen. Wir haben den Menschen zugehört. Wir haben in vielen Bereichen mit den Menschen draußen gesprochen und sie gefragt: Wie soll Pflege werden?
Ich selbst habe Altenpflegekräfte in meinem Freundeskreis. Sie wollen gar keine tiefgehende Verwissenschaftlichung. Sie wollen wissen, wie es funktioniert. Sie wollen eine niederschwellige Diagnostik durchführen. Das haben wir eingeführt. Das Wort „Diagnostik“ ist da. Wir haben das Wort „Evaluierung“ herausgenommen und das Wort „bewerten“ hineingepackt. Schauen wir im „Duden“ nach: Da werden Sie nicht viele Unterschiede finden. Folgerichtig – und da sind wir, glaube ich, auf einem gute Weg – haben wir diese Ausbildungs- und Prüfungsverordnung so gestaltet, dass sie für die Menschen und für ihre Arbeit an den Patientinnen und Patienten mehr bringt. Das sollte doch das Ziel sein, wenn wir Menschen für die Pflege ausbilden.
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Ich bin den Kollegen von der SPD, natürlich auch meinen Kollegen von CDU und CSU und insbesondere Jens Spahn, unserem jungen neuen Minister, in diesem Falle sehr dankbar. Denn wir fassen erstmalig – auch das muss man zugeben – ein Thema an, das jahrelang nicht beachtet und immer wieder als Selbstverständlichkeit angesehen wurde: fleißige Kräfte, fleißige Frauen, fleißige Männer, die den Menschen helfen. Jetzt machen wir uns Gott sei Dank Gedanken darüber: Wie müssen wir sie ausbilden? Wie können wir sie so ausbilden, dass viel Flexibilität vorhanden ist – das ist ein ganz wichtiger Faktor –, aber auch so, dass wir gute Inhalte und Qualität stringent durchsetzen? Denn Pflege – das muss man ganz klar sagen – ist ein lernender Beruf.
Wir blicken erstmalig progressiv in die Zukunft und fragen: Was kann uns der Pflegeberuf mehr bieten? Wo kann er mehr für das System tun? Da müssen wir deutlich sagen: Wir können in Zukunft von vielen Pflegekräften mehr für unser System erwarten. Wir bilden sie gut aus. Sie werden die Ärzte entlasten – das ist wichtig –, sie werden die Krankenhäuser entlasten – das ist wichtig –, und sie werden für die Menschen Gutes tun. Ich glaube, so kommt für diesen Beruf auch ein großer Zufriedenheitsfaktor dabei heraus.
Die gute Praxis zeigt: Gute Pflege ist notwendig. Es kann vorgebeugt werden, es kann verhindert werden, es kann wiederhergestellt werden. Es geht um ziemlich technische Begriffe. Unterhalten wir uns aber mit den Menschen, stellen wir fest: Sie spüren es, Sie werden es wirklich erleben, und so kann wieder lebenswert gelebt werden.
Gute Pflege ist keine Selbstverständlichkeit, und gute Bezahlung spielt definitiv eine Rolle. Motivierte Menschen, gute Ausbildung, gute Arbeitsbedingungen: Das sind die Schritte, die wir jetzt gehen müssen.
Ich sage in diesem Saal noch einmal ganz deutlich: Dies ist ein erster Schritt. Er ist ein mutiger Schritt, für den ich Ihnen sehr dankbar bin. Ich denke, dass wir diese Ansätze im Bereich der Gesundheitsfachberufe weiterverfolgen sollten. Dadurch können wir das System entlasten.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Punkt.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu der Pflegeberufe-Ausbildungs- und -Prüfungsverordnung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und des Bundesministeriums für Gesundheit. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/3045, der Verordnung auf Drucksache 19/2707 in der Ausschussfassung zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die SPD-Fraktion und die CDU/CSU-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Das sind die AfD, Die Linke und die Grünen. Enthaltungen? – Die FDP. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/3046. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Die Fraktion Die Linke und die Grünen. Gegenprobe! – SPD, CDU/CSU, FDP und AfD. Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Besuchertribünen! Aufgrund der aktuellen Entwicklung, die wir seit heute früh den Medien entnehmen können, möchte ich, bevor ich zum aus meiner Sicht wissenschaftlichen Teil meiner Rede komme, darauf hinweisen, dass Ereignisse wie jetzt in Südostpolen sicherlich dazu führen werden, dass wir weiter an dem Thema Wolf arbeiten. Möglicherweise werden wir auch unsere Anträge, zumindest den Koalitionsantrag, an der Stelle noch einmal schärfen. Wenn die polnischen Naturschutzbehörden eindeutig nachweisen können, dass das tatsächlich ein Wolf war, ist es aus meiner Sicht notwendig, das Thema weiter zu verfolgen.
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In Europa und Asien gibt es acht rezente Unterarten des Wolfes. Der bei uns vorkommende ist der europäische Wolf, Canis lupus lupus. Diese von der Wissenschaft inzwischen bestätigte Systematik basiert auf genetischen Untersuchungen und ist nicht auf der Grundlage des Vergleiches biometrischer Daten entstanden. Der Wolf ist im Anhang IV der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie gelistet und gilt deshalb in Europa als streng geschützte Art. Man geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass bei 1 000 fortpflanzungsfähigen Tieren der günstige Erhaltungszustand erreicht ist. Da diese Tiere im Rudel leben, entspricht das 500 Rudeln. Ich weiß nicht, ob die Zahl 1 000 mit Blick auf den Wolf richtig ist. Ich möchte an einem Beispiel deutlich machen, inwiefern die Definition aus meiner Sicht verändert werden muss.
In meinem Wahlkreis und in der Nähe von Passau gibt es noch zwei Reliktvorkommen der osteuropäischen Smaragdeidechse. Sie ist in dem gleichen Anhang der FFH-Richtlinie gelistet, aber sie ist wirklich sehr selten. Sie lebt isoliert, hat einen sehr eingeschränkten Lebensraum zur Verfügung und ist einem hohen Druck von Prädatoren ausgesetzt.
Wenn ich mir diese Fakten für den Wolf anschaue, muss ich feststellen: Der Wolf ist ein Generalist, was den Lebensraum betrifft. Er lebt sowohl in der Wüste als auch in der Tundra; er lebt im Hochgebirge und im Flachland. Er ist auch ein Generalist, was die Nahrung betrifft. Er frisst vom Kleinsäuger bis zum Elch bzw. in Nordamerika zum Bison alles. Und er steht an der Spitze der Nahrungspyramide. Mit Ausnahme von – das habe ich mal spaßeshalber gesagt – Autofahrern hat er keine Feinde.
Ich meine: Wenn man diese Kriterien anlegt, dann kann man nicht sagen, dass es mindestens 1 000 fortpflanzungsfähige Tiere braucht, um den Bestand zu sichern. Das müssen wir in der Zukunft – das unterstreicht unser Antrag – klären. Daran muss in den nächsten Wochen und Monaten gearbeitet werden.
({1})
Ein zweiter Punkt, auf den ich hinweisen will, ist, dass der Anhang IV der FFH-Richtlinie bereits 1997 in Kraft getreten ist. Er basiert auf Zahlen, die in den 1970er-Jahren in der Berner Konvention verankert wurden. Inzwischen hat sich die Situation aber völlig verändert. Wir haben beispielsweise in den 1970er-Jahren westlich der Weichsel keine Wölfe gehabt. Inzwischen sind sie bis in den westlichen Teil der Bundesrepublik und auch nach Dänemark gekommen. Zum damaligen Zeitpunkt gab es auch eine ganz andere Situation bei anderen Tierarten, zum Beispiel beim Biber; das Thema ist angesprochen worden. Diese Kriterien und die Zuordnung zu den einzelnen Abschnitten der FFH-Richtlinie müssen aus meiner Sicht überarbeitet werden.
Die Populationsdynamik, die wir zu verzeichnen haben, zeigt uns doch: Das Tier lebt bei uns in einer gesicherten Population, die sich entwickelt.
Wir haben im Koalitionsvertrag eindeutige Aussagen getroffen und festgehalten, dass die Sicherheit des Menschen natürlich am wichtigsten ist. Sie muss durchgesetzt werden. Und wir müssen auch dafür sorgen, dass die Tiere, die zum Beispiel Schutzeinrichtungen – dazu wird sicherlich mein Kollege Färber noch einiges sagen – überwinden, entnommen werden. Da muss man auch nicht drum herumreden, dass das eine letale Entnahme ist. Man muss klar sagen: Diese Tiere müssen geschossen werden.
({2})
Wenn eine Situation eintritt, wie wir sie jetzt in Polen möglicherweise haben, dann muss man diesen Punkt aus meiner Sicht auch ganz ehrlich ansprechen.
Ein weiterer Punkt, den wir in langen Verhandlungen hinbekommen haben, ist, dass wir uns noch mal die Definition der Flachlandpopulation vornehmen, indem wir nicht nur an den deutschen Wölfen gentechnische Untersuchungen durchführen, sondern auch die polnischen und andere Wölfe mit einbeziehen, um hier a) Klarheit über die verwandtschaftlichen Beziehungen zu erhalten und b) den Populationsbegriff möglicherweise neu abzugrenzen. Dann stellt sich die Frage des guten Erhaltungszustandes eventuell ganz anders.
Die Anträge zielen darauf ab, dass wir durch umfangreiche Schutzmaßnahmen Weidetiere schützen. Wir müssen Weidetiere schützen, aber es kann nicht sein, dass dann große Teile von Norddeutschland durch eine Vielzahl von Zäunen fragmentiert werden. Hier stellt sich a) die Frage, was das kostet, und b) würden wir die Lebensräume anderer Arten zerschneiden. Das kann auch nicht im Sinne des Natur- und Artenschutzes sein; denn wir verlangen ja an anderer Stelle – beispielsweise bei Autobahnen und anderen Verkehrsinfrastruktureinrichtungen –, dass Grünbrücken mit einem hohen Aufwand gebaut werden. Deshalb kann ich hier nicht durch das Einzäunen der Landschaft kleine Fragmente von Lebensräumen schaffen.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke, mit dem jetzt vorliegenden Antrag der Koalitionsparteien CDU, CSU und SPD haben wir damit begonnen, dieses Thema zu diskutieren, und ich bin mir sicher, dass wir das in dieser Legislaturperiode noch weiter fortsetzen werden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Der nächste Redner ist der Kollege Karsten Hilse für die AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit der letzten Debatte zum Thema Wolf ist einiges passiert. Die sächsische CDU hat im Copy-and-Paste-Verfahren das Thema, welches in Sachsen bisher nur durch die AfD als Problem erkannt wurde, für sich entdeckt.
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Grund dafür ist die nackte Angst der CDU-Genossen, bei der nächsten Landtagswahl in Sachsen noch höher als bei der Bundestagswahl gegen die AfD zu verlieren.
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Ich komme zum Thema: Geheimwaffe ist der Wahlverlierer Kretschmer, der noch bis voriges Jahr im Bundestag willfährig den Kurs der Kanzlerin in allen Bereichen getragen und verteidigt hat. Dieser Wahlverlierer hat bei einer Veranstaltung in Hoyerswerda, an der ich auch teilnahm, geäußert, dass wir ganz genau hinschauen müssten, welche Tiere wir haben, um hier nicht Hybride zu schützen. Offensichtlich ist der Wahlverlierer von Sachsen auch auf sogenannten Verschwörungsseiten unterwegs, wie Sie mir das vorgeworfen haben, Herr Träger.
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In der Anhörung wollte Frau Reinhardt nicht auf die Frage antworten, ob sie denn den Polarwolf, den indischen Wolf, den arabischen Wolf, den ägyptischen Wolf oder den Timberwolf als heimische und zu schützende Wolfsart ansehen würde.
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– Stellen Sie doch eine Zwischenfrage. – Das Problem ist – der Herr Schulze hat es angesprochen –, dass mit der allgemeingehaltenen Artbezeichnung „Canis lupus“ laut der Berner Konvention und der FFH-Richtlinie alle diese Wolfsarten als heimisch und streng zu schützen anzusehen sind. Wir müssen also ganz konkret festlegen, welche Tiere wir schützen wollen.
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Frau Dr. Wurmb-Schwark, Sachverständige der CDU, machte klar, dass die Genanalyse, die das Senckenberg Forschungsinstitut verwendet, nicht dazu geeignet ist, festzustellen, ob es sich bei den zu untersuchenden Tieren um Wolfsmischlinge handelt. In der Zwischenzeit hat Herr Gerhards vom Verein Sicherheit und Artenschutz eine kraniologische Untersuchung an Schädeln durchgeführt, die im Senckenberg Forschungsinstitut aufbewahrt werden.
Von den 74 dort gelagerten Schädeln, welche allesamt als Wolfsschädel bezeichnet werden, wurden 6 untersucht. Herr Gerhards kam bei allen 6 zu dem Ergebnis, dass es sich um Wolfshundhybriden handelt. Drei Kollegen aus Kanada und aus Finnland kamen schon bei der Begutachtung nur der Fotos zum gleichen Schluss. Wir fordern deshalb zeitnah eine fachliche Tiefenprüfung durch weitere internationale Wildtier- und Kraniologie-Experten sowie DNA-Analysen, zum Beispiel bei dem Labor ForGen, wie es Herr Schulze auch vorgeschlagen hat.
Das Problem ist: Wir müssen wissen, um was für Tiere es sich handelt, um dann eventuell den Schutzstatus neu zu definieren.
Kommen wir nun aber zum wichtigsten Problem. Wie ich in meiner ersten Rede andeutete, zeigen die Ansiedlung der Wölfe und die Migrationskrise viele Parallelen.
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Yascha Mounk ließ am 20. Februar 2018 in den „Tagesthemen“ die Katze aus dem Sack, indem er sagte: Wir sehen hier ein einzigartiges Experiment, nämlich die Umwandlung einer monoethnischen, monokulturellen Demokratie in eine multiethnische.
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Ich frage Sie: Wer hat Ihnen das Recht gegeben, mit uns dieses Experiment durchzuführen?
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Herr Mounk sprach von Verwerfungen. Von diesen Verwerfungen müssen wir mittlerweile täglich lesen: Es sind Vergewaltigungen, es sind Morde, Angriffe auf Einsatzkräfte.
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Wieder meine Frage: Wer hat Ihnen das Recht gegeben, unsere Sicherheit, unsere Gesundheit und unser Leben derart aufs Spiel zu setzen?
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Was sind jetzt aber die Parallelen zur Neuansiedlung des Wolfes? Es ist die Vorgehensweise. In der Migrationskrise hat die Bundesregierung anfangs behauptet, dass vorwiegend Frauen und Kinder kommen. Die Leitmedien setzten diese wenigen Frauen und Kinder ordentlich in Szene.
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Aber natürlich, jederzeit. Von wem? – Ach, von der CDU/CSU, alles klar. Aber gern.
Bitte beruhigen Sie sich und hören zu.
Herr Kollege Hilse, aus Ihrer Rede erschließt sich nicht der Zusammenhang zwischen Wölfen und Migration. Vielleicht können Sie das einmal näher erläutern.
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Aber natürlich. Ich komme sofort dazu. Nachdem Sie sich gemeldet haben, habe ich gesagt, welcher Zusammenhang besteht. Sie können jetzt zuhören. Oder ich kann meine Redezeit dadurch verlängern, dass ich Ihnen antworte.
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– Natürlich, gerne. – Es ist die Vorgehensweise: In der Migrationskrise hat die Bundesregierung anfangs behauptet, dass vorwiegend Frauen und Kinder kommen. Die Leitmedien setzten diese wenigen Frauen und Kinder ordentlich in Szene.
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Weiterhin: Zu uns kämen hochgebildete Fachkräfte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so geht es wirklich nicht.
Es ginge.
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Der Redner antwortet auf die Frage. Ist die Frage jetzt aus Ihrer Sicht beantwortet?
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Ich führe einfach meine Rede fort.
Wenn die Frage beantwortet ist, geht es jetzt weiter. Bitte hören Sie zu, und lassen Sie den Redner ausreden.
Weiterhin hieß es, Flüchtlinge würden unsere Rente finanzieren und das Sozialsystem entlasten.
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Mittlerweile wissen wir, dass überwiegend junge Männer zu uns kamen. Über 80 Prozent von ihnen verfügen nicht über die in Deutschland benötigte Bildung.
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Der überwiegende Teil lebt vom Sozialstaat. Genauso läuft es beim Wolf.
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– Ja, lachen Sie ruhig. Bei den nächsten Wahlen lachen wir.
Liebe Kollegen, bitte hören Sie zu.
Ohne die Menschen zu fragen, was sie davon hielten, wohl wissend, dass es durch die Neuansiedlung Probleme mit der Landbevölkerung geben würde, haben Sie das Experiment Wolf begonnen. Auch hier gab es die Mitwirkung der Leitmedien, die den Wolf als niedliches und in der Wildnis lebendes Kuscheltier darstellten.
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Wölfe sind wunderschön. Sie sind hochintelligent. Sie haben ein Sozialverhalten, von dem sich einige hier eine Scheibe abschneiden könnten.
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Aber sie sind nicht niedlich. Sie sind Raubtiere. Ob es auch wirklich Wölfe sind, sollten wir in Zukunft klären.
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An alle: Die Beteiligten und die wahrscheinlich noch Unbeteiligten müssen sich bewusst machen, dass es sich hier um ein Experiment handelt: Wenn ein großes Raubtier, welches weltweit vorrangig in sehr schwach oder gar nicht besiedelten Gebieten lebt, in ein dicht besiedeltes Gebiet gebracht wird,
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dann weiß man, dass das Folgen haben wird. Die Folgen laufen bei beiden Experimenten aus dem Ruder.
Herr Schulze hat es angedeutet: In Polen wurden zwei Kinder wahrscheinlich von einem Wolf angegriffen.
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– Richtig. – Wir lehnen beide Experimente ab und fordern, zu rationalem Handeln zurückzukehren.
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Der vorliegende Antrag der CDU/CSU und der SPD hat gute Ansätze. Ich hoffe, dass Sie dem auch Taten folgen lassen.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist der Kollege Carsten Träger für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Geschätzter Kollege Hilse, ist Ihnen aufgefallen, dass die Lacher über Ihre Ausführungen nicht nur aus den Reihen der anderen Fraktionen gekommen sind, sondern dass Sie auch für große Erheiterung in Ihrer eigenen Fraktion gesorgt haben?
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– Das kann man dann in den Videos, die Sie bestimmt wieder posten werden, nachverfolgen.
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Ich finde es an der Stelle aber ein Stück weit geschmacklos, was Sie hier versucht haben.
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Gerade an dem Tag, an dem uns vor einigen Stunden die Meldung erreicht hat, dass es in Polen vielleicht einen Übergriff eines Wolfs auf zwei Kinder gegeben hat, ist es nicht zulässig, in dieser Art und Weise zu polemisieren. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Das gilt für Parlamentarier erst recht,
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und es gilt im besonderen Maße, wenn es um solche Fragen der Sicherheit geht. Das sollten Sie sich hinter die Ohren schreiben.
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Uns haben diese Nachrichten erreicht. Die gute Nachricht ist: Den Kindern geht es gut. Sie scheinen nur minimal verletzt zu sein. Sie sind nach den Untersuchungen bereits wieder zu Hause.
Dennoch müssen wir diese Meldung ernst nehmen und sollten sie nicht zum Gegenstand von Polemik machen. Wir haben uns bemüht, in der Kürze der Zeit die Echtheit dieser Nachricht zu überprüfen, und es scheint so, dass dieser Vorfall stattgefunden hat. Gleichzeitig stellen sich Fragen. Es gibt Hinweise darauf, dass dieser Wolf möglicherweise in Gefangenschaft gehalten wurde. Auf jeden Fall hat er die Scheu vor den Menschen verloren und war verhaltensauffällig. Nach deutschem Recht hätte dieser Wolf schon längst geschossen werden müssen. Das ist ein Versäumnis.
Es ist aber alles noch ein bisschen unklar, und deshalb ist es richtig, dass wir hier mit Ruhe und Besonnenheit debattieren. Es ist eine Thematik, die die Menschen bewegt. Es ist ein hochemotionales Thema. Deswegen ist es richtig, dass wir in dem Koalitionsantrag festgestellt haben, dass Sicherheit die oberste Priorität genießt.
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Deswegen werden wir – das ist eine der Forderungen – in Zusammenarbeit mit den Ländern und der Wissenschaft an einheitlichen Kriterien arbeiten, wie wir mit verhaltensauffälligen Wölfen umzugehen haben.
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– Es gibt diese Kriterien schon, aber Sie wissen auch, Herr Hocker, dass das ein Thema ist, das dank der Föderalismusreform in der Verantwortung der Länder liegt.
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Es gibt nun den Wunsch, dass der Bund sich da mehr einschaltet, und das werden wir tun.
Ich bin der festen Überzeugung, dass mit diesem Antrag ein friedliches Miteinander von Mensch und Wolf in Deutschland möglich ist.
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Der größte Konflikt, der auftritt, ist der Konflikt zwischen Nutztierhaltern und dem Wolf. Deswegen haben wir vereinbart, dass wir das Thema wolfsichere Zäune – 1,20 Meter mit Untergrabenschutz und Strom – in den Antrag aufnehmen. Das Thema Herdenschutzhunde haben wir in den Mittelpunkt gestellt. Wir fordern und legen fest, dass die Mittel für die Dokumentations- und Beratungsstelle zum Thema Wolf verstetigt werden und dass wir diese Beratungsstelle stärken, damit die Konflikte noch besser untersucht und ausgeräumt werden können.
Die öffentliche Anhörung, die wir durchgeführt haben, hat uns in großer Deutlichkeit gezeigt, dass es nicht darum geht, die Rückkehr des Wolfes zu bekämpfen, sondern dass es um das Thema Prävention und vor allem darum geht, dass wir die Schäfer, in allererster Linie die Wanderschäfer, deutlich mehr unterstützen.
Wir als Sozialdemokraten hätten uns an der Stelle mehr vorstellen können. Am Ende haben die Gespräche mit der Union dazu geführt, dass wir es bei einem Prüfauftrag zu der Frage, wie wir die Wanderschäfer besser unterstützen können, vorerst belassen haben.
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Ich hoffe sehr, dass die Anhörungen des Agrarausschusses im Herbst weitere Fortschritte in dieser Frage bringen werden.
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– Die Wanderschäfer bzw. der Vorsitzende ihres Bundesverbands haben ausdrücklich gesagt, Herr Hocker: Wir sind ein Berufsstand, der unter starkem Druck steht. Uns geht es ökonomisch sehr, sehr schlecht, und jetzt kommt noch das Problem Wolf obendrauf. Obendrauf! Das ist das Thema. Die eigentliche Lösung des Problems ist daher, dass wir die fundamentale Unterstützung dieses Berufsstandes leisten müssen.
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Das ist ein Versagen des gesamten Hauses.
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Kommen Sie bitte zum Schluss.
Die Schäfer bitten seit Jahrzehnten um mehr Unterstützung, und sie sind selten erhört worden.
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Das sollten wir ändern. Ich bitte um Zustimmung zu dem Antrag.
Vielen Dank.
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Dr. Gero Hocker von der FDP ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Trittin, unseren Weidetierhaltern geht es schlecht. Viele Betriebe haben in den letzten Jahren aufgeben müssen. Es geht ihnen schlecht, nicht zuletzt weil Teile unserer Gesellschaft und auch Teile der Politik mitunter verächtlich auf die Landwirtschaft herabblicken. Das erleichtert nicht unbedingt, einen Betriebsnachfolger zu finden.
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Es geht ihnen schlecht, weil der Verbraucher in Deutschland bei Lebensmitteln die allerhöchsten Standards erwartet, aber nur einer von zehn Kunden tatsächlich bereit ist, einen angemessenen Preis dafür zu zahlen.
Liebe Frau Kollegin Tackmann, das kann ich Ihnen jetzt nicht ersparen: Es geht den Weidetierhaltern in Deutschland vor allem auch deswegen so schlecht, weil sich der Wolf in Deutschland immer mehr ausbreitet und weil sich die Politik seit Jahren ziert, endlich verbindliche Regelungen zu erlassen, aus denen hervorgeht, ab wann ein Wolf verhaltensauffällig ist und ab wann er geschossen werden muss. Da scheuen Sie die Antwort seit Jahren.
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Ich sage Ihnen eines: Mir konnte bislang noch niemand erklären, warum bei uns Fasan und Elster, Fuchs und Marder, Dachs und Hase Teil des Jagdrechtes sind, Sie aber bei dem stärksten Beutegreifer, dem Wolf, der nach Mitteleuropa eingewandert ist, der innerhalb von drei Jahren seine Population verdoppelt hat und der anpassungsfähiger und wahrscheinlich intelligenter als alle anderen Tiere in Mitteleuropa ist, ein Management der Gesamtpopulation nicht vornehmen möchten, Frau Kollegin Tackmann. Das ist ausdrücklich falsch. Es ist Bürgerpflicht und Politikerpflicht, hier aktiv zu werden.
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Schäfer und ihre Tiere ermöglichen durch die Bewirtschaftung von Hunderten Kilometern unserer Küstenlinie Küsten- und Hochwasserschutz. Sie schützen unsere Kulturlandschaft. Sie leisten nicht zuletzt auch einen unersetzlichen Beitrag in Deutschland für Artenvielfalt und das ökologische Gleichgewicht, ohne dass jemand diese Leistungen honorieren würde, übrigens am allerwenigsten der Kunde, der viel zu selten zu Hammel- oder Lammfleisch beim Discounter greift. Deswegen ist es richtig, dass man Wege finden muss, diese Leistungen zu honorieren.
Aber, Frau Kollegin Tackmann, Sie fordern in dem Antrag Ihrer Fraktion, zum Stand von vor 2013 zurückzukehren, als es noch eine Kopfprämie gegeben hat. Ich sage: Nein, das ist falsch; denn die Abschaffung der Kopfprämie ist ursächlich dafür, dass wir keine Überproduktion haben, dass es keine Milchseen und keine Butterberge mehr gibt. Es ist richtig, an der Systematik festzuhalten. Wenn wir Weidetierhalter in Deutschland unterstützen wollen, dann gibt es dafür ein Gerüst, eine andere Möglichkeit. Das ist die zweite Säule. Hier werden gerade ökologische Leistungen, die ein Berufsstand erbringt, honoriert. Deswegen gehört eine Förderung der Weidetierhalter dorthin.
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Sie können davon ausgehen, dass wir Sie begleiten würden, wenn Sie sich auf diesen Weg machen würden. Wir werden es jedenfalls tun.
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin: Dr. Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Gäste! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir ist zu viel Ehre zuteilgeworden, aber gut. – In dieser Debatte geht es nicht nur um den Wolf und die Herausforderung, die mit der Rückkehr in seine Heimat zweifellos verbunden ist. Der Wolf ist oft der letzte Tropfen, der das übervolle Fass bei der Weidetierhaltung zum Überlaufen bringt. Vor allem die Schäfereien sterben schon viel länger, übrigens auch ohne Wolf, Herr Hocker. Ein großes Halali auf den Wolf würde vielen Schäfereien überhaupt nichts nutzen. Das sagen übrigens viele. Ich erinnere an den Schäfermeister Knut Kucznik, den ich schon im Februar hier im Bundestag wie folgt zitiert habe:
Den Wolf zu bejagen, nützt uns nichts. Ein übrig gebliebener Wolf kann genauso gefährlich für unsere Herden sein wie zehn. Herdenschutz, den wir uns leisten können, hilft uns.
Ich finde, das muss jetzt ernst genommen werden.
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Seit spätestens 2011 bin ich an diesem Thema dran. Jahrelang haben wir immer wieder Anträge vorgelegt, die den Weidetierhaltern tatsächlich geholfen hätten. Sie wurden immer wieder abgelehnt, weil der Bund nur für den Artenschutz, das heißt für den Wolfsschutz, zuständig sei und nicht für den Herdenschutz. Dass nun endlich auch ein Antrag der Koalition vorliegt, der sich klar zu der Mitverantwortung des Bundes beim Herdenschutz bekennt, ist ein großer Erfolg. Ich danke allen, die viele Jahre darum gekämpft haben, dass das endlich anerkannt wird.
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Dass die Koalition heute diesen Antrag nicht in die Ausschüsse überweisen, sondern sofort darüber abstimmen lassen will, ist kein guter Stil und ist bedauerlich; aber problematischer ist der Antrag selbst. Wer schon froh ist, dass diese Koalition keinen groben Unfug vorlegt, der wird mit dem Antrag zufrieden sein. Angesichts der Problemlage ist das aber zu dünn und lückenhaft.
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Ja, dass nun endlich Rechtssicherheit für die Haltung von Herdenschutzhunden hergestellt werden soll, ist gut, aber längst überfällig. Statt des von uns jahrelang geforderten Kompetenzzentrums für Herdenschutz soll es nur eine Beratungsstelle geben, und Antworten auf Versicherungsfragen, wenn Wölfe zum Beispiel Weidetiere aus der Weide treiben, fehlen vollständig. Aber immerhin bewegt sich etwas. Deswegen werden wir uns bei diesem Antrag enthalten.
Die weitaus wichtigere Forderung aus den Schäfereien steht aber im gemeinsamen Antrag der Linken und der Grünen; denn die EU-Weidetierprämie für Schafe und Ziegen, und zwar für alle, würde wirklich helfen.
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Genau deshalb gibt es die auch in 22 EU-Staaten. Es ist doch ein absolutes Paradox der EU-Agrarpolitik, ausgerechnet der Weidetierhaltung zu schaden. Vor allem Schafe und Ziegen sind die großen Verlierer der Agrarreform seit 2005, obwohl kaum eine andere Nutztierhaltung gesellschaftlich so wichtig und so anerkannt ist wie die Schäfereien. Sie produzieren naturnah und tiergerecht Lebensmittel und Wolle. Sie pflegen die so wichtigen Deiche. Sie erhalten das Dauergrünland und schützen damit Klima und biologische Vielfalt. Sie pflegen unsere Kultur- und Naturlandschaften. Weidetierhaltungen sind aus meiner Sicht systemrelevant und müssen politisch geschützt werden.
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Aber genau dieser Schutz wird ihnen verwehrt, obwohl das Sterben der Schäfereien seit Jahren offensichtlich ist. Keine Hirtin und kein Hirte verlässt seine Herde freiwillig. Stellen wir uns doch mal einen Augenblick vor, was in jemandem vor sich geht, der Tag für Tag diese schwere Arbeit bei Wind und Wetter für unser Wohl leistet und der von dieser Arbeit nicht leben kann. Als Tierärztin weiß ich sehr genau, was es bedeutet, Verantwortung für eine Schafherde zu übernehmen. Es ist doch alarmierend, dass seit Jahren die Zahl sowohl der Schafe als auch der Schäfereien dramatisch sinkt. Wenn dennoch die Hilfe jetzt verweigert wird, dann finde ich das unerträglich.
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Die beruflichen Nachwuchsprobleme werden doch durch diese miesen Zukunftsaussichten, von denen auch Herr Hocker sprach, noch größer, obwohl das Interesse an dem Hirtenberuf wirklich nach wie vor ungebremst ist. Deshalb lassen Sie uns heute eine Weidetierprämie beschließen. Sie muss jetzt endlich kommen. Das sollten uns die Schafe und auch die Schäfereien wert sein.
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Steffi Lemke, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Werte Kollegen und Kolleginnen! Ich bin froh, dass bis auf einige wenige Aussetzer diese Debatte inzwischen deutlich versachlicht ist. Ich finde, dass wir eine sehr gute Anhörung im Umweltausschuss hatten, und ich finde, dass die Koalitionsfraktionen als Ergebnis dieser Anhörung einen wirklich bemerkenswerten, sachlichen Antrag vorgelegt haben. Die Koalitionsfraktionen bekennen sich darin zum Wolfsschutz, zum Naturschutz, zum Artenschutz und schlagen auch konkrete Maßnahmen der Regierung vor. Wir stimmen ihrem Antrag in vielen Punkten zu, nicht in allen. Aber ich bin froh, dass sie die Kraft gefunden haben, jetzt endlich einen solchen Antrag vorzulegen,
({0})
der, wie gesagt, die Debatte versachlicht.
Nachdem wir uns jahrelang wirklich populistische Plattitüden zu diesem Thema auch vom Bundesagrarminister anhören mussten, bei denen es eben nicht um Problemlösung ging, sondern darum, den Wolf zu diffamieren, den Naturschutz zu diffamieren – Frau Klöckner, ich kann Ihnen das nicht ersparen: auch Ihr Interview heute Morgen hieb genau in diese Kerbe –, finde ich, dass Sie sich jetzt endlich der Problemlösung zuwenden sollten.
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Unsere Forderungen – ich kann nur die wichtigsten aufzählen –, die jetzt endlich umgesetzt werden müssen:
Erstens: den Herdenschutz unterstützen, finanziell, mit Beratung und mit einem Herdenschutzkompetenzzentrum. Das wird – Frau Tackmann hat es erwähnt – seit Jahren von der Opposition gefordert. Sie sind in der Regierungsverantwortung. Sie hätten das längst umsetzen können. Machen Sie es jetzt endlich.
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Zweitens: wenn Wolfsrisse auftreten, gegenüber den Weidetierhaltern eine Entschädigung für den tatsächlichen Aufwand leisten, um die Schäden auszugleichen. Dieses sollte gemeinsam mit den Ländern bundeseinheitlich geregelt werden, damit die Debatte über die Unterschiede zwischen den Bundesländern dabei endlich aufhört.
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Drittens: bundeseinheitliche Bewertung von Wölfen mit atypischem Verhalten und Handlungsempfehlungen zum Umgang mit ihnen. Auch das ist konkretes Regierungshandeln, gemeinsam zwischen Bund und Ländern diese Kriterien endlich festzulegen und dafür zu sorgen, dass ein Problemwolf, wenn er tatsächlich auftritt, auch unbürokratisch und schnell abgeschossen werden kann. Wenn sich bewahrheitet – das will ich erwähnen; Herr Schulze hatte den Fall in Polen angesprochen –, dass der Wolf bereits vor zwei Wochen eine Touristin angefallen hat, zum Abschuss freigegeben war und zwei Wochen lang nicht abgeschossen worden ist, dann haben wir dort ein Problem, nämlich dass deshalb möglicherweise weitere Übergriffe, wenn es ein Wolf war, stattgefunden haben.
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Sie brauchen viertens endlich Strukturen, die es in solchen Fällen ermöglichen, unbürokratisch und schnell einzugreifen, und wir brauchen bundesweit einheitliche Standards für Zucht und Ausbildung von Herdenschutzhunden. Wir brauchen auch eine Novelle der Tierschutz-Hundeverordnung. Viele von diesen Punkten finden sich in Ihrem Antrag wieder.
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Ich plädiere auch dafür, dass es endlich ein Fütterungsverbot für Wölfe gibt, dass dies gesetzlich geregelt wird, weil das Fehlen eines solchen Verbots offensichtlich zu dem Fall des Problemwolfs in Polen beigetragen hat.
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Jetzt komme ich zu der namentlichen Abstimmung, die die Fraktionen von Linken und Grünen für heute beantragt haben, die wir Ihnen zu später Zeit hier auferlegen, weil es uns tatsächlich um die Interessen der Weidetierhalter geht. Ich weiß nicht, ob der Kollege von der FDP in der Anhörung anwesend gewesen ist
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– ich weiß es wirklich nicht; sehen Sie mir das nach –: Das Statement des Bundesverbands der Berufsschäfer durch Herrn Schenk dort war glasklar. Er hat gesagt: Mit oder ohne Wolf – unser Berufsstand geht krachen, wenn es keine Weidetierprämie gibt. – Das war die glasklare Aussage.
Wenn die Bundesregierung an dieser Stelle nicht handelt – deshalb haben wir für heute diese namentliche Abstimmung beantragt –, dann wird Frau Klöckner und dann werden Sie in der CDU, der CSU und der SPD persönlich die Verantwortung dafür tragen, dass wir keine Schafhaltung in Deutschland mehr haben.
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Deshalb: Retten Sie die Schafhaltung! Führen Sie eine Weidetierprämie ein, und lassen Sie uns gemeinsam konstruktiv und sachlich über die Probleme reden, die wir real mit Wölfen haben. Den Naturschutz dabei nicht unter den Teppich kehren! Dann bekommt der Bundestag dazu eine gute Debatte hin.
Danke.
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Der nächste Redner ist der Kollege Hermann Färber für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Schaf- und Ziegenhalter im Land leisten einen wertvollen Beitrag zum Natur- und Umweltschutz, zum Landschaftsschutz, und deshalb ist es wichtig, dass man die Betriebe unterstützt und dass diese Leistung finanziell abgegolten wird. Aber lassen Sie mich hier ein paar Fakten sagen, die ich heute in der Debatte noch gar nicht gehört habe.
