Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über neue Rechtsgrundlagen für den Familiennachzug bei subsidiär Schutzberechtigten. Subsidiär Schutzberechtigte sind Personen, die einen eingeschränkten Schutzstatus in unserem Lande und in der Regel nur ein befristetes Bleiberecht haben. Seit dem Jahre 2013 bis einschließlich des Jahres 2017 gab es 265 000 Anerkennungen von subsidiär Schutzberechtigten. Das ist der für den Familiennachzug potenziell infragekommende Personenkreis. Wir werden, da dieser Familiennachzug von März 2016 bis August dieses Jahres ausgesetzt ist, ab dem 1. August 2018 neue rechtliche Grundlagen für den Familiennachzug aus humanitären Gründen bekommen, sofern Sie diesem Gesetzentwurf zustimmen, und zwar begrenzt auf 1 000 Personen im Monat.
Ich möchte, nachdem ich ja sehr intensiv an den Koalitionsverhandlungen teilgenommen habe, darauf hinweisen, dass die Zahl 1 000 nicht willkürlich gegriffen ist, sondern dass dies eine Anlehnung an das Relocation-Programm der EU ist, das wir bis zum März dieses Jahres gegenüber Italien und Griechenland erfüllt haben. Da war für jedes Land die Zahl von 500 Personen vereinbart. Aus beiden Ländern zusammen durften also 1 000 Personen pro Monat in die Bundesrepublik Deutschland einreisen, so wie in andere EU-Länder auch. Diese Verpflichtung ist weggefallen. An ihre Stelle kommt nun die Zahl 1 000 beim Familiennachzug aus humanitären Gründen für subsidiär Schutzberechtigte.
Es gibt auf diesen Familiennachzug keinen Rechtsanspruch, sondern im Gesetzentwurf ist eine Reihe von humanitären Gründen genannt, die beispielhaft, aber nicht abschließend aufgezählt sind. Es geht um den Familiennachzug der Kernfamilie. Humanitäre Gründe, die zur Genehmigung dieses Familiennachzuges führen können, sind beispielsweise die Dauer der Trennung, minderjährige Kinder, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Behinderung, und dies immer unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls und von Integrationsaspekten. Ich glaube, wenn wir im Gesetz insbesondere die humanitären und damit auch die menschlichen Gründe aufführen, ist das eine gute Grundlage für den Familiennachzug.
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Es gibt auch klare gesetzliche Regelungen, für wen der Familiennachzug nicht infrage kommt. Erstens muss die Ehe vor der Flucht geschlossen sein.
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Zweitens dürfen keine schwerwiegenden Straftaten begangen worden sein. Und drittens darf es sich nicht um Gefährder handeln.
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Eine vierte Regelung, die im Gesetzentwurf, wie ich finde, sehr gut verschärft wird, ist, dass zusätzliche Anreize ausgeschlossen werden sollen, die dadurch entstehen, dass Minderjährige von ihren Eltern unter Gefährdung des Kindeswohls auf die gefährliche Reise vorgeschickt werden. Das war in den letzten Jahren leider Gottes Brauch. Ich wäre dankbar, wenn das Parlament der Bestimmung zustimmen könnte, dass Schlepper, die Minderjährige ausnutzen und sie allen möglichen Gefahren aussetzen, um sie hierherzubringen, künftig unter ein schärferes Strafmaß gestellt werden.
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Meine Damen und Herren, innerhalb der Regierung gab es eine gewisse Diskussion über die Frage: Wer vollzieht das Gesetz? Es ist ja normalerweise das Auswärtige Amt dafür zuständig. Es geht ja um eine Visaerteilung. Wir haben uns auf eine gute Kooperation geeinigt: Alle Aspekte, die auslandsbezogen sind, wird das Auswärtige Amt mit seinen Auslandsvertretungen erledigen, und alle Aspekte, die inlandsbezogen sind, werden die Ausländerbehörden in der Bundesrepublik Deutschland erledigen.
Ich habe mich bereit erklärt, dass das Bundesverwaltungsamt – eine sehr qualifizierte Dienstleistungsbehörde, übrigens für alle Bundesministerien – für die Regierung und damit auch für das Auswärtige Amt verwaltungsintern, aber verbindlich die 1 000 nachzugsberechtigten Personen nach den Kriterien auswählt, die im Gesetz aufgeführt sind.
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– Wenn ich den Zwischenruf höre: „Warum nicht das BAMF?“: Weil das BAMF schon genug andere Aufgaben hat.
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Deshalb ist das im Bundesverwaltungsamt gut angesiedelt.
Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik Deutschland war und ist nach wie vor Zielland einer hohen Zahl von Asylsuchenden. Das stellt unsere Integrationssysteme bis auf Weiteres vor erhebliche Herausforderungen. Deshalb müssen wir immer wieder darauf achten, dass die Zahl der Zuwanderungen im Einklang mit der Aufnahme- und der Integrationsfähigkeit unseres Landes steht. Ich denke, die Regelung des Familiennachzuges bei subsidiär Schutzberechtigten ist ein verantwortungsvoller Kompromiss zwischen dieser Aufnahmefähigkeit der Bundesrepublik Deutschland einerseits und unseren humanitären Verpflichtungen andererseits, aber auch den Interessen der Schutzberechtigten.
Deshalb kann ich Ihnen nur empfehlen, diesen Gesetzentwurf nach der Beratung in den Fachausschüssen anzunehmen.
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Ich möchte die Gelegenheit hier noch nutzen, ein wirklich dringendes Problem, das auch im Zusammenhang mit der Migrationsfrage steht, anzusprechen. Wir haben beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine Vielzahl von befristeten Arbeitsverträgen. Eine erhebliche Zahl dieser befristeten Arbeitsverträge ist wegen des Verbotes der Kettenarbeitsverträge nicht mehr zu verlängern.
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Deshalb bitte ich das Parlament und insbesondere natürlich auch unseren Bundesfinanzminister um Unterstützung –
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wir sind ja in der Schlussberatung des Haushalts im Haushaltsausschuss –, dass wir diese Befristung aufheben; denn es wäre nicht ganz einfach zu erklären, wenn wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die eingearbeitet sind und ihr Metier beherrschen, jetzt entlassen und Nichtangelernte einstellen müssten.
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Das würde nicht nur in diesem Amt, sondern auch in der Öffentlichkeit niemand verstehen.
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Deshalb bitte ich Sie alle in Ihren unterschiedlichen Funktionen, Ihren Beitrag dafür zu liefern, dass wir die Entfristung dieser Stellen durchführen können. Der Bundesfinanzminister Olaf Scholz hat mir schon angedeutet, dass er dem positiv gegenübersteht.
Ich danke.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Bernd Baumann, AfD.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Wochen schon gibt es nur noch ein Thema: das Scheitern des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge.
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Tausende sind illegal hereingeströmt, weil Frau Merkel, unsere Kanzlerin, untätig blieb. Daher wissen wir nichts über diese Leute.
Wir wissen nicht, wie sie heißen, wir wissen nicht, woher sie kommen. Sind es wirklich Syrer, Libanesen, Tunesier, Iraker? Wissen wir das? Waren es vorher einfache Angestellte, einfache Bauern? Oder waren es Ganoven, islamistische Gefährder,
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Folterknechte der Geheimdienste oder gar der Bodyguard von Osama Bin Laden höchstselbst? Wir wissen es nicht. Sie wissen es nicht.
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Sie prüfen es nicht. Die größten Gefährder in diesem Land, meine Damen und Herren, sitzen hier auf der Regierungsbank.
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Keine Behörde der Welt kann über Nacht solche Menschenmassen überprüfen, die aus ganz fernen Kulturen zu uns strömen: ohne Nachweis, ohne Zeugnis, ohne Pass. Doch statt diesen Wahnsinn zu stoppen, hat die Regierung die Chuzpe, mit diesem Gesetz die Schleusen noch weiter zu öffnen. Ja, wie weit denn noch? Das kann doch wohl nicht wahr sein, meine Damen und Herren.
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Jetzt sollen sogar jene Migranten ihre Familien nachholen, die zunächst bloß für ein Jahr, also nur subsidiär, Schutz bei uns genießen
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und deshalb keinen Anspruch auf Familiennachzug haben. Zur Beruhigung der Wähler sagen Sie, dass nur 1 000 Menschen im Monat kommen – bloß 1 000! –, weil, wie Sie wörtlich sagen, nur so „die Integration gelingen“ kann.
Doch gleichzeitig strömen über Hintertreppen bereits Hunderttausende per Familiennachzug nach Deutschland.
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Allein im Jahr 2017 waren es 118 000. Diese berufen sich nur auf andere Schutzregelungen und dürfen dann massenhaft ins Land. Wenn aber, meine Damen und Herren, 1 000 gerade noch integrierbar sind: Was ist denn dann mit den über 100 000? Dann sind sie das doch mit Sicherheit nicht. Das zeigt doch die ganze Armseligkeit Ihrer Argumente. Dann muss Integration ja scheitern. In Paris und Brüssel brannten die Banlieues doch bereits.
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Wenn sie dann zu uns kommen, werden wohl wieder Beamte geschmiert, Dolmetscher bestochen, Urkunden gefälscht, Sachbearbeiter beim BAMF durch korrupte Anwälte belogen. Wer garantiert denn, dass nun die Angaben zum Familienstand stimmen? Herr Seehofer? Herr Altmaier? Das BAMF? Wie naiv kann man denn sein, meine Damen und Herren!
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Sie versprechen, dass nur Kleinfamilien nachziehen: Vater, Mutter, die minderjährigen Kinder. Wie leicht man aber die deutsche Politik übertölpeln kann, zeigt der Fall der syrischen Familie Abu K. – in großen deutschen Zeitungen war darüber zu lesen –: Sohn Hussein reist mit Onkel, Schwager, Nichte und Schwester nach Deutschland. Seine Frau lässt er zurück. Sie kann er ja später holen, über Familiennachzug. Stattdessen nimmt er seine kleine Schwester mit. Denn die ist minderjährig und kann deshalb – anders als er – die Eltern nachholen. Mit von der Partie ist auch der Schwager. Er hat eine der elf Schwestern von Hussein geheiratet. Aber auch er hat wieder nicht seine eigene Tochter mitgebracht, sondern eine Nichte. Die Nichte kann ihre Eltern nachholen, der Schwager seine Frau und Kinder, und so geht es weiter und weiter und weiter.
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Durch einfache Ausnutzung des naiven deutschen Rechts wandern Großfamilien nach Deutschland ein.
Meine Damen und Herren, Familie ist ja sympathisch.
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Dass sich alle in der Familie wohlfühlen, können wir nachvollziehen. Das ist doch nicht die Frage.
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Wir verurteilen doch nicht die Flüchtlinge,
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sondern die Politiker hierzulande, die so bescheuerte Gesetze machen, dass jeder sie unterlaufen kann.
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Führende Integrationsexperten wie die Soziologin Necla Kelek warnen – wörtlich –:
Familie heißt in orientalisch-muslimischen Gesellschaften die Großfamilie ... Mit dem Familiennachzug importieren wir ein islamisches Familiensystem, das ... zu Parallelgesellschaften ... führt.
Experten wie Necla Kelek, die ja, wie Sie wissen, selbst aus dem Orient stammt und hier bei uns studiert hat, wissen: Ihr Gesetz ist ein Konjunkturprogramm für arabische Großfamilien in Deutschland, meine Damen und Herren!
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Natürlich, um das ganz klar zu sagen, sind nicht alle kriminell. Wer würde das denn vorwerfen?
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Aber fragen Sie mal Polizisten in Berlin, in Bremen oder Duisburg nach der Integrationsbereitschaft arabischer Großfamilien. Da beherrschen sie ganze Stadtteile, terrorisieren die deutsche Bevölkerung, erpressen Schutzgeld, kontrollieren Prostitution und Drogenhandel, kassieren dabei Hartz IV und fahren auf Deutschlands Straßen die dicksten Autos.
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Meine Damen und Herren, Ihre Politik gibt dem Begriff der Familienbande eine ganz neue Bedeutung in Deutschland.
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Aber der wichtigste Einwand gegen Ihr Gesetz ist dies: Es ist absurd. Denn – das muss doch jedem klar sein – unsere Grenzen stehen nach wie vor jedem sperrangelweit offen. Will jemand seine Familie nachziehen, muss er sie nur an die deutsche Grenze bringen. 15 000 Menschen schaffen das – Monat für Monat.
Sie machen doch seit 2015 keine echten Grenzkontrollen, lassen wahllos Hunderttausende ins Land, ohne zu wissen, zu welcher Familie jemand gehört. Ihr ganzer Gesetzentwurf ist eine Farce. Merken Sie das denn gar nicht?
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Und jetzt noch ein Wort zu Ihnen, liebe Sozialdemokraten.
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Herbert Wehner, eine Legende Ihrer Partei, diktierte Ihnen schon vor über 30 Jahren ins Stammbuch: Die Grenze der Integrationsfähigkeit ist erreicht. Wenn wir uns weiterhin einer Steuerung des Asylproblems versagen, dann werden wir eines Tages von unseren eigenen Wählern hinweggefegt. – Der stolze Sozi hatte recht. Genau das werden Sie mit Ihrem unverbesserlichen Willkommenswahn erreichen. Sind Ihnen denn die 17 Prozent in den Umfragen immer noch zu viel? Wollen Sie unter die Fünfprozenthürde?
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Wenn Sie unter die Fünfprozenthürde wollen, liebe SPD, dann auf Wiedersehen!
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Was Sie nicht verstehen: Die deutsche Arbeiterschaft will keine Clans, keine Parallelgesellschaften, keine Messerstecher aus Syrien oder Eritrea, die obendrein noch ihre Sozialkassen plündern, während Deutsche im Müll nach Plastikflaschen wühlen müssen. So sieht’s aus in unserem Land.
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Wenn Sie aber unbedingt abtreten wollen, dann gehen Sie. Aber nehmen Sie dieses idiotische Gesetz mit, und vor allen Dingen gleich noch Ihre links-grün verdrehte sozialdemokratische Kanzlerin.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Burkhard Lischka, SPD.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Baumann, wissen Sie, wer sich in der Flüchtlingspolitik ausgerechnet mit dem Großmufti von Herrn Assad berät, der zu Terroranschlägen hier in Europa aufruft, der hält natürlich auch solche Reden im Deutschen Bundestag.
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Jetzt kommen wir mal wieder zum Kern, nämlich zu dem heutigen Gesetzentwurf, den wir beraten und der – ja, natürlich – ein Kompromiss ist. Kompromisse sind mühsam, sind manchmal auch schmerzhaft. Häufig fehlt es auch nicht an Kritikern. Das wird auch die heutige Debatte zeigen. Aber Kompromisse sind eben auch der Kitt unserer Gesellschaft, weil sie Dinge zusammenführen, die uns üblicherweise trennen. Deshalb ist das etwas ganz Wesentliches für eine Demokratie. Nur Populisten, meine Damen und Herren, kennen keine Kompromisse, sondern haben für alles immer Maximallösungen.
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Diese Koalition aus CDU, CSU und SPD hat jedenfalls mit dem heute vorgelegten Gesetzentwurf unter Beweis gestellt, dass sie zu tragfähigen Kompromissen in der Lage ist, auch dann, wenn ein Thema – wie der Familiennachzug – so konträr, so emotional und teilweise auch so unversöhnlich in der Öffentlichkeit diskutiert wird.
Deshalb sage ich auch den Kritikern der hier vorgelegten Lösung ganz deutlich: Ohne diesen Kompromiss würden wir uns doch noch wie am Anfang des Jahres in den Schützengräben befinden, und kein Kind hätte in den nächsten Wochen und Monaten die reelle Möglichkeit, seine Eltern wieder in die Arme zu schließen. Deshalb werden wir uns diesen Kompromiss auch nicht schlechtreden lassen, meine Damen und Herren.
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Dieses Gesetz ist auf der einen Seite ein Akt der Humanität. Schon deshalb, finde ich, ist es ein gutes Gesetz. Es sorgt dafür, dass Kinder wieder zu ihren Eltern kommen, dass Ehegatten nicht auf Dauer getrennt werden. Es verwirklicht eigentlich das, was überall auf der Welt gilt, nämlich: Kinder gehören zu ihren Eltern, genauso wie Ehefrau und Ehemann zusammengehören.
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Und ja, wir werden in den nächsten Wochen mit denjenigen beginnen, die es am nötigsten haben: mit den Kindern, mit Erkrankten und mit Familien, die besonders lange auf ein Wiedersehen warten. Und das ist auch gut so, meine Damen und Herren.
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Aber dieses Gesetz löst auf der anderen Seite auch noch ein anderes Versprechen ein. Es sorgt nämlich für Ordnung und Steuerung bei der Familienzusammenführung. 1 000 Menschen pro Monat werden zusammengeführt. Das sorgt für Planbarkeit gerade in unseren Kommunen, die sich um die Flüchtlinge kümmern und für Plätze in Kindergärten und Schulen sorgen. Jeder weiß jetzt, wie viele kommen. Ja, 1 000 Frauen und Kinder werden ein Land mit über 80 Millionen Einwohnern nicht vor unlösbare Aufgaben stellen. Aber wer meint, das gehe ohne jegliche Planbarkeit, den möchte ich dann doch noch einmal an überfüllte Turnhallen und Zeltstädte im Winter 2015/2016 erinnern, als genau diese Planbarkeit fehlte. Deshalb ist es auch gut, dass es in diesem Gesetz feste Zahlen gibt. Das ist übrigens nicht Willkür, wie manche von der Opposition meinen, sondern das ist verlässliche und berechenbare Politik. Ohne Steuerung und Ordnung ist auf Dauer eine humanitäre Flüchtlingspolitik überhaupt nicht denkbar.
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Ich möchte bereits jetzt all den Behörden und ihren Mitarbeitern danken, die sich in den nächsten Wochen und Monaten daranmachen werden, dieses Gesetz umzusetzen, den Botschaften und Konsulaten, die für die Visaerteilung bei der Familienzusammenführung verantwortlich sind, dem Bundesverwaltungsamt, das die entsprechenden Auswahlentscheidungen trifft, den Ausländerbehörden, die ihre Stellungnahmen dazu abgeben. Ich weiß: All diese Behörden werden engagiert ihre Arbeit tun. Sie werden durch ihre Arbeit übrigens dann auch dafür sorgen, dass wir am Ende der Legislaturperiode feststellen: Es gab im Vorfeld dieses Gesetzes viel Lärm. Aber das war viel Lärm um nichts. Denn am Ende werden wir die Familienzusammenführung ruhig, geordnet und human abgearbeitet haben.
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Zu diesen gut funktionierenden Behörden gehört auch – Herr Minister, da haben Sie recht – ein gut funktionierendes BAMF. Insofern haben Sie uns an Ihrer Seite, wenn es darum geht, die Stellen dort zu entfristen. Das ist eine Selbstverständlichkeit.
Recht herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist Stephan Thomae, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lischka, in einem Punkt kann man Ihnen nicht widersprechen: Es gab in der Tat im Vorfeld des heute vorliegenden Gesetzentwurfs viel Lärm, und Sie haben auch recht: Es war viel Lärm um nichts. Denn das, was Sie uns vorlegen, ist in der Tat ein sehr ernüchterndes Resultat Ihrer Schaukämpfe, die Sie zum Teil auf offener Bühne ausgetragen haben.
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Es gab viel Theaterdonner. Aber der von Ihnen errungene Kompromiss, den Sie sehr loben, überzeugt nicht. Zum einen ist da weiterhin das Problem der Kontingentierung. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Auch die Freien Demokraten halten es für richtig, den Familiennachzug zu begrenzen. Wir sind nicht für einen uneingeschränkten Familiennachzug. Aber es auf eine Zahl festzulegen, ist und bleibt falsch. Deswegen bleiben wir dabei, dass ein Sachgrund dazu gefunden werden muss, wer Eingang finden kann, wer die Familie nachholen kann und wer eben nicht. Das ist doch die richtige Lösung und nicht die Festlegung auf eine Zahl.
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Deswegen gab es diesen Theaterdonner, gab es diesen Schaukampf auf offener Bühne.
1 000 pro Monat! Dann gab es Diskussionen darüber: Heißt 1 000 pro Monat 12 000 pro Jahr – um solche Dinge haben Sie sich hier gezankt –, und was ist, wenn das Kontingent in einem Monat nicht ausgeschöpft wird? Kann es sozusagen übertragen werden auf den Folgemonat? Das waren die Probleme, mit denen Sie sich befasst haben. Dabei ist aber das eigentliche Problem immer außer Betracht geblieben: Wie wollen Sie es denn priorisieren, Herr Minister? Das bleibt doch das eigentliche Problem. Aktuell – Stand 31. März 2018 – liegen ungefähr 26 000 Anträge auf Familiennachzug vor. Das heißt, wenn Sie auf 1 000 pro Monat kontingentieren, sind schon jetzt – je nachdem, wer in der Amtsstube als Letzter die Nummer zieht – bis zu über zwei Jahre Wartezeit zu gewärtigen. Das kann bei schweren Krankheitsfällen, bei minderjährigen Kindern ein viel zu langer Zeitraum sein. Das einzig Richtige wäre, zu sagen: Wir nehmen einen Sachgrund und schauen, wer ein echter Härtefall ist, und der kann eben diesen Antrag stellen.
Da muss man auch gar keine Angst haben, dass es irgendwie ungeordnet wäre, dass man von Nachzüglern überschwemmt würde. Denn das ist doch ein geordnetes Verfahren: Es muss ein Antrag gestellt werden. Der Antrag muss bearbeitet werden. Er muss bewilligt werden. Dann muss ein Visum erteilt werden. Dann erfolgt die Einreise. Das dauert doch ohnehin Wochen oder gar Monate, selbst wenn Sie es vom Bundesverwaltungsamt machen lassen. Da ist doch nicht zu erwarten, dass wir überschwemmt werden. Von daher hätte ich gar keine Angst davor, den Sachgrund zu wählen und nicht diese Kunstfigur der bloßen, in meinen Augen immer noch aus der Luft gegriffenen Zahl.
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Einen zweiten Punkt möchte ich noch an die SPD richten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben ja nun wirklich beim Thema „Nachzug für ehemalige Gefährder“ ein denkwürdiges Schauspiel geliefert. Ich habe mich immer gefragt: Wovon sprechen die eigentlich? Ihre Ministerin hat den Familiennachzug für ehemalige Gefährder in einer bestimmten Phase zur Bedingung für die Zustimmung zu diesem Gesetz gemacht. Sie haben es durch das Kabinett durchgeboxt. Das Bundeskanzleramt und die Union haben zunächst einmal nachgegeben, um den Koalitionsfrieden nicht noch mehr zu gefährden. Und dann fordern Sie selbst wieder die Streichung dieses Nachzugsrechtes für ehemalige Gefährder. Dem gibt Herr Seehofer nach, und dann feiern Sie sich dafür, dass Sie eine Streichung für etwas durchgesetzt haben, was Sie selbst am Anfang gefordert haben. Das versteht doch kein Mensch mehr und zeigt Ihre Orientierungslosigkeit.
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Dabei läge die Lösung doch eigentlich auf der Hand. Dass Gefährder Familien grundsätzlich nicht nachholen können, ist doch völlig klar; die wollen wir ja loswerden. Aber es kann in der Tat eine Fallgruppe geben, bei der es anders ist. Jetzt komme ich zu den ehemaligen Gefährdern, bei denen man fragt: Was ist das eigentlich? Ein Gefährder ist jemand, der zunächst einmal noch gar keine Straftat begangen hat, der aufgrund einer Prognose gefährlich erschien und bei dem man überlegt, ob er vielleicht eine Straftat begehen könnte. Jetzt kann es schon mal sein, dass man hinterher feststellt: Da haben wir uns vertan; bei der Prognose haben wir uns geirrt; den gruppieren wir sozusagen wieder aus, weil er gar nicht wirklich gefährlich war. – Das wäre sozusagen ein ehemaliger Gefährder. Dass so jemand einen Antrag stellen kann und dass dieser Antrag genauso zu prüfen ist wie jeder andere auch, leuchtet mir eigentlich ein. Deswegen halten wir Ihren Entwurf weiterhin für in zu vielen Punkten misslungen.
Wenn Sie es uns schon nicht glauben – Herr Präsident, damit komme ich zum Schluss –, dann hören Sie auf den Normenkontrollrat, der in seltener Deutlichkeit Ihren Entwurf kritisiert hat, ihm die Praxistauglichkeit abgesprochen hat und erhebliche Unsicherheiten im Vollzug vorhersagt. Deswegen stellen wir Ihnen unseren Vorschlag weiterhin zur Beratung anheim. Wir wollen ihn mit Ihnen konstruktiv beraten und hoffen, dass wir in die parlamentarische Beratung unsere Punkte einfließen lassen können.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung will in der Tat heute den Rechtsanspruch auf Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte abschaffen. Ihr Gesetzentwurf sieht eine Ermessensregelung für höchstens 1 000 Angehörige im Monat vor. Damit zwingen Sie Zigtausende auf Jahre hinaus in eine humanitäre Katastrophe. Das ist schlicht und einfach grausam.
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Die Linke fordert dagegen in einem eigenen Gesetzentwurf, das Recht auf ein gemeinsames Familienleben für alle Flüchtlinge uneingeschränkt wiederherzustellen.
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Meine Damen und Herren, begonnen hat alles mit Panikmache. Eine Kostprobe haben Sie eben von Herrn Baumann aus der rechten Parallelgesellschaft der Hetzer gehört.
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Der frühere Innenminister behauptete ebenfalls, die Anzahl der Flüchtlinge würde durch den Familiennachzug verdoppelt oder verdreifacht werden. Ich sage Ihnen hier einfach: Das ist falsch. Richtig ist: 50 000 bis 60 000 Angehörige könnten kommen, wenn ihnen der Nachzug erlaubt wäre. Diese Zahl ergibt sich aus Statistiken der Bundesregierung und bisherigen Erfahrungen, und sie wird durch eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bestätigt.
Meine Damen und Herren, versetzen Sie sich doch einfach mal in die Lage der Betroffenen, deren Angehörige in elenden Flüchtlingslagern im Libanon oder in der Türkei hausen. Kinderarbeit anstatt Schulbesuch ist dort an der Tagesordnung. Mädchen laufen Gefahr, zur Prostitution gezwungen zu werden. Durch Familiennachzug würde diesen Menschen ein legaler und sicherer Weg ermöglicht. Doch so werden die Angehörigen wieder auf lebensgefährliche Fluchtwege gezwungen. Ich habe Ihnen schon im vorigen Jahr hier das Schicksal einer syrischen Mutter geschildert, die beim Versuch, zu ihrem Ehemann nach Deutschland zu gelangen, mit ihren beiden Kindern in der Ägäis ertrank.
Meine Damen und Herren, der Familiennachzug ist auch aus Gründen der Integration geboten.
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Solange sich Geflüchtete um ihre Ehepartner, Kinder oder Eltern sorgen müssen, können sie kaum innerlich in Deutschland ankommen. Familiennachzug über Jahre hinweg zu verbieten, ist Integrationsverweigerung von oben und vor allen Dingen pure Abschreckungspolitik, und das muss endlich aufhören.
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Im Grundgesetz heißt es: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“ Das gilt für alle, meine Damen und Herren. Beschämend ist hier das Grundverständnis der Großen Koalition, abstoßend sind die Forderungen Familiennachzug nur für „Biodeutsche“ auf der rechten Seite dieses Hauses. Die Verweigerung des Familiennachzugs verstößt auch gegen die Europäische Menschenrechts- und die UN-Kinderrechtskonvention. Das Deutsche Kinderhilfswerk warnt daher in einem Rechtsgutachten davor – ich zitiere –,
… die Grund- und Menschenrechte sehenden Auges zur Disposition zu stellen und damit in Kauf zu nehmen, dass Menschen – und insbesondere Kinder – in ihren Rechten verletzt werden.
Meine Damen und Herren, es ist ein Irrglaube, zu meinen, dass subsidiär – also vorübergehend für ein Jahr – geschützte Flüchtlinge tatsächlich zurückgehen. Wir reden hier vor allem von syrischen Flüchtlingen, die aus Kriegsgebieten kommen. Jeder hier weiß, dass sie über Jahre hinaus nicht zurückkehren können. Vor diesem Hintergrund ist es besonders zynisch, jetzt keinen Familiennachzug zuzulassen.
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Subsidiär Geschützte gelten international als Schutzberechtigte wie Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Deswegen muss man ihnen auch die gleichen Rechte gewähren. Alles andere ist schlichtweg Unrecht.
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Die Regierungskoalition will eine Obergrenze von maximal 1 000 Nachzügen im Monat. „Grund- und menschenrechtswidrig“ nannte das Deutsche Institut für Menschenrechte eine solche Kontingentregelung bei der Anhörung vor dem Hauptausschuss des Bundestages. Selbst bei voller Ausschöpfung des willkürlichen Kontingents von 1 000 Nachzügen würde es mindestens fünf Jahre dauern – wenn man die Zeit des Asylverfahrens dazuzählt, noch länger –, bis sie alle ihre Familienangehörigen hier nach Deutschland herholen könnten.
Auch die Härtefallregelung ist ein reines Placebo: Innerhalb von zwei Jahren hat es gerade mal 160 Fälle gegeben, in denen Visa erteilt wurden. Ich frage Sie: Ist nicht jeder Familiennachzugsfall ein Härtefall?
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Oder wie wollen Sie das Leben in Flüchtlingslagern und die Trennung von engsten Angehörigen sonst bezeichnen?
Mit unserer Kritik am unmenschlichen Gesetzentwurf der Bundesregierung wissen wir uns im Übrigen einig mit den Kirchen, mit Wohlfahrtsverbänden, mit NGOs, mit Flüchtlingsorganisationen. Es gibt nur eine humanitäre Lösung, und die lautet: Grund- und Menschenrechte dürfen nicht von der Herkunft abhängig gemacht werden.
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Jeder Mensch hat ein Recht auf seine Familie, und das muss auch für alle Flüchtlingsgruppen gelten.
Zum Schluss möchte ich doch noch mal an die SPD appellieren. Ich weiß, dass viele Abgeordnete der SPD im Grunde genommen diesen Entwurf ablehnen. Und ich finde es feige, wenn Sie bei der namentlichen Abstimmung am Schluss diesem Antrag nicht Ihr Nein entgegenbrüllen; denn das ist wirklich geboten. Ich kann wirklich nicht verstehen, wieso ausgerechnet linke Sozialdemokraten einem so schändlichen Gesetz zustimmen möchten.
Ich danke Ihnen.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Luise Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf ist schmerzhaft, aber die Debatte hier, die ist es eben auch. Wir haben es gerade gehört: viel Lärm um nichts, Theater in der Koalition. Ich meine, wir reden hier über Menschen.
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Wir reden hier zum übergroßen Teil, Herr Seehofer, über syrische Flüchtlinge, die von diesem Recht jetzt ausgeschlossen sind. Wir reden vor allen Dingen auch über Kinder.
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Wenn Sie sich hierhinstellen, Herr Minister Seehofer, und von einem eingeschränkten Schutz sprechen, dann suggerieren Sie, dass dieser Schutz von Natur aus eingeschränkt und damit weniger wert als der der Genfer Flüchtlingskonvention ist. Aber das ist mitnichten so.
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Er ist eingeschränkt, weil immer wieder an diesem Schutzstatus rumgeschraubt und er immer wieder eingeschränkt wird.
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Er ist es nicht von Natur aus; er gehört zum internationalen Schutz und müsste gleichwertig behandelt werden, weil auch die Lebensrealitäten der Menschen, die das betrifft, gleichwertig sind. Sie haben alle dieselben Hintergründe, und sie haben auch alle dieselben Herausforderungen, mit denen sie hier nach ihrer Ankunft in Deutschland umgehen müssen.
Nicht nur, dass Sie mit diesem Gesetz ein fundamentales Grundrecht mit Füßen treten, für das wir alle hier wirklich bis zum letzten Atemzug kämpfen würden, wenn es uns selbst beträfe, nämlich das Recht darauf, mit seinen Kindern, seinen Geschwistern oder seinem Partner in Würde und Frieden leben zu können –
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nicht nur das. Indem Sie ein Grundrecht auf 1 000 Menschen pro Monat kontingentieren, verändern Sie auch den Charakter des Grundgesetzes.
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Sie verwandeln ein zentrales Grundrecht in ein Gnadenrecht, in ein Recht, das eben nicht mehr universell gilt, sondern für wenige, einige Ausnahmen, und da gibt es überhaupt nichts zu beschönigen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Grundrecht ist erst mal nur ein Bekenntnis, bis es in Anspruch genommen wird. Erst dann beweist sich die Stärke eines Grundrechts und vor allen Dingen, wie ernst es denjenigen ist, die es verteidigen sollten.
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Deshalb kommen Sie aus dieser Nummer nicht raus, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD. Mit der Einbringung dieses Gesetzes haben Sie sich entschieden. Sie haben ein spezielles Grundrecht, nämlich das in Artikel 6, nach dem Ehe und Familie unter besonderem Schutze der staatlichen Ordnung stehen, beschnitten und damit die Glaubwürdigkeit von universell geltenden Rechten insgesamt beschädigt.
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Dieses Gesetz ist nicht einfach nur Papier. Es trägt Namen – Namen von so vielen Menschen, denen Sie, liebe Sozialdemokraten und liebe Union, Versprechen gemacht haben. Als Sie den Familiennachzug für subsidiär Geschützte in der vergangenen Legislatur ausgesetzt haben, da hieß es gerade aus sozialdemokratischen Kreisen, die Gruppe der subsidiär Geschützten sei besonders klein, betreffe gar nicht so viele Menschen, und außerdem sei es nur für zwei Jahre, und zusätzlich gebe es auch noch eine Härtefallregelung, die Ausnahmen zulasse. Aber die Realität – das wissen wir heute –, die sieht eben ganz anders aus: Aus wenigen wurden viele, da immer mehr den subsidiären Schutz bekamen, und die Härtefallregelung, auf die konnten sich in der Vergangenheit keine hundert Menschen berufen. Und nun gehen Sie den finalen Schritt und schaffen dieses Grundrecht für subsidiär Geschützte dauerhaft ab. Es ist wirklich unfassbar, und eigentlich fehlen einem die Worte;
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denn wir haben große Zweifel, ob es überhaupt gelingen kann, diesen 1 000 Menschen den Zugang zu diesem Recht zu verschaffen.
Es gibt viel an diesem Gesetz zu kritisieren, zum Beispiel wie Sie eigentlich die Auswahl der Menschen, die in dieses Kontingent fallen sollen, treffen wollen
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und was Sie eigentlich unter „besonders schwere Fälle“ verstehen; meine Kollegin Ulla Jelpke hat darauf hingewiesen.
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Jede Familientrennung ist ein besonders schwerer Fall.
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Ich finde, man sollte so was klären, bevor man so was in ein Gesetz schreibt.
Ihr Gesetz wird die Integration von Menschen dauerhaft behindern. Gerade gestern noch hat sich die Organisation Ärzte ohne Grenzen, die weltweit für Opfer von Kriegen und Krisen und Katastrophen einsteht, an den Innenausschuss gewandt und auf ein Modellprojekt aufmerksam gemacht, das sie mit einem lokalen Krankenhaus in Schweinfurt durchführt. Sie hat alle Flüchtlinge, die sie dort in der Betreuung hat, nach ihren besonderen Stressoren gefragt, danach, was sie besonders belastet. Der übergroße Teil sagt: Es ist die Trennung der Familie oder die Angst davor, von seiner Familie getrennt zu werden, die mich lähmt und mich fertigmacht – jeden Tag aufs Neue.
Dieses Gesetz ist auch schlecht, weil es komplett zukunftsvergessen ist. Denn was macht es mit Kindern, die ihre Eltern nicht bei sich haben und hier leben?
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Was macht es mit Eltern, die sich aufteilen müssen – Mutter mit Sohn in der Türkei, Vater mit Tochter hier in Deutschland –, weil Sie den Geschwisternachzug komplett versagen? Und dann erwarten Sie auch noch, dass diese Menschen möglichst zügig alles vergessen, verlässlich am Deutschkurs teilnehmen und gegen alle gesetzlichen Widerstände schnell Arbeit finden! Aber mit welcher Perspektive denn eigentlich? Was sollte denn Antrieb sein für Eltern, die sich doch gerade deswegen auf den Weg gemacht haben und geflohen sind, weil sie nicht wollten, dass ihre Kinder über Minenfelder laufen müssen, zum Militär und in den Krieg gezwungen werden oder jeden Tag in Schutzbunkern um ihr Leben bangen müssen?
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Mir stockt wirklich der Atem, wenn ich auch nur versuche, mich in so eine Situation hineinzuversetzen. Das können Sie sich vielleicht schönreden; Sie haben es heute hier getan. Unsere Zustimmung wird dieser Gesetzentwurf nicht bekommen. Das können wir schlichtweg mit unserem Gewissen nicht vereinbaren.
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Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Stephan Harbarth, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem Gesetz, das wir heute beraten, kommt ein politisches Ringen an sein Ende, das uns über zwei Jahre begleitet hat, nämlich die Frage, wie wir den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten regeln. Wenn wir allein nach unserem Herzen entscheiden könnten, dann würden wir gerne jedem Menschen helfen, der sich ein besseres Leben wünscht,
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dann würden wir gerne jeder Familie helfen, zueinanderzukommen. Aber es gilt das, was der seinerzeitige Bundespräsident Joachim Gauck so vortrefflich auf den Punkt gebracht hat: „Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich.“ Deshalb ist dieser Gesetzentwurf ein klassischer Kompromiss. Er ist ein Kompromiss, der nicht die Augen verschließt vor der Not mancher Familie, der aber zugleich unseren Anspruch umsetzt, Migration zu steuern und auf ein gesellschaftlich akzeptiertes Maß zu begrenzen.
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Ich möchte sehr dazu raten – mir scheint dies in der Diskussion zu wenig Beachtung zu finden –, die Diskussion um den Familiennachzug nicht nur im Rückblick auf diejenigen zu führen, die in Deutschland sind und denen bereits subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, sondern die Diskussion auch mit Blick in die Zukunft zu führen, das heißt mit Blick auf diejenigen, die entschlossen sind, sich auf den Weg nach Europa zu machen, und für die sich die Frage stellt, wo sie am besten einen Antrag stellen.
Ein unbeschränkter Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten wäre gerade für diesen Personenkreis ein ganz wesentlicher Anreiz für eine Antragstellung in Deutschland. Denn zahlreiche unserer Nachbarn haben diesen Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten inzwischen eingeschränkt oder hatten einen solchen Nachzug nie. Deshalb würde dies die Unwuchten in der Flüchtlingsverteilung in Europa weiter verstärken, und genau das wollen wir nicht.
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Die Große Koalition hat hart und erfolgreich dafür gearbeitet, den Zustrom von Migranten nach Deutschland deutlich zu senken. Wir wollen sicherstellen, dass die Zahl der Flüchtlinge dauerhaft niedrig bleibt und dass sie sich an der Integrationskraft unseres Landes orientiert. Genau deshalb wollen wir nicht, dass diese Zielsetzung konterkariert wird durch einen unbeschränkten Nachzug, der eine Magnetwirkung innerhalb Europas entfaltet.
Die kommunalen Spitzenverbände haben immer wieder dargelegt, wie enorm die Belastungen für die Kommunen durch den Familiennachzug zu denjenigen Schutzberechtigten bereits sind, die unter die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention fallen. Sie haben dementsprechend mehr als einmal an den Deutschen Bundestag appelliert, den Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten dauerhaft auszusetzen, und diesem Ansinnen verschließen wir uns nicht.
Für CDU und CSU muss sich der Familiennachzug nach unseren Aufnahmemöglichkeiten richten. Es ist deshalb richtig, dass bei der Auswahlentscheidung künftig auch Integrationsbemühungen gewürdigt werden. Für meine Fraktion ist klar: Leistung muss sich lohnen. Wer sich anstrengt, wer fleißig ist, wer Deutsch lernt,
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wer seinen Lebensunterhalt durch Arbeit sichert, wer bereit ist, sich in dieses Land kulturell zu integrieren, der muss beim Nachzug seiner Familie besser gestellt werden als derjenige, der all dies mit Inbrunst ablehnt.
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Herr Kollege Harbarth, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?
Sehr gerne.
Herr Dr. Harbarth, ist Ihnen bekannt, dass insbesondere die Union die Einschränkung durchgesetzt hat, dass bestimmte Personen, unter anderem die große Zahl der Afghanen, nicht an Integrationskursen teilnehmen dürfen?
Für uns, Frau Kollegin, ist der Schutz, den Flüchtlinge in diesem Land finden, ein Schutz auf Zeit. Für uns ist die zentrale Frage zu Beginn des Aufenthalts: Wer hat in diesem Land eine Perspektive, dauerhaft bleiben zu können, und wer hat eine Perspektive, dieses Land rasch verlassen zu müssen?
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Bei denjenigen, die dieses Land rasch verlassen müssen, geht es nicht um Integration, sondern es geht darum, sie rasch in ihre Heimatländer zurückzuführen.
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Wenn Sie berücksichtigen, wie das Auswärtige Amt die Sicherheitslage in Afghanistan beschreibt, dann stellen Sie fest, dass es bei der Gruppe der Afghanen ganz entscheidend darum geht, dass wir unsere Bemühungen verstärken, sie wieder in ihre Heimat zurückzuführen, statt sie in unser Land zu integrieren.
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Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, ein Wort zum viel diskutierten Thema des Familiennachzugs für Gefährder zu sagen, das Gegenstand eines Änderungsantrags sein wird, auf den sich die Koalitionsfraktionen bereits verständigt haben. Die Haltung der Union war von Anfang an klar: Es kann keinen Familiennachzug für Gefährder geben. Wir wollen alles unternehmen, damit Gefährder Deutschland verlassen müssen. Wir werden ganz gewiss gegen ihre Ausweisung nicht noch das Hindernis einer vorhergehenden Familienzusammenführung auftürmen.
Bei der Ausweisung wollen wir im Übrigen so weit gehen, dass wir die gesetzlichen Möglichkeiten schaffen, um sogenannten Doppelstaatlern die deutsche Staatsangehörigkeit zu entziehen. Der Staat muss hier mit aller Konsequenz vorgehen. Wer sich in einem solchen Ausmaß gegen die Werte unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung gestellt hat, dass er im Ausland für eine Terrororganisation kämpft, dem muss klar sein, dass es keinen Weg zurück nach Deutschland geben kann bzw. dass er seinen Platz in der deutschen Gesellschaft verwirkt hat.
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Daher ist der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit bei Deutschen mit mehreren Staatsangehörigkeiten, die im Ausland für eine terroristische Vereinigung kämpfen und gekämpft haben, wichtig und im Koalitionsvertrag verankert. Bei Gefährdern geht es uns nicht darum, sie in unser Land zu integrieren, es geht uns nicht um Familiennachzug, sondern es geht uns darum, sie im weitest möglichen Umfang und so schnell wie möglich aus unserem Land herauszubekommen.
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Meine Damen und Herren, in einer humanitären Ausnahmesituation hat Deutschland im Herbst 2015 mehr Flüchtlinge aufgenommen als der Rest Europas zusammen. Wir haben es geschafft, durch eine Vielzahl von Maßnahmen den Zustrom in der Zeit danach massiv zu reduzieren. Wir wollen, dass dies dauerhaft so bleibt, und uns an der Integrationsfähigkeit unseres Landes orientieren.
Bei den vielen Schritten, die wir ergriffen haben, ist derjenige, um den es heute geht, ein ganz wichtiger. Er ist ein ganz wichtiger Baustein in unserem Bemühen, Migration zu steuern und auf ein Maß zu reduzieren, das gesellschaftlich akzeptiert wird. Deshalb werden wir dieses parlamentarische Verfahren nun mit großer Entschlossenheit vorantreiben.
Vielen herzlichen Dank.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Sönke Rix, SPD.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal ist klarzustellen: Dieser Gesetzentwurf ist ein Kompromiss; Burkhard Lischka hat darauf schon sehr deutlich hingewiesen. Demokratie lebt von Kompromissen. Dieser Kompromiss ist auf der Basis einer Mehrheit entstanden, die jetzt hier die Regierungskoalition stellt. Andere Mehrheiten gibt es nicht, die eine Regierung stellen könnten. Deshalb müssen wir mit dieser Mehrheit arbeiten, und deshalb ist dieser Kompromiss auch ein tragfähiger Kompromiss, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Noch mal: Es ist kein Gesetz, das die Einwanderung generell regelt. Es ist auch kein Gesetz, das generell den Zuzug von Flüchtlingen reduziert oder eindämmt. Es ist kein generelles Zuwanderungs-, Einwanderungs- oder Flüchtlingsgesetz. Nein, es regelt den Nachzug von Familienangehörigen von besonders geschützten Flüchtlingen – nicht mehr und nicht weniger, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir sollten auch nicht suggerieren, wir würden hier andere Dinge beschließen.
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Es ist ein Kompromiss – ich habe darauf hingewiesen –; aber es ist aus Sicht der Sozialdemokraten auch ein Fortschritt gegenüber der aktuellen Regelung. Die Mehrheit, um den Familiennachzug weiterhin auszusetzen, war hier im Parlament auch schon vor der Bildung der Regierungskoalition vorhanden. Wir sind froh, dass wir jetzt wenigstens einem Teil von Familien die Möglichkeit geben können, geregelt nachzuziehen.
Außerdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird man, wenn man den Gesetzentwurf genauer betrachtet, darauf stoßen, dass die Behörden, insbesondere das Bundesverwaltungsamt, jetzt vor großen Herausforderungen stehen; denn es bedarf spezieller Regelungen und Herangehensweisen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das Bundesinnenministerium diese Herausforderungen meistern wird. Aber es wird eine Herkulesaufgabe sein, diese Regelungen umzusetzen.
Ich will an dieser Stelle noch einmal darauf hinweisen: Es ziehen jetzt nicht nur die Familien und Flüchtlinge nach, die über dieses Gesetz nachziehen sollen. Nein, insgesamt haben bereits sehr viele Familien die Flucht in Richtung Deutschland angetreten, sind mittlerweile hier angekommen, und es werden auch weiterhin welche hierherziehen. Umso wichtiger ist es, dass wir dem eine vernünftige Integrationspolitik als Folgeleistung entgegensetzen. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass Zugang zu Sprache, Bildung und Betreuung sehr, sehr wichtige Angelegenheiten sind.
Wir versuchen, über die Familienpolitik die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen. Denn Integrationsmaßnahmen im Rahmen einer vernünftigen Familienpolitik umzusetzen, bedeutet automatisch auch eine vernünftige Integrationspolitik.
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Wir erhöhen die Qualität in den Kitas. Wir werden weiterhin das Programm „Sprach-Kitas“ fördern und weiterlaufen lassen. Wir werden weiterhin die Anzahl von Plätzen in Kindertagesstätten erhöhen, um damit auch einen Beitrag zur Integration und zur Teilhabe von Flüchtlingen und deren Familien zu leisten. Wir werden auch die ehrenamtliche Unterstützung, die wir in der Flüchtlingsarbeit brauchen, stärker unterstützen. Das Programm „Hilfe für Helfer“ werden wir stark erweitern. Eine vernünftige Familienpolitik – ich sagte es bereits – ist ein wesentlicher Schritt zur Integration und damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch ein wichtiger Beitrag zum Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.
Herzlichen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Linda Teuteberg, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Mein Vorredner, Herr Kollege Rix, hat es gerade auch schon angesprochen, aber ich möchte es noch einmal konkreter machen: Manche hier wollen glauben machen, wir würden über den Familiennachzug von Flüchtlingen im Allgemeinen sprechen. Aber – und das ist nun mal wichtig festzustellen –: Familiennachzug findet statt, und zwar in erheblichem Umfang. In den letzten Jahren sind jeweils über 100 000 Menschen pro Jahr auf diesem Weg nach Deutschland gekommen.
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Als Angehörige von Menschen, die hier politisches Asyl erhalten haben, oder als Flüchtlinge, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt sind. Das ist gut so, und das ist ein enormer humanitärer Kraftakt, den dieses Land bereits leistet.
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Einige wollen einen anderen Eindruck erwecken, und zwar die Konservativen, die den Eindruck erwecken wollen, sie würden den Familiennachzug vollständig unterbinden und stoppen, oder die linke Seite, die glauben machen will, dass hier generell eine Familienzusammenführung verhindert werden solle. Das ist beides eine krasse Verzerrung der Wirklichkeit, die eine vernünftige Debatte verhindert.
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Es geht um eine vernünftige Begrenzung in den Fällen, in denen nur ein subsidiärer Schutzstatus besteht und die Bleibeperspektive also ohnehin gering ist. Das betrifft gegenwärtig gut ein Drittel der in Deutschland anerkannten Flüchtlinge. Hier eine Begrenzung vorzusehen, ist doppelt sinnvoll: zum einen, um die Belastungen für Länder und Kommunen ein Stück weit zu begrenzen, die in den letzten Jahren bereits Außerordentliches geleistet haben, und zum anderen, um die Migrationsbewegungen zu reduzieren, um Menschen nicht die falsche Hoffnung zu machen, sie könnten allein den gefährlichen Weg nach Deutschland antreten und dann ihre Familien nachholen. Auch das ist ein Beitrag, Fluchtbewegungen ein Stück weit in den Griff zu bekommen.
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Dieses Ziel ist auch das unsere. Wir haben aber für die Umsetzung andere Vorstellungen und deshalb früh einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt. Besonders kritisch ist die künstliche Obergrenze von 1 000 Personen pro Monat. Härtefälle lassen sich nicht kontingentieren; das zeigt Ihr Gesetzentwurf ja auch sehr deutlich; denn Sie nennen Kriterien, die zum Nachzug berechtigten, aber Sie erklären nicht, wie entschieden werden soll, wenn die zulässige Grenze erreicht ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht: Der Gesetzgeber hat Gestaltungsspielraum beim Familiennachzug. Liebe Kollegen von den Grünen, Sie entwerten sogar den besonderen Stellenwert unseres Asylrechts, wenn Sie diese Abstufung rechtlicher Bindung nicht anerkennen.
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Wir Freie Demokraten wollen diesen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers rechtsstaatlich und vernünftig ausfüllen. Dass dieses Thema – obwohl es bei allem Streit um Zahlen offenbar um keine so ganz großen Zahlen geht – so viel Symbolkraft hat, liegt genau an dem erschütterten Vertrauen in die Steuerungs- und Gestaltungsfähigkeit begründet. Unsere Verantwortung ist es, zu steuern, was zu steuern ist. Wir haben dafür einen Vorschlag gemacht – ohne Obergrenze für Härtefälle, aber auch ohne Illusionen über die Herausforderungen auf dem Weg zu gelingender Integration.
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Ich hoffe – ich lade Sie alle dazu ein –, dass wir hier noch zu besseren Lösungen kommen.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Frauke Petry.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der massive Kontrollverlust in der Frage der Migration seit 2015 ist bis heute unvergessen. Die Überlastung der Behörden wurde damals vehement negiert, wird heute großzügig zugegeben und mündete in dem sogenannten BAMF-Skandal. Drei Jahre also, in denen Regierung, Fraktionen und Behörden aus ihren Fehlern hätten lernen können, drei Jahre, in denen die Regierung die Verunsicherung der Bürger hätte aufnehmen müssen, um striktere Regeln zu entwerfen, auch bezüglich des Familiennachzugs, der, meine Damen und Herren – das ist deutlich geworden – keine Petitesse ist, sondern eine konstant anhaltende Form der Migration und eben nicht immer der legalen.
Herr Minister Seehofer, Sie wissen: Es waren drei verlorene Jahre. Langfristige Szenarien aber kennt Ihr Gesetzentwurf nicht. Er entpuppt sich stattdessen als eine Gesetzesvorlage der Unwägbarkeiten, deren Annahmen der Zahlen subsidiär Schutzberechtigter ausgerechnet auf den Angaben des BAMF beruhen. Empfinden Sie dies nicht selbst als Treppenwitz?
Aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage geht hervor, dass die Regierung in weiten Teilen unwissend ist. Zitat: „Es liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse dazu vor“, nicht zur Zahl der Nachzügler, ebenso wenig zu Belastungen von Staat und Gesellschaft, die anfallen werden. Der Vorschlag versucht auch gar nicht, diese Lücken zu verschleiern; das ist immerhin ehrlich. Es ist nicht zu schätzen – Zitat –, in welcher Anzahl unter den Schutzberechtigten bereits jetzt Angehörige der Kernfamilie sind. Und so weiter und so fort.
Auch der Personalaufwand kann nicht beziffert werden. Und während es hier und da um 90 neue Planstellen geht, wird der Personalbedarf bei Behörden als nicht bezifferbar eingeschätzt. Kurzum: Es mögen auf den ersten Blick Details sein, doch sie zeigen die Fahrlässigkeit, mit der hier vorgegangen wird.
Wir sind – auch das wissen wir – EU-weit immer noch inmitten der Migrationskrise. Das heißt, wir arbeiten keine Versäumnisse auf, sondern wir schieben ein neues Gesetz hinterher, ohne die grundsätzlichen Probleme zu klären. Herr Seehofer, wären Sie ehrlich, dann würden Sie einen Gesetzentwurf vorlegen, der erst dann in Kraft tritt, wenn wir die Probleme gelöst haben, wenn wir aufgeklärt haben. Gründlichkeit vor Schnelligkeit – zum Wohle der Bürger.
Danke.
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Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Alexander Throm, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es geht für die Union hier um ein zentrales Gesetzesvorhaben; denn:
Politisches Handeln muss immer auf die Botschaften achten, die es gewollt oder auch ungewollt sendet.
Das sagt Richard Schröder, ehemaliger Fraktionsvorsitzender der SPD in der Volkskammer, Bundestagsabgeordneter, Philosoph und Theologe, langjähriges Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands, also bestimmt ein ganz Unverdächtiger.
Er schreibt weiter:
Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz sollen in ihre Heimatländer zurück. Unverständlich ist, wieso Grüne auf einem Familiennachzug für sie bestehen. Das sendet falsche Botschaften.
Ende des Zitats. Es ist zugegebenermaßen nicht mehr ganz frisch, aus der Hochphase der Jamaika-Verhandlungen, aber damals war die FDP auch noch etwas anders unterwegs, Herr Kollege Thomae. Sie haben dort den starken Mann markiert. Das hört sich heute alles ein bisschen weicher an in dem Gesetzesvorhaben, das letztlich keine Abschaffung des Rechtsanspruches auf Familiennachzug bei subsidiär Schutzberechtigten enthält, sondern lediglich wieder nur eine Prolongierung um zwei Jahre.
Wir senden mit unserem Gesetzentwurf dagegen drei deutliche Botschaften: an unsere Bevölkerung, dass wir dort, wo es möglich ist, den Zuzug begrenzen, an die subsidiär Schutzberechtigten, dass ein Anspruch auf Familiennachzug in Zukunft nicht mehr besteht – das wirkt auch präventiv auf die potenziellen Flüchtlinge –, und an alle, dass Deutschland weiterhin ein Land ist, das humanitäre Hilfe gewährt. Dort, wo es notwendig ist, dort, wo die Not am größten ist, erlauben wir auch bei subsidiär Schutzberechtigten die Zusammenführung der Familien.
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Deutschland hat in der Tat in den letzten Jahren eine große humanitäre Hilfsbereitschaft gezeigt. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich. Schauen wir in unsere Kommunen, Gemeinden hinein, hören wir auf die Klagen der Bürgermeister, Gemeinderäte und Landräte, die sagen, die Grenzen der Aufnahmefähigkeit seien erreicht. Denken wir an unsere Bürgersprechstunden. Zu meiner kommen immer mehr Menschen, Deutsche wie Nichtdeutsche, die schon lange in Deutschland leben, und sagen, sie bekommen keinen Wohnraum mehr. Insofern geht es auch um den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.
Frau Kollegin Amtsberg, wer die Auffassung vertritt, dass es kein Stufenverhältnis zwischen den Schutzberechtigten gibt, der kann zum Schluss nicht zu richtigen Ergebnissen kommen. Selbstverständlich gibt es bei subsidiär Schutzberechtigten – das zeigt das Stufenverhältnis – die Möglichkeit, den Familiennachzug einzuschränken. Wir machen hier nur das, was bis zum Jahr 2015 sowieso gegolten hat. Noch einmal: Bei subsidiär Schutzberechtigten wollen wir den Anspruch auf Familiennachzug nunmehr endgültig abschaffen, Klarheit schaffen und damit auch kein Signal mehr für eine eventuell dauerhafte Bleibeperspektive senden. Aber selbstverständlich – das hat nie jemand bestritten in der Diskussion – müssen wir dort helfen, wo die Not am größten ist. Deswegen schaffen wir ein Kontingent von 1 000 Menschen im Monat, die aus humanitären Gründen nach Deutschland kommen können. Insofern ist das Gesetz auch eine Verbesserung für alle Beteiligten im Vergleich zu den letzten zwei Jahren, als es nämlich gar keinen Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte gegeben hat.
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Jetzt wird gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen, man habe nicht genau geregelt, wie die Priorisierung aussieht, wer letztlich im Rahmen dieses Kontingents von 1 000 Menschen im Monat kommen kann. Ich glaube nicht, dass wir hier im Parlament quasi abstrakt regeln können, welcher Härtefall, welcher humanitäre Grund wichtiger ist als der andere. Deswegen lassen wir bewusst Spielräume, um angemessene, individuelle Ermessensentscheidungen für die menschlichen Einzelschicksale zu ermöglichen. Bei anderen Verfahren, beispielsweise dem Resettlement-Programm des UNHCR, machen wir es in ähnlicher Form.
Herr Kollege Throm, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Baerbock?
Gerne, ja.
Bitte sehr.
Sehr geehrter Herr Throm, ich wollte die Frage vorhin schon Ihrem Kollegen stellen, aber da Sie jetzt erneut darauf herumreiten, dass es ja vollkommen egal sei, wie man diese 1 000 Menschen auswählt, möchte ich auf diesen Punkt doch noch einmal eingehen. Denn das ist genau der Punkt, wo führende deutsche Juristen, wo etliche Verbände in ihren Stellungnahmen auch schon im Innenausschuss darauf hingewiesen haben, dass man damit Recht zu Willkür macht. Sie haben jetzt sogar noch einmal betont, dass Sie das vollkommen in Ordnung finden, wenn man das nicht rechtlich regelt, wenn man keine Kriterien hat, wenn man das Ganze einfach dem Zufall überlässt.
Außerdem haben Sie gesagt, dass es keinen Rechtsanspruch gibt. Das macht die Sache ja noch heftiger,
({0})
weil niemand ein Recht darauf hat, zu klagen, dass sein Kind wirklich ein Härtefall ist, dass sein Kind sonst umkommt. Schauen Sie sich die Härtefallregelung doch einmal an. Frau Kollegin Amtsberg hat ja schon betont, dass es im letzten Jahr überhaupt nur 66 Härtefälle gegeben hat mit den Kriterien, die Sie hier anführen. Meinen Sie, es seien keine Härtefälle, wenn Kleinkinder in der Türkei ohne ihre Eltern sind, wenn Kinder im Kriegsgebiet leben, wo Bomben fallen, wo Giftgasanschläge verübt werden? Sie sagen: Mal schauen, was dann passiert. Das ist nämlich das, was Sie eigentlich wollen. Sie haben ja auch gesagt: Wir wollen gar nicht, dass Familien nachkommen, dass dieses Kontingent gar nicht erst ausgeschöpft wird und man keine Kinder aus Kriegsgebieten nachholt.
Deswegen noch einmal meine Frage: Wie wollen Sie nach diesem Gesetz Menschen ohne Kriterien hierherholen? Ist es Ihnen überhaupt ein Anliegen, dass ein Kind aus diesen Kriegsgebieten herauskommt?
({1})
Schön, Frau Kollegin Baerbock, dass Sie am Schluss überhaupt noch eine Frage gestellt haben. Ich würde Ihnen anraten, dieses Gesetz erst einmal zu lesen.
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Dort stehen die Kriterien drin, nach denen wir die Härtefälle bemessen wollen. Aber ich weiß nicht, wie Sie es machen wollen, ob Sie das minderjährige Kind generell wichtiger werten wollen als beispielsweise die kranke Mutter.
({1})
Das geht hier, glaube ich, in einem abstrakten Verhältnis nicht. Deswegen machen wir das, was wir in Deutschland bei vielen Gesetzen machen. Wir machen eine fehlerfreie Ermessensentscheidung der Behörden und lassen diesen einen gewissen Spielraum, sehr geehrte Frau Kollegin.
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Abschließend: Zur FDP habe ich etwas gesagt. Den Linken und den Grünen – das haben wir gehört – ist das Gesetz zu streng, zu hart. Den extremen Rechten, der AfD, ist es zu menschlich. Genau das ist der Beweis, dass wir in der Großen Koalition genau richtig liegen, dass wir die Mitte, eine gute Balance zwischen Härte und Humanität, getroffen haben. Deswegen werden wir das Gesetz so beschließen.
Herzlichen Dank.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 19/2438, 19/2523 und 19/2515 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Landauf, landab veröffentlichen die Rechnungshöfe alljährlich Erschreckendes, nämlich ein riesiges Ausmaß an Steuergeldverschwendung. Der Steuerzahlerbund veröffentlicht Schwarzbücher. Landauf, landab fragen die, denen das Geld vorher abgenommen wurde – vulgo auch Steuerbürger genannt –, wieso das eigentlich möglich ist und wieso die nicht zur Verantwortung gezogen werden, die solche Riesensummen falsch verwenden, verschleudern.
Das hat sicherlich viele Ursachen. Eine wesentliche ist allerdings: Wir haben gar keine geeignete Strafvorschrift für Steuergeldverschwendung. Es wird immer wieder die Untreue im Sinne des § 266 StGB angewandt. Blöderweise ist die durch die Rechtsprechung des BGH so weit eingeschränkt, dass sie auf Fälle der Steuergeldverschwendung kaum mehr anwendbar ist, nur noch im Ausnahmefall. Dies hat in einem Gutachten Professor Schünemann, einer der bedeutenden Strafrechtslehrer dieses Landes, 2011 für den Steuerzahlerbund anhand von Fallbeispielen ausführlich und überzeugend dargelegt. Wir haben also die Situation, dass wir auf der einen Seite eine scharfe Verfolgung von Menschen haben, die sich ihren Steuerpflichten entziehen. Wir haben auf der anderen Seite im Wesentlichen eine Carte blanche für diejenigen, die diese Steuergelder sinnlos verpulvern. Das kann so nicht bleiben.
Professor Schünemann hat in dem Gutachten dankenswerterweise nicht nur das Problem aufgezeigt, sondern auch einen Lösungsvorschlag unterbreitet, den wir uns zu eigen gemacht haben.
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– Zu eigen gemacht.
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Man muss das Rad nicht immer neu erfinden, Kollege Luczak.
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Wenn etwas gut ist, ist es gut.
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Die Lösung ist wegen der Ungeeignetheit des bestehenden Tatbestands gemäß § 266 StGB die Schaffung eines eigenen Tatbestandes der Steuergeldverschwendung oder Haushaltsuntreue.
Dies setzt an zwei Blöcken von Verhaltensweisen an. Zum einen gibt es das Haushaltsgrundsätzegesetz. Darin sind Grundsätze gesetzlich normiert, die für Bund und Länder gelten. Sie sind verpflichtend für alle, die mit Haushaltsmitteln umgehen. Bedauerlicherweise ist seinerzeit vergessen worden, die Zuwiderhandlung gegen solche Grundsätze zu ahnden. Es bleibt also ohne Konsequenzen, wenn man dieses Gesetz und die mit ihm verbundenen Pflichten in den Wind schreibt. Deswegen schlagen wir vor, schon die vorsätzliche Verletzung wesentlicher Pflichten des Haushaltsgrundsätzegesetzes unter Strafe zu stellen. Natürlich werden diese Pflichten in unserem Gesetzentwurf definiert.
Zweitens muss die reine Verschwendung – das offensichtliche Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung zum Beispiel – unter Strafe gestellt werden. Das gilt auch für Maßnahmen, die dazu führen, dass zum Beispiel der kommunale Leistungsträger nahezu pleite ist und auf Jahre in seiner Handlungsfähigkeit beschränkt ist. Auch diese Fälle sind vorgekommen.
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Dies muss auch auf kommunale Entscheidungsträger ausgedehnt werden. Einen entsprechenden Absatz finden Sie im vorliegenden Gesetzentwurf.
Damit hätten wir immerhin ein materielles Recht, das eine effiziente Verfolgung ermöglichen würde. Damit das funktioniert, brauchen wir auch verfahrensrechtliche Maßnahmen. Die Rechnungshöfe und andere Prüfstellen erstellen ihre Berichte. Wir müssen sie verpflichten, wenn sie einen Anfangsverdacht auf eine solche Straftat haben, dies bei der Staatsanwaltschaft anzuzeigen. Die Staatsanwaltschaften wären dadurch ein Stück weit entlastet, weil sie eine bereits wohl vorbereitete Strafanzeige bekommen, von Fachleuten erstellt und nicht von irgendjemandem, der sich nur so etwas denkt.
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Um die Sache zu vervollkommnen und um Staatsanwaltschaften die nötige Motivation zu geben – so sie denn fehlen sollte, so etwas zu verfolgen –, müssen sie das formelle Beschwerderecht nach § 172 StPO bekommen. Das heißt, sie müssen vor Gericht die Anklageerhebung erzwingen können. Stellen Sie sich die Hierarchie in einem Bundesland vor. Wenn dann gegen einen Bundesminister ermittelt wird, dann ist das für eine Staatsanwaltschaft gar nicht so einfach, gegen einen solch hochrangigen Politiker Anklage zu erheben. Wenn man das vor Gericht erzwingen kann, sieht die Sache völlig anders aus.
Wir brauchen gleichfalls einen Tatbestand der Unterlassung von öffentlichen Ausschreibungen, wenn sie ohne Not unterbleibt. Hierfür schlagen wir die Einführung einer Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße bis zu 100 000 Euro vor.
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Mit dem materiellen zusammen mit dem verfahrensrechtlichen Teil haben wir ein durchaus scharfes Instrument. Auf diese Weise könnten wir – da wetten wir – Milliarden Euro sparen, jedes Jahr. Diejenigen, die zum Thema Steuergeldverschwendung arbeiten, sagen, dass das so viel ausmacht.
An dieser Stelle kommt normalerweise der Spruch: „Ich freue mich auf eine angeregte Diskussion im Ausschuss.“ Tja, wir alle wissen, da wird nicht viel bei herumkommen; denn Anträge der AfD werden üblicherweise nicht ernsthaft diskutiert, sondern schlank abgelehnt. Das wird auch diesem Antrag passieren. Umso gespannter bin ich darauf, was sich die mir nachfolgenden Redner einfallen lassen, um zu begründen, weshalb man das alles nicht braucht. Gerne genommen wird an dieser Stelle immer der handwerkliche Fehler. Vorsicht Falle! Wir sind nicht in der dritten Lesung, sondern in der ersten. Handwerkliche Fehler könnte man im Ausschuss ohne Weiteres noch ausbügeln. Man könnte Änderungsanträge stellen usw.
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Sie können natürlich auch sagen: Das stimmt alles nicht, wir leben sowieso in der besten aller denkbaren Welten, und da gibt es so etwas überhaupt nicht; Steuergeldverschwendung in nennenswertem Maß findet in diesem Land nicht statt. – Ich bin gespannt, was Sie sich einfallen lassen. Jedenfalls: Wir sehen uns im Ausschuss.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Jan-Marco Luczak, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muss mich am Anfang meiner Rede outen. Ich weiß nicht, wer von Ihnen die NDR-Sendung „Extra 3“ kennt. Da gibt es immer eine Rubrik, die sich „Der Irrsinn der Woche“ nennt.
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Da werden Fälle von krassen Verwaltungsfehlentscheidungen und skurrilem Vorgehen von Behörden dargestellt. Das sind alles Fälle, bei denen man wirklich nur den Kopf schütteln kann.
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– Das würde wahrscheinlich auch dazu passen. – Das sind wirklich Fälle, in denen viel Steuergeld ausgegeben wird und die nützliche Verwendung zumindest auf den ersten Blick nicht klar erkennbar ist. Es ist natürlich völlig klar: In all diesen Fällen wurde Steuergeld verschwendet. Man muss fragen: Wurde das Geld der Menschen in unserem Land sinnvoll und zielgerichtet eingesetzt? Es ist auch ganz klar, dass solche Fälle kritisiert werden müssen und Folgen haben müssen; denn niemand kann Steuerverschwendung gutheißen.
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Die Frage, die sich jetzt allerdings stellt, ist: Brauchen wir dafür einen neuen Straftatbestand? Besteht wirklich eine Lücke bei den Sanktionen? Die AfD tut hier so, als ob es überhaupt keine Schranken, keine Sanktionen geben würde. Dazu muss man ganz klar sagen: Das stimmt natürlich so nicht. Es gibt nicht nur das Disziplinarrecht, das greift, wenn jemand gegen das Haushaltsrecht verstößt. Das ist für die Beamten oftmals ein sehr, sehr scharfes Schwert. Es gibt Amtshaftungsansprüche, es gibt die korrektiven Institutionen wie den Bund der Steuerzahler, den Bundesrechnungshof und nicht zuletzt die Öffentlichkeit, die Medien, die an diesen Stellen auch sehr genau hinschauen.
Natürlich gibt es auch das Strafrecht; Herr Reusch, Sie haben es angesprochen. Es gibt § 266 StGB, der die Haushaltsuntreue schon heute unter Strafe stellt. Sie tun nun so, als ob der BGH mit seiner „Bugwellenentscheidung“ quasi einen rechtsfreien Raum geschaffen hätte, als hätte er einen Freibrief – Sie haben selber „Carte blanche“ gesagt – für die Verschwendung öffentlicher Gelder ausgestellt. Das ist natürlich nicht so. Die wesentlichen Fallgestaltungen sind selbstverständlich heute schon – das ist unstreitig; das bestreitet auch Herr Schünemann nicht – von § 266 StGB erfasst. Wenn also Mittel der öffentlichen Hand, wenn Steuergelder verschwendet werden, wenn sie zweckentfremdet werden, wenn keine adäquate Gegenleistung gegeben ist, dann ist das auch heute schon strafbar.
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Das Einzige, was richtig ist, ist: Es braucht für diese Strafbarkeit immer einen konkreten Vermögensnachteil, und das kann im Einzelfall durchaus schwierig zu bestimmen sein. Das ist gar keine Frage. Was Sie uns hier vorschlagen, ist aber, auf dieses Erfordernis vollkommen zu verzichten. Sie sagen: Auch ein reiner Verstoß gegen das Haushaltsrecht, gegen Grundsätze der Haushaltsführung soll strafwürdig sein. – Ich finde, dahinter muss man ein Fragezeichen setzen. Ich finde, hier ist das Strafrecht nicht der richtige Weg, und zwar nicht nur, weil das Strafrecht immer die Ultima Ratio sein muss. Man muss sich immer fragen: Gibt es andere, vielleicht bessere Wege als das Strafrecht? Ich finde, wir müssen uns aber auch einmal fragen: Was bewirkt ein solcher Strafrechtsfokus? Damit werden Fehlentscheidungen kriminalisiert. Es droht eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren. Man muss sich immer vor Augen halten: Das, was Professor Schünemann vorschlägt – ihn und sein Werk in allen Ehren –, was Sie von ihm abgeschrieben haben, ist in ganz zentralen Fragen abgestellt auf Wertungsfragen: ob tatsächlich ein offensichtliches Missverhältnis besteht, ob viele andere Tatbestandsmerkmale erfüllt sind. Am Ende hätten wir also eine hohe Rechtsunsicherheit bei den Entscheidern und ein wirklich unkalkulierbares Strafbarkeitsrisiko für Amtsträger.
Ich befürchte, die Folge wird sein, dass die Entscheidungskultur in der öffentlichen Verwaltung dadurch massiv beeinträchtigt wird. Es wird doch kein Amtsträger, kein im öffentlichen Dienst Beschäftigter in Zukunft mehr Vorhaben unterschreiben oder Anträge bewilligen, wenn über ihm das Damoklesschwert einer drohenden Haftstrafe schwebt. Gerade Entscheidungen in großen, komplexen Bauvorhaben im Rahmen innovativer Projekte, die wir alle für ein modernes, zukunftsorientiertes Deutschland brauchen, werden dann gar nicht mehr oder nur noch dann gefällt, wenn jedes ach so kleine Restrisiko ausgeräumt ist.
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Die Folge ist: Die Entscheidungen dauern länger, die Projekte verzögern sich, sie werden teurer. Das ist unter dem Strich alles kontraproduktiv, meine Damen und Herren.
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Wer also eine schnelle und effiziente Verwaltung haben will, die auch einmal etwas Neues ausprobiert, innovative Wege geht und nicht jedes produktive Risiko scheut, der darf Amtsträger nicht, wie hier vorgeschlagen, kriminalisieren.
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Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir eine Schlussbemerkung. Mit diesem Gesetzentwurf haben Sie von der AfD Ihrem Ruf als Populisten, wie ich finde, wieder einmal alle Ehre gemacht. Das ist viel Tamtam und wenig Substanz, trotz Herrn Schünemann. Darauf können Sie am Ende dieser Debatte ja anstoßen. Vorzugsweise schlürfen Sie ja, wie wir lesen, Champagner. Ich glaube, es waren 234 Flaschen dieses edlen Tropfens, die Sie im Europäischen Parlament auf Kosten der europäischen Steuerzahler getrunken haben.
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Auch hier im Bundestag war es ja Ihre Fraktion, die uns in ganz vorbildlicher Weise vorgeführt hat, wie man Steuergelder sinnvoll einsetzt, nämlich indem Sie für 10 000 Euro eine Schnittchenparty gefeiert haben.
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Meine Damen und Herren, die Abgeordneten der AfD sind wirklich Profis in Sachen Haushaltsuntreue und Profis in Sachen Steuerverschwendung. Aber Ihrem Gesetzentwurf werden wir deswegen noch lange nicht zustimmen.
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Jetzt hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert, FDP, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es mussten acht Monate vergehen, damit ich meine persönliche Premiere erleben konnte: einen Antrag der AfD, mit dem ich mich sachlich auseinandersetzen kann und von dem ich finde, dass zumindest einige Ideen darin enthalten sind, die in die richtige Stoßrichtung gehen, und zwar insofern, als man sagt, dass Haushaltsgelder sachgemäß verwandt werden müssen und nicht in irgendeiner Form sachentfremdet werden dürfen.
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Sie haben es also vermocht, nach acht Monaten einen Gesetzentwurf vorzulegen, dem ich zwar nicht folgen kann, von dem ich aber finde, dass er einen Gedanken enthält, bei dem es sich lohnt, sich inhaltlich sehr intensiv mit ihm auseinanderzusetzen.
Wer hat das bewirkt? Ich zitiere Ihren Redner Reusch, der in der Pressekonferenz gesagt hat:
Das ist nichts, was sich diese Halbnazis bei der AfD ausgedacht haben, sondern ein respektabler Strafrechtsprofessor.
({1})
Es waren also nicht Sie, die diesen Gesetzentwurf erarbeitet haben, sondern Sie haben ihn von einem veritablen Strafrechtsprofessor abgeschrieben. Leider haben Sie die notwendige Transferleistung, nämlich eine einzelne Norm in einen Gesamtkontext zu überführen, nicht erbringen können. Insofern ist das ein Solitär, der im Strafrecht so nicht funktionieren kann.
({2})
Lassen Sie mich auf den Gedanken eingehen, dass wir keine strafrechtliche Lösung haben. Man kann sich mit der Entscheidung des BGH aus dem Jahr 1997 in der Tat kritisch auseinandersetzen, weil der geforderte Vermögensschaden die strafbaren Handlungen massiv einschränkt. Da kann man sich schon die Frage stellen: Ist das nicht zu weitgehend? Aber dass Sie dann einen Gesetzentwurf vorlegen, der die Rechtsstellung des gesamten Bundesrechnungshofes fundamental verändert und dies gegen dessen Willen tut, ohne mit den Leuten gesprochen zu haben, dass Sie sagen: „Wir machen den Bundesrechnungshof zu einer Art Freizeichnungs-, Ermittlungs- und fast auch Anklagebehörde“, gegen deren Willen, das zeigt einmal mehr: Es geht Ihnen nicht um Sacharbeit und darum, einen validen Gesetzentwurf zu präsentieren, sondern darum, einen Effekt zu erzielen.
({3})
Sie weiten den Amtsträgerbegriff aus. Sie sagen also: Strafbar soll auch derjenige handeln, der im Grünflächenamt nicht genau wusste, ob er eine Leistung vollbringt, die im Sinne des Haushaltsrechts ist oder nicht. Der ehrenamtliche Ortsbürgermeister, der Ortsbeiratsvorsitzende, all diese Menschen sollen durch diese Vorschrift, durch die Ausweitung des Amtsträgerbegriffes, von Ihnen kriminalisiert werden. Das ist nicht nur ein Misstrauensantrag gegen die gesamte öffentliche Verwaltung, sondern auch eine strafrechtliche Ausweitung, die in diesem Ausmaß unverantwortlich und gegen jedes Ehrenamt gerichtet ist.
({4})
Wen wollen Sie eigentlich noch dafür gewinnen, eine ehrenamtliche Aufgabe zu übernehmen, wenn Sie ihnen gleich androhen: „Wenn du keinen Anwalt dabei hast, dann kann es sein, dass du dabei am Ende im Gefängnis landest“? Einen solchen Ehrenamtsbegriff kann man schlicht nicht fördern.
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Auch diese Frage stellt sich: Was passiert am Ende haushaltsrechtlich? Es wird eine Flucht ins Ungefähre geben. Die Haushaltstitel werden immer wachsweicher formuliert werden, weil sie damit natürlich strafrechtliche Konsequenzen vermeiden können. Das scharfe Schwert des Strafrechts ist aus meiner Sicht an dieser Stelle nicht richtig am Platz.
Die Idee, zu sagen: „Wir wollen haushaltsrechtliche Systematiken einführen, um eine Mittelverwendung im Sinne des Gesetzgebers oder des Haushaltsgesetzgebers zu ermöglichen“, verdient sehr wohl Respekt. Hier müssten wir auch weiter darüber nachdenken, wie es uns gelingt, Steuerverschwendung und die Verschwendung von öffentlichen Geldern besser zu ahnden und schärfer dagegen vorzugehen.
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Am Ende will ich noch sagen, dass Ihr Gesetzentwurf den Rechnungshof – das habe ich eben schon mal angedeutet – in einer Form umgestalten würde, dass ich sagen muss: Das halte ich für unverantwortlich.
Sie sagen, es gebe eine Art Freizeichnungsstelle – das ist ja in dem Gesetzentwurf vorgesehen –, sodass man im Vorhinein freizeichnen kann, welche Verwendung sachgerecht ist. Das verändert das Verhältnis von öffentlichen Amtsträgern und Rechnungshof in einer Art und Weise, dass wir zu einer Art Sklaven dieser Behörde werden sollen. Ich finde, das ist aus keiner Perspektive sachangemessen.
({7})
Insgesamt hat sich Herr Schünemann als respektabler Strafrechtsprofessor nicht wehren können. Er hätte diesen Gesetzentwurf nämlich wesentlich besser in die bestehenden Systematiken eingearbeitet. Es bleibt das richtige Anliegen, Haushaltsgeld ordnungsgemäß zu verwenden. Ihr Antrag ist aber leider wieder ein untauglicher Versuch, dies zu erreichen.
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Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Jetzt hat das Wort die Kollegin Sonja Amalie Steffen, SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Die AfD möchte mit einem neuen Straftatbestand die Haushaltsuntreue unter Strafe stellen und die ordnungsgemäße Verwendung öffentlicher Mittel sicherstellen. – Das alles klingt ja erst einmal recht vernünftig. Aber ein Blick in Ihren Gesetzentwurf zeigt, dass Ihre Analyse der jetzigen Rechtssituation schlechtweg falsch ist.
In Ihrer Begründung lese ich:
Das Bedürfnis nach einer korrekten Bewirtschaftung der Staatsausgaben ist in der gegenwärtigen Situation zu einer Überlebensfrage der Staatsfinanzen geworden.
Das Überleben der Staatsfinanzen: Damit scheint also viel auf dem Spiel zu stehen. Sie behaupten nämlich, der Bundesgerichtshof habe die „strafrechtliche Sanktionierung der Haushaltsuntreue“ durch die sogenannte Bugwellenentscheidung aus dem Jahr 1997 aufgehoben. Seitdem gehe es in Deutschland schlicht rechtlos zu. Das, Kolleginnen und Kollegen von der AfD, ist falsch.
Meine Vorredner haben noch nicht erwähnt, um was es bei der Bugwellenentscheidung geht. Vielleicht auch für die Gäste auf der Tribüne: Es handelt sich um eine Entscheidung des BGH aus dem Jahr 1997. Angeklagt waren damals der Intendant und der Verwaltungsdirektor des Staatstheaters Stuttgart.
Was ist da passiert? Im November 1990 hatten sie den Haushalt des Staatstheaters um 5,4 Millionen D‑Mark – damals noch – überschritten. Das ist eine ganze Menge, aber man muss auch wissen: Der Generalintendant hatte damals, im November 1990, notwendige Zahlungen angewiesen, obwohl die Mittel erschöpft waren.
Natürlich geht so etwas nicht, aber das Gericht hat damals zutreffenderweise festgestellt, dass eine Haushaltsüberschreitung bei zweckmäßigem Mitteleinsatz nicht den Straftatbestand der Untreue erfüllt. Punkt! Es hat also keineswegs die Haushaltsuntreue aufgehoben. Es hat festgestellt – ich sage es jetzt noch einmal –, dass eine Haushaltsüberschreitung bei zweckmäßigem Mitteleinsatz nicht den Straftatbestand der Untreue erfüllt. Es ist also falsch, dass Untreue zulasten der öffentlichen Hand nicht mehr strafbar ist. Es gibt bis zum heutigen Tag in diesem Zusammenhang Prozesse und Verurteilungen, weil es bedauerlicherweise immer schwarze Schafe gibt.
Selbstverständlich dürfen Amtsträger keine schwarzen Kassen mit öffentlichem Geld anlegen. Das wird wegen Untreue bestraft. Selbstverständlich ist es strafbare Untreue, wenn Amtsträger Forderungen der öffentlichen Hand bewusst nicht eintreiben. Ich will mich jetzt hier nicht mit weiteren Beispielen über die Zeit retten. Wir haben bereits ausreichende strafrechtliche Sanktionsmöglichkeiten.
Ihr Gesetzentwurf unterstellt, dass sich der Gesetzgeber bei dem rechtswidrigen Umgang mit öffentlichen Geldern einen schlanken Fuß macht. Das ist polemisch. Das ist billige und verlogene Stimmungsmache. Und vor allem: Es stimmt nicht.
({0})
Natürlich muss der Staat darauf achten, dass Haushaltsregeln eingehalten werden. Er muss Verschwendung entgegenwirken. Aber wir haben bislang schon wirksame Mittel, mit denen an dieser Stelle angesetzt und geprüft wird. Es gibt Grundsätze wie das Vieraugenprinzip, das in der öffentlichen Buchhaltung umgesetzt werden muss. Es gibt Kontrollinstanzen, beispielsweise im Rahmen der Kommunalaufsicht. Es gibt die Rechnungshöfe des Bundes und der Länder mit weitreichenden Kontrollbefugnissen. Wenn ich allein an unseren Bundesrechnungshof denke – das sage ich auch aus der Sicht einer Haushälterin –, dann muss ich feststellen, dass hier eine solide und wichtige, kritische und vor allem neutrale Arbeit geleistet wird. Ihr Vorschlag geht auch hier in die falsche Richtung. Bei rechtswidrigem Umgang mit öffentlichem Geld greift das bereits bestehende Strafrecht.
Noch zwei weitere Bemerkungen zu Ihrem vorliegenden Gesetzentwurf. Sie schlagen vor, dass auch Mitglieder der kommunalen Vertretung wegen Haushaltsuntreue bestraft werden können, also auch Stadtverordnete und Gemeinderäte. Ich halte das für verfehlt, sowohl politisch als auch rechtlich. Die Kommunalparlamente sind doch diejenigen, die den Haushalt beschließen. Sie führen ihn nicht aus. Erst wenn der beschlossene Haushalt vorliegt, dann könnte die Verwaltung – zumindest theoretisch – gegen diesen Haushalt handeln. Will die AfD jetzt die gewählten Menschen in den Kommunalparlamenten bestrafen, weil sie ihrer Meinung nach die Haushaltstitel im Haushalt vielleicht zu großzügig befüllen?