Die Mehrheit der Schafhalter besitzt Weideland, eigenes Weideland und gepachtetes Weideland, und dafür erhalten sie wie alle Landwirte in Deutschland und in Europa Direktzahlungen. Im Durchschnitt bekommt ein Schafbetrieb im Haupterwerb rund 86 000 Euro im Jahr. Das ist ungefähr dreimal so viel, wie er bekommen hat, als es noch die Schafprämie in Form der Mutterschafprämie gegeben hat.
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Um einen Vergleich zu ziehen: Die anderen landwirtschaftlichen Haupterwerbsbetriebe bekommen im Durchschnitt 33 000 Euro.
Ein Sonderfall – das räume ich gern ein – sind die Berufsschäfer, die Wanderschäfer, die kein eigenes Land, kein gepachtetes Land haben. Das ist nach dem Bundesverband der Berufsschäfer eine sehr kleine Zahl. Aber auch für die gibt es bereits Möglichkeiten. Es gibt zahlreiche Förderprogramme für die Betriebe, die keine Fläche haben, zum einen aus den Programmen der zweiten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU, zum anderen aus der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes, GAK. Da gibt es Programme für nachhaltige Landwirtschaft, insbesondere auf Grünlandstandorten, für Raufutterfresser, für die Förderung tiergerechter Haltung, für ökologischen Landbau, für Vertragsnaturschutz und für Landschaftspflege.
Meine Damen und Herren, wie heute schon angesprochen, gibt es aber ein ganz anderes Problem für die Weidetierhalter, und davon sind sowohl die Schaf- als auch die Ziegenhalter, aber auch die Rinderhalter und die Pferdehalter betroffen: die Rückkehr und die Ausbreitung des Wolfes bei uns in Deutschland. Wir befinden uns in der Situation, dass unsere Gesellschaft – das wissen Sie alle – mehr Tierwohl fordert. Die Tiere sollen raus aus den Ställen, auf die Weide, wo sie sich frei bewegen können. Gleichzeitig wird von einem Teil der Gesellschaft die Rückkehr und Ausbreitung des Wolfes begrüßt. Doch beides zusammen geht nicht – Wölfe und Weidetiere auf der gleichen Fläche. Das ist nun einmal Fakt.
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Sie lesen oft genug in der Zeitung, dass das nicht geht. Da gibt es einen erheblichen Zielkonflikt, den wir nicht so einfach auflösen können.
Um die Tiere vor Wolfsangriffen zu schützen, müssen die Weidetierhalter viele Schutzmaßnahmen ergreifen, zum Beispiel hohe Elektrozäune errichten. Herr Träger, 1,20 Meter hohe Zäune sind für einen Wolf definitiv kein Hindernis. Wer schon einmal Schäferhunde besessen hat, weiß, dass für sie auch 2 Meter kein Hindernis sind. Ein Wolf überwindet einen 1,20 Meter hohen Zaun im Nu. Das ist einfach Fakt; daran kommen wir nicht vorbei.
Das Kuratorium für Technik und Bauwesen in der Landwirtschaft beziffert die Kosten für Weideschutzzäune, Herdenschutzhunde und Herdenschutzesel auf bis zu 10 000 Euro pro Betrieb und Jahr. Die Anschaffungskosten – sie machen 15 Prozent aus – werden teilweise von den Ländern übernommen; aber die laufenden Kosten – das sind immerhin 85 Prozent – bleiben an den Weidetierhaltern hängen.
Nach Aussagen der Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf gab es bereits im Jahr 2016 über 1 000 durch den Wolf getötete Nutztiere. Die Zahl ist mit Sicherheit nach oben gegangen; aber die Fälle aus dem Jahr 2016 sind dokumentiert. Wir haben also definitiv ein Problem.
Nun wissen wir: Der Wolf ist europaweit eine streng geschützte Art. Das bedeutet auch Pflichten zur Erhaltung seines Lebensraums. Deshalb ist die Entnahme von Wölfen auch nur in Ausnahmefällen erlaubt. Andererseits dürfen die Sicherheit, das Leben und die Gesundheit der Tiere auf der Weide nicht der unkontrollierten Verbreitung des Wolfes untergeordnet werden. Aus diesem Grund haben wir uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, die EU-Kommission aufzufordern, den Schutzstatus des Wolfs abhängig von seinem Erhaltungszustand zu überprüfen, um die notwendige Bestandsreduktion herbeiführen zu können. Meine Damen und Herren, der Wolf stirbt nicht aus; er breitet sich aus.
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Unabhängig davon will der Bund mit den Ländern einen geeigneten Kriterien- und Maßnahmenkatalog zur letalen Entnahme von Wölfen entwickeln. Die Wölfe, die Weidezäune überwunden haben oder für Menschen gefährlich werden, müssen entnommen werden können. Zur Umsetzung dieses Vorhabens ist es einfach unerlässlich, dass zum einen die betroffenen Berufsgruppen – ich spreche hier von den Landwirten, den Weidetierhaltern und den Jägern – in die Beratungen einbezogen werden. Das ist bisher leider nicht der Fall.
Es ist auch notwendig, im Rahmen einer Habitatanalyse zu überprüfen, in welchen Gegenden ein Zusammenleben von Weidetieren und Wolfsrudeln nicht möglich ist. Ich denke hier an Almen, aber auch an Deichgebiete, wo Weidetiere nicht ausreichend geschützt werden können.
Es müssen die Auswirkungen von Elektrozäunen auf die Vernetzung von Lebensräumen überprüft werden und die Folgen für die zukünftige Entwicklung der Weidetierhaltung abgeschätzt werden.
Ganz besonders wichtig ist aber auch, zu untersuchen, welche Auswirkungen die Rückkehr des Wolfes auf die Wildtierbestände hat.
Das Wichtigste ist – ich komme zum Schluss –, zügig einen verbindlichen Kriterien- und Maßnahmenkatalog für die Entnahme der Wölfe zu erarbeiten, die Zäune überwunden haben oder für Menschen gefährlich werden.
Meine Damen und Herren, der Wolf ist eine geschützte Tierart, aber er darf nicht zur grundsätzlichen Bedrohung von Weidetieren werden. Der Antrag heute kann auf dem Weg dorthin nur der Anfang sein. Der Agrarausschuss hat für die Zeit nach der Sommerpause bereits ein Fachgespräch vereinbart.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat als Nächstes die Kollegin Dr. Frauke Petry.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Richtig und gut ist, dass wir heute über den Wolf diskutieren. Aber der Antrag der Koalition bleibt weit hinter den Erwartungen der betroffenen Menschen – ich rede nicht nur von den Weidetierhaltern, sondern vor allen Dingen von den Menschen, die in Regionen wie Ostsachsen inzwischen mit dem Wolf oder einem vermeintlichen Wolf leben müssen – zurück.
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Geht das vielleicht ein bisschen leiser, Herr Präsident?
Ich bekomme das nicht leiser. – Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Antrag täuscht auch nicht darüber hinweg, dass Sie sich mit den realen Problemen der Menschen, die in Deutschland bereits mit dem Wolf oder mit Wolfsmischlingen leben müssen, nicht auskennen. Für sie ist er geradezu ein Schlag ins Gesicht.
Tatsache ist – das ist in der Anhörung zum Ausdruck gekommen –: Wir wissen gar nicht, wie viele echte Wölfe in Deutschland leben und wie groß der Anteil von Wolf-Hund-Mischlingen inzwischen ist. Wir wissen nur, dass viele der beauftragten Institute – allen voran das Senckenberg-Institut – zu tatsächlich aussagekräftigen Analysen über die Natur der Tiere in Deutschland nicht in der Lage sind. Deswegen wäre die erste Maßnahme nicht gewesen, zu einem weiteren Zeitpunkt ein Wolfsmanagement auszurufen. Die erste Maßnahme wäre gewesen, die Bundesrahmengesetzgebung zum Thema Wolf zu überarbeiten. Genau das haben Sie aber gar nicht beantragt.
Insofern müssen wir eines feststellen, meine Damen und Herren: Wir geben seit Jahren europa- und deutschlandweit viel Geld für den Wolfsschutz aus und müssen konstatieren, dass wir gar nicht wissen, ob wir nicht eine gigantische Steuerverschwendung zu beklagen haben, weil wir gar nicht den Wolf, sondern zunehmend Wolf-Hund-Mischlinge geschützt haben. Deswegen können wir diesem Antrag nicht zustimmen. Wir verstehen die Probleme der Weidetierhalter. Prämien sind maximal eine Übergangslösung, täuschen aber nicht darüber hinweg, dass für eine dauerhafte, tatsächlich rentable Weidetierhaltung in Deutschland die Gegebenheiten nicht vorhanden sind.
Insofern: Machen Sie Ihre Hausaufgaben, liebe Koalition! Sorgen Sie dafür – die Möglichkeiten sind gegeben –, dass externe, unabhängige Experten feststellen, wie viele Wölfe, wie viel Hunde und wie viele Mischlinge in Deutschland leben.
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Dann können wir über den Schutz des tatsächlichen Wolfes reden. Die restlichen Tiere müssen getötet werden.
Liebe Kollegen, die Redner vor namentlichen Abstimmungen haben es sowieso schwer. Bitte machen Sie es ihnen nicht unnötig noch schwerer.
Der Kollege Rainer Spiering ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebes Publikum! Ich freue mich, dass auch heute Abend wieder viele junge Leute da sind, und ich habe mich eben gefragt: Was werden diese jungen Menschen anlässlich dieser Debatte wohl denken? Das hat mich sehr nachdenklich gestimmt.
Ich muss ganz deutlich sagen: Es macht mich ein bisschen traurig, was sich hier abspielt. Ich habe eben einen Wortbeitrag gehört, in dem jemand einen Vergleich zwischen der Migration von Wölfen und der Migration von Menschen hergestellt hat. Ich kann nur sagen: Es tut mir unendlich leid, dass das in diesem Haus stattfindet; ich finde das wirklich bitter.
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Ich frage mich: Welches Signal senden wir an die junge Generation dieses Landes, wenn wir bei nachvollziehbaren Ängsten – das ist die Angst vor Wölfen ja – das Verhalten der Tiere instrumentalisieren und auf den Menschen übertragen? Wo sind wir eigentlich hingekommen? Ich kann das nur zutiefst bedauern.
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Mit Blick auf unsere jungen Menschen möchte ich sagen: Man kann der Angst nachgeben – das ist ein durchaus menschlicher Reflex –, aber man kann mit der Angst auch umgehen.
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Es gibt viele Beispiele dafür, dass es immer besser ist, mit der Angst umzugehen, sie zu kontrollieren oder – wie wir das mit diesem Antrag versuchen – das Problem zu managen, händelbar zu machen – welchen Begriff auch immer Sie nehmen wollen. Der Antrag entspricht diesem Geist: Ängste aufnehmen und vielleicht auch zur Kenntnis nehmen; das müssen wir alle für uns selber sehen.
Es ist doch so, dass sich über viele Jahrhunderte, übrigens auch nachvollziehbar, in unserer Zivilisation Angst vor einem Wildtier entwickelt hat. Das ist doch normal. Aber weil wir in einer veränderten Welt leben und weil wir Veränderungsprozesse auch brauchen, müssen wir uns dieser Situation stellen. Deshalb ist dieser Antrag, nämlich kontrolliert mit diesem Tier umzugehen, der einzig richtige. Er ist sinnvoll, nachvollziehbar und gut.
({3})
Lieber Hermann Färber, du weißt, dass du zu denen gehörst, die ich sehr, sehr schätze. Dazu kann man sich ja mal offen bekennen.
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Wir haben uns häufig darüber unterhalten, wie wir das Problem der Schaf- und Ziegenhalter lösen können. Jetzt bist du darauf eingegangen, dass dieses Problem über die Weidetierprämie nach Ansicht der Union nicht lösbar ist, und hast exemplarische Beispiele gebracht. Du hast aber auch als Beispiel die Wanderschäfer genannt, die unglücklicherweise häufig durchs Rost fallen. Ich blicke einmal auf meine Heimatregion: Wir haben – das hat man mir aufgeschrieben – 270 Schäfereien in Niedersachsen und Schleswig-Holstein zum Erhalt der Deiche und der Pflege von 4 700 Quadratkilometer Deichfläche, und die brauchen wir. Diese Wanderschäfer brauchen unsere Unterstützung.
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Wenn wir diese Wanderschäfer nicht unterstützen, werden wir den Preis, der unendlich viel höher sein wird, an einer anderen Stelle bezahlen.
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Das wissen wir alle.
Wir haben mehrfach in Gesprächen darauf hingewiesen, dass wir gerade für diese Berufsgruppe, auch durchaus differenziert betrachtet, einen Geldbeitrag wollen, damit sie auch in Zukunft für unsere Kulturlandschaft und in den anderen Bereichen, in denen sie tätig sind, tätig sein können. Deswegen fordere ich die Union auf: Wir brauchen eine exemplarische Prämie für Schäferinnen und Schäfer, damit sie die Kulturlandschaft weiterhin gut pflegen können.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
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Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Wir kommen zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 19/2981 mit dem Titel „Herausforderungen durch die Rückkehr des Wolfes bewältigen und den Schutz von Weidetieren durch ein bundesweit abgestimmtes Wolfsmanagement gewährleisten“.
Ich möchte darauf hinweisen, dass mir dazu zahlreiche schriftliche Erklärungen zur Abstimmung vorliegen. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Abstimmung in der Sache, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Überweisung, und zwar federführend an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit.
Nach ständiger Übung stimmen wir zuerst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb: Wer stimmt der beantragten Überweisung zu? – Das sind Die Linke, die Grünen und die AfD. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koalition und die FDP. – Enthaltungen sehe ich keine. Dann ist die Überweisung abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf Drucksache 19/2981. Wer stimmt für diesen Antrag? – CDU/CSU und SPD. Wer stimmt dagegen? – AfD und FDP. Wer enthält sich? – Grüne und Linke. Damit ist der Antrag angenommen.
Tagesordnungspunkt 10 b. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft zu dem Antrag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Weidetierprämie für Schafe und Ziegen jetzt auf den Weg bringen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/2749, den Antrag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/1691 abzulehnen. Wir stimmen nun über diese Beschlussempfehlung auf Verlangen der Fraktion Die Linke namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Haben wir überall Schriftführer? – Alle Plätze an den Urnen sind besetzt. Ich eröffne die Abstimmung über die Beschlussempfehlung.
Ich empfehle übrigens den Kolleginnen und Kollegen, zur Vermeidung weiterer Hammelsprünge für die nachfolgenden Abstimmungen im Saal zu bleiben.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben. Wir kommen zu Zusatzpunkt 5. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit auf Drucksache 19/3034. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/581 mit dem Titel „Herdenschutz bundesweit wirkungsvoll durchsetzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – CDU/CSU, SPD, AfD und FDP. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Grünen und die Linken. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen hier im Hause! Ich glaube, wir alle haben eine Ahnung davon, dass eine ungewollte Schwangerschaft oder allein schon die Sorge um eine ungewollte Schwangerschaft eine enorme psychische Belastung darstellt. Wir alle wissen, dass ein Schwangerschaftsabbruch ein körperlich und seelisch belastender Eingriff ist. Umso mehr muss es für uns alle ein Anliegen sein, dass allen Menschen im fortpflanzungsfähigen Alter ganz unabhängig von der finanziellen Situation eine selbstbestimmte Familienplanung möglich ist.
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Ja, es ist eigentlich ganz klar: Das ist ein Menschenrecht, und es ist auch nicht umsonst so, dass die Vereinten Nationen dieses Menschenrecht festgehalten haben. Umso mehr muss es uns doch umtreiben, wenn eine Studie der BZgA, also der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, zeigt, dass Menschen mit einem geringen Einkommen ein deutlich erhöhtes Risiko haben, ungewollt schwanger zu werden und dann einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu müssen. Alleine das muss uns aufmerksam machen, muss dazu führen, dass wir darüber nachdenken: Wie sieht die Situation für eine selbstbestimmte Familienplanung heute eigentlich aus?
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Wenn das so ist, dann müssen wir uns darüber Gedanken machen: Wie gestalten wir denn eigentlich die Situation? Was tun wir? Wir wissen, dass gerade die Menschen, die Sozialhilfe, ALG II, Asylbewerberleistungen, Wohngeld, BAföG beziehen, diejenigen sind, die aufgrund ihres niedrigen Einkommens größte Probleme haben, die mit der Verhütung verbundenen Kosten tatsächlich zu stemmen. Wenn das so ist, dann müssen wir etwas tun.
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Ich appelliere an alle hier im Hause, diese Diskussion sehr ernst zu nehmen. Wir sind derzeit wieder in einer gesellschaftlich zugespitzten Diskussion um § 219 und § 218 Strafgesetzbuch. Wie beschämend ist es dann, eingestehen zu müssen, dass wir nicht alles tun, um jedem eine Verhütung, so wie es nötig ist, auch tatsächlich zu ermöglichen?
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Machen wir uns einmal klar, worum es eigentlich geht. Stellen wir uns einmal vor: Von 416 Euro Regelsatz für alle Kosten der Lebenshaltung sind 18 Euro für die Gesundheitspflege angesetzt. Darunter fallen Medikamente, Schnupfenmittel, das Fieberthermometer, aber eben auch die Zuzahlung für Medikamente und die Kosten für Verhütungsmittel. Da kann sich jeder vorstellen, dass eine Pillenpackung für 12 Euro bis 22 Euro im Monat sehr schwer zu realisieren ist. Das, meine Damen und Herren, kann heute, 2018, nicht der Stand sein, mit dem wir uns zufriedengeben.
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Auch der Bundesrat gibt sich damit nicht zufrieden. 2017 hat er uns mit einer Erklärung dazu aufgefordert, an diesem Zustand etwas zu ändern. 13 von 16 Ländern haben sich positiv dazu verhalten, 3 Länder haben abgelehnt. Auch das sollte uns noch einmal dazu aufrufen, in dieser Frage wirklich ins Detail zu gehen.
({5})
Deshalb legen wir Ihnen einen Vorschlag vor, der beinhaltet, dass diejenigen mit niedrigem Einkommen für ärztlich zu verordnende Verhütungsmittel eine Kostenerstattung direkt über die Krankenkassen bekommen, diese Mittel aber steuerfinanziert werden; denn natürlich soll nicht die Krankenkassengemeinschaft dafür aufkommen, sondern die Gesellschaft. Wir wollen das sehr einfach und unbürokratisch handhaben, damit jede Frau – es sind in der Regel Frauen – selbstbestimmt über die Verhütung entscheiden kann und die Verhütung anwenden kann, die für sie notwendig ist.
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Des Weiteren fordern wir Sie auf, möglich zu machen, dass die Anschaffung von Kondomen erleichtert wird, dass sie über die Gesundheitsämter, über die Beratungsstellen ausgegeben werden, sodass auch die Männer gefordert sind, ihren Part bei der Verhütung verantwortlich zu übernehmen.
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Wir haben Ihnen dazu unseren Antrag vorgelegt. Wir hoffen auf eine vernünftige, vernunftgeleitete, aber auch menschenrechtsgeleitete Auseinandersetzung mit diesem Antrag. Ich hoffe sehr, dass Sie sich nach der Sommerpause mit der nötigen Achtsamkeit damit befassen und uns in diesem Anliegen unterstützen.
Danke schön.
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Nächste Rednerin ist Karin Maag für die Fraktion der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Klein-Schmeink, ich will mit etwas Grundsätzlichem beginnen, weil wir über den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung diskutieren. Bis zum vollendeten 20. Lebensjahr übernehmen die gesetzlichen Krankenversicherungen entsprechend ihrer Verpflichtung aus dem SGB V die Kosten für verschreibungspflichtige Verhütungsmittel. Für alle Versicherten, ohne Altersbegrenzung, werden ebenfalls die Kosten für ein ärztliches Beratungsgespräch, übrigens inklusive des jeweiligen Partners, zu Fragen der Empfängnisverhütung und für die entsprechenden Untersuchungen übernommen, Kosten für Sterilisation allerdings nur dann, wenn die Sterilisation wegen einer Krankheit erforderlich ist.
Daneben gibt es die sozialrechtlichen Ansprüche, die seit der Vereinheitlichung im Jahr 2003, nur zur Erinnerung, denen der GKV entsprechen. Deswegen müssen die Verhütungsmittel seither über den Regelsatz gedeckt werden. Weil das so ist, stellen Kommunen bereits heute den Personen, die keinen Rechtsanspruch über die GKV haben, die Verhütungsmittel kostenlos zur Verfügung. pro familia hat dazu Ergebnisse einer bundesweiten Studie publiziert, die zeigen – das gehört zur Wahrheit dazu; das gilt jetzt eher für den Antrag der Linken –: Gerade in den Bundesländern, in denen Sie mitregieren, gibt es keine entsprechenden Leistungen. Das Hauptargument ist die Kassenlage. Ich meine, nicht nur der Bund hat seine Einnahmen deutlich verbessert.
Während nun die Linke mit ihrem Antrag den gesetzlich Versicherten alle Verhütungsmittel, inklusive der Kondome und der Sterilisation, zur Verfügung stellen möchte, beschränkt sich Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag auf die Transferleistungsempfänger. Die Verhütungsmittel sollen allerdings ebenfalls kostenlos aus GKV-Mitteln zur Verfügung gestellt werden. Beide Vorschläge sind unabhängig von einer Altersgrenze.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau Klein-Schmeink, um eines klarzustellen: Der Zugang zu sicheren Verhütungsmitteln und zur ärztlichen Beratung über Fragen der Empfängnisverhütung sollte niemandem verwehrt werden, da haben Sie recht; Letzteres ist sowieso über die GKV gewährleistet. Aber – das richtet sich direkt an die Kolleginnen und Kollegen von Linken und Grünen – die Versorgung mit jedweder Art von Verhütungsmitteln ist sicher keine Leistung, die zum Aufgabenbereich der gesetzlichen Krankenversicherung gehört.
({0})
Da geht es eben nicht um die Vermeidung oder Behandlung von Krankheitsrisiken.
Liebe Frau Klein-Schmeink, zu argumentieren, dass sich eine Regelung allein aufgrund der Zugänglichkeit und der einfachen Handhabung über das SGB V
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– mit Steuerersatz; ich wäre im nächsten Satz dazu gekommen – anbietet, ist als Argument meines Erachtens doch etwas dünn, um die GKV und die Versichertengemeinschaft zu belasten. Ich meine: Wenn wir schon darüber diskutieren, dass bundeseinheitlich der Zugang zu Verhütungsmitteln niedrigschwellig ermöglicht werden soll, dann doch dort, wo die Diskussion hingehört, nämlich in den Bereich der Transferleistungen. Auch schön und vor allem hilfreich wäre es dann gewesen, Sie hätten sich die Mühe gemacht, den Antrag mit Daten zur Zahl der geschätzten Leistungsempfänger und zur Höhe der geschätzten Mehrausgaben zu unterfüttern. Die Linken haben das gemacht.
In einem Punkt haben Sie beide recht: In jedem Einzelfall geht es nicht um große Summen; der Flyer von pro familia liegt uns allen ja vor. Sie haben auch damit recht: Nicht das billigste Verhütungsmittel ist automatisch das angemessene, und jeder an der falschen Stelle eingesparte Euro erhöht das Risiko einer ungewollten Schwangerschaft.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Problembeschreibung ist nicht neu, und sie wurde bereits an die richtige Stelle adressiert. Die Petition zur Änderung, die pro familia eingereicht hat, bezieht sich auf das SGB XII. Die Petition befindet sich noch in Prüfung. In Ihrem Antrag weisen sie zu Recht auf ein Modellprojekt von pro familia hin: biko – Beratung, Information, Kostenübernahme bei Verhütung. Dieses Projekt wird vom BMFSFJ gefördert und anschließend evaluiert. Ich meine, wir sollten die Erfahrungen mit diesem Projekt abwarten und auswerten, um dann an der richtigen Stelle mit den zuständigen Kolleginnen und Kollegen zu diskutieren. Deren Entscheidung wollen wir nicht vorgreifen. Wir werden die Anträge deshalb ablehnen.
({2})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Robby Schlund für die AfD.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Werte Gäste auf den Rängen! Lassen Sie mich mit einem Zitat von Peter Hille beginnen: „Die eigenen Früchte machen uns stark.“ Reden wir, liebe Kollegen, doch über diese Früchte, besser noch über unsere eigenen Früchte, unsere Kinder. Unsere Kinder sind der Garant für eine solide, solidarische und starke Gemeinschaft.
({0})
Wussten Sie, liebe Kollegen, dass Europa die niedrigste Fruchtbarkeit weltweit aufweist? Wussten Sie, dass die Kinderzahl in Europa mit 1,4 Kindern pro Frau eindeutig zu gering ist?
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Für eine funktionierende Gesellschaft brauchen wir durchschnittlich 2 Kinder, 2,1 sogar.
({2})
Aber kommen wir zu den interessanten Dingen, kommen wir zum Lenin-Experiment 1917, der freien Liebe, der ultimativen kontrazeptiven Revolution, das Lieblingskind der 68er-Generation. Es scheiterte kläglich und endete in einer gesellschaftlichen Katastrophe der frühen Sowjetunion. 1936 setzte man im sowjetischen sozialistischen Familiengesetz die Familie mit Kindern wieder in den Mittelpunkt und beendete dieses Desaster.
Einmal ehrlich, liebe Kollegen der Linken und der Grünen, haben Sie denn rein gar nichts aus der Geschichte gelernt?
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Hören Sie auf, weitere Lenin’sche Experimente durchsetzen zu wollen. Gestern noch Abtreibung, heute Verhütung. Und was kommt morgen, meine Damen und Herren? Kostenfreie Sterilisation als Spaßfaktor.
({4})
Bringen Sie Anträge ein, die Familien mit niedrigem Einkommen wirklich helfen, um Kinder zu Professoren zu machen und nicht umgekehrt.
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Die Familien brauchen unsere Unterstützung bei Kosten der Kindererziehung, bei der Senkung hoher Lebenshaltungskosten, bei Familien- und Kinderplanung. Und bitte keine Unterstützung für Kondome mit LEDs oder Cannabisgeschmack.
({6})
Das Übereinkommen zur Abschaffung der Diskriminierung der Frau fordert im Teil I Artikel 2 eindeutig und unmissverständlich eine Beseitigung der Diskriminierung der Frau.
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Es verwundert schon, meine Damen und Herren, dass nun in Ihren Anträgen Folgendes gefordert wird: freier Zugang zu Verhütungsmitteln nur für Geringverdiener. Das, liebe Kollegen, ist Diskriminierung der Frauen allererster Güte.
({8})
Wollen Sie denn Frauen benachteiligen, die zum Beispiel als Pflegekräfte, Krankenschwestern oder Verkäuferinnen einfach nur ihren Job machen?
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Wenn schon, dann fordern Sie doch eine kostenfreie Abgabe von Verhütungsmitteln an alle in Deutschland lebenden Frauen, unabhängig von ihrem Einkommen.
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Und wenn Sie schon keine familienzentrierte Politik machen wollen, dann machen Sie doch wenigstens sozial gerechte Politik, meine Damen und Herren.
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Herr Schlund, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Vielleicht hinterher. Wäre das möglich?
Ja.
Aber wie sieht es denn mit den Frauen aus, die nicht so selbstbestimmt leben können wie Sie hier im Parlament, liebe Kolleginnen?
({0})
Reden wir doch einmal Klartext über die sexuelle Selbstbestimmung muslimischer Frauen.
({1})
Deren Religion verbietet es nämlich, ein schon befruchtetes Ei zu zerstören und eine Schwangerschaft unmöglich zu machen. Sie verbietet auch kategorisch eine freie, selbstbestimmte Entscheidung der Frau.
({2})
Liebe Kollegen, dazu sollten Sie Anträge stellen.
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Wo müssen die Ansätze gefunden werden? Zum Beispiel in Beratungsplätzen und mobilen Stellen zur Information über die sexuelle Selbstbestimmung der Frau. Meine Damen und Herren, das wäre die Lösung. Es sollte auch und besonders eine Aufklärung der muslimischen Männer erfolgen. Denn Kondome sind nicht nur Verhütungsmittel, sondern auch wirksame Mittel zur Verhinderung sexuell übertragbarer Krankheiten wie Chlamydien, HIV, HBV bzw. Hepatitis und vielen, vielen anderen mehr.
({4})
Wir, die Alternative für Deutschland, fordern neben der kostenfreien Bereitstellung von Verhütungsmitteln für alle Frauen eine konsequente Durchsetzung familienorientierter, familienzentrierter und kinderfreundlicher Politik. Wir fordern den Aufbau von Beratungsstellen zur Selbstbestimmung der Frau und zur Familienplanung sowie eine Kinderwillkommenskultur in Deutschland.
Zur weiteren Diskussion stimmt unsere Fraktion der Überweisung an die Ausschüsse zu.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({5})
Sie können Platz nehmen, Herr Schlund, und dann vom Platz aus antworten. Sie sind doch mit Ihrer Rede fertig, oder?
Ich bin fertig, ja.
Dann lasse ich eine Kurzintervention der Kollegin Heike Baehrens zu.
Wir haben gerade die Rede eines Abgeordnetenkollegen gehört, der auf Kosten des Steuerzahlers eine Reise nach China plant, um dort die traditionelle chinesische Medizin kennenzulernen. Herr Dr. Schlund, ich möchte Sie fragen: Möchten Sie deshalb nach China fahren, um sich auch über die Ein-Kind-Politik von China zu informieren?
Erstens. Die ist mittlerweile abgeschafft; das wissen Sie vielleicht noch nicht.
Das Zweite. Sie haben gerade gesagt, dass wir uns dort ein bisschen über die Präventionsmöglichkeiten, die die traditionelle chinesische Medizin bietet, informieren wollen. Das, was Sie sagen, geht völlig am Thema vorbei. Wir reden jetzt über etwas ganz anderes. Aber das haben Sie noch nicht mitbekommen, oder?
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Okay. – Dann fahren wir in der Debatte fort. Nächste Rednerin ist Claudia Moll für die Fraktion der SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Dr. Schlund, ich bin aktive Karnevalistin,
({0})
und ich muss Ihnen sagen: Ich habe selten eine so gute Büttenrede gehört. Herzlichen Glückwunsch!
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Familienplanung ist ein wichtiger Pfeiler der Selbstbestimmung von Frauen und Männern. Ich denke, wir sind uns einig, dass dies nicht vom Alter oder vom Geldbeutel abhängen darf. Das ist eine wichtige Sache. Wie es bei wichtigen Sachen so ist: Es muss über sie diskutiert werden, und sie müssen gut durchdacht sein. Das Bundesfamilienministerium hat in der vergangenen Legislaturperiode mit „biko“ – Beratung, Information, Kostenübernahme bei Verhütung – ein wichtiges Modellprojekt auf den Weg gebracht und damit auch den Willen bewiesen, eine einkommensgerechte Familienplanung zu ermöglichen.
Das Projekt mit insgesamt sieben Standorten soll dabei helfen, ungewollte Schwangerschaften zu vermeiden und einen unkomplizierten Zugang zu verschreibungspflichtigen und vor allem auch sicheren Verhütungsmitteln für Menschen mit wenig Geld zu erproben.
({2})
Gleichzeitig wird der Bedarf nach solchen Leistungen und Angeboten ermittelt. Ich kann mir gut vorstellen, dass dies eine gute Basis für eine bundesweite Regelung ist. Denn eines ist klar: Wir brauchen dringend ein flächendeckendes Angebot.
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Es gibt Bundesländer und Kommunen, die Kosten für Verhütungsmittel übernehmen. Sie leisten damit einen sehr wichtigen Beitrag zur Unterstützung vor allem von einkommensschwachen Menschen. Aber leider geschieht das nicht flächendeckend. Es gibt gravierende Unterschiede zwischen den Bundesländern und den Kommunen. Es gibt Unterschiede beim berechtigten Personenkreis, bei den einbezogenen Verhütungsmethoden und bei der Verfahrensregelung. Doch damit nicht genug: Es wird über die betreffenden Angebote auch in sehr unterschiedlichem Maße informiert. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir nicht zulassen.
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Es darf uns nicht unberührt lassen, dass die Schwangerschaftsberatungsstellen in den Kommunen, die keine Kostenübernahmeregelungen haben, übereinstimmend einen dringenden Handlungsbedarf sehen.
Nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz hat jede Frau und selbstverständlich auch jeder Mann einen gesetzlichen Anspruch auf Beratung in Fragen der Sexualaufklärung, Verhütung und Familienplanung sowie in allen eine Schwangerschaft berührenden Fragen. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten für verschreibungspflichtige Verhütungsmittel bis zum 20. Lebensjahr. Das gilt einkommensunabhängig und für alle. Deshalb ist eine Regelung über das SGB V, wie sie die Fraktion der Grünen heute vorschlägt, eher fragwürdig.
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– Klären wir gleich unter vier Augen.
Es kann doch nicht Aufgabe der Krankenkasse sein, eine kostenlose Abgabe von Verhütungsmitteln nur an einkommensschwache Menschen zu organisieren, so wie Sie sich das in Ihrem Antrag vorstellen. Das ist doch gerade das Kennzeichen unserer Krankenkassen: Wenn es Leistungen gibt, dann stehen sie allen offen – unabhängig vom Einkommen und von der Höhe der Beiträge.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche mir, dass wir dieses Thema nicht nur anhand von Paragrafen diskutieren, sondern eine globale Sichtweise einnehmen und die sexuelle Aufklärung stärken. Denn es geht um mehr als nur Familienplanung. Es geht auch um die Vorbeugung, um die Eindämmung von sexuell übertragbaren Erkrankungen oder Infektionen. Dies alles ist nicht alleine eine Frage des Einkommens oder der Herkunft, sondern auch eine Frage der globalen Gesundheit.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die FDP Dr. Wieland Schinnenburg.
({0})
Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Schlund, nach Ihren Ausführungen juckt es mich ein bisschen, jetzt einen kleinen Beitrag unter dem Arbeitstitel „Meine Erlebnisse nach der Tanzschule“ zu leisten. Aber das spare ich mir an dieser Stelle.
({0})
Ich bin nämlich der Meinung, dass das ein so ernstes Thema ist, dass es eine andere Bearbeitung verdient hat, als Sie sie gerade vorgenommen haben.
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Meine Damen und Herren, die Entscheidung für ein Kind ist eine der schönsten Entscheidungen, die wir treffen können. Ein Kind gibt Glück und Erfahrungen; man leidet mit ihm. Das ist eine sehr schöne Sache. Ich selbst habe mich sehr über meine drei Kinder gefreut. Es gibt aber auch Situationen und Lebenslagen, in denen man es nicht verantworten kann, ein Kind zu bekommen. Das ist selbstverständlich eine freie Entscheidung jedes Menschen – von Mann und Frau übrigens.
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Wir haben als FDP nicht ohne Grund einen Mann hier nach vorne geschickt, nämlich um zu demonstrieren, dass Verhütung nicht nur Frauen, sondern genauso Männer etwas angeht. Aus diesem Grund haben wir als FDP einen Mann hier nach vorne geschickt.
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Die FDP – Sie wissen es – steht für Selbstbestimmung in allen Lebenslagen. Sie kennen unsere anderen Anträge zu dieser Frage. Wir wollen Menschen unterstützen, die ungewollt kinderlos sind, aber wir wollen genauso Menschen unterstützen, die nicht ungewollt schwanger werden wollen. Es ist selbstverständlich, dass die FDP diese Menschen da unterstützt.
Meine Damen und Herren, die vorliegenden Anträge beinhalten aber – sagen wir mal – ein Problem bzw. sogar mehrere Probleme.
Das erste Problem ist, welche Verhütungsmittel genau erfasst werden sollen. Mit Sicherheit sollen Kondome erfasst werden, weil sie preiswert sind und auch vor Infektionen schützen. Aus meiner Sicht muss es aber zumindest möglich sein, auch anspruchsvollere Verhütungsmittel in den Leistungskatalog aufzunehmen.
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Das werden wir im Einzelnen diskutieren müssen. Die Frage ist, ob auch die Pille danach dazugehört.
Zweites Problem. Muss man bei diesen weiteren, etwas anspruchsvolleren Verhütungsmitteln auch eine Pflicht zur Beratung vorsehen? Ich finde, auch diese Frage muss noch mal in aller Ruhe besprochen werden.
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Der dritte Punkt, der geklärt werden muss, ist: Wer ist eigentlich der Kreis der Begünstigten? Ich finde, die Grünen greifen hier zu kurz. Sie wollen nur die Bezieher von Transferleistungen begünstigen.
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Aus meiner Sicht reicht das nicht aus. Es gibt Menschen, die keine Transferleistungen beziehen und trotzdem wenig Geld haben, sodass sie zumindest dann, wenn sie nicht nur Kondome, sondern andere Mittel brauchen, auch eine gewisse Hilfe benötigen. Das heißt, ich finde, die Grünen haben den Kreis wahrscheinlich zu klein gezogen.
Die Linken haben den Kreis umgekehrt zu groß gezogen. Sie können mir nicht ernsthaft erzählen, dass ein Ehepaar, bei dem beide gut verdienen, Geld für die Pille braucht. Das können sie beim besten Willen wirklich selber bezahlen. Auch insofern wird also nachzusteuern sein.
Viertens und Letztens – das wurde hier auch schon erwähnt – ist auch wichtig, dass wir versicherungsfremde Leistungen natürlich nicht den Beitragszahlern – weder den Arbeitgebern noch den Arbeitnehmern – auferlegen können. Darum wird man hierüber auch noch diskutieren müssen.
Meine Damen und Herren, die FDP ist hier sehr wohlgesonnen. Die Menschen im Lande können sich auf uns verlassen. Wir helfen ihnen bei ungewollter Kinderlosigkeit, aber auch gegen eine ungewollte Schwangerschaft. Das darf am Geld nicht scheitern.
Wir werden zustimmen, den Antrag in die Ausschüsse zu überweisen, und dort über die Details reden. Grundsätzlich unterstützen wir diese Anträge auf jeden Fall, aber an Details wird noch gearbeitet werden müssen.
Vielen Dank.
({7})
Als Nächstes spricht Cornelia Möhring für die Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie haben es schon gemerkt: Wenn wir über Verhütung reden, dann geht es immer auch um selbstbestimmte Sexualität. Das ist auch gut so, weil Sexualität ein wichtiger Bestandteil in unserem Leben ist – jedenfalls für die meisten von uns. Meine Fraktion sagt zu diesem Thema deshalb auch ganz klar: Kein Sex ist auch keine Lösung.
({0})
Aus Argentinien kennen wir den Satz: Es braucht erstens Sexualerziehung, um entscheiden zu können, zweitens Verhütungsmittel, um nicht abzutreiben, und drittens legale Abtreibungen, um nicht zu sterben. – Das beschreibt sehr genau den Gesamtkontext, in dem wir über die Fragen einer kostenlosen Verhütung reden sollten.
Hierzulande haben die Frauen bereits vor mehr als 50 Jahren für ihre reproduktiven und sexuellen Rechte gekämpft. Bevor die Antibabypille auf den Markt kam, hieß der damalige Slogan: „Ob Kinder oder keine, entscheiden wir alleine“. Der scheint aktueller denn je zu sein, wie wir gerade von dem Fruchtbarkeitsfachmann der AfD gehört haben.
({1})
Mit der Pille kam aber auch ein Gewinn an Freiheit hinzu, weil das erste Mal selbstbestimmter Sexualität gelebt werden konnte, ohne die gleichzeitige und ständige Sorge, schwanger zu werden. Diese Freiheit, diese sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung, ist auch heute noch ein stark umkämpftes Feld. Wir erleben das zurzeit unter anderem wieder in der Debatte um § 219a StGB.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Zugang zur Verhütung ist ein Menschenrecht. Meine Kollegin von den Grünen hat schon die UN-Frauenrechtskonvention erwähnt. Dort heißt es – ich zitiere jetzt nicht, sondern sage übersetzt, was dort geschrieben steht –: Eine Frau hat das Recht, zu entscheiden, ob, wann und wie viele Kinder sie bekommen möchte, und ihr sind dafür die Informationen und die Bildungseinrichtungen sowie eben auch die Verhütungsmittel zur Verfügung zu stellen.
({2})
Das ist auch völlig richtig; in Deutschland ist das aber noch nicht vollständig verwirklicht.
Deshalb fordert meine Fraktion nun den kostenfreien Zugang für alle Frauen und selbstverständlich auch für alle Männer; denn Verhütung ist nicht alleine Frauensache.
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Vor allem dürfen Verhütung und das passende Mittel für die Verhütung keine Frage des Geldes sein. Verhütung kostet aber nun einmal Geld, und nicht alle Menschen können es sich leisten.
Für diejenigen, die es nicht wissen: Die Pille kostet zwischen 4 und 22 Euro im Monat, ein Verhütungsring kostet 24 Euro im Monat, eine Spirale, die man nicht monatlich einsetzt – das ist klar –, kostet 192 Euro, Systeme zur Temperaturmessung kosten bis zu 495 Euro, die Sterilisation des Mannes kostet bis zu 500 Euro. Das ist verdammt viel Geld und eben nicht für alle leistbar. Natürlich übernehmen bisher lobenswerterweise einige Bundesländer und auch Kommunen diese Kosten. Wir finden aber: Der freie Zugang zu Verhütungsmitteln darf nicht von politischen Mehrheiten und auch nicht von den Steuereinnahmen abhängen. Daher hält Die Linke die Übernahme in den Leistungskatalog der Krankenkassen für den besten Weg.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist durchaus finanzierbar. Der Gesamtumsatz für hormonelle Verhütungsmittel liegt nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bei 678 Millionen Euro. Rechnen wir die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung, die jetzt schon für Verhütungsmittel eingesetzt werden, heraus, verbleiben immer noch 600 Millionen Euro. Diese 600 Millionen entsprechen 0,043 Beitragspunkten für die Krankenversicherung. Das wären für jede durchschnittliche Beitragszahlerin und jeden durchschnittlichen Beitragszahler gerade einmal 11 Cent im Jahr.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es kam jetzt noch der Hinweis, das seien ja versicherungsfremde Leistungen. Lassen Sie mich dazu nur anmerken: Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung wird überwiegend politisch definiert. Also warum nicht auch in dieser Frage?
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Annahme des Antrags meiner Fraktion würden wir der Umsetzung des Rechts auf freie Verhütungsmittel, dem Recht auf die Selbstbestimmung über den eigenen Körper einen ordentlichen Schritt näherkommen. Wie eingangs erwähnt: Kein Sex ist keine Lösung. Das ist doch ein guter Grund. Ich freue mich auf die weitere Diskussion in den Ausschüssen.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich bin der Auffassung, dass das Thema Schwangerschaftsabbruch im Strafgesetzbuch nichts zu suchen hat.
Vielen Dank.
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Als Nächstes spricht Stephan Pilsinger für die Fraktion der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein vorgezogenes Fazit: Gut, dass wir über dieses Thema reden. Leider reden wir hierüber verfrüht. Grundsätzlich ist gegen die Forderung der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen nach einem kostenlosen Zugang zu Verhütungsmitteln nichts einzuwenden. Diese dienen letztlich dazu, die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zu reduzieren. Ich finde es begrüßenswert, dass sich die beiden Fraktionen für den Schutz des ungeborenen Lebens einsetzen.
Frauen, die staatliche Unterstützungsleistungen beziehen, greifen aus Kostengründen häufig zu weniger sicheren Verhütungsmitteln oder verzichten sogar ganz auf Verhütungsmittel. Sie setzen sich somit dem Risiko aus, ungewollt schwanger zu werden. Die Kosten für eine Abtreibung werden vom Staat übernommen, nicht dagegen die Kosten für Verhütungsmittel. Das ist paradox.
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Unser Ziel sollte es aber sein, Schwangerschaftsabbrüche zu vermeiden; denn wir als Staat sind verpflichtet, das ungeborene Leben mit seinem Recht auf Leben zu schützen. Dies ist umso wichtiger, da die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zunimmt. Allein im ersten Quartal 2018 wurden rund 27 200 Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland gemeldet. Das sind 2,2 Prozent mehr als im entsprechenden Vorjahreszeitraum. Daher befürworte ich den kostenlosen Zugang zu Verhütungsmitteln, wenn sie den Abbruch ungewollter Schwangerschaften verhindern.
Allerdings sehe ich in den Anträgen auch noch Potenzial für Verbesserungen. Sie fordern eine Informationskampagne. Diese gibt es schon. Der Bund fördert die Arbeit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, auch zum Thema Empfängnisverhütung.
Besonders problematisch finde ich allerdings Folgendes, nämlich die Forderung im Antrag der Fraktion Die Linke, dass verschreibungspflichtige Verhütungsmittel und operative Eingriffe, also eine Sterilisation ohne Alters- und Indikationseinschränkung für alle, in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen werden sollen. Das lehne ich ausdrücklich ab. Weder verschreibungspflichtige Verhütungsmittel noch operative Eingriffe dienen der Behandlung oder der Vermeidung von Krankheiten.
Wer verhütet, der will auf eine verantwortungsbewusste Familienplanung hinwirken, der will unerwünschten Schwangerschaften vorbeugen und dadurch Schwangerschaftsabbrüche verhindern. Eine Sterilisation ohne medizinischen Grund gehört in erster Linie zur persönlichen Lebensplanung des Versicherten. Damit geht auch ein Risiko einher. Zu eigenverantwortlichen Entscheidungen des Versicherten gehört auch eine eigenverantwortliche Entscheidung zur Finanzierung dieser Leistung. Das kann nicht Aufgabe der Solidargemeinschaft sein.
Wenn wir einkommensschwache Frauen bei Verhütungsmitteln finanziell unterstützen wollen, dann aus Steuermitteln. Das bedeutet den Ausbau entsprechender Transferleistungen, zum Beispiel im Sozialgesetzbuch XII.
Um jedoch überhaupt höhere Finanzmittel für Verhütungsmittel für einkommensschwache Frauen diskutieren zu können, fehlen uns die Zahlen. Die beiden Anträge geben keinerlei Auskunft darüber, wie viele Menschen Anspruch auf kostenlose Verhütungsmittel hätten und was uns das kostet. Wir probieren dies gerade aus. Das Modellprojekt biko – Beratung, Information und Kostenübernahme bei Verhütung – wird uns im September 2019 voraussichtlich eine solide Datenbasis liefern. Dann können wir gerne weiterreden.
Vielen Dank.
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Als Nächste spricht für die SPD die Abgeordnete Josephine Ortleb.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute reden wir über ein Thema, über das in diesem Hohen Hause selten gesprochen wird. Warum ist das so? Weil wir uns oft schwer damit tun, offen über Sexualität zu reden, vielleicht aber auch, weil wir nicht zu der Gruppe der einkommensschwachen Menschen gehören.
Aber was ist der eigentliche Kern der Debatte? Es geht um Selbstbestimmung – die Selbstbestimmung, das eigene Leben so zu gestalten, wie man es möchte. Und heute reden wir über die Menschen, denen die finanziellen Mittel für diese Selbstbestimmung fehlen.
Aus diesem Grund geht mein Dank an die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke, die sich mit ihren Anträgen um nichts weniger als um diese Selbstbestimmung kümmern. Wir beschäftigen uns mit einem Thema, das aus gleichstellungspolitischer Sicht ein Feld ist, welches immer noch hauptsächlich Frauen überlassen wird – im Kopf und im Geldbeutel.
Als in den 60er-Jahren die Verhütung durch die Pille populär wurde, war das ein Meilenstein der Selbstbestimmung der Frau. Durch den sicheren Zugang zu Präservativen ist es uns gelungen, Frauen und Männern die freie und sichere Gestaltung ihrer Sexualität und familiären Zukunftsplanung zu ermöglichen.
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Das Recht, selbst über den Zeitpunkt einer Schwangerschaft zu entscheiden, oder die Entscheidung, kinderlos zu leben, hat eine neue Qualität bekommen: die Qualität eines Menschenrechtes. Das hat die internationale UN-Konferenz in Kairo 1994 festgelegt. Auch die CEDAW-Konvention führt uns das immer wieder vor Augen. Sie stellt klar, dass der Staat die notwendigen Mittel bereitstellen muss, um Frauen das Recht zur freien und verantwortungsbewussten Familienplanung zu ermöglichen. Diese Konvention der Vereinten Nationen ist gerade in politisch unruhigen Zeiten ein verlässlicher Wertekompass,
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der für uns als SPD einen hohen Stellenwert hat.
Wir haben schon vieles umgesetzt, und bei manchem ist auch noch Luft nach oben, so auch bei der sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmung der Frau. Aber ich bin froh, dass auf der Bundesebene bereits an einer Lösung gearbeitet wird wie zum Beispiel durch das bereits erwähnte vom Bundesfrauenministerium geförderte und von pro familia durchgeführte Modellprojekt biko. An bundesweit sieben Standorten ermöglicht das Projekt einen einfachen Zugang zu verschreibungspflichtigen, sicheren und gut verträglichen Verhütungsmitteln für Frauen mit wenig Geld. Dabei wird die kostenlose Abgabe der Verhütungsmittel nicht ausschließlich an den Empfang von Sozialleistungen geknüpft. Die Studentin, die durch biko den verschriebenen Verhütungsring erstattet bekommt, die Sozialhilfeempfängerin, die ihre Familienplanung abgeschlossen und mit der Spirale nun eine sichere Langzeitverhütung hat, oder die Frau mit sehr niedrigem Einkommen, die durch die Pille nun ihre Familienplanung selbst in der Hand hat – diese Beispiele machen deutlich: Selbstbestimmte Familienplanung darf nicht vom Geldbeutel oder den Lebensumständen abhängen.
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Neben der Kostenübernahme stellt pro familia als zweiten Schwerpunkt vor allen Dingen aber auch das Angebot einer umfassenden Verhütungs- und Familienplanungsberatung bereit. Denn oft reichen die klassischen Informationsgespräche in den Arztpraxen nicht aus, und es ist gerade dieses Zusammenspiel von Kostenübernahme und Beratungsangebot, von dem das Projekt biko lebt. Ich freue mich sehr, dass auch in meiner Heimatstadt Saarbrücken einer der Modellstandorte zu finden ist. Aus dem Gespräch mit den Mitarbeiterinnen der dortigen Beratungsstelle weiß ich: Der Bedarf ist da, und er ist hoch.
In Ihrem Anliegen, liebe Antragstellerinnen, sind wir uns hier also einig. Trotzdem müssen wir die offenen Fragen im Verlauf des parlamentarischen Verfahrens klären. Die Auswertung des biko-Modellprojekts wird uns wertvolle Erfahrungen aus der Praxis liefern: Erfahrungen dazu, wie wir den Zugang für Frauen am besten gestalten und somit das Recht auf Selbstbestimmung weiter stärken können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim Sprechen über Sexualität tun wir uns schwer. Oft reden wir nicht offen darüber. Ja, wir können es uns vermeintlich leisten, nicht darüber zu reden. Aber Menschen mit niedrigem Einkommen können es sich nicht leisten, dass wir hier nicht darüber reden.
Vielen Dank.
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Letzte Rednerin in dieser Debatte ist Melanie Bernstein für die CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor einigen Wochen habe ich das Friedrich-Ebert-Krankenhaus in Neumünster, in meinem Wahlkreis, besucht. Dort sind – so sagte man mir – im vergangenen Jahr über 1 000 Kinder zur Welt gekommen. Ein nicht geringer Teil dieser Kinder hat in sozialer Hinsicht einen denkbar schlechten Start ins Leben. Warum ist das so? Etwa 10 Prozent der Mütter haben dringenden Unterstützungsbedarf. Viele Mütter sind sehr jung, wenn das erste Kind zur Welt kommt. Sie leben in schwierigen sozialen Verhältnissen, haben oft schon mehrere Kinder und sind dabei alleinerziehend. Sie sind substanzabhängig oder leiden an psychischen Krankheiten. Viele haben schon mehrere Schwangerschaftsabbrüche hinter sich. Was also würde diesen Frauen helfen? Kostenlose Verhütungsmittel?
Ich habe mich lange mit dem Chefarzt der Klinik unterhalten. Er möchte gern die Frauen nach der Entlassung aus der Klinik „ins Leben begleiten“. Das heißt, niederschwelligen Zugang zu Beratung und Lebenshilfe organisieren, etwa durch die Gründung eines sozialmedizinischen Zentrums. Das halte ich für eine richtig gute Idee. Bei all meinen Gesprächen mit Ärzten, mit Hebammen und in Beratungsstellen wird deutlich, dass die bloße Abgabe kostenfreier Verhütungsmittel gar nichts bewirkt,
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um Frauen davor zu bewahren, ungewollt schwanger zu werden. Es geht ja – und da widersprechen Sie sich in Ihren Anträgen selbst – um Selbstbestimmung und Verantwortung. Ihre Lösung hieße, die gesetzlichen Krankenversicherungen mit immensen Kosten zu belasten und zu hoffen, dass sich komplexe soziale Probleme damit von selbst lösen.
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Aber wenn eine Frau in eine Lage kommt, wie ich sie eben beschrieben haben, ist im seltensten Fall die Tatsache schuld, dass sie oder ihr Partner sich keine Verhütungsmittel leisten können.
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Hier geht es vielmehr um Aufklärung, um Verantwortungsbewusstsein, um Beratung und um Vertrauen.
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Es geht vor allem darum, erwachsene Menschen in die Pflicht zu nehmen, ihr eigenes Leben in den Griff zu bekommen. Das betrifft Ausbildung, Arbeitsplatz und eben auch eine verantwortliche Familienplanung.
Sie sagen: Gebt ihnen kostenlose Verhütungsmittel, und das Problem ist gelöst. – Hier finde ich schon allein das von Ihnen propagierte Frauenbild befremdlich; denn Sie suggerieren ja, dass Frauen quasi gezwungen sind, ungewollt schwanger zu werden,
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weil sie sich die entsprechende Verhütung nicht leisten können. Das halte ich – und da bestätigen mich meine Gesprächspartner – für falsch.
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Ihr Lösungsvorschlag richtet sich nicht an selbstbestimmte, verantwortliche Menschen, sondern versucht, mit Geld und einer sehr einseitigen Sicht auf die Dinge einer Problematik Herr zu werden, die so viel komplexer ist.
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Ich finde, wir sollten mehr in Beratung investieren, in das Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Kindern, Ärzten und Patienten, Menschen, die sich für Kinder entscheiden und denen klar sein sollte, was diese Entscheidung für ihr Leben bedeutet.
Wir sollten auch und besonders jenen Frauen Hilfe bieten, die es eben nicht so leicht haben, sei es in ihrem Elternhaus, im sozialen Umfeld oder in Partnerschaften. Den Weg der „Begleitung ins Leben“, den ich in Neumünster kennengelernt habe, halte ich für richtig gut. Ihre Anträge, liebe Kolleginnen und Kollegen, halte ich aus den vorgenannten Gründen für zu einseitig und deshalb für wenig hilfreich.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe deshalb die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/2514 und 19/2699 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie beginnen Sie Ihren Tag? Ich beginne meinen mit Tee – denn ich bin Ostfriesin – und Tageszeitung. Ohne Frage, mancher Kommentar in unseren hiesigen Zeitungen treibt meinen Blutdruck in die Höhe; aber dennoch würde ich auf genau das nicht verzichten wollen – unsere Tageszeitungen –; denn sie sind wie auch unsere anderen Medien in Deutschland unverzichtbar, weil sie für freie Informationen stehen.
Aber wie beginnen Menschen ihren Tag woanders, in Ländern, in denen es keine zugängliche Information gibt, in Ländern, in denen Journalisten nicht frei berichten können? Nur 13 Prozent der Menschen haben laut Freedom House Zugang zu freien Medien. Journalisten sind Zielscheibe autoritärer Regime. Sie werden verfolgt, inhaftiert, getötet. In Ländern wie der Türkei oder Ägypten wird Medienhetze staatlich verordnet. In Russland oder China sind subtile Zensurmaßnahmen an der Tagesordnung, und unabhängige Medien werden ausgeblutet. Angriffe auf die Pressefreiheit sind ein untrügliches Barometer. Ein Regime, das Angst vor dem freien Wort hat, tritt auch andere Menschenrechte mit Füßen.
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Dies gilt nicht für Deutschland. Bei uns ist der Zugang zu freier Information selbstverständlich. Ein Garant dafür ist die Deutsche Welle. Deshalb freue ich mich, heute Abend auf der Tribüne den Intendanten der Deutschen Welle, Peter Limbourg, mit Mitarbeitern begrüßen zu dürfen. Seien Sie uns herzlich willkommen!
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Die Deutsche Welle ist die Stimme Deutschlands in der Welt. Sie steht für eine Erfolgsgeschichte. Die Deutsche Welle sendet ihr Programm in 30 Sprachen mit Mitarbeitern aus 60 Nationen und 5 000 Kooperationspartnern rund um den ganzen Globus. 157 Millionen Menschen nutzen diese Angebote wöchentlich – wöchentlich! –, Tendenz weiter steigend. Und: Die Deutsche Welle steht für Vertrauen. 96 Prozent der Nutzer halten die Angebote der Deutschen Welle für glaubwürdig. Davon können wir in der Politik nur träumen. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, Menschen zu informieren. Die Deutsche Welle ist keine Propagandamaschine – anders als beispielsweise Russia Today.
Meine Damen und Herren von der AfD, viele von Ihnen geben RT Deutsch so gerne Interviews. Haben Sie sich eigentlich schon einmal informiert, mit wem Sie da so sprechen? Dann wüssten Sie nämlich, dass dieses Medium für Desinformation missbraucht wird. Aber ich verstehe natürlich, dass zu viel Information auch Weltbilder ins Wanken bringen kann. Und was gibt es Schöneres als einfache Denkmuster? Das ist so wie Malen nach Zahlen. Aber was will man von einer Partei erwarten, für die Bezahlfernsehen ein Ausdruck von Informationsfreiheit ist!
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Dann sollen halt der Sozialhilfeempfänger oder der Oppositionelle auf Kuba ein Abo buchen oder auf Informationen verzichten – eine tolle Wahl!
Meine Damen und Herren, wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wollen den freien Zugang zu Informationen für alle. Informationsfreiheit ist für uns ein Menschenrecht, und dafür steht die Deutsche Welle. Dies zeigt übrigens auch der vorliegende Bericht.
Mit ihren Sprachangeboten gehört die Deutsche Welle zu den Top 3 der Auslandssender. Davon profitiert auch unmittelbar die deutsche Sprache. Dieses Angebot wird von vielen Deutschlernenden genutzt.
Heute geht es um die Frage: Wie sieht es die nächsten vier Jahre aus? Die Deutsche Welle steckt sich hohe Ziele. Ein Schwerpunkt ist der Umbau zum digitalen Medienunternehmen. Die Linke sieht dies mit Unbehagen und fürchtet um Arbeitsplätze. Aber Computer sind nicht böse. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Wenn wir die Deutsche Welle jetzt nicht in die digitale Zukunft begleiten, wird sie den Anschluss verlieren – und weit mehr als das: Wir werden den Kampf um die Wahrheit verlieren. Dieser findet in verschiedensten Medien statt, insbesondere in digitalen Formaten, und das kostet Geld.
Deshalb erhöhen wir dank der Unterstützung unserer Staatsministerin Monika Grütters den Bundeszuschuss von Jahr zu Jahr, in diesem Jahr um 28 Millionen Euro.
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Unser Ziel: Wir wollen das Budget der Deutschen Welle auf das vergleichbarer europäischer Auslandssender anheben.
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Und wir haben uns für weitere Mittel starkgemacht. So gibt es 5 Millionen Euro für den Aufbau eines türkischsprachigen Senders; denn gerade aktuell brauchen Menschen in der Türkei das freie Wort – heute mehr denn je.
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Die Presse muss die Freiheit haben, alles zu sagen, damit Despoten die Freiheit genommen wird, alles zu tun, und genau dafür steht die Deutsche Welle. Bitte stimmen Sie der Entschließung zu.
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Nächster Redner ist Martin Renner für die AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich entbiete Ihnen einen schönen Abendwunsch: Entspannung, schöne Worte. Vielleicht muss man da auch ein bisschen Wasser in den Wein schütten.
Die Deutsche Welle hat einen ganz klaren gesetzlichen Auftrag: Deutschland als europäisch gewachsene Kulturnation und freiheitlich verfassten demokratischen Rechtsstaat verständlich zu machen. Das steht im Gesetz. Wir denken, dass die Deutsche Welle diesem Auftrag operativ gerecht wird. Aber auch inhaltlich? Denn zwischen bloßer Vermittlung der deutschen Kultur und der Werte und aktiver politischer Einflussnahme im Ausland ist nur ein hauchdünner Unterschied.
Die Deutsche Welle definiert als Zielgruppe explizit Personen in exponierter Stellung und – ich zitiere aus den vorliegenden Papieren – „sogenannte Multiplikatoren, die ... die Einstellungen ihrer Mitmenschen zu beeinflussen versuchen“. Ist das reine Außendarstellung deutscher Sichtweisen? Ist das nicht, dass Beeinflusser gezielt beeinflusst werden?
Der besagte Unterschied wird verwaschen. Aber in wessen Auftrag passiert das, und mit welcher Intention passiert das? Wie wird diese Agitation sozusagen begründet? Entweder ist dies eine Selbstermächtigung der Deutschen Welle zu aktiver politischer Beeinflussung in anderen Staaten – das führt dann letztlich zu einer inoffiziellen Nebenaußenpolitik, die jedweder demokratischen Kontrolle entbehrt –,
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oder es geschieht in Abstimmung und Absprache mit der Bundesregierung, und dann mutiert die Deutsche Welle zum Regierungssender.
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Es wäre dann doch allzu scheinheilig, zu behaupten – und ich zitiere aus den Papieren –, dass die Deutsche Welle „frei von staatlicher Einflussnahme“ wäre. Sie merken was?
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In beiden Szenarien entzieht sich das aktive politische Handeln der Deutschen Welle der notwendigen parlamentarischen Kontrolle und einer entsprechenden Legitimation. Dies ist nicht aus der Luft gegriffen. Das zeigt die Entschließung der CDU/CSU und der SPD, die die Deutsche Welle in entlarvender Freimütigkeit als – das zitiere ich wieder – „wichtiges Instrument“ zur Verfolgung wichtiger Ziele benennt. Noch schlimmer: In dieser Entschließung schlagen die Koalitionsfraktionen allen Ernstes vor – ich zitiere das –:
… aufgrund seiner außenpolitischen Dimension sollte das weitere Vorgehen unter Wahrung der Staatsferne des
– zu errichtenden türkischsprachigen –
Senders mit der Bundesregierung abgestimmt werden.
Staatsferne? Was verstehen Sie da eigentlich nicht, wenn es um Pressefreiheit und Staatsferne geht? Das ist eine Verwaschung, die wir monieren.
Wie gesagt: Die Deutsche Welle leistet operativ gute Arbeit. Wir kritisieren allerdings doch sehr stark, dass sie ihren Auftrag nach dem Deutsche-Welle-Gesetz in Absprache oder zumindest mit Duldung der Bundesregierung überdehnt.
Wie sehen denn die zu vermittelnden „deutschen … Sichtweisen“ – das ist wieder so ein Zitat – unter dieser Regierung aus? Ich spitze das jetzt zu: Was genau hat denn Deutschland als europäisch gewachsene Kulturnation noch mit dem multikulti-bunten und gender-gagaesken Irrsinn zu tun,
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den diese scheinbar antideutsche Möchtegern-Europakanzlerin und ihre in Ideologiehaft genommenen Erfüllungsgehilfen auf allen verfügbaren Kanälen propagieren dürfen?
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Und jetzt dürfen sie das sogar weltweit machen. Ist es denn der humanistische und allzu beliebige Werteuniversalismus?
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Ist es die utopische und international-sozialistische One-World-Ideologie?
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Ist es das Leugnen der Trinität von Gemeinschaft, Raum und Traditionen? In bürgerlichen Kreisen wird das noch Heimat genannt. Ist es denn – das alles zusammengenommen – die Preisgabe und die Auflösung unserer nationalen Identität,
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die Schaffung eines kulturellen Vakuums, in das gerne auch die mitunter archaischen Werte anderer hineingetragen werden können und sollen? Nein, meine Damen und Herren, diese Sichtweise teilen wir nicht. Es ist eine Sichtweise derjenigen, die weniger das Fremde lieben, als sie das Eigene so sehr hassen.
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Meine Damen und Herren, wir wollen, dass das Erbe weiterentwickelt wird, und nur das ist der Auftrag der Deutschen Welle. Deshalb lehnen wir diese Beschlüsse ab. Friede sei mit euch und mit eurem Geiste.
Danke schön.
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Nächster Redner ist für die SPD der Abgeordnete Martin Rabanus.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Staatsministerin Grütters, sehr geehrte Frau Staatsministerin Müntefering, ich freue mich, dass beide mit Kultur befassten Staatsministerinnen hier sind und damit zeigen, dass die Bundesregierung der Deutschen Welle die entsprechende Wertschätzung entgegenbringt, der Deutschen Welle, die – das sei klar gesagt – im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrages eine hervorragende Arbeit macht. Das ist im Evaluierungsbericht für die letzte Planungsphase 2014 bis 2017 dokumentiert. Ich will nur wenige Zahlen nennen, weil der Bericht insgesamt zu umfänglich ist.
Die Deutsche Welle hatte sich vorgenommen, 150 Millionen Rezipienten in der Woche zu erreichen. Im Jahr 2017 hat sie es tatsächlich geschafft, 157 Millionen Nutzer zu erreichen, also die Reichweite deutlich zu erhöhen – um mehr als 50 Prozent im Vergleich zum Stand von 2012.
Darüber hinaus ist es der Deutschen Welle auch gelungen, die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in das Medium deutlich zu stärken. 89 Prozent der Nutzer haben 2012 gesagt: Wir können der Deutschen Welle und dem, was dort berichtet wird, vertrauen. – Ihr Anteil wurde noch mal gesteigert, auf 96 Prozent. Wer es mal mit den entsprechenden Zahlen für das öffentlich-rechtliche Fernsehen oder gar das private Fernsehen vergleicht, wird sehen, dass die Zahlen da ganz anders aussehen. Das Institut Allensbach hat uns jüngst, im November 2017, mitgeteilt, dass nur 50 Prozent der Nutzer des privaten Fernsehens diesem vertrauen und dem Glauben schenken, was dort berichtet wird.
Die Deutsche Welle erfüllt also ihren Auftrag im Rahmen des Gesetzes. Natürlich hat mein Vorredner eben § 4 des Deutsche-Welle-Gesetzes nur in Teilen zitiert, nämlich nur die Teile, die er am besten verunstalten konnte.
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Wenn Sie den nächsten Satz auch noch zitiert hätten, wäre Ihnen aufgefallen, dass die Deutsche Welle ein Forum für die deutsche Sichtweise – ja! –, aber auch für die Sichtweise anderer Länder, anderer Kontinente, anderer Kulturen bieten soll, mit dem Ziel – und das ist das Entscheidende –, das Verständnis und den Austausch zwischen den Kulturen und Völkern zu fördern und eben nicht das zu machen, was Sie gerade hier wieder angelegt haben.
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Meine Damen und Herren, Intendant Limbourg ist mit Teilen seines Teams hier. Herzlich willkommen, aber auch herzlichen Dank: Sie, insbesondere alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Deutschen Welle – egal ob in Bonn, ob hier in Berlin oder weltweit –, tragen die Deutsche Welle als wichtige Stimme, als eine Stimme, die Deutschland in der Welt darstellt, und Sie machen einen ganz hervorragenden Job. Herzlichen Dank!
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Sie sorgen dafür, dass Fakten in die Welt getragen werden und dass wir keine Fake News haben. Sie sorgen dafür in 30 Sprachen im Fernsehen, im Hörfunk und in Onlineprogrammen.
Darauf bauen Sie jetzt mit der Aufgabenplanung 2018 bis 2021 auf. Sie haben sich in der Tat viel vorgenommen: Sie wollen die Nutzerzahlen auf 210 Millionen Nutzer pro Woche steigern. Sie werden weiter den aktuellen Entwicklungen Rechnung tragen. Sie werden den Aufbau in ein digitales Medienhaus schaffen; da bin ich mir ganz sicher.
Zum Schluss, meine Damen und Herren: Wir als Große Koalition haben die Deutsche Welle in den vergangenen Jahren, in der letzten Wahlperiode, finanziell erheblich gestärkt. Wir werden diesen Weg weitergehen. Wir wollen das Budget der Deutschen Welle auf das von vergleichbaren europäischen Auslandssendern anheben – das steht im Koalitionsvertrag; das haben wir auch in unserer Entschließung jetzt noch einmal niedergelegt –, damit die Deutsche Welle ihren Auftrag noch besser erfüllen kann im Hinblick auf Deutschland als Kulturnation, als demokratischer Rechtsstaat, und mehr für die Verständigung und den Austausch der Kulturen tun kann. Die Deutsche Welle steht für Fakten statt für Fake News und leistet einen Beitrag zu einer friedlicheren Welt.
Herzlichen Dank.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit haben wir Gelegenheit, hier im Plenum über die Deutsche Welle zu sprechen. Mit dem Evaluationsbericht und der Programmplanung 2018 bis 2021 dokumentiert die Deutsche Welle, wofür sie steht und wofür sie arbeitet. Die Deutsche Welle vermittelt Werte. Sie steht auf der Grundlage unseres Grundgesetzes. Sie wirbt für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte. Sie ist unsere Stimme der Freiheit in der Welt.
Dies tut not, meine Damen und Herren, in einer Welt, in der nationale Egoismen immer mehr in den Vordergrund treten, in einer Welt, in der Länder – auch innerhalb der EU – Schritt für Schritt umgebaut werden, wo die Meinungsfreiheit eingeschränkt, das Justizsystem ausgehöhlt, der Beamtenapparat gesäubert und Journalisten inhaftiert werden, in einer Welt, in der gelenkte oder illiberale Demokratien propagiert werden.
Unser Verständnis von Rechtsstaat sieht anders aus.
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Deswegen brauchen wir eine starke, vertrauenswürdige Stimme Deutschlands in der Welt, eine Stimme, die im internationalen Wettbewerb mithalten kann, eine Stimme, die die Pressefreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung lebt und verbreitet.
Bei der Deutschen Welle, Herr Limbourg, lässt sich der Erfolg messen in Reichweiten, Zuschauer- und Nutzerzahlen. Es ist beachtlich, dass 96 Prozent der Nutzer das Angebot als glaubwürdig bewerten. Hier zeigt es sich: Guter Journalismus – auch gegen Verbote, Einschränkungen und Gängelei – kann bestehen. Es sollte ein Lehrbeispiel sein, gerade für die Hetzer und Hassverbreiter bei der AfD.
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Die vorgelegte Aufgabenplanung der Deutschen Welle ist die richtige Antwort auf diese Herausforderung. Auch wir Freie Demokraten sagen Ja zum Aufbau des türkischsprachigen Programms. Das ist dringend notwendig, um in der Türkei die Meinungsfreiheit zu stärken. Wir sagen Ja zum Ausbau des russischen Programms, um gezielter Desinformation und Fake News entgegenzuwirken.
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Wir sagen Ja zur Digitalisierung der Deutschen Welle. Dort, wo Zensur ausgeübt wird, brauchen wir smarte Umgehungslösungen. Die Deutsche Welle kann nur dann verstanden werden, wenn sie auch empfangen wird. Wir sagen Ja zu mehr digitalen Angeboten, um die Jugend zu erreichen; denn die größte Hoffnung für Freiheit und Demokratie in der Welt ist die junge Generation.
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Damit die Stimme der Freiheit weltweit wirken kann, braucht sie finanzielle Mittel. Deswegen sind die quasi in letzter Minute gefundenen zusätzlichen Beträge ein Schritt in die richtige Richtung. Unabhängigkeit der Medien, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, bedeutet aber auch, dass das Programm von den Verantwortlichen entwickelt wird, ohne es einem Ministerium oder der Bundesregierung zur Genehmigung vorlegen zu müssen.
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Staatsferne schaut hier anders aus.
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Für uns steht fest: Wir brauchen die Deutsche Welle als Sprachrohr für deutsche und europäische Werte. Wir haben mit der Deutschen Welle einen Auftrag, wenn nicht sogar eine Verpflichtung. Wir wollen, dass sie aufklärt über Leben, Kultur und Gesellschaft. Wir wollen, dass sie aufklärt über Flucht, Migration und tatsächliche Perspektiven in unserem Land. Wir wollen, dass sie aufklärt bei Krisen, Terror, Krieg und Katastrophen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist unser gemeinsamer Auftrag. Stärken wir diese Stimme der Freiheit.
Danke.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Doris Achelwilm für die Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Die Deutsche Welle genießt international einen sehr guten Ruf. Ihre Berichterstattung wird von den globalen Nutzerinnen und Nutzern als ausgewogen und äußerst glaubwürdig wahrgenommen; wir haben die Zahlen hier bereits gehört. Als Auslandssender, der sich weltweit für kulturelle Vielfalt und die Förderung von Meinungs- und Pressefreiheit, Menschenrechten und Demokratie einsetzt, erfüllt die Deutsche Welle eine Aufgabe, für die sie angemessen finanziert werden muss. Darin sind wir uns hier weitgehend einig.
Welche Schwerpunkte wir als Linksfraktion bei der Aufgabenplanung vermissen oder anders gewichtet sehen wollen, haben wir in unserem Antrag dargelegt. Ein paar Aussagen zur Aufgabe der Deutschen Welle und Ausrichtung ihres Angebots: Pressefreiheit – wir haben es auch hier heute schon gehört – gerät aktuell weltweit massiv unter Druck, und zwar zunehmend auch in demokratisch verfassten Staaten und auch in Europa. Das Klima für offene Gesellschaften wird schlechter, und kritische Medien fallen dieser Entwicklung mit als Erstes zum Opfer.