Mehr noch: In Ihrem Gesetzentwurf, Kolleginnen und Kollegen von der AfD, schieben Sie politischen Entscheidungsträgern auf allen Ebenen den Schwarzen Peter des potenziellen Korruptionsverdachts in die Schuhe. Das geht so nicht. Wer soll sich denn dann noch zu einem Ehrenamt bereit erklären, wenn er bei jeder Entscheidung damit rechnen muss, mit einem Bein im Gefängnis zu stehen?
({1})
Als letzte Bemerkung: Sie haben vorgeschlagen, im Haushaltsgrundsätzegesetz einen neuen Ordnungswidrigkeitentatbestand zu verankern, ein Bußgeld in Höhe von bis zu 100 000 Euro für diejenigen, die entgegen den Vorschriften keine öffentlichen Ausschreibungen vornehmen. So geht das meiner Meinung nach nicht. In dem Haushaltsgrundsätzegesetz, dem Gesetz des Bundes, geht es um die Haushaltsgrundsätze des Bundes. Ein Bußgeldtatbestand für Bundes-, Landes- und kommunale Behörden hat in diesem Gesetz nichts verloren. Ich sehe dafür keine Gesetzgebungskompetenz.
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Das mag vielleicht ein handwerklicher Fehler sein, Herr Reusch. Aber sei es drum. Wir werden uns damit in den Fachausschüssen beschäftigen. So viel schon jetzt: Der Entwurf ist rechtlich unseriös. Er ist kein scharfes Schwert. Er bindet völlig unnötig Ressourcen. Das, Kolleginnen und Kollegen von der AfD, ist ganz bestimmt Verschwendung öffentlicher Mittel.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Friedrich Straetmanns, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Zuhörertribünen! Heute beraten wir einen Gesetzentwurf der AfD mit dem Namen: Bekämpfung der Haushaltsuntreue und Verschwendung öffentlicher Mittel. – Wie immer, könnte man fast sagen, haben wir auf Ihren Gesetzentwurf lange warten müssen. Gelohnt hat sich das Warten auch diesmal nicht; das gleich vorab.
({0})
Ich habe Sie von der AfD-Fraktion neulich schon gefragt: Machen Sie so etwas mit Absicht, oder können Sie es einfach nicht? Alles spricht für Letzteres.
({1})
Dabei hatten Sie doch jetzt genug Zeit zum Üben. Außerdem handelt es sich doch um eine relativ einfache Abschreibearbeit. Die ist doch leicht zu vollbringen.
Zu Ihrem Entwurf will ich Folgendes sagen: Die von der Antragstellerin angeführte Bugwellenentscheidung des Bundesgerichtshofs, zu der Sie, Kollegin Steffen, dankenswerterweise eigentlich schon hinreichend ausgeführt haben, führt in der Tat keineswegs dazu, dass kaum gegen Untreue von Amtsträgerinnen und Amtsträgern vorgegangen wird. Sie stellt nur klar, dass das Schutzgut des § 266 Strafgesetzbuch das Vermögen ist, nicht aber jede kleine Haushaltsregel der öffentlichen Hand. Die Untreue ist ein Vermögensdelikt und benötigt zur Erfüllung ihres Tatbestandes eben auch einen Vermögensschaden.
Der Gesetzentwurf suggeriert aber, dass Untreue im politischen Betrieb nicht geahndet werden kann, und stellt so in unerträglicher Weise Amtsträgerinnen und Amtsträger unter Generalverdacht. Das machen wir von der Linken so nicht mit.
({2})
Denn es stimmt auch nicht und ist nur ein weiteres Beispiel dafür, wie Sie der Bevölkerung Sand in die Augen streuen, wie Sie selbst tricksen und täuschen wollen.
Ein Fall, den Sie von der AfD aber wiederum sehr gut kennen müssten, beweist das Gegenteil Ihrer Behauptungen. Im Jahr 2016 wurde der damalige Sprecher der Gemeinderatsfraktion der AfD in Stuttgart wegen Untreue angeklagt. Er hatte nach Ansicht des Amtsgerichts Stuttgart in die Kasse der FDP gegriffen, als er noch deren Fraktionsgeschäftsführer war. Angeklagt wurde er also. Davongejagt wurde er von der AfD-Ratsfraktion nicht. Er kehrte ihr jedoch mittlerweile den Rücken.
Der vorliegende Vorschlag ist heiße Luft. Seine Umsetzung würde bedeuten, dass Amtsträgerinnen und Amtsträger sich doppelt und dreifach versichern, bevor sie Entscheidungen treffen.
({3})
Sprich: Das Ganze wird zu einem enormen Bürokratieaufwand und -aufbau führen, gegen den Sie doch gerade an anderer Stelle publikumswirksam ins Felde ziehen.
Insgesamt ist dieser Gesetzentwurf aus einem so dünnen Stoff gewebt, dass ich es mit einem bekannten Märchen so ausdrücken will: Der Kaiser ist nackt – mal wieder.
({4})
Damit genug, was Ihre Truppe anbelangt. Nun habe ich den demokratischen Fraktionen dieses Hauses auch noch einiges zu sagen. Wenn wir das Vertrauen der Bevölkerung in das parlamentarische System erhalten und stärken wollen, müssen wir mehr und anderes tun, als mit Anschuldigungen herumzufuchteln, wie es dieser Gesetzentwurf tut.
Ich habe schon bei mehreren Anlässen hier gesagt: Um das zu erreichen, gehört wesentlich dazu, dass wir die Mitbestimmung der Bevölkerung ausbauen, dass wir Transparenz in die Vorgänge der Politik bringen.
({5})
Wir hatten in dieser Legislaturperiode gerade dazu zum Beispiel unseren Vorschlag zum Lobbyregister sehr bewusst debattiert. Die weitere Debatte im Ausschuss wird auch zeigen, wie es die anderen Fraktionen bei dieser wichtigen Frage halten.
({6})
Reformen tun not. Mit Steuergeldern muss sorgsam umgegangen werden. Das ist gerade und sehr bewusst auch die Auffassung unserer Fraktion, der Linken. Misstrauen schüren gegen „die da oben“, wie Sie es mit Ihrem Gesetzentwurf wieder einmal tun, ist dabei wenig hilfreich.
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Wer sorgfältig mit öffentlichen Geldern umgehen will, der muss Sonderrechte abbauen. Da können wir bei uns Abgeordneten selber anfangen. So gehört zum Beispiel unsere Altersversorgung als Abgeordnete auf den Prüfstand. Was hindert uns, zu beschließen, dass wir wie alle Bürger in die Rentenversicherung einzahlen?
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Wir wären damit den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes näher, wenn es an unsere eigenen Privilegien geht.
Daran werden wir als Fraktion arbeiten. Drohen mit der Keule des Strafrechts, um dann am Ende doch alles beim Alten zu lassen, hilft nicht weiter.
Ich könnte noch viel mehr aufzählen. Ich lasse das. Wir Linke werden weiter die notwendigen Reformvorschläge in das Parlament einbringen und diskutieren. Ihren Gesetzentwurf, meine Damen und Herren von der AfD, werden wir aber ziemlich sicher ablehnen.
Vielen Dank.
({9})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Canan Bayram, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf der AfD gibt ein Stück weit vor, etwas lösen zu wollen. Bei näherem Betrachten fällt auf, dass die Lösung nicht im Gesetzentwurf steht, dass aber viele neue Probleme aufgeworfen werden, weil durch das Gesetz ein bestehendes Regelwerk, ein bestehendes System aus Institutionen geschwächt wird, die teilweise neue Rollen übernehmen sollen. Darüber wollen wir gerne im Rechtsausschuss beraten. Ob danach der Kollege Reusch zufriedener sein wird, als er es bei der Vorstellung des Gesetzentwurfs in seiner Rede war, können wir ihm nicht versprechen. Aber das liegt auch an dem Gesetzentwurf. Herr Kollege Reusch, Sie können von uns wirklich nicht erwarten, dass wir den nicht so schönen Gesetzentwurf Ihrer Fraktion schönschreiben; denn das ist nicht unsere Rolle in diesem Haus.
({0})
Ich will auf die einzelnen Aspekte eingehen. Ich fange mit dem Bundesrechnungshof an, den Sie sozusagen als eine Unterstützungsbehörde für die Staatsanwaltschaft aufbauen wollen. Das ist befremdlich gegenüber dem bisherigen Auftrag. Tatsächlich müssten wir uns nicht nur fragen: „Wollen wir das überhaupt?“, sondern auch: „Können die das überhaupt?“ Das ist der erste Aspekt. In Ihrer Rede haben Sie des Weiteren gesagt, die Staatsanwaltschaft brauche dann Zuarbeit und eine Anzeigepflicht; dadurch werde es einfacher, der Aufgabe zu genügen, und das motiviere die Staatsanwaltschaft. Da stellt sich die Frage, warum Sie als ehemaliger Staatsanwalt des Landes Berlin tatsächlich meinen, dass Ihr Gesetzentwurf bei der Staatsanwaltschaft auch auf Kritik stoßen wird, sodass man diese zusätzlich motivieren muss. Herr Kollege, dazu können Sie uns im Rechtsausschuss etwas erzählen.
Ein anderer Aspekt, den Sie aufgeführt haben, ist der Amtsträger. Dabei bleibt recht unklar, was genau das bewirken soll. Es gibt Entscheidungen, in denen festgestellt wird, dass die Beamten vielleicht Fehler gemacht haben, dass sie aber bei dem, was sie gemacht haben, uneigennützig gehandelt haben. Das ist ein Aspekt, der die Betreffenden letztendlich entlastet. Ihr schematischer Grundsatz „Jeder Fehler wird hart bestraft“ entspricht nicht unserem Rechtsstaatsprinzip in seiner Differenziertheit und Verhältnismäßigkeit. Allein das wäre ein Grund, Ihren Gesetzentwurf abzulehnen.
({1})
Dann kommen wir zu dem, was wir machen könnten. Das lassen Sie komplett außen vor. Wenn jemand etwas einbringt, um das bestehende System zu verbessern, erwarte ich eigentlich, dass der Betreffende das bestehende System auch einmal darstellt. Ich will drei Aspekte herausstellen, die nach meiner Meinung zeigen, dass wir schon auf einem guten Weg sind, dass wir aber noch ein bisschen mehr machen könnten. Wir als Haushaltsgesetzgeberinnen und -gesetzgeber wollen die Steuern sicherlich nur im Sinne der von uns beschlossenen Gesetze verwendet wissen. Das Haushaltsgesetz ist schließlich ein Gesetz, das wir beschließen. Es soll so angewendet werden, wie wir es beschlossen haben. Jeder Cent zugunsten der Aufgaben, die wir gesetzlich definieren, soll auch dort ankommen; es liegt doch in unserem ureigenen Interesse, dass das passiert. Deswegen haben wir eine Systematik aus Antikorruptionsrichtlinien, in denen genau deutlich gemacht wird, wie wir dem entgegenwirken wollen. Wir wissen, dass natürlich überall dort, wo viel Geld ausgegeben wird, Fehler passieren und Missbrauchsanfälligkeit besteht. Das ist etwas, was wir genauer betrachten müssen. Das spielt übrigens im Moment auch beim BAMF-Skandal eine große Rolle; denn bestimmte Prinzipien, die in den Antikorruptionsrichtlinien festgelegt sind, wurden dort aufgrund der Umstände wahrscheinlich nicht minutiös eingehalten.
Was uns von Bündnis 90/Die Grünen besonders wichtig ist, ist ein Lobbyregister, in dem deutlich wird, wer in wessen Interesse handelt.
({2})
Ein solches Register würde uns ermöglichen, der Frage nachzugehen, wo die Steuergelder, die wir zu verantworten und zu verwalten haben, tatsächlich ausgegeben werden, und die Wirksamkeit der Mittel zu überprüfen.
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Transparenz hilft. Transparenz ist das Instrument, das ermöglicht, später zu entscheiden, was zu folgen hat.
Ein letzter Aspekt, der hier noch nicht angesprochen wurde, ist der Whistleblower-Schutz.
({4})
Es gibt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Verwaltung, die sich nicht trauen, darüber zu reden, was falsch läuft. Wenn wir denen Schutz vor strafrechtlicher oder disziplinarrechtlicher Verfolgung ermöglichen würden, dann würden sie uns die Informationen geben, die es bräuchte, damit Staatsanwalt und Gerichte tätig werden können.
({5})
Sie sehen: Es gibt viele Möglichkeiten, wie wir tatsächlich besser werden können, um das Steuergeld der Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Aber Ihr Antrag, der Antrag der AfD, leistet dazu leider keinen Beitrag. Dennoch würde ich gerne im Rechtsausschuss mit Ihnen noch ausführlicher darüber beraten.
Danke schön.
({6})
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Heribert Hirte, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal, glaube ich, sollte man festhalten, dass wir uns alle hier in diesem Hause einig sind, dass sparsame Haushaltsführung ein wichtiges und richtiges Ziel ist. Aber dann müssen wir uns den Antrag der AfD ansehen und die Frage stellen, ob mit diesem Antrag hier überhaupt irgendetwas verbessert wird.
Schauen wir uns § 349 Absatz 1 des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, also der vorgeschlagenen Strafrechtsnorm, an. Danach sollen Verstöße gegen Haushaltsvorschriften unter Strafe gestellt werden. Aber eines ist doch klar: Die meisten Verschwendungen öffentlicher Mittel finden unter Abdeckung der Haushaltsvorschrift statt. Da wird gar nicht gegen Haushaltsvorschriften verstoßen. Wenn Ihre Norm so kommen würde – der Kollege Luczak hat es angesprochen –, würden die Haushaltsvorschriften entsprechend weicher gestaltet, sodass die Strafrechtsvorschrift in diesem Punkte leerlaufen würde.
Deshalb ist der entscheidende Punkt, der wichtigere Punkt Ihres Vorschlages § 349 Absatz 2 dieses Gesetzentwurfes, nämlich das auffällige Missverhältnis zwischen, vereinfacht gesagt, Kosten und Nutzen staatlicher Ausgaben. Sie wollen also einen neuen unbestimmten Rechtsbegriff in das Strafgesetzbuch einführen.
Aber was wird da passieren? Wir haben Erfahrungen mit ähnlichen Rechtsbegriffen, insbesondere im Bereich der Managerhaftung, die wir hier schon an vielen Stellen immer wieder diskutiert haben. Es wird endlose Prozesse geben. An deren Ende werden dann vielleicht 5 Prozent der Angeklagten verurteilt werden, weil – das sagen Sie zu Recht, und anders wird es auch gar nicht gehen – ja nur Vorsatz unter Strafe stehen wird. In diesen 5 Prozent geht es Ihnen – das schreiben Sie in der Begründung ausdrücklich – um die persönliche Konsequenz.
Aber was hat denn diese persönliche Konsequenz für den Haushalt für eine Folge? Stellen Sie sich vor, 50 oder 100 Millionen Euro sind auf der Grundlage Ihrer Vorschrift veruntreut worden. Der arme Beamte geht darüber pleite und landet in der Privatinsolvenz. Die Kosten des Verfahrens sind vom Staat zu tragen; es entsteht also ein Schaden für den Haushalt. Wenn er danach im Gefängnis landet, sind auch noch die Haftkosten vom Staat zu tragen. Für den Haushalt bringt das gar nichts. Es kostet mehr, als es nutzt.
Dann schauen wir uns die anderen 95 Prozent an, nämlich diejenigen, die nicht verurteilt werden. Wenn der Staat seine Beamten einstellt, dann hat er eine Schutzpflicht, eine Fürsorgepflicht für seine Beamten. Das Gleiche gilt für andere normale Arbeitnehmer, für die der Arbeitgeber eine Fürsorgepflicht nach dem Arbeitsrecht hat. Führt das Strafverfahren nicht zu einer Verurteilung, kann der entsprechende Beamte, der Arbeitnehmer, in Regress gehen. Er kann sich die Kosten erstatten lassen. Das bedeutet: In all den Fällen, in denen die Verurteilung nicht zustande kommt, bleibt der Staat auf den Kosten sitzen und muss auch noch dem Angeklagten, der anschließend freigesprochen wird oder dessen Verfahren eingestellt wird, die Kosten erstatten. Wieder mal zeigt sich: Für den Haushalt bringt auch das nichts.
Der Beamte, der Arbeitnehmer, wird aber über eine Frage nachdenken – auch das haben wir schon gehört; Kollege Ruppert hat es angesprochen –: Kann man es sich dann überhaupt noch leisten, kann man dann noch verantworten, eine solche Position zu übernehmen? Viele werden das nicht mehr tun. Diejenigen, die Geld haben, erst recht nicht, und wenn sie es tun, dann werden sie sich versichern. Die Versicherungsbeiträge sind steuerlich abzugsfähig. Auch das kostet den Haushalt mehr, als dass es ihm nutzt.
All das zeigt: Das, was Sie hier vorschlagen, bringt für den Haushalt nichts.
Herr Kollege Hirte, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Lothar Maier?
Der soll zu Ende zuhören; dann kann er danach noch was sagen.
Dann gibt es eine Kurzintervention. Das kostet mehr Zeit. – Also, Sie gestatten keine Zwischenfrage?
Nein. – Das bedeutet doch: Haushaltsmäßig führt das alles zu nichts. Das, was Sie wollen, ist die persönliche Diskreditierung von Menschen, die im öffentlichen Dienst Verantwortung übernehmen, und da machen wir sicher nicht mit.
({0})
Damit sind wir bei der Frage, was Sie in Ihrem Gesetzentwurf dazu geschrieben haben, welche Alternativen es gäbe. Da schreiben Sie ganz einfach: „Keine.“ Natürlich gibt es Alternativen. Die Tatsache, dass wir hier, in diesem Hause, immer wieder über die Verschwendung öffentlicher Mittel reden, ist eine der Alternativen, nämlich die Publizität. Die Publizität können wir stärken. Wir können auch einmal über das Disziplinarrecht drüberschauen. Nur: Das, was Sie wollen, führt nicht zum Ergebnis.
Schließlich führen Sie einen neuen unbestimmten Rechtsbegriff ein. Haben Sie eigentlich mal nachgesehen, woher diese unbestimmten Rechtsbegriffe stammen, die wir gerade im Bereich der Untreue haben? Untreue ist neben Mord einer der Tatbestände, die im Nationalsozialismus deutlich verschärft wurden.
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Mit dem, was Sie hier machen, schlagen Sie in genau dieselbe Kerbe. Da kann ich nur sagen: Dann wundert einen hier nichts mehr.
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Das, was Sie hier machen, ist nichts anderes als ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Strafverteidiger und Versicherungen; für den Haushalt wird null dazugewonnen. Deshalb werden wir das mit ziemlicher Sicherheit im Ausschuss ablehnen.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich entsprechend der Anregung des Kollegen Dr. Hirte dem Kollegen Maier das Wort zu einer Kurzintervention.
Verehrter Herr Kollege Dr. Hirte, ich möchte auf die Spezialitäten Ihres Beitrags, wie etwa das Argument des Einsparens von Haftkosten, hier nicht weiter eingehen. Folgte man Ihrem Argument, dürften wir nach dem Strafrecht eigentlich niemanden mehr verurteilen, weil es jeweils zu einer Verschwendung von staatlichen und öffentlichen Mitteln führte.
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Was mich an Ihrem Beitrag am meisten stört: Sie sind der Ansicht, das Strafrecht sei ungeeignet, um bei Verschwendung öffentlicher Mittel, vor allem im großen Stil, einen wesentlichen Effekt zu erzielen. Ist Ihnen denn eigentlich nicht bekannt, dass es in Deutschland nicht die übliche Gewohnheit von Behörden ist, bei kostspieligen Projekten – übrigens ganz anders als in der Europäischen Union – solch bewährte Instrumente wie Ex-ante Impact Assessment zu nutzen, mit denen man zuverlässig die Fehlallokation von Mitteln verhindern kann? Das sollte Ihnen bekannt sein;
({1})
denn das sind Instrumente, die die Amtsträger – die beamteten wie die ehrenamtlichen – zuverlässig vor Fehlentscheidungen schützen können. Das kann man nutzen, das hat begrenzte Kosten, und das schützt vor allem vor solchen Fehlallokationen. Ich vermisse das in Ihrem Beitrag. Sie beziehen sich immer nur auf das, was das Strafrecht bringen kann; es gibt auch andere Möglichkeiten.
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Herr Kollege Hirte.
Sie haben einen Antrag zum Strafrecht gestellt und einen Vorschlag zum Strafrecht gemacht, und jetzt kommen Sie mit Alternativen.
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Ich habe gesagt, die Alternativen fehlen in Ihrem Antrag, über Alternativen können wir gerne nachdenken. Genau das ist das Problem.
Vielen Dank.
({1})
Damit erteile ich das Wort der Kollegin Esther Dilcher, SPD.
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Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren Antragsteller der AfD, Sie wollen eine neue Vorschrift in das Strafgesetzbuch und einen Ordnungswidrigkeitentatbestand in das Haushaltsgrundsätzegesetz einführen.
Ich möchte gerne auf Ihren Vorwurf eingehen, Herr Reusch, dass wir uns mit Ihren Anträgen nicht ernsthaft auseinandersetzen und sie nicht ernsthaft diskutieren. Mitnichten! Diesen Fehler werden wir nicht wiederholen; er ist in der Vergangenheit passiert. Sie können davon ausgehen, dass wir uns gerade mit Ihren Anträgen besonders ernsthaft auseinandersetzen.
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Sie haben gesagt, es könnten jährlich Milliarden gespart werden, wenn keine Steuerverschwendung erfolgen würde. Aber Sie sind doch selbst auch Jurist und müssten wissen, dass alles erst mal einer Definition bedarf. Wenn ich hier durch den Saal gucke und mal die einzelnen Abgeordneten frage, was sie unter Steuerverschwendung verstehen, würde mir jeder sicherlich andere Beispiele nennen. Wir wissen auch, dass letztendlich solch ein Rechtsbegriff womöglich durch Rechtsfortbildung vom BGH definiert würde.
Wir könnten mit dem Geld, was Sie als verschwendete Steuern betrachten, Schulden zurückführen, ja; aber ich gehe mal davon aus, dass dem Haus sicherlich Möglichkeiten einfallen würden, diese Gelder anders zu investieren. Also: Was ist Steuerverschwendung?
„Was will ich?“ fragt der Verstand. „Worauf kommt es an?“ fragt die Urteilskraft. „Was kommt heraus?“ fragt die Vernunft.
Mit diesem Zitat von Immanuel Kant habe ich mich mal Ihrem Gesetzentwurf zu nähern versucht.
Bereits der Ansatz zur Begründung des Gesetzentwurfs ist unrichtig. Sie behaupten nämlich, wie die Kollegin Steffen und andere auch schon ausgeführt haben, dass der BGH durch sein Urteil zu § 266 StGB die Sanktionierung der Haushaltsuntreue obsolet gemacht hat bzw. aufgehoben hat. Das ist mitnichten so; das haben die Kollegen und Kolleginnen bereits ausgeführt.
Aber: Sie haben einen Gesetzentwurf zur Änderung des Strafgesetzbuchs eingebracht, das in bestimmte Abschnitte unterteilt ist. Das heißt, es gibt Straftaten gegen die Freiheit, es gibt Straftaten gegen den Staat, es gibt Straftaten gegen das Vermögen usw. Sie fügen einen Paragrafen ein und unterschreiben den neuen § 349 mit „Haushaltsuntreue“. Die Untreue ist ein Vermögensdelikt. Aber dieser Vermögensnachteil kommt in Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht vor. Er knüpft an eine reine Handlung an, nämlich an die Kompetenzüberschreitung. Das ist in diesem Abschnitt völlig systemwidrig und deswegen auch schon handwerklich überhaupt nicht gut gemacht, fast gar nicht.
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Der BGH hat gesagt, dass es nicht ausreichend ist, nur pflichtwidrig zu handeln. Nun soll, wenn die Kompetenz überschritten wird, die ein mit Haushaltsentscheidungen Befasster hat, dieser strafrechtlich zu belangen sein. Sie sehen in Ihrem Tatbestand, den Sie uns hier vorlegen, also dieser Kompetenzüberschreitung, wenn pflichtwidrig Haushaltsmittel verschwendet werden, dasselbe Strafmaß vor, nämlich Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren, wie wir sie auch für die Haushaltsuntreue haben, bei der zusätzlich noch dieser Vermögensnachteil gegeben sein muss. Dabei hat der BGH übrigens schon in allen Einzelheiten definiert, was überhaupt so ein Vermögensnachteil ist.
Die Auswirkungen der sogenannten Bugwellenentscheidung, auf die Sie sich beziehen, sind völlig überstrapaziert. Man muss sagen, dass einfach nicht jeder Verstoß gegen Haushaltsrecht diesen Untreuetatbestand im Sinne des Strafgesetzbuchs verwirklichen soll. Das ist eine Wertung, die wir hier vornehmen. Wir nehmen sie anders vor als Sie und sagen: Uns reichen die Maßnahmen aus, die wir jetzt schon in unseren Gesetzen haben – die Kollegen haben es erwähnt –: disziplinarrechtliche Möglichkeiten, Schadenersatzansprüche.
Was Sie darüber hinaus noch tun: Sie formulieren einen wunderbaren Absatz 5 in Ihrem Gesetzentwurf und definieren, dass jetzt „Amtsträger im Sinne dieser Vorschrift … auch Mitglieder von kommunalen oder vergleichbaren Vertretungsorganen, die mit haushaltswirksamen Entscheidungen befasst sind,“ sein sollen. Ich verstehe das so, dass Sie ganz ausdrücklich verlangen, dass jetzt auch Mandatsträger Amtsträger sein sollen. Bisher war ich davon ausgegangen, dass wir immer eine Trennung von Amt und Mandat haben, dass das durchaus zu unterscheiden ist. Das verwischen Sie hier in Ihrem Gesetzentwurf mit ganz kurzen Sätzen ganz am Ende, die man vielleicht auch zu überlesen geneigt ist. Das ist ebenfalls systemfremd und daher auch abzulehnen.
Es gibt die Fälle, wie gesagt, der disziplinarrechtlichen Bestrafung, der Amtshaftung, des Rückgriffs des Staates auf diejenigen, die mit dem Haushaltsrecht in Konflikt gekommen sind. Ich finde, die Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten sind ausreichend. Sie bedürfen keiner weiteren Ergänzung.
Darüber hinaus sei Ihnen mit Goethe gesagt:
Ein jeder kehre vor seiner Tür, Und rein ist jedes Stadtquartier.
Ein jeder übe seine Lektion, So wird es gut im Rate stohn.
Wer – ich möchte darauf eingehen – die Nazizeit als „Vogelschiss“ bezeichnet und sich mit dieser Äußerung hart an der Grenze – nach meiner Auffassung! – der Volksverhetzung nach § 130 StGB bewegt,
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der sollte sich eher damit beschäftigen, diesen Kollegen in der Fraktion zu disziplinieren, als uns hier neue Vorschriften zu geben.
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Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen Axel Müller für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gesetzesvorschlag der AfD zur Haushaltsuntreue – machen wir den Stresstest. Prüfmaßstab sind für mich die folgenden vier Regeln:
Regel Nummer eins: Bevor man ein neues Gesetz erlässt, sollte man sich zunächst die Frage stellen, ob es denn überhaupt notwendig ist. Sie von der AfD begründen dies mit einer enormen Verschwendung an öffentlichen Mitteln. Entscheidend ist jedoch, ob eine Regelungslücke besteht. Der Kollege Luczak von der CDU hat dies bereits ausgeführt. Dem ist mitnichten so; denn es gibt den Straftatbestand der Untreue in § 266 des Strafgesetzbuchs.
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Danach kann auch bestraft werden, wer öffentliche Mittel zweckwidrig verwendet oder gegen Haushaltsgrundsätze verstößt.
Ich kann hier beitragen, dass ich in meiner Eigenschaft als Stadtrat in meiner Heimatgemeinde einen früheren Stadtkämmerer bei der Staatsanwaltschaft diesbezüglich – ich nenne es mal so – gemeldet habe. Sie hat zwischenzeitlich wegen Überschreitung der Haushaltskredite und auch wegen der Verstöße gegen das Haushaltsgrundsätzegesetz Anklage erhoben. Das Hauptverfahren ist zwischenzeitlich eröffnet. Wir werden sehen, wie es ausgeht.
Herr Kollege Straetmanns von den Linken, gestatten Sie mir eine Ergänzung zu Ihrer Rede: Der AfD-Stadtrat in Stuttgart ist nicht nur angeklagt, nein, er ist zwischenzeitlich auch rechtskräftig wegen Untreue verurteilt worden.
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Die AfD begründet ihren Gesetzentwurf weiter mit ihrer Unzufriedenheit mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Die Kollegin Steffen hat das Urteil des Bundesgerichtshofs zur sogenannten Bugwellenentscheidung bereits ausführlich dargelegt. Danach sind eben bloße Haushaltsüberschreitungen oder letztendlich folgenlose Haushaltswidrigkeiten nicht strafbar, insbesondere dann, wenn das Geld am Ende den Bürgerinnen und Bürgern doch zur Verfügung gestellt wird bzw. in öffentlichen Einrichtungen, die die Bürger nutzen können, der Allgemeinheit dient.
Wenn ein Parlament schon gesetzgeberisch tätig wird, weil es mit der Rechtsprechung der Gerichte nicht mehr zufrieden ist: Ja, wo bleibt denn da die Unabhängigkeit der Justiz, wenn man die Justiz auf diese Art und Weise ans Gängelband legen will?
Regel Nummer zwei: Wer will, dass sein Werk abgenommen wird, der sollte es mängelfrei erstellen. Ihr Gesetzentwurf weist jedoch gleich mehrere handwerkliche juristische Mängel auf. § 1 des Strafgesetzbuchs nennt in Anlehnung an Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes den sogenannten Bestimmtheitsgrundsatz. Dieser verlangt, dass ich weiß, wenn ich mich strafbar mache, welche Tathandlung mich zu einem Straftäter werden lässt. Sie schreiben in Ihrem Gesetzesvorschlag unter anderem, dass Haushaltsuntreue bereits bei einem auffälligen Missverhältnis zwischen Mitteleinsatz und verfolgtem Nutzen vorliege, ohne diesen unbestimmten Rechtsbegriff mit Leben zu erfüllen. Sie verweisen dazu auf den Straftatbestand des Mietwuchers in § 291 des Strafgesetzbuches, verschweigen aber, dass dieser unbestimmte Rechtsbegriff beim Mietwucher geregelt ist durch den Verweis auf das Gesetz zur Regelung der Miethöhe. Dort ist definiert, was ein auffälliges Missverhältnis ist.
Regel Nummer drei: Ein Gesetz muss praxistauglich sein. Sie wollen in Ihren Straftatbestand eine Art Persilscheinregelung einführen, die die Strafbarkeit dann entfallen lässt, wenn eine Unbedenklichkeitsbescheinigung einer wie auch immer gearteten unabhängigen Prüfstelle erteilt wird, möglicherweise des Rechnungshofs. Das ist zum einen juristisch bedenklich, weil künftig – so schreiben Sie es ja auch – eine Stelle außerhalb der Justiz entscheiden können soll, ob sich jemand strafbar gemacht hat oder nicht. Es ist aber vor allen Dingen praxisuntauglich, weil diese Stelle ohne demokratische Legitimation entscheidet, ob eventuell ein laufendes Projekt überhaupt zu Ende geführt werden kann.
Regel Nummer vier: Strafgesetze wie auch sonstige Gesetze sollen zum einen das Zusammenleben der Menschen regeln und nicht Zwietracht säen und zum anderen natürlich den demokratischen Rechtsstaat stärken. Es wurde von meinen Vorrednern bereits ausgeführt, wie Sie kommunale Mandatsträger künftig behandeln wollen. Sie wollen die Strafbarkeit auf diese Gruppe, die ausdrücklich nach § 11 des Strafgesetzbuches von einer Strafbarkeit ausgeschlossen ist, erweitern. Ja, wie soll denn da noch jemand bereit sein, sich ehrenamtlich politisch zu engagieren, ein kommunales Mandat zu begleiten, wenn er von Anfang an mit einem Bein im Gefängnis sitzt? Meine sehr verehrten Damen und Herren, Demokratie lebt von den Ehrenamtlichen, insbesondere auf der kommunalen Ebene.
Ich komme zum Schluss. Nach fünf Minuten Redezeit ist das Ergebnis meines Stresstests: vier Regelverstöße und Demokratiefeindlichkeit aufgedeckt.
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Am Ende kann man Ihnen dafür nur die Rote Karte zeigen.
Ich bedanke mich.
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Herr Kollege, herzlichen Dank. – Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen Mario Mieruch, fraktionsloser Abgeordneter.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben jetzt viel Pro, viel Kontra zu dieser Initiative gehört.
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Ich führe immer gerne praktische Beispiele an. Es gibt ein wunderbar aktuelles Beispiel, das nennt sich Air Berlin.
Am 15. August 2017 meldete Air Berlin Insolvenz an. Direkt am nächsten Tag beschloss die Bundesregierung, ein Darlehen in Höhe von 150 Millionen Euro zu überweisen, ohne das von ihr selbst beauftragte Gutachten, das die Rückzahlungssicherheit darstellen sollte, abzuwarten. Was dann passierte, wissen wir alle: Die Kohle ist weg. Es war unsere Blaue Partei, die daraufhin Strafanzeige gegen die Bundesregierung stellte wegen des Verdachts auf Untreue.
Der Staatsanwalt stellte das Verfahren jetzt ein. Es sei – Zitat – keine strafrechtliche Pflicht ersichtlich, auf die Fertigstellung dieses Gutachtens zu warten. – Nein, das lag auch nur einen Tag später vor. So viel Geduld kann man im Umgang mit 150 Millionen Euro Steuergeldern ja nun wirklich erwarten. Die Staatsanwaltschaft legte sogar noch einen nach, indem man – Zitat – den politischen Entscheidungsträgern keinen strafrechtsrelevanten Vorsatz hinsichtlich eines möglichen Schadens im Sinne von § 266 StGB zum Zeitpunkt der früheren Entscheidung über die Kreditgabe unterstellen kann. Das heißt im Grunde genommen übersetzt: Stell dich dumm, kommste rum.
Fälle wie diese sind nun wirklich keine Ausnahme. Wenn die Richter des BGH, die von den Länderjustizministern und von 16 Bundestagsabgeordneten ernannt werden, eine Rechtsprechung fällen, die genau so etwas ermöglicht, dann sind wir alle, die wir hier sitzen, sowie die Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss diesbezüglich gut beraten, die Entscheidung so zu treffen, dass ein Fall wie Air Berlin kein zweites Mal vorkommt und dass diese Steuergeldverschwendung, wie wir sie in diesem praktischen Beispiel erleben mussten, kein zweites Mal erfolgt.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich das Wort dem Kollegen Alexander Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, es ist in der Tat so: Ein Blick in das Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler erhitzt die Gemüter. Die Folgen von solchen Steuermittelverschwendungen sind weitreichend. Da ist nicht nur das Kopfschütteln in der Bevölkerung, sondern da sind auch das verlorene Vertrauen in eine funktionierende Verwaltung und Politikverdrossenheit zu nennen. Deswegen ist es richtig, dass der Bund der Steuerzahler jedes Jahr von neuem den Finger in die Wunde legt. Es ist auch richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir uns ernsthaft die Frage stellen: Wie können wir Maßnahmen treffen, um solche Fälle für die Zukunft sicher zu verhindern?
Der vorliegende Gesetzentwurf versucht das in Form eines Straftatbestandes. Wir alle wissen: Ein Straftatbestand ist die Ultima Ratio, das letzte Mittel. Insofern war es schon interessant, dass vorhin bei der Zwischenintervention eine echte Alternative konkret benannt worden ist. Aber ich glaube, das Wichtigste, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist, dass man dann, wenn man einen Straftatbestand fordert, nicht von falschen Voraussetzungen ausgehen darf. Dazu will ich einmal aus Ihrem Antrag zitieren – Herr Präsident, Sie gestatten –; Sie schreiben:
Seit der „Bugwellenentscheidung“ ist der Anwendungsbereich des § 266 StGB in derartigen Fällen auf klare oder zu vermutende Fälle von Korruption, also von Zweckentfremdung zum Nutzen einzelner Privatleute eingeschränkt.
Ich habe den Satz mehrmals durchgelesen; auch ich kenne die Bugwellenentscheidung. Ich habe dann in der Bugwellenentscheidung nachgelesen und muss ganz ehrlich sagen: Das, was Sie da behaupten, wird dort an keiner Stelle vom Bundesgerichtshof niedergelegt.
Um das ein bisschen konkreter aufzuarbeiten, habe ich mir erlaubt, zwei, drei Zitate aus der Bugwellenentscheidung heute mitzubringen. Der BGH schreibt nämlich, ich zitiere – Herr Präsident, ich hoffe, auch das gestatten Sie –:
Tathandlung der Untreue nach § 266 Abs. 1 StGB ist die im Außenverhältnis wirksame, aber im Verhältnis zum Geschäftsherrn bestimmungswidrige Ausübung der Befugnis zur Vermögensverfügung oder Verpflichtung … oder die Verletzung der sich aus einem Treueverhältnis ergebenden Vermögensbetreuungspflicht …; Taterfolg ist die Verursachung eines Vermögensnachteils.
Der BGH wird sogar noch konkreter und widerlegt Sie eigentlich vollends. Er formuliert konkret den Satz:
Untreue im Sinne des § 266 StGB kann auch bei Verstößen gegen haushaltsrechtliche Vorgaben oder Prinzipien gegeben sein.
In meinem ersten Zitat hat der BGH von „Vermögensnachteil“ gesprochen. Wir wissen, dass es auch dabei nicht nur um den Vermögensschaden geht, sondern dass es da auch Fälle des individuellen Schadenseinschlags gibt – so nennt man das. Der BGH weitet also den Schadensbegriff noch einmal aus, sodass auch das naheliegende Risiko unkalkulierbarer späterer Kosten darunterfällt, zum Beispiel ein krass fehlkalkulierter, unrentabler Erhaltungsaufwand bei einer öffentlichen Anschaffung wie einer öffentlichen Baumaßnahme. Wir sehen so ganz schnell, wie weit das Feld von § 266 tatsächlich noch ist. Eine Einschränkung, wie Sie sie formulieren, gibt es nicht.
Ein weiterer Punkt, der uns beschäftigen sollte, ist natürlich die Frage: Erzielt dieser Straftatbestand, wenn man ihn schafft, tatsächlich die gewünschte Wirkung? Da, glaube ich, sollten wir nicht verschweigen, dass es heute schon Haushaltsgrundsätze gibt, die niedergelegt sind, zum Beispiel im Gesetz über die Grundsätze des Haushaltsrechts und auch in Länderregelungen wie zum Beispiel den Gemeindeordnungen. Verstöße gegen diese Grundsätze sind Sorgfaltspflichtverletzungen, sind Dienstpflichtverletzungen. Das heißt, es gibt Konsequenzen, die sehr schnell im Raum stehen, wie Disziplinarmaßnahmen, Schadensersatzansprüche, Niederschlag in der Beurteilung oder Niederschlag in der leistungsorientierten Bezahlung.
Für mich persönlich wird es sehr spannend werden, ob es Ihnen in den weiteren Beratungen im Ausschuss tatsächlich gelingt, uns aufzuzeigen, dass all diese Instrumente heute nicht wirken, dass also bei jemanden, der Mittel leichtfertig ausgibt und damit eine Disziplinarmaßnahme in Kauf nimmt, unter Umständen ein Stehenbleiben in der Bewertung in Kauf nimmt oder eine schlechte Beurteilung in Kauf nimmt, jetzt all das nicht passieren würde und deshalb ein Straftatbestand geschaffen werden müsste. Ich glaube, wir sollten da sehr objektiv und ehrlich miteinander umgehen. Auf diese weitere Beratung freue ich mich.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Hoffmann. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/2469 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das sehe ich nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrter Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! In der öffentlichen Diskussion ist in letzter Zeit vermehrt von sogenannter Politikverdrossenheit die Rede. In der Bevölkerung entstünde der Eindruck, „die da oben“ kümmerten sich nicht um die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger. Hier muss ich als Vorsitzender des Petitionsausschusses ganz klar widersprechen: Petitionen sind die richtige Wahl, sich an uns, die Volksvertreter, zu wenden, mit den ganz kleinen Problemen, mit den Alltagssorgen, aber natürlich auch mit Vorschlägen für bessere Gesetze zum Wohl unseres Volkes. Genau deswegen unterstützte ich jeden, der eine Petition hier einreichen und sich damit im Parlament Gehör verschaffen möchte. Eine Petition ist nämlich viel mehr als ein bloßes Schriftstück; eine solche an uns zu richten, ist ein Grundrecht, welches in unserer Verfassung verankert ist. Und seit 1975 ist in unserer Verfassung festgeschrieben, dass wir einen entsprechenden Ausschuss zu benennen haben.
Das Jahr 2017 war ein gutes Jahr für den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages. 11 507 Petitionen wurden insgesamt eingereicht; das waren etwas mehr als im Jahre 2016. Und ja, wenn man den Bericht liest, muss man mit Erstaunen feststellen: Die großen öffentlichen medialen Debatten, die wir oft führen, die in den Zeitungen oder bei Facebook kursieren, spiegeln sich in den Anliegen, die die Bürger vorbringen, doch nicht genau wider. Es handelt sich vielmehr um kleine Alltagsprobleme mit Behörden oder im Bereich des Sozialen und der Gesundheit. 68 Prozent der eingereichten Eingaben enthielten nämlich persönliche Anliegen von Bürgerinnen und Bürgern. Sie waren unzufrieden mit einer Behördenentscheidung oder hatten Alltagsprobleme vorzubringen.
Die Mehrzahl der Petitionen, insgesamt ein Drittel, kam aus den Bereichen Arbeit und Soziales sowie Gesundheit. Bei diesen individuellen Problemen ging es beispielsweise um die Bewilligung einer Erwerbsminderungsrente, die Gewährung einer Rehamaßnahme; es ging um Krankenkassenbeiträge sowie um Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Das zeigt, dass dieser Bereich für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sehr wichtig ist und ihnen teilweise große Sorgen bereitet.
Erst an dritter Stelle lagen Petitionen aus dem Bereich des Bundesinnenministeriums, wobei die Zahl der Asylpetitionen sogar stark gesunken ist, von über 600 auf über 500. Das sind die Zahlen aus 2017; sie spiegeln also, wie ich bereits betonte, nicht ganz die Situation wider, die wir oft in der Öffentlichkeit oder in den Medien erleben.