Was heißt das jetzt für die Deutsche Welle? Wenn weltweit mehr als 3 Milliarden Menschen keinen Zugang zu freien Medien haben, dann sehen wir es nicht als erste Aufgabe der Deutschen Welle an, sich an der Konkurrenzfähigkeit gegenüber anderen Auslandssendern oder an dem Vermögen von Breaking News zu orientieren. Vielmehr geht es darum, genau diese vielen Menschen auf verschiedensten Ebenen zu erreichen, ihnen unabhängige, gut aufbereitete Informationen und Perspektiven zur Verfügung zu stellen. Das ist wichtig, und darum geht es.
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Wir als Linksfraktion begrüßen deshalb auch, dass die Deutsche Welle mit ihrer neuen Aufgabenplanung stark auf sprachliche Vielfalt, regionale Berichterstattung und die entsprechenden Ausspielwege setzt, um Menschen unabhängig von ihrem Status und von englischer Sprachkompetenz zu erreichen. Darin besteht ihre Aufgabe.
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In diesem Sinne spricht sich die Linksfraktion auch dafür aus, die Deutsche Welle Akademie bei der weltweiten Vermittlung von Medienexpertise zu unterstützen. Die Projektmittel sollten auf eine strukturelle Förderung umgestellt werden. Das schafft Planungssicherheit, die notwendig ist.
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Ich komme auf die Situation der Beschäftigten im Hause zu sprechen, insbesondere der sogenannten festen Freien. Union und SPD schreiben in ihrem Entschließungsantrag ja ganz richtig, dass die Erfolgsgeschichte der Deutschen Welle das Verdienst der rund 3 000 engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Deutschen Welle ist. In Zeiten von Fake News und Kostendruck gegen Qualitätsjournalismus kann man die wichtige Arbeit guter Journalistinnen und Journalisten tatsächlich nicht genug würdigen. Auch die Deutsche Welle kann nur so erfolgreich sein, weil sich die rund 3 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Senders so sehr einbringen und engagieren und Arbeit wegtragen. Deshalb verdienen sie mehr als warme Worte. Sie verdienen, dass sich der Bundestag starkmacht für ihre Belange, für gute Arbeitsbedingungen und Interessenvertretung ihrer Anliegen.
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Mit unserem Antrag stellen wir die personelle Situation auch deshalb in den Mittelpunkt, um darauf hinzuweisen, dass die Digitalisierung nicht gegen Beschäftigte arbeiten sollte, sondern für sie. Der Umbau der Deutschen Welle zu einem digitalen Medienunternehmen, der notwendig ist, sollte nicht nur – wie es immer so schön heißt – effizienzsteigernd wirken, sondern die Produktionsbedingungen eben für alle heben. Der Umbau darf nicht zulasten des Personals gehen, sondern sollte im Gegenteil von den Beschäftigten grundlegend mitgestaltet werden.
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Sehr geehrte Damen und Herren, laut Evaluationsbericht 2017 sank der Bestand an Planstellen bei der Deutschen Welle zwischen 1994 und 2014 um satte 43 Prozent. Das ist ein richtig schmerzhafter Aderlass. Und um Programm und Qualität aufrechtzuerhalten, werden nun verstärkt arbeitnehmerähnliche Beschäftigte hinzugezogen, und zwar auch im nicht programmgestaltenden Bereich, wo es wirklich anders geht. Insgesamt arbeiten bei der Deutschen Welle zurzeit circa 1 600 arbeitnehmerähnliche Beschäftigte bzw. feste Freie. Um hier einen notwendigen Gegentrend hin zu mehr Sicherheit gerade für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzuleiten, braucht es aus unserer Sicht eine deutliche Aufstockung der Planstellen.
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Ich komme zum Schluss: Wir wollen, dass auch freie Beschäftigte durch den Personalrat vertreten werden können und dass Maßnahmen zu berufsbegleitenden Weiterqualifizierungen allen Beschäftigten zur Verfügung stehen. Wir halten diese Forderungen für konkret, überfällig und in der Umsetzung machbar.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen ist die Kollegin Margit Stumpp.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Deutsche Welle ist eine starke Stimme des demokratischen, freiheitlich verfassten Deutschlands. Die Auseinandersetzung mit ihrer Arbeit zeigt deutlich: Unser Auslandssender erfüllt seinen gesetzlichen Auftrag und stellt sich den wachsenden Herausforderungen. Dafür wollen wir die Deutsche Welle stärken.
In Bezug auf die Aufgabenplanung der Deutschen Welle für die Jahre 2018 bis 2021 teilen wir allerdings die Ansicht der Bundesregierung, die in ihrer Stellungnahme zur Aufgabenplanung unter anderem zu bedenken gibt, dass die deutsche Sprache weiterhin Schwerpunkt der Angebote sein sollte. Sie mahnt auch an, dass der Auftrag der Deutschen Welle breiter angelegt ist. Sie sollte sich nicht darauf beschränken, ein reiner Nachrichtenkanal zu sein. Und sie weist auf die Pflicht zu mehr Transparenz hin. Betriebs- und Investitionskosten sind leider nicht öffentlich einsehbar. Der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen dagegen stimmt der Aufgabenplanung uneingeschränkt zu, ohne einen einzigen Kritikpunkt zu nennen. Das ist schon bedenklich.
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Wir verstehen konstruktive Kritik als notwendigen Beitrag zur Stärkung der Deutschen Welle. Die Deutsche Welle ist ein Parlamentssender. Das Parlament finanziert sie und debattiert ihre Aufgabenstellung.
Uns sind drei Aspekte wichtig. Zum Ersten ist das die Erreichbarkeit der Menschen im ländlichen Raum, in Regionen, in denen die Leute wenig oder keinen Zugang zur freien Berichterstattung haben. Das Radioangebot, ob über UKW oder Kurzwelle, wurde in der Vergangenheit stark zurückgefahren. Dabei wird vernachlässigt, dass gerade im ländlichen Raum in afrikanischen, arabischen oder asiatischen Staaten die lineare Radionutzung oft immer noch die einzige Art der Informationsbeschaffung ist. Außerdem sind diese Zugänge nicht nachzuverfolgen; das schützt Menschen in autoritären Staaten.
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Zum Zweiten stoßen wir uns nach wie vor an der angestrebten Breaking-News-Ausrichtung. Die Deutsche Welle soll im globalen Informationskampf den hochfinanzierten Auslandssendern wie Russia Today oder BBC die Stirn bieten. Diese strategische Ausrichtung ist ernsthaft zu überdenken. Laut ihres gesetzlichen Auftrags soll die Deutsche Welle durch andere Dinge glänzen, nämlich durch gut recherchierte, hochqualitative Berichterstattung in den Zielregionen, durch Hintergrundberichte und durch investigativen Journalismus. Dazu kann die Intensivierung der Zusammenarbeit mit unseren öffentlich-rechtlichen Sendern oder mit anderen Auslandssendern der EU durchaus beitragen.
Der dritte wichtige Aspekt, den es zu hinterfragen gilt, ist die zunehmende Konzentration auf das englischsprachige Programm und damit einhergehend auf urbane Eliten. Urbane Eliten sind gerade in undemokratischen Staaten Bestandteil des Systems, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eher weniger zugänglich. Die Deutsche Welle muss – das gehört zu ihrem Auftrag – breite Bevölkerungsschichten erreichen. Das gelingt am besten in den Regionalsprachen. Diese Sprachenvielfalt, die, wie auch die Bundesregierung erkennt, den Markenkern der Deutschen Welle definiert, darf nicht eingeschränkt werden. Wir begrüßen den Ausbau. Die Deutsche Welle hat hier die Verantwortung, im Sinne der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zu wirken.
Über diese drei wichtigen Hauptanliegen hinaus muss sich die Situation für die sogenannten festen freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Senders verbessern. Da sind wir ganz bei den Linken.
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Sie machen die Hälfte des gesamten Personals aus und haben weder Planungssicherheit noch Mitspracherecht. Deshalb fordern wir eine Verstetigung der Personalausgaben.
Die leidenschaftslose Entschließung der Koalitionsfraktionen leistet keinerlei Beitrag zu einer zukunftsfähigen Aufgabenstellung der Deutschen Welle. Deswegen stimmen wir ihr nicht zu.
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Nächste Rednerin ist für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Elisabeth Motschmann.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich eben auf den Bundesadler blickte, da dachte ich: Ein schöner Ort, um über die Deutsche Welle zu reden. Sie ist die freie Stimme eines freien Landes in einer Welt, in der es viele unfreie Länder gibt. Der Adler ist ja unter anderem ein Symbol für die Freiheit.
Das Parlament hat – darüber freue ich mich mit Ihnen und Ihren Kollegen, Herr Limbourg – wiederum das Budget der Deutschen Welle erhöht. Wir werden sukzessive auf den Betrag anderer Auslandssender kommen. Das halte ich im Gegensatz zu meiner Kollegin Doris Achelwilm aus Bremen auch für richtig und für wichtig; denn wenn man wirken will in dieser unruhigen Welt, dann geht das nun einmal nicht ohne Geld.
In ihrem Entwurf der Aufgabenplanung hat uns die Deutsche Welle für dieses Geld, das wir zusätzlich bewilligen, eine Reihe von zusätzlichen Programmen und Sprachangeboten aufgezeigt. – Herr Präsident, was ist das denn? Warum blinkt die Anzeige am Rednerpult immerzu?
Die blinkt noch von der Vorrednerin. Lassen Sie sich nicht stören.
Dann fange ich jetzt mit vier Minuten Redezeit wieder an.
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So können wir nicht rechnen.
So was kommt von so was. Dann habe ich jetzt ein bisschen mehr Redezeit.
Wir haben also in der Aufgabenplanung zusätzliche Programme und Sprachangebote aufgezeigt bekommen. Seit Ausbruch des Russland-Ukraine-Konflikts hat die Deutsche Welle ihre Programme in russischer und ukrainischer Sprache ausgeweitet – ich nehme mal dieses Beispiel –, und das mit großem Erfolg. Sie hat mit diesen Angeboten auch in dieser schwierigen Region viele neue Zuschauer, Hörer und über Internet auch Leser gewonnen und besitzt in dieser Region eine hohe Glaubwürdigkeit. Diesen Bedarf hat ganz Osteuropa, zum Beispiel auch die baltischen Länder.
Herr Renner, ich will Ihnen das gerne mal erklären, weil Sie noch nicht so ganz verstanden haben, warum die Deutsche Welle so wichtig ist. In den baltischen Ländern, die ich sehr gut kenne, wirken russische Kanäle, und zwar ziemlich ungut. Sie haben ein Programm mit sehr schönen Unterhaltungssendungen aller Art. Dazwischen kommt dann eine halbe Stunde politische Propaganda. Das ist übel, und das führt dazu, dass die Balten – egal in welches Land sie kommen; besonders betroffen sind aber Estland und Lettland, wo 30 Prozent der Bevölkerung russischstämmig sind – in unterschiedlichen Medienwelten leben. Das führt zu Streit, das führt zu Konflikten, das führt zu Unruhe in den Ländern, so wie übrigens zuvor auch auf der Krim.
Deshalb sage ich Ihnen: Es ist segensreich, wichtig und gut, dass die Deutsche Welle auch hier in Zukunft verstärkt ihr Programm ausweiten will, um unabhängige Berichterstattung zu liefern und um Freiheit und Demokratie in Ländern darzustellen, in denen es auch andere Medien gibt.
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Darüber hinaus begrüßen wir es sehr, dass es nun auch einen türkischen Fernsehkanal geben soll. Die 5 Millionen Euro, die wir dafür bewilligt haben, sind dafür da, dass sich die Deutsche Welle nun auch in türkischer Sprache verbreiten kann. Und wir wissen, wie es in der Türkei zugeht und, nach den Wahlen, auch in Zukunft zugehen wird. Dort werden nach wie vor Journalisten, Juristen, Professoren und Lehrer inhaftiert, und zwar aus Gründen, die nicht nachvollziehbar sind. Ich finde daher schon, dass wir hier einen verstärkten Auftrag haben.
Wir müssen uns konzentrieren. Die Deutsche Welle kann nicht alles und überall leisten, aber gerade in Krisenregionen ist sie von hoher Bedeutung. Deshalb möchte ich Ihnen, Herr Limbourg, und allen Mitarbeitern der Deutschen Welle an dieser Stelle für die Arbeit ganz herzlich danken. Ich werde die Entwicklung in Zukunft als Mitglied des Rundfunkrates sehr wach begleiten und verfolgen. Ich freue mich auf unsere gemeinsame Aufgabe.
Vielen Dank.
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Als nächste Rednerin spricht für die SPD die Abgeordnete Dagmar Freitag.
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Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Pressefreiheit und Meinungsfreiheit – wir kennen genug Beispiele, die belegen, dass diese Begriffe mittlerweile zu leeren Worthülsen verkommen sind.
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Wir alle wissen, welch hohes Gut solche Begriffe darstellen. Aber wir wissen aus vielerlei Beispielen: Sie sind in Gefahr. Aktuell greifen beispielsweise selbst in Österreich Rechtspopulisten die freie Meinungsäußerung völlig unverblümt an.
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Zensur, Fake News, Bots und Trolle – das sind die Begriffe der Gegenwart, Repressionen gegen mutige Journalisten sind in vielen Teilen der Welt plötzlich die Regel. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, in Zeiten wie diesen ist Qualitätsjournalismus schlichtweg unverzichtbar.
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Frau Kollegin Stumpp, was die Tatsache, dass die Deutsche Welle neuerdings Breaking News anbietet, damit zu tun hat, dass das den Qualitätsjournalismus eventuell beeinträchtigen könnte, das erschließt sich mir nicht so ganz. Auch das gehört natürlich dazu, wenn man im 21. Jahrhundert angekommen sein will.
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Die Kollegin Connemann hat bereits darauf hingewiesen: Aktuell haben lediglich 13 Prozent der Weltbevölkerung Zugang zu freien Medien. Die Konsequenz daraus ist aus der Sicht meiner Fraktion: Verlässliche, unabhängige und journalistisch hochwertige Medienangebote, wie die Deutsche Welle sie bietet, sind schlichtweg unverzichtbar.
Aber ich will nicht verschweigen: Die Umstrukturierungen der letzten Jahre waren nicht immer ganz einfach, insbesondere für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
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Aber ich denke, dass das in fairer Absprache vernünftig gelöst worden ist und mittlerweile auch die entsprechenden Früchte trägt.
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Ich habe bei vielen Auslandsaufenthalten erfahren: Der Begriff der Deutschen Welle ist weltweit positiv besetzt. Sie liefert Beiträge in mittlerweile 30 Landes- oder Regionalsprachen und knüpft damit – und das ist ja das Ziel – direkt an die Lebenswelt der Menschen vor Ort an.
Die hohe Bedeutung des internationalen Angebots der Deutschen Welle wird natürlich auch durch die Wahlen in der Türkei deutlich.
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Deshalb finde ich das Vorhaben, das jetzt auch finanziell unterlegt ist, ein entsprechendes Angebot für die Menschen in der Türkei zu machen, gut.
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Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD?
Nein.
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Sie können pöbeln, aber jetzt nicht dazwischenreden.
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Nach dem Putsch in der Türkei erleben wir alle, welche Folgen die aktuelle Politik in der Türkei hat. Ich glaube, es ist gut, wenn freie, unabhängige Medien ein wenig Information dort bieten.
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So etwas kostet natürlich Geld. Ich bin sehr froh darüber, dass der Deutsche Bundestag dieses Vorhaben unterstützt und dass die Deutsche Welle jetzt zügig damit beginnen kann.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die vorliegende Aufgabenplanung präsentiert zu vielen zukunftsgerichteten Projekten entsprechende Vorstellungen. Ich sage es noch einmal: Wir alle gemeinsam haben ein Interesse daran, dass die journalistische Qualität, die die Deutsche Welle bietet, erhalten bleibt. Das ist auch bei der Deutschen Welle – davon bin ich überzeugt – das gemeinsame Ziel aller Akteure. Dieser Auslandssender verdient unsere kritisch-konstruktive Begleitung, aber eben auch unsere Unterstützung.
Ich möchte zum Schluss Intendant Peter Limbourg und seinem Führungsteam, aber auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Bonn, Berlin und den vielen Auslandsstationen ausdrücklich für ihre hervorragende Arbeit danken.
Vielen Dank.
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Liebe Kollegin Freitag, es liegt mir natürlich völlig fern, Ihre Rede zu beurteilen; das steht mir nicht zu. Aber ich kann wohl sagen: Wenn jede Rednerin so viele zusätzliche Abgeordnete ins Plenum locken würde wie Sie, dann hätten wir auch um Mitternacht noch ein volles Haus.
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Zu einer Kurzintervention hat sich Frau Gminder von der AfD gemeldet.
Vielen Dank. – Verehrte Frau Kollegin Freitag, ich hatte keineswegs die Absicht, herumzupöbeln. Ich möchte nur eine schlichte Frage stellen: Sind Sie immer noch seit 2004 stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Welle,
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und vertreten Sie damit eine objektive Haltung gegenüber diesem Institut? – Haben Sie mich verstanden, oder soll ich es noch mal sagen?
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Ich wollte nur die schlichte Frage stellen, ob Sie seit 2004 noch immer die stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Welle sind, im Rundfunkrat der Deutschen Welle sind und Sie sich daher als objektiv gegenüber dieser Institution empfinden.
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Die Frage wurde verstanden.
Das ist fein, danke.
Frau Kollegin, Sie dürfen davon ausgehen, dass ich Fragen beim ersten Mal verstehe, und zwar grundsätzlich.
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Die Antwort ist: Nein, ich bin nicht seit 2004 stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Welle.
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Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Volker Ullrich von der CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben vor wenigen Wochen 65 Jahre Deutsche Welle mit einem großen Festakt gefeiert. Das war zu Recht eine Stunde des Lobes und auch des Stolzes über die Leistungen der Deutschen Welle in den letzten 65 Jahren. Sie ist ein Leuchtturm für Meinungsfreiheit und Demokratie, für das Ansehen unseres Landes in der Welt und für Presse- und Meinungsfreiheit.
Ja, die Presse- und Meinungsfreiheit werden in vielen Teilen dieser Erde im Augenblick sehr stark herausgefordert. Deswegen darf zum Schluss dieser Debatte auch daran erinnert werden, dass es ein Glück ist, in einem Land zu leben, in dem Presse- und Meinungsfreiheit herrschen. Wir sollten auf dieses Glück stolz sein und darauf drängen, dass es in vielen Teilen der Welt verteidigt wird.
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Unsere Gedanken gelten auch den Journalisten, die in der Türkei, in Ägypten, in China, in Russland und in vielen anderen Teilen der Welt im Gefängnis sitzen, weil sie frei berichten wollen. Das ist ein Skandal. Unsere Solidarität gilt den Journalisten, die frei berichten wollen.
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Die Deutsche Welle kämpft in 30 Sprachen und in vielen Teilen der Welt für Presse- und Meinungsfreiheit.
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Das ist in einem Zeitalter, in dem gezielte Desinformation und Fake News fast schon zur Tagesordnung zu gehören scheinen, auch wichtig. Da muss man ganz klar und deutlich festhalten: Die Deutsche Welle macht den Faktencheck, statt Falschnachrichten zu verbreiten, und dafür danken wir. Wir danken auch dafür, dass die Deutsche Welle in einem Zeitalter, in dem die liberale Ordnung herausgefordert wird, diese Werte hochhält.
Es ist bezeichnend, dass diejenigen, die sich sonst durch die Behauptung von Fake News und in Sachen Medienschelte hervortun, diejenigen sind, die auch die Arbeit der Deutschen Welle in Misskredit bringen wollen. Deswegen sagen wir: Wer zur Presse- und Meinungsfreiheit steht, der steht auch zur Arbeit der Deutschen Welle. Wir tun das auf alle Fälle.
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Die Zahlen sprechen für die Deutsche Welle. Nach dem Evaluationsbericht sagen 96 Prozent der Nutzer, sie haben Vertrauen in dieses Medium. Die Zahl der Nutzer dieses Angebots hat sich seit dem Jahr 2014 von über 100 Millionen auf über 157 Millionen Menschen um circa 50 Prozent erhöht. Das ist etwas, worauf wir stolz und wofür wir dankbar sein können.
Und: Ja, wir müssen die Deutsche Welle weiterentwickeln. Wenn es gerade in vielen Teilen der Welt darum geht, junge Menschen für ihr Angebot zu begeistern, und wenn wir die Idee von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in viele Teile der Welt weitertragen wollen, dann müssen wir die junge Generation erreichen. Das geht nur über neue Angebote im Bereich der sozialen Medien oder der Digitalisierung. Deswegen ist es richtig und zielführend, wenn die Deutsche Welle hier einen sehr starken Beitrag leistet.
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Meine Damen und Herren, nach dem Ausscheiden der BBC müssen wir mit der Deutschen Welle dafür Sorge tragen, dass ein Sender die Aspekte der europäischen Einigung und der Europäischen Union in die Welt weitertragen kann. Auch das wird die Deutsche Welle ein Stück weit übernehmen müssen. Ich glaube, dass wir zu neuen, guten Kooperationsformen kommen können, auch mit unseren französischen Freunden, um so gemeinsam in vielen Teilen der Welt Flagge zu zeigen.
Meine Damen und Herren, die Deutsche Welle überbringt Worte, an die viele Menschen glauben, und sie sendet Bilder, die für viele Menschen Lichtblicke sind. In diesem Sinne: Lassen Sie uns die notwendigen Mittel freigeben! Stimmen Sie der Beschlussempfehlung zu!
Vielen Dank.
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Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf Drucksache 19/3035. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Deutsche Welle über den Entwurf ihrer Aufgabenplanung 2018 bis 2021 auf Drucksache 19/372 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Bei Enthaltung von Grünen, Linken und FDP ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der AfD angenommen.
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Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Evaluationsbericht 2017 der Deutschen Welle auf Drucksache 19/373 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe!
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Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der AfD mit großer Mehrheit angenommen.
Dann kommen wir zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/3038. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Die FDP. Wer stimmt dagegen? – Das ist mit Ausnahme der Grünen der Rest des Hauses. – Wer enthält sich? – Erwartungsgemäß die Grünen. Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/3037. Wer stimmt für diesen Antrag? – Die Linken und die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Die AfD, die FDP, CDU/CSU und SPD. Das ist die große Mehrheit. – Enthaltungen sehe ich nicht. Damit ist der Antrag ebenfalls abgelehnt.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Gäste!
In manchen Großstädten gibt es ganze Straßenzüge mit Schrottimmobilien, in denen Migranten nur aus einem Grund wohnen: Weil sie für ihre Kinder, die gar nicht in Deutschland leben, Kindergeld auf deutschem Niveau beziehen.
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Mit exakt diesen Worten wies der frühere SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel bereits 2016 auf ein Problem hin,
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das aus unserer Sicht, aus Sicht der AfD-Fraktion, nicht die Menschen in den Schrottimmobilien verursacht haben, sondern Sie: die Politiker, die schon länger hier sitzen.
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Was ist das konkrete Problem? In Deutschland gibt es rund 200 Euro Kindergeld je Kind. Auch Ausländer haben diesen Anspruch,
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sobald sie hier gemeldet sind. Sie erhalten das Kindergeld aber nicht nur für ihre hier lebenden Kinder, sondern auch dann, wenn sie ihre Kinder in der Heimat zurückgelassen haben. Der Fachbegriff dafür lautet „Export von Familienleistungen“. Das wird uns nicht etwa durch nationales Recht vorgeschrieben, sondern durch eine Verordnung der Europäischen Union.
Infolge dieser Verordnung hat sich das deutsche Kindergeld zu einem wahren Exportschlager entwickelt.
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Denn in nicht wenigen EU-Staaten – gerade in Osteuropa – ist das deutsche Kindergeld eine signifikante Einkommensquelle. Nehmen wir nur Rumänien als Beispiel: Das durchschnittliche monatliche Einkommen dort liegt im Hotelwesen bei 258 Euro, im Baugewerbe bei 321 Euro. Hätte man nur das deutsche Kindergeld für zwei Kinder, würde man dort im Monat 400 Euro zur Verfügung haben.
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Da darf man sich über den zunehmenden und von Gabriel zu Recht kritisierten Sozialtourismus nach Deutschland nicht wundern. Und die Zahlen der Bundesregierung belegen das. Seit 2010 haben sich die Kindergeldüberweisungen auf ausländische Konten nahezu verzehnfacht.
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Allein im vergangenen Jahr wurden 343 Millionen Euro direkt auf ausländische Konten überwiesen.
Die von uns kritisierte Regelung ist aber nicht nur ein massiver Anreiz zur Einwanderung in unser Sozialsystem, sie ist auch höchst ungerecht. Denn mit dem Kindergeld wird in erste Linie das Ziel verfolgt, die Eltern beim Aufziehen von Kindern finanziell zu entlasten. Der Aufwand der Kindererziehung ist aber nicht überall gleich, sondern hängt von den Lebenshaltungskosten vor Ort ab. Die können anderswo in der EU wesentlich niedriger sein als in Deutschland.
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Mit 400 Euro Kindergeld können Sie in Rumäniens Hauptstadt eine vollmöblierte Dreiraumwohnung mieten. Versuchen Sie das mal hier, in Berlin, München, Potsdam oder Hamburg!
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EU-Ausländer, deren Kinder in Rumänien leben, aber deutsches Kindergeld erhalten, werden damit faktisch bessergestellt, und das ist nichts anderes als Diskriminierung zulasten hier lebender Kinder und deren Eltern.
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Die Bundesregierung kennt das Problem seit langem und hat sogar einen Gesetzentwurf zur Anpassung des Kindergeldes an die Lebenshaltungskosten vor Ort vorbereitet. Sie sagt in diesem Gesetzentwurf: 160 Millionen Euro könnten damit jährlich eingespart werden. – Allerdings wurde der Gesetzentwurf nie eingebracht. Frau Nahles von der SPD und auch Herr Schäuble von der CDU waren dagegen.
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– Sie haben es gerade gesagt: Man wollte keinen nationalen Alleingang, sondern abwarten, bis die EU eine Lösung gefunden hat.
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Die zuständige EU-Kommissarin Marianne Thyssen ließ aber mehrfach ausrichten, dass die bestehenden Regeln fair seien, und 160 Millionen Euro wären ohnehin nur Peanuts. Da muss man sich nicht wundern, wenn diejenigen, die heute Kritik an Brüssel üben, morgen anfangen, Brüssel zu bekämpfen.
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Dabei zeigt Österreich im Übrigen, dass man sich von der EU nicht demütigen lassen muss. Die dortige Regierung hat vor wenigen Wochen ein Gesetz zur Anpassung des Kindergeldes für EU-Ausländer beschlossen. Nichts anderes erwarten wir als AfD-Fraktion auch von der Bundesregierung.
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Wir fordern die Bundesregierung auf, das Kindergeld für EU-Ausländer anzupassen. Stoppen Sie die Einwanderung in unser Sozialsystem, und stoppen Sie die Diskriminierung der vielen deutschen Eltern, die hier leben und hier ihre Kinder aufziehen!
Vielen Dank.
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Herr Springer, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung?
Gerne.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Vielen Dank für die Gelegenheit, die Frage stellen zu dürfen. – Sie haben jetzt mehrfach Rumänien erwähnt. Mich würde a) interessieren, ob Sie wissen, wie viel Kindergeld tatsächlich auf rumänische Konten fließt, und b), ob es nicht sein kann, dass jemand, der hier arbeitet und aus Rumänien stammt, sein Konto in seinem Heimatland belässt.
Zur ersten Frage: Ich habe die Bundesregierung mehrfach gefragt. Sie ist nicht in der Lage, konkrete Zahlen zu nennen. Sie kann nur sagen, dass in Rumänien rund 17 000 Kinder deutsches Kindergeld erhalten.
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Insgesamt sind es 215 000 Kinder, die im EU-Ausland leben und dort deutsches Kindergeld bekommen.
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Können Sie die zweite Frage bitte wiederholen?
Kann es nicht sein, dass jemand, der aus Rumänien stammt und hier arbeitet, sein Konto in Rumänien belässt?
Deswegen gibt es jährlich Überweisungen in Höhe von 343 Millionen Euro auf ausländische Konten.
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– Ich habe es Ihnen gerade gesagt: Die Bundesregierung ist nicht aussagefähig. Das können Sie in den Antworten auf inzwischen drei Kleine Anfragen nachlesen. Die Bundesregierung kann die exakten Zahlen nicht nennen. Österreich kann die exakten Zahlen übrigens nennen.
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Ich denke, die Fragen sind beantwortet.
Damit bedanke ich mich.
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Wir machen weiter mit dem Kollegen Johannes Steiniger von der CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich auf den Inhalt des Antrags eingehe, möchte ich kurz ein paar Worte zum Vorgehen in dieser Sache sagen.
Sie haben diesen Tagesordnungspunkt letzte Woche ja unter einem falschen Titel eingebracht. Bis gestern hieß der Tagesordnungspunkt noch „Einwanderung in das deutsche Sozialsystem verhindern“.
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Die Kindergeldindexierung, über die wir jetzt heute diskutieren, hat damit aber gar nichts zu tun.
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Einen Tag vor der Debatte, also gestern, haben Sie den Namen geändert und erstmals Ihren Antrag veröffentlicht. Erst dann war klar, was wir eigentlich diskutieren wollen. Das war nicht nur schlechter Stil, sondern das war auch nicht patriotisch;
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denn statt dass ich gestern die deutsche Nationalmannschaft anfeuern konnte, habe ich mich mit Ihrem Antrag beschäftigen müssen.
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Das Ergebnis ist bekannt: Das Team hat verloren, und durch Ihre Lektüre habe ich auch nur wenig gewonnen.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist doch auch kein Zufall, dass Sie den Antrag hier in diesem verschleierten Verfahren gerade jetzt einbringen. Das Kalkül ist doch sonnenklar:
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Ihnen passt es erstens nicht, dass diese Koalition erfolgreich arbeitet.
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Sie wollen von unserer guten Arbeit ablenken.
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– Hören Sie ruhig einmal ein bisschen zu. – Dass wir gestern beim Thema Baukindergeld eine Einigung ohne Wohnraumbegrenzung hinbekommen haben, ist ein Erfolg für junge Familien in Deutschland.
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Dass Minister Scholz just gestern den ersten Teil des Familienentlastungsgesetzes vorgestellt hat, ist ein starkes Zeichen: Wir, die Koalition, tun etwas für Familien im Land. Wir erhöhen das Kindergeld um 10 Euro pro Kind und pro Monat ab dem nächsten Jahr.
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Die nächste Stufe folgt 2020/21. Das ist doch genau der Grund, warum Sie heute hier diesen Antrag einbringen: Sie wollen von dieser erfolgreichen Koalition ablenken.
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Aber das wird Ihnen nicht gelingen.
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Ihnen geht es zweitens gar nicht um die Sache, also um den Antrag hier im Plenum, sondern Sie wollen Stimmung machen. Das kann man gut sehen, wenn man sich Ihren Facebook-Account anschaut, was ich getan habe.
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Hier ist anders als im Antrag keine Rede mehr davon, dass es um Angehörige aus EU-Ländern geht, deren Kindergeld indexiert werden soll, sondern da steht: Antrag zum Kindergeld für im Ausland lebende Kinder.
Sie insinuieren dadurch der Bevölkerung, dass alle in Deutschland lebenden Ausländer ein Anrecht auf Kindergeld hätten. Das ist schlichtweg falsch, passt aber zu Ihrem üblichen Schema, Ausländer, Flüchtlinge, Migration und Sozialleistungen in einen Topf zu werfen, umzurühren und somit gezielt Vorurteile zu bedienen. Schauen Sie sich einmal die Kommentarspalten unter diesem Facebook-Post an. Da wird in keiner Weise von Ihnen korrigiert, da wird auch nicht moderiert. So geht es eben nicht. Das lassen wir Ihnen hier nicht durchgehen.
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– Es hat schon etwas mit dem Inhalt zu tun, wenn man darauf hinweist, warum Sie hier welche Anträge einbringen.
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Das soll die deutsche Bevölkerung schon wissen. Sie machen ja eher Social Media statt Parlamentarismus.
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Der Facebook-Post war schon am Dienstag online.
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Nun zur Sache selbst. Erstens. Es geht bei der diskutierten Kindergeldregelung um EU-Bürger. Es geht nicht um alle Ausländer. Um es klar zu sagen: Der afghanische Flüchtling erhält kein Kindergeld für seine Kinder in der Heimat.
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Das ist auch richtig so.
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Das schwingt natürlich bei Ihnen immer mit. So ist auch die entsprechende Kommentierung.
Zweitens. Um Kindergeld zu beziehen, muss man hier beschäftigt sein. Wenn also jemand nach Deutschland kommt, so wandert er auf der anderen Seite in das Sozialsystem ein, nämlich auf der Seite des Steuerzahlers.
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Drittens. Ja, Sie haben recht: Der Betrag der Kindergeldzahlungen ins Ausland hat sich seit 2010 stark erhöht. Aber die vollständige Wahrheit ist auch: Von 2016 bis 2017 ist dieser Betrag um 70 Millionen Euro gesunken. Insgesamt macht das weniger als 1 Prozent der Kindergeldzahlungen aus. Deswegen ist die Lage nicht so dramatisch, wie Sie es hier darstellen.
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Viertens. Sie kommen zu spät. Diese Bundesregierung hat längst reagiert, sogar die Vorgängerregierung.
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Schon im Frühjahr 2017 gab es hier einen Vorstoß, einen Brief von Wolfgang Schäuble, Andrea Nahles und Brigitte Zypries, in dem die Kommission damals aufgefordert wurde, Kürzungen und Indexierungen zu ermöglichen.
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Ich halte dieses Anliegen der Bundesregierung der Indexierung für richtig; denn – es wurde von Ihnen ein Beispiel genannt – es ist klar: Wenn der rumänische Handwerker in einem deutschen Betrieb arbeitet, dann finde ich das erst einmal richtig gut, weil wir damit etwas gegen die Fachkräftelücke machen.
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Es ist auch gut, dass dieser rumänische Handwerker hier Steuern zahlt.
Aber klar ist auch: Wenn er zwei Kinder in Rumänien hat und er dann Kindergeld nach deutscher Berechnung bekommt, dann ist das eben so viel, wie man in Rumänien im Durchschnitt als vollen Lohn erhält, wenn man 40 Stunden pro Woche arbeitet. Das steht in keinem Verhältnis. Deshalb gibt es hier Änderungsbedarf.
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Herr Kollege Steiniger, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Brantner?
Wirklich? Um diese Uhrzeit? – Komm, auf geht es. Bitte.
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Sie haben ja gerade erwähnt, dass in Deutschland gar nicht jeder Kindergeld bekommt, sondern nur derjenige, der hier Steuern zahlt. Wenn Sie wollen, dass der rumänische Handwerker das rumänische Kindergeld bekommt: Zahlt er dann auch rumänische Steuersätze, oder zahlt er weiterhin deutsche Steuersätze?
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Ehrlich gesagt habe ich die Frage nicht genau verstanden. Aber Fakt ist, dass der Durchschnittslohn in Rumänien 437 Euro ist und dass man derzeit für zwei Kinder 388 Euro Kindergeld bekommen würde. Tatsächlich steht hinter dem Punkt der Indexierung, dass man die Lebenshaltungskosten mit in die Berechnung hineinnehmen möchte. Von daher ist das aus meiner Sicht ein berechtigtes Anliegen. Aber so, wie es die AfD vorschlägt, geht es eben nicht.
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Der Unterschied zu Ihrem Antrag ist nämlich, dass wir eine rechtskonforme Lösung wollen und keinen Alleingang, der uns jahrelange Verhandlungen beim Europäischen Gerichtshof einbringt.
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Es ist nämlich so – zahlreiche Gutachten zeigen das –, dass für die Indexierung eine Änderung im europäischen Sekundärrecht notwendig ist. Das sagen das Gutachten des Staatssekretärausschusses, der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages und die einschlägigen Gerichtsurteile.
Dafür setzt sich die Bundesregierung ein, und das ist richtig. Die Bundeskanzlerin und der Arbeitsminister haben das jüngst wieder bestätigt.
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– Interessant, dass Kollegen während einer solchen Rede Fotografien machen. Okay.
Würden Sie bitte das Fotografieren einstellen? Es kann nicht sein, dass hier im Plenum die Abgeordneten herumlaufen und Fotografien machen.
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Ja, da oben sitzt AfD-TV, glaube ich.
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Der Kollege dort oben darf auf der Pressetribüne fotografieren und filmen, in dem üblichen Rahmen.
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– Das ist mir egal, wer das ist. Darauf kommt es nicht an.
Fahren Sie bitte fort.
Herzlichen Dank. – Dafür setzt sich die Bundesregierung ein, und das ist richtig. Bundeskanzlerin und Arbeitsminister haben das jüngst wieder bestätigt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, dass eine europäische Lösung möglich ist, zeigt die Einigung in dieser Sache mit Großbritannien im Jahr 2016. Hier stand man unmittelbar vor der Einführung einer Indexierung, auch mit der Möglichkeit der Umsetzung. Mit dem Brexit hat sich dies jetzt erledigt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich unterstütze die Initiative unseres Kollegen Sven Schulze im Europäischen Parlament. Er setzt sich dort nämlich mit Kollegen aus Deutschland, den Niederlanden, Österreich, Dänemark und Irland dafür ein, eine rechtskonforme Möglichkeit zu finden, die Indexierung einzuführen.
So wie Sie dies hier vorschlagen, geht es allerdings nicht. Deswegen lehnen wir das auch ab.
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Als nächster Redner spricht der Abgeordnete Michael Schrodi für die SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf zunächst aus einer Rede vom 8. Juni 2018 zum Thema Arbeitnehmerfreizügigkeit zitieren, in der es heißt, die andere Seite dieser Arbeitnehmerfreizügigkeit sei die armutsbedingte Zuwanderung in die Sozialsysteme, und dies nicht selten unter Zurücklassung der restlichen Familien im Heimatland. Ein besonderer Anreiz sei dabei das Kindergeld.
Das ist nicht aus einer Rede der AfD. Das ist ein Zitat von Winfried Bausback, CSU, bayerischer Justizminister, bei der Einbringung der Bundesratsinitiative der CSU zur Kindergeldindexierung. Die Anträge gleichen sich nicht nur im Duktus: Ganze Passagen sind mit identischem Wortlaut verfasst. Jetzt können Sie gerne darüber streiten, wer das Original und wer die Kopie ist. Es ist auf jeden Fall beschämend, dass ein solcher Gesetzentwurf in solch einem Duktus eingebracht wird, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Ganz Deutschland ist übrigens klar, dass die verbale Aufrüstung ein verzweifelter, aber auch untauglicher Versuch des Herrn Söder ist, die absolute Mehrheit der CSU mit allen – auch solch populistischen – Mitteln zu retten.
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Wenn Herr Söder schon nicht staatspolitische Verantwortung zeigt,
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dann sollte er sich vielleicht die Umfragen anschauen. In einer Umfrage heißt es nämlich heute: Das größte Problem in Bayern ist die CSU. Das haben die bayerischen Bürgerinnen und Bürger gesagt, und damit haben sie recht. Da kann man Abhilfe schaffen.
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Ich erkläre Ihnen nun ganz genau, warum es falsch und geradezu perfide ist, Arbeitnehmerfreizügigkeit und Sozialmissbrauch miteinander zu verquicken.
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Die Menschen, über die Sie hier reden, arbeiten in der Pflege, auf dem Bau, als Ingenieure oder, aus Rumänien kommend, als Ärztinnen und Ärzte. Sie arbeiten hier. Sie zahlen hier Steuern. Sie tragen dazu bei, dass unser Land funktioniert, und sie haben ein europäisches Recht auf Kindergeld. Das ist nicht Missbrauch; das ist ein Recht, und das sollten wir auch verteidigen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Um Missbrauch handelt es sich, wenn Arbeitnehmer mit Dumpinglöhnen abgespeist werden und Kindergeld – wie oft üblich – in den Lohn eingepreist wird. Da wäre eine Initiative für mehr Lohngerechtigkeit sinnvoll. Aber Hetze gegen Menschen darf es nicht geben.
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Da Sie auf die Haltung der Bundesregierung zu sprechen gekommen sind, muss ich den Kolleginnen und Kollegen von der CSU sagen: Bisher hat die CSU die Auffassung der Bundesregierung vertreten, dass eine Indexierung mit Europarecht nicht vereinbar sei und dass wir deswegen einen entsprechenden Antrag nicht einbringen.
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Innenminister Seehofer sieht das anscheinend nicht mehr so. Er hat Antworten gestoppt. Auch die Auffassung der Bayerischen Staatsregierung ist, es sei europarechtskonform. Hier befinden Sie sich in Übereinstimmung mit der AfD und übrigens auch mit der österreichischen Regierung aus konservativer ÖVP und rechtspopulistischer FPÖ. Das ist keine gute Zusammenarbeit. Ich empfehle Ihnen die Ausarbeitung des Fachbereichs Europa vom Juni 2018 als Lektüre. Dort steht ganz klar, dass das, was Bayern, die AfD und Österreich wollen, nicht vereinbar ist mit europäischem Recht.
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Noch zwei Dinge zur Klarstellung: Ja, es gibt die rechtswidrige Aneignung von Kindergeld durch Personen aus dem europäischen Ausland. Das ist Betrug und kein Kavaliersdelikt, genauso wenig wie Steuerbetrug. Ich erwarte von den Ermittlungsbehörden, dass sie diesen Betrug verfolgen und mit voller Härte des Gesetzes ahnden.
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Wir haben als Bundestag einige Maßnahmen getroffen, die es umzusetzen gilt. Aber zur Einordnung: Trotz der Steigerung der Zahl der Kindergeldbezieher bzw. des ausgezahlten Kindergeldes betrug der Anteil der Auslandsüberweisungen an den Gesamtzahlbeträgen – um ein paar Zahlen zu nennen, falls Ihnen keine vorliegen – 0,96 Prozent. Sie reden in diesem Zusammenhang gerne von Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien, weil sich so Ressentiments besser schüren lassen. Über zwei Drittel der Zahlungen erfolgen an Berechtigte, die Staatsangehörige der unmittelbaren Nachbarstaaten sind. 9 Prozent sind es nur aus Rumänien, und 7 Prozent erfolgen an deutsche Staatsbürger. Warum ist es gestiegen? Mehr Menschen aus EU-Staaten arbeiten in Deutschland, weil die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Polen, Kroatien und andere Länder gilt. Deswegen nimmt der Bezug des Kindergeldes zu. Wenn Sie schon keine Ahnung von den Zahlen haben, sollten Sie nicht irgendwelche Anträge stellen. Lesen Sie einfach genauer! Dann hätten Sie auch die entsprechenden Zahlen.
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Ihr Antrag ist im schlechtesten Sinne des Wortes populistisch und hat großes Verhetzungspotenzial. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten machen das nicht mit. Wir stehen offensiv – genauso wie Andrea Nahles das heute früh gesagt hat – zu Europa und zur Arbeitnehmerfreizügigkeit. Wir stehen zu Arbeitnehmerrechten für Menschen mit deutscher und europäischer Staatsangehörigkeit. Wir stehen für Solidarität statt für Spaltung. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
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Nächster Redner ist der Abgeordnete Markus Herbrand von der FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Springer, das muss man erst einmal schaffen, einen in meinen Augen diskussionswürdigen Antrag derart mit einer falschen Tonlage zu versehen, dass man schon bald nicht mehr darüber diskutieren möchte. Chapeau!
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Wir befinden uns tatsächlich wieder einmal in einer emotional sehr aufgeladenen Debatte. Das Thema Kindergeldbezüge für nicht in Deutschland lebende Kinder treibt die Menschen nicht erst seit gestern um. Das ungute Gefühl, dass durch unsere vergleichsweise hohen Kindergeldzahlungen Fehlanreize gesetzt werden, gärt seit langem und wurde bislang sträflich vernachlässigt. Die Bundesregierung hätte uns diese Debatte heute ersparen können, wenn sie in den vergangenen Jahren zielgerichtet gearbeitet und sich mit ganzem Einsatz bei ihren europäischen Partnern für Änderungen an der bestehenden EU-Regelung eingesetzt hätte.
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Nun missbrauchen interessierte Populisten diese Ausgangslage für erneute Hetze und Stigmatisierungen.
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Dabei wollte die Bundesregierung eine Änderung schon einmal herbeiführen; das wurde gerade gesagt. Bereits im vergangenen Jahr lag ein Referentenentwurf aus dem Bundesfinanzministerium vor, der zumindest die Diskussion auf die europäische Ebene hätte verlagern können. Letztlich scheiterte dieser Vorstoß des damaligen Finanzministers Wolfgang Schäuble am Widerstand der SPD, obwohl gerade der damalige Parteivorsitzende Sigmar Gabriel Schäuble zu diesem Handeln aufgefordert hatte. Es bleibt also das Geheimnis der SPD, warum man da nicht weitergekommen ist.
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Schon im vergangenen Mai gab es zu diesem Thema eine Bundesratsinitiative der bayerischen Landesregierung. Wahrscheinlich ist es dem Streben nach Koalitionsfrieden geschuldet, dass diese Initiative nicht wirklich das Licht der Öffentlichkeit erblickte, wenngleich wir eben natürlich Zeugen einer wahren Liebesbekundung zwischen den Koalitionspartnern geworden sind.
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Auch derzeit herrscht weiter Lethargie bei der Bundesregierung. Dabei sollte dieses Thema nach wie vor ein wichtiges Anliegen sein, nicht nur, weil damit unter Umständen dreistellige Millionenbeträge eingespart würden, sondern vor allem auch, um das Empfinden der Menschen, Deutschland sei der Zahlmeister Europas, aufzunehmen, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen und den Populisten entschlossen entgegenzutreten.
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Die spürbare Unzufriedenheit und mangelnde Souveränität mit zahlreichen EU-Vorgaben treiben den Populisten und EU-Gegnern die Wählerinnen und Wähler leider in Scharen zu. Wenn die EU-Kommission und die Bundesregierung nicht endlich erkennen, dass ihre Politikgestaltung oft mehr entfremdet als vereint, steht unser gemeinsames Europa vor gewaltigen Umbrüchen, die wir hier alle – bis auf einige wenige – eigentlich so nicht haben möchten. Ich fürchte das Schlimmste für die Bewältigung der wirklich großen Herausforderungen Europas, wenn eine Kompromissfindung schon bei einem so kleinen Thema scheitert; denn es ist ein kleines Thema, und da sollten wir auch die Kirche im Dorf lassen.
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2017 standen den deutschen Gesamtausgaben von knapp 36 Milliarden Euro für das Kindergeld etwa 320 Millionen Euro gegenüber, die auf ausländische Konten überwiesen wurden, rein rechnerisch also weniger als 1 Prozent. All dem liegen ja nicht Einwanderungen in unsere Sozialsysteme zugrunde, wie die AfD immer meint; hier haben wir es beispielsweise auch mit im Ausland studierenden Kindern zu tun.
Aber das bestehende Missverhältnis führt zu Ungleichgewichten, die mit dem europäischen Recht auf Freizügigkeit weder beabsichtigt waren noch dadurch zu begründen sind. Vor diesem Hintergrund stimmen wir heute der Überweisung des vorliegenden Antrags in den Finanzausschuss zu. Wir werden uns in der anschließenden Debatte ergebnisoffen zeigen, und wir werden uns auch konstruktiv einbringen. Dabei werden wir der antragstellenden AfD-Fraktion aber auch erklären müssen, dass hier kein europarechtskonformer Gesetzentwurf notwendig ist, sondern eine Änderung europäischen Koordinierungsrechts.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Abgeordnete Jörg Cezanne für die Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die AfD, also die mit dem ganz kleinen braunen Karo, selbst wenn sie blaue Jeansjacketts tragen, hat mal wieder einen Skandal aufgedeckt, der aber gar keiner ist: Kinder von Ausländern erhalten gutes deutsches Kindergeld, sogar in Polen oder Rumänien. „Florida-Rolf“ ist jetzt zehn Jahre alt, heißt „Andrzej“ oder „Bogdana“ und lässt es sich in Warschau oder Bukarest auf deutsche Kosten gut gehen. Welche Ungerechtigkeit!
Mal abgesehen davon, dass sich leider auch schon SPD und CDU des Themas – unsinnigerweise, wie ich finde – angenommen haben, auf europäischer Ebene da aber auf wenig Verständnis gestoßen sind: Ist das denn überhaupt eine irgendwie fragwürdige Regelung? Es ist schon gesagt worden: Kindergeld gibt es für Arbeit und nicht für Nationalität oder Wohnsitz.
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Wer in Deutschland arbeitet und Steuern zahlt, hat Anspruch auf Kindergeld. Das gilt auch für Beschäftigte mit ausländischen Pässen – auf dem Bau, in der Pflege oder in Privathaushalten. Also: Wer Kindergeld erhält, hat den Anspruch durch ihre oder seine Erwerbsarbeit in Deutschland erworben. Wer Kindergeld erhält, hat gutes Geld verdient und dafür in Deutschland Steuern auf das Einkommen gezahlt. Wo ist da die Ungerechtigkeit?
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Umgekehrt gilt das genauso. Menschen mit deutschem Pass, die im Ausland leben und arbeiten, erhalten dort Kindergeld oder vergleichbare Leistungen. Das gilt für die Länder der Europäischen Union, für die Schweiz und die Länder des Europäischen Wirtschaftsraums. Hier ist also auch keine Ungerechtigkeit zu erkennen.
Meine Damen und Herren, von Diskriminierung kann keine Rede sein. Hier wird auf dem Rücken von Kindern ein grotesker Sozialneid geschürt. Wie es sich für die AfD gehört, wird dabei auch noch versucht, alles so darzustellen, als sei das ein Problem von Einwanderung oder Deutschsein oder nicht. Dabei verheddert sich die AfD aber in ihren eigenen Argumenten.
Was in der ganzen Debatte bislang gar keine Rolle gespielt hat: Auch deutsche Staatsangehörige erhalten für ihre im Ausland lebenden Kinder Kindergeld, zum Beispiel dann, wenn diese in Italien oder Österreich studieren, an einem internationalen Freiwilligendienst teilnehmen oder beim zweiten Elternteil im Ausland leben. Diese Gruppe von im Ausland lebenden Kindern deutscher Staatsangehöriger ist übrigens mit 34 000 Kindern nach der Gruppe der in Polen lebenden die zweitgrößte Gruppe.
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Wenn die AfD ihre eigenen Argumente ernst nehmen wollte – das muss sie ja nicht, tut sie auch nicht –, dann müsste für diese Kinder auch das Kindergeld gekürzt werden.
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Wer von Ihnen aus der AfD-Fraktion erhält denn gerade Kindergeld für im Ausland lebende oder studierende oder bei Partnern lebende Kinder?
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Meine Damen und Herren, welche Größenordnung das Problem hat, ist schon angesprochen worden. Weniger als 1 Prozent der Kindergeldzahlungen fließen ins Ausland. Dass die Zahl der Berechtigten in den letzten zehn Jahren zugenommen hat – letztes Jahr waren es ungefähr 250 000 –, kann jetzt nicht wirklich überraschen.
Kindergeld wird vom Staat an die Eltern, nicht an die Kinder gezahlt. Zweck des Kindergeldes ist es, die finanziellen Belastungen, die mit dem Unterhalt, der Erziehung und der Betreuung von Kindern verbunden sind, wenigstens teilweise auszugleichen. Nach dieser Lesart ließe sich aber auch leicht begründen, warum in Deutschland erwerbstätige Menschen mit Kindern im Ausland sogar höhere finanzielle Belastungen haben. Nach der Logik, die für uns Bundestagsabgeordnete gilt, müssten die höheren Reisekosten und die Kosten für doppelte Haushaltsführung noch gesondert berücksichtigt werden.
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Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Viel Empörung mit wenig Gehalt. Es ist gut, dass es das Kindergeld gibt. Es ist keineswegs zu hoch, auch nach den jüngsten Kabinettsbeschlüssen nicht.
Danke schön.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile: Sie werden festgestellt haben, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Präsidentschaft gewechselt hat; nein: dass der Präsident gewechselt hat.
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Allein die Tatsache scheint dazu geführt zu haben, dass wir mehrere Reden zu Protokoll nehmen. Die Reden zum Zusatzpunkt 8 sowie zu den Zusatzpunkten 9 und 10 werden jeweils zu Protokoll gegeben. Das heißt, die Reden werden nicht gehalten.
Wenn wir uns an die Usancen hier halten, dass die Redezeiten nicht überschritten werden, dass keine Kurzinterventionen zugelassen werden, werden wir die Tagesordnung noch relativ zeitnah erledigen können, sodass die Bediensteten des Deutschen Bundestages im Rahmen der Arbeitszeitordnung gesetzlich regulär ihre Tätigkeit beenden können.
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– Ja, darauf haben die Mitarbeiter auch wirklich einen Anspruch.
Als Nächstes erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn für Bündnis 90/Die Grünen.
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Guten Abend, Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie von der AfD wollen wieder mal spalten. Sie schüren Hass und Zwietracht und arbeiten dabei mit ausländerfeindlichen Vorurteilen. Jetzt nehmen Sie sogar auch noch die Kinder ins Visier. Das ist widerlich und nicht hinnehmbar.
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Statt Spaltung brauchen wir sozialen Zusammenhalt. Ihre ewige Unterstellung, dass EU-Bürgerinnen und EU-Bürger nur nach Deutschland kommen wollen, um Sozialleistungen zu beziehen, ist schlicht falsch. Die Menschen kommen hierher, weil sie arbeiten wollen,
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und das ist ihr gutes Recht; denn in der EU herrscht Freizügigkeit, und von der Freizügigkeit in der EU profitieren wir alle, sogar Sie von der AfD.
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Bei denen, die Kindergeld beziehen, geht es übrigens überwiegend um Menschen, die hier arbeiten, hier Steuern zahlen und hier zum Wohlstand beitragen. Deswegen haben sie ein Recht auf das Kindergeld, und das ist auch gut so. Letztlich geht es Ihnen von der AfD eigentlich nur darum, die Freizügigkeit zu begrenzen. Wir wollen das nicht. Wir wollen, dass sich alle EU-Bürgerinnen und -Bürger in der EU frei bewegen können – ohne Grenzkontrollen und sozial abgesichert.
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Zum Zusammenhalt in der EU gehört das Gleichbehandlungsgebot: Überall in der EU werden alle EU-Bürgerinnen und EU-Bürger gleichbehandelt. Das ist ein wichtiger Grundsatz der Europäischen Union. Es gibt keine EU-Bürgerinnen erster und zweiter Klasse. Das Gleichbehandlungsgebot bedeutet dann auch, dass Eltern, die in Deutschland leben, das gleiche Kindergeld bekommen, egal, ob die Kinder in München, in Brandenburg oder in Luxemburg leben.
Das Argument, dass die Lebenshaltungskosten von im Ausland lebenden Kindern eventuell geringer sind, greift übrigens zu kurz; der Kollege Cezanne hat das eben schon angedeutet. Oder finden Sie nicht, dass sich Kinder und Eltern vielleicht auch regelmäßig sehen sollten? Wenn man zum Beispiel die Fahrtkosten mit einrechnet, dann sind die geringeren Lebenshaltungskosten schon längst wieder ausgeglichen. Man kann sich nämlich nicht nach Rumänien oder nach Polen beamen, sondern man muss dorthin fahren.
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Das kostet Geld. Deswegen ist es durchaus akzeptabel, dass sie das gleiche Kindergeld bekommen.
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Was heute auch schon gesagt worden ist: Das betrifft natürlich auch Deutsche. Sie bilden die zweitgrößte Gruppe derjenigen, die Kindergeld für Kinder im Ausland bekommen. Wollen Sie das Kindergeld von Deutschen kürzen?
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– Okay, Sie sagen, Sie wollen das Kindergeld von Deutschen kürzen.
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Die AfD will Familienleistungen für Deutsche kürzen.
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Sehr gut, prima – das ist ja mal eine Aussage.
Eigentlich geht es Ihnen ja nur darum, dass Menschen aus bestimmten Ländern weniger Kindergeld bekommen. Die Argumentation mit den Rumänen war ja deutlich: Das zielt doch auf eine ganz bestimmte Bevölkerungsgruppe ab, die davon besonders betroffen wäre, eine Minderheit, die früher schon mal von Diskriminierung betroffen war.
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Es geht Ihnen um blanken Antiziganismus, um das mal deutlich zu sagen.
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Wir wollen das nicht.
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Sie wollen vielleicht in diese Vergangenheit zurück. Wir wollen nicht in diese Vergangenheit zurück – nie wieder!
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Man muss es ganz deutlich sagen: Sie spielen mit diesen Ressentiments.
In Bezug auf die Kindergeldindexierung muss man aber auch sagen: Alle, die dem Vorschlag folgen, sind völlig auf dem Irrweg, wie die CSU zum Beispiel. Aber auch die Bundesregierung darf man da nicht aus dem Blick nehmen. Die Bundesregierung – da muss ich Sie korrigieren, Herr Kollege von der FDP – ist da im Moment auf EU-Ebene aktiv:
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Sozialminister Hubertus Heil – wir hatten gerade den Bericht der Staatssekretärin, die eben noch da war, im Ausschuss – versucht, die Kindergeldindexierung auf EU-Ebene zu implementieren. Aber Deutschland hat da keine Mehrheit. Das nennt man dann Demokratie: Die Bundesregierung setzt sich da nicht durch, weil die anderen Mitgliedstaaten in der Mehrheit sagen: „Wir bleiben bei dem Gleichbehandlungsgrundsatz, wir bleiben bei der Freizügigkeit, das ist uns wichtig“ – im Gegensatz zu Ihnen.
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Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir brauchen mehr Zusammenhalt in der EU, wir brauchen mehr Europa.
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Dafür sollten wir uns einsetzen – gegen Nationalismus und gegen die Spalter von der AfD.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Hans Michelbach.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon nach der Lektüre des Antrags habe ich mich gefragt, was eigentlich die Beweggründe und Ziele der AfD-Fraktion sind, und ich frage mich dies nach dem gehörten Debattenbeitrag der AfD noch mehr. Also, meine Damen und Herren von der AfD, worum geht es Ihnen wirklich?
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Was Sie hier treibt, ist erkennbar nicht die Sorge um die Staatsfinanzen
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oder um die Gerechtigkeit.
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Was Sie von der AfD treibt, ist Ihre immer wieder hervortretende Polemik gegen Ausländer. Das ist hier wieder der Fall.
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Sie vermischen in Ihrem Antrag Sozialleistungsmissbrauch und rechtlich nicht zu beanstandenden Kindergeldbezug von Menschen, die hier bei uns arbeiten, und Sie vermischen dies bewusst, um bei den Menschen Stimmung zu erzeugen. Ein solches Verhalten ist einfach nicht in Ordnung, und das muss man hier deutlich machen.
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Meine Damen und Herren, gewiss gibt es auch Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme.
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Natürlich muss man diesen Missbrauch im Interesse aller hier lebenden und arbeitenden Menschen bekämpfen,
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auch im Interesse derjenigen EU-Ausländer übrigens, die hier arbeiten und so zum wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes sowie zur Finanzierung des Staatswesens und der Sozialversicherungen ihren Beitrag leisten. Sie beurteilen diese Menschen willkürlich, indem Sie letzten Endes alle in einen Topf werfen und sagen: Alle haben Sozialmissbrauch begangen. – Das ist falsch, das ist willkürlich. Das kann man so nicht hinnehmen, meine Damen und Herren.
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Tatsache ist: Bei der Missbrauchsbekämpfung haben Bundesregierung und Koalition in der zurückliegenden Legislaturperiode bereits in mehrfacher Weise gehandelt. Dazu gehört die Verbesserung der Identifizierung von Antragsteller und Kind durch die Einführung der Steueridentifikationsnummer bei der Beantragung von Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz. Dazu gehören die Änderungen in der Sozialgesetzgebung zur Verbesserung des Datenabgleichs zwischen dem Ausländerzentralregister und den Familienkassen vom Dezember 2016. Und letzten Endes gehören dazu die Verkürzung der Frist für Kindergeldanträge sowie die Beschleunigung des Informationsaustausches zwischen den Meldebehörden und Familienkassen, die zu Jahresbeginn wirksam wurde. Das sind drei wesentliche Punkte, die genau das Gegenteil von dem beweisen, was Sie hier einfordern, meine Damen und Herren.
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Herr Kollege Michelbach, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?
Nein. Ihr Antrag sagt alles. Da brauche ich keine Frage.
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All diese Maßnahmen verfolgen das Ziel, ungerechtfertigte Kindergeldanträge insgesamt rascher zu erkennen und Überzahlungen effektiver zu vermeiden.
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Sie von der AfD könnten das alles wissen; es steht nämlich in der Antwort der Bundesregierung auf Ihre Anfrage vom Februar dieses Jahres.
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Diese Antwort haben Sie jetzt einfach unter den Teppich gekehrt. Sie brauchen also keine Frage zu stellen, Sie müssen nur die Antwort der Bundesregierung lesen, meine Damen und Herren. Da steht alles drin.
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Aber offenbar lesen Sie nicht gerne oder nicht richtig, oder Sie wollen sie nicht lesen, weil die Antwort nicht zu Ihren Vorurteilen passt.
Auch eine am Wohnort des Kindes ansetzende Indexierung gibt es bereits, allerdings nicht im Rahmen des Kindergeldes, sondern beim Kinderfreibetrag im Einkommensteuergesetz. Da gehört sie auch hin, meine Damen und Herren; denn das Kindergeld ist Teil der Einkommensteuergesetzgebung.
Eine Indexierung des Kindergeldes scheitert bislang leider am EU-Recht. Die Bundesregierung hat die EU-Kommission in der Vergangenheit mehrfach aufgefordert, eine Rechtsänderung auf die Tagesordnung zu setzen – bislang leider ohne Erfolg,
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auch weil es von etlichen Mitgliedstaaten Widerstand gibt. Ich sage es ganz offen: Ich halte diese Verweigerungshaltung der Kommission auf Dauer nicht für vermittelbar;
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denn es gibt Ihnen Nahrung für Ihre Verhetzungspotenziale, für Ihre Verschwörungstheorien, meine Damen und Herren. Deswegen begrüße ich ausdrücklich, dass der Finanzminister Olaf Scholz gegenüber der Kommission die Initiative zur Indexierung des Kindergelds weiter betreiben will.
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Da könnten Sie von der SPD mal klatschen, weil es ja Ihr Minister ist.
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Herr Schrodi, Sie haben sich in Ihrer Rede nicht sehr von der AfD unterschieden; das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen. Es war ein Skandal.
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Sie haben den Mund zu voll genommen haben, was sich in den Umfragen niederschlägt, in denen die SPD in Bayern bei 12 Prozent liegt. Gehen Sie in sich, dann wissen Sie, wo Sie wirklich stehen: auf AfD-Niveau, meine Damen und Herren. Sie sollten hier den Mund nicht so voll nehmen.
Danke schön.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Dr. Michelbach. – Jetzt kann als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt unmittelbar auf Sie antworten die Kollegin Cansel Kiziltepe von der SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Michelbach, wir sind hier nicht im Bayerischen Landtag. Wir sind hier im Deutschen Bundestag, und es geht hier um bundespolitische Themen.
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In dieser fadenscheinigen und populistischen Debatte möchte ich gerne mit ein paar Irrtümern aufräumen. Die AfD versucht wieder, diskriminierende Politik zu machen, auf dem Rücken von ausländischen Kindern. Zu gerne sprechen Sie von Rumänen und Bulgaren, die sich durch das Kindergeld bereichern, ja, die sich in unsere sozialen Sicherungssysteme einschleichen würden. Ich sage Ihnen: Das entspricht nicht der Wahrheit. Die Zahlen sprechen hier eine ganz andere Sprache. Es ist gut, dass Andrea Nahles als Arbeitsministerin diesen Irrsinn gestoppt hat.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, weil es für Sie offensichtlich nicht so ganz einfach ist, komme ich zu den Zahlen: Erstens. Weniger als 1 Prozent des Kindergeldes fließt überhaupt ins Ausland. Zweitens. Das meiste davon wird an Familien in unseren Nachbarländern ausgezahlt. Es fließt also nicht nach Rumänien, Bulgarien, sondern hauptsächlich nach Polen, Tschechien, in die Niederlande und nach Frankreich. Allein nach Polen gingen 2007 mehr als 55 Prozent aller Auslandsüberweisungen.
Ich will Sie nicht unterbrechen, aber es besteht der Bedarf zu einer Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion.
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Nein, danke. Ich versuche jetzt, die Zahlen mal richtig zu erklären; das Verständnis dafür ist nicht so ganz da. Also: Mehr als 55 Prozent aller Auslandsüberweisungen gehen an Polen. Bei dieser Größenangabe schießt Ihnen von der AfD-Fraktion das Blut in den Kopf, wie ich vermute.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns im Klaren darüber sein, wer dieses Geld bekommt. Das sind polnische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die in Deutschland arbeiten, deren Familien aber noch immer in Polen leben. Das sind Krankenschwestern, die sich um unsere Alten in den Pflegeheimen kümmern. Das sind Handwerker, die von der deutschen Bauwirtschaft angestellt werden, damit sie unsere vollen Auftragsbücher abarbeiten können. Das sind Saisonarbeiter und, und, und.
Frau Kollegin, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Linksfraktion?
Nein.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht erlauben wir der Rednerin, ihre Willensbildung ohne weitere Zwischenrufe selbst zu bilden und ohne ihr zu erklären, was sie zu tun oder zu lassen hat. Sie erlauben die Zwischenfrage. – Herr Kollege, bitte.
Liebe Kollegin, ich fühle mich sehr geschmeichelt.
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Ich möchte fragen, ob Sie den Antrag der AfD genauso wie ich verstehen, dass nämlich Frau Weidel für ihre Kinder, die in der Schweiz leben, bei einer Indexierung der Lebenshaltungskosten mehr Kindergeld bekommen würde und das der eigentliche Zweck des Antrags der AfD ist?
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Lieber Kollege De Masi, ja, das wäre in der Tat so. Da in der Schweiz die Lebenshaltungskosten höher sind, wäre auch der Kindergeldanspruch höher. Insofern glaube ich, dass die AfD-Fraktion hier im Auftrag von Alice Weidel handelt.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Menschen arbeiten oft in Jobs, die zu schlecht bezahlt sind, als dass sie ihre Kinder überhaupt nach Deutschland mitbringen könnten, oder in denen sie jede Woche woanders arbeiten müssen. Deswegen pendeln sie Woche für Woche zwischen ihrer Arbeit in Deutschland und ihrer Heimat hin und her. Das sind Eltern, die hart arbeiten, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen – eine Zukunft, in der sie nicht mehr pendeln müssen, um ein ausreichendes Einkommen zu erzielen.
Zuletzt will ich noch einmal verdeutlichen, dass Auslandsüberweisungen auch für viele Kinder und Jugendliche aus Deutschland wichtig sind; das unterschlagen Sie immer. Ein Beispiel hierfür sind die Freiwilligen, die sich in europäischen Projekten engagieren. Für viele von ihnen wäre solch ein Freiwilligendienst sonst überhaupt nicht möglich. Das alles müssen wir berücksichtigen, wenn wir über eine Indexierung des Kindergeldes sprechen – nicht mehr und nicht weniger. Zu Kollege Steiniger – –
Nein, Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Herr Kollege, schauen Sie in den Koalitionsvertrag. Dort steht nichts von Kindergeldindexierung. Wir lehnen den AfD-Antrag ab.
Danke.
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Herzlichen Dank, Frau Kollegin. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/2999 an die an der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Finanzausschuss liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung einen Gesetzentwurf, der aufgrund eines sehr unrühmlichen Schrittes der damaligen schwarz-gelben Mehrheit, nämlich Laufzeitverlängerungen zu beschließen, erforderlich geworden ist. Das war im Jahr 2010.
Wie allen bekannt ist, ereignete sich das große Reaktorunglück von Fukushima im Jahr 2011. Infolgedessen wurde diese Laufzeitverlängerung zurückgenommen. Dabei sind Fehler gemacht worden. Genau diese Fehler und die sich anschließenden Klagen, im Besonderen eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, haben dazu geführt, dass wir mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts als Gesetzgeber den Auftrag erhalten haben, eine Neuregelung dieses Atomgesetzes vorzunehmen. Um ebendiese Neuregelung geht es heute.
Wir haben vom Bundesverfassungsgericht eine Frist gesetzt bekommen. Das ist, denke ich, auch zu erwarten gewesen. Diese Frist endet nun leider am 30. Juni dieses Jahres. Es ist mit Blick darauf, dass der Gesetzentwurf erst am 1. Juni eingebracht wurde, eine denkbar kurze Frist. Diese kurzen Fristen sollten nicht weiter Schule machen. Das ist vielleicht auch ein kleiner Appell an unsere Ministerien, die Zeitnot nicht immer an das Parlament weiterzureichen. Es ist nur ein kleiner freundlicher Hinweis. Wir erleben es ja in den letzten Tagen häufig, dass wir die Zeitnot dann hier wiederfinden.
Wir hatten nichtsdestotrotz eine sehr intensive Verhandlungszeit. Man muss sagen, dass dieser Gesetzentwurf, wie er uns nach dem Kabinettsbeschluss vorgelegt wurde, im Grundsatz schon eine wesentliche und richtige Grundentscheidung in sich trägt. Aus den verschiedenen Optionen, die das Bundesverfassungsgericht aufgezeigt hatte, wurden die zu findenden Ausgleiche für die Atomkraftwerksbetreiber so gewählt, dass eben nur ein finanzieller Ausgleich und keine Laufzeitverlängerungen angesetzt werden können.
Man hätte nach den Worten des Bundesverfassungsgerichts in der Tat auch Laufzeitverlängerungen wählen können. Das ist aber unvereinbar mit unserem gesetzlich beschlossenen Atomausstieg und dem Gedanken des Atomausstiegs, die Risiken, die mit dieser Atomenergienutzung verbunden sind, zu begrenzen und möglichst bald auszusteigen und eben auch nicht weiterhin Müll zu erzeugen – mit allem, was daran hängt.
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Insofern ist es konsequent, dass dieser Gesetzentwurf den Weg des Atomausstiegs gewählt hat. Weil ich weiß, dass einige hier im Hause anderer Meinung sind, möchte ich das an dieser Stelle vorweg noch einmal ganz deutlich machen – ich kann hinterher nicht mehr reagieren –: Das ist der richtige Weg. Alles andere, was in Richtung Laufzeitverlängerung geht, ist unverantwortlich.
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Die parlamentarische Beratung hat aber eben auch ergeben, dass es durchaus noch Veränderungen hätte geben können. Da muss ich für die SPD-Fraktion sagen, dass ich großes Bedauern darüber empfinde, dass wir das in der Koalition nicht vereinbaren konnten. Wir als SPD-Fraktion wollten Änderungen dahin gehend erreichen, Konflikte, die sich in der Zwischenzeit, nach dem Atomausstieg und dem heutigen Tag mit Blick auf die Energiewendeziele ergeben haben, zu begrenzen, indem man die Übertragung von Reststrommengen in sogenannte Netzausbaugebiete unterbindet. Das wäre natürlich entschädigungspflichtig gewesen; das ist uns bewusst. Aber wir haben uns dafür eingesetzt, weil wir auf keinen Fall wollten, dass die gesetzliche Vorrangigkeit der erneuerbaren Energien, die wir in Deutschland und auch europaweit haben, dadurch determiniert wird, dass man auf einmal verstopfte Stromnetze durch Atomstrom hat – auch durch anderes, aber eben auch durch Atomstrom. Deswegen wollten wir da gerne eine Begrenzung. Das ist nicht vereinbar gewesen, was wir bedauern.
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Zum Zweiten hätten wir es für wichtig und richtig gehalten, Brunsbüttel konsequent nicht mit in den Gesetzentwurf aufzunehmen. Da hatten wir einen Konflikt. Den konnten wir leider auch nicht bereinigen. Wir wollten an dieser Stelle in Auslegung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts auf Brunsbüttel im Gesetzestext verzichten. Das wäre nach unserer Ansicht auch mit Blick auf die Fokussierung des Bundesverfassungsgerichts auf den Gleichheitsgrundsatz und damit auch auf die Restlaufzeiten, die da angelegt sind, legitim gewesen. Insofern hätten wir das gerne vorgeschlagen. Es ist leider nicht geglückt, das zu vereinbaren. Ebenso ist es leider nicht geglückt, dahin gehend eine Konkretisierung vorzunehmen, dass die Ausgleichshöhe etwas genauer spezifiziert wird und es tatsächlich nicht der volle Wertersatz sein soll, der dann hinterher auszuzahlen ist. Das ist im Grunde genommen umschrieben, aber wir hätten da gerne mit dem Wording des Bundesverfassungsgerichts eine Konkretisierung vorgenommen.
Ich möchte an dieser Stelle noch ganz kurz erwähnen, dass es nicht hilfreich war, eine Stellungnahme des Bundesrats am Tag der Einbringung dieses Gesetzentwurfs vorzufinden, die zwar einerseits diese Frage bezüglich der Übertragung von Reststrommengen benannte, uns andererseits als Gesetzgeber aber aufgegeben hat, dies doch bitte erst nach Inkrafttreten des Gesetzes anzugehen. Das war nicht hilfreich für das Verfahren; das möchte ich hier einmal erwähnt haben.
Etwas stutzig macht mich auch – das haben wir ja in der Ausschussberatung erfahren müssen –, dass die FDP diesem Gesetz heute offenbar nicht zustimmen möchte. Sie sind Mitverursacher für die Situation, die wir heute haben, und stimmen jetzt nicht zu. Das finde ich keinen guten Zug. – Ich habe noch eine Sekunde und mache jetzt Schluss.
Schönen Abend noch.