Neben den vielen Einzelfällen wurden auch zahlreiche Bitten zur Gesetzgebung oder zur politischen Gestaltung unseres Landes an den Ausschuss herangetragen. Ähnlich wie im Vorjahr wurden dabei ein Drittel der Petitionen online und zwei Drittel schriftlich, per Brief oder per Fax, eingereicht. Es ist für viele Bürgerinnen und Bürger doch etwas Besonderes, sich an den Petitionsausschuss zu wenden. Sie gehen nicht einfach ins Onlineformular, sondern machen sich die Mühe, handschriftlich einen Text zu verfassen, diesen aufs Postamt zu bringen und entsprechend nach Berlin zu senden.
Insgesamt wurden 703 Petitionen veröffentlicht; das waren 70 mehr als im Jahre davor. Es fanden mit 2,1 Millionen registrierten Nutzern lebhafte Debatten statt. 16 000 Diskussionsbeiträge wurden abgegeben, und fünf Petitionen wurden mehr als 5 000-mal elektronisch mitgezeichnet. Hinzu kommen jeweils noch die Unterstützer, die per Post oder per Fax mitzeichnen. Auch das sei erwähnt: Die Mehrzahl der Mitzeichnungen einer Petition erfolgen postalisch oder per Fax. Das mag man kritisieren; aber es ist einfach so. Es zeigt vielleicht, wie ich bereits erwähnte, die besondere Mühe, die sich Bürger geben, wenn sie sich an unseren Ausschuss, an das Parlament, wenden.
Insgesamt gab es vielfältige Vorgehensweisen bei den Beratungen des Petitionsausschusses. Bei den Beratungen werden wir, die zurzeit 28 Mitglieder, stark von den über 90 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Sekretariats unterstützt, indem sie uns zuarbeiten. Unter der Leitung von Dr. Paschmanns stehen sie uns in der Sacharbeit und bei inhaltlichen Fragen ganz besonders auch direkt zur Verfügung.
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Ihnen gilt ein besonderer Dank. So ist es oft möglich, dass einzelne Petitionen bereits im Dienstgang erledigt werden können. Der Bürger bekommt eine Information. Manchmal erübrigt sich dann schon das weitere Vorgehen.
Jetzt kommen wir zu dem wichtigen Punkt, dass viel Arbeit des Petitionsausschusses nicht auf der großen Bühne stattfindet. Wir debattieren hier einmal im Jahr diesen Bericht; aber die eigentliche Kernarbeit findet in zahlreichen Berichterstattergesprächen statt, sie findet in Anhörungen statt, in Einzelberatungen mit Petenten und vor allen Dingen in der Vorarbeit, im Gespräch mit Behörden und Ministerien durch das Ausschusssekretariat, um die Sachlage zu klären.
Öffentliche Sitzungen werden durchgeführt, wenn eine Petition mindestens 50 000 Unterstützer erfährt oder wenn sich die Fraktionen übergreifend darauf verständigen, eine wichtige Petition zu debattieren. Im letzten Jahr war es beispielsweise die Petition „Sicherstellung der ambulanten medizinischen Versorgung von Mukoviszidose-Patienten“; diese Petition hatte über 96 000 Mitzeichner. Ebenso wurde über den Stopp der Umsetzung der EU-Richtlinie über Pauschalreisen diskutiert, auch hier im Plenum. Das ist arbeitsgruppen- und ausschussübergreifend ein wichtiges Thema; ging es doch um den Schutz von kleinen und mittelständischen Reisebüros, die mit dieser EU-Verordnung in ihrer Existenz gefährdet worden wären. Gemeinsam konnten der Petitionsausschuss und die anderen Ausschüsse eine sinnvolle Lösung erarbeiten.
Manchmal begeben sich die Kolleginnen und Kollegen sogar auf Reisen ins Land. So fanden vier Ortstermine statt: Einmal ging es um eine Lärmschutzwand an der Autobahn 52. Ein anderes Mal ging es nach Rostock, um über den Erhalt der Mühlendammschleuse zu diskutieren. Beim dritten Termin ging es nach Dorfen. Hier ging es um die Tieferlegung von Bahngleisen im Gemeindebereich. Beim vierten Termin ging es nach Detmold, wo eine ältere Dame sich von einem grauen Netzverteilkasten der Telekom gestört fühlte, weil er die Sicht auf die Straße sowie die historische Ansicht auf ihr Gebäude beeinträchtigte. Das kann man jetzt für Klein-Klein halten, aber das zeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger im Alltag vor allem kleine Probleme haben, die sie stören. Sie stört oft nicht die große Weltpolitik, also das, was vielleicht Herr Trump sagt oder was im Nahen Osten passiert, sondern sie fordern, dass endlich die Bahngleise vor dem Haus tiefergelegt werden und dass ein Netzverteilkasten, wofür wir erfolgreich eintreten konnten, in die Nebenstraße verlegt wird. Das sind wichtige Arbeiten, die, wie gesagt, im Klein-Klein stattfinden. Darum sollten wir uns immer wieder kümmern, und wir sollten uns dieser Arbeit auch verpflichtet fühlen.
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Im Bereich der größeren Gesetzgebungsvorhaben und der Anliegen unseres Landes konnten wir beispielsweise auch eine Petition erfolgreich umsetzen, bei der es um die Regelung von Rettungsgassen ging. Ich glaube, dieses sehr emotionale Thema – auch letzte Woche mussten hier in Brandenburg wieder Retter 4 Kilometer laufen, um an die Unfallstelle zu kommen – ist sehr wichtig. Im letzten Jahr konnte aufgrund einer Eingabe hier eine gemeinsame Regelung gefunden werden, dass diese Rettungsgassenbildung einheitlich – in der StVO und auch EU-weit nach gleichem Standard – erfolgt. Das ist auf eine erfolgreiche Petition zurückzuführen.
In einem anderen Fall konnte das Haus von Thomas Mann, in dem er im Exil in Los Angeles wohnte, zurückerworben werden. Eine Petentin hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass dieses Haus zum Verkauf steht, und das Auswärtige Amt und der Deutsche Bundestag haben gemeinsam die Initiative ergriffen und dieses Haus zurückgekauft. Die Villa soll künftig von Stipendiaten aus allen Bereichen der deutschen Gesellschaft, insbesondere Kulturwissenschaft, Politik und Medien, genutzt werden. Ich finde, das ist ein gutes Beispiel für die erfolgreiche Arbeit unseres Ausschusses.
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Lassen Sie mich aber zum Schluss auch noch einmal vorausblicken. Wichtig ist, wie ich bereits erwähnte, dass wir immer dauerhaftes Bindeglied zwischen Parlament und Bevölkerung sind. Der Bürger unseres Landes wendet sich in der Regel an den Deutschen Bundestag. Bei Wahlen hat er Kontakt, indem er uns wählt. Wenn er ein Anliegen hat, sagt er: Ich schreibe dazu eine Petition. – Er schreibt meist an uns als Erstes, und wir fühlen uns auch verpflichtet und verantwortlich, die Gedanken, die er vorträgt, das Anliegen zu prüfen und dann auch widerzuspiegeln. Dieses Spiegeln in die Fraktionen unseres Hauses, in die Ausschussarbeit, glaube ich, müssen wir noch stärker vornehmen. Wir müssen die Gedanken, die Anliegen, die Bürger an uns herantragen und die aus meiner Sicht sehr klug und umfassend sind, weil auch wir nicht alles sehen können – wir sind nicht allwissend; so viel Demut gehört, glaube ich, dazu –, ab und an aufnehmen und in unsere Arbeit einbringen.
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Ich glaube, wenn wir dies tun, dann können wir auch die Akzeptanz unseres Parlamentes verbessern. Dann merken die Leute: Die im Bundestag hören mir zu; mein Anliegen, welches ich vorbringe, ist wichtig. – In diesem Sinne möchte ich gemeinsam mit ihnen und den Kolleginnen und Kollegen im Jahr 2018 und gerne auch darüber hinaus zusammenarbeiten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Wendt, für Ihren Beitrag, der zum Ausdruck gebracht hat, dass das Verfassungsrecht, sich an den Deutschen Bundestag zu wenden, eine besondere Bedeutung hat.
Ich möchte an dieser Stelle – Sie haben es in Ihrer Rede schon getan – das Haus bitten, seinen Dank zum Ausdruck zu bringen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Petitionsausschusses, deren Spitze hinter uns Platz genommen hat; denn sie leisten wirklich eine herausragende Arbeit.
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Als Nächstes erteile ich für die SPD-Fraktion der Kollegin Martina Stamm-Fibich das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Das Petitionsrecht ist in Artikel 17 unserer Verfassung als Grundrecht garantiert, und es ist nicht an Alter, nicht an den Wohnort und nicht an die Staatsangehörigkeit gebunden. Es steht als Jedermannsrecht allen Menschen zu, und es ist das einzige Element direkter Demokratie auf Bundesebene. Aber die praktische Ausgestaltung des Petitionswesens beim Bundestag wird aktuell leider weder dem Charakter des Petitionsrechts als Grundrecht und Jedermannsrecht noch seiner Bedeutung als einzigem direktdemokratischen Element auf Bundesebene gerecht. Inzwischen erfreuen sich viele private Kampagnenplattformen einer wachsenden Beliebtheit. Gleichzeitig steigt auch die Anzahl dieser Kampagnen.
Im Gegensatz dazu gibt es beim Petitionsausschuss des Bundestages seit Jahren immer weniger Eingaben. Die Zahl der eingereichten Petitionen ist im Jahr 2017 gegenüber dem Vorjahr nahezu konstant geblieben. Eine Trendwende lässt sich aber nicht ableiten. Wir befinden uns heute ungefähr auf dem Stand von 1981. Das sollte uns zu denken geben.
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Zum Vergleich: 2005 wurden doppelt so viele Petitionen eingereicht. Eine Möglichkeit ist, dass damals alles schlechter war und die Menschen mehr Grund zur Kritik hatten. Ich habe aber eine andere Vermutung: 2005 gab es die letzte wirklich große Reform des Petitionswesens, damals unter Rot-Grün. Wir haben damals für digitale Beteiligung gesorgt. Das ist mittlerweile 13 Jahre her, eine politische Ewigkeit.
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Das wachsende Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger – – Es tut mir leid, meine Stimme. Ich muss erst einmal etwas trinken.
Frau Kollegin, Sie können sich ohne Anrechnung auf die Redezeit Zeit nehmen. Ich halte so lange die Uhr an.
Danke. – Das wachsende Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger nach direkter politischer Beteiligung ist offensichtlich. Der Petitionsausschuss wird aus unterschiedlichen Gründen – – Es geht nicht. Es tut mir leid. Vielleicht kann ich es später noch einmal versuchen.
Frau Kollegin, Sie können später fortfahren oder auch die Rede zu Protokoll geben, je nachdem, wie Sie es für richtig halten. Ich verstehe es.
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Dann rufe ich für die AfD-Fraktion den Kollegen Johannes Huber auf.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Liebe Bürger in Deutschland, die auch auf den Tribünen anwesend sind, ihr habt laut Artikel 17 Grundgesetz das Grundrecht, euch schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an den Deutschen Bundestag zu wenden. Damit könnt ihr direkt Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen und gleichzeitig den Abgeordneten und den Bundesbehörden auf die Finger schauen. Wir als Alternative für Deutschland setzen uns seit unserem Bestehen im Sinne der direkten Demokratie für die größtmögliche Bürgerbeteiligung ein.
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Im Petitionsausschuss werden Anliegen im Gegensatz zu privaten Anbietern auch verbindlich geprüft. Der Petitionsbericht 2017 liest sich dabei wie ein AfD-Wahlprogramm, was zeigt, dass wir als Bürgerpartei tatsächlich die Themen vertreten, die unter den Nägeln brennen.
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– Ich kann es Ihnen erklären. –
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Gefordert wird insbesondere eine höhere Präsenz der Abgeordneten im Bundestag und Volksabstimmungen auf Bundesebene.
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Das Letztere können die übrigen Parteien,
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trotz der Sorge um die eigenen Mandate, den Bürgern und der AfD nicht ewig vorenthalten, ebenso die Rücknahme des NetzDG, den Erhalt des Bargeldes, die Abschaffung der Zwangsrundfunkgebühren, den Abbruch aller EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, die Aufhebung der Russland-Sanktionen und den Abzug der Atomwaffen. Die AfD unterstützt alle diese Anliegen.
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Die Anzahl an Petitionen zum Thema Asyl zeigt auch deutlich, dass die Asylkrise mitnichten geschafft ist. Es wandten sich sogar zahlreiche Mitarbeiter des BAMF an den Ausschuss, um ihre befristeten Arbeitsverhältnisse endlich zu entfristen. Bei 16 Mitarbeitern, die dank Merkel, Altmaier und Seehofer chronisch überlastet sind, war das mittlerweile erfolgreich. Das ist umso schöner, weil sie aktuell als Bauernopfer für die wirklich Verantwortlichen herhalten müssen.
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Die rasante Steigerung bei den Anliegen zum Thema Gesundheit macht deutlich, wie weit der demografische Wandel und dessen Folgen bereits fortgeschritten sind. Viele Anliegen zur Kinder- und Jugendhilfe zeigen, dass Abhilfe für die deutschen Sozialsysteme nur mit einer Stärkung der nachkommenden Generationen möglich ist. Der Petitionsausschuss war dabei leider aufgrund der langjährigen Regierungsbildung, an der fast alle übrigen Parteien beteiligt waren, nicht immer handlungsfähig. Das muss gesagt werden. Dabei könnte im Zuge der digitalen Demokratie vor allem die Plattform für E-Petitionen noch bekannter gemacht werden; denn bei 50 000 Mitzeichnern werden Anliegen öffentlich im Deutschen Bundestag mit Vertretern der Bundesregierung angehört.
Gute Chancen darauf hat die aktuelle, unter öffentlicher Beobachtung stehende „Gemeinsame Erklärung 2018“ von Vera Lengsfeld, Henryk M. Broder und anderen deutschen Intellektuellen und Leistungsträgern der deutschen Gesellschaft.
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– Sie sollten denjenigen mehr Achtung schenken, die Petitionen zu Recht im Petitionsausschuss einreichen, und hier zuhören. Denn diese wollen die Rechtmäßigkeit an den deutschen Grenzen wiederherstellen und Rückweisungen wieder möglich machen. Wenn die Bundesregierung den Willen der Bevölkerung nicht umsetzen will, sollten mündige Bürger ihr Anliegen in die eigenen Hände nehmen. Die AfD wird sie dabei immer unterstützen.
Vielen Dank.
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Als Nächstes erteile ich für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Andreas Mattfeldt das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor allen Dingen: Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Petitionsausschuss! Die Arbeit in unserem Ausschuss lohnt sich. Wir wissen, dass wir ganz häufig den Menschen bei Problemen in ihrem persönlichen Umfeld helfen können. Ich darf sagen: Ich bin dankbar, schon so lange dabei sein zu dürfen.
Herr Huber, Sie suggerieren hier, Sie vertreten die Menschen in unserem Land, Sie seien das Sprachrohr.
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Nein. Ich rufe Ihnen zu: Sie vertreten eine Minderheit. Sie vertreten nicht die Mehrheit, und Sie sind nicht das Sprachrohr des ganzen Volkes. Das sage ich ganz deutlich.
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Wir alle im Petitionsausschuss wissen: Klar, wir können nicht immer helfen. Aber mir ist ganz wichtig, zu betonen, dass jede einzelne Eingabe, die bei uns eingeht, sorgfältig geprüft und vor allen Dingen fachlich versiert beantwortet wird. Dafür ganz herzlichen Dank an unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Ausschussdienst.
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Unser Petitionsverfahren – und darüber können wir uns freuen – ist so erfolgreich, dass sogar politisch motivierte Institutionen dieses Instrument für sich entdeckt haben. Leider haben sie es, wie ich meine, schlecht kopiert und nutzen es nur, um im Internet für ihr Anliegen, für ihre Institution zu werben. Nahezu dreist wird mit unserer Namensgebung auf Onlineplattformen suggeriert, man könne mit einem einfachen Klick im Internet dazu beitragen, dass sich dieser Bundestag garantiert mit dem jeweiligen Anliegen der gesteuerten politischen Thematik auseinandersetzt. Nein, ich sage ganz deutlich: Derartig politisch motivierte Aktionen landen eben nicht bei uns im Petitionsausschuss. Wer etwas in diesem Land verändern möchte – das sage ich an die Bevölkerung gerichtet ganz deutlich –, der muss das Original wählen und Petitionen schriftlich oder auch online beim Bundestag einreichen und nicht bei obskuren Organisationen.
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Meine Damen und Herren, bei uns im Petitionsausschuss hat sich etwas verändert, und es gilt, unserer ehemaligen Vorsitzenden Kersten Steinke Danke zu sagen. Liebe Kersten Steinke, auch wenn wir beide gewiss nicht immer oder nur ganz selten auf einer Wellenlänge liegen, so möchte ich mich bei Ihnen für die vergangenen Jahre bedanken, in denen Sie unsere Ausschusssitzungen stets souverän und sehr stringent geleitet haben. Ich darf sagen: Sie haben das klasse gemacht! Danke schön.
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Meine Damen und Herren, nun möchte ich zur Kernsache, zu den Petitionen zurückkommen. Immer wieder diskutieren wir darüber – Frau Stamm-Fibich hat es gesagt –, warum die Anzahl der eingehenden Petitionen stagniert. Unsere Auffassung ist, dass die Anzahl der eingehenden Petitionen ein Gradmesser für die Zufriedenheit unseres Volkes sein kann. Wir können anscheinend feststellen: Bei uns in Deutschland läuft vieles rund und vieles richtig. Die gute Regierungs- und Koalitionsarbeit möchte ich an dieser Stelle loben.
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Ich bin ja ein kleiner Statistikfan: Wenn man sich den Bericht anschaut, dann wundert man sich, dass 64 Prozent der Petitionen von Männern eingereicht wurden. 64 Prozent der Petitionen kommen von Männern! Ich ziehe daraus jetzt überhaupt keine Rückschlüsse auf die Geschlechterverteilung hier im Parlament. Ich fordere auch keine Frauenquote für Petitionen.
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Aber das fällt halt auf, und vielleicht kann ja irgendjemand mal eine Doktorarbeit darüber schreiben.
Ganz seltsam ist auch, dass im Verhältnis zur Einwohnerzahl die meisten Petitionen – mit weitem Abstand – aus Berlin kommen, wo doch Berlin ansonsten im Vergleich nicht immer im positiven Sinne ganz vorne dabei ist. Anscheinend – das suggeriere ich – ist man in Berlin nicht ganz so zufrieden wie in Bayern oder Baden-Württemberg, wo im Verhältnis die wenigsten Petitionen eingereicht werden.
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Eine Petition hat mich besonders gefreut, die für alle eine positive Veränderung gebracht hat; das ist eben schon angeklungen. Es geht um die mangelhafte Bildung von Rettungsgassen auf deutschen Straßen, insbesondere auf Autobahnen. Ich bin selbst Mitglied einer freiwilligen Feuerwehr. Ich habe das leider häufiger erleben müssen: Man wird alarmiert, man rückt aus, und dann kommt man nicht weiter, weil die Unfallstelle durch irgendwelche – mit Verlaub; verzeihen Sie es mir – Deppen belegt ist. Das tut weh. Man will helfen, aber man kann es nicht. Das ist das Schlimmste, was einem als Einsatzkraft widerfahren kann, weil man weiß, dass Minuten über Leben und Tod entscheiden können. Deshalb bin ich froh – Marian Wendt hat es gesagt –, dass der Petitionsausschuss in dieser Sache einen ganz klaren Handlungsbedarf gesehen hat und die Eingaben an das Verkehrsministerium überwiesen worden sind. Jetzt ist klar, dass eine Rettungsgasse gebildet werden muss, wenn man nur langsam rollt oder wenn man steht: immer links auf der Fahrbahn.
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Ich glaube, dass diese Veränderung bei den Fahrzeugführern so langsam ankommt. Ich jedenfalls stelle fest, dass jetzt vermehrt Rettungsgassen gebildet werden.
Meine Damen und Herren, ich bin dem Präsidenten sehr dankbar dafür, dass er sich eben bei uns Mitgliedern des Petitionsausschusses bedankt hat. Das tat gut. Ich darf aber auch sagen: Ich hätte gerne noch etwas mehr Akzeptanz und Anerkennung unserer Arbeit hier im Deutschen Bundestag. Ich glaube, hier ist noch etwas Luft nach oben. Wir im Petitionsausschuss leisten mit der Bearbeitung der vielen Eingaben eine Fleißarbeit. Wir müssen vielfach intensiv recherchieren. Wir müssen häufig Ortstermine wahrnehmen, um uns direkt vor Ort ein Bild zu machen; denn manchmal sieht es vor Ort ganz anders aus als nach Aktenlage. Sie merken: Diese Arbeit nimmt viel Zeit in Anspruch. Das ist, da wir alle auch noch in anderen Ausschüssen tätig sind, nicht immer ganz einfach.
Deshalb mein Wunsch an unsere Fraktionsführungen und an das Präsidium nach mehr Anerkennung, nach etwas mehr Wertschätzung. Schließlich wissen wir alle aus Erfahrung, dass sich nur die wenigsten in den Fraktionen um die Arbeit im Petitionsausschuss reißen. Diese Wertschätzung – das meine ich sehr ernst – kann damit anfangen, dass wir wie nahezu alle anderen Ausschüsse zukünftig einen eigenen Ausschusssaal bekommen. Ich glaube, das würde dem Petitionsausschuss sehr gut zu Gesicht stehen. Damit würde uns auch eine gewisse Wertschätzung entgegengebracht. Bitte denken Sie hierüber nach.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Mattfeldt. – Ein kleiner Hinweis – die Kollegin Stamm-Fibich hat schon durch Handzeichen darauf hingewiesen –: Bei der Rettungsgasse stehen nicht alle links, sondern links und rechts.
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– Wir meinen das jetzt nicht ideologisch, sondern faktisch, Frau Kollegin.
Als Nächstem erteile ich dem Kollegen Manfred Todtenhausen für die FDP-Fraktion das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was kann einem Politiker eigentlich Besseres passieren, als sich für die Belange des Bürgers direkt einzusetzen, auch für den einzelnen Bürger? Ich finde, das ist eine wunderbare Aufgabe.
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Bereits in der vorletzten Legislaturperiode durfte ich im Petitionsausschuss mitarbeiten. Diese Aufgabe habe ich wahnsinnig gerne wahrgenommen. Die Kollegen von damals wissen, dass ich mit großer Freude dabei war. Nachdem wir Freien Demokraten letztes Jahr wieder in den Bundestag eingezogen sind, habe ich mich sofort um die Aufgabe im Petitionsausschuss beworben. Ich habe das große Glück gehabt, dass mir meine Fraktion das Vertrauen geschenkt hat. Es freut mich wirklich sehr, dass wir uns jetzt hier als Fraktion wieder der Sorgen und Wünsche und Probleme der Bürger annehmen können. Das sage ich auch im Namen meiner lieben Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich über Petitionen oft streite. Aber wir sind ein klasse Team. Herzlichen Dank dafür!
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Wir arbeiten im Petitionsausschuss tatkräftig und oft in großer Übereinstimmung. Wir sind bei einigen Petitionen gar nicht so weit auseinander und haben oft gemeinsame Ideen – manchmal aus verschiedenen Betrachtungsweisen,
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aber wir wollen eigentlich immer helfen.
Die Zusammenarbeit im Ausschuss ist ausgesprochen sachorientiert; das muss man sagen. Ich unterstelle jedem Ausschussmitglied, immer von ganzem Herzen dem Petenten helfen zu wollen. Zu denjenigen, die sich hier gerade nach vorne gespielt haben, muss ich sagen: Im Ausschuss sind die lammfromm. Da kommt so etwas nicht, sondern da ist die Zusammenarbeit eigentlich gar nicht die schlechteste. Für diese gute Zusammenarbeit möchte ich mich bei den Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausschuss bedanken, besonders beim neuen Vorsitzenden, der gerade erst eingestiegen ist, aber schon eine hervorragende Arbeit macht. Vielen Dank dafür!
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Auch wenn wir als FDP zum Jahresbericht 2017 nur sehr wenig beitragen konnten – wir sind ja erst im Oktober letzten Jahres dazugekommen und haben daher noch nicht so viel dazu beigetragen –, kann man auf ein sehr gutes Jahr zurückschauen. Wir alle können stolz darauf sein. Die ganze Arbeit ist erst durch die gute Vorarbeit und die ständige Unterstützung durch den Ausschussdienst möglich geworden. Auch den vielen fleißigen Mitarbeitern, die sich dort für uns einsetzen und starkmachen, vielen Dank!
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Sie bereiten unzählige Akten vor. Wer meinen Schreibtisch sieht – da stapeln sich die Akten zurzeit, aber nicht, weil ich faul bin, sondern weil wir viel Arbeit haben –, der weiß: Ohne diese Vorarbeit wären wir eigentlich hilflos.
Der Petitionsausschuss ist auch ein Frühwarnsystem – manche Kollegen nennen ihn „Seismografen“ des Bundestages, aber ich finde „Frühwarnsystem“ auch nicht schlecht –: Anhand der Petitionen kann man schnell erkennen, wo die Bürger Fehlentwicklungen sehen, wo sie Probleme haben und sich Sorgen machen. Je häufiger ein Thema angesprochen wird, umso mehr müssen wir uns im Einzelnen damit beschäftigen.
Petitionen spiegeln oft auch den Zeitgeist wider. Wichtige Ereignisse und neue Gesetze führen zu mehr Petitionen. Jedes Jahr erreichen uns Tausende von Bitten und Beschwerden aus der Bevölkerung. Früher als andere bekommen wir zu spüren, wenn bei den Menschen im Land dicke Luft ist – manchmal im wahrsten Sinne des Wortes. Ich bin wirklich kein Hellseher, aber ich möchte Ihnen schon jetzt zusichern: Wir werden uns sehr bald sehr intensiv mit der Datenschutz-Grundverordnung beschäftigen müssen. Das wird so sein.
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Aktuell liegt uns eine Petition vor, in der eine Reform des wettbewerbsrechtlichen Abmahnwesens gefordert wird. Einige unseriöse Kanzleien und Abmahnvereine nutzen die Datenschutz-Grundverordnung aus und drohen mit hohen Geldforderungen. Wie ich auf dem Weg hierher gerade gehört habe, betragen die Forderungen in den Abmahnungen aktuell zwischen 300 und 700 Euro. Dazu findet in Kürze eine öffentliche Sitzung statt.
Ich habe durchaus Verständnis für kleine und mittlere Unternehmen, für Vereine und die vielen Betroffenen, die sich nicht so einfach dagegen wehren können. Anders als große Konzerne haben sie nämlich keine Rechtsabteilung. Wir Freien Demokraten halten eine Nachbesserung für dringend erforderlich.
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Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, freut mich, dass die Union bereits gestern in einer großen Pressemitteilung in Aussicht gestellt hat, bei der Datenschutz-Grundverordnung nachbessern zu wollen.
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– Sehr schön; darauf freuen wir uns. – Wir hoffen, im nächsten Jahresbericht verkünden zu können, dass dieser Petition sehr schnell entsprochen werden konnte. Das ist, glaube ich, unser gemeinsames Ziel.
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Genauso halten wir eine bessere Aufklärung für erforderlich. Manchmal gelingt es schon durch Aufklärung, dem Bürger Sorgen zu nehmen und Vorurteile aus dem Weg zu räumen. Bei manchen Vorurteilen, die im Raum stehen, ist die Situation nämlich gar nicht so schlimm. Deswegen sollten wir die Aufklärung verbessern.
Wir bekommen jeden Tag mit, welche gravierenden Auswirkungen die Arbeit von Ämtern und Behörden auf das Leben unserer Mitmenschen hat. Manchmal können wir ein Problem durch Hinweise lösen; aber das gelingt leider nicht immer. Der Petitionsausschuss kann Behörden, Krankenkassen und Versicherungen keine Anweisungen geben, aber er kann auf Missverständnisse oder Missstände hinweisen. Er kann auch nicht in Gerichtsverfahren eingreifen, wie immer gedacht wird, und wir können erst recht keine Urteile aufheben. Er darf sich auch nicht mit Angelegenheiten befassen, für die die Bundesländer zuständig sind. Dafür gibt es eben die entsprechenden Zuständigkeiten. Er kann aber zum Beispiel die Bundesministerien auf einen Gesetzgebungsbedarf und Veränderungswünsche hinweisen, und er macht davon regen Gebrauch.
Meine Redezeit läuft bald ab; ich muss mich beeilen. Ich will nämlich noch etwas ganz Wichtiges sagen.
Ich wünschte mir, wir könnten öfter helfen. Besonders im Einzelfall, bei einzelnen Personen, wünsche ich mir oft, mehr Entscheidungsmöglichkeiten zu haben – manchmal sogar auch über Vorschriften hinweg. Das geht aber leider nicht. Vor allen Dingen wünsche ich mir aber, dass wir transparenter werden und mehr nach außen strahlen.
Deswegen wollen wir Freien Demokraten ein Bürgerplenarverfahren im Rahmen des Petitionsverfahrens einführen.
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Das bedeutet: Themen von großem öffentlichen Interesse kommen direkt auf die Tagesordnung des Plenums, wenn sie eine ausreichende Anzahl von Unterstützern erreichen. Wichtige Petitionen bekommen dadurch mehr Aufmerksamkeit.
Jetzt kommt ein Zitat:
Wir wollen die Mitwirkungsmöglichkeiten der Bevölkerung an der demokratischen Willensbildung stärken. Dazu werden wir das Petitionswesen weiterentwickeln und verbessern. Bei Massenpetitionen werden wir über das im Petitionsausschuss bestehende Anhörungsrecht hinaus eine Behandlung des Anliegens im Plenum des Deutschen Bundestags ... vorsehen.
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Das ist ein Zitat aus dem Koalitionsvertrag von Union und FDP von 2009. Das hätte schon längst umgesetzt werden können. Auch wir haben damals nicht richtig agiert.
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Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme jetzt ganz schnell zum Schluss, bevor mir der Präsident hier droht. – Ich weiß, dass auch andere Fraktionen das letztendlich wollen.
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Worauf warten wir eigentlich noch?
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Herr Kollege.
Lasst uns das machen; die Möglichkeit besteht. Ich glaube, wir sind uns hier in vielen Punkten sehr einig.
Herr Kollege, Sie sollten meine Nachsicht nicht zu sehr strapazieren.
Zu guter Letzt möchte ich die Bürgerinnen und Bürger auffordern – das ist wirklich für uns alle gedacht –: Wenn Sie das Gefühl haben, es läuft im Land etwas falsch, Sie werden ungerecht behandelt, dann schicken Sie dem Petitionsausschuss Ihre Eingaben, Ihre Beschwerden. Wir werden uns Ihrer Eingaben gerne annehmen.
Herr Kollege, bitte der letzte Satz.
Zum Schluss: Im Allgemeinen arbeiten wir im Hintergrund.
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Heute dürfen wir im Plenum einmal über unsere Arbeit berichten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, aber es nützt nichts, dass Sie mir zeigen, was Sie noch auf dem Zettel haben. Das war nun wirklich petitionsreif.
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Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Kerstin Kassner das Wort für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger, die Sie uns zuhören und zuschauen, um Sie geht es hier. Wir haben hier die Möglichkeit, Ihnen ein paar Hinweise zu Ihren Rechten und Mitwirkungsmöglichkeiten zu geben, die auch tatsächlich wahrgenommen werden sollten.
Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat gesagt:
Wir müssen über Demokratie nicht nur reden – wir müssen wieder lernen, für sie zu streiten!
Der Petitionsausschuss ist so ein Ort, an dem man dafür streiten kann.
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Es lohnt sich nämlich. Nicht nur bei unserer Wahlkreisarbeit, sondern auch hier besteht die Möglichkeit, ganz direkt zu erfahren, was die Bürgerinnen und Bürger für Sorgen haben, und sie haben wiederum die Möglichkeit, direkt auf uns Abgeordnete mit ihren Sorgen, Problemen, Wünschen, aber auch ganz konkreten Anträgen zuzugehen. Zum Beispiel erreichen uns auch Gesetzesvorschläge, die wir aufgreifen können oder nicht. In den allermeisten Fällen werden sie nicht direkt aufgegriffen, aber das kann sich ja mit etwas gutem Willen ändern.
Genug zu tun gibt es in unserem Land; das ist keine Frage, obwohl Herr Mattfeldt sagte, uns hätten nur noch 11 000 Petitionen erreicht und es würde vieles richtig laufen. Dem würde ich widersprechen; denn ich glaube, dass es doch viele Probleme gibt. Ein Zeichen dafür sind die Reaktionen auf den privaten Petitionsplattformen, wie Change.org. Dort haben sich im vergangenen Jahr mehr als 12 Millionen Menschen geäußert. Das spricht dafür, dass es für die Menschen doch eine ganze Reihe von Problemen gibt. Wir müssen im Umkehrschluss mal überlegen, was wir ändern müssen.
Kennen Sie zum Beispiel Sandra Schlensog?
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Sie ist 40 Jahre alt, Alleinerziehende und bekommt Hartz IV. Sie hatte Jens Spahn gebeten, einmal auszuprobieren, einen Monat lang mit dem Fördersatz von Hartz IV auszukommen. Ich sage mal: Dieser Zeitraum ist zu kurz. Man müsste das länger testen.
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Dann erst merkt man, wie schwierig das ist. Aber, wie gesagt, sie hatte in kürzester Zeit 190 000 Unterstützer. Was hat es gebracht? Vor allem Öffentlichkeit. Deshalb ist mein Plädoyer: Wir brauchen mehr Öffentlichkeit für unseren Petitionsausschuss, für das, was wir dort diskutieren und voranbringen wollen.
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Dazu können wir Folgendes tun: Ich möchte dafür plädieren, dass wir das Quorum für die Durchführung von öffentlichen Ausschusssitzungen heruntersetzen, von jetzt 50 000 auf meinetwegen 30 000,
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aber darüber können wir gerne reden. Das würde dazu führen, dass wir öffentlich wahrnehmbar über die Anliegen der Petentinnen und Petenten diskutieren.
Eine weitere Möglichkeit ist natürlich auch, dass wir hier im Plenum ganz besonders wichtige Petitionen diskutieren;
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das ist schon vorgeschlagen worden. Lassen Sie uns darüber diskutieren. Vielleicht ist eine Zahl von 100 000 Unterstützern eine Größe, über die man nachdenken sollte. Solche Themen, wie zum Beispiel jetzt die Suchtgefahr durch die Legalisierung von Cannabis, was wir nächsten Montag diskutieren werden, wären dafür geeignet. Aber wir hatten auch solche Petitionen wie die mit der Forderung nach Abschaffung von Sanktionen bei Hartz‑IV-Empfängern mit ganz vielen Unterstützern. Das sollten wir hier öffentlich diskutieren.
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Weil wir als Mitglieder des Petitionsausschusses unsere Arbeit fraktionsübergreifend qualifizieren wollen, hatten wir im Mai vergangenen Jahres eine Sachverständigenanhörung. Dort wurde uns tatsächlich geraten, den Kommunikationsweg mit den Petenten zu verbessern. Das heißt, wir sollten die Hürden für das Nutzen der Onlinepetitionen absenken. Wir sollten es ermöglichen, dass die Menschen sich schneller beteiligen können. Wir sollten auch darüber nachdenken, soziale Netzwerke zu nutzen, um mit den Bürgerinnen und Bürgern schnell in Kontakt zu kommen. Ich finde, es lohnt sich, darüber nachzudenken.
Was mich persönlich sehr ärgert, ist, dass wir als Abgeordnete etwa zwei Drittel aller Petitionen gar nicht zu sehen bekommen – auf einem Weg schon, aber nicht direkt. Erst bekommt nämlich jeder Bürger eine Stellungnahme von dem zuständigen Ministerium oder Amt. Nur wenn er ihr widerspricht oder eine weitere Auskunft will, bekommen wir die Petition auf den Tisch. Deshalb sage ich hier den Bürgerinnen und Bürgern: Geben Sie sich nicht mit dem ersten Bescheid zufrieden, wenn Ihnen dieser nicht reicht. Wenden Sie sich erneut an den Ausschuss. Dann werden wir uns als Abgeordnete um Ihr Anliegen kümmern.
Dass es sich lohnt, sich um das Anliegen zu kümmern, sage ich aus meiner Erfahrung mit der Mühlendammschleuse in Rostock, wo wir voriges Jahr zu Gast waren. Dort sind inzwischen Konzepte entwickelt worden, wie man mit der Situation umgeht; denn die Mühlendammschleuse ist leider nicht mehr zu nutzen, weil die Schleusenbrücke nach einem Neubau so weit nach unten gesetzt wurde, dass sich die Tore der Schleuse einfach nicht mehr öffnen lassen. Das ist natürlich ein tolles Ergebnis von Behördenwahnsinn. Aber es passiert. Wie gesagt, jetzt wird die Schleuse einer touristischen Nutzung zugeführt.
Es gibt darüber hinaus noch viel mehr, was tatsächlich verändert werden könnte. Ich denke, SPD und CDU sollten einmal über die Koalitionstreue im Falle einer unterschiedlichen Haltung nachdenken, damit dadurch bestimmte Petitionen nicht jahrelang blockiert werden.
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Ich möchte an dieser Stelle der AG Petition unter Leitung unserer geschätzten Kersten Steinke aus meiner Fraktion herzlich Danke sagen. Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen, ihr müsst immer so fleißig arbeiten. Noch ein Dankeschön an das Ausschusssekretariat, das durch das Aufblähen unseres Plenums neben der vielen Arbeit leider auch noch umziehen musste, um Platz zu machen. Danke für Ihre fleißige Unterstützung.
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Herzlichen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächstes für Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Corinna Rüffer.
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Vielen Dank. – Liebe Demokratinnen und Demokraten! Sehr geehrter Herr Präsident! Ich muss in Richtung der AfD einmal für Aufklärung sorgen. Während hier die Backen aufgeblasen werden, wahrscheinlich um das eigene Publikum zu bespaßen, läuft es im Petitionsausschuss folgendermaßen: In 95 Prozent aller Fälle stimmt die AfD mit der Großen Koalition. Ich glaube, das sollten alle weitererzählen, damit kein falscher Eindruck entsteht.
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Herr Todtenhausen hat das schon richtig festgehalten. Das entspricht den Tatsachen.
Aber nun zum Thema. Der Petitionsausschuss ist eine der besten und wertvollsten Einrichtungen, die dieses Parlament zu bieten hat.
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Er ist der Ort der Rückkopplung und der direkten Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern, mit den Menschen in dieser Republik, und er verfügt – ich glaube, das wissen nicht alle – über ganz besonders starke Instrumente. Es ist eben kein schwacher Ausschuss, sondern es ist ein starker Ausschuss, und das sollten wir hier im Parlament zur Kenntnis geben und auch nach draußen vermitteln.
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Dass diese Stärke der direkten Kommunikation und diese starken Instrumente heute wichtiger sind denn je, ist, glaube ich, allen klar, die auch nur ein paar Sekunden darüber nachdenken. Denn: „Wie verhindert man einen deutschen Trump?“ Das war der Titel eines Artikels in der „Zeit“ von Christoph Herwartz; er ist 2016 erschienen. Die Antwort, die er gegeben hat, wird vielleicht manche auf den ersten Blick überraschen – diejenigen, die im Petitionsausschuss mitarbeiten, glaube ich, eher weniger –; er hat geschrieben: „Der Bundestag bräuchte einen modern funktionierenden Petitionsausschuss.“ Das zeigt, dass Journalistinnen und Journalisten, dass Intellektuelle in diesem Land verstanden haben, dass Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung gestärkt werden muss und dass der Petitionsausschuss bzw. das Petitionswesen nach Artikel 17 unseres Grundgesetzes ein Mittel sein kann, das wir mit allem, was wir haben, im Sinne unserer Demokratie stark zu machen haben.
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Dann muss man auch ganz deutlich sagen, dass wir im Jahr 2017 – und darüber reden wir im Moment – leider noch nicht den Petitionsausschuss hatten, den wir eigentlich bräuchten, um die Aufgaben zu erfüllen, die wir heute zu bewältigen haben. Einige Anhaltspunkte dafür sind genannt worden.
Wir haben eine geringe Zahl von Petitionen. Martina Stamm-Fibich, die gerade leider nicht zu Ende reden konnte – sie ist eine unserer besten Frauen im Petitionsausschuss –, hat es gesagt.
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Wir sind heute bei der Anzahl der Petitionen auf dem Niveau der 80er-Jahre, während die privaten Plattformen – und da sind einige von rechts dabei, die sehr zwielichtige Intentionen verfolgen –
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viel mehr Menschen hinter sich versammeln. Und dann müssen wir uns doch überlegen, wie wir das wieder ändern können.
Wir haben vor einiger Zeit – im Mai 2017 – darüber geredet. Damals hatten wir eine Sachverständigenanhörung. Ganz viele Punkte sind hier schon genannt worden. Wir diskutieren über so viele relevante Themen. Wir reden darüber, dass der Petitionsausschuss der Seismograf ist, dass man da genau sehen kann, was die Leute berührt, und das sind nicht die europäischen Außengrenzen. Das ist die Arbeitsmarktpolitik. Das ist die Sozialpolitik. Das ist die Gesundheitspolitik.
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Das ist die Behindertenpolitik. Das ist die Armut von Kindern und auch erwachsenen Menschen in diesem Land. Und Sie treiben den Spalt in die Gesellschaft hinein, anstatt diese Gesellschaft wieder miteinander zu versöhnen und eine inklusive Gesellschaft zu schaffen, wo jeder seinen Platz findet. Gemessen an dieser Herausforderung muss der Petitionsausschuss hier im gesamten Parlament mehr Gehör finden.
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Wenn wir Petitionen haben, die eine so starke Unterstützung von Zehntausenden von Menschen finden, dann sollten wir uns – in Anführungszeichen – endlich mal herablassen und die Debatten, die die Menschen wollen, ins Parlament hineintragen. Dann haben die nämlich das Gefühl, dass sie hier richtig aufgehoben sind.