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Sehr vorbildlich, Frau Kollegin Scheer. – Als Nächster hat für die AfD-Fraktion der Kollege Dr. Rainer Kraft das Wort.
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Sehr geehrter Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Gäste haben wir keine mehr. – Die 16. Änderung des Atomgesetzes, wie von der Bundesregierung vorgeschlagen, erfolgt als Reaktion auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von vor bald zwei Jahren. Die Maßgabe des Gerichtes, das Atomgesetz neu zu fassen, wurde dabei mit einer Frist versehen, die – wir sind noch vor Mitternacht – übermorgen endet. Wir sind also spät dran. Bezüglich der Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes durch die Koalition von Union und SPD haben mehrere Sachverständige bei der abgehaltenen öffentlichen Anhörung ihre Bedenken geäußert, dass diesen Vorgaben nicht in allen Punkten Rechnung getragen wird.
Die Bedenken äußern sich darin, dass das Gesetz keine zweifelsfreien Kriterien nennt, wie mit den Rechtsansprüchen umzugehen ist. So wird zwar die Angemessenheit der Übertragungsbedingungen von Stromkontingenten erwähnt, aber es wird nicht definiert, worin diese Angemessenheit besteht.
Das Gleiche passiert auch bei der Übertragung der ausgleichsfähigen Reststromkontingente, um die sich die vormaligen Betreiber ernsthaft bemühen müssen. Wie ein Anwärter dieses ernsthafte Bemühen nachweisen und dokumentieren muss, um seine Ansprüche nicht zu verwirken, bleibt allerdings im Dunkeln. Dabei sind diese übertragenen Kontingente von Natur aus unterhalb des Verkehrswertes von regulären Strommengen angesiedelt, da der wirtschaftliche Gewinn dieser Reststrommengen ja durch zwei Unternehmen geteilt wird: den Überträger des Kontingentes und den tatsächlichen Stromerzeuger.
Bemerkenswert ist ferner, dass eine vom Bundesverfassungsgericht eröffnete Möglichkeit zur Reduzierung der Aufwendungen der öffentlichen Hand nicht betrachtet worden ist, nämlich das Einräumen von Laufzeitverlängerungen zum ausschließlichen Verstromen anspruchsfähiger Reststrommengen. Ein solches Verstromen hätte für die Bürger und Steuerzahler den Charme, dass sie nicht für imaginären Strom zur Kasse gebeten würden, sondern zumindest einen Nutzen davontragen, wozu die Bundesregierung eigentlich kraft haushalterischer Gesetze verpflichtet ist.
Freilich sind mit einer Laufzeitverlängerung auch Kosten für den Bund zwecks Endlagerung und seit kurzer Zeit auch durch die nötige Zwischenlagerung verbunden. Ein sorgfältiger Gesetzentwurf hätte aber diese Kostenrechnung aufgezeigt und damit gemäß haushalterischer Gewissenhaftigkeit nachgewiesen, dass der vorgelegte Gesetzentwurf die im Sinne des Steuerzahlers beste Lösung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes ist.
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Diese Kosten-Nutzen-Rechnung ist von den Initiatoren bewusst nicht unternommen worden. Wir müssen daher konstatieren, dass von der Union und der SPD der Ideologie des Ausstieges aus der nukleartechnischen Stromerzeugung der Vorzug gegeben wird
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vor einer gewissenhaften Prüfung der volkswirtschaftlichen Konsequenzen Ihres Gesetzentwurfs,
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in diesem Falle zum Nachteil des Steuerzahlers mit möglichen Kosten im oberen dreistelligen Millionenbereich.
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Liebe Kollegen von der kleinsten Großen Koalition aller Zeiten, so geht man nicht mit anvertrautem Steuergeld um. Sie müssen die Wirtschaftlichkeit bei finanziellen Unternehmungen prüfen und Ihren haushalterischen Pflichten nachkommen. In dieser Form müssen wir den Gesetzentwurf ablehnen.
Vielen Dank und gute Nacht.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Kraft. – Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Karsten Möring.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts, über das wir schon bei der Einbringung dieses Gesetzentwurfs gesprochen haben, wurde festgestellt, dass es zwei Unternehmen gibt, die durch den Ausstieg 2011 benachteiligt sind, und zwar RWE und Vattenfall. Das Verfassungsgericht hat uns aufgegeben, diese Benachteiligung auszugleichen. Das ist die Ausgangslage.
Die Varianten, die uns das Verfassungsgericht zur Lösung dieser Frage gelassen hat, mussten wir bewerten, und wir mussten uns entscheiden, was wir machen. Frau Scheer hat bereits darauf hingewiesen, dass wir auf die Möglichkeit einer individuellen Laufzeitverlängerung einzelner Kraftwerke, aber nicht der Gesamtdauer der Nutzung von Atomenergie hätten zurückgreifen können. Wir haben das aber nicht getan, und zwar deshalb nicht, weil wir dieses ständige „Rin in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ nicht machen wollten und weil wir das Vertrauen der Bevölkerung in die Entscheidung, dass es nun einmal so ist und nicht mehr geändert wird, nicht enttäuschen wollten.
Herr Kollege Kraft, Ihre Argumentation, dass wir damit gegen Haushaltsrecht verstoßen oder eine Abwägung hätten vornehmen müssen, zieht ganz einfach deswegen nicht, weil schon das Verfassungsgericht festgestellt hat, dass wir eine politische Entscheidung getroffen haben, die uns zusteht. Es hat allerdings gleichzeitig gesagt, dass es dann notwendig ist, einen Ausgleich für die beschädigten, die benachteiligten Unternehmen zu schaffen, der nicht dem vollen Wertausgleich entsprechen muss. Das machen wir mit diesem Gesetz. Es geht also um Ausgleichsmaßnahmen und nicht um Wertersatz.
Der Gesetzentwurf, der uns heute zur zweiten und dritten Lesung vorliegt, hat sich im Vergleich zur ersten Lesung inhaltlich praktisch gar nicht verändert. Es gab nur eine kleine redaktionelle Änderung. Allerdings hatten wir in der Zwischenzeit im Zuge einer Sachverständigenanhörung eine ganze Reihe von Problemen intensiv diskutiert und sind zu einem Ergebnis gekommen. Meine Kollegin Scheer hat sich eben dahin gehend geäußert, dass sie damit nicht zufrieden ist. Deswegen möchte ich kurz auf die Punkte eingehen und begründen, warum wir das so gemacht haben.
Erster Punkt: Muss Brunsbüttel einbezogen werden oder nicht? Die Antwort ergibt sich aus der Tatsache, dass nicht die Laufzeit in Jahren für ein Kraftwerk, sondern die zugesagte verstrombare Menge dieser Entscheidung zugrunde gelegt wird. Die verstrombare Menge war für Brunsbüttel noch nicht ausgeschöpft. Deswegen muss auch für Brunsbüttel ein Ausgleich infrage kommen. Das geschieht im Zweifelsfall durch Möglichkeiten der Verlagerung der Strommengen.
Zweiter Punkt: ein mögliches Verbot der Verlagerung von Strommengen in Kraftwerke, die in Netzausbaugebieten liegen. Wenn wir ein solches Verbot aussprechen würden, dann hätten wir ein verfassungsrechtliches Problem, weil das nicht mehr durch einen Ausgleich für Benachteiligung gedeckt wäre, und wir hätten ein finanzielles Problem, weil eine solche Form der Benachteiligung de facto eine Art von Enteignung wäre, die dazu führte, dass wir den vollen Wertersatz ausgleichen müssten. Das würde annährend eine Verdopplung der Kosten bedeuten, die wir jetzt schon durch dieses Gesetz in Kauf nehmen.
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– Ja, wir sind da ziemlich sicher. Wir haben allerdings nicht selber gerechnet, sondern wir haben uns der Expertise des Bundesumweltministeriums bedient.
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– Wir können rechnen, aber die Ausgangslage, lieber Kollege, müssen wir uns schon von den Fachleuten des Ministeriums erläutern lassen können. Auf die Angaben haben wir uns in der Tat verlassen. Ich denke, das ist auch in Ihrem Sinne.
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Oder bezweifeln Sie die Angaben aus Ihrem eigenen Haus? Das kann ich mir jetzt nicht vorstellen.
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– Nein. Okay, haken wir das also ab.
Es bleibt das Problem des Entschädigungsgebots nach dem Bemühen, Reststrommengen zu übertragen, wenn sie dann doch nicht übertragen werden können. Es geht da um die Frage, wie man das ermittelt. In der Tat ist das ein problematischer Aspekt, weil der Ansatz, den das Gesetz wählt, keinen Betrag nennt, sondern ein Verfahren beschreibt. Dieses Verfahren hat ganz klar zur Folge, dass wir erstens unterhalb des realen Wertes bleiben und damit die Möglichkeiten des Urteils ausnutzen und zweitens erst im Jahr 2023 zahlen müssen. Dass das Unternehmen damit nicht zufrieden ist, kann ich verstehen. Aber zunächst einmal ist, wenn wir das heute beschließen, Gesetz Gesetz.
Bei all diesen drei Punkten, die ich eben genannt habe, sind wir in voller Übereinstimmung mit der Auffassung der Bundesregierung, insbesondere mit der Auffassung des Umweltministeriums. Das möchte ich deswegen betonen, weil wir hier in der Sache eben nicht zusammengekommen sind, Frau Scheer.
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– Wer ist „wir“?
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– Na, im Moment spreche ich hier für meine Fraktion, Herr Kollege.
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Und wenn wir das Gesetz beschlossen haben, Herr Kollege Kahrs, dann hat sich das „wir“ erweitert auf die SPD-Fraktion und die CDU/CSU-Fraktion. Das nehme ich jedenfalls an. Also, dann sind wir „wir“. – Okay.
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– Einverstanden. Es ist zwar schon spät, aber das funktioniert noch.
Letzter Punkt. Für den Fall, dass die Bundesrepublik Deutschland in dem Verfahren in Washington zu Leistungen verurteilt wird, sieht das Gesetz vor, dass keine Überkompensation stattfindet, sondern diese Leistung angerechnet wird. Das Thema „Anrechnung von Leistungen“ müssen RWE und Vattenfall klären, und zwar da, wo sie gemeinschaftlicher Eigentümer sind. Sie müssen klären, wie die ideelle Hälfte, die ihnen zusteht, zu verstromen und zu bezahlen ist. Damit das leichter geht und sie darüber nicht ins Streiten kommen, habe ich in der Ausschussberatung ein Verfahren vorgeschlagen. Ich habe darauf hingewiesen, dass das zwischen den Beteiligten geschehen muss, weil wir das nicht gesetzlich regeln können. Das ist Teil der Beschlussempfehlung, auf die man gegebenenfalls zurückgreifen sollte, bevor sich die Beteiligten vor Gericht wiedersehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei meinem Auftritt hier zur ersten Lesung hatte ich dreizehn Minuten und habe Ihnen fünfeinhalb geschenkt. Jetzt schenke ich Ihnen für den Besuch des Sommerfestes der Parlamentarischen Gesellschaft zwei Minuten und eine Sekunde.
Ich danke.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege. Es sind zwar nur eine Minute und 58 Sekunden, aber herzlichen Dank für Ihren Beitrag.
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, nehme ich die Gelegenheit wahr, darauf einzugehen, dass ein Kollege unseres Hauses anlässlich der Rede des Kollegen Dr. Kraft dazwischengerufen hat: Ablesen geht nicht! Ein Meister des Ablesens! – Ich erwähne den Namen des Kollegen Kahrs bewusst nicht. Die Geschäftsordnung geht davon aus, dass man in aller Regel eine freie Rede hält, erlaubt aber auch die Zuhilfenahme von Aufzeichnungen. Inwieweit man Aufzeichnungen benutzt, obliegt immer dem jeweiligen Redner oder der Rednerin, Herr Kollege Kahrs.
Ich erteile als Nächstes der Kollegin Judith Skudelny von der FDP-Fraktion das Wort.
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Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Scheer, inhaltlich geht es heute tatsächlich um den vorzeitigen Kernenergieausstieg. Ausgeglichen werden aber diejenigen Strommengen, die im Vergleich von 2002 ausgehandelt worden sind und durch den vorzeitigen Ausstieg nicht mehr von den einzelnen Konzernen in den zugelassenen Kraftwerken verbraucht werden können.
Im Grunde ist das Gesetz, das dieses Urteil umsetzt, ganz schlau. Es sieht vor, dass zunächst einmal die Reststrommengen innerhalb des Zeitraums des vorzeitigen Ausstiegs genutzt werden sollen und erst danach die Entschädigung, die am Ende aus Steuergeldern erfolgt, gezahlt werden muss. Damit werden die Entschädigungshöhen minimiert.
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Dieses Ziel ist richtig. Das Problem an dem Gesetz ist auch nicht, dass die Intention des Gesetzes falsch ist. Das Problem an dem Gesetz ist, dass die Umsetzung handwerklich nicht gut ist. Ich möchte dazu drei Punkte sagen:
Der erste Punkt betrifft den Adressaten. An wen ist dieses Gesetz gerichtet? Wer ist Anspruchsinhaber? Der Kollege Möring hat im Umweltausschuss eine Protokollerklärung gemacht, die die Interpretation im Streitfall sichern soll. Besser wäre es tatsächlich gewesen, einen Gesetzentwurf zu erarbeiten, der nicht interpretationswürdig, sondern hinreichend klar ist, damit wir wissen, wer der Adressat ist, und damit es eben nicht zu diesem Streitfall kommt.
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Der zweite Punkt ist genauso wichtig. Hier geht es darum: Wie ist die Schnittmenge? Was ist ausreichend in der Vermarktung, um zu einer Entschädigung zu kommen? Welche Maßnahmen müssen die Betreiber ergreifen, damit am Ende entschädigt wird? Dazu wird ebenso wenig gesagt wie zu der Frage: Wie sind eigentlich diese Entschädigungen zu berechnen? Genau das, was im Gesetzentwurf fehlt, ist Einfallstor für neue Streitigkeiten, ist Einfallstor für neue Klagen und bringt nicht das, was wir alle eigentlich wollen, nämlich einen sicheren, soliden und rechtsstreitfreien Ausstiegspfad aus der Kernenergie. Deswegen lehnen wir den Gesetzentwurf ab – nicht weil die Intention falsch ist, sondern weil der Weg, der gewählt worden ist, nicht korrekt ist.
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Wir haben übrigens gehört, man könne eine Einigung finden. Es sollte eine Ermächtigung in den Gesetzentwurf hinein, mit der man eine rechtsverbindliche Vereinbarung mit den Beteiligten hätte treffen können. Diese konnte jedoch in der Kürze der Zeit nicht aufgenommen werden. Das finden wir schade.
Jetzt sage ich in Richtung des Umweltministeriums: Im Dezember 2016 war klar, dass dieser Gesetzentwurf kommen muss. Im Juni 2018 wurde er eingebracht. Das scheint das Umweltministerium genauso überrascht zu haben, wie andere Leute jedes Jahr von Weihnachten überrascht werden. Das heißt, man hätte also solider, besser und inhaltlich kräftiger arbeiten können, wenn man den Gesetzentwurf einfach drei Monate eher eingebracht hätte.
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Das ist ein Versagen eines SPD-geführten Ministeriums. Da müssen Sie sich an die eigene Nase fassen.
Gut gemeint, gut gedacht, schlecht umgesetzt – es tut mir leid, es bleibt bei der Ablehnung.
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Herzlichen Dank, liebe Kollegin Skudelny. – Als Nächstes für die Fraktion Die Linke der Kollege Hubertus Zdebel.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Dass jetzt der Bundestag eine Entschädigung von bis zu 1 Milliarde Euro für RWE und Vattenfall im Atomgesetz regeln muss, ist juristisch Folge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2016; es ist schon angesprochen worden. Die dadurch entstehenden Kosten sind Ergebnis der Politik der Vorvorgängerregierung aus CDU/CSU und FDP,
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die zunächst mit der 11. Atomgesetznovelle die Laufzeitverlängerung für Atommeiler beschloss, um nach dem Super-GAU von Fukushima eine Kehrtwende einzuleiten. Das sollte in dieser ganzen Debatte nie vergessen werden.
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Dabei wurden damals Schadensersatzrisiken bewusst ignoriert – „bewusst ignoriert“ wohlgemerkt –, und es hat einen Untersuchungsausschuss in Hessen gegeben, dessen Arbeit meines Erachtens deutlich macht, wie widersprüchlich und unklar das Ganze damals gelaufen ist.
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Es steht der Verdacht im Raum, dass das bewusst so gesteuert worden ist.
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Die von der Bundesregierung und den Fraktionen von CDU/CSU und SPD vorgelegten Gesetzentwürfe wurden jetzt auf den Weg gebracht, um quasi das Urteil des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen. Mit ihnen wurde aber eine Chance vertan, und sie sind erneut zum Vorteil der Atomkonzerne. Nach langem Hin und Her – das allein ist meines Erachtens schon alarmierend – will die Bundesregierung darauf verzichten, die Atomkonzerne durch Laufzeitverlängerungen zu entschädigen. Das war strittig. Der Wirtschaftsflügel innerhalb der CDU/CSU hat natürlich versucht, das durchzusetzen. Es ist alarmierend, dass so etwas passiert. Im Kern ist das auch Ausdruck einer geänderten Energiepolitik, die Sie eigentlich anstreben.
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Meines Erachtens muss man politisch festhalten: Der Atomkonsens ist bei diesen ganzen Gesprächen von der CDU/CSU infrage gestellt worden. Es ist gut, dass es nicht so weit gekommen ist und eine andere Regelung gefunden wurde, um die Konzerne zu entschädigen.
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Aber einmal mehr fehlt Ihnen bei der Umsetzung der politische Wille, um den Atomausstieg zu beschleunigen, die Atomkonzerne in die Verantwortung zu nehmen und die Kosten für die Allgemeinheit zu senken. Deshalb wird die Fraktion Die Linke den Gesetzentwürfen der Großen Koalition und der sie tragenden Fraktionen nicht zustimmen.
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Zur Verdeutlichung: Die öffentliche Anhörung zu den Gesetzentwürfen hat eindeutig gezeigt, dass die Höhe des von der Bundesregierung vorgesehenen Ausgleichs großzügig zugunsten der Atomkonzerne bemessen ist. Wir Linken fordern deshalb in unserem Entschließungsantrag einen Gemeinwohlabschlag in Höhe von 10 bis 15 Prozent. Das ist auch von den Sachverständigen in der Anhörung als urteilskonform angesehen worden. Das ist also durchaus möglich.
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Die Überkompensation der Atomkonzerne, die die Gesetzentwürfe der Großen Koalition vorsehen, lehnen wir ab.
Ich könnte jetzt sicherlich noch ausführlicher auf einige Aspekte eingehen.
Kommen Sie zum Schluss, bitte.
Meine Redezeit ist zu Ende.
So ist es. Ihre Redezeit ist jetzt zu Ende. Einen Satz bitte noch.
Die Redezeit ist zu Ende. Ein Satz.
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Diese Atomgesetznovelle wird nicht die letzte sein. Wir gehen davon aus, dass wir demnächst auch über die Schließung der Uranfabriken in Gronau und Lingen ernsthaft diskutieren müssen.
Herzlichen Dank.
({1})
Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Als letzte Rednerin hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das schwarz-gelbe Hin und Her von 2010/2011 konfrontiert uns am Ende heute Nacht mit diesem Gesetzentwurf. Ich kann nicht verstehen, wieso Sie von der Koalition ein im Kern so atomausstiegsfreundliches Urteil des Bundesverfassungsgerichts in so einen konzernfreundlichen Gesetzentwurf münden lassen.
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Sie verheddern sich in Ihren Ansprüchen, energiepolitische Ziele nicht zu schleifen und Steuerzahlerinnen und Steuerzahler nicht über Gebühr in Anspruch zu nehmen. Aber Sie erfüllen am Ende keinen dieser Ansprüche.
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Das Bundesverfassungsgericht gibt Ihnen mit: Ein angemessener finanzieller Ausgleich muss nicht dem vollen Wertersatz entsprechen. Was machen Sie in § 7f? Sie entscheiden sich mit dem Kriterium des durchschnittlichen marktüblichen Strompreises im Grundsatz für den vollen Wertausgleich.
Das Bundesverfassungsgericht spricht im Urteil von den gewichtigen Gemeinwohlbelangen des Lebens-, Gesundheits- und Umweltschutzes im Ausstiegskonzept 13. AtG-Novelle. Die meisten Experten bei unserer Anhörung haben daraus gefolgert, dass ein Gemeinwohlabschlag sinnvoll wäre. Sie aber entscheiden sich dagegen. Das ist eine unnötige Belastung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Genauso Brunsbüttel: Ich frage mich immer noch – im Gegensatz zu Karsten Möring –: Was hat Brunsbüttel in diesem Gesetzentwurf zu suchen?
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Und die Experten in der Anhörung, die sich damit befasst haben, haben sich das genauso gefragt. Sie sind offensichtlich der Einzige, der das versteht.
Zum Ausgleich dieser ganzen Geschichte kommt dann die Verpflichtung der Konzerne, sich um eine Übertragung der ausgleichsfähigen Reststrommengen zu bemühen. Das muss der Ausgleichsberechtigte nachweisen. Ansonsten besteht nach dem klaren Wortlaut des Gesetzentwurfs kein Ausgleichsanspruch. Damit wird ein immenser Druck aufgebaut, Strommengen zu übertragen.
Sie behaupten in dem gleichen Gesetzentwurf, am Ziel, die Nutzung der Kernenergie zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu beenden, festzuhalten. Dabei verzichten Sie auf den schnellstmöglichen Atomausstieg, und das noch nicht einmal zugunsten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, sondern zulasten dieser. Denn die Kraftwerke, die die Strommengen aufnehmen können, befinden sich vorrangig im Netzengpassgebiet. In der Folge wird der Windstrom abgeregelt. Sie haben sich leider nicht dazu durchgerungen, die Übertragungen auf die AKWs Brokdorf und Emsland zu untersagen – trotz Bitten aus dem Bundesrat, Ihres schwarzen Ministerpräsidenten in Schleswig-Holstein und dem Bemühen der SPD.
Wenn Sie die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler wirklich nicht über Gebühr belasten wollen, dann führen Sie die Brennelementesteuer verfassungsgemäß wieder ein.
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Damit sorgen Sie für den schnellstmöglichen Atomausstieg, für die Erreichung der energiepolitischen Ziele und für die Schonung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Sie können dem entsprechenden Antrag, den wir Ihnen vorgelegt haben – wir haben auch noch einen anderen Antrag vorgelegt –, heute zustimmen.
Den Gesetzentwurf, der enttäuschend ist und dem Bundesverfassungsgerichtsurteil in keiner Weise gerecht wird, lehnen wir ab.
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Herzlichen Dank. – Mit diesen letzten Worten schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Atomgesetzes. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/3029, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/2508 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/3039 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen sehe ich keine. Das Präsidium ist sich einig, dass gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der anderen Fraktionen dieses Hauses der Antrag abgelehnt ist.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
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Wer enthält sich? – Dann ist dieser Gesetzentwurf in der zweiten Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der anderen Fraktionen des Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? –
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Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf nach übereinstimmender Auffassung des Präsidiums mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen aller anderen Fraktionen des Hauses angenommen.
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Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge:
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/3041.
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– Ich kann das nicht bewerten. – Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Entschließungsantrag gegen die Stimmen der Linken und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen aller anderen Fraktionen des Hauses abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/3042. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann stelle ich fest, dass mit dem gleichen Stimmenverhältnis auch dieser Entschließungsantrag abgelehnt worden ist.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Parallelgesetzentwurf. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/3029, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 19/2631 und 19/2705 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist das einstimmig so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b aufrufe, habe ich noch eine freudige Botschaft: Die Debattenbeiträge zu Tagesordnungspunkt 16 sind zu Protokoll gegeben worden, sodass wir erneut Fahrt in der Debatte aufgenommen haben.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal sprechen wir kurz vor Mitternacht über Digitalisierung. Es ist nicht das erste Mal, dass wir das zu ungewöhnlicher Stunde machen. Man könnte meinen, das wäre ein wichtiges Thema, das die Zukunft bestimmt; aber die Mehrheit dieses Hauses hat den Tagesordnungspunkt zu dieser Uhrzeit aufgesetzt.
Wenn ich die Motivation und den Antrieb der Großen Koalition und auch der Bundesregierung beim Thema Digitalisierung derzeit beobachte, muss ich feststellen: kein Mut, kein Tempo, kein Plan.
Gestern, meine Damen und Herren, hat das Digitalisierungskabinett das erste Mal getagt. Es wurde als eine große Errungenschaft angekündigt. Das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschlands tagte ein Digitalisierungskabinett. Ein riesiger Fortschritt!
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Was ist herausgekommen? Eine Stunde lang haben sich alle Minister an einen Tisch gesetzt und über KI, über Blockchain und über die Zukunft der Arbeit gesprochen. Es waren also alle Buzzwords drin; auch für die SPD war etwas dabei. Was kam am Ende heraus? Man hat sich darauf geeinigt, dass man zum Jahresende ein Programm vorlegen möchte, dass man zum Jahresende festlegen möchte, wie die Digitalisierung angegangen werden soll. Meine Damen und Herren, heute müssten wir die Schritte machen. Wann wollen Sie denn endlich anfangen? Das ist doch kein neues Thema.
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Ich würde Ihnen an dieser Stelle eigentlich gerne sämtliche Punkte nennen, die wir hier vorschlagen würden. Wir haben das in den Antrag hineingeschrieben; Sie können das gerne nachlesen.
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Ich habe aber leider nur vier Minuten Redezeit. Deswegen gebe ich Ihnen sozusagen als Serviceopposition unseren Antrag an die Hand, damit Sie wissen, wie Sie anfangen können. Sie brauchen mehr Mut, mehr Tempo.
Sie haben uns als Antwort auf eine Frage geschrieben, dass 482 Mitarbeiter in 244 Teams und 76 Abteilungen in 14 Bundesministerien mit dem Thema Digitalisierung beschäftigt sind. Das klingt ja erst einmal gut. Man könnte meinen: Sie haben ja Digitalisierung überall hineingemacht. – Das Problem ist: All diese Menschen, all diese Ideen werden nicht koordiniert. Sie werden schlichtweg nicht zusammengefügt. Es gibt keinen Plan, der dahintersteht und mit dem das nach vorne gebracht werden soll.
Wir haben im Kanzleramt jetzt einen Koordinator, der Bundesminister, der heute nicht da ist. Auch die Staatsministerin für Digitalisierung ist nicht da. Das spiegelt einfach wider, wie Sie Digitalisierung angehen, liebe Große Koalition. Sie verschieben es und machen am Ende des Jahres etwas. So kann es nicht weitergehen. Sie müssten – das haben wir an mehreren Stellen vorgeschlagen – endlich einmal alles bündeln und ein Digitalministerium mit der Befugnis, Gesetze zu erlassen, mit der Befugnis, Haushaltsmittel zu verwenden, etablieren, so wie wir das vorgeschlagen haben.
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Stattdessen machen Sie auch hier im Bundestag kontraproduktive Aktionen gegen einen Ausschuss. Wir haben den Ausschuss Digitale Agenda. Der Ausschuss Digitale Agenda bekommt regelmäßig von Ihnen, liebe Große Koalition, keine Federführung für Themen. Wir haben unseren Antrag heute mit dem Antrag eingereicht, ihn federführend an den Digitalausschuss zu überweisen; denn es ist ein Antrag zur digitalen Agenda. Der Ausschuss heißt Ausschuss Digitale Agenda. Ich gehe davon aus: Wenn Sie es ernst meinen damit, dass Sie das für ein Querschnittsthema halten, und deshalb die Koordination im Kanzleramt vornehmen, dann tun Sie das bitte auch hier in diesem Hohen Hause und beauftragen den Ausschuss Digitale Agenda mit diesen Themen, und schieben Sie sie nicht in irgendwelche Fachausschüsse, die nur einen Teil des Ganzen abdecken. Das kann doch nicht wahr sein.
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Sie brauchen aber noch mehr. Bei vielen Themen muss es einfach losgehen. 17 Themen haben wir aufgeschrieben: zum Datenschutz, der zu einem modernen Datenrecht werden muss; zur Verwaltung, die endlich digitalisiert werden muss, nahe am Bürger. Die Bürger fragen sich: Wie lange brauchen sie denn noch, das zu machen? Wir müssen die Wirtschaft wirklich schnell digital fit machen. Wir brauchen digitale Freiheitszonen. Wir brauchen ein Bildungssystem, das dazu führt, dass die Menschen die Digitalisierung auch morgen mitgestalten können. Der Verkehr muss digitalisiert werden. Das macht zwar die Wirtschaft, aber wir müssen den Rahmen setzen. Das Gesundheitssystem könnte vielen Menschen helfen, wenn es digitaler wird. Wir brauchen am Ende ein Leben, das für jeden einfacher und besser wird. Oder wie Sie es sagen würden: Für ein Deutschland, in dem man gut und gerne lebt.
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Können Sie bitte zum Schluss kommen.
Wir brauchen also einen Plan für eine zukünftige digitale Transformation, auch in Politik und in Prozessen. Trauen Sie sich bitte, den Antrag in den Ausschuss Digitale Agenda zu überweisen.
Herr Kollege!
Dann haben wir mehr Mut, mehr Tempo und hoffentlich endlich einen Plan.
Herzlichen Dank.
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Als Nächstes erteile ich das Wort für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Axel Knoerig.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute zwei Anträge zur Digitalisierung. Da haben wir einmal den Antrag der Grünen. Ihn haben wir bereits im Februar dieses Jahres debattiert. Sie stellen bis heute keinen inhaltlichen Bezug zum Koalitionsvertrag her;
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denn Sie fordern eine Digitalisierungsstrategie. Eine solche haben wir aber schon längst entwickelt.
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Jedes einzelne Ministerium arbeitet derzeit daran. Dann wollen wir – darauf haben Sie ja gerade selber hingewiesen, Herr Höferlin – diese ganzen Dinge in einer Digitalstrategie bündeln. Das Ganze wird dann von einem Gremium, dem Digitalkabinett, entsprechend weitergetragen.
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Dieses Kabinett hat auch schon das erste Mal getagt.
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Dort werden alle Digitalthemen mit allen Ressorts unter Einbindung aller Arbeitsebenen zusammengeführt.
Meine Damen und Herren, der zweite Antrag kommt von der FDP und fordert eine Beschleunigung der Digitalisierung.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dem Titel nach hätten Sie Ihre Inhalte schon längst vorher vorlegen können.
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Wir jedenfalls machen Tempo mit der Digitalisierung. Wir haben auch einiges auf den Weg gebracht.
Ich erinnere daran: Wir haben das Kooperationsverbot in der Bildung in der letzten Wahlperiode gelockert. In dieser Wahlperiode ist die Grundgesetzänderung zur Finanzierung vom Kabinett schon beschlossen worden. Deshalb können wir jetzt mit Hochdruck am Digitalpakt weiterarbeiten und insbesondere auch die Länder einbinden. Das ist ganz wichtig; denn auch deren Konzepte müssen hier zum Tragen kommen.
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Zur künstlichen Intelligenz planen wir ein gemeinsames Forschungszentrum mit Frankreich. Chancen und Risiken für Unternehmen sollen da untersucht werden. Ich darf daran erinnern, da das ja schon 30 Jahre zurückliegt: 1988 wurde das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz gegründet, um Grundlagenforschung voranzutreiben.
Stichwort „Mobilfunkausbau und 5G“: Dazu haben wir im Beirat der Bundesnetzagentur einen wegweisenden Beschluss gefasst: Es sollen nicht nur alle Haushalte, sondern auch alle Straßen und Bahnstrecken mit schnellem Internet abgedeckt werden. Meine Damen und Herren, so schaffen wir gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land.
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Was müssen wir noch mehr vorantreiben? Den Breitbandausbau. Inzwischen sind alle Fördermittel fest vereinbart, und die Projekte laufen an. Aber die Ausschreibungen und Abstimmungsprozesse dauern zu lang.
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Das muss man kritisch reflektieren. Das Prozedere muss schlichtweg beschleunigt werden.
Wir stehen an dieser Stelle vor dem Neustart der Förderrichtlinie. Hier soll eine Grenze bei 30 Millionen Euro gezogen werden. Dazu sage ich an das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur gerichtet: Eine Deckelung versperrt den Blick auf das Ganze.
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Und gerade beim Breitbandausbau müssen wir flächendeckend denken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, da müssen wir Parlamentarier uns melden und auch Verbesserungen einfordern.
Das Gleiche gilt für den Gigabit-Investitionsfonds: Wenn hier 12 Milliarden Euro an Fördermittel vorgesehen sind, dann sollten die in Glasfaser investiert werden. Das Umschwenken von Vectoring auf Glasfaser und Gigabit sollten wir belohnen.
Ich sage auch: Haushaltsdisziplin tut gut. Aber wir können zur Finanzierung des Breitbandausbaus nicht auf die Versteigerung der Mobilfunkfrequenzen warten. Wir müssen den Fonds schon jetzt zwischenfinanzieren, damit er ins Rollen kommt und nicht erst im Jahr 2020.
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Entsprechende Signale gibt es auch von der Bundesregierung dazu. Die Vorfinanzierung wünsche ich mir nicht nur; sie wird auch in den nächsten Monaten kommen müssen.
Das Ganze gilt doch auch für die sogenannten grauen Flecken: Das sind Gebiete, die bereits 30 Megabit pro Sekunde erhalten. Sie sind von der Förderung ausgeschlossen. Aber für eine Gigabit-Gesellschaft brauchen wir auch hier höhere Bandbreiten.
Meine Damen und Herren, unser Förderprogramm hat dem Markt neue Impulse gegeben: Die Telekommunikationsunternehmen investieren in die Netze. Allerdings gibt es immer wieder Fälle, dass Netzanbieter ihre Kabel direkt neben die geförderten Netze legen wollen. Diese Doppelverlegung unterläuft die gesamten Fördervoraussetzungen.
Kurze Erklärung: Ich denke, wir sollten hier ganz klar differenzieren. Investitionen in Netze sind immer gut, und der Wettbewerb zwischen den Unternehmen treibt den Ausbau voran. Aber: Geförderte Netze müssen wir stärker schützen. Denn hier werden weiße Flecken in Gegenden erschlossen, wo es bisher gar keinen Wettbewerb gegeben hat. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die Förderprojekte in den Landkreisen weiter rentabel bleiben. Die Bundesnetzagentur, denke ich, ist hier gefordert, als Mediator einzuschreiten und entsprechend zu vermitteln.
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Meine Damen und Herren, abschließend noch einige Worte zum Thema Cybersicherheit. Denn der Erfolg der Digitalisierung wird maßgeblich von unseren Maßnahmen in diesem Bereich abhängen. Eine aktuelle Zahl zur Veranschaulichung: 55 Milliarden Euro an Schäden entstehen jährlich durch Cybercrime. Und dabei sind wir in Deutschland noch nicht einmal voll digitalisiert. Deshalb müssen wir das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, kurz BSI, personell stärken. Ein Vergleich macht das, denke ich, deutlich: Das Eisenbahn-Bundesamt – zuständig für die Sicherheit auf der Schiene – hat 1 200 Mitarbeiter. Das BSI – zuständig für die Sicherheit im Netz – kommt gerade einmal auf 800 Mitarbeiter. Das BSI ist heute schon als Sicherheitsberater für den Mittelstand tätig. Auch hier gilt es: weiter ausbauen und die Zahl der Mitarbeiter erhöhen.
Und wir müssen unsere Wirtschaft mit Digitalstrategien und Netzwerken fit machen. Nur so können wir uns auf dem Weltmarkt gegenüber China und auch den USA behaupten.
Deshalb müssen wir gerade in diesen Fragen die Internationalisierung im Blick behalten. Denn unsere Unternehmen brauchen globale Märkte. Meine Damen und Herren, beim Thema Digitalisierung kommt es auf Geschwindigkeit an: Wir machen weiter Tempo bei Breitband, künstlicher Intelligenz und Cybersicherheit. So machen wir unsere Wirtschaft fit für die Herausforderungen von morgen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Als Nächstes für die AfD-Fraktion der Kollege Uwe Schulz.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der gestern Nachmittag hereingekommene Antrag der FDP fordert ein Programm zur Beschleunigung der Digitalisierung. Offenbar überstürzen sich da gerade die Ereignisse. Herr Höferlin sagte schon etwas dazu. Auch das neue Digitalkabinett beschäftigt sich damit.
Es wäre nun der zweite Versuch für eine Art Masterplan. Denn bereits in der 18. Legislaturperiode wurde öffentlichkeitswirksam eine Digitale Agenda verabschiedet. Dr. Helge Braun – der nicht hier ist –, der nebenbei auch zum Flüchtlingskrisenterminator erwuchs,
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sollte das Digitalgeschäft stemmen. Und in den Sand gesetzt hat er das.
Aber Marketing, meine Damen und Herren, kann der Herr Dr. Braun. Die Überschrift der Digitalen Agenda lautete griffig „Deutschland kann das“. Da denkt man doch spontan an den anderen Spruch, an „Wir schaffen das“. Und wenn man sieht, wo wir heute stehen, meine Damen und Herren, kann ich nur sagen: So sieht Politsatire aus dem Phrasenkoffer aus.
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Aber grundsätzlich „kann“ Deutschland natürlich Veränderung. Es ist vor allem unser deutscher Mittelstand, der das kann und der unser Land am Atmen hält.
Was hingegen die Bundesregierung kann, hat sie beim Thema „digitale Verwaltung“ bewiesen: Das bereits 2013 beschlossene E‑Government-Gesetz schwebt bis heute bedeutungslos im digitalen Raum. Das gestand Frau Bär vor wenigen Wochen im Ausschuss Digitale Agenda auch ein. Ihr Satz „Ja, wir fangen jetzt einfach mal an …“ ist mir besonders im Gedächtnis geblieben.
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Der vorliegende FDP-Antrag enthält vieles, was auch die AfD fordert. Dazu gehört auch die Schaffung eines Digitalministeriums, schon deshalb, damit wenigstens ein Minister aussagefähig ist im Thema.
Denn Lösungen für fundamentale Fragen ist die Bundesregierung bis heute schuldig geblieben:
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In der Bildung wird das Pferd von hinten aufgezäumt. Man denkt an Tablets in den Schulen, ohne überhaupt digitale Lernkonzepte zu haben. Bildung fängt aber im Kopf an und nicht auf einer Tastatur, wie meine Kollegin Nicole Höchst heute Nachmittag so schön sagte.
In Deutschland werden mehr Sozialpädagogen ausgebildet als Ingenieure. Da verwundert es nicht, dass digitale Basisinnovation kaum stattfindet.
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Rund um den Globus gibt es digitale Wertschöpfung nur dort, wo sich hochspezialisierte Unis und Forschungseinrichtungen ansiedeln. In Deutschland wirft man aber lieber Geld für Genderlehrstühle aus dem Fenster: Geld, das für Digitalprofessuren benötigt wird, aber besetzt mit echten Wissenschaftlern.
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Merken Sie sich: Mit ideologisch gefärbter Bildungspolitik, meine Damen und Herren, wird man kein Weltmarktführer für Zukunftstechnologien.
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Auch wenn es die Bundesregierung ignoriert: Digitalisierung gibt es nur mit verlässlicher Energieversorgung. Server, Speicher, Displays, Datentransport fressen Strom – Strom, der bezahlbar sein muss. Die energiepolitische Dunkelflaute à la Angela Merkel ist der natürliche Feind der Digitalisierung, meine Damen und Herren.
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Und es geht weiter: Es stehen Millionen von Jobs auf dem digitalen Prüfstand. Die Lebensmodelle ganzer Generationen sind dadurch akut bedroht. Das Sozialsystem ist in höchster Gefahr. Entweder weiß die Bundesregierung das nicht, oder sie verschweigt es. Ihr Nichthandeln ist auf jeden Fall sträflich.
Insgesamt ist festzustellen: Die Digitalisierungspolitik der Merkel-Regierung ist ein Sammelsurium an Unvermögen. Die Liste der Versäumnisse ist lang.
Zudem glauben viele Menschen – und Politiker insbesondere –, dass Digitalisierung bedeutet, Leitungen zu verbuddeln und Sendemasten aufzustellen. Und selbst das hat Frau Merkel mit ihrer „Mannschaft“ noch nicht hinbekommen.
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Meine Damen und Herren, auf dem digitalen Ozean, wo andere Länder mit Schnellbooten Wettrennen fahren, droht dem Industriedampfer Deutschland der Diesel auszugehen.
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Ich komme zum Schluss.
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Deutschland kann die unabwendbaren Veränderungen meistern. Die AfD glaubt daran. Daher unterstützen wir alle sinnhaften Initiativen wie auch den FDP-Antrag dazu und auch die Überweisung an den Ausschuss Digitale Agenda.
Wir halten aber nichts von noch mehr Aufsichtsgremien und schon gar nichts von NGOs, die in diese Rolle schlüpfen. Daher lehnen wir den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ab.
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Was wir brauchen, ist ein Diskurs für die digitale Zukunft, ein Diskurs, wie wir ihn als AfD bereits mehrfach angestoßen haben, zum Beispiel in der verfehlten Migrationspolitik.
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Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Als Nächstes erteile ich das Wort für die SPD-Fraktion der Kollegin Elvan Korkmaz.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind uns einig: Digitalisierung ist eines der zentralen Themen unserer Zeit. Vielleicht sind wir uns auch einig, dass so viel in Floskeln und mit schönklingenden Forderungen über die Digitalisierung geredet wird wie über kein anderes Thema. Aber das bietet sich auch an, oder? Wir verstehen es selbst nicht richtig, benutzen wichtig klingende Begriffe und lassen damit vermuten, dass wir ganz viel Ahnung haben. Der vermeintlich „dumme“ Bürger wird es schon nicht merken, wenn wir ihm – wie in Ihrem Antrag – die Notwendigkeit von „kryptographischen Validierungen“ oder „Open-Government-Strategien“ einreden. Aber Buzzwords lösen unsere Digitalisierungsherausforderungen nicht,
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sondern ziehen das wichtige Thema nur noch weiter in eine unverständliche Wolke. Aber das passt ja wahrscheinlich auch; denn die Cloud löst ja bekanntlich eh viele unserer Probleme.
Wir müssen Digitalisierung an zentralen Punkten ganz konkret voranbringen und dürfen keine globalgalaktischen Wunschvorstellungen formulieren. Google und Apple werden nicht nach Deutschland kommen, wenn wir ein Digitalministerium bauen oder tolle und teure Kommissionen einrichten. Wir müssen – und das fängt bei unseren Kindern an – Digitalisierung lernen und dürfen nicht digital lernen. Sinnlos Tablets an Grundschulen zu verteilen und sich zu freuen, dass die Kinder diese bedienen können, aber die dahinterliegende Programmierung und Funktionsweise nicht zu lehren, ist genauso unklug, wie zu denken, dass Digitalisierung lediglich unsere Produkte verändert. Digitalisierung krempelt unsere gesamten Lebens- und Geschäftsmodelle um. Digitalisierung heißt nicht, dass wir statt CDs Musik nun über das Internet streamen. Nein, Digitalisierung heißt, dass für Künstler Erlöse aus ihrem wichtigsten Produkt, nämlich dem Musikhören – egal ob digital oder analog –, weggebrochen sind und sie sich auf einmal komplett neu über Merchandising und Liveauftritte finanzieren müssen.
Um solchen tiefgreifenden Veränderungen in der Wertschöpfung gewachsen zu sein, muss Digitalisierung ein gut organisiertes Querschnittsthema werden. Was hieße es, ein Digitalministerium zu haben, das neben den Fachministerien eingerichtet wird? Das Verkehrsministerium macht undigitalen Verkehr und, ja, das Digitalministerium digitalen Verkehr? Wohin so etwas führt, wissen wir. Dazu müssen wir nur 20 Jahre zurückgucken, und zwar zu Unternehmen wie beispielsweise Bertelsmann in meinem Heimatwahlkreis. Bertelsmann hat neben seine Sparten Buch, Musik, Magazine eine Einheit Multimedia gestellt. Dort waren gute Ideen, von den kleinen Amazons namens BOL bis hin zu kleinen Googles namens Lycos. Aber wer hat das Spiel schlussendlich gewonnen? Das wissen wir: die Unternehmen, die damals Internet und Multimedia zum zentralen Kernthema in jeder Geschäftseinheit gemacht haben. Daher müssen wir – in diesem Punkt stimme ich dem Antrag zu – den Ausschuss Digitale Agenda stärken. Er darf aber nicht neben den Fachbereichen arbeiten, sondern muss in diese hineinarbeiten.
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Sind wir einmal ehrlich: Das beste Kompliment an diesen Ausschuss wäre, wenn er in ein paar Jahren aufgelöst würde, weil jeder Ausschuss, jeder Abgeordnete und jedes Ministerium so viel Digitalisierungswissen inhaliert haben, dass es keinerlei Koordination mehr bedarf.
Liebe FDP, es wundert mich schon, dass Sie im letzten Jahrhundert keinen Antrag auf Einrichtung eines Schreibmaschinenministeriums gestellt haben, damit Briefe in den anderen Ministerien nicht mehr mit der Feder geschrieben werden.
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Sie, Kollegen von den Freidemokraten, machen es sich da zu einfach. Ein eigenes Digitalministerium klingt genauso gut wie die Überschriften in Ihren Anträgen. Sie helfen uns aber nicht weiter, um Digital-DNA in alle Bereiche unseres Lebens zu bringen.
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Auch wenn der Kollege Lindner heute nicht da ist – vielleicht ist er schon im Feierabend –: So langsam versteht auch der Letzte, warum Sie die Regierungs- und Gestaltungsmöglichkeiten in Ihrer Partei in NRW zurückgelassen haben. Es ist doch viel komfortabler, hier erst einmal Jamaika scheitern zu lassen und jetzt wohlklingende Anträge zu formulieren, die man eh nicht umsetzen muss.
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Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.
Ihre Kollegen in Düsseldorf haben jetzt den undankbaren Job von Ihnen geerbt, Ihre Wahlversprechen Stück für Stück zu begraben.
Frau Kollegin, bitte!
Die SPD und ich wollen nicht gut klingen. Wir wollen gute Politik machen, sodass Digitalisierung das Leben der Bürgerinnen und Bürger verbessert, im Alltag, bei der Arbeit, in den Schulen und ganz konkret.
Vielen Dank.
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Frau Kollegin, herzlichen Dank. Aber das Schöne an der digitalen Uhr, die Sie vor sich haben, ist: Sie zeigt auch das Ende der Redezeit an.
Vielen Dank, Herr Präsident, für diesen Hinweis.
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Ja, aber auch für sie gilt die Geschäftsordnung. Ich kann es leider nicht ändern.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Anke Domscheit-Berg für Die Linke das Wort.
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Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beide uns vorliegenden Anträge zur Digitalisierung betreffen viele verschiedene Fachbereiche: Bildung, digitale Monopole, künstliche Intelligenz, elektronische Verwaltung, IT-Sicherheit, Gesundheit, Breitband, Verkehr und noch so einiges mehr. Viele Ausschüsse im Bundestag haben mit einem Teil davon zu tun. Es gibt jedoch einen Ausschuss, der sich allen diesen Inhalten widmet, weil er, der Ausschuss Digitale Agenda, per Definition die notwendige Querschnittskompetenz hat. Er hat aber absurderweise keine Federführung für den Antrag der Grünen und war überhaupt noch nie in dieser Legislatur federführend. Selbst bei Querschnittsanträgen wie dem vorliegenden erhielt ein Ausschuss die Federführung, der nur in einem Teilbereich fachkompetent ist und trotzdem die Beschlussempfehlung für den Bundestag verfassen darf. Das ist ein fatales Signal nach innen und nach außen.
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Der Digitalausschuss muss endlich angemessen Verantwortung übernehmen dürfen.
Frau Kollegin, erlauben Sie mir eine kurze Unterbrechung, ohne dass es auf Ihre Redezeit angerechnet wird? – Ich bitte die Mitglieder der Bundesregierung auf der Regierungsbank darum, die geschwätzige Geschäftigkeit einzustellen und der Rednerin zu lauschen.
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Ich danke dafür sehr herzlich, auch wenn es mich persönlich nicht gestört hat. Ich bin auf dem rechten Ohr taub.
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Frau Kollegin, das Präsidium kann auf beiden Ohren hören.
Das stimmt allerdings tatsächlich.
Nun zum Antrag der FDP – die Zeit läuft wieder –, der vieles enthält, was auch die Linksfraktion befürwortet. Wir wollen schon sehr lange ein Verbot von Hintertüren für Geheimdienste, eine bessere Bildung, und zwar bitte schön lebenslang. Wir würden einen entbürokratisierten, beschleunigten Breitbandausbau, Netzneutralität und ein Recht auf Verschlüsselung sehr begrüßen. Eine Reform des Wettbewerbsrechts zur Kontrolle digitaler Monopole ist sogar eher mehr links als FDP, und Digitalisierung im Gesundheitswesen, die dem Menschen dient, zum Beispiel, weil mit künstlicher Intelligenz Krebserkrankungen schneller diagnostiziert werden können, ist eine feine Sache. Für innovative Mobilitätslösungen für den ländlichen Raum sind wir total; denn ein Rufbus dreimal am Tag, wie ich das aus Brandenburg kenne, reicht nicht. Für Open Data kämpfe ich als Netzaktivistin seit über zehn Jahren, damit alle mit Steuergeldern gesammelten Daten frei genutzt werden können. Auch für meine Fraktion, Die Linke, gilt seit eh und je der Grundsatz „Öffentliches Geld gleich öffentliches Gut“.
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Aber die FDP wäre nicht die FDP, wenn es nicht auch Unterschiede zu unseren Vorstellungen gäbe. Kein einziges Mal werden Gemeinwohlorientierung oder soziale Innovationen erwähnt! Dafür ist von einem neuen Datenrecht die Rede, das sehr nach Dateneigentum klingt und damit nach Kommerzialisierung hoch drei, bei der wieder einmal große Unternehmen gewinnen und kleinere Unternehmen sowie nichtkommerzielle Nutzerinnen und Nutzer die damit verbundenen komplexen Lizenzierungsmodelle entweder nicht verstehen
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oder sie sich nicht leisten können. Davon einmal abgesehen, ist Eigentum zum Beispiel an den Temperaturdaten einer Stadt ja wohl ein absurder Gedanke.
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Aber auch die FDP will Start-ups fördern. Nur will sie das durch eine Art rechtsfreie Räume, die im Antrag „digitale Freiheitszonen“ heißen. Das erinnert mich fatal an eine Rede von Christian Lindner im letzten Bundestagswahlkampf – ich war selbst dabei –, in der er forderte, für Start-ups jede Regulierung für zwei Jahre auszusetzen; das habe ich mit meinen eigenen Ohren gehört.
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Auch Die Linke ist sehr für Entbürokratisierung, gerade für Start-ups. Aber zu rechtsfreien Räumen sagen wir: Nein, danke.
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Wir lehnen daher den Antrag der FDP ab. Aber ich wünsche mir, dass die darin enthaltenen guten Elemente von der Bundesregierung aufgegriffen werden; denn unbestritten braucht es eine Digitalisierungsstrategie, und ihre Umsetzung braucht endlich mehr Dynamik.
Im Übrigen bin ich der Überzeugung, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht in das Strafgesetzbuch gehören. § 219a, das Informationsverbot für Schwangerschaftsabbrüche, gehört endlich abgeschafft.
Vielen Dank.
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Frau Kollegin, herzlichen Dank. – Ich erspare mir jede Bemerkung zu Ihren letzten Sätzen.
Als Nächstes hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Dieter Janecek das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe FDP, na ja, so richtig beschleunigt ist Ihr Antrag zur Beschleunigung der Digitalisierung nicht eingereicht worden. Wir haben ja jetzt schon neun Monate Legislatur hinter uns; deswegen haben wir – zur Erinnerung – unseren eigenen Antrag zu einer kohärenten Gesamtstrategie vom Januar dieses Jahres auch in der zweiten Plenarberatung hier vorgestellt. Daher können wir das vielleicht heute gemeinsam diskutieren.
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Der Unterschied kommt gleich am Anfang raus – wir finden einiges gut, was ihr da aufgeschrieben habt, lieber Manuel Höferlin –: Wir teilen die Aussage von Christian Lindner nicht – er hat sie selber schon zurückgenommen –, nämlich: „Digital first. Bedenken second.“ Man braucht eine wertegebundene Gesamtstrategie für die Digitalisierung, und Beschleunigung alleine ist nicht alles.
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Wir haben heute schon die Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“ eingesetzt. Mittlerweile haben wir auch die Enquete-Kommission „Berufliche Bildung“ eingesetzt. Man könnte also meinen, unser Ausschuss – Ausschuss Digitale Agenda – verdient langsam seinen Namen. Aber ich selber muss ehrlich sagen: Ich verwende diesen Namen seit einigen Monaten nicht mehr, weil ich bis heute nicht weiß, was die Digitale Agenda der Bundesregierung ist.
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Deswegen sage ich immer „Digitalausschuss“. Das ist dann deskriptiv. Das andere ist ja sozusagen nach vorne weisend. Da bin ich doch mit der FDP sehr einer Meinung: Wir bräuchten mal endlich eine Priorisierung der Digitalpolitik in Deutschland. Da hat die FDP einige Maßnahmen aufgeschrieben.
Man konnte sich übrigens letzte Woche in Skandinavien anschauen, wie es sich entwickelt, wenn man es so macht mit der Digitalisierung.
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Wir waren mit dem Digitalausschuss beispielsweise in Dänemark. Dänemark ist das Land Nummer eins in Europa bei der digitalen Verwaltung. Dort sind alle wesentlichen Verwaltungsleistungen digital erhältlich. Ein bisschen krasser ist es vielleicht nur noch in Estland. Das Einzige, was man da nicht digital machen kann, ist, sich scheiden zu lassen, und das ist vielleicht auch ganz sinnvoll so.
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Ein weiterer Punkt ist natürlich der Breitbandausbau. Da stimmen wir auch im Hinblick auf das Ziel überein: Das geht viel zu langsam. – Tabea Rößner und viele andere haben jahrelang dafür gekämpft, dass wir hier endlich zu einem anderen Wettbewerbsmodell kommen.
Das Problem ist aber: Wir dürfen da nicht einfach nur die Förderprogramme umschreiben, sondern wir müssen dafür sorgen, dass beispielsweise die Kommunen die Oberhand über den Ausbau haben, wie das in Schweden der Fall ist, wo wir letzte Woche ebenfalls waren. Dann geht das voran – kostengünstig, effizient –, und es wird gemacht. Insofern braucht es eine ganzheitliche Strategie. Beschleunigung allein bringt es nicht. Da muss man auch einen Ansatz haben, der die Bürger mitnimmt.
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Jetzt noch ein Punkt – da unterscheiden wir uns wesentlich; das ist ein Punkt der fehlt, auch insgesamt; wir sind ganz froh, dass wir ihn in der Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“ verankern konnten –: Es ist die Frage: Wie können wir eigentlich digitale Technologien nutzen, um ökologisch zu wirtschaften? Irgendwie wäre es ja ganz sinnvoll, dass wir den Klimaschutz mit der Digitalisierung zusammenbringen und die Potenziale der Digitalisierung nutzen. Da fehlt Wesentliches bei der FDP; denn es bringt uns nichts, wenn alle Fahrzeuge, die heute im Verkehr sind, autonom durch die Gegend fahren. Das ist kein ökologischer Ansatz, sondern das ist der Rebound: Dann haben wir nur noch mehr Verbräuche, nur noch mehr Verkehr, und wir haben keine bessere Regelung für die Menschen in den Städten.
Also müssen wir bei der Digitalisierung auch über einen ökologischen Rahmen nachdenken, und das heißt auch, darüber nachzudenken: Wie können wir Green IT machen? Wie können wir mit Digitaltechnologie den CO 2 -Ausstoß reduzieren? Wie können wir das Ressourceneinsparpotenzial in der Industrie realisieren? Dafür brauchen wir einen Ansatz. Dieser Ansatz fehlt momentan ganz und gar. Ich glaube, dass wir ein Potenzial sehen, diesen Ansatz vielleicht in den nächsten Wochen und Monaten gemeinsam zu entwickeln.
Was ich auch noch sagen will: Das Thema der Monopole habt ihr richtig gesetzt; denn natürlich ist die Digitalisierung Kapitalismus in Reinstform, wenn man nicht im Sinne des fairen Marktes reguliert. Das heißt, die Frage, wie wir mit großen Internetkonzernen umgehen, wird eine Frage sein, die wir auch im Wettbewerbsrecht in den kommenden Monaten und Jahren zu regeln haben. Die nächste Novelle zum GWB steht an. Katharina Dröge vertritt hier unsere Position im Parlament. Auch da werden wir darauf schauen, dass es vorangeht.
Letzter Gedanke. Ganz wichtig: Die Akteure der Digitalisierung sind nicht nur die Großen, das sind vor allem die Kleinen. Das sind übrigens auch die Social Entrepreneurs. Das sind die vielen Start-ups. Aber es sind auch diejenigen, die wirklich was zum Guten verändern wollen. Deswegen sind wir für einen ganzheitlichen Ansatz. Ansonsten freuen wir uns über die weitere Diskussion.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Vielleicht darf ich darauf hinweisen, wie schnell wir sind: Seit Januar dieses Jahres haben wir WLAN in diesem Haus. Das ist ja auch schon ein Fortschritt.
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– Jedenfalls da, wo ich bin, ist WLAN.
Als nächster Redner hat für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Hansjörg Durz das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Den Antrag der Grünen haben wir bereits im Februar dieses Jahres diskutiert – noch vor Abschluss der Koalitionsverhandlungen. Der Antrag der FDP ist neu. Die FDP hätte also den Koalitionsvertrag kennen müssen. Vielleicht hat die FDP so manchen Punkt auch dort entdeckt, den sie in ihrem Antrag aufgenommen hat. Jedenfalls ist der Koalitionsvertrag unser Programm für die Digitalisierung und für die Beschleunigung der Digitalisierung. Es ist ein richtig gutes Programm und ein sehr umfassendes Programm.
Ich möchte aber jetzt auf einen Aspekt eingehen, den manche Fraktionen und auch die FDP in ihrem Antrag wie ein Mantra vor sich hertragen: Man bräuchte zur Bündelung der Kompetenz ein Digitalministerium. In der letzten Legislaturperiode war die Koordination mit Sicherheit nicht optimal geregelt. Aber was ist mittlerweile passiert? Wir haben mittlerweile eine Staatsministerin für Digitalisierung. Dadurch haben wir nicht nur ein Signal gesetzt, sondern auch die Aufgabe in ihre Hand gelegt, diese Koordinierung umzusetzen.
Gestern hat erstmals das Digitalkabinett getagt. Dabei saßen alle Bundesminister mit am Tisch, weil jedes Ministerium ein Digitalministerium ist und jedes Ministerium in seinem Ressort Digitalpolitik umsetzen muss und umsetzt. Im Digitalkabinett wurden gestern Themen wie „künstliche Intelligenz“, „Blockchain“ oder „sich wandelnde Arbeitswelt“, aber eben auch eine Umsetzungsstrategie diskutiert, weil es in der Tat richtig ist, dass wir viel mehr Tempo bei der Digitalisierung aufnehmen müssen. Das muss aber jedes Ministerium tun, und deswegen wird im Herbst jedes Ministerium seine Strategie der Digitalisierung für das betreffende Haus vorlegen.
Dass jedes einzelne Ministerium ein Digitalministerium ist, erkennen Sie beispielsweise, wenn Sie sich die aktuellen Aktivitäten in den einzelnen Häusern ansehen. Ich möchte nur einige wenige Beispiele herausgreifen.
Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur. Zweifellos müssen wir beim Infrastrukturausbau auf die Tube drücken. Ganz aktuell: Der Zeitplan für die Versteigerung der 5G-Mobilfunklizenzen steht. Diesen Montag hat der Beirat der Bundesnetzagentur die Beschlussvorlage zum 5G-Ausbau ohne Gegenstimme verabschiedet. Im November sollen die finalisierten Entscheidungsentwürfe vorgelegt werden. Anschließend erfolgen die Zulassung und Durchführung der Auktionen, sodass wir im Zeitplan schnellstmöglich vorankommen, aber auch möglichst viele Menschen versorgen werden.
Bundesministerium für Bildung und Forschung. Mit dem mit 5 Milliarden Euro dotierten Digitalen Bildungspakt werden wir im Bereich der Bildung in den kommenden Jahren sichtbare und spürbare Fortschritte erreichen, nicht nur bei der Infrastruktur, sondern vor allem auch bei den Lehr- und Lerninhalten. Jetzt müssen die notwendigen Grundgesetzänderungen und die Verwaltungsvereinbarungen zwischen Bund und Ländern kommen. Der Bundesfinanzminister hat die Vorfinanzierung des Fonds zugesichert.
Im Mai hat das Kabinett die Eckpunkte für eine solche Vereinbarung verabschiedet. Bei der Kultusministerkonferenz in Erfurt in der vorvergangenen Woche wurde diese angenommen. Bis Ende September wird der Textentwurf für die Bund-Länder-Vereinbarung stehen. Bis Ende des Jahres soll von Bundestag und Bundesrat die Grundgesetzänderung verabschiedet werden. Das ist ein ganz konkreter Zeitplan. Da ist übrigens auch die Mithilfe des Bundesrates – alle Kolleginnen und Kollegen sind dort gefordert – notwendig. Wir arbeiten also mit Hochdruck daran, dass Anfang 2019 Anträge auf Finanzhilfen gestellt werden können.
Bundesministerium der Finanzen. Jedes einzelne Ministerium hat in seinem Etat einen Bereich Digitalisierung. Ein konkretes Beispiel: Das Ziel, 3,5 Prozent des BIP für Forschung und Entwicklung auszugeben, ist ambitioniert; aber es ist bereits bei den prioritären Maßnahmen im Haushalt etatisiert – ein ganz konkreter wichtiger Schritt. Der Bund wird 2018 2 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung beisteuern. 2019 bis 2022 werden es 2,81 Milliarden Euro sein.
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Beispiel Energiewirtschaft: Das Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende haben wir 2017 verabschiedet. Wir befinden uns mitten in der Umsetzung. Der Rollout von Smart Metern läuft auf Hochtouren. Die ersten Smart-Meter-Gateways sind bei der Industrie verfügbar. Die Energiebranche wird die erste voll digitalisierte Branche unserer Wirtschaft sein.
Bundesministerium für Gesundheit. Gesundheitsminister Jens Spahn hat unmittelbar nach Amtsantritt angekündigt, dass er Digitalisierung zu seinem Schwerpunktthema machen wird. Seine Initiative zur Digitalisierung des Gesundheitswesens wird er nach der parlamentarischen Sommerpause veröffentlichen.
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An diesen nur wenigen Beispielen sehen Sie: Jedes Haus geht die Themen an. Die Ministerien haben Tempo in der Digitalisierung aufgenommen und beschleunigen. Jedes Ministerium ist ein Digitalministerium. Die Strukturen mit der Staatsministerin im Bundeskanzleramt, mit dem Digitalkabinett bzw. dem Staatssekretärsausschuss, der koordiniert, halten wir für den absolut richtigen Weg, und deswegen werden wir Ihren Antrag heute auch ablehnen.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Wir lauschen nun den Worten des letzten Redners, des Kollegen Falko Mohrs von der SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Höferlin, ich muss sagen: Eigentlich nix mit Serviceopposition, nix mit neuen Inhalten in diesem Antrag! Wenn ich was von Service entdecken konnte, dann das, dass ich kurz überlegt habe, ob ich einfach meine Rede vom Februar zu dem Antrag der Grünen noch mal halte; denn irgendwie haben Sie wenig neue Punkte in Ihrem Antrag aufzeigen können.
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Was mich beim Lesen ehrlicherweise sehr geärgert hat: Ihr Kollege, Herr Lindner, twittert irgendwas von „#GermanMut zum groß denken“, und dann legen Sie hier einen Antrag vor, in dem Sie eigentlich nichts machen – außer Deutschland schlechtzureden.
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Von vorn bis hinten reden Sie dieses Land schlecht.
Bei allen Defiziten, die es vielleicht noch gibt, muss man schon sagen: Es gibt aber gerade im Digitalbereich auch viel Positives.
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– Warten Sie ganz kurz ab, Frau Kollegin! – Deutschland steht nämlich nicht nur in der Industrie gut da; Deutschland steht auch mit einigen guten Beispielen im Bereich der Start-up-Szene sehr gut da.
Das Münchner Datenanalyseteam von Celonis hat übrigens letzte Woche erst etwas geschafft, was europäischen Unternehmen in diesem Bereich im Moment sehr selten gelingt: Es hat nämlich die 1-Milliarde-Dollar-Grenze beim Firmenwert geknackt. Celonis nennt seine Technologie „Process Mining“. Indem es Daten von Unternehmen durchleuchtet, spürt es Schwächen und Ineffizienzen auf. Ich schenke mir an dieser Stelle jeglichen Vergleich zu dem heute vorliegenden Antrag.
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Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Höferlin?
Ich glaube, in Anbetracht der Zeit schenken wir uns das für den Moment. Wir diskutieren das Ganze ja noch im Ausschuss, und dann schauen wir weiter.
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– Das ist nicht schwach, das ist zeiteffizient. Wir diskutieren das mit Sicherheit im Ausschuss. Deshalb können wir heute beschleunigt weitermachen.
Das heißt, Deutschlands Zukunft – deswegen ist dieser Vergleich hier auch sehr richtig – liegt darin, dass wir die Stärke unserer Industrie mit unserer Stärke zur Innovation bei Daten zusammenbringen. Wir konnten sowohl auf der CeBIT wie auch auf der Hannover Messe sehen, dass wir an der Stelle gut dastehen. Also hören Sie bitte auf, uns schlechtzureden!
Helfen können Sie uns gern dabei, Dinge dort zu beschleunigen, wo wir beschleunigen müssen! Wir müssen mit Sicherheit auch mit dem Verkehrsministerium schnellstmöglich dazu kommen, dass wir die Förderkulisse für den Glasfaserausbau hinbekommen. Da können Sie uns gern helfen, dass wir das entsprechend schnell umsetzen.
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Wir sind dabei, wenn es darum geht, den Ausschuss Digitale Agenda zu stärken. Deswegen haben wir als SPD übrigens in dieser Woche ein Eckpunktepapier dazu vorgelegt, wie wir in der aktuellen Wahlperiode die Digitale Agenda fortschreiben wollen, wo wir als SPD die Prioritäten setzen, wie wir strategisch vorgehen wollen. Das ist für uns übrigens eine planvolle Stärkung des Ausschusses Digitale Agenda.
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Eine Sache – das muss hier noch mal deutlich erwähnt werden – hat mich beim Lesen Ihres Antrags sehr irritiert. Ausgerechnet Sie loben hier quasi China zum Thema „Best Practice“, wenn es um den Bereich „künstliche Intelligenz“ geht,
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China, das im Bereich „künstliche Intelligenz“ gerade ein Social Credit System einführt, wo Bürger gelistet werden, bewertet werden, die ihre Rechnung nicht bezahlen, die bei Rot über die Ampel gehen, und dann quasi zu Bürgern zweiter Klasse degradiert werden.
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Ein Vertreter der Kommunistischen Partei schlussfolgert, dass diesen diskreditierten Menschen am Ende jeder Schritt schwergemacht werden muss. Es geht also offensichtlich in dem Fall darum, dass China den kommunistischen Musterbürger erschaffen möchte.
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Dass ausgerechnet Sie als FDP das als Beispiel hier loben, das ist an Realsatire nicht zu überbieten.
Unterm Strich: nett gemeint, netter Versuch. Das Gegenteil von gut ist nicht böse, sondern gut gemeint. Denken Sie darüber beim nächsten Mal nach, wenn Sie einen Antrag formulieren!
Danke sehr.
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Nach diesen Worten schließe ich die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 15 a. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/2991 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie; die Fraktion der FDP wünscht Federführung beim Ausschuss Digitale Agenda.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der FDP, Federführung beim Ausschuss Digitale Agenda. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Überweisungsvorschlag gegen die Stimmen von Freien Demokraten, AfD, Bündnis 90/Die Grünen und Linken und einer Stimme aus der Fraktion der SPD – ich habe das gesehen, Herr Kollege –
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mit den Stimmen der übrigen Mitglieder der SPD und den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Überweisungsvorschlag gegen die Stimmen von AfD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Linken mit den Stimmen der SPD- und der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 15 b. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Innovationen als Teil einer kohärenten Digitalisierungsstrategie fördern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/1072, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/588 abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – „Wie hat die FDP-Fraktion gestimmt?“, wenn ich das mal fragen darf.
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– Es war nicht sichtbar. Das höre ich jetzt.
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Ich wiederhole: Wer ist für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und Freien Demokraten gegen die Stimmen von AfD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor kurzem konnte man bei „Stern TV“ eine Frau sehen, die von ihrem neugeborenen Kind getrennt worden war, weil sie ins Gefängnis musste, um ihre Ersatzfreiheitsstrafe abzusitzen.
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Eine Ersatzfreiheitsstrafe muss man verbüßen, wenn man eine Geldstrafe nicht bezahlt. Ein Tagessatz Geldstrafe entspricht dabei einem Tag im Knast. Bei der Frau war es so: Weil sie kein Geld hatte, war sie schwarzgefahren. Die Geldstrafe, die man ihr vor Gericht aufbrummte, konnte sie von ihrem mageren Hartz‑IV-Satz nicht bezahlen. Deshalb musste sie ins Gefängnis.
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Das Beispiel zeigt nicht nur, wie unverhältnismäßig die Ersatzfreiheitsstrafe sein kann – wegen eines nicht gekauften Bustickets mehrere Wochen vom neugeborenen Kind getrennt zu werden. Das Beispiel zeigt auch: Die Ersatzfreiheitsstrafe trifft vor allem Menschen, die arm, mittellos, erwerbslos oder obdachlos sind. Es darf nicht sein, dass man, weil man arm ist, ins Gefängnis muss. Mit Gerechtigkeit hat das nichts zu tun.
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Ich will Ihnen drei weitere Gründe nennen, warum die Ersatzfreiheitsstrafe abgeschafft gehört:
Erstens. Sie ist aus kriminalpolitischer Sicht hochproblematisch. Bei der Ersatzfreiheitsstrafe geht es fast immer um eine kurze Freiheitsstrafe. In § 47 Strafgesetzbuch ist festgehalten, dass die „kurze Freiheitsstrafe nur in Ausnahmefällen“ verhängt werden darf. Die Idee dahinter ist, dass kurze Freiheitsstrafen resozialisierungsfeindlich sind. Es besteht sogar die Gefahr, im Gefängnis erst recht auf die schiefe Bahn zu geraten. Die Ersatzfreiheitsstrafe erfüllt also keinen Strafzweck, sie ist sinnlos.
Zweitens. Die Ersatzfreiheitsstrafe kostet Jahr für Jahr 200 Millionen Euro. Ein Hafttag kostet pro Gefangenem etwa 140 Euro.
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Wenn also jemand zum Beispiel kein Busticket für 2,50 Euro kauft und deshalb zu 30 Tagessätzen verurteilt wird,
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die er nicht zahlen kann, dann landet er 30 Tage im Knast.
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Das Ganze kostet den Steuerzahler 4 200 Euro – 4 200 Euro Haftkosten, weil ein Ticket für 2,50 Euro nicht gekauft wurde. Und es geht bei der Ersatzfreiheitsstrafe fast immer um Bagatelldelikte. Es ist irre, was da für Millionenbeträge ausgegeben werden.
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Drittens. Andere EU-Länder kommen ohne Ersatzfreiheitsstrafe klar. In Dänemark gibt es keine Ersatzfreiheitsstrafe für zahlungsunfähige Menschen. In Schweden ist die Ersatzfreiheitsstrafe de facto abgeschafft. In Italien wurde die Ersatzfreiheitsstrafe für verfassungswidrig erklärt. Viele Länder in Europa setzen mehr auf gemeinnützige Arbeit als auf Ersatzfreiheitsstrafen, und das, meine Damen und Herren, schlagen wir heute als Linke mit unserem Gesetzentwurf als Alternative vor.
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Das Prinzip des „Schwitzens statt Sitzens“ ist deutlich resozialisierungsfreundlicher;
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denn mit dem Wegsperren der Menschen zerstört man Existenzen. Die Betroffenen verlieren ihre Arbeit, ihre Wohnung, werden vielleicht von Familie und Freunden gemieden. Zwar gibt es schon nach der jetzigen Rechtslage die Möglichkeit, dass die Bundesländer zur Abwendung der Ersatzfreiheitsstrafe die freie Arbeit anbieten.
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Aber das findet viel zu selten statt. Außerdem müssen sich die Betroffenen selbst darum kümmern.
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Der Bundesregierung ist das Thema kaum wichtig. Sie gibt gerade mal 130 000 Euro zur Unterstützung an die Länder, während die Ersatzfreiheitsstrafe, wie gesagt, 200 Millionen Euro kostet.
Damit die freiwillige gemeinnützige Arbeit für Menschen, die eine Geldstrafe nicht zahlen können, gestärkt wird, müssen zwei Dinge passieren: Der Staat muss die gemeinnützige Arbeit aktiv anbieten, und er muss sie auch deutlich stärker finanzieren. Es ist endlich an der Zeit, dem Verfassungsauftrag der Resozialisierung nachzukommen.
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Dafür müssen wir die Ersatzfreiheitsstrafe abschaffen.
Danke schön.
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Herr Kollege, herzlichen Dank. „Schwitzen statt Sitzen“ ist ein gutes Argument.