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Dass der Petitionsausschuss stark ist, haben wir, glaube ich, in der Vergangenheit gesehen. Da gibt es total prominente Beispiele. Da das vielleicht nicht mehr allen in Erinnerung ist, möchte ich ein Beispiel herausheben, nämlich das Drama um die Heimkinder in den 50er- bis 70er-Jahren. 2006 hat es angefangen: Damals kamen die ersten Petitionen herein, von Menschen, die gequält wurden, unfassbares Leid erlebt haben, grausame Erziehungsmethoden in Kinderheimen, aber auch in Heimen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie, die gequält und geschlagen wurden, tagelang eingesperrt, sexuell missbraucht und mit Medikamenten vollgepumpt.
Diese Kinder, die heute Erwachsene sind und dies auch schon 2006 waren, wurden in den Petitionsausschuss eingeladen. Was daraus geworden ist, war ein Fonds. Es war eine Art von – Entschädigung kann man ja gar nicht sagen – Wahrnehmung in der Gesellschaft, und darauf kam es den Leuten an: dass sie gehört werden, dass nicht immer wieder gesagt wird: Was ihr sagt, ist nicht richtig. – Der Auftrag, in diese Richtung weiterzuermitteln, besteht bis heute.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.
Vielleicht haben Sie es mitbekommen: Vor einiger Zeit ist herausgekommen, dass an diesen Kindern nachweislich Medikamententests vorgenommen wurden. Das bedeutet für uns: Die Arbeit muss wieder von neuem beginnen. Wir müssen die Betroffenen ernst nehmen. Wir müssen weiter an der Erfüllung unseres Auftrags arbeiten. Dann können wir einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Demokratie leisten. Das brauchen wir mehr denn je.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank. – Als Nächstes hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Paul Lehrieder das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Petitionsausschuss, ich darf Sie hier – ähnlich wie der Präsident eben – herzlich begrüßen. Ich habe aufgrund des guten Verhältnisses, das wir im Petitionsausschuss haben, Frau Kollegin Rüffer, schon Angst gehabt, dass Sie auch noch meine Redezeit in Anspruch nehmen. Zum Glück haben Sie es nicht gemacht.
Wir treffen uns das erste Mal in der 19. Legislaturperiode, um den Jahresbericht 2017 des Petitionsausschusses vorzustellen. Ja, es stimmt, das Jahr 2017 war für den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages durchaus ein ungewöhnliches Jahr. Die Bundestagswahl nach der parlamentarischen Sommerpause und die darauf folgenden Sondierungs- und Koalitionsgespräche brachten für die meisten Abgeordneten des Petitionsausschusses eine unfreiwillige und ungewohnt lange Pause mit sich. Herr Kollege Huber, ich muss etwas richtigstellen. Nicht, dass Sie versehentlich etwas Unwahres sagen. Absicht unterstelle ich Ihnen grundsätzlich nicht. Aber der Petitionsausschuss war einer der drei Ausschüsse, die als erste Interimsausschüsse des neuen Bundestages eingerichtet wurden.
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Neben dem Hauptausschuss und dem Geschäftsordnungsausschuss wurde der Petitionsausschuss auch in den Wintermonaten einberufen, zugegebenermaßen in verkleinerter Form. Aber der Bundestag hat damit zu erkennen gegeben, dass wir auch bei einer längeren Regierungsbildung die Sorgen und Nöte unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger ernst nehmen und die Petitionen nicht sechs bis neun Monate auf Halde liegen lassen, sondern uns weiterhin damit befassen.
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An dieser Stelle möchte ich mich bei den Parlamentarischen Geschäftsführern für die Weitsicht und die diesbezügliche Entscheidung ausdrücklich bedanken. Wir waren bemüht, so viele Eingaben wir möglich abzuarbeiten. Das Jahr 2017 war für alle Beteiligten ein besonders arbeitsreiches Jahr.
Nach der Bundestagswahl, Herr Kollege Todtenhausen, änderte sich auch die Zusammensetzung des Ausschusses, sodass es für einige Kolleginnen und Kollegen – und auch für Fraktionen – heute der erste Jahresbericht ist. In der Legislaturperiode von 2009 bis 2013 war Ihre Fraktion noch im Bundestag vertreten. Jetzt ist sie wieder vertreten. Da Sie zum Jahresbericht 2017 aus eigener Anschauung relativ wenig sagen konnten, haben Sie im vorauseilenden Weitblick die Datenschutz-Grundverordnung als wichtiges Petitionsthema für 2019 ausgemacht. Es freut mich, dass Sie solch hellseherische Fähigkeiten haben. Das zeigt den Menschen draußen an den Fernsehgeräten, welche Qualität die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Kolleginnen und Kollegen im Petitionsausschuss haben.
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Die Kollegen konnten sich nun bereits ein Bild über die sehr arbeitsreiche, aber über Fraktionsgrenzen hinweg äußert angenehme und kollegiale Zusammenarbeit im Petitionsausschuss machen. Frau Kollegin Steinke, es kommt wirklich ganz selten vor, dass ich jemanden von der Linksfraktion lobe. Aber Sie haben Ihren Job gut gemacht. Ich möchte mich dem Lob anschließen, das die Kollegen bereits ausgesprochen haben. Jetzt ist es aber auch wieder genug.
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Im Vergleich zu den meisten anderen Ausschüssen des Deutschen Bundestages findet die Arbeit des Petitionsausschusses leider nach wie vor eher fernab der öffentlichen Wahrnehmung statt.
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Wir werden zwar einmal im Jahr gelobt von verschiedenen Institutionen. Aber im Rest des Jahres wird eigentlich zu wenig auf unsere Arbeit geschaut. – Ja, Frau Kollegin Müller-Gemmeke, wir können über alle Petitionen, die von Gesamtinteresse sind, im Parlament diskutieren.
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Aber ich kann mich an kein Thema, mit dem wir uns im Petitionsausschuss befasst haben, erinnern, zu dem wir nicht eine öffentliche Anhörung bzw. eine Aktuelle Stunde hier im Plenum gemacht haben. Die Themen, die uns im Petitionsausschuss umtreiben, sind auch Gegenstand der Beratungen in den Fachausschüssen sowie Aktueller Stunden und der Fragestunden hier im Plenum. Wir machen im Petitionsausschuss also nichts Geheimes. Die Themen sind von öffentlichem Interesse. Wir haben auch in dieser Woche wieder drei Aktuelle Stunden hier im Plenum des Bundestages. Das betrifft auch die Themen, die uns im Petitionsausschuss umtreiben. Herr Todtenhausen, zu der von Ihnen angesprochenen Datenschutz-Grundverordnung wird es sicherlich noch die eine oder andere Aktuelle Stunde geben.
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Kaum eine andere Institution innerhalb des politischen Systems der Bundesrepublik setzt sich so intensiv mit den Befindlichkeiten innerhalb der Bevölkerung auseinander wie der Petitionsausschuss. Ja, es ist richtig – das sage ich ganz bewusst –, der Petitionsausschuss ist ein Seismograf für die Befindlichkeiten der Bevölkerung, ein Ventil für Sorgen und Nöte, für große, aber auch für einzelne Nöte. Nirgendwo sonst können Bürger auf so direkte Weise ihr Anliegen dorthin tragen, wo Entscheidungen getroffen werden, nämlich hier in den Deutschen Bundestag.
Ich will, bevor meine Redezeit zu Ende geht, noch auf ein Beispiel hinweisen. Es geht um eine konkrete Fragestellung im vergangenen Jahr, am Ende der letzten Legislaturperiode. Dem Petitionsausschuss war ein Anliegen zugetragen worden: ein Antrag auf Kinderzuschlag bei der zuständigen Familienkasse. Dieser Antrag war zwar gestellt, war aber über Monate nicht bearbeitet worden. Mehrere schriftliche Anfragen sind erfolglos geblieben. Der Petent machte deutlich, dass die Familie auf den Zuschlag angewiesen sei und dass wegen der schwierigen finanziellen Situation bereits einige Zahlungen nicht hätten vorgenommen werden können. Nachdem der Petitionsausschuss das Anliegen der Petentin hatte aufsichtsrechtlich überprüfen lassen, hat die Familienkasse mitgeteilt, dass eine Bearbeitung tatsächlich nicht erfolgt sei. Die Familienkasse entschuldigte sich und bewilligte umgehend die Bescheide für die zurückliegenden Monate. Das ist nur ein Beispiel von vielen.
Ich möchte mich bei allen Kollegen fraktionsübergreifend bedanken, dass wir im Petitionsausschuss die Sorgen und Nöte des einzelnen Menschen – sei es der älteren Dame, die wegen Osteoporose einen Badewannenlift braucht, oder sei es anderer – genauso ernst nehmen wie die Fragen von Sanktionen im Hartz-IV-Bereich, liebe Frau Kollegin Steinke, die von Massenpetitionen getragen werden.
Ja, ich will auf eins noch hinweisen – es wurde vorhin von den Kollegen zum Teil schon angesprochen –: Es gibt neben dem Original, neben den Petitionen nach Artikel 17 des Grundgesetzes mehr und mehr private Petitionsplattformen. Sie nennen sich zwar Petitionsplattformen, aber sie werden Ihnen keine Bundesstraße bauen, sie werden Ihnen keine Lärmschutzwand bauen,
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sie werden dementsprechend keine Gesetzesänderung auf den Weg bringen. Das sind gutgemeinte Diskussionsplattformen, und als solche sollten wir sie auch verstehen, ob es openPetition oder Change.org ist. Jawohl, da kann man diskutieren; aber eine Änderung wird es nur bei uns geben. Das muss man den Menschen immer wieder sagen.
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Auch Ortstermine wurden angesprochen. Ich darf mich ausdrücklich bei dem Kollegen Gero Storjohann bedanken, dass er sich für eine laufende Petition zu Fragen des Lärmschutzes an DB-Strecken in meinen Wahlkreis nach Würzburg begeben hat, um sich die Situation anzuschauen. Wir haben noch ein Problem: eine Kläranlage, an deren Kosten sich Tank & Rast nicht beteiligen will.
Das sind große Themen, derentwegen man zwar kein Gesetz ändern kann, aber wir können zumindest die Damen und Herren Staatssekretäre mal am Mittwoch früh um halb acht vorladen. Da kommt auch nicht jeder gern. Damit haben wir natürlich ein gewisses Druckmittel, um auf die Ministerien entsprechend einwirken zu können.
Ich bedanke mich auch für die Bereitschaft der Regierungsmitglieder, uns immer zur Verfügung zu stehen.
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– Halb acht. Es soll ja auch wehtun.
Meine Damen und Herren, ich bedanke mich bei allen Kolleginnen und Kollegen für das kollegiale Zusammenarbeiten. Ja, es ist richtig: Wir sind hier etwas schärfer gegeneinander aufgetreten, als es im Ausschuss der Fall ist, Herr Huber. Im Ausschuss arbeiten Sie konstruktiv mit; auch das gehört einmal gesagt. Besser gesagt, nicht alles ist falsch, was die AfD macht. Insofern herzlichen Dank und weiterhin gute Zusammenarbeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächstes für die AfD-Fraktion der Kollege Detlev Spangenberg.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben eben eine ganze Menge gehört, etwa den Tätigkeitsbericht. Das gibt mir Gelegenheit, mal ein bisschen auf die Historie des Petitionswesens hinzuweisen. Es war wieder einmal – das wird einigen nicht gefallen – Preußen, das mit rechtsstaatlichen Strukturen – undenkbar für viele von Ihnen, nehme ich an; vielleicht sogar entsetzlich – Vorreiter bei einer demokratischen Entwicklung und somit seiner Zeit weit voraus war: Abschaffung der Folter, Einführung der Religionsfreiheit, Entwicklung und Ausbau der Schulpflicht. Dann, 1794, wurde das preußische Landrecht erlassen: Bürger konnten sich das erste Mal Gehör verschaffen. Dem gingen drei wesentliche Schritte voraus:
König Friedrich Wilhelm I. von Preußen, der sogenannte Soldatenkönig, 1688 bis 1740, schuf die Schulpflicht. Dann ging es weiter unter Friedrich dem Großen, 1712 bis 1786, der dieses preußische Landrecht letztendlich mit förderte und fast auch zum Abschluss brachte.
In diesem Zusammenhang ist ganz interessant: Gar nicht weit von hier, in Potsdam, Humboldtstraße, steht die sogenannte Bittschriftenlinde. Dort konnten die Bürger unter Friedrich dem Großen ihre Zettel aufhängen. Einmal die Woche hat er sie abholen lassen oder selbst abgeholt, und er hat diese Bittschriften dann mehr oder weniger beantwortet. Das war einmalig, meine Damen und Herren; das war eben in Preußen, das war Deutschland, und wir sollten Preußen auch mal von dieser Seite sehen.
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Dann kam sein Neffe, Friedrich Wilhelm II., und vollendete den § 156 Absatz 2 Ziffer 20 im preußischen Landrecht und damit das Recht der Bürger, gehört zu werden. Meine Damen und Herren, sie mussten nicht mehr bitten, sie mussten gehört werden. Das gefällt Ihnen nicht; Sie wollen das immer in eine andere Richtung haben.
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In der Bundesrepublik haben wir den Artikel 17 Grundgesetz – das wissen wir mittlerweile –, aber auch in der DDR gab es ein Petitionsrecht. Die Institution hieß allerdings anders: Ausschuss für Eingaben der Bürger. So wurden bis 1989 40 Millionen Eingaben bei der damaligen Staatsführung eingereicht. Da ging es um ganz andere Probleme, als wir sie heute im Petitionsausschuss haben. Damals ging es um Wohnungen, um Versorgung und um Reisen. Aber wenn man zum Reisen eine Petition einbrachte, war das in der DDR ein bisschen problematisch. Dann kam man ganz schnell in den Geruch des Klassenfeindes; denn Reisen ins westliche Ausland waren höchst problematisch.
Der Petitionsausschuss, meine Damen und Herren, nimmt die Nöte der Bürger auf. Er bearbeitet fast alle Rechtsgebiete – Arbeitsrecht, Steuerrecht, Vertragsrecht, Behördenwillkür, Einzelschicksale aller Art – und ist insofern hochinteressant, als er ein Spiegel der Probleme in unserer Gesellschaft ist. Durchschnittlich kommen 200 Petitionen auf 1 Million Einwohner.
Wir haben natürlich im Petitionsausschuss keine mediale Aufmerksamkeit – es wurde schon angedeutet –; man kann dort keine schönen Artikel schreiben, man kann auch nicht mit irgendwelchen tollen Reden glänzen. Aber Fachkompetenz ist gefragt, und dieses Instrument bringt viel Arbeit mit sich. Es ist ein wichtiges Instrument in einem funktionierenden Staatswesen.
Was wir eben schon gehört haben, war natürlich bedauerlich. Wir sollten eigentlich im Petitionsausschuss keine Parteipolitik machen.
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– Hören Sie erst mal zu. Sie können sich nachher geballt aufregen, wenn ich fertig bin. Das ist viel wichtiger. – Wir sollten keine Parteipolitik machen, weil sich die Bürger an die Abgeordneten und nicht an die Parteien wenden.
Wie gesagt: Wir von der AfD sind mit vier Abgeordneten dabei; darüber freue ich mich auch. Ich war schon im Sächsischen Landtag im Petitionsausschuss und kenne die Arbeit. Daher kenne ich auch die Fraktion der Grünen, die ich besonders gern habe. Frau Rüffer, können Sie sich eigentlich vorstellen, dass wir unsere Entscheidungen nach dem Sachverhalt treffen und nicht in irgendeiner Form nach dem Parteiproporz?
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Da ist es vollkommen egal, mit wem wir stimmen. Wir sind nämlich die einzige Partei, die bei Anträgen anderer mitstimmt.
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Das können Sie ja gar nicht, weil Sie ideologisch gehemmt sind. Demokratie habe ich bei Ihnen noch nie erkannt. Sie sind eine reine Verbotspartei – etwas anderes sind Sie nicht.
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Meine Damen und Herren, der Petitionsausschuss ist ein wichtiges Instrument.
Recht vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Spangenberg. – Ich rufe auf für die SPD-Fraktion die Kollegin Siemtje Möller.
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Herr Präsident, vielen Dank. – Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Petentinnen und Petenten! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Ich will die Geschichtsstunde zum Petitionsausschuss um einen kleinen Aspekt erweitern: Schon bei den Pharaonen gab es ein Petitionswesen.
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Das heißt also, das Petitionswesen in Deutschland ist ein Import aus der heutigen arabischen Welt. Da frage ich mich, wie Sie dazu stehen. –
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Das nur als Scherz am Rande.
Ich freue mich nun, dass der Petitionsausschuss hier im Parlament so ausführlich zu Wort kommt; denn der Petitionsausschuss ist das zentrale Instrument, um einen direkten Draht zwischen Ihnen, liebe Bürgerinnen und Bürger, und uns, dem Parlament, herzustellen. Dieses demokratische Mittel ist trotz der hohen Anzahl von Petitionen – sie wurde ja schon genannt – vielen Menschen noch nicht bekannt. Deshalb ist es gut, dass der Petitionsausschuss nun endlich hier zu Wort kommt, noch dazu in der Kernzeit. Ich finde, das ist gelebte Demokratie.
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Wenn Petitionen verfasst werden – seit 2005 ist das übrigens auch online möglich –, bekommen wir im Bundestag ungekürzt mit, was die Bürgerinnen und Bürger bewegt. So wird der Petitionsausschuss zum oft so genannten Seismografen des Parlaments; Frau Rüffer hat es gerade schon erwähnt. Das heißt, wir im Petitionsausschuss merken als Erste, wo der Schuh drückt, was Sie bewegt und wo Dampf auf dem Kessel ist. So wird die zugegebenermaßen doch gern etwas stiefmütterliche Wahrnehmung des Petitionsausschusses – öffentlich wie mitunter auch hier hausintern – der Bedeutung des Ausschusses keinesfalls gerecht; denn Petitionen zeigen oft die Resultate unseres gesetzgeberischen Handelns, welches die Kernaufgabe dieses Parlaments ist.
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Oft sind es Petitionen, die uns auf Gesetzeslücken hinweisen, die erst in der Anwendung von Gesetzen zum Vorschein kommen – Lücken, die wir vorher häufig nicht antizipieren können.
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So zeigen Petitionen uns, wo es hakt, an welchen Stellen Nachbesserungsbedarf besteht und worauf wir in Zukunft achten müssen, wenn wir Gesetze erarbeiten und beschließen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir können wirklich froh sein, dass es den Artikel 17 des Grundgesetzes gibt, der die Eingabe von Petitionen ermöglicht. Das ist Ausdruck und auch Anspruch unserer lebendigen Demokratie, die dadurch zum Mitmachen einlädt.
Im letzten Jahr wurden im Schnitt 46 Petitionen pro Werktag eingereicht – ein Zeichen dafür, dass Bürgerinnen und Bürger sich sehr wohl unserer Demokratie nahe und verbunden fühlen, weniger lautstark, aber dafür konstruktiv und im Austausch mit dem Parlament.
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In der Vielzahl der Petitionen darf jedoch das Einzelschicksal nicht untergehen. Hinter einem Großteil der Petitionen steht ein solches Schicksal, eine Ungerechtigkeit, die einem Petenten oder einer Petentin widerfahren ist. Diese Schicksale liegen mir tatsächlich besonders am Herzen, und diese Schicksale sind es auch, die wir nicht aus den Augen verlieren dürfen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich ist es ganz einfach: Wer eine Petition stellt, hat ein Anliegen. Und dass wir uns um die Anliegen der Menschen kümmern, dafür wurden wir gewählt. In der parlamentarischen Arbeit müssen wir die Sorgen und Nöte der Bürgerinnen und Bürger hören, ernst nehmen und auch dazu beitragen, dass sie beseitigt werden. Zukünftig muss deshalb die Arbeit des Petitionsausschusses noch mehr mit der Arbeit in den anderen Ausschüssen verknüpft werden.
Das bedeutet auch, dass das Petitionswesen immer wieder angepasst werden muss. Mit der Möglichkeit, Petitionen online auf bundestag.de zu stellen, haben wir uns der Zeit angepasst. Den Bürgerinnen und Bürgern kommen wir so entgegen. Wir müssen da natürlich noch ein bisschen besser werden; das werden wir vorantreiben.
Zum Schluss möchte ich mich ausdrücklich, wie auch meine Vorrednerinnen und Vorredner, bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes bedanken. Ohne ihre akribische Unterstützung und ihre immer wieder beeindruckende Expertise könnte der Petitionsausschuss seine Arbeit nicht leisten. Ich betone das explizit als neues Mitglied des Petitionsausschusses. Ich bin für ihre Arbeit sehr dankbar.
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Mein besonderer Dank gilt vor allen Dingen den Petentinnen und Petenten. Ohne ihre Hinweise wären uns viele Missstände nicht bekannt. Ihre Eingaben sind es, die für unsere Arbeit unersetzlich sind. Vielen Dank dafür!
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Herzlichen Dank, Frau Kollegin. – Bevor ich dem Kollegen Gero Storjohann das Wort erteile, will ich darauf hinweisen, dass das Petitionsrecht bereits in der Bibel verankert ist. Psalm 50,15 lautet: Bist du in Not, so rufe mich an.
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Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Gero Storjohann.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Beitrag des Präsidenten macht deutlich, wie die Zusammenarbeit in der FDP-Fraktion ist. Hätte er dir ja auch mal sagen können, Manfred Todtenhausen.
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Herr Kollege Storjohann, ich wusste nicht, dass wir im Petitionsrecht so weit zurückgehen.
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Der Petitionsbericht 2017, das ist ein Anlass, bei dem wir im Parlament natürlich die Gelegenheit haben, unsere Arbeit herauszustellen und auch deutlich zu machen, wie wichtig es ist, hier zusammenzuarbeiten. Bei allen Worten, die hier gefallen sind, möchte ich eines in Erinnerung rufen: Erster Ansprechpartner für Bürger, das sind wir Abgeordnete, und das erleben wir täglich in unseren Abgeordnetenbüros.
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Das Seismografische, das hat nicht nur der Petitionsausschuss, sondern das erleben auch wir wirklich. Deswegen – das möchte ich erwähnt haben – ist das auch eine wichtige Arbeit. Aber die Zusammenarbeit mit den anderen Ausschüssen und mit anderen Kollegen, die ist ebenfalls wichtig.
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Es sind im Jahr 2017 über 11 500 Petitionen eingegangen. Ja, das sind weniger als vor 20 Jahren. Aber wie viele Petitionen oder Briefe sind denn im Kanzleramt, in den Ministerien eingegangen? Das sind auch erhebliche Zahlen. Ich glaube, im Kanzleramt waren es über 3 500. Deswegen kann man das nicht so leicht vergleichen. Insgesamt, glaube ich, sind die Bürger fleißig, wenn es darum geht, sich an das Parlament oder an die Regierung zu wenden.
Warum sind wir im Petitionsausschuss? Meistens stellt man erst im Laufe der Zeit fest, wie schön es ist, dort zu arbeiten. Wenn man von der Fraktion dahin entsandt wird, hat man erst einmal nicht das Gefühl, dass man damit den großen Gewinn gemacht hat. Aber lassen Sie sich von einem Abgeordneten, der jetzt seit 2002 im Petitionsausschuss ist, sagen: Das ist eine feine Sache.
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Mich schreckt auch nicht am Montag der kleine Stapel von Petitionen, besonders von Vielschreibern, die ich jetzt bearbeiten darf. Das sind Leute, die fast jeden Tag eine Petition schreiben und ihre Anliegen eher aus der ersten Seite der Zeitung ableiten. Das macht nicht viel Freude. Aber wenn ich dann Perlen finde, wenn ich sehe, da ist ein echtes Anliegen, das es wert ist, vertieft bearbeitet zu werden, und ich auch Kollegen finde, die das genauso sehen, und wir eine öffentliche Beratung machen können, dann ist das befriedigend und macht Freude. Deswegen ist das Motivation für die ganze Woche.
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Der Jahresbericht macht deutlich, dass wir gerade im Geschäftsfeld des Bundesministers für Gesundheit eine Steigerung von über 47 Prozent erreicht haben. Dazu hat sicherlich auch eine Petition aus meinem Wahlkreis beigetragen. Das war eine Logopädiepraxis, die das Instrument der Petition nicht kannte. Die Logopäden hatten in dem Sinne auch keinen Lobbyverband in Deutschland. Sie standen hilflos vor der Frage: Wie können wir unser Problem dem Bundestag näherbringen? – Ich habe ihnen geraten: Macht eine Petition. – Es ging um die Forderung nach einer besseren Vergütung. Diese war nämlich jahrelang nicht angepasst worden. Die Kosten waren gestiegen, aber das Entgelt nicht. Dafür war dann natürlich auch eine entsprechende Kommission beim Ministerium zuständig.
Wir haben jedenfalls eine öffentliche Beratung gemacht. Das war für die Petenten aufregend; es war für sie etwas Besonderes. Aber so richtig hoffnungsvoll waren sie nicht, nachdem sie vorgetragen hatten, da das Ministerium eher abblockte und sagte: Das ist halt so, das muss so bleiben.
Allerdings hat 2017 dann der Gesetzgeber ein Gesetz auf den Weg gebracht, mit dem er den Forderungen der Logopäden weitestgehend entgegengekommen ist. Das Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung wurde verabschiedet, und damit wurden notwendige zusätzliche Spielräume für Preisvereinbarungen für Leistungen der Logopädie, Physiotherapie, Ergotherapie und Podologie eröffnet. Also ein richtig schönes Beispiel, und die Petenten haben einen ganz anderen Blick auf demokratische Prozesse erhalten. Das nur als Rückmeldung an Sie hier im Plenum.
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Die Mühlendammschleuse in Rostock wurde schon angesprochen. Das Verkehrsministerium ist der richtigen Auffassung, Enak Ferlemann, dass man die Mühlendammschleuse aus bundespolitischer Sicht nicht mehr braucht und sie zuschütten kann. Dem Land wurde vom Bund das gute Angebot gemacht, die Kosten für eine Ertüchtigung dieser Schleuse mitzutragen, wenn Stadt und Land sich daran beteiligen. Da war zunächst wenig Einsicht in Rostock und auch im Landtag. Aber dann hat der Petitionsausschuss beschlossen, einen Vor-Ort-Termin zu machen. Einen Tag vorher wurde ein Gutachten in Auftrag gegeben, ob man nicht doch etwas machen könne, ob es nicht doch eine Möglichkeit gebe. Insofern: Wenn der Petitionsausschuss seinen Besuch ankündigt, erzeugt das durchaus eine Wirkung. Das kann ich generell bestätigen.
Ich möchte aber auch sagen: Wir sollten sehr vorsichtig mit Vor-Ort-Terminen umgehen und nicht bei jeder Gelegenheit vor Ort auflaufen, sondern nur dann, wenn wir eine gewisse Aussicht auf Erfolg haben; dann haben wir nämlich auch Durchschlagskraft. Das ist mein Appell an die Kollegen, wenn wir gemeinsam solche Termine beschließen.
Meine Damen und Herren, Nachholbedarf sehe ich auch. Wir müssten bei unserem Internetauftritt besser werden.
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Das ist eine Daueraufgabe. Nun musste der Ausschussdienst erst einmal mit seinen ganzen Mitarbeitern umziehen; das war für einige nicht so schön. Aber wir können uns um diese Dinge jetzt besser kümmern. Es muss möglich sein, dass wir den Petitionsausschuss auch mit mobilen Endgeräten über die Bundestags-App erreichen. Ich wünsche mir eine wesentlich bessere Präsentation des Petitionsausschusses innerhalb des Bundestagsauftritts, dass er dort an wesentlich prominenterer Stelle erscheint, damit man nicht suchen muss, sondern gleich erkennt, wo man ihn findet. Das war früher besser.
Es wurde hier das Quorum der 50 000 Mitunterzeichner debattiert. Nun muss man wissen, dass die meisten Petitionen, die 50 000 Mitunterzeichner erreichen, später auch 100 000 oder 150 000 Mitunterzeichner haben. In der Spanne zwischen 20 000 und 50 000 Mitunterzeichnern passiert eigentlich wenig. Wir haben aber immer die Möglichkeit, in der Obleuterunde oder im Ausschuss selbst zu beschließen, dass wir, auch wenn das Quorum nicht erreicht wurde, eine Petition in einer öffentlichen Ausschusssitzung beraten. Ich glaube, das ist ein Instrument, das die Arbeitsfähigkeit berücksichtigt und das wir so beibehalten sollten.
Noch mal: Herzlichen Dank für die Mitarbeit! Herzlichen Dank an die Mitarbeiter des Petitionsausschusses, an die Mitarbeiter aller Abgeordneten, die uns hier zuarbeiten; denn ohne sie wären wir nicht so gut. Glück auf! Ich bin gespannt, welche Petition 2018 den größten Zuspruch erhält – ich wette mit dir, Manfred; ich glaube nicht an die Petition, die du dafür vorgeschlagen hast.
Danke schön.
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Herr Kollege Storjohann, herzlichen Dank für den Beitrag. – Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kollegen Timon Gremmels von der SPD-Fraktion das Wort.
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Sehr geehrte Petentinnen und Petenten! Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass ich als neuer Abgeordneter hier heute zu dem Tätigkeitsbericht des Petitionsausschusses 2017 sprechen kann. Ich gehöre dem Petitionsausschuss erst seit dieser Legislaturperiode an, habe aber meine Erfahrung aus dem Hessischen Landtag, wo ich über vier Jahre lang ebenfalls Mitglied des dortigen Petitionsausschusses war.
Ich kann sagen, dass diese Tätigkeit sehr erfüllend ist, weil man in ganz viele unterschiedliche Themenbereiche Einblick erhält und nicht nur der sogenannte Fachmann für ein Thema ist. Man hat ein breites Spektrum und kann den Menschen konkret helfen. Als ich von meiner Parlamentarischen Geschäftsführerin gefragt worden bin, ob ich bereit wäre, in den Petitionsausschuss zu gehen, habe ich sofort Ja gesagt, obwohl ich weiß, dass man da nicht so im Mittelpunkt steht, nicht so viele Redebeiträge im Plenum hat, vielleicht auch nicht medial so glänzen kann und sich nicht alles für Facebook oder Twitter eignet, weil die Petitionen vertraulich sind. Aber auch das gehört zur Arbeit eines Abgeordneten – an der Sache, im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, ohne große Öffentlichkeit. Diese Arbeit ist sehr wertvoll, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Ich möchte an dieser Stelle sagen, dass das Grundgesetz an dieser Stelle weitsichtig war. Artikel 17 des Grundgesetzes ist ein wichtiges Grundrecht, das wir aber auch bewerben müssen. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern deutlich machen, dass die Möglichkeit besteht, sich an das Parlament zu wenden, dass dort geholfen wird und dass Petitionen nicht erst 50 000 Mitzeichner bekommen müssen. Eine einzelne Petition kann genauso erfolgreich sein und wird von uns mit der gleichen Ernsthaftigkeit beraten wie eine Petition, die 50 000 oder mehr Menschen mitzeichnen. Das ist der Unterschied, das will ich deutlich machen. Jede einzelne Sache ist es wert, dass man sie genau anguckt, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Wenn wir uns jetzt Statistiken über den Erfolg der Petitionen angucken, stellen wir fest, dass das gar nicht der richtige Maßstab ist. Mitunter kann es helfen, wenn etwas als Material überwiesen wird und sich eine Fraktion oder ein Ministerium intensiv mit der Thematik beschäftigt. Mitunter kann es helfen, dass eine Diskussion im Petitionsausschuss zum Nachdenken anregt. Zu sagen, nur die zur Berücksichtigung vorgeschlagenen Petitionen waren erfolgreich, greift deswegen zu kurz. Das ist meine Erfahrung aus dem Hessischen Landtag.
Oftmals war es hilfreich, dass sich ein Ministerium mit der Thematik beschäftigt hat. Vielleicht war die Stellungnahme noch ablehnend, aber ein halbes Jahr später hat die Fachabteilung – so war es zumindest in Hessen; im Bundestag ist es vielleicht ähnlich – gesehen, dass man in diesem Zusammenhang etwas tun muss. Ich glaube, das ist sehr hilfreich. Insofern sagt die Statistik nicht immer alles so aus, wie es in Wirklichkeit ist.
Dass das Petitionsrecht überarbeitungsbedürftig ist, dass wir auch andere Zugänge und Möglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger finden müssen, sich an uns zu wenden, zeigen, glaube ich, die Zahlen. Dass wir weniger Petitionen haben, hat aus unserer Sicht weniger damit zu tun, dass die Menschen zufriedener sind mit Politik und Verwaltungshandeln, als mit der Tatsache, dass es andere Möglichkeiten gibt, die attraktiver sind, die spannender sind, die besser aufgemacht sind: Plattformen kommerzieller Art und Weise wie openPetition oder Change.org. Leute sagen: Ich stelle meine Idee, meine Anregung dort zur Diskussion und zur Abstimmung.
Ich habe im Hessischen Landtag schon erlebt, dass mich hinterher Menschen fragten, was aus ihrer Petition geworden ist. Ich habe dann im Petitionsreferat angerufen und gesagt: Mich hat ein Bürger angesprochen und gesagt, seine Petition sei ja gar nicht beraten worden. – Dann haben mir die Mitarbeiter gesagt: Die ist ja auch gar nicht eingegangen. – Daraufhin habe ich bei dem Bürger nachgefragt, und er hat gesagt: Doch, die habe ich im Internet bei „Open Petition“ eingereicht, das ist doch ein ganz wichtiges Thema, und soundso viele haben unterschrieben. Wo ist denn das? – Dann musste ich den Bürger erst einmal aufklären, dass das zwei verschiedene Paar Schuhe mit dem gleichen Namen sind.
Trotzdem glaube ich, dass uns diese Plattformen helfen, indem sie uns vielleicht auch antreiben, unsere Arbeit etwas spannender zu gestalten. Die Kolleginnen und Kollegen von der CDU fordern einen eigenen Sitzungssaal für den Petitionsausschuss; das mag auch wichtig sein. Aber den Bürgerinnen und Bürgern hilft doch mehr – das wäre mein Wunsch –, wenn wir das in Artikel 17 Grundgesetz verfassungsrechtlich verbriefte Petitionsrecht zeitgemäß weiterentwickeln, Quoten senken, öffentliche Diskussionen anbieten.
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Die SPD-Fraktion ist dazu bereit. Wir wären froh und dankbar, wenn sich unser Koalitionspartner in die gleiche Richtung bewegt, damit wir das Petitionsrecht sozusagen zeitgemäß weiterentwickeln können. In diesem Sinne: Glück auf!
Danke.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist jetzt genau drei Jahre her, dass die sogenannte Mietpreisbremse eingeführt wurde, drei Jahre, in denen sich die Explosion der Mieten ungehindert fortsetzt. Wer in Wolfsburg eine Wohnung sucht, der muss heute 46 Prozent mehr Miete bezahlen als noch vor fünf Jahren. In Berlin sind es 28 Prozent, in Leipzig 22 Prozent. Daran haben drei Jahre Mietpreisbremse nichts geändert. Ich darf feststellen: Dieses Gesetz funktioniert nicht. Wir müssen hier endlich nachbessern.
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Wir reden in München inzwischen schon von 17,50 Euro und in Frankfurt am Main von fast 14 Euro Miete pro Quadratmeter, und das im Durchschnitt. Wohl dem, der nicht umziehen muss, kann ich da nur sagen.
Ich möchte Sie fragen: Kennen Sie auch nur einen einzigen Menschen, der im gleichen Zeitraum eine Lohnsteigerung von 46 Prozent oder auch nur von 16 Prozent erhalten hat? Das zieht doch den Leuten das Geld aus der Tasche. Deswegen müssen wir da endlich ran, meine Damen und Herren.
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Wir machen Druck, um bei der Mietpreisbremse nachzubessern. Wir haben dazu mehrere Anträge vorgelegt. Wir als Linksfraktion haben – übrigens als einzige – jetzt zum zweiten Mal in dieser Legislatur eine Debatte dazu aufgesetzt.
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Immerhin hat es schon dazu geführt, dass der Referentenentwurf aus dem Justizministerium – wenn auch nicht im Parlament, so doch immerhin der Presse –, vorliegt. Sie sehen also: Die Linke wirkt.
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Ob dieses Gesetz allerdings jemals das Licht dieses Parlaments erblicken wird, steht ehrlich gesagt noch in den Sternen. Denn immer wenn die SPD einen noch so zarten Vorstoß macht, um die Rechte der Mieterinnen und Mieter zu verbessern, kommen Sie, Herr Luczak, als Mietenexperte der Union und versuchen, hier einen Strich durch die Rechnung zu machen und sagen: So geht es nicht. – Ich kann Ihnen sagen: Diese Blockadehaltung der Union, die geht nicht. Das muss endlich aufhören; denn die Mieterinnen und Mieter müssen dafür bezahlen.
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Der Entwurf der Ministerin ist einfach noch viel zu zaghaft. Aus unserer Sicht gibt es fünf große Fehler in diesem Gesetz der Mietpreisbremse, in dem die Überschrift stimmt, der Inhalt aber leider nichts taugt. Was sind diese fünf Fehler? Die Ausnahmen erstens bei möblierten, zweitens bei modernisierten und drittens bei neugebauten Wohnungen. Sie alle führen nämlich dazu, dass sich die Vermieter in Möblierungen und in teure Modernisierungen flüchten und nur noch im Luxussegment gebaut wird. Deswegen wollen wir als Linke alle diese Ausnahmen abschaffen.
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Ich finde es auch wirklich schade, dass der Referentenentwurf diese Abschaffung der Ausnahmen nicht vorsieht; denn wenn man die Mietpreisbremse will, dann muss man sie eben auch konsequent gestalten.
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Der vierte Fehler – und aus meiner Sicht auch der ganz entscheidende; das sieht ja auch der Deutsche Mieterbund so – besteht darin, dass jetzt keine wirkungsvollen Sanktionen vorhanden sind und auch der Referentenentwurf, der ja wie gesagt bisher nur der Presse vorliegt, keine Sanktionen vorsieht. Das muss man sich einmal vorstellen. Ein Gesetz, bei dem keinerlei Strafe droht, wenn man sich nicht daran hält, kann nicht funktionieren, meine Damen und Herren. Wer betrügt, wer sich nicht an die Mietpreisbremse hält, muss auch wirkungsvoll bestraft werden können.
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Fünftens. Die Mietpreisbremse greift ohnehin viel zu spät. Erlaubt ist ja laut diesem Gesetz bei einer Neuvermietung eine Mieterhöhung von 10 Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete. Das Gesetz ist von vornherein so angelegt, dass ein saftiger Aufschlag erlaubt ist. Ein Auto mit so einer schlechten Bremse würde niemals den TÜV bestehen. So geht es einfach nicht.
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Meine Damen und Herren, wir haben einen Antrag vorgelegt, der sich auf alle genannten fünf Punkte bezieht. Ich weiß, wir konnten Sie in der Ausschussberatung noch nicht davon überzeugen; da brauchen wir noch etwas Zeit.
Aber in einem Punkt müssen wir uns ja alle wirklich einig sein, und zwar bei der Auskunftspflicht des Vermieters über die Höhe der Vormiete. Da haben ja nun alle Parteien, also auch die CDU, im Wahlkampf versprochen, dass sie da ran wollen. Alle wollten die Auskunftspflicht über die Höhe der Vormiete haben. – Das ist übrigens die Voraussetzung dafür, dass dieses Gesetz überhaupt funktionieren kann. Deswegen haben wir zu diesem Punkt einen Gesetzentwurf vorgelegt; diesen können wir heute beschließen. Wir wollen darüber namentlich abstimmen lassen; denn, ich finde, eines geht nicht: im Wahlkampf versprechen: „Wir bessern dann nach“, aber wenn es hier zur Abstimmung kommt, nichts mehr von diesem Versprechen wissen wollen. Deswegen werden wir heute namentlich abstimmen, meine Damen und Herren.
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Der Vorteil dabei ist: Wenn unser Gesetz heute beschlossen würde – von all denjenigen, die das im Wahlkampf versprochen haben –, dann würden die Mieter, die geprellt werden, die vom ersten Tag des Mietverhältnisses an zu viel gezahlte Miete zurückbekommen – und nicht erst ab dem Zeitpunkt der Rüge, wie es der Referentenentwurf vorsieht. Da fahren die Mieterinnen und Mieter mit unserem Gesetzentwurf, würde ich sagen, deutlich besser.
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Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss noch eines sagen: Die Mietpreisbremse bezieht sich ja nur auf die neuen Mietverträge; aber ein ganz großes Problem haben wir inzwischen auch mit dem Preisanstieg bei den Altmietverträgen. Wir wollen deswegen mit einem weiteren Antrag auch die Bestandsmieter vor zu hohen Mietsteigerungen schützen.
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Bisher sind im Grunde bis zu 20 Prozent Mietsteigerung innerhalb von drei Jahren erlaubt. Wer kann sich das eigentlich leisten? Deswegen sagen wir Linke: Mieterhöhungen dürfen nur maximal bis zur Höhe der Inflation zulässig sein, und wir wollen die Berechnung des Mietspiegels endlich ändern; denn in seiner jetzigen Form ist er ein Mieterhöhungsspiegel und kann nicht funktionieren.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, hier in Berlin waren vor ein paar Wochen 25 000 Menschen auf der Straße, beim „MietenMove“ in Hamburg waren es 8 000 Menschen. Sehen Sie bitte hin! Nehmen Sie das ernst! Die Mieterinnen und Mieter können die Situation nicht mehr ertragen.
Kommen Sie bitte zum Schluss!
Lassen Sie uns die Mietpreisbremse jetzt endlich scharfstellen!
Vielen Dank.
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Als Nächstem erteile ich das Wort für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Dr. Jan-Marco Luczak.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bezahlbare Mieten sind wirklich eine der großen, wenn nicht größten sozialpolitischen Herausforderungen, die wir in dieser Zeit vor uns haben.
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Wohnen ist für die Menschen existenziell; denn es geht nicht nur um einen Platz, an dem man schlafen kann, sondern es geht auch um einen persönlichen Rückzugsraum; es geht um ein Stück Heimat.
Deswegen sind wir als Union da auch sehr klar.
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Wir wollen nicht, dass Menschen aus ihren angestammten Vierteln verdrängt werden. Wir wollen nicht, dass Familien zum Beispiel auf ein weiteres Kind verzichten, weil sie dann in eine größere Wohnung ziehen müssten, die aber nicht verfügbar ist oder die sie nicht bezahlen können.
Das Thema ist uns also wichtig, und weil uns das Thema wichtig ist, werden wir auch allen Versuchungen widerstehen, den vermeintlich leichten Weg einzuschlagen und den Menschen Maßnahmen zu versprechen, die am Ende nicht wirken. Wir wollen den Menschen nicht Sand in die Augen streuen, indem wir einfache und schnelle Lösungen präsentieren und damit hohe Erwartungen wecken, die wir am Ende nicht einhalten können. Denn ich finde, das wäre unaufrichtig. Das schadet am Ende der Glaubwürdigkeit von Politik insgesamt. Parteien, die genau dies tun, haben wir leider genug – auch hier im Deutschen Bundestag.
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Meine Damen und Herren, wenn es um das Thema Mietrecht geht, gehört leider auch die Fraktion Die Linke zu diesen Parteien.
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Das sieht man sehr deutlich an den hier vorgeschlagenen Maßnahmen. Die Maßnahmen, die uns hier vorgeschlagen werden, hören sich zwar gut an und klingen nach einfachen Lösungen. Das ist natürlich auch Ihr Ziel. Sie werden dort draußen bei den Menschen, die zuhören – vielleicht auch hier auf der Besuchertribüne –, viel Beifall erhalten. Tatsächlich sind die Dinge aber wesentlich komplizierter. Tatsächlich würden die Maßnahmen, wenn sie denn so umgesetzt würden, die Lage von vielen Mieterinnen und Mietern in diesem Land verschlimmern.
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Denn am Ende ist es doch so: Wir müssen das Problem bei den Wurzeln packen. Die Ursache für steigende Mieten ist doch, dass wir so wenige Wohnungen in unserem Land haben. Es gibt schlichtweg zu wenig passenden, zu wenig bezahlbaren Wohnraum.
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Da müssen wir ran – schnell und mit allem Nachdruck. Wir müssen mehr, schneller und kostengünstiger bauen. Nur so kriegen wir die Lage auf dem Wohnungsmarkt in den Griff.
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Der Koalitionsvertrag bietet dafür, finde ich, eine gute Grundlage. Wir haben darin eine Wohnungsbauoffensive vereinbart. Wir wollen in dieser Legislaturperiode 1,5 Millionen neue Wohnungen bauen. Das ist ein ehrgeiziges Ziel. Da sind wir dran – ich habe da volles Vertrauen in unseren Bundesbauminister, Herrn Seehofer –, etwa wenn es um die Eigentumsbildung für Familien geht, Stichwort „Baukindergeld“, wenn es darum geht, 2 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung zu stellen, wenn es um die steuerliche Förderung von Mietwohnungsneubau im mittleren Preissegment, etwa durch eine Sonder-AfA, geht, wenn es um die Mobilisierung von Bauland geht – das ist wirklich das Nadelöhr, wenn wir über Neubau reden –, wenn es um die Abschaffung von überflüssigen Vorschriften geht, die das Bauen teuer machen. An all diesen Punkten sind wir dran. Da tun wir alles, was wir als Bund tun können.
Ich will aber auch sagen: Hier haben auch die Länder, die mit uns in den Koalitionsverhandlungen saßen und diesen Kompromiss ausgehandelt haben, eine Verantwortung. Wenn ich mir anschaue, dass in vielen Ländern ständig die Grunderwerbsteuer angehoben wird, wenn ich an die Grundsteuersätze denke, die die Mieter ja direkt über die Betriebskosten zahlen, wenn ich an die Hebesätze denke, die immer weiter ansteigen, wenn ich an die vielen kommunalen Abgaben und Gebühren denke, dann muss ich sagen: Da könnten die Länder sehr viel machen. Sie tun leider häufig das Gegenteil: Sie drehen an der Preisspirale, zeigen dann auf uns und wollen, dass wir den Karren wieder aus dem Dreck holen. Das geht so nicht, meine Damen und Herren. Da müssen die Länder ihrer Verantwortung nachkommen.
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Ich könnte hier jetzt viele Beispiele, auch aus meinem eigenen Bundesland Berlin, nennen. Das spare ich mir an der Stelle. Das zeigt nur exemplarisch, wie Länder hier vorgehen.
Richtig, meine Damen und Herren, aber ist: Natürlich dauert der Wohnungsbau lange. Wir können die Probleme deswegen nicht von heute auf morgen lösen. Vielmehr müssen wir auch kurzfristig etwas tun, um die Dynamik aus den steigenden Mieten herauszunehmen. Aber auch hierfür haben wir im Koalitionsvertrag ja Regelungen vorgesehen, wie ich finde, gute und ausgewogene Regelungen. Ich will das an dieser Stelle noch einmal betonen: Ein Koalitionsvertrag ist ein Vertrag. Verträge sind bindend. Sie müssen eingehalten werden. Das gilt für die CDU/CSU, das gilt aber auch für das Bundesjustizministerium und Frau Barley. Insofern muss ich sagen: Ich bin schon ein bisschen irritiert über das Vorgehen, dass jetzt ein Referentenentwurf der Presse vorgestellt wird, der noch nicht mit den Ressorts abgestimmt ist. Das ist, wie ich finde, keine vertrauensbildende Maßnahme, und ich finde, das trägt auch Streit in ein Gesetzgebungsverfahren,
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das ohnehin schon kompliziert ist. Das ist in der Sache, im Inhalt auch nicht in Ordnung, weil dort Dinge drin sind,
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über die wir nicht gesprochen haben und die zum Teil weit über das hinausgehen, was wir miteinander vereinbart haben.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hendricks?
Das mache ich sehr gern.
Herr Kollege Luczak, sind Sie mit mir der Meinung, dass das Grundgesetz vorsieht, dass die Ressorts in Verantwortung der Ministerien geführt werden? Dazu gehört der Entwurf eines Gesetzes, der anschließend in den Ressorts abgestimmt wird und dann im Regelfall als Entwurf im Kabinett beschlossen wird und dem Parlament zugeleitet wird, wo dann die Fraktionen mit ihm nach Belieben verfahren können: ändern, erweitern, wie auch immer. Jedenfalls: Abstimmung muss zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht geschehen.
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Werte Frau Hendricks, als Jurist würde ich dem Grundgesetz selbstverständlich nie widersprechen.
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Als Jurist sage ich aber auch – das habe ich gerade ausgeführt –: Pacta sunt servanda. Wir haben über lange Wochen zusammengesessen und miteinander in einem schwierigen Feld – ich sage das noch einmal – einen guten und ausgewogenen Kompromiss gefunden. Ich finde, es ist ein Stück weit eine Frage des Stils, wenn man einen solchen Entwurf erst der Presse vorstellt, um damit ein klares politisches Ziel zu verfolgen und auch Druck aufzubauen, und nicht etwa zuerst innerhalb der Koalitionsfraktionen miteinander bespricht.
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Das finde ich nicht in Ordnung. Deswegen hätte ich mich sehr darüber gefreut, wenn wir erst das Gespräch hätten führen können und dann gemeinsam nach einer Lösung gesucht hätten. Das ist leider versäumt worden.
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Herr Kollege, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Lay?
Selbstverständlich, Frau Lay, nachdem Sie schon in der Regierungsbefragung gestern auf mich hingewiesen haben.
Vielen Dank. – Es ist für uns alle interessant, zu sehen, dass die Abstimmungen zu diesem Thema in der Koalition offenbar nicht so reibungslos verlaufen. Ich möchte jetzt aber noch einmal zur Sache fragen. Sie haben viel über neu zu bauende Wohnungen gesprochen, aber zum Kern der Debatte, um den es heute geht, haben Sie sich noch gar nicht geäußert. Sind Sie jetzt für die Auskunftspflicht zur Vormiete, oder sind Sie es nicht? Im Wahlkampf haben Sie gesagt, Sie seien dafür. Jetzt lese ich in der Zeitung, dass Sie dagegen sind. – Was gilt denn nun?
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Die Frage, Frau Lay, kann ich sehr klar beantworten. Wir als Union wollen mehr Transparenz auf dem Mietwohnungsmarkt. Deswegen haben wir uns auch für eine begrenzte Auskunftspflicht eingesetzt. Wir haben gesagt: Wenn ein Vermieter eine höhere Miete, als die Mietpreisbremse zulässt, verlangt, also mehr als 10 Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete verlangt und ausdrücklich auf eine Ausnahme von der Mietpreisbremse verweist, weil er schon vorher eine höhere Miete genommen hat, muss selbstverständlich die Vormiete offengelegt werden. Das ist auch kein Problem. Das kann er machen. Was uns jetzt aber hier vorgeschlagen wird, ist etwas ganz anderes. Hier geht es um eine generelle Auskunftspflicht zu Höhe, Zusammensetzung und Zeitpunkt der Vormiete.
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All das muss jetzt vorvertraglich offengelegt werden.
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Wir reden jetzt nicht über die großen Wohnungsbaugesellschaften. Die haben alle eine Rechtsabteilung und können damit wunderbar umgehen. Aber die privaten Kleinvermieter – sie vermieten zwei Drittel der Wohnungen in unserem Land –
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haben große Probleme, die ortsübliche Vergleichsmiete auf Heller und Cent zu bestimmen. Die dürfen wir an dieser Stelle nicht überfrachten. Deswegen sind wir klar für eine begrenzte Auskunftspflicht, wir sind aber nicht für eine generelle Auskunftspflicht.
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Ich will an dieser Stelle noch einmal mein Unverständnis darüber zum Ausdruck bringen, warum wir nicht beim Koalitionsvertrag bleiben. Noch einmal: Dort stehen viele gute Regelungen, ich denke zum Beispiel an den Schutz gegen schwarze Schafe. Wir als Union haben ganz klar gesagt: Wir wollen die Mieterinnen und Mieter in unserem Lande vor denjenigen Vermietern schützen, die Modernisierungen als Instrument ganz bewusst missbrauchen, um sie aus ihren Wohnungen herauszumodernisieren. Das ist nicht in Ordnung, da müssen wir klare Grenzen setzen. Wir als Union haben gesagt: Es muss einen Schadensersatzanspruch geben, das muss auch mit Mitteln des Ordnungsrechtes bekämpft werden. Das war die Forderung der Union. Das steht auch so im Koalitionsvertrag.
Bei dem, was wir aber jetzt vorgeschlagen bekommen, muss man auf die Ausgestaltung schauen. Was passiert denn am Ende, wenn über allen, auch den redlichen Kleinvermietern, das Damoklesschwert einer Bestrafung schwebt, weil die Regelung in der Praxis schwer handhabbar ist, weil sie Rechtsunsicherheiten mit sich bringt? Dann werden die allermeisten Vermieter sagen: Dann verzichte ich auf die Modernisierung, ich setze mich doch nicht der Gefahr eines Ordnungsgeldes in Höhe von 100 000 Euro aus. – Und dann passiert hinterher gar nichts. Das wäre fatal, weil wir zum einen für unsere gesamtgesellschaftlichen Ziele des Klimaschutzes die energetische Sanierung brauchen und weil wir zum anderen auch altersgerechten Umbau in unserem Wohnungsbestand brauchen; denn wir leben in einer Gesellschaft, die altert. Im Jahre 2030 werden 6 Millionen Menschen über 80 Jahre in unserem Land leben. Dann brauchen wir einen Aufzug in den Gebäuden, dann brauchen wir altersgerecht umgebaute Bäder. Wenn wir das nicht schaffen und die Rahmenbedingungen nicht so gestalten, dass sich private Kleinvermieter angereizt und nicht abgeschreckt fühlen, Modernisierungen vorzunehmen, dann kann das nicht funktionieren. Deswegen ist die Regelung, die vorgeschlagen worden ist, nicht in Ordnung, meine Damen und Herren.
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Wir sehen, dass die Modernisierungsumlage für viele Mieter ein Problem ist, weil sie zu einer Mietsteigerung führt. Deswegen wollen wir die Umlage von derzeit 11 Prozent auf 8 Prozent reduzieren. Wir haben uns gefragt: Wo stellt sich denn dieses Problem? Das ist vor allem in den Gebieten ein Problem, in denen Wohnungsknappheit herrscht – deswegen haben wir im Koalitionsvertrag auf die geltenden Kappungsgrenzen Bezug genommen –; denn nur dort ist am Markt jede Miete durchsetzbar. Dort müssen wir als Staat – das sage ich als jemand, der sich der sozialen Marktwirtschaft verpflichtet fühlt – soziale Sicherheit gewährleisten und Leitplanken einziehen. Da ist es dann auch richtig, die Modernisierungsumlage auf 8 Prozent zu senken. Das gilt aber nicht deutschlandweit flächendeckend, weil es andere Gebiete in Deutschland gibt, in denen es diese Problematik gar nicht gibt. Hier müssen wir noch einmal sehr genau hinschauen.
Lassen Sie mich noch zwei, drei Punkte zur Mietpreisbremse sagen. Das Instrument Mitpreisbremse als solches ist umstritten. Wir können noch nicht genau sagen, welche Wirkung die Mietpreisbremse hat. Es gibt unterschiedliche Studien dazu. Hier wollen wir evaluieren. Außerdem ist mittlerweile eine Klage zur Mietpreisbremse beim Bundesverfassungsgericht anhängig.
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Es läuft derzeit ein Verfahren, durch das die Verfassungsgemäßheit dieses Instruments überprüft wird. Wir haben gesagt: Wir wollen die Mietpreisbremse evaluieren und nur minimalinvasiv an vielen kleinen Stellschrauben etwas ändern, aber nicht das Instrument als solches noch einmal anpacken. Deshalb haben wir die begrenzte Auskunftspflicht und keine generelle Auskunftspflicht in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben.
Wir haben die Anforderungen an eine Rüge vonseiten des Mieters geändert; denn wir sehen, dass die Rüge für viele Mieter eine Hürde ist. Wir wollen die Anforderungen an eine Rüge erleichtern. Hier sind wir tätig. Aber insgesamt wollen wir die Evaluation nicht infrage stellen. Wir werden uns im Laufe dieses Jahres selbstverständlich weiter mit diesem Thema beschäftigen.
Meine Damen und Herren, wir haben viele gute ausgewogene Vorschläge im Koalitionsvertrag miteinander vereinbart. Wir müssen jetzt langsam in die Umsetzung kommen. Ich hoffe sehr, dass das Bundesjustizministerium zu konstruktiven Gesprächen bereit ist.
Die Vorschläge der Linken, liebe Frau Lay, brauchen wir nicht.
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Sie sind nämlich an vielen Stellen kontraproduktiv. Das gilt etwa für die Abschaffung der Mietpreisbremse. Die bestehenden Ausnahmen wollen Sie alle nicht.
Bei umfassenden Modernisierungen geht es auch um den Klimaschutz. Sie sagen: Das können wir den Mietern nicht zumuten, das brauchen wir nicht. Das heißt, wir werden unsere Klimaschutzziele nicht einhalten. Wir werden auch unsere Ziele beim altersgerechten Umbau nicht erreichen können, wenn wir die Ausnahmen abschaffen. Außerdem werden wir unser grundlegendes Ziel, nämlich mehr neue und bezahlbare Wohnungen zu bauen, nicht erreichen können, wenn wir die Ausnahme für den Neubau von der Mietpreisbremse ebenfalls abschaffen. Deswegen ist Ihr Vorschlag am Ende absolut kontraproduktiv.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Abschlussfrage aus der Fraktion der Linken?
Selbstverständlich. Meine Zeit ist ohnehin schon zu Ende, dann kann ich noch zwei Sekunden retten.
Ja, das ist das Bedauerliche.
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Vielen Dank. – Ich möchte der letzten Bemerkung des Präsidiums fast zustimmen. Trotzdem vielen Dank, dass Sie mir die Gelegenheit geben, eine Frage zu stellen.
Sie haben wieder sehr ausweichend auf die Frage geantwortet, was Sie eigentlich für die Bestandsmieterinnen und Bestandsmieter tun wollen. Eigentlich gar nichts. Was die Neuvermietungen angeht, muss ich gestehen: Ich habe nicht verstanden, was Sie tun wollen, um die Mieten in diesem Bereich zu deckeln.
Sie haben auf die Evaluation der Mietpreisbremse verwiesen. Mein Wahlkreis Friedrichshain/Kreuzberg dürfte Ihnen bekannt sein, er liegt in der Nachbarschaft Ihres Wahlkreises. Wenn wir abwarten, bis die Evaluation der Mietpreisbremse durch ist – wo doch jeder weiß, dass die Mietpreisbremse, so wie Sie sie gestrickt haben, nicht funktioniert –, wenn Sie sich mit dieser Position durchsetzen, dann werden in meinem Wahlkreis Tausende Menschen es sich künftig wirklich nicht mehr leisten können, dort zu wohnen, und an den Stadtrand vertrieben. Das will ich nicht. Sie müssten einmal klar sagen, ob Sie etwas dagegen tun.
Sie sind Abgeordneter aus Berlin. Was tun Sie für die Menschen in der Innenstadt in Berlin, damit sie sich künftig auch hier eine preiswerte Wohnung leisten können?
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Ich sehe da nichts, überhaupt nichts! Ich finde, das ist ein Skandal. In meinem Wahlkreis liegt die CDU geradeso bei 10 Prozent. Ich wünsche Ihnen auch für Ihren Wahlkreis, dass es in diese Richtung geht, wenn Sie so weitermachen. Auch Sie haben doch eine Verantwortung für Berlin und die Mieterinnen und Mieter hier.
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Aber Sie machen nichts, Entschuldigung, nichts!
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Sie haben völlig recht, Herr Kollege: Ich habe eine Verantwortung, und die nehme ich auch sehr ernst. Das habe ich eingangs auch gesagt. Es ist nämlich sehr einfach, platte Lösungen vorzuschlagen. Für die bekommen Sie natürlich Beifall. Glauben Sie mir: Wenn ich mit den Menschen in meinem Wahlkreis spreche, dann ist es nicht einfach, die Position zu vertreten, die ich hier vertrete, aber es ist trotzdem eine richtige Position. Es kann doch nicht sein, dass wir hier immer nur die Vorschläge umsetzen, für die man den meisten Applaus bekommt, sondern man muss das Problem doch an der Wurzel packen.
Noch einmal: Es geht darum, dass wir mehr, schneller und kostengünstiger bauen. Nur so kriegen wir das Problem in den Griff.
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Darüber hinaus machen wir eine ganze Menge mehr. Damit meine ich nicht nur die Wohnungsbauoffensive, sondern natürlich gehen wir auch an den Bestand. Ich habe doch gerade dargestellt, was wir in Bezug auf die Modernisierungsumlage flächendeckend in Berlin machen wollen, nämlich diese von 11 Prozent auf 8 Prozent zu reduzieren. Wir führen daneben noch eine Kappungsgrenze ein: maximal 3 Euro pro Quadratmeter binnen sechs Jahren. Damit wollen wir vernünftige Modernisierungen anreizen. Wir machen also eine ganze Menge.
Weil Sie die Evaluation angesprochen haben: Natürlich wollen wir das nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben, sondern wir wollen im Jahr 2018 – das ist ja schon fast zur Hälfte vorbei – diese Evaluation vorlegen. Daran werden wir uns halten. Da ist das Justizministerium in der Pflicht. Da werden wir entsprechend Druck machen.
So. Letzter Punkt vielleicht noch an dieser Stelle – meine Zeit ist zwar um; ich will einen Punkt noch sagen –: Das, was die Linksfraktion hier vorschlägt, sind Höchstmieten in Milieuschutzgebieten. Sie sollen staatlich festgelegt werden.
({1})
Dazu kann ich nur sagen: Herzlich willkommen im Sozialismus! Wir haben gesehen, wohin das führt: Die Mieter haben es da am Ende nicht besser. – Deswegen werden wir Ihre Vorschläge hier komplett ablehnen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({2})
Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir zwei Hinweise.
Zunächst einmal: Es ist in diesem Hause schon häufiger vorgekommen und auch nicht beanstandet worden, dass zwischen Zwischenfrage und Kurzintervention kaum unterschieden werden konnte.
Das Zweite ist: Meine Bemerkung bezog sich nicht auf den Inhalt Ihrer Rede, Herr Kollege, sondern auf den zeitlichen Umfang.
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– Das müssen Sie untereinander austragen, Frau Kollegin. Sie sind gemeinsam in einer Koalition. – Der zeitliche Verzug, in dem wir uns bereits befinden, weckt bei mir das Eigeninteresse; denn ab 23 Uhr muss ich wieder präsidieren, und ich möchte gerne vor 2 Uhr zu Hause sein.
({1})
Ich hoffe, das geht Ihnen genauso.
Als Nächstes rufe ich auf den Kollegen Jens Maier von der AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema „bezahlbarer Wohnraum“ bzw. „bezahlbare Mieten“ ist für alle Fraktionen dieses Hohen Hauses ein wichtiges Thema. In Deutschland leben im europäischen Vergleich viele Menschen zur Miete. Ja, wir alle hier wollen, dass die Mieter in qualitativ guten und vor allem auch bezahlbaren Wohnungen leben. Aber das, was die Linken hier als Lösung vorlegen – eine Erweiterung der Auskunftspflicht für Vermieter, die Abschaffung der Rügepflicht für Mieter und die Einführung einer sogenannten echten Mietpreisbremse –,
({0})
ist allgemein und, wenn man ins Detail geht, auch im Konkreten ungeeignet, diesem Ziel, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen oder zu behalten, irgendwie näherzukommen.
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Wie wir gesehen haben – das wurde vorhin auch von Frau Lay angesprochen –, sind die Mieten in Ballungsgebieten unter der jetzt gültigen Regelung unvermindert angestiegen. Die Linke-Fraktion schreibt dazu richtigerweise, dass in einigen Städten die derzeit gültige Mietpreisbremse den Preisanstieg sogar kurzfristig beschleunigt hat.
Statt nun von diesem Modell Abstand zu nehmen, macht man munter weiter. Es müsste doch auch den linken Ideologen so langsam dämmern, dass man mit Mietpreissozialismus kein einziges Problem wirklich nachhaltig lösen kann.
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Wer 1990 in den neuen Bundesländern unterwegs war und sich da mal umgesehen hat, der konnte erkennen, was sozialistische Wohnungsbaupolitik anrichtet. So ein Desaster wollen wir nicht noch mal erleben.
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Es ist Ihnen von der Linksfraktion, diesen Themenbereich betreffend, jegliche Lösungskompetenz abzusprechen.
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Das zeigen Ihre Entwürfe und Vorschläge. Was mich aber besonders stört: Es findet sich in Ihren Entwürfen kein lobendes Wort zur positiven sozialen Funktion, die Vermieter in diesem Land einnehmen. Es findet sich kein lobendes Wort dafür, dass Vermieter anderen Menschen ihr Eigentum zur Verfügung stellen, damit Mieter darin leben können.
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Ihre Anträge zeigen ein ideologisch verbrämtes Bild, wonach der böse, gierige Eigentümer einer Immobilie das ausschließliche Ziel verfolgt, Mieter auszubeuten, was sich zum Beispiel in Formulierungen wie „Vermieter machen sich die Vorteile des angespannten Wohnungsmarktes in vielen Städten zunutze“ zeigt.
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Das klingt wie ein Ruf aus der Gruft des Klassenkampfs.
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Das sollte doch mittlerweile endgültig erledigt sein. Der Sozialismus ist tot, töter kann er nicht sein.
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Hören Sie endlich auf, verschiedene Gruppen in unserer Gesellschaft gegeneinander auszuspielen! Viele hier, wir von der AfD, werden mit Sicherheit nicht dafür sorgen, dass der Sozialismus wieder aufersteht. Da können Sie sicher sein.
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Die Anträge und der Gesetzentwurf der Linken sind schon erstaunlich. Die Linke-Fraktion stellt fest, dass sich ein Großteil der Vermieterinnen und Vermieter nicht an die gesetzlichen Regelungen der Mietpreisbremse hält. Tja, warum wohl nicht? Deshalb nicht, weil die Mietpreisbremse zu viel Bürokratie mit sich bringt? Deshalb nicht, weil die Mietpreisbremse eine zu starke Beschränkung der Privatautonomie bedeutet.
Was bieten die Linken an Lösungen an?
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Noch deutlich mehr Bürokratie und eine noch stärkere Beschränkung der Privatautonomie.
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– Dazu komme ich noch.
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Wie hat Albert Einstein einmal gesagt? Die Definition des Wahnsinns ist, immer dasselbe zu tun und ein anderes Ergebnis zu erwarten.
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Ein Beispiel für die Richtigkeit dieser Aussage beraten wir gerade.
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Kommen wir nun zu den konkreten Vorhaben der Linken:
Die Linke will die Bundesregierung unter Ziffer 1 auffordern, eine Verpflichtung für Vermieter zu begründen, „die Höhe der Vormiete sowie alle für die Bestimmung der zulässigen Miethöhe maßgeblichen Informationen“ den Mietern bei Vertragsabschluss offenzulegen.
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In Ziffer 4 wird gefordert, eine „Streichung der Ausnahmen“ von der Mietpreisbremse herbeizuführen, wie „sie für umfassend modernisierte Wohnungen, Neubauwohnungen und Vormieten oberhalb der ortsüblichen Vergleichsmiete gelten“.
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In Ziffer 5 fordert man „die Einführung der bundesweiten Gültigkeit der Mietpreisbremse“. Das ist der größte Blödsinn.
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In den Ziffern 6 und 7 fordert man die „Festsetzung der zulässigen Höchstmiete bei Neuvermietung auf die ortsübliche Vergleichsmiete bzw. die ggf. niedrigere Vormiete“ bei gleichzeitiger „Entfristung der Mietpreisbremse“.
Was hat das für Folgen? Erst einmal: Die Pflicht zur Offenlegung sämtlicher maßgeblicher Informationen bei Vertragsschluss ist eine völlig überzogene Bürokratiepflicht für Vermieter. Der Vermieter muss ungefragt Auskünfte zur ortsüblichen Vergleichsmiete einholen und hierüber Rechenschaft ablegen. Sämtliche Informationen zur zulässigen Miethöhe anhand der Orientierungshilfe der Mietpreisspiegel bei jeder Neuvermietung einzuholen, ist nur mit erheblichem organisatorischen Aufwand möglich. Ich will hier nur mal auf das Problem der Sonderausstattung verweisen; da ist das alles nicht so einfach.
Wenn sich ein großer Teil der Vermieter in der Bundesrepublik schon heute nicht an Regelungen der Mietpreisbremse hält, wird sich dieser Teil erst recht nicht daran halten, den Mieter umfassend über ortsübliche Vergleichsmiete und Vormiete aufzuklären. Ein Beitrag, sich rechtstreu zu verhalten, ist Ihr Vorschlag hier nicht.
Vor allem kann dann das eintreten, was hier in Berlin als der „Kreuzberg-Effekt“ bezeichnet wird, nämlich dass Vermieter überhaupt keinen unbefristeten Mietvertrag über Wohnraum mehr abschließen, sondern nur noch Wohnraum zum vorübergehenden Gebrauch zur Verfügung stellen: an Partygäste, Touristen usw.
Kommunale Satzungen, die die Vermietung zum vorübergehenden Gebrauch untersagen oder unter Genehmigungsvorbehalt stellen, greifen schon heute de facto als Regulativ nicht, weil sich viele Vermieter oder Untervermieter daran nicht halten und das nicht kontrollierbar ist. Im Ergebnis – wen wundert das bei den Linken? – würde das Vorhaben der Linken den Wohnungsmangel für unbefristete Mietverhältnisse weiter beschleunigen.
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Dann zum Problembereich der Streichung der Ausnahmen von der Mietpreisbremse für umfassend modernisierte Wohnungen und Neubauwohnungen.
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Da stellt sich doch die Frage: Welchen Anreiz sollen Investoren und Vermieter haben, Neubau zu schaffen, wenn sie diesen nur zur ortsüblichen Vergleichsmiete vermieten können? Und: Wo nicht neu gebaut wird, kann auch nichts vermietet werden. Eine Verringerung des Anreizes, Neubau zu schaffen, ist also völlig kontraproduktiv. Dadurch erhöht man das Angebot an Wohnraum nicht.
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Jetzt zum Thema „Einführung der bundesweiten Gültigkeit der Mietpreisbremse“.
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Es ist schon erstaunlich, wie sich die Linksfraktion über verfassungsrechtliche Hürden hinwegsetzt. Die Linke und übrigens auch die Union sollten sich einmal dringend mit den Beschlüssen des Landgerichts Berlin vom 14. September 2017 und vom 7. Dezember 2017 auseinandersetzen. Aus der Sicht des Landgerichts Berlin
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verstößt die Mietpreisbremse, und zwar die jetzige, gegen Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 und Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz.
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Die Begründung des Landgerichts Berlin würde bei einer bundesweiten Einführung einer Mietpreisbremse in einem entscheidenden Punkt genauso gelten:
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Die Vermieter in den unterschiedlichen Regionen sind, wenn man von der ortsüblichen Vergleichsmiete als Maßstab ausgeht, unterschiedlich stark betroffen.
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Denn eine typisierende, pauschalisierende Belastungsregelung trifft die Vermieter in Kommunen mit einer vergleichsweise niedrigen ortsüblichen Vergleichsmiete erheblich härter als in Kommunen mit einer vergleichsweise hohen ortsüblichen Vergleichsmiete.
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Es heißt in dem Beschluss vom 7. Dezember: „Diese ungleichen Belastungsfolgen“ einer Mietpreisbremse „stehen in einem krassen Missverhältnis zu den mit der gesetzlichen Typisierung verbundenen Vorteilen und begründen deshalb zur Überzeugung der Kammer des Landgerichts Berlin einen verfassungswidrigen Verstoß gegen Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz.“ Das ist mit ein Grund, weshalb wir eigentlich ganz grundsätzlich gegen diese Art der Regulierung durch eine Mietpreisbremse sind.
({27})
Es ist hierzu noch kein Urteil des Bundesverfassungsgerichts ergangen.
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– Bitte?
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Es ist noch kein Urteil des Bundesverfassungsgerichts ergangen. Das ist ja noch in der Schwebe.
Herr Maier, ungeachtet der Zwischenrufe: Sie müssen zum Schluss kommen. Sie haben Ihre Redezeit schon überschritten.
Ja, okay. – Zum Schluss will ich jetzt noch mal Folgendes sagen:
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– Doch, ich habe ein Konzept.
({1})
– Jetzt lassen Sie mich doch mal ausreden.
Kurzfristig bringt vor allem eines die schnelle Lösung: Die Gäste von Frau Merkel, die ausreisepflichtig sind, müssen dieses Land so schnell wie möglich wieder verlassen.
({2})
Statt die Wohnungsknappheit durch einen Familiennachzug zu verschlimmern, sollte jetzt angefangen werden, diejenigen, die nicht hierhergehören, wieder nach Hause zu schicken. Dadurch könnte man das Angebot von bezahlbarem Wohnraum sehr schnell erhöhen.
Jetzt müssen Sie wirklich zum Schluss kommen. Sie haben eineinhalb Minuten überzogen, Herr Maier.
Ja. – Ein Einstieg in eine sozialistisch geprägte Wohnraumpolitik – –
Herr Maier, ich habe gesagt, Sie müssen zum Schluss kommen.
({0})
Ja. – Also: Wir lehnen es ab, dass auf dem Rücken von Mietern und Vermietern die Einwanderungspolitik von Frau Merkel ausgetragen wird.
({0})
Danke.
({1})
Nächster Redner ist Dr. Johannes Fechner für die SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kurz ein Satz zum Vorredner: Es ist einmal mehr bezeichnend: Selbst bei den wichtigsten Themen, wie der Wohnungsnot, haben Sie außer billiger Flüchtlingshetze nichts zu bieten. Das ist ein Armutszeugnis für Ihre parlamentarische Arbeit.
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Das Thema Wohnungsnot gehört zu einem der wichtigsten Probleme, die wir in Deutschland haben. Deswegen sind wir als Gesetzgeber gefordert. Wir müssen dafür sorgen, dass es mehr bezahlbaren Wohnraum gibt und dass die Mieten nicht explodieren.
Natürlich gehört dazu, dass wir mehr sozialen Wohnraum schaffen, bezahlbaren Wohnraum schaffen. Dafür haben wir uns eine Fülle von Maßnahmen vorgenommen: mit dem Baukindergeld, mit steuerlichen Abschreibungen und – das ist uns ganz wichtig – mit über 2 Milliarden Euro mehr für den sozialen Wohnungsbau. Das sind wichtige Maßnahmen,
({1})
aber es wird seine Zeit dauern, bis diese Maßnahmen greifen und sich auf das Mietniveau auswirken.
Deshalb muss die Devise jetzt lauten: Wir müssen ran ans Mietrecht. Wir müssen die Mieterinnen und Mieter besser vor explodieren Mieten schützen. Da müssen wir jetzt ran. Das ist eine zu wichtige Aufgabe, als dass wir das liegen lassen könnten.
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Deswegen bin ich der Justizministerin ausdrücklich dankbar, dass sie einen guten Gesetzentwurf erstellt hat, in dem die Dinge, die die SPD im Koalitionsvertrag durchgesetzt hat, geregelt werden.
Wir werden die Umlagemöglichkeit bei Modernisierungskosten von 11 Prozent auf 8 Prozent verringern. Bei einer Investition von etwa 20 000 Euro sind das immerhin 600 Euro, die dann vom Mieter weniger zu bezahlen sind – also eine spürbare Entlastung.
Und wir schützen die Mieter vor explodierenden Mieten bei Modernisierungen, indem wir einen Deckel für die Modernisierungsumlage einführen. Die Miete darf in sechs Jahren nur um 3 Euro pro Quadratmeter erhöht werden. Auch das ist eine wichtige Schutzmaßnahme, um zu verhindern, dass Mieten explodieren und Mieter ihre Miete dann nicht mehr bezahlen können.
Wir erleben leider auch, dass nicht nur große Wohnungskonzerne – sie sind es aber vor allem – ihre Mieter herausmodernisieren. Eine Variante besteht darin, dass teure Modernisierungen angekündigt werden, sodass der Mieter Angst vor einer hohen Miete bekommt und dann dazu verleitet wird, von sich aus die Kündigung auszusprechen, wodurch er Umzugskosten und anderswo, wenn er eine neue Wohnung findet, eine höhere Miete zu bezahlen hat. Deswegen haben wir uns vorgenommen – und das werden wir auch so regeln –, dass es dann einen Schadenersatzanspruch gibt, dass also die Umzugskosten und die höhere Miete zu bezahlen sind.
Das ist Fairness im Mietrecht. Wenn der Vermieter lügt und dadurch beim Mieter Kosten verursacht, dann soll er dafür auch haften.
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Dass das hier jetzt wieder infrage gestellt und deswegen vom Kanzleramt die Versendung des Entwurfes an die Länder und Verbände blockiert wird – unter anderem mit der genannten Begründung –,
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ärgert uns, und das kann auf keinen Fall so bleiben.
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Wir müssen hier für mehr Gerechtigkeit auch im Mietrecht sorgen.
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Dazu gehört auch, dass wir eine staatliche Sanktionsmöglichkeit schaffen, einen Ordnungswidrigkeitentatbestand; denn wenn man als Mieter die Wohnung verliert, dann hat man andere Sorgen, als eine Zivilklage gegen den Vermieter anzustrengen.
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Um die schwarzen Schafe unter den Vermietern – nur um sie geht es – dranzubekommen, brauchen wir eine staatliche Sanktion. Deshalb ist es gut, dass der Gesetzesvorschlag von Frau Barley,
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so wie wir es uns auch im Koalitionsvertrag vorgenommen haben, einen Ordnungswidrigkeitentatbestand vorsieht, dass es also ein Bußgeld gibt, wenn der Vermieter den Mieter anlügt, wenn er durch einen bösartigen Bluff hohe Modernisierungskosten vorgaukelt und der Mieter dadurch seine Wohnung aufgibt, liebe Kolleginnen und Kollegen; eine wichtige Maßnahme.
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Sie sehen, dass wir hier sehr viel vorhaben. Ich will ausdrücklich an die Adresse unserer politischen Lebensabschnittsgefährten von der Union sagen,
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dass die Zeit drängt. Wir müssen schnell zu Ergebnissen kommen. Ich habe kein Verständnis – so viel ans Kanzleramt –, dass der sehr gute Entwurf von Frau Barley blockiert wird, dass wieder Zeit ins Land geht, bis wir die Länder und Verbände hierzu anhören können. Das kann es nicht sein. Die Situation auf dem Wohnungsmarkt ist zu angespannt, als dass wir hier noch lange Diskussionen über Verfahrensfragen führen könnten. Wir müssen hier Regelungen gegen explorierende Mieten finden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({11})
Ein Satz zum Antrag der Linken. Sie sagen nichts zu wichtigen Themen, etwa wie Sie zukünftig die Wohnfläche fair berechnen wollen, wie Sie die Modernisierungskosten deckeln wollen, wie Sie die Absenkung der Modernisierungsumlage regeln wollen und auf welches Niveau. Insofern ist aus unserer Sicht Ihr Antrag nur Stückwerk und kein Gesamtkonzept, wie es der Entwurf von Frau Barley ist. Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen.
Vielen Dank.
({12})
Als Nächstes spricht für die FDP Katharina Kloke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle wissen: Das Thema Wohnen ist von grundlegender Bedeutung, und zwar praktisch für jeden. Wir alle wissen: Wir haben in diesem Bereich ein Problem, und zwar besonders auf dem Mietwohnungsmarkt. Wir alle wissen: Die schwarz-rote Mietpreisbremse ist gescheitert, und zwar kläglich.
({0})
Wir unterscheiden uns darin, wie wir das Problem bewältigen wollen, um das tatsächliche Ziel zu erreichen, dass jeder in Deutschland nach seinen finanziellen Möglichkeiten und seinen individuellen Bedürfnissen angemessenen Wohnraum findet.
Vielleicht darf der Vermieter auch in der Ideenwelt der Linken seine Mietwohnung modernisieren oder eine neue bauen; denn von besseren Wohnungen profitieren auch Mieterinnen und Mieter. Aber die Notwendigkeit, auch die Mieter an den entstehenden Kosten zu beteiligen, leugnen Sie und verkürzen so die bestehenden Möglichkeiten.
Sie wollen, dass der Vermieter den Mietern bei Mietbeginn Auskunft erteilt, und zwar über Tatsachen, die für die Zulässigkeit der vereinbarten Miete maßgeblich sind. In die dafür erforderlichen Belege muss der Vermieter Einsicht gewähren.
({1})
Diese Belege muss er aufwendig anonymisieren, also wieder eine ordentliche Schippe Bürokratie für den Vermieter obendrauf.
({2})
Kurz: Die Linke fordert Verschärfung. Wir Freie Demokraten fordern, die Mietpreisbremse abzuschaffen.
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Denn die Mietpreisbremse hat nicht die Mieten gebremst, sondern den Wohnungsbau. Dabei müssen wir hier ansetzen.
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Die Mietpreise steigen vor allem dort, wo es besonders attraktiv ist:
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in Städten mit guter Infrastruktur, mit guten Schulen und Universitäten, mit guten Arbeitsplätzen. Das zieht die Menschen an, und deshalb ziehen sie dorthin.
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Wenn aber immer mehr Menschen in bestimmte Gegenden möchten, dann müssen wir uns auf das konzentrieren, was das Wohnungsangebot vergrößert und nicht verknappt.
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Frau Kloke, gestatten Sie Zwischenfragen der Kolleginnen von den Linken und den Grünen?
Nein. – Ein neues Haus entsteht nicht durch den Erlass zusätzlicher Vorschriften. Ein neues Haus entsteht, weil sich die Investition lohnt.
({0})
Das Problem liegt aber darin, dass wir einfach zu wenig Wohnungen auf dem Markt haben. Wir müssen mehr Wohnungen bauen.
({1})
Deshalb müssen wir dafür Anreize schaffen.
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Zum Beispiel müssen wir bei der Grunderwerbsteuer einen Freibetrag von bis zu 500 000 Euro einführen, damit gerade Familien leichter Wohneigentum erwerben können.
({3})
Deshalb muss die jährliche Abschreibungsrate für Gebäude von 2 auf 3 Prozent erhöht werden.
({4})
Wenn diese Investitionen schneller beim Finanzamt geltend gemacht werden können, reizt das zum Bauen an. Deshalb muss der Bund Länder und Kommunen verpflichten, die rund 500 Millionen Euro jährlich nur – ausdrücklich zweckgebunden – für den Wohnungsbau zu nutzen.
({5})
Wenn Sie schon mit Ländern und Kommunen sprechen: Fragen Sie nach, ob die bestehenden Kataster und Baulücken- und Leerstandsregister nicht besser vernetzt werden können, für die Bürger noch leichter online auffindbar, nutzerfreundlicher und die Suchergebnisse noch besser vergleichbar!
({6})
Wenn sich die Privaten aus dem Markt zurückziehen, verknappt das das Wohnungsangebot weiter. Die Chancen für junge Familien, ein Rentnerpaar, für Studenten oder Alleinstehende auf bezahlbaren Wohnraum werden dadurch schlechter. Damit die Mieten nicht weiter steigen, sondern sinken, brauchen wir mehr Wohnungen auf dem Markt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Nächster Redner ist Chris Kühn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Ich habe ein absolutes Déjà-vu bei dieser Debatte. Ich erinnere mich an die Endphase der letzten Großen Koalition: viel Streit, und am Ende ist beim Mietrecht nichts rausgekommen. Ich befürchte, das wird dieses Mal auch so sein, und ich finde: Gutes Regieren – gerade bei der Frage des sozialen Zusammenhalts – geht anders.
({0})
Die Menschen da draußen in Stuttgart, Berlin, Frankfurt und München erwarten, dass sie konkret geschützt werden: vor Mietsteigerungen und vor Verdrängung. Ich fordere Sie auf, endlich hier zu handeln.
Es gibt immer die Debatte „Der Neubau richtet alles“. Wir haben im Moment 0,4 Prozent Neubau in Deutschland. Wenn wir das verdoppeln, bauen wir 0,8 Prozent. Die Dynamik auf den Wohnungsmärkten ist aber so immens: Wenn wir nicht anfangen, den Bestand zu schützen, wird diese Mietenexplosion weitergehen. Deswegen ist der Neubau wichtig, aber er reicht nicht aus, weil man damit den Bestand nicht in den Blick nimmt, und wir müssen uns um den Bestand kümmern.
({1})
Da hilft halt auch die Transparenz bei der Mietpreisbremse nicht. Wir unterstützen die Regierung ganz klar in der Frage der Transparenz. Da unterstützen wir Frau Barley. Aber das reicht einfach nicht aus. Denn die Mietpreisbremse ist löchrig wie ein Schweizer Käse, und wenn diese Löcher nicht gestopft werden, wird die Mietpreisbremse nicht funktionieren und damit auch nicht den Mietpreisanstieg in den Städten bremsen, und das brauchen wir ganz dringend.
({2})
3 Euro pro Quadratmeter bei der Modernisierungsumlage: Damit nimmt man vielleicht die Spitze beim Rausmodernisieren weg. Aber ganz klar: Die Menschen schützt man damit nicht vor Verdrängung.
Ich finde es den größten Hohn – Herr Luczak, das muss ich einfach sagen –, wie Sie bei dem Referentenentwurf aufjaulen, der jetzt von Frau Barley gekommen ist. Sie sagen: Wir brauchen Transparenz, aber nur bei einem Schlupfloch, sonst nicht.
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Das ist sozusagen der absolute Minitrippelschritt, den Sie da gehen. Ich glaube, Sie wollen eigentlich gar nichts.
Schauen Sie sich doch einmal die realen Zahlen in Berlin an! 2017 sind die Neuvertragsmieten um 7,7 Prozent nach oben gegangen, 2016 um 9 Prozent. Das sind Mietsteigerungen bei Neuvertragsmieten um 17 Prozent in zwei Jahren. Ich kann nicht verstehen, wie Sie persönlich in Ihrem Wahlkreis Schöneberg unterwegs sein können und sagen: Wir machen eine Mieterpolitik. – Das ist völlig gaga. Das hat mit der Realität überhaupt nichts zu tun.
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Seit Jahren blockieren Sie eine Novellierung des Mietrechts. Frau Merkel hat gestern gesagt: Das ist die soziale Frage unserer Zeit. – Aber wenn Sie sich beim Mietrecht nicht bewegen, dann sind Sie unglaubwürdig, und dann ist auch die Kanzlerin hier an dieser Stelle sehr unglaubwürdig.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, ich will erleben, dass es nicht genauso läuft, wie in der letzten Wahlperiode, wo nichts rausgekommen ist.
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Da reicht es nicht, dass hier die Mietenpolitiker und die Wohnungspolitiker kämpfen; da muss Ihre Spitze wirklich kämpfen.
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Da muss Frau Nahles sich hinstellen und sagen: Hier knallt es, und hier machen wir nicht mit. –
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Das will ich erleben, dass dieser Referentenentwurf nicht am Ende irgendwo in der Ressortabstimmung hängen bleibt und wir irgendwas Gefleddertes ins Parlament bekommen, sondern dass dieser Referentenentwurf auch wirklich hier ankommt. Da müssen Sie als SPD auch Glaubwürdigkeit zeigen.
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Stoppen Sie endlich als Große Koalition den Mietenwahnsinn in Deutschland! Sie haben mit dem Mietrecht die Mittel dazu. Wenden Sie sie an! Wenn Sie es nicht tun, machen Sie sich sozusagen selber schuldig: an dem Mietenanstieg, an der Verdrängung und an dem sozialen Elend, das Sie damit produzieren.
Danke schön.
({10})
Nächster Redner ist Alexander Hoffmann für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wieder eine Debatte über die Mietpreisbremse! Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Frage nach bezahlbarem Wohnraum ist eine der drängendsten Fragen unserer Zeit. Aber was mich an der Debatte – auch an der heutigen – stört, ist, dass immer wieder der Eindruck erweckt wird, die Mietpreisbremse wäre, wenn wir sie nur richtig ausgestalten würden, das Allheilmittel.
({0})
Nein, genau das ist sie nicht. Nur die Schaffung von neuem Wohnraum ermöglicht mittelfristig bezahlbares Wohnen in Deutschland.
({1})
Dieser Satz stammt nicht von mir und auch nicht von meinen Kollegen, sondern zum Beispiel vom Chef von empirica, der Fachagentur im Bündnis für bezahlbares Bauen und Wohnen. Er sagt ausdrücklich: Wir brauchen ein größeres Angebot. Nur ein größeres Angebot führt am Schluss zum gewünschten Ergebnis und eben nicht – das sagt er ausdrücklich – die Mietpreisbremse.
Jetzt ein paar Sätze zu Ihnen von der Linken. Ich habe das schon letztes Mal gesagt: Es ist bemerkenswert, wie Sie sich hier im Bundestag anhören und wie dann der eine oder andere Linken-Politiker spricht, wenn er in Verantwortung ist. Ich habe schon letztes Mal die Bauministerin aus Thüringen zitiert. Von ihr stammt konkret der Satz am 1. März 2016 – Herr Präsident, ich zitiere –:
Letztlich bringt aber nur der Neubau von Wohnungen die notwendige Entlastung auf angespannten Wohnungsmärkten.
Neubau bedeutet, den sozialen Wohnungsbau im Blick zu haben, aber auch den frei finanzierten Wohnungsmarkt. Das, was Sie hier mit Ihren Durchregulierungen machen, führt am Ende des Tages dazu, dass Sie gerade den frei finanzierten Wohnungsmarkt fast komplett kaputtmachen. Deswegen sage ich: Schauen Sie doch einfach mal in den Koalitionsvertrag! Das ist ein bunter Blumenstrauß aus Maßnahmen, die letztendlich genau auf die erwähnten beiden Komponenten abgestimmt sind.
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Das, was Sie machen – das will ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen; das Wort ist heute schon gefallen –, ist Klassenkampf, weil Sie bestimmte Dinge weglassen. Sie lassen weg, dass wir hier einen Markt haben, der von Angebot und Nachfrage lebt, und dass man an dieser Stelle regulieren kann. Sie lassen weg, dass die Einführung der bisherigen Mietpreisbremse an mancher Stelle genau das Gegenteil erzielt hat. Die Mieten sind noch einmal erhöht worden, bevor die Mietpreisbremse gegolten hat. Sie lassen weg, dass eine funktionierende Mietpreisbremse, wenn es sie denn je geben wird, den Druck auf die Innenstädte eher erhöht und die Situation dort noch sehr viel schwieriger wird.
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Und Sie lassen auch weg, dass ein Großteil der Vermieterinnen und Vermieter in Deutschland nicht die großen Konzerne sind, nicht die Reichen, wie Sie es zwischen den Zeilen skizzieren. Der Kollege Luczak hat das bereits gesagt: Zwei Drittel der Wohnungseigentümer sind Ihre oder meine Nachbarn, die eine Eigentumswohnung haben, um die Altersversorgung zu sichern. Hier wollen Sie gnadenlos durchregulieren.
Ich sage Ihnen ganz offen: In der heutigen Debatte hatte ich ein bisschen das Gefühl, dass Sie sich zum Schutzheiligen der Mieterinnen und Mieter stilisieren wollen.
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Wenn man das vollmundig macht, wie Sie das heute getan haben, dann läuft man das Risiko, dass es Kollegen gibt, die auf die Länder gucken, wo Sie Verantwortung tragen – in Thüringen –, oder wo Sie mitregieren – in Berlin. Das ist hochinteressant. Eigentlich müsste man meinen, dass Sie dort alles getan haben. Das bedeutet, dass die Situation entweder paradiesisch ist oder dass Sie wirklich an jeder möglichen Schraube gedreht haben, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Der Begriff „abenteuerlich“ trifft es dann tatsächlich, wenn man hinguckt.
Ausweislich des „Neuen Deutschlands“ vom 12. Februar 2018 sagt der Geschäftsführer des Mieterbundes Thüringen, Frank Warnecke – Zitat –:
„Mit der gleichen Begründung wie bei der Mietpreisbremse – einem angespannten Wohnungsmarkt – kann auch die Kappungsgrenzenverordnung angewandt werden“, sagte Warnecke. „In Thüringen ist das bisher aber noch nicht passiert.“
Weiter heißt es:
Nach Auffassung des Mieterbund-Geschäftsführers ist die Kappungsgrenzenverordnung wirksamer als die Mietpreisbremse ...
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In einem Beitrag des MDR vom 17. Mai 2017 heißt es: Mietpreisbremse vorerst nur in Erfurt und in Jena.
Auch der Blick auf Berlin ist nicht sonderlich erhellend. Da war ich ein bisschen überrascht, Herr Kollege. Es ist gut, dass Sie Beispiele aus Berlin bringen, und diese bewegen uns auch. Aber dann wäre es auch wichtig, dass dort an Stellschrauben gedreht wird, die nicht in unserem Einflussbereich sind.
Herr Hoffmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage von den Linken und von den Grünen?
Ja, aber mit allergrößtem Vergnügen, Herr Präsident. Ich habe mich heute schick gemacht. Die Haare sind gegelt.
({0})
– Ich komme gleich noch zu dem Zitat.
Vielen Dank, Herr Kollege Hoffmann, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass für die Einführung einer Mietpreisbremse durch eine Landesregierung gewisse Bedingungen erfüllt sein müssen, zum Beispiel Wohnungsmangel. Sie haben gerade den Freistaat Thüringen erwähnt, als Sie sagten, dass nur in Erfurt und in Jena die Mietpreisbremse gilt. Das ist korrekt; denn nur in diesen beiden Städten in Thüringen herrscht Wohnungsmangel. In anderen Städten dort gibt es leider noch demografische Verluste. Die Landesregierung hätte gerne die Mietpreisbremse eingeführt. Allerdings ist das angesichts dessen, was vom Bundestag verabschiedet wurde, rechtlich leider nicht möglich.
({0})
Danke für die Frage. Ich stelle Ihnen gerne den Artikel zur Verfügung. Da wird nämlich sehr wohl die Frage gestellt: Warum nur in diesen beiden Städten? Wenn Sie ihn gelesen haben, dann merken Sie, dass es durchaus unterschiedliche Auffassungen gibt.
Ich habe ja bewusst auch die Kappungsgrenzenverordnung angesprochen. Dazu haben Sie gerade überhaupt nichts gesagt. Das wäre dann Stellschraube Nummer zwei. Auch diesbezüglich ist von Ihnen nichts gekommen.
Herr Präsident, ich glaube, es geht weiter mit den Zwischenfragen.
Frau Kollegin.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie haben ja jetzt lange Ausführungen zu ganz vielen Themen gemacht. Sie haben auch zitiert bezüglich zweier Länder, in denen Rot-Rot-Grün regiert, und damit versucht, hier auszuführen, inwieweit Sie zu dem Thema Mietpreisbremse stehen.
Das Spannende ist nur: Die Mietpreisbremse ist im Bürgerlichen Gesetzbuch geregelt. Ich habe gelernt, dass das Bundesrecht ist und im Bundesparlament beschlossen wird. Können Sie uns vielleicht Ausführungen dazu liefern, wie das Mietverhältnis auf Bundesgesetzgebungsebene geregelt werden kann, sodass der Mieter als der in dem Vertragsverhältnis schwächere Part tatsächlich geschützt ist? Darum geht es doch bei der Mietpreisbremse. Da hilft es nicht, auf andere Bundesländer zu verweisen; da gibt es Bundesratsinitiativen. Hier geht es doch um unsere Verantwortung, das BGB bezüglich des Mietrechts zu ändern.
Danke, Frau Kollegin, für die Frage. – Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder Sie haben das, was ich gesagt habe, nicht verstanden,
({0})
oder Sie haben mir nicht zugehört. Sie machen jetzt in Ihrer Frage genau das, was ich eingangs kritisiert habe: Bei der Frage nach bezahlbarem Wohnraum in Deutschland schauen Sie mit Scheuklappen auf die Mietpreisbremse und erwecken damit den Eindruck: Das ist das Allheilmittel.
Ich habe davon geredet, dass wir neue Wohnungen schaffen müssen, dass wir den Wohnungsmarkt, den sozialen wie den frei finanzierten, ankurbeln müssen. Kollege Luczak hat dazu vorhin schon einzelne Elemente genannt. Jetzt bringe ich Zitate, durch die sehr deutlich wird, dass in den Ländern, wo Sie selbst mit in der Verantwortung sind, gerade in diesem Bereich, Schaffung von neuem Wohnraum, überhaupt nichts passiert. Trotzdem stellen Sie mir wieder eine Frage zur Mietpreisbremse. Das zeigt sehr eindrücklich, dass das das einzige Instrument ist, das in Ihrem Kopf bei diesem Thema herumschwirrt.
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Ich würde gern auf die Situation in Berlin zu sprechen kommen. Wir waren bei den Schutzheiligen der Mieterinnen und Mieter in Berlin. Ich zitiere den „Tagesspiegel“ vom 27. April 2018. Überschrift „Wohnungsbau in Berlin kommt nicht voran.“
Der erste Satz – ich zitiere –:
Der Berliner Senat kommt mit seinen Bemühungen, die Wohnungsnot in der Hauptstadt durch Neubau zu dämpfen, kaum von der Stelle.
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Das heißt unter dem Strich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Sie stehen nicht für bezahlbares Wohnen, sondern Sie stehen in den Ländern, wo Sie in der Verantwortung sind, für Stillstand, gerade in diesem Bereich, und Sie stehen auch – das will ich auch einmal sagen; Kollege Luczak hat es vorhin angesprochen – für eine gewisse Maßlosigkeit im Steueraufkommen.
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Da bin ich nämlich auf einen weiteren Artikel gestoßen. Auch darüber möchte ich Sie informieren. „Die Welt“ schreibt: Die Hebesätze der Grundsteuer B in Berlin betragen sage und schreibe 810 Prozent. In Regensburg sind es 395 Prozent. Wenn Sie sich hierhinstellen und sagen: „Wir wollen bezahlbaren Wohnraum für Mieterinnen und Mieter“, dann sollten Sie auch wissen, dass die Grundsteuer auf die Mieterinnen und Mieter umgelegt wird. Dies wäre eine hervorragende Stellschraube, um dort die eine oder andere Entlastung zu erzielen.
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– Ich weiß, das schmerzt; ich glaube Ihnen das. Aber Sie kommen nicht umhin, mir zuzuhören.
Stattdessen geht es für Sie nur um ein Thema: Ausdehnung und Verschärfung der Mietpreisbremse. Wieder verschweigen Sie, dass die Mietpreisbremse vom Landgericht Berlin dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt wurde, weil es dort schon verfassungsrechtliche Bedenken gibt.
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Sie verschweigen zudem, dass wir mit der Mietpreisbremse nicht nur an der Privatautonomie der Parteien rumschrauben, sondern dass wir auch Berührungspunkte mit Artikel 14 Grundgesetz haben. Warum spreche ich von Artikel 14 Grundgesetz? Wenn ich sehe, wie Politiker der Linken und Politiker der Grünen in den Pfingstferien – jetzt um Pfingsten herum – Hausbesetzer verteidigt haben, dann muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen:
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Sie sollten die Zeit mal nutzen, sich mit Ihrer Position gegenüber dem deutschen Grundgesetz zu beschäftigen,
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gerade auch, wenn die Landeschefin der Linken, Katina Schubert, tatsächlich laut „Berliner Morgenpost“ sagt – das ist mein letztes Zitat, Herr Präsident –,
… es dürfe „keine Straftat mehr sein, spekulativen Leerstand zu besetzen“.
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– Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie dazu noch applaudieren, dann lassen Sie in dem Moment die Maske fallen.
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Ich würde vorschlagen, dass Sie sich mal die Zeit nehmen, den Koalitionsvertrag durchzulesen. Da gibt es viele gute Stellschrauben. Hören Sie mal auf, bei diesem Thema immer wieder Klassenkampf zu betreiben. Dann kommen wir gemeinsam zu einem guten Ergebnis. Bitte versuchen Sie auch mal, in den Ländern, in denen Sie in Verantwortung sind, an den Stellschrauben zu drehen. Dann wird die Situation für Mieterinnen und Mieter in Deutschland tatsächlich schleunigst besser.
Danke.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist Daniel Föst für die FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Natürlich steht es außer Frage, dass wir die Mietkostenexplosion, die Wohnkostenexplosion in den Griff bekommen müssen. Der Polizist, die Krankenschwester, der einfache Angestellte – wir müssen endlich dafür sorgen, dass der Wohnraum für diese Menschen, für die Mitte der Gesellschaft, wieder bezahlbar ist. Da bin ich ja bei Ihnen. Aber, liebe Kollegen von der Linken, mit Ihrem Antrag helfen Sie schlichtweg niemandem.
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Ein staatliches Preisregime ist nicht die Lösung, war nie die Lösung und wird auch nie die Lösung sein. Leider muss die SPD das anscheinend auch noch begreifen.
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Wir haben zweifelsohne ein Angebotsproblem in unserem Land. Es fehlen bundesweit 1 Million Wohnungen. Da müssen wir ran, diese Lücke müssen wir schließen.
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Wir müssen schneller bauen, mehr bauen und günstiger bauen.
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Mit Ihrem Antrag schlagen Sie wieder in die gleiche Kerbe, meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken: Preise festlegen, maximale Regulierung, Sozialismus. Ich frage Sie: Wer soll denn die 1,5 Millionen Wohnungen bauen, die laut Koalitionsvertrag in dieser Legislaturperiode entstehen sollen? Wer soll denn in den Mietwohnungsbau investieren, wenn durch diese Regulierungswut, dieses Preisregime der Mietwohnungsbau zu einem Minusgeschäft wird?
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Lassen Sie es uns einmal durchrechnen: 1,5 Millionen Wohnungen mal der durchschnittlichen Wohnungsgröße in Deutschland mal den durchschnittlichen Baukosten in Deutschland pro Quadratmeter ergibt eine notwendige Investitionssumme von sage und schreibe 200 Milliarden Euro, und da sind die Grundstücke noch nicht einmal dabei. Der Staat kann diese Wohnungen nicht alleine bauen. Wir brauchen die private Wohnungswirtschaft, die Genossenschaften, die Eigentümer bei der Schaffung von bezahlbarem Wohnraum.
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Das heißt, wir müssen die Investitionen in den Wohnungsbau endlich erleichtern und nicht noch zusätzlich unattraktiv machen. Mehr Kooperation statt Konfrontation, das ist der Weg zu günstigen Mieten.
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Jetzt mal ehrlich: Ihr Glaube, über Verbote die Welt steuern zu können, treibt die Vermieter samt der Wohnungen aus dem Markt.
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Damit wird die Mietpreisbremse zu einer Wohnbaubremse, und sie gehört nicht verschärft, sondern eher abgeschafft.
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Werte Kollegen, im Namen der Mieter, im Namen derer, die eine Wohnung suchen, im Namen aller, die durch hohe Mieten keine Luft mehr zum Atmen haben: Lassen Sie uns endlich aufhören, zu versuchen, den Mangel zu verwalten! Lassen Sie uns alles dafür tun, diesen Mangel beherzt zu beheben! Helfen wir, dass ausreichend Wohnraum geschaffen wird! Dann sinken auch wieder die Mieten, wie es in Berlin von 2000 bis 2003 der Fall war. Darum muss es uns gehen. Ausreichend Wohnraum zu günstigen Mieten, das ist die Lösung des Kostenproblems.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion der SPD spricht jetzt die Abgeordnete Ulli Nissen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe bei einigen das Gefühl, dass sie den Schlag von Frankfurt noch nicht gespürt haben. 70,8 Prozent für den Frankfurter Oberbürgermeister,
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der das Thema „bezahlbares Wohnen” ganz oben auf die Agenda gesetzt hat! Herr Luczak, darüber sollten Sie mal nachdenken.
Ich bin froh, dass wir heute wieder über bezahlbaren Wohnraum reden können. In meinem Frankfurter Wahlkreis werde ich immer wieder auf dieses Problem angesprochen. Viele, die eine Wohnung haben, befürchten, dass sie sich diese nach einer Modernisierung nicht mehr leisten können. In unserem Koalitionsvertrag haben wir uns auf diverse Verbesserungen geeinigt.
Ich bin unserer SPD-Ministerin Katarina Barley dankbar, dass sie schon jetzt – noch nicht mal 100 Tage im Amt – einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt hat.
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In diesem gibt es deutliche Fortschritte für Menschen in Mietwohnungen. Wir wollen die Mietpreisbremse scharf stellen. Künftig muss der Vermieter die Vormiete angeben. Außerdem soll es künftig leichter sein, zu viel gezahlte Miete zurückzufordern. Gerade für meinen Frankfurter Wahlkreis ist es extrem wichtig, dass wir eine Kappungsgrenze, einen Deckel für die Mieterhöhung nach Modernisierung einführen. Künftig darf nach Modernisierung nur noch maximal um 3 Euro pro Quadratmeter innerhalb von sechs Jahren erhöht werden. In Frankfurt hatten wir einen Fall, da wurde die Miete nach Modernisierung um 14 Euro pro Quadratmeter erhöht. Niemand von den Bestandsmietern konnte sich dies leisten. Alle zogen aus. Ein gezieltes Herausmodernisieren ist häufig ein Motiv. Das wollen wir künftig verhindern. Wir wollen den Straftatbestand einer Ordnungswidrigkeit einführen und so für die Mieterinnen und Mieter Schadenersatzansprüche begründen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie alle kennen das Struck’sche Gesetz: Kein Gesetz kommt aus dem Parlament so heraus, wie es eingebracht worden ist. – Ich halte es zum Beispiel für sinnvoll, Vermieter zu verpflichten, jedem neuen Mietvertrag ein Informationsblatt beizufügen, in dem die Mietpreisbremse ausführlich erklärt wird. Nur wer seine Rechte kennt, kann sie auch richtig nutzen. Außerdem bin ich dafür, dass möblierte Wohnungen – da bin ich mit den Linken einig – auch unter die Mietpreisbremse fallen. Mir hat ein Vermieter gesagt: Ach, dann stelle ich ein paar alte Möbel in die Wohnung; dann habe ich kein Problem mit der Mietpreisbremse. – Dem sollten wir einen Riegel vorschieben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
In Frankfurt hat die städtische Wohnungsbaugesellschaft ABG Frankfurt Holding mit gut 50 000 Wohnungen aufgrund einer Initiative – wir wissen, um wen es geht: um Oberbürgermeister Peter Feldmann – eine eigene Mietpreisbremse eingeführt. Die Miete darf innerhalb von fünf Jahren nur noch um 1 Prozent pro Jahr erhöht werden. Nach großem Engagement von unserem Oberbürgermeister und von dem SPD-Landesvorsitzenden Thorsten Schäfer-Gümbel wird eine ähnliche Mietpreisbremse jetzt bei der Nassauischen Heimstätte mit etwa 60 000 Wohnungen eingeführt. Dies sollte auch für uns als Bund ein Vorbild sein.
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Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben hat etwa 37 000 Wohnungen im Bestand. Lassen Sie uns auch dort eine Mietpreisbremse einführen!
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Ich bin selber seit 2004 Vermieterin im Frankfurter Nordend. Ich habe nicht einmal eine Bestandsmiete erhöht. Nur einmal habe ich vor vielen Jahren bei einer Neuvermietung die Miete um 20 Euro angehoben.
Ich komme zurück zur BImA. Diese hat Grundstücke in der Größe von etwa 470 000 Hektar im Besitz. Seit 2015 gibt es eine Richtlinie für verbilligte Abgabe von Grundstücken. Seitdem sind bei gut 2 000 Verkaufsfällen nur etwa 12 Grundstücke verbilligt abgegeben worden. Hohe Bodenpreise sind einer der Hauptpreistreiber beim Wohnungsbau. Jetzt ist Olaf Scholz von der SPD als Finanzminister dafür verantwortlich. Ich bin sicher, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass er in Kürze eine gute Lösung für die vergünstigte Abgabe von Grundstücken für sozial geförderten Wohnungsbau bei der BImA finden wird.
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Mietrechtsverbesserungen sind gut; wir brauchen aber vor allem neue Wohnungen. 1,5 Millionen wollen wir durch eine Wohnraumoffensive schaffen. Dazu gehört natürlich auch die Förderung des sozialen Wohnungsbaus. Um dies nach 2019 weiterhin tun zu können, müssen wir das Grundgesetz ändern. Dies wurde mit dem Beschluss des Bundeskabinetts von Anfang Mai auf den Weg gebracht. Allein für die Jahre 2020/21 wollen wir 2 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung stellen.
Kollegin Nissen, gestatten Sie eine Zwischenfrage von der FDP?
Nein; gerne im Anschluss. – Über eine weitere Erhöhung der Mittel würde ich mich freuen. Sozial geförderte Wohnungen sind für Menschen mit geringem oder mittlerem Einkommen dringend nötig.
In Hessen hat der bezahlbare Wohnraum seit vielen Jahren unter CDU-Regierungsführung keinerlei Priorität. Seit 1999 hat sich die Zahl der Sozialwohnungen in Hessen auf 90 000 halbiert – ein Schlag ins Gesicht der Menschen mit geringem Einkommen. Jetzt wird es dringend Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die SPD bei der Landtagswahl im Oktober die Regierungsführung übernimmt. Denn bei uns steht – nicht kurz vor der Wahl wie bei den Grünen –
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die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum ganz oben auf der Tagesordnung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu wenig bezahlbarer Wohnraum kann gewaltigen sozialen Sprengstoff bedeuten. Lassen Sie uns im Interesse der Menschen eine gute Lösung finden. Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Canan Bayram.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich war am letzten Samstag bei der „MietenMove“-Demo in Hamburg, und da waren über 8 000 Menschen, die klar und deutlich gesagt haben, dass das Thema Mieten das drängende Thema in den großen Städten ist.
Wenn man sich die Diskussion hier bisher angehört hat, könnte man ja wirklich meinen, dass es kaum gelingen wird, dass man bei dem Thema gemeinsam vorankommt. Aber die Menschen werden uns daran messen, ob es uns gelingt, die Mieterinnen zu schützen, und dafür, glaube ich, müssen wir auch mehr miteinander schauen, was wir schaffen können, anstatt uns im Klein-Klein auseinanderzudividieren.
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Denn eins ist doch klar: Es handelt sich um ein Thema der Daseinsvorsorge. Schauen Sie sich doch mal an, wer in vielen Fällen die Kosten für die Mieterinnen übernehmen muss: Das ist der Staat. Wir sollten ein eigenes Interesse daran haben, dass die Mieten nicht zu hoch sind, damit wir tatsächlich gewährleisten können, dass wir die Mieten für die Empfänger von Sozialleistungen bezahlen können.
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Denn anderenfalls führt das dazu, dass jemand, der, aus welchen Gründen auch immer, wenig Geld hat oder staatliche Unterstützung braucht, aus seinem Kiez verdrängt wird. Für meinen Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost kann ich Ihnen ganz klar sagen: Da sind Menschen, die sich ständig davor fürchten, ihre gesamte soziale Infrastruktur zu verlieren, wenn sie ihre Wohnung verlieren. Da hängt der Kitaplatz, da hängt die Schule, da hängt alles dran. Menschen sparen es sich vom Mund ab, sich ihre Wohnung noch leisten zu können. Das darf doch in einem Land, das so reich ist wie Deutschland, nicht der Fall sein. Dagegen müssen wir etwas machen.
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Es gibt in meinem Wahlkreis sehr viele Initiativen zu diesem Thema, und in meinen Sprechstunden steht das Thema Mieten ständig auf der Tagesordnung. Aber ich gebe ehrlich zu: Ich hatte noch keine Sprechstunde, wo jemand gesagt hat: Ich leide unter der Mietpreisbremse. – Es hat sich noch keiner an mich gewandt, der das zum Thema gemacht hat. Deswegen ist doch klar – zu dieser Erkenntnis können wir gemeinsam schnell kommen –, dass mit der Mietpreisbremse alleine das Thema nicht bewältigt werden kann.
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Es ist nur ein Baustein; das ist uns doch allen bewusst. Aber dennoch ist es ein wichtiger Baustein. Wir werden als Bündnis 90/Die Grünen demnächst einen Antrag einbringen, in dem wir die Bandbreite dessen vorstellen wollen, was das Parlament und der Staat tun können, um Mieterinnen zu schützen. Aber ich bitte auch diejenigen, die das kritisch sehen, noch mal über unsere Pflicht nachzudenken, den in dem vertraglich zusammenhängenden Gefüge schwächeren Part, nämlich den Mieter, der sich nicht aussuchen kann, ob er wohnen will oder nicht, zu schützen. Das sollte uns alle gemeinsam antreiben.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der fraktionslose Abgeordnete Mario Mieruch.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir stecken in einem Spannungsverhältnis zwischen freier Marktwirtschaft und sozialer Marktwirtschaft. Die Mieten steigen insbesondere dort, wo der Wohnraum beliebt, aber eben leider auch knapp ist.
Zum Antrag. Den Mietspiegel auf das Niveau des subventionierten Wohnraumes zu ziehen oder Höchstmieten durch Kommunen festlegen lassen zu wollen, kommt leider einer teilweisen Enteignung derjenigen gleich, die mit einer Wohnung fürs Alter sparen und dem Staat nicht auf der Tasche liegen wollen. Finanzierungen können dadurch platzen, weil die Liquidität plötzlich fehlt, oder es wird schlicht und ergreifend zum Verlustgeschäft für den Vermieter. Den Mietspiegel an der Inflation auszurichten und diesen auch noch bei 2 Prozent deckeln zu wollen, ist allerdings eine tolle Idee. Das sollten wir dann auch mit Lebensmitteln und zahlreichen anderen Verbrauchsgütern machen. Dann hätten wir Eins-a-DDR-Planwirtschaft.
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Selbstverständlich brauchen wir mehr Wohnraum; das steht völlig außer Frage. Da haben die Kollegen von der Union und auch von der FDP absolut recht. Auf der linken Seite wird wieder darauf hingewiesen: Die Mietpreisbremse betrifft ja gar nicht den Neubau.
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Aber wie stellt es sich in der Realität tatsächlich dar? Wird Neubau, der nicht davon betroffen ist, tatsächlich zu günstigen Mieten vermietet? Oder profitieren am Ende doch wieder diejenigen, die es sich leisten können, in so einen Kiez zu investieren, und die dann die hohe Miete geltend machen?
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Wir müssen auch ehrlich sein: Ortskerne lassen sich nicht unendlich verdichten.
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Es ist schlicht und ergreifend nicht möglich, dass jeder in der Ortsmitte wohnt. Wer günstig vermietet, der könnte zum Beispiel Grundsteuervorteile erhalten. Es hat mich sehr gefreut, dass der Herr Kollege Hoffmann das vorhin aufgegriffen hat und dass wir hier ähnliche Lösungsvorschläge offerieren können.
Innerstaatlicher Protektionismus hat noch nie funktioniert. Wir brauchen echten Wettbewerb.
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Wir müssen Investitionen attraktiv gestalten, und wir müssen vorhandene Ressourcen intelligent und effizient verwenden. Das geht eben nur mit mehr Marktwirtschaft, nicht mit weniger. Wir wollen nicht, nein, wir müssen einfach mehr Ludwig Erhard wagen.
Vielen Dank.
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Der letzte Redner in dieser Debatte ist Klaus Mindrup für die Fraktion der SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Entwicklung der Mieten in vielen Regionen Deutschlands bedroht den sozialen Frieden in unserem Land und löst Angst bei Mieterinnen und Mietern aus. Ich kann das verstehen und nachvollziehen.
Wir haben vor 18 Jahren im Prenzlauer Berg eine Mietergenossenschaft gegründet, unsere Häuser erworben und saniert. Damals haben wir ähnliche Mieten wie in unserer Nachbarschaft gezahlt. Heute liegen die Mieten bei unseren 460 Wohnungen im Schnitt bei 5,50 Euro pro Quadratmeter bei niedrigen Mietnebenkosten, aber die Mieten in der Nachbarschaft, in der privaten Neuvermietung, liegen bei 16 bis 17 Euro pro Quadratmeter. Das kann sich kein Durchschnittsverdiener mehr leisten. Es ist damit ein Gebot sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Vernunft, gegen diese Entwicklung vorzugehen.
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Wir müssen entschieden handeln. Der Koalitionsvertrag bietet dafür eine gute Grundlage. Wir wollen den Bau von 1,5 Millionen neuen Wohnungen auf den Weg bringen; zu diesem Thema komme ich später noch. Aber mindestens genauso wichtig ist, dass wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, dass wir den bezahlbaren Wohnraum sichern wollen. Das hat eine hohe Priorität; das ist ein wichtiges Ziel. Daran wollen wir uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten messen.
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Kollege Mindrup, gestatten Sie eine Zwischenfrage der FDP?
Nein. Wir sind schon so spät in der Zeit; das lassen wir jetzt.
Wir haben in der Vergangenheit massiv Sozialwohnungen verloren. Es hat Luxusmodernisierung und Verdrängung gegeben, und es hat sich gezeigt, dass die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit 1988 gegen den Widerstand der Sozialdemokraten mit Wirksamkeit 1990 ein ganz schwerer Fehler war.
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Heute haben wir noch 22 Millionen Mietwohnungen; diese müssen bezahlbar sein. Wenn wir diesen bezahlbaren Wohnraum verlieren, kommt der Neubau nicht dagegen an. 22 Millionen Wohnungen, die wir als bezahlbare Mietwohnungen nicht verlieren dürfen!
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Eines muss man sich klarmachen: Am Ende bezahlt der Staat: Wohngeld, Kosten der Unterkunft, Trägerwohnung und die Unterbringung von Wohnungslosen. Zu diesen Kosten gibt es keine saubere Statistik in unserem Land. Eine Zahl möchte ich hier nennen: 17 Milliarden Euro geben Bund, Länder und Gemeinden pro Jahr dafür aus. Diese Zahl kommt aus dem Wahlprogramm von CDU/CSU aus dem Jahr 2013. Es ist heute nicht weniger. 17 Milliarden Euro pro Jahr!
Wir müssen also Wert auf den Schutz bezahlbaren Wohnraums legen. Deswegen haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir eine Verschärfung der Mietpreisbremse auf den Weg bringen, dass wir einen besseren Schutz bei Modernisierungen einführen und das Herausmodernisieren verbieten. Wir Sozialdemokraten werden das gemeinsam mit unserem Koalitionspartner durchsetzen. Da kann Herr Dr. Luczak noch anderer Auffassung sein, am Ende werden auch Sie vertragstreu sein müssen.
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Wir werden dies hier beschließen, und wir werden es vernünftig machen.
Dann steht laut Koalitionsvertrag noch die Änderung des Mietspiegels auf dem Plan. Und wir müssen natürlich auch das Gebäude-Energie-Gesetz anpassen.
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Das Gebäude-Energie-Gesetz hat den Sinn, das Klima zu schützen, aber nicht, Mieterinnen und Mieter zu verdrängen. Das muss auch deutlich gemacht werden.
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Dann steht die Änderung des Grundgesetzes an. Wir wollen weiter in den sozialen Wohnraum investieren; das ist ganz wichtig. Wir werden die Länder auch verpflichten, dass das Geld in den entsprechenden Umsetzungsvereinbarungen ankommt. Dann steht die Einsetzung einer Kommission für eine „Nachhaltige Baulandmobilisierung und Bodenpolitik“ an. Darüber hinaus erachte ich es für notwendig, dass wir über eine Verbesserung des Milieuschutzes diskutieren und dass wir wieder über den Wucherparagrafen sprechen. Wenn wir neu bauen, muss es so sein, dass wir bezahlbaren Wohnraum schaffen. Es kommt nicht darauf an, dass wir irgendwo, irgendwas, irgendwie bauen, sondern wir müssen für Menschen bauen, die bezahlbaren Wohnraum brauchen. Das ist wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir das Engagement von Genossenschaften, kommunalen und kirchlichen Wohnungsunternehmen, nicht gewinnorientierten Initiativen und Stiftungen für den Neubau und eine sozialverträgliche Sanierung im Sinne einer Gemeinwohlorientierung unterstützen. Das ist der richtige Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen. Lassen Sie ihn uns gemeinsam gehen.
Chris Kühn hat eben gefragt: Ist auf die Sozialdemokratie Verlass? – Natürlich. Wir haben viele Jusos unter uns, und Jusos haben eine Doppelstrategie gelernt. Die Doppelstrategie lautet heute: Schutz bezahlbaren Wohnraums und Bau neuer Wohnungen. Das werden wir machen, und dafür bitte ich um die breite Unterstützung dieses Hauses.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe damit die Aussprache.
Sehr geehrter Präsident! Werte Kollegen! Die AfD-Fraktion hat diese Aktuelle Stunde beantragt, um über eine Verordnung zu sprechen, deren Irrsinn kaum zu toppen ist. Es geht um die Datenschutz-Grundverordnung. Am 25. Mai trat die DSGVO in Kraft.
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Sie soll helfen, die Herausforderung der Digitalisierung erfolgreich zu meistern und die Bürger zu schützen. Meine Damen und Herren, Sie haben das genaue Gegenteil erreicht,
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und Sie wissen das. Sie wissen, was für einen unglaublichen EU-Mist Sie hier verabschiedet haben.
Kurz vor Inkrafttreten des Gesetzes wollte die Kanzlerin noch schnell Änderungen beschließen.
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Der Chef der Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU forderte kurz vor dem Stichtag sofortige Nachbesserungen. Das muss man sich mal vorstellen! Da beschließen die Altparteien etwas auf EU-Ebene,
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verabschieden ein Gesetz, winken es sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat durch, und kurz bevor es in Kraft treten soll,
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fordern Sie ein Blitzgesetz gegen das Gesetz, das Sie gerade erst verabschiedet haben. Was für eine peinliche Vorstellung, meine Damen und Herren!
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Meine persönliche Frage an die Bundesregierung bezüglich der DSGVO kam mit der Bitte um Anpassung zurück. Die Regierung verstand den Begriff „institutionalisierte Presse“ nicht. Meine Damen und Herren, dieser Begriff ist Teilgrundlage des Gesetzes. Bevor Sie etwas im Bundestag verabschieden, sollten Sie es sich wenigstens einmal durchlesen.
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Weil Sie die Vorschriften der DSGVO selbst nicht verstehen, haben Sie den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags mit einer Ausarbeitung beauftragt, die Ihnen erklären soll, wie Sie das umsetzen, was Sie selbst beschlossen haben. Nach einer ersten Ausarbeitung haben Sie eine zweite in einfacher Sprache angefordert. Aber selbst diese zweite Ausarbeitung haben Sie nicht verstanden. Aber die Bürger da draußen, die sollen das ohne Hilfe verstehen.
In einem Brief an die eigene Bundesregierung beschwert sich ein CDU-Bundestagsabgeordneter, dass diese Regulierungsorgie den Kernbereich der Abgeordnetentätigkeit lahmzulegen droht. Recht hat der Mann! Fragt sich, wieso die Union diesem Unsinn überhaupt zugestimmt hat.
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Meine Damen und Herren, Sie wollten die Großen treffen. Sie wollten die Googles und Facebooks dieser Welt treffen, und stattdessen haben Sie den kleinen Mann getroffen: die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die Start-ups, die Vereine, Freiberufler und Ehrenamtliche. Den großen Unternehmen ist diese Verordnung herzlich egal; die haben genug Geld, um sich die teuren Juristen zu leisten. Ja, mehr noch: Facebook nutzte die DSGVO gleich zur Einführung der Gesichtserkennung in Deutschland. „Herzlichen Glückwunsch!“, kann ich da nur sagen oder: Setzen, sechs!
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Die Bürger stehen dagegen vor einem Bürokratiemonster, einem Gesetz, das vor Rechtsunsicherheit nur so strotzt, das wichtige Detailfragen ungeklärt lässt, das Unternehmen und Privatleute völlig überfordert und vor praktisch unerfüllbare Anforderungen stellt – eine Wettbewerbsverzerrung, von der die Großen profitieren und bei der die Kleinen das Nachsehen haben.
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Die AfD hat all diese Probleme erkannt
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und bei der Abstimmung auf EU-Ebene im Ausschuss als einzige deutsche Partei gegen die Datenschutz-Grundverordnung gestimmt.
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Aufgrund der Rechtsunsicherheiten gehen nun Webseiten vom Netz; Newsletter werden eingestellt, Babysitter-WhatsApp-Gruppen geschlossen; ausländische Webseiten sind für Europäer teilweise nicht mehr erreichbar. Ja, selbst das Streamen eines Gottesdienstes wurde eingestellt.
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Juristen geben auf Fragen unterschiedliche Antworten: „Nein, Fotos von Personen darf man ohne Einwilligung nicht mehr ins Netz stellen“, sagen die einen. „Doch, darf man“, sagen die anderen. Garantien dafür gibt es nicht.
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Wer recht hat, werden die Gerichte entscheiden. Wir warten also auf Präzedenzfälle, Präzedenzfälle auf Kosten der Betroffenen, die sie im Notfall ihre Existenz kosten können.
Die Abmahnindustrie freut sich. Die Datenschutz-Grundverordnung ist ein Konjunkturprogramm für sie. Die Behörden, die den Betroffenen eigentlich helfen sollen, sind überfordert. Werte Altparteien, wenn Sie schon so einen Irrsinn verabschieden, dann sorgen Sie doch wenigstens dafür, dass die Menschen da draußen umfassend informiert werden. Wo war die großangelegte Aufklärungskampagne der Regierung? Bürgerfreundliche Politik geht anders.
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Fassen wir zusammen: CDU und FDP kaufen Daten von der Deutschen Post, die SPD holt sich Obamas Datensammelgenie Jim Messina ins Team, der Beitragsservice von ARD und ZDF erhält Millionen von Daten von den Einwohnermeldeämtern, die Schufa weiß mehr über einen als man selbst, die NSA spioniert fleißig weiter, und dank Staatstrojaner trägt der eine oder andere seine ganz persönliche Wanze mit sich herum. Aber wehe, der kleine Handwerker tauscht sich mit seinem Kollegen auf der Baustelle über WhatsApp aus oder Oma Erna stellt die Fotos von der letzten Kaffeefahrt auf Facebook – dann schlägt der Staat mit voller Härte zu.
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Werte Kollegen, Datenschutz ist wichtig, aber bitte mit gesundem Menschenverstand und vernünftigen und klar verständlichen Gesetzen. Um es ganz einfach zu machen: Wenn Sie selbst nicht verstehen, was Sie hier beschließen,
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wenn Sie den Wissenschaftlichen Dienst einschalten müssen, dann lassen Sie es einfach!
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Die DSGVO ist mit sofortiger Wirkung auszusetzen und zu überarbeiten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Schönen Nachmittag Ihnen von mir, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Grüß Gott! Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Wochen gab es massive Spekulationen und Berichte darüber, welche Auswirkungen die neue Datenschutz-Grundverordnung, die zum 25. Mai dieses Jahres endgültig in Kraft getreten ist, mit sich bringen würde. Es gab viele Erwartungen, aber durchaus auch Befürchtungen. Um nur eines zuvorderst zu sagen: Sämtliche Skepsis und Befürchtungen sind grundsätzlich ernst zu nehmen, seien es Befürchtungen von kleinen und mittleren Unternehmen, seien es Befürchtungen von Vereinsvorsitzenden, was den Umgang mit den Daten der Mitglieder anbelangt, seien es aber auch Befürchtungen von professionellen Fotografen, was die Frage anbelangt, ob sie die Fotos auch weiterhin so veröffentlichen können, wie sie es bisher getan haben.
Ich bin aber auch der festen Überzeugung, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, dass diese Befürchtungen zum allergrößten Teil vollkommen unberechtigt und unsubstanziiert sind. Ich glaube, man kann gerade auch in so einer Debatte schön darstellen, dass Deutschland zum einen ein großes Interesse daran hat, dass diese Datenschutz-Grundverordnung kam; die Vereinheitlichung und Harmonisierung des Datenschutzrechts auf europäischer Ebene war insbesondere im Interesse der deutschen Wirtschaft. Zum anderen bin ich auch der festen Überzeugung, dass Deutschland sehr gut vorbereitet ist auf die Datenschutz-Grundverordnung. Die Datenschutz-Grundverordnung ist vor über zwei Jahren erlassen worden. Es gab also einen langen Vorbereitungszeitraum, sowohl für die Unternehmen als auch für Private. Und es gab auch seitens der Bundesregierung mannigfaltige Aufklärungs- und Unterstützungskampagnen, um das an dieser Stelle deutlich zu sagen.
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Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir haben im Bundesinnenministerium zusammen mit dem Bundeswirtschaftsministerium eine intensive Dialogreihe ins Werk gesetzt, um alle, die in Bezug auf die Datenschutz-Grundverordnung Interessen haben, frühzeitig darüber zu informieren. Ich kann an dieser Stelle sagen: Diese Dialogreihe wird auch weiterhin fortgesetzt. Darüber hinaus gibt es auf der Internetseite des Bundesinnenministeriums einen umfangreichen Fragen- und Antwortenkatalog, in dem auch sehr dezidiert auf sämtliche Befürchtungen und mögliche Fallstricke der Datenschutz-Grundverordnung hingewiesen wird.
Ich möchte, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, auf zwei Hauptthemen eingehen, die insbesondere in der Berichterstattung vor dem 25. Mai im Fokus standen. Zum einen geht es um die Fragestellung: Wie wird mit den möglichen Bußgeldern umzugehen sein? Die zweite Fragestellung lautet: Gibt es möglicherweise ein Abmahnunwesen, das Deutschland jetzt überziehen wird?
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Datenschutz-Grundverordnung, die ja generell gilt, in Deutschland gut vorbereitet wurde. Wir als Deutscher Bundestag haben vor einem Jahr als erstes Mitgliedsland der Europäischen Union ein Anpassungs- und Umsetzungsgesetz erarbeitet und verabschiedet. Darüber hinaus eines in aller Deutlichkeit: Die Frage, ob die Möglichkeit besteht, nationalstaatlich von Bußgeldvorschriften abzuweichen, ist klar zu beantworten. Ich weiß, dass immer wieder darauf hingewiesen wird, dass Österreich angeblich eine konziliantere Regelung in Bezug auf die Umsetzung von Bußgeldvorschriften getroffen habe. Hierzu muss man klar sagen, dass es keinen Abweichungs- und Interpretationsspielraum für die nationalen Mitgliedsländer gibt. Die Bußgeldvorschriften gelten laut der Datenschutz-Grundverordnung unmittelbar; es gibt hier keinen Umsetzungsspielraum für die Mitgliedstaaten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir als Bundesregierung haben, wie gesagt, eine umfangreiche Aufklärungskampagne gestartet. Wir werden diese Aufklärungskampagne weiter fortsetzen, aber wir belassen es nicht dabei. Bundesinnenminister Horst Seehofer hat sich mit einem Schreiben an die Vorsitzende der Datenschutzkonferenz und damit an die 16 Landesdatenschutzbeauftragten gewandt und in diesem Schreiben intensiv darum geworben, dass diese Datenschutz-Grundverordnung vernünftig und bürgernah umgesetzt wird. Das ist aus meiner Sicht der Hauptaspekt, der mich dazu bringt, derzeit überhaupt keine Befürchtung zu haben, dass jetzt in überbordender und übermäßiger Art und Weise Vereinsvorsitzende und Handwerksbetriebe traktiert werden. Ich vertraue hier auf eine vernünftige, angemessene und bürgerfreundliche Umsetzung der Datenschutz-Grundverordnung durch die 16 Landesdatenschutzbeauftragten.
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Darüber hinaus hat sich Bundesinnenminister Horst Seehofer an die Bundesjustizministerin, Frau Barley, mit der Bitte gewandt, eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag möglichst schnell auf den Weg zur Umsetzung zu bringen, und zwar die Novellierung des UWGs, des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb. Wir waren uns in den Koalitionsverhandlungen sehr schnell einig, dass wir dahin gehend eine Veränderung vornehmen wollen, dass das Abmahnunwesen, das es teilweise in sehr überbordender Weise gibt – nicht nur in Bezug auf die Datenschutz-Grundverordnung, sondern auch in anderen Fallkonstellationen –, deutlich minimiert und zurückgefahren wird. Unsere klare Erwartung als Bundesinnenministerium ist es, dass wir hier schnell handeln, schnell tätig werden und eine Novellierung des UWGs voranbringen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben vor einigen Jahren eine vom Bund finanzierte Stiftung Datenschutz gegründet. Diese Stiftung Datenschutz hat ebenfalls eine eigene Internetseite geschaltet mit eigenem Material und eigenen Handreichungen, was die Umsetzung der Datenschutz-Grundverordnung anbelangt.
Diesbezüglich ist zu erwähnen, dass hier nicht nur der Bund seine Hausaufgaben gemacht hat, sondern auch in sehr vielen Ländern – insbesondere die Landesdatenschutzbeauftragten – sehr hilfreiche, gut lesbare, gut verständliche Handreichungen erarbeitet haben, die aus meiner Sicht instruktiv mit dazu beitragen, die Befürchtungen, die grundsätzlich im Raum stehen, sehr schnell beseitigen zu können.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass dieses Horrorszenario, das insbesondere, liebe Frau Kollegin Cotar, von der AfD an die Wand gemalt wird, vollkommen unberechtigt und unsubstanziiert ist.
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Es gibt auch in den ersten Tagen, in denen die Datenschutz-Grundverordnung Anwendung findet, überhaupt keine Hinweise darauf, dass diese von Ihnen aus meiner Sicht künstlichen und vollkommen übertrieben eskalierten Befürchtungen irgendeine Grundlage haben; das Gegenteil ist der Fall.
Wir werden schnell handeln, um dies noch mal zu sagen, in Bezug auf die Novellierung des UWGs.
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Das ist aus meiner Sicht, was das gesetzgeberische Tätigwerden anbelangt, der Hauptansatzpunkt. Wir als Bundesinnenministerium werden in der zweiten Jahreshälfte das zweite Anpassungs- und Umsetzungsgesetz zur Datenschutz-Grundverordnung vorlegen. Es muss in diesem zweiten Anpassungs- und Umsetzungsgesetz in mindestens 150 Bundesgesetze eingegriffen werden. Auch dies ist ein größeres Konvolut, ein größerer Rechtsakt, der jetzt im Bundesinnenministerium vorbereitet wird. Ich sage auch dazu: Wir sind hier offen, insbesondere die angedachte Novellierung des UWGs in dieses zweite Anpassungs- und Umsetzungsgesetz zur Datenschutz-Grundverordnung zu integrieren.
Ich möchte auch noch darauf hinweisen, dass die Datenschutz-Grundverordnung selbst eine Evaluierung vorsieht. Im Mai 2020 wird seitens der EU-Kommission ein Evaluierungsbericht über die Erfahrungen mit der Datenschutz-Grundverordnung vorgelegt werden. Aus meiner Sicht ist der Zeitpunkt für das Vorlegen dieses Evaluierungsberichtes auch deshalb so günstig, weil er unmittelbar vor Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte des Jahres 2020 liegt. Deshalb bin ich der Überzeugung, dass wir als Bundesregierung gut daran tun, das Datenschutzrecht und insbesondere die Datenschutz-Grundverordnung sowie einen möglichen Novellierungsbedarf bezüglich der Datenschutz-Grundverordnung zu einem Hauptthema der deutschen Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2020 zu machen.
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Deutschland war und ist auf die Datenschutz-Grundverordnung gut vorbereitet. Dass die Datenschutz-Grundverordnung eingeführt wurde, war insbesondere in deutschem Interesse, weil nämlich, Frau Kollegin Cotar, jetzt ausgeschlossen wird, dass sich manche Länder – ich nenne keine im Einzelnen – durch niedrige Datenschutzrechtsniveaus, durch Datenschutzrechtdumping einen Wettbewerbsvorteil bei der Ansiedlung von Unternehmen verschaffen; das sah man ja bisher insbesondere daran, wo bestimmte Unternehmen wie Facebook und Google ihre Sitze in Europa nahmen.
Wir haben jetzt ein Level Playing Field, ein gleiches, ein ebenes Spielfeld, das es ermöglicht, dass überall die gleichen Standards und die gleichen Grundsätze gelten. Das liegt aus meiner Sicht insbesondere im Interesse Deutschlands und im Interesse der deutschen Wirtschaft.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Stephan Mayer. – Ich will, weil es die Bitte gab, eine Zwischenfrage stellen zu dürfen, anmerken: Frau Petry, in der Aktuellen Stunde sind keine Zwischenfragen zugelassen.
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Nächster Redner in der Aktuellen Stunde für die FDP-Fraktion: Manuel Höferlin.
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Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vor allem an meine geschätzten Kollegen der SPD und Union: Guten Morgen! Sind Sie auch wach? Sie haben leider zwei Jahre geschlafen.
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Was haben Sie verpasst in den zwei Jahren? Sie haben es verpasst, die Möglichkeiten der Nationalstaaten im Hinblick auf die Datenschutz-Grundverordnung zu nutzen und die Regelungen so anzupassen, dass sie nicht so wirken, wie sie das tun.
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Es hat von Ihnen vielleicht niemand bemerkt: Ein Datenschutz-Anpassungs- und -Umsetzungsgesetz kann man nicht einfach im Schlaf machen. Vielmehr führt das Gesetz im Kern jetzt dazu, dass Konzerne wie Facebook sich über eine Datenschutzerklärung eine Einwilligung für Gesichtserkennung und alles Mögliche holen und Tante Traudels Rezepteblog vom Netz genommen wird, weil die Betreiber Angst vor Abmahnschreiben haben.
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Das ist der Punkt: Die Daten sind kein Stück sicherer geworden. Meine Daten sind nicht sicherer vor Schufa, vor Beitragsservice, vor Geheimdiensten; aber die Homepage des örtlichen Sportvereins muss am Ende vielleicht einpacken,
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weil dieser Sportverein jetzt plötzlich Angst haben muss, ein Abmahnschreiben zu bekommen.
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– Frau Kollegin, ich kann dem nicht zugestimmt haben; denn wir waren vor zwei Jahren gar nicht im Parlament vertreten. Übrigens: Sie auch nicht.
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Privatleute, Handwerker, Freiberufler schauen sehnsüchtig zu den österreichischen Nachbarn,
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die nämlich die Öffnungsklausel der Datenschutz-Grundverordnung genutzt haben. Das war genau die Aufgabe für Sie in der Großen Koalition – auch in der letzten Legislatur –, diese zum Wohle der Unternehmen und der kleinen Vereine zu nutzen; und das haben Sie sträflich vernachlässigt.
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Stattdessen könnte – Staatssekretär Mayer sprach von Abmahnunwesen; ich sage es mal so – eine Abmahnwelle drohen. Die ersten Abmahnungen sind am 25. Mai bereits eingegangen.
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Ich bin mal gespannt, wie viele es werden. Auf jeden Fall führt es zumindest zu einem großen Drohpotenzial in diesem Bereich.
Um fair zu bleiben: Es ist Ihnen ja selbst unangenehm. Sie wollen hektisch jetzt schnell versuchen, die Fehler auszubügeln. Aber erstens kommen die Vorschläge, die Sie jetzt machen, zu spät – das hätte man in den letzten zwei Jahren machen müssen –,
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zweitens gehen sie nicht weit genug, und drittens – das ist mal wieder spannend – sind sie auch in der Koalition noch nicht abgestimmt. Sie führen wieder über die Medien aus, was Sie besser in den letzten zwei Jahren in einem gemeinsamen Gespräch hätten klären können – und müssen. Es ist ja nicht so, dass Sie erst seit kurzem als Koalition hier säßen. Ich habe in einem Vortrag gehört: Na ja, das hätte alles so lange gedauert, weil die Koalitionsverhandlungen und die Regierungsbildung so lange gedauert hätten. Sie bilden aber nicht seit zwei Jahren diese Regierung, und Sie haben genug Zeit gehabt, das zu machen.
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Vielleicht hätten Sie einfach einmal ein Gespräch auch mit Ihren Kollegen im Europäischen Parlament führen sollen; denn soweit ich informiert bin, stellen Sie im Europäischen Parlament eine ganze Menge Abgeordnete. Es hätte nicht geschadet, und es wäre uns vielleicht viel erspart geblieben.
Lassen Sie mich fünf Punkte nennen, die uns jetzt, nach vorne schauend, weiterhelfen würden; denn es hilft am Ende doch nichts, wenn wir darauf herumreiten, was Sie zwei Jahre lang alles verpatzt haben.
Erstens: die Abmahnwelle stoppen. Es geht um den Schutz von Personen. Es geht nicht darum, dass jemand aus der Abmahnbranche einen Brief schreiben kann, um bei einem relativ hoch festgesetzten Streitwert eine Abmahnpauschale zu erhalten. Also geht es darum, ganz schnell das zu tun, was in Österreich gemacht wurde, nämlich das Abmahnwesen
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in diesem Bereich einzudämmen. Das muss unbedingt sofort geschehen – und zwar dauerhaft.
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Zweitens. Wir sollten die Spielräume der Öffnungsklauseln der Datenschutz-Grundverordnung jetzt nutzen, und zwar ohne den Datenschutz zu verwässern. Das geht; unsere Nachbarländer machen das vor. Der Datenschutz dient in erster Linie den Menschen; ich will nicht die Daten schützen, ich will die Rechte der Menschen schützen. Es darf auch kein Selbstzweck sein, was dort geschieht. Ein Konzern darf nicht genauso behandelt werden wie der Verein vor Ort mit lauter Ehrenamtlern, meine Damen und Herren.
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Drittens: eine Auslegung von Rechtsunklarheiten durch den EuGH forcieren. Auch das müssen wir schnell machen; denn es gibt Rechtsunklarheiten in der Datenschutz-Grundverordnung. Diese sollten dem EuGH möglichst schnell vorgelegt werden, damit Klarheit entsteht. Auch die europäische Datenschutzinstitution kann das tun. Es kann nicht sein, dass zusätzlich zu den sechzehn Rechtsauffassungen zur Auslegung in Deutschland noch weitere hinzukommen; denn der Vorteil einer Datenschutz-Grundverordnung ist ja das einheitliche Datenschutzniveau in Europa.
Viertens. Aufsichtsbehörden sollten finanziell und personell hinreichend ausgestattet sein. Was ich vom Parlamentarischen Staatssekretär Mayer dazu gehört habe, freut mich. Ich habe Sie so verstanden, dass die Stiftung Datenschutz im nächsten Haushalt finanziell unterstützt wird. Darüber freue ich mich besonders; denn das ist auch uns ein großes Anliegen.
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– Ja, die Aufsichtsbehörden in den Ländern kriegen das vielleicht auch über deren Haushalte hin.
Fünftens –
Das muss ein kurzes „Fünftens“ sein – sehr kurz.
– ja, genau –: eine Gesamtstrategie für das Datenrecht der Zukunft. Denn viele Fragen sind in der Datenschutz-Grundverordnung nicht verhandelt und werden uns über Jahre hinweg noch vor viele Aufgaben stellen. Lassen Sie uns jetzt damit anfangen und nicht zwei weitere Jahre schlafen!
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Höferlin. – Nächste Rednerin: Saskia Esken für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Datenschutz“ – der Kollege Höferlin hat es gesagt – ist schon ein seltsamer Begriff. Wir wollen ja keine Daten schützen; wir schützen Menschen vor dem Missbrauch ihrer Daten. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Grundrecht informationelle Selbstbestimmung genannt, weil die Menschen eben selbst darüber bestimmen sollen, was mit ihren Daten geschieht.
In den 1980er-Jahren war der Staat der einzige Akteur, der zu viel über uns wissen wollte. Wir haben damals vor dem gläsernen Bürger gewarnt, und wir haben uns nicht so viele Gedanken über den Adresshändler gemacht, der unsere Adresse bei einem Preisausschreiben gewonnen hatte. Das waren ja auch nicht so viele.
Heute, im Zeitalter der Digitalisierung, machen wir uns übrigens immer noch Gedanken über den neugierigen Staat. Ich denke, wir tun das zu Recht; denn wenn ich mir die Gesamtschau der Überwachung anschaue, die das Bundesverfassungsgericht angemahnt hat, dann stelle ich fest: Wir haben allen Grund dazu.
Im privaten Bereich gibt es aber mittlerweile viel mehr über uns zu wissen als nur die Postadresse, die irgendwo gehandelt wird. Was immer wir online erledigen, ob wir etwas suchen, etwas kaufen, ob wir Serien schauen – mit allem hinterlassen wir Spuren im Netz und machen uns damit ziemlich durchschaubar. Meinungsumfragen zeigen: 80 Prozent der deutschen Bevölkerung finden das beunruhigend; die Menschen wollen sich davor schützen können, dass ohne ihr Wissen und ohne ihr Einverständnis Daten gesammelt werden.
Weil Daten keine Grenzen kennen, wurde mit der EG-Datenschutzrichtlinie 1995 ein erster Versuch gemacht, das Datenschutzrecht in der EU zu harmonisieren. Die Richtlinie wurde aber sehr unterschiedlich umgesetzt; es entstand ein Flickenteppich nationaler Regeln, die kaum durchsetzbar waren – schon gar nicht gegenüber den globalen Playern. Die haben gesagt: Ihr mit eurem komischen Datenschutz; den verstehen wir gar nicht.
Die Datenschutz-Grundverordnung, die – anders als die Kollegin Cotar es verstanden hat – nicht am 25. Mai 2018, sondern vor zwei Jahren in Kraft getreten und jetzt wirksam geworden ist, will das ändern. Als unmittelbar geltendes Recht erlaubt sie nur wenige Sonderwege; die Ausrede vom Flickenteppich gilt also nicht mehr, und die rechtlichen Regelungen werden auch nicht durch 16 Landesdatenschutzbeauftragte wieder aufgeweicht. Dazu kommen drastisch erhöhte Bußgelder – alle haben es gehört –: 20 Millionen Euro oder bis zu 4 Prozent des weltweiten Jahresumsatzes. Da kommt dann schon was zusammen.
Ansonsten, hört man jetzt, hat sich an den Pflichten von Privatleuten, Unternehmen und Institutionen nicht viel geändert. Wer sich bisher schon datenschutzkonform verhalten hat, hat also nichts zu befürchten. Aber wer hat das schon?
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Das muss man ja einräumen. Auch wir Abgeordnete waren da nicht besser. Vermutlich haben selbst die Kollegen von der FDP, die die letzten vier Jahre und auch diese zwei Jahre Übergangsfrist in anderen beruflichen Verwendungen waren, da nicht nachgezogen.
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Ich weiß also sehr gut: Da draußen und hier drin gibt es viele
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– ja, genau –, die die Vorteile eines endlich durchsetzungsfähigen Datenschutzrechtes jetzt nicht im Vordergrund sehen, die ich hier aufzeige. Sie sehen den für viele undurchschaubaren Aufwand, den sie als Verein oder als Unternehmen mit ihrer Website, mit ihrem Onlineshop treiben müssen. Das kostet Mühe, das kostet Geld. Das macht vielen auch Angst. Und, ja, manche Beratungen sind ihr Geld nicht wert, sondern schüren mehr Unsicherheit, als dass sie Hilfestellung geben.
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Auch von denen, die aus Verunsicherung politisch Kapital schlagen wollen, liege Kollegin von der AfD, wird viel Blödsinn erzählt.
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Alle Beispiele, die Sie genannt hatten, haben mit der Datenschutz-Grundverordnung gar nichts zu tun.
Dazu kommt natürlich die Angst vor den Bußgeldern. Ich bin mir aber sicher – der Staatssekretär hat es gesagt –: Die Datenschutzaufsichtsbehörden werden die Datenschutz-Grundverordnung mit Augenmaß umsetzen. Sie haben ohnehin das Gebot der Verhältnismäßigkeit anzuwenden. Bei erkennbarem Bemühen um den Datenschutz
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– nix Willkür – werden sie erst einmal auf einen Fehler hinweisen und sagen, wie es besser zu machen ist; denn sie haben in ihrem Aufgabenkatalog nicht nur die Aufsicht, sondern auch die Beratung stehen.
Ich sage also: Die Datenschutz-Grundverordnung ist kein Grund zur Panik. Aber sie ist ein guter Anlass zum Aufräumen. – Na ja, wer räumt schon gerne auf? Aufräumen heißt hier, dass wir uns bewusst machen: Welche Daten besitzen wir? Welche Daten, insbesondere natürlich personenbezogene Daten, brauchen wir? Der Kollege, der davon gesprochen hat, dass das Datenschutzrecht offensichtlich fehle, sprach ja von nicht personenbezogenen Daten. Die sind von der Datenschutz-Grundverordnung gar nicht betroffen. Bitte immer schön auseinanderhalten!
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Wir müssen aufräumen mittels der Fragen: Welche personenbezogenen Daten brauchen wir, auf welche können wir verzichten, und wie gehen wir mit dem Rest um? Im Idealfall sollte dieses Aufräumen zu mehr Datenqualität führen. Weil übrigens auch das sichere Aufbewahren zu unseren Pflichten gehört, führt die Datenschutz-Grundverordnung auch zu mehr Datensicherheit. Insgesamt klingt das also für mich nach einer Win-win-Situation.
Ich räume ein Versäumnis ein. Das tue ich natürlich nicht gerne. Wir haben in den letzten zwei Jahren so wie alle anderen nicht nur bei unseren eigenen Pflichten ein bisschen geschlafen und räumen jetzt vielleicht noch ein bisschen auf. Nein, wir haben es leider auch verpasst, dieses wunderbar durchsetzungsfähige Datenschutzrecht mit einer Kampagne unter die Leute zu bringen, und zwar mit einer, die sie aktiv bei der Umsetzung unterstützt,
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wie wir überhaupt viel zu oft Gesetze machen, ohne dafür zu werben und auch die Mittel und die Wege für die Umsetzung bereitzustellen.
Denken Sie an Ihre Redezeit.
Letzter Satz. – Ich kann nur dafür plädieren, dass wir das bei der Ausstattung der Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit im Zuge der Haushaltsberatungen 2019 in Ordnung bringen
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und unser Versäumnis damit ein Stück weit wiedergutmachen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Esken. – Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke: Anke Domscheit-Berg.
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Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Liebe Besuchergruppen, vor allem die aus Mecklenburg-Vorpommern, hallo! Eine im Kern gute Sache verunsichert flächendeckend. Datenschutz gerät in Verruf. Er soll kompliziert, aufwendig und vor allem für die Kleinen ein finanzielles Risiko sein, heißt es.
Obwohl das Gesetz 2014 beschlossen wurde und 2016 in Kraft trat, haben gefühlt 80 Prozent der Gesellschaft erst Tage vor seiner Wirksamkeit am 25. Mai davon erfahren. Seitdem regiert das Chaos.
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Viele Regelungen sind unklar, unter anderem weil sie gegensätzlich ausgelegt werden, selbst von behördlichen Stellen. Die Ankündigung einer Abmahnwelle, die Nähblogs und Handwerker überrollt, verbreitete sich wie alle Horrorszenarien besonders schnell im Internet.
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Weil die Erinnerung an das Unwesen der Abmahnindustrie wegen kleinster Urheberrechtsverletzungen noch sehr lebendig war, glaubten das viele und schlossen vorbeugend ihre Webseiten, von kita-im-gewerbehof.de bis zu kunsthandwerkermarkt.de . Das bedroht die Vielfalt des Internets, aber Schuld daran ist nicht die Datenschutz-Grundverordnung, sondern eine Bundesregierung, die es versäumt hat, die Regelung vernünftig in nationales Recht zu überführen und vor allem – das wurde immerhin anerkannt – in der Gesellschaft sinnvoll zu begleiten.
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Weil wir leider aus dem Blick verlieren, warum dieses Gesetz eine gute Sache ist, möchte ich kurz daran erinnern: Endlich haben wir – jede Einzelne – eine Handhabe gegen digitale Großkonzerne, für deren Geschäftsmodelle wir unsere Privatsphäre opfern sollen; denn es gibt jetzt ein Verbandsklagerecht, das unsere Kräfte bündelt. Wenn sich Unternehmen nicht an Regeln halten, wird es für sie so teuer, dass die Portokasse nicht mehr reicht und es ihnen richtig wehtut.
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Endlich haben wir ein Recht auf einfache AGB, die jeder versteht, und darauf, dass unsere Daten nicht ohne Zustimmung zu irgendwelchen Zwecken an irgendwelche Dritte herumgereicht werden. Aus dem Ausland kommt daher viel Lob, weil digitale Monopole bisher nach ihren eigenen Regeln agierten, aber nun Europa Regeln definiert und mit der Macht einer halben Milliarde Nutzer und Nutzerinnen durchgesetzt hat und damit der Privatsphäre auch im digitalen Zeitalter wieder eine Chance gab. Das ist einmalig, es ist großartig, und wir sollten als Europäerinnen und Europäer darauf stolz sein.
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Statt Stolz dominieren aber Unverständnis, Wut und Ablehnung, und leider auch zu Recht. Ich möchte die Bundesregierung daher auffordern, folgende überfällige Maßnahmen zeitnah umzusetzen.
Erstens: eine Art Freischuss für die Kleinen. Wir müssen denen, die nicht die Ressourcen von Großunternehmen haben, die Angst nehmen. Dazu braucht es eine EU-rechtskonforme Freischussregelung beim Erstverstoß durch Blogger, Selbstständige, Bildungsinstitutionen, NGOs und KMU, deren Geschäftsmodell nicht auf der Verarbeitung personenbezogener Daten beruht. Denn die Datenschutz-Grundverordnung schreibt vor, dass die Ahndung eines Verstoßes angemessen zu sein hat.
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Es muss jedem klar sein – darum geht es mir –, wie eine angemessene Ahndung von Erstverstößen durch Nähblogs oder Feuerwehren auszusehen hat: nämlich Beratung und Ermahnung statt Bußgeld.
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Zweitens: eine umfassende Aufklärungskampagne der Bundesregierung. Die hat Staatssekretär Mayer zwar irgendwie mitbekommen, ich und viele andere aber nicht. Kurz, es braucht einen helfenden Staat, der seine Bürger und Bürgerinnen nicht im Stich lässt. Jeden Monat könnte man ein Thema vertiefen, öffentlich und breit kommunizieren. Datenschutzbehörden und andere öffentliche Stellen brauchen dazu ad hoc weitere Ressourcen, um mehr Schritt-für-Schritt-Anleitungen im Netz und verlässliche Antworten, nicht widersprüchliche, auf offene Fragen bereitzustellen.
Zur Aufklärung gehören aber auch verbindliche Aussagen zu den wichtigsten widersprüchlichen Interpretationen, zum Beispiel ob das Kunsturheberrecht in alter Form weiter gilt, also ob Fotografen so weiterarbeiten können wie bisher.
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– Ich glaube das auch. Viele Fotografen wissen das aber immer noch nicht.
Drittens: Schluss mit der Abmahnindustrie. Die Bundesregierung muss endlich, wie angekündigt, der spezifisch deutschen Abmahnindustrie die Grundlage entziehen; denn viel zu häufig werden Abmahnungen eben nicht zum Schutz gegen Wettbewerbsverzerrungen, sondern als eigenes Geschäftsmodell eingesetzt. Das ist zwar gar nicht zulässig, aber es passiert trotzdem, und es kostet Geld und Zeit, sich dagegen zu wehren. Deshalb gehört es endlich unterbunden. Allein das würde sehr vielen Menschen die Angst nehmen.
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Die Linksfraktion fordert die Bundesregierung auf, diese drei Maßnahmen zügig in Angriff zu nehmen, damit wir auf einen Weg zurückkehren, der der Sache dient, ohne unzumutbare Kollateralschäden anzurichten. Es muss endlich klar werden, worum es wirklich geht, nämlich darum, unsere Privatsphäre zu schützen, vor allem gegenüber denen, die sie in großem Stil zu Geld machen wollen.
Im Übrigen bin ich der Auffassung, dass Schwangerschaftsabbrüche und sachliche Informationen dazu nicht in das Strafgesetzbuch gehören.
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§ 219a Strafgesetzbuch gehört endlich abgeschafft.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Domscheit-Berg. – Nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen: Tabea Rößner.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn man der Abgeordneten der AfD so zuhört, könnte man meinen, das Abendland sei kurz vor dem Untergehen.
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Es ist schon erstaunlich, dass die Datenschutz-Grundverordnung ausgerechnet Ihnen jetzt plötzlich so wichtig ist. Wo waren Sie denn von der AfD, als die Verordnung im EU-Parlament verhandelt wurde?
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Statt sich ins Gesetzgebungsverfahren einzubringen, haben die EP-Abgeordneten der AfD in jeder Sitzung mit Abwesenheit geglänzt,
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und das über viele Jahre hinweg.
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Und statt die Chance zu nutzen, für die Sie gewählt wurden, krakeelen Sie jetzt im Nachhinein rum. Das ist ganz schön armselig, sehr geehrte Damen und Herren.
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Ganz offensichtlich haben Sie sich die Datenschutz-Grundverordnung nicht gründlich angeschaut; denn sonst würden Sie hier nicht so einen Unsinn verbreiten.
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Fakt ist: Alles, was aus Brüssel kommt oder wo „Verordnung“ draufsteht, ist Ihnen ein Dorn im Auge. Sie sind dagegen. So funktioniert Politik machen aber nicht.
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Wir vertreten hier im Bundestag alle Menschen in diesem Land, und die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger interessiert sich nun einmal auch noch für eine Menge anderer Themen als für Ihre Hetze oder Fremdenfeindlichkeit.
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Das Thema Datenschutz betrifft die Menschen überall in ihrem Alltag, zum Beispiel wenn sie Spamnachrichten bekommen und nicht wissen, woher die Absender ihre E-Mail-Adresse haben, oder wenn sie in den Nachrichten lesen müssen, dass Facebook Nutzerdaten an chinesische Firmen weitergibt. Die Datenschutz-Grundverordnung bietet Bürgerinnen und Bürgern Schutz vor dem Missbrauch persönlicher Daten, vor diskriminierenden Entscheidungen, zum Beispiel vor der unbegründeten Verweigerung von Krediten – kommt vor – oder vor willkürlicher Überwachung. Das gilt im Großen wie im Kleinen.
Auch in anderen Bereichen ist das übrigens so. In der Gastronomie zum Beispiel gelten dieselben Hygienevorschriften für eine Massenkantine wie für die kleine Pommesbude an der Ecke. Die Vorschriften sind dieselben, und das ist auch richtig so; denn nur so können wir verhindern, dass Menschen mit Lebensmittelvergiftung nach Hause gehen.
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Am Ende des Tages bietet die Datenschutz-Grundverordnung als einheitlicher europäischer Rechtsrahmen viele Vorteile, gerade auch für deutsche Unternehmen. Wenn Sie sich im außereuropäischen Ausland mal umhören würden, dann würde Ihnen vielleicht auffallen, dass man zum Beispiel in den USA mit Neid und Bewunderung darauf schaut, dass wir einen solch starken Datenschutz europaweit eingeführt haben. Das wird innerhalb kürzester Zeit zu einem Standortvorteil für deutsche Unternehmen werden. Da müssen Sie schon mal über den Tellerrand hinausschauen.
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Ich will gar nicht leugnen, dass die Umsetzung vor zwei Wochen für viele Organisationen, für kleine Unternehmen und auch für die Abgeordnetenbüros im Bundestag ein großer Kraftakt war. Da hätte ich mir gewünscht, die Bundesregierung hätte hier ihren Job richtig gemacht; denn das alles hätte wesentlich geschmeidiger laufen können, wenn die Unternehmen wie auch die Bürgerinnen und Bürger besser unterstützt worden wären. Die Datenschutz-Grundverordnung ist ja nicht einfach vom Himmel gefallen. Es war doch klar, dass die Umstellung für viele Unternehmen und Organisationen einen Kraftakt bedeuten würde. Und es ist der Fehler der Bundesregierung, dass sie die zweijährige Übergangsphase einfach so völlig untätig hat verstreichen lassen.
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Die Bundesregierung hätte die Zeit nutzen müssen, um frühzeitig über Änderungen zu informieren und bei der Umsetzung zu unterstützen. Und auch die Aufsichtsbehörden hätte man mit Blick auf die neuen Aufgaben besser ausstatten müssen. Auch das hat die Bundesregierung total verpennt.
Das zeigt auch der neueste Vorstoß: Statt frühzeitig eine grundsätzliche Lösung gegen Abmahnmissbrauch auf den Weg zu bringen, will man die Probleme jetzt im Husch-husch-Verfahren flicken. Im Koalitionsvertrag haben Sie versprochen, etwas gegen den Abmahnmissbrauch zu tun. Jetzt wollen Sie eine Übergangslösung im Omnibusverfahren mit der Musterfeststellungsklage durchschleusen. So kann man ganz sicher keine sinnvollen Regelungen auf den Weg bringen;
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zumal es angesichts der aktuellen Datenskandale fraglich ist, die Maßnahmen der gesamten Datenschutz-Grundverordnung auszusetzen. Wir brauchen dringend differenzierte, nachhaltige und wirksame Ansätze, und dazu werden wir Grüne die richtigen Vorschläge einbringen.
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Denken Sie an Ihre Redezeit, bitte.
Ich kann versprechen: Wir werden die Entwicklungen im Zusammenhang mit der Datenschutz-Grundverordnung im Auge behalten, gegebenenfalls nachjustieren. Wenn sich die anfängliche Aufregung erst mal gelegt hat, wird uns die heutige Diskussion vielleicht absurd erscheinen.
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Panikmache scheint zwar für manche eine attraktive politische Strategie zu sein, sie ist hier aber fehl am Platz. Als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, war das Abendland noch nicht untergegangen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Rößner. – Nächster Redner in der Debatte: Marc Henrichmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Besucher! Als jemand, der ehrenamtlich und beruflich mit der Datenschutz-Grundverordnung in Verbindung gekommen ist, will ich hier als Optimist auftreten und sagen: Wir haben jetzt erstmals einen einheitlichen europäischen Rechtsrahmen statt nationaler Flickenteppiche, und das ist, glaube ich, eine große Errungenschaft.
Wir wissen seit zwei Jahren, dass die Datenschutz-Grundverordnung kommt. Sie ist – wir haben es gehört – in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar. Jetzt wird viel über die Sorgen und Nöte der Unternehmen geredet. Ja, die sind berechtigt, und die nehme ich, die nehmen wir ernst. Aber was hat sich für die Bürgerinnen und Bürger geändert? Die Datenschutzrechte – auch das sollten wir betonen – sind erstmals massiv gestärkt worden: das Recht auf Information, das Recht auf Zugang und auf Löschung der Daten, Stillschweigen wird nicht mehr einfach als Zustimmung gewertet, auch Kinder werden im Internet deutlich besser geschützt. Ich denke, das sind wesentliche datenschutzrechtliche Errungenschaften, für die wir die EU auch mal loben dürfen.
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Was hat sich für Unternehmen, Vereine und Verbände geändert? Letzten Endes – so sagt es die EU-Kommission in ihrem Bericht an Rat und Parlament vom Januar 2018 – hat sich an den Grundsätzen der Rechtsvorschriften zum Datenschutz, die 1995 eingeführt wurden, nicht wesentlich viel verändert. Die Kommission sagt auch:
Wirtschaftsbeteiligte, insbesondere KMU, deren Kerntätigkeit nicht in einer mit hohen Risiken verbundenen Datenverarbeitung besteht, werden in der Regel nicht den besonderen Verpflichtungen der Verordnung unterliegen.
Jetzt stellt sich die Frage, ob bei uns auf nationaler Ebene vielleicht die eine oder andere Datenschutzbehörde anderer Auffassung ist. Das ist wohl so. Wenn man hört, dass in Baden-Württemberg die Pflicht zum Führen eines Verzeichnisses für die Datenerhebung auch für Vereine gelten soll, da sie mit wichtigen Daten hantieren, dann fragt man sich schon, ob die Datenschutz-Grundverordnung das eigentliche Problem ist oder der nationale Umgang damit.
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Die Datenschutz-Grundverordnung geht – auch das muss man betonen – richtigerweise vom Grundsatz des berechtigten Interesses aus. Ein berechtigtes Interesse haben zum Beispiel auch die eben genannten Fotografen, wenn sie eine Versammlung, eine größere Gruppe fotografieren und abbilden. Man muss eben nicht im Einzelfall, wie es fälschlicherweise immer kolportiert wird, von jedem eine Einverständniserklärung einholen, weil sonst morgen nichts mehr geht. Ich glaube, dass dieses berechtigte Interesse, das auch für die Vereinsvorstände gilt, die ihre Mitglieder informieren wollen und müssen, hochzuhalten ist. Es ist deutlich zu betonen, dass es nicht darum geht, durch eine überehrgeizige Auslegung der Datenschutz-Grundverordnung die Möglichkeiten von Vereinen und Verbänden, von ehrenamtlich Engagierten und kleinen Unternehmen zu zerschlagen. Das ist deutlich zu sagen.
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– Ja, die Auslegung wird nationale Gerichte sicherlich intensiv beschäftigen, und auch wir werden sicherlich noch häufig darüber diskutieren.
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Es wurde gesagt, die Bundesregierung hätte deutlicher und mehr, wie auch immer, informieren müssen. Ich habe mich erkundigt: Es gab allein 31 Termine, wenn ich richtig informiert bin, mit Vertretern der Kammern und der Unternehmensverbände, in denen deutlich darauf hingewiesen wurde, was da auf uns zukommt. Ich selbst habe bei der für mich zuständigen Kammer sechs Wochen vor Inkrafttreten der Datenschutz-Grundverordnung angefragt, wann ich Informationen dazu von der Kammer bekomme, zum Beispiel zur Datenschutzerklärung für die Internetseiten. Die Antwort lautete: Wir sind da dran, wir machen was.
Alle Beteiligten haben den Zug nicht kommen sehen. Das muss sich natürlich auch die Politik selbstkritisch anrechnen lassen. Das ist so. Aber das werden wir nicht schnell reparieren können. Jetzt geht es darum, nach vorne zu gucken.
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Unbestimmte Rechtsbegriffe sind in solchen Verordnungen natürlich gängig. Es ist ja gerade die Kunst, 28 Mitgliedstaaten mit 500 Millionen Einwohnern unter einen Hut zu bekommen, eine einheitliche Lösung für sie zu finden. Von dieser Einheitlichkeit profitieren aber auch deutsche Unternehmen, insbesondere die Unternehmen, die Waren und Dienstleistungen exportieren. Ich glaube, dass im Zuge der Digitalisierung und sich verändernder Wertschöpfungsketten auch diejenigen, die jetzt vielleicht noch gar nicht an diese Möglichkeiten glauben, in Zukunft froh sind, dass auch jenseits der Grenzen der gleiche Datenschutzstandard gilt wie hier.
Nationale Öffnungsklauseln wurden angesprochen; Österreich wird dann immer zitiert. Ich glaube nicht, dass sie im Interesse der deutschen Wirtschaft wären, ganz einfach deshalb, weil wir dann wieder in Richtung von nationalen Einzellösungen und Flickenteppichen kämen. Genau das wollen wir nicht. Über eine Klarstellung hinsichtlich eines Schutzes vor Bußgeldern etc. – siehe Österreich – sagen manch böse Zungen, das könnte europarechtswidrig sein. Ich will das gar nicht kommentieren. Aber wenn wir über Bußgelder reden, dann gilt hier immer noch das Gebot der Angemessenheit; das wird auch hier so sein. Ich erwarte auch von den Datenschutzbehörden hier ganz konkret, dass nicht sofort beim ersten Verstoß eines kleinen Vereins oder eines kleinen Unternehmens losgeschlagen wird, sondern dass man mit Augenmaß vorgeht.
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– Das Gesetz macht es möglich, natürlich.
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Wir stellen uns diesem kritischen Dialog. Nur: Wenn die Kollegin Cotar hier von „EU-Mist“ und von „Schwachsinn“ redet,
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dann will auch ich etwas kritisieren: Wir haben Anfang Mai dieses Jahres in Brüssel zusammengesessen.
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Den einen oder anderen Kollegen habe ich dort gesehen. Wir beide haben uns zum Beispiel gesehen, Frau Kollegin Esken; wir waren da.
Machen Sie es kurz, bitte. Sie haben Ihre Redezeit schon überschritten.
Diskutiert wurde über die Auslegung der Datenschutz-Grundverordnung, über die Folgen, die sie für Unternehmen hat, usw. Wer war nicht da? Die AfD-Fraktion war nicht vertreten. Das interessierte Sie gar nicht.
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Sie können nur Schaufenster, Sie können nicht Maschinenraum. Aber diese Arbeit ist das Wichtige. Ich glaube, jetzt sollten wir nach vorne blicken; denn die E‑Privacy-Verordnung steht an.
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Mit der Datenschutz-Grundverordnung müssen wir arbeiten, und jetzt sollten wir uns die E‑Privacy-Verordnung vornehmen.
Herr Kollege!
Ich bin dankbar, wenn wir das jetzt optimistisch und nach vorne gerichtet tun.
Ich bin dankbar, wenn Sie jetzt schleunigst zum Schluss kommen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Henrichmann. Es tut mir leid, aber ich muss auf gleiche Rechte achten.
Nächster Redner ist Tino Chrupalla für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war ja vorauszusehen, Herr Mayer und Frau Rößner, dass die berechtigte Kritik der AfD hier im Plenum wieder als populistisches Schüren von Ängsten und Panikmache interpretiert wird.
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Dazu kann ich nur sagen: Sie verwechseln hier Ross und Reiter. Die Ängste werden nicht von uns geschürt. Sie haben diese Verordnung erlassen,
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welche drakonische Strafen in Höhe von bis zu 20 Millionen Euro für diejenigen vorsieht