Als Nächstes bekommt der Kollege Ingmar Jung von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Movassat, ich habe fast geahnt, dass wir heute zum zweiten Mal die Schwarzfahrdebatte führen dürfen und Sie die Ersatzfreiheitsstrafe zum Anlass nehmen, wieder darüber zu reden.
Ich möchte als Erstes die Punkte aufgreifen, die Sie eben genannt haben; denn man kann das einfach nicht alles so stehen lassen. Sie suggerieren hier etwas, was sich in unserem Rechtssystem in keiner Weise widerspiegelt.
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Zum Ersten. Ich kenne jetzt den Fall mit dem Neugeborenen und der Mutter mit dem Busticket für 2,50 Euro nicht;
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aber Sie wissen auch, dass die StPO vorsieht, dass bei unbilligen Härten die Ersatzfreiheitsstrafe eben gerade nicht vollstreckt wird.
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Ich kann den Einzelfall nicht bewerten – ich kenne die Vorgeschichte nicht –; aber jetzt tun Sie doch bitte nicht so, als ob eine junge Mutter, die mit dem Bus fährt und einmal das Ticket für 2,50 Euro nicht bezahlt, in den Knast geht und das Kind zu Hause bleibt. Das hat doch nichts mit der Realität zu tun.
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Sie suggerieren hier etwas, was einfach nicht wahr ist.
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Zum Zweiten haben Sie als Argument vorgebracht, § 47 StGB sähe vor, dass eine kurze Freiheitsstrafe nur in Ausnahmefällen vorgesehen ist. Ja, das ist ja genau hier der Fall. Wir sprechen doch nur von Fällen, in denen eine Geldstrafe im Urteil steht, die uneinbringlich ist, bei der nicht eine Vereinbarung über eine andere Erbringung getroffen wurde, sodass die Strafe weiterhin nicht vollstreckt werden kann. Dann kommt es zu einer Ersatzfreiheitsstrafe. Das ist ein absoluter Ausnahmefall. Genau deswegen ist das auch im Einklang mit den sonstigen Regelungen.
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Jetzt will ich noch mal kurz auf Ihr Argument zurückkommen, es sei doch bei einem Busticket nicht einzusehen, dass das den Staat so viel kostet. Wenn wir anfangen, den Rechtsstaat aufzurechnen und auszurechnen, ob der Staat das Geld für das Busticket zurückholt,
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dann haben wir nicht verstanden, wofür das Strafrecht überhaupt da ist. Und das wissen Sie auch: Wer einmal das Busticket für 2,50 Euro nicht kauft und schwarzfährt, der bekommt in Deutschland überhaupt keine Strafe. Sie tun immer so, als wäre es anders. Das entspricht einfach nicht der Realität. Wenn Sie Gegenbeispiele haben, zeigen Sie sie uns. Die gibt es nämlich nicht.
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– Sie versuchen doch, es aufzurechnen. Wenn Sie der Auffassung sind, dass das Strafrecht dafür da ist, Schäden auszugleichen oder Geldverluste auszugleichen,
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dann haben wir eine völlig unterschiedliche Auffassung von unserem Rechtssystem, und es ist auch schlicht und ergreifend falsch.
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Sie haben „Schwitzen statt Sitzen“ angesprochen. Die Rechtsordnung sieht das vor: Die Länder können Verordnungen erlassen, die regeln, dass gemeinnützige Arbeit geleistet werden kann; mit Zustimmung des Verurteilten kann dann anstatt der Ersatzfreiheitsstrafe gemeinnützige Arbeit geleistet werden. Ja, das geht heute schon. Das geht sogar in allen Bundesländern; das haben alle umgesetzt. Sie haben gesagt, da gebe es zu wenig Personal, deswegen würde das nicht wahrgenommen. Ich wüsste gerne mal, was sich durch Ihren Gesetzentwurf daran ändern soll. Wo soll das Personal plötzlich herkommen? Wenn Sie der Meinung sind, dass die Möglichkeiten der Umwandlung der Ersatzfreiheitsstrafe in den Ländern nicht ausreichend genutzt werden, weil es da nicht genug Personal gibt, dann müssten wir halt mal in Verhandlungen mit den Ländern treten oder Ähnliches machen. Aber daran etwas zu ändern, schaffen Sie nicht durch Ihren Gesetzentwurf.
Ihr Vorschlag unterscheidet sich an einer Stelle doch ganz fundamental von dem, was wir jetzt haben. Schon jetzt ist es möglich, bei Ersatzfreiheitsstrafen mit Zustimmung des Verurteilten gemeinnützige Arbeit zu leisten, damit die Ersatzfreiheitsstrafe eben nicht vollstreckt wird. Bei dem, was Sie wollen, geht es aber um die Frage: Was passiert denn, wenn der Verurteilte das gerade nicht will, wenn er nicht mitmacht, wenn die Ersatzfreiheitsstrafe nicht vollstreckt wird? Sie wollen dann, dass er auf eine uneinbringliche Geldstrafe zurückfällt und am Ende sanktionslos bleibt. Das ist es doch, worum es Ihnen im Kern geht: Sie wollen, dass verurteilte Straftäter bei Kleinkriminalität am Ende sanktionslos bleiben. Das ist nicht unser Verständnis von Rechtsstaat, und das wollen wir an der Stelle genau nicht, meine Damen und Herren.
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Ich will etwas Weiteres aufgreifen, was Sie kurz vor Ende gesagt haben: Beim jetzigen System sei es ja ungerecht oder zumindest inakzeptabel, dass sich der Verurteilte selbst darum kümmern muss, wenn er statt der Ersatzfreiheitsstrafe gemeinnützige Arbeit leisten möchte.
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Meine Damen und Herren, ich finde, das können wir nun wirklich auch erwarten.
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Sie wissen doch, dass er auch im Urteil darauf hingewiesen wird; er erhält auch Rechtsberatung. Wenn es einer nicht weiß, dann können Sie es ihm sagen, dann kann ich es ihm sagen, wenn ich ihn treffe.
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Aber es kann doch nicht sein, dass wir jetzt schon eine Mitwirkungspflicht nicht mehr für angemessen halten. Wir reden doch immerhin von verurteilten Straftätern.
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Das müssen wir an der Stelle auch mal sehen. Ich weiß, Sie mögen da weniger als andere einen Unwertgehalt sehen; aber dann müssen wir an die Strafgesetze herangehen. Das versuchen Sie auch an der Stelle – ich weiß –; aber wenn – –
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– Jetzt lassen Sie mich doch mal einen Satz ausreden. Wenn Sie immer dasselbe dazwischenrufen, wird es doch einfach nicht richtiger, Herr Kollege. Lassen Sie mich doch einfach mal nur einen Satz ausreden.
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Wenn Sie eigentlich die Straffreiheit wollen, dann müssen Sie an das Strafgesetz herangehen. Das haben Sie an der Stelle schon versucht; jetzt versuchen Sie es hier noch einmal über den Umweg.
Ich glaube, meine Damen und Herren, wir haben ein klares System, das weitestgehend rechtseinheitlich ist, auch über die Länder hinweg. Der einzige Unterschied zu Ihren Forderungen ist: Im Moment werden in den Ländern zwischen vier und sechs Stunden pro Tagessatz angerechnet. Sie sagen: Ein Tagessatz darf nur drei Stunden Arbeit beinhalten. Ja, man kann darüber reden, wie lang der Arbeitstag sein sollte bzw. wie viel anzurechnen ist.
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Der fundamentale Unterschied ist der, dass Sie nicht bereit sind, zu akzeptieren, dass in den Fällen, in denen ein verurteilter Straftäter einen Ersatz – und sei es eine gemeinnützige Arbeit – nicht erbringen will, er als letzte Sanktionsmöglichkeit wieder auf die Ersatzfreiheitsstrafe zurückfällt. Genau das wollen Sie abschaffen.
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Sie wollen de facto am Ende eine Straffreiheit schaffen. Das machen wir nicht mit, meine Damen und Herren.
Es ist jetzt 0.51 Uhr. Ich schenke Ihnen 90 Sekunden. Vielleicht mögen die Nachredner es mir gleichtun.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege, für dieses wunderbare Geschenk. – Als Nächstes für die AfD-Fraktion der Abgeordnete Thomas Seitz.
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Werter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Ein marxistisches System erkennt man daran, dass es die Kriminellen verschont und den politischen Gegner kriminalisiert.
Dieser den Gulag überlebenden Alexander Solschenizyn zugeschriebene Ausspruch passt zur heutigen Diskussion; denn bei der Verfolgung und Kriminalisierung der politischen Gegner ist die SED-Nachfolgepartei genauso eifrig wie bei der Zerstörung der Grundlagen unserer Rechtsordnung.
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Nach der Straflosigkeit der Beförderungserschleichung nun also die Aufhebung der Ersatzfreiheitsstrafe! Beide Vorlagen befördern die salamitaktische Einführung eines solchen von Solschenizyn beschriebenen Systems.
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Der Gesetzentwurf der Linken tischt uns das Märchen auf, dass es bei dem Thema Ersatzfreiheitsstrafe um Armutsdelikte geht. Delikte wie Diebstahl, Beförderungserschleichung oder Fahren ohne Fahrerlaubnis sind aber ganz einfach Massendelikte, die überwiegend mit der Verhängung einer Geldstrafe sanktioniert werden. Es ist damit zwangsläufig, dass es auch häufig zur Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen kommt. Die Tat selbst hat aber nichts mit Armut zu tun.
Natürlich ist eine Geldstrafe in der Regel für denjenigen leichter zu erbringen, dessen Einkommen die existenziellen Lebenshaltungskosten überschreitet, der kreditwürdig ist und der vielleicht auch noch über Vermögen verfügt. Die bestehenden Regularien nehmen darauf aber schon in vielerlei Hinsicht Rücksicht. So kann nach § 42 StGB oder § 459a StPO zunächst ein Zahlungsaufschub genauso gewährt werden wie Ratenzahlungen.
Aufgrund der Öffnungsklausel im EGStGB wurde in allen Bundesländern die Möglichkeit geschaffen, ersatzweise gemeinnützige Arbeit zu leisten. In Baden-Württemberg kann so durch die Ableistung von vier Stunden gemeinnütziger Arbeit – im Ausnahmefall sogar durch lediglich drei Stunden – ein Tagessatz abgegolten werden. Diese Regelungen unter dem bereits erwähnten Motto „Schwitzen statt Sitzen“ haben sich bewährt und tragen jedes Jahr dazu bei, etwa 190 000 Hafttage abzuwenden.
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Daneben wird die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafe nach § 459f StPO aufgeschoben, wenn sie eine unbillige Härte darstellt. Dies erfasst den Fall, dass ein Verurteilter krankheitsbedingt nicht arbeiten kann, genauso wie den Fall, dass die Ableistung der Arbeit an einer fehlenden Betreuungsmöglichkeit für Kinder scheitert.
Die behauptete Diskriminierung ärmerer Straftäter durch die Regelungen zur Ersatzfreiheitsstrafe entpuppt sich damit schnell als Luftnummer und als Scheinkorrelation im Sinne der Statistik; denn der Grund für die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafe ist nicht die finanzielle Schwäche dieser Menschen. Der Grund liegt vielmehr in ihrer Respektlosigkeit gegenüber dem deutschen Recht und der deutschen Gesellschaft
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und auch gegenüber den Opfern ihrer Straftaten, die nicht nur eine wirksame Bestrafung der Täter erwarten, sondern auch die Durchsetzung einer verhängten Strafe.
Um die aktuell in der „Zeitschrift für Rechtspolitik“ geführte Debatte zur Frage der Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe aufzugreifen: Diese ist gerade keine „Zusatzstrafe für Armut und Krankheit“, wie es der Strafverteidiger Guthke meint, sondern sie ist mit den Worten des Bundesrichters Radke das „Rückgrat der Geldstrafe“.
Erinnern wir uns an die zeitliche Abfolge: Zunächst gab es eine Rechtsgutverletzung, die von der Gesellschaft mit der Verhängung einer Sanktion beantwortet wurde. Die Strafdrohung des Gesetzes bleibt jedoch ebenso wie die Verhängung der Strafe wirkungslos, wenn die Strafe nicht auch vollstreckt wird. Die Ersatzfreiheitsstrafe ist deshalb das notwendige Surrogat der Geldstrafe. Nach Androhung der Ersatzfreiheitsstrafe wird die Geldstrafe übrigens in zwei von drei Fällen bezahlt, in vielen Fällen sogar unmittelbar bei der Verhaftung oder kurz danach, womit sich eine Inhaftierung ebenfalls erledigt hat.
Die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafe betrifft zu einem ganz großen Teil Menschen mit einer massiven Vorstrafenbelastung und Hafterfahrung. Auch wenn es die Linken vermutlich nicht hören wollen: Nicht wenige dieser Menschen verbringen eher ein paar Tage im Strafvollzug, als freiwillig zu arbeiten.
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In der Diskussion wird weiter das Argument der Haftkosten oder knapp werdenden Haftplätzen angeführt – und das nicht zu Unrecht angesichts der von der Bundesregierung massenhaft nach Deutschland eingeladenen ausländischen Kriminellen.
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– Stellen Sie doch eine Zwischenfrage! – Aber die Gewährleistung der inneren Sicherheit – dazu gehört existenziell die konsequente Verfolgung von Rechtsgutverletzungen – bildet gerade den Kern der Existenzberechtigung des Staates und ist zwingende Voraussetzung für die Legitimität seines Gewaltmonopols. Hierfür muss Geld da sein, und wenn dieses knapp wird, dann gibt es ausreichend andere Felder, auf denen der Staat sparen kann, weil dort die Milliarden nur so verschleudert werden. Ich sage nur: Euro-Wahnsinn, Genderideologie oder Pseudoflüchtlinge.
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Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf der Linken ist unnötig und unbegründet. Er birgt die Gefahr einer weiteren Aushöhlung des Rechtsstaates und insbesondere eines wirksamen Strafrechts und ist daher abzulehnen.
Danke.
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Vielen Dank. – Als nächster Redner hat für die SPD-Fraktion der Kollege Johannes Fechner das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat will die Fraktion der Linken die Ersatzfreiheitsstrafe komplett abschaffen. Ersatzfreiheitsstrafe bedeutet – wir haben es schon gehört –, dass Straftäter, die zu einer Geldstrafe verurteilt wurden, sie dann aber nicht bezahlen können, als Ersatz für die Geldstrafe in Haft müssen.
Ich finde, wir müssen hier das Problem diskutieren. Die aktuelle Regelung hat zur Folge, dass 10 Prozent aller Inhaftierten ärmere Menschen sind, die, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen konnten, in Haft mussten. Das sind in Deutschland über 4 000 Personen; überwiegend sind es Menschen, die keinen Job haben, die einen Krankheitshintergrund haben. Deswegen ist das Grundanliegen der Linken tatsächlich interessant zu diskutieren, wenngleich ich Ihren Gesetzentwurf in der Sache ablehne;
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denn es gibt schon heute die Möglichkeit, dass die Länder Regelungen treffen, dass man durch das Ableisten gemeinnütziger Arbeit nicht in Haft muss, die Ersatzhaftstrafe nicht antreten muss, wenn es unangemessen erscheint.
Zum Beispiel hat der frühere Justizminister Kutschaty in Nordrhein-Westfalen intensiv mit Bistümern oder mit der Caritas daran gearbeitet, entsprechende Schritte einzuleiten, und es so den Strafvollstreckungsbehörden ermöglicht, Verurteilte anstelle von Ersatzfreiheitsstrafe in gemeinnützige Arbeit, etwa bei den Kirchen, zu bringen oder sie an Sozialeinrichtungen zu vermitteln.
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Auch in Niedersachsen haben wir ein solches Projekt. Schon seit 1991 gibt es das Projekt „Schwitzen statt Sitzen“. Im Jahr 2016 konnten so etwa 1 200 Menschen, die nur zu Bagatelldelikten verurteilt wurden, vor der Ersatzfreiheitsstrafe bewahrt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind Beispiele, die zeigen, dass in den Ländern sehr sinnvoll von dieser Möglichkeit, die wir schon heute haben, Gebrauch gemacht wird.
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Dennoch wollen Sie generell die Ersatzfreiheitsstrafe abschaffen. Das halte ich für falsch; denn dadurch machen Sie die Geldstrafe zu einem stumpfen Schwert. Ich finde, auch eine Geldstrafe muss abschreckende Sanktion sein; denn wenn ein Straftäter weiß, dass er die Geldstrafe gar nicht bezahlen muss, dann stellt sich doch die Frage: Was soll ihn zur Zahlung motivieren? Wie soll die Sanktion dann überhaupt greifen?
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Es zeigt sich, dass die Geldstrafen oft erst bezahlt werden, wenn als Sanktion die Haft angedroht wird.
Man muss auch ausdrücklich darauf hinweisen, dass es schon heute in der Strafprozessordnung viele soziale Möglichkeiten gibt: Es können Zahlungserleichterungen gewährt werden, etwa Ratenzahlungen, und schließlich gibt es auch die Härteklausel, nach der ein Gericht von der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe absehen kann. Ich schaue mir gerne den Fall der Frau mit dem kleinen Kind an, den Sie genannt hatten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in einem solchen Fall nicht von der Härtefallklausel Gebrauch gemacht wurde.
Also, wir haben schon heute zahlreiche Möglichkeiten, ärmeren Menschen entgegenzukommen, indem sie gemeinnützige Arbeit leisten oder Ratenzahlungen erbringen. Man hört nun oft von Landesjustizministern die Forderung, die Ersatzfreiheitsstrafe abzuschaffen. Ich finde, da ist ganz oft das Hauptmotiv, dass man Geld sparen will. Ich finde, das kann kein überzeugendes Motiv sein. Wir können keinen Strafvollzug nach Kassenlage machen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Es mag sein, dass in Ländern die Angebote für gemeinnützige Arbeit ausgebaut werden können, dass man da noch mehr tun kann. Es mag sein, dass manche Länder die Mittel für diese Angebote erhöhen müssen. Deshalb ist es gut, dass das Bundesjustizministerium gemeinsam mit den Ländern in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe derzeit prüft, wie diese Angebote ausgeweitet werden können, ob es alternative Sanktionsmöglichkeiten gibt. Ich finde, genau das ist der richtige Weg: gemeinsam mit den Ländern zu prüfen, ärmere Menschen bei Bagatelldelikten vor der Haft zu bewahren durch andere Sanktionen wie etwa gemeinnützige Arbeit. Lassen Sie uns gemeinsam mit den Ländern prüfen, ob und wie wir alternative Sanktionen schaffen können, um Ersatzfreiheitsstrafen gerade bei Bagatelldelikten zu vermeiden.
Vielen Dank.
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Nächster Redner für die FDP-Fraktion: Dr. Jürgen Martens.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, rechtspolitisch ist Geisterstunde, und in der Tat begeben wir uns jetzt mit den Linken zusammen auf eine rechtspolitische Geisterbahnfahrt.
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Die Ersatzfreiheitsstrafe nach § 43 StGB tritt an die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe. Punkt! Sie ist keine eigenständige Sanktion. Sie dient auch nicht, wie Sie sagen, der „Diskriminierung“ einer einkommensschwachen Person, so heißt es in dem Gesetzentwurf. Das ist Unfug.
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Hier schimmert allenfalls die altkommunistische Diffamierung der Strafjustiz als Zentraleinrichtung des kapitalistischen Repressionsapparates hervor.
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Das begegnet uns dort wieder.
Genauso simpel wird das dann durchdekliniert am Beispiel einer Frau, die einmal schwarz fährt, schwanger ist und vom Kind wegen der Ersatzfreiheitsstrafe getrennt wird. Das ist dummes Zeug.
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Zeigen Sie mir diesen Fall, bringen Sie ihn, schreiben Sie es uns! Wir fragen nach, und schauen es uns an. Wegen einmal Schwarzfahren wird keine Ersatzfreiheitsstrafe verhängt. Es wird nicht einmal eine Geldstrafe verhängt. In der Regel wird das Verfahren eingestellt gegen Zahlung einer Geldauflage, und das auch nur im Wiederholungsfalle. So sieht die Rechtspraxis aus. Was Sie hier erzählen, sind ganz einfach Märchen, meine Damen und Herren.
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Wenn Sie erzählen, dass die Geldstrafe dann nicht entrichtet werden kann, dann fragt sich wirklich: Wie bemisst sich eine Geldstrafe? Eine Geldstrafe wird nach den wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten festgesetzt.
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– Nein, lieber Wolfgang, da verwechselst du die Anzahl der Tagessätze, die mindestens fünf beträgt.
Zur Höhe der Geldstrafe – aufpassen! –: Nach § 40 Absatz 2 Satz 3 Strafgesetzbuch beträgt die Mindesthöhe eines Tagessatzes 1 Euro.
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So. Und das ist schon zu viel für Leute, die Straftaten begangen haben und die der Richter dann nach mehrfachen Wiederholungstaten verurteilt? Glauben Sie das im Ernst?
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Ist es im Ernst Ihre Meinung, dass sich die Leute das nicht leisten können, dass sie deswegen Ersatzfreiheitsstrafe kriegen, dass Mütter und Kinder in Haftanstalten getrennt werden? Als ehemaliger Justizminister weiß ich: Wir haben sogar Haftplätze für Mutter und Kind eingerichtet, um diese Sachen zu verhindern, und zwar für längerfristige Freiheitsstrafen, gewiss nicht bei Ersatzfreiheitsstrafen. Dort gibt es nämlich die Härtefallregelung, dass von so etwas im Regelfall abgesehen wird.
Sie wollen die Ersatzfreiheitsstrafe abschaffen, aber die Konsequenzen deklinieren Sie nicht durch. Es gibt nämlich nicht nur Leute, die nicht zahlen können, sondern es gibt auch – das weiß ich leider aus Erfahrung – verdammt viele, die nicht zahlen wollen.
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Welche Sanktionen haben Sie denn dann, um den Strafanspruch des Staates zu realisieren? Oder meinen Sie, der Staat hätte in bestimmten Fällen überhaupt keinen Strafanspruch? Dann müssen Sie das sagen. Aber wenn Sie den ernst nehmen wollen, dann müssen Sie anstelle einer Geldstrafe eine andere Sanktion machen. Selbst wenn das nicht beibringbar ist: Es gibt nach Artikel 239 EGStGB das Programm „Schwitzen statt Sitzen“, die Möglichkeit, soziale Arbeit zu leisten. Das ist eine Ausweichmöglichkeit, mit der Ersatzfreiheitsstrafe verhindert werden kann und auch in vielen Fällen verhindert wird. Warum sollte man davon nicht Gebrauch machen?
Meine Damen und Herren, Ihr Vorschlag, die Ersatzfreiheitsstrafe zu streichen, führt in letzter Konsequenz dazu, dass nur noch eine Strafart bleibt: Das ist die unbedingte Freiheitsstrafe bzw. die Freiheitsstrafe auf Bewährung. Und das hat nun mit einer vernünftigen Strafrechtspolitik nicht das Geringste zu tun, meine Damen und Herren.
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Kurzum: Wir treffen hier zu später Stunde wieder einmal auf die altbekannten sozialistischen Gespenster einer – lassen Sie es mich mal so sagen – umgekehrten Klassenjustiz.
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Diejenigen, die strafrechtliche Privilegierungen in Anspruch nehmen sollen, sind nach Ihrer Auffassung diejenigen, die nicht das Geld haben für einen Straßenbahnticket oder irgendetwas anderes. In anderen Fällen sehen Sie das ganz anders; da sind Sie für zünftige Sanktionierungen durchaus zu haben. Aber diesen Vorschlag einer, ich sage mal: zutiefst ideologischen und an der Wirklichkeit nicht im Geringsten orientierten Strafrechtspolitik werden wir mit Sicherheit nicht unterstützen.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Canan Bayram, Bündnis 90/Die Grünen
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich das erste Mal den Gesetzentwurf der Linken gelesen habe, kam er mir in Teilen bekannt vor, und tatsächlich führen Sie in Ihrer Begründung ja aus, dass die seinerzeitige rot-grüne Koalition hier im Bundestag so etwas schon einmal eingebracht hat, und zwar nur in Teilen. Das heißt, Sie haben einen großen Teil des Gesetzentwurfs, den wir damals eingebracht haben, nicht übernommen, sondern lediglich diesen Teil, der – das muss ich sagen – einfach zu kurz greift.
Sie haben ja den einen Fall vorgetragen. Obwohl ich es nicht wusste, habe auch ich mich vorbereitet und mir vom Land Berlin mal die Zahlen geben lassen für die aktuellen Delikte bei der Ersatzfreiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee – Stichtag: 13. Juni 2018 –: Da sitzen 57 Menschen wegen des Erschleichens von Leistungen. Wir haben schon einen Antrag eingebracht, dass wir das gerne zu einer Ordnungswidrigkeit herabstufen würden. Wenn wir das dort regeln können, wird die Frage, ob wir es dann hier tatsächlich abschaffen müssen, weniger relevant.
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In der JVA Plötzensee gibt es derzeit 52 Fälle wegen Diebstahls. Da gibt es auch eine große Debatte, inwieweit Massendelikte wie Diebstahl tatsächlich noch weiterhin verfolgt werden sollen. Darüber kann man diskutieren. Ich kenne aber niemanden, der einen Antrag eingebracht hat, dass Diebstahl entkriminalisiert wird; es lässt sich über alles reden. Dann gibt es 14 Fälle wegen Betrugs. Auch das ist etwas, wo ich sagen würde: Darüber müssen wir reden. Es gibt 12 Fälle wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Da ist es ebenfalls so, dass wir Anträge im Verfahren haben, in denen wir über Legalisierung, Teillegalisierung, kontrollierte Abgabe für bestimmte Betäubungsmittel diskutieren wollen. Da würde ich ebenfalls die Frage stellen: Wollen wir dafür generell die Ersatzfreiheitsstrafe aufheben, oder wollen wir an den Delikten ansetzen und sagen: „Da können wir entkriminalisieren“?
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Acht Personen sitzen wegen Körperverletzungsdelikten in Ersatzfreiheitsstrafenhaft. Da wird es, ehrlich gesagt, schon schwierig; denn da geht es ja natürlich darum, wie der Täter-Opfer-Ausgleich eigentlich stattfinden soll, wenn der Staat komplett aufgibt, sich einzumischen.
Deswegen würde ich sagen: Es ist ein interessanter Beitrag,
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über den man im Ausschuss – vielleicht auch einer Anhörung – diskutieren kann.
Ich will noch mal sagen, warum sich die Justizministerkonferenzen seit langem immer wieder über diese Probleme unterhalten, aber nicht verständigen können: Das eine ist tatsächlich, dass die Ersatzfreiheitsstrafe im System der Straf- und Justizvollzugsanstalten eine Art Fremdkörper ist. Es ist egal, welcher Couleur sozusagen die Justizminister sind, alle klagen über das Problem. Wir brauchen eine Lösung. Deswegen fände ich es spannend, tatsächlich mal eine Anhörung hier im Deutschen Bundestag zu dem Thema anzusetzen, um darüber zu reden, welche Lösungsansätze einen Ausgleich ermöglichen, der aber, glaube ich – da muss ich Sie ein Stück weit enttäuschen –, nicht die Antwort zum Ergebnis haben wird, die Ihr Gesetzentwurf vermuten lässt.
Denn der Grundsatz, dass ein Mensch nur durch einen gesetzlichen Richter zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden sollte, ist ja richtig. Aber die Lösung, die Sie hier vorschlagen, greift eben doch zu kurz. Das ist faktisch keine Lösung. Deswegen: Lassen Sie uns darüber reden, und vielleicht finden wir sogar eine gemeinsame Lösung.
Danke schön.
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Nächster Redner: Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte über die Ersatzfreiheitsstrafe ist eine rechtspolitisch anspruchsvolle Debatte. Ich finde es ein bisschen schade, dass auf der einen Seite Sie von der AfD es tatsächlich fertigbringen, die Themen Genderideologie, Euro-Rettung und Flüchtlinge in die Debatte einzubringen. Das ist genauso unredlich wie auf der anderen Seite die Argumentation der Linken,
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die die Kosten für den Strafvollzug im Zusammenhang mit Ersatzfreiheitsstrafen wegen Schwarzfahrens hochrechnen. Beides zeigt eine Despektierlichkeit eines wichtigen rechtspolitischen Themas, meine Damen und Herren.
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Ein Punkt ist zunächst einmal, dass wir eine klare rechtliche Regelung haben. Die Ersatzfreiheitsstrafe ist nur dann möglich, wenn die Geldstrafe uneinbringlich ist. Das heißt, der Rechtsstaat versucht zunächst einmal, die Geldstrafe tatsächlich zu vollstrecken – übrigens nicht mit der Härte, wie Sie sie dargestellt haben, sondern mit allen möglichen Brücken, die der Rechtsstaat zur Verfügung hat. Dies geht hin bis zu der Möglichkeit, dass ein Dritter die Geldstrafe für Sie bezahlt und Sie sozusagen in der gleichen Sekunde, in der jemand anders Ihre Geldstrafe begleicht, aus der Ersatzfreiheitsstrafe entlassen werden. Auch können Sie die Möglichkeit der Ratenzahlung nutzen, und, ja, es gibt auch Möglichkeiten zur Stundung.
In Ihrem Gesetzentwurf lassen Sie auch völlig unberücksichtigt, dass sich die Höhe des Tagessatzes natürlich nach dem Einkommen richtet und damit im Rahmen des Strafurteils gar keine Diskriminierung stattfinden kann; denn derjenige, der wenig verdient, muss natürlich einen geringeren Tagessatz bezahlen, während derjenige, der viel verdient, einen höheren Tagessatz zahlen muss. Aber auch wenn jemand eine geringe Geldstrafe bekommt, weil er wenig Geld hat, muss gewährleistet sein, dass er sie irgendwie ableistet; denn eine Strafe, die in einem Rechtsstaat ausgesprochen wurde, muss auch vollstreckt werden, wenn die Strafe nicht ins Leere laufen soll, meine Damen und Herren.
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Wenn es um den Charakter der Ersatzfreiheitsstrafe geht, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass unsere Rechtsordnung auch in anderen Fällen eine Haft vorsieht. Beispielsweise kann in zivilprozessualen Fällen Erzwingungshaft angeordnet werden. Das heißt, die Argumentation, dass die Haft an sich das falsche Instrument sei, geht vor dem Hintergrund, dass auch in anderen Fällen eine Haft angeordnet werden kann, völlig fehl.
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Ich möchte Ihnen zumindest in einem Punkt zustimmen, nämlich dass bei der Frage der Bemessung der Ersatzfreiheitsstrafe im Verhältnis zu den Tagessätzen eine rechtspolitische Diskussion durchaus angebracht ist. Aber gerade diesen Punkt haben Sie nicht angesprochen; denn ein Tag Ersatzfreiheitsstrafe entspricht einem Tagessatz der Geldstrafe. Der Tagessatz bildet aber ein Stück weit das Erwerbseinkommen an einem Arbeitstag von durchschnittlich acht Stunden ab. Das heißt, es gibt in der Tat eine gewisse Umrechnungsproblematik, weil die Ersatzfreiheitsstrafe natürlich 24 Stunden wirkt und nicht nur im Äquivalent von 8 Stunden. Darüber können wir reden.
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Wir sollten eines nicht vergessen: Sie wollen ja keine Reform der Bemessung, sondern Sie wollen die Ersatzfreiheitsstrafe ganz abschaffen. Aber wenn die Ersatzfreiheitsstrafe ganz abgeschafft wird, werden alle Reformansätze Makulatur. Sie wollen dieses Instrument beseitigen. Die Argumente, die Sie dafür vorbringen, sind aber strafrechtlich und rechtspolitisch unhaltbar. Letzten Endes könnte der Staat, wenn Ihr Gesetzentwurf zum Tragen käme, seinen Strafanspruch nicht mehr durchsetzen. Das ist vor dem Hintergrund, dass wir einen starken Rechtsstaat wollen, mit uns nicht zu machen, meine Damen und Herren.
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Lassen Sie uns lieber darüber sprechen, wie wir die Härten einer Ersatzfreiheitsstrafe abmildern können, zum Beispiel könnte alternativ gemeinnützige Arbeit geleistet werden. Viele Bundesländer leisten da Vorbildliches. Ich möchte insbesondere mein eigenes, den Freistaat Bayern, ansprechen, der seit vielen Jahren hervorragende Projekte im Bereich „Schwitzen statt Sitzen“ durchführt. Wir sollten die Länder ermutigen, gerade beim Thema „gemeinnützige Arbeit anstelle von Ersatzfreiheitsstrafen“ weiter voranzuschreiten; denn es sollte nicht unser Ziel sein, die Menschen bei kurzzeitigen Ersatzfreiheitsstrafen ins Gefängnis zu bringen. Aber es muss unser Ziel sein, dass Recht Recht bleibt und der Strafanspruch des Staates vollstreckt wird.
Vielen Dank.
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Der letzte Redner zu diesem Punkt ist der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner für die SPD-Fraktion.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt einige Beiträge zu freiheitsentziehenden Maßnahmen gehört. Ich bin jetzt, um 1.15 Uhr, geneigt, zu sagen: Auch wir sind nahe dran, in diesem Hause eine freiheitsentziehende Maßnahme vollstreckt zu bekommen.
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Nichtsdestotrotz finde ich es schon enttäuschend, dass die Diskussionen, die wir über das Schwarzfahren geführt haben – in großen Teilen waren wir uns ja einig, dass wir darüber sprechen müssen, welche Tatbestände gegebenenfalls entkriminalisiert werden können und welche nicht –, bereits nach wenigen Tagen heute in diesem Hohen Hause in diesen Gesetzentwurf, in diesen platten Vorschlag münden, die Ersatzfreiheitsstrafe vollständig abzuschaffen, ohne dass die Ausschüsse bisher in irgendeiner Form damit befasst waren.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage das deshalb, weil einer der Grundsätze unseres Rechtssystems doch ist – dem habe ich mich immer verpflichtet gefühlt –, dass vor dem Gesetz jeder gleich ist: der Arme wie der Reiche. Jeder ist vor dem Gesetz gleich. Es gibt vor dem Gesetz keine Ungleichbehandlung dahin gehend, dass der Reiche verurteilt wird und der Arme nicht verurteilt wird. Wenn ein Straftatbestand vorliegt und ein Strafanspruch besteht, ist jeder diesem Strafanspruch des Staates und der Gesellschaft zu unterwerfen.
Ich sage ganz deutlich: Bei der Begründung des hier eingebrachten Gesetzentwurfs wird oberflächlich mit den 2,50 Euro für eine Fahrkarte der BVG argumentiert, aber – das hat auch die Kollegin Bayram von den Grünen gesagt – es geht um weit mehr. Denn mit einem Wegfall der Ersatzfreiheitsstrafe würden wir billigend in Kauf nehmen, dass Straftatbestände wie Körperverletzung – das will ich nicht –, Betrug – das will ich nicht –, Hausfriedensbruch – das will ich auch nicht –, Diebstahl – das will ich gleich gar nicht – und das, was auch mit Geldstrafe geahndet wird, nämlich sexuelle Belästigung – das will ich schon gar nicht –, straffrei gestellt werden. Das will ich nicht. Ich glaube, die deutsche Sozialdemokratie und die Mehrheit dieses Hauses wollen das auch nicht.
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Werte Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, meine Vorredner haben bereits darauf hingewiesen, dass das Rechtssystem derzeit – abgesehen von der Möglichkeit der gemeinnützigen Arbeit statt Haft – bereits einige Möglichkeiten zur Abmilderung wie Ratenzahlung etc. hat. Jeder Richter hat bei seiner Entscheidung auch die soziale Komponente zu berücksichtigen und kann gegebenenfalls den Tagessatz auf 1 Euro festsetzen. Möglich ist auch, zum Beispiel wenn jemand Reue zeigt und einsichtig ist, eine Verwarnung mit Strafvorbehalt anstatt einer Verurteilung; da passiert dann noch gar nichts.
Ich glaube, dieses Thema ist in den Ausschüssen gut aufgehoben, und dort sollten wir versuchen, vernünftige und klare Lösungen zu finden, auch um die Länder, die personell vielleicht noch nicht so ausgestattet sind, beim Thema „Schwitzen statt Sitzen“ – also gemeinnützige Arbeit statt Haft – zu unterstützen, bessere Angebote zu unterbreiten.
Eines möchte ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, am Ende der Diskussion noch sagen: Die Ersatzfreiheitsstrafe darf nicht als ein Instrument zur Bewältigung von Löchern in den Justizhaushalten gesehen werden. Die Ersatzfreiheitsstrafe ist wie die Geldstrafe ein Strafanspruch dieses Staates. Wir haben zu entscheiden, was strafbar ist und was nicht. Darüber zu diskutieren, sind wir gerne bereit, auch um 1.19 Uhr. Und wenn nicht noch ein paar Reden zu Protokoll gegeben werden müssten, würde ich sagen: Herr Präsident, geben Sie mir den Hausschlüssel, ich sperre gerne zu.
Guten Abend!
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Vielen Dank, lieber Herr Kollege Brunner. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/1689 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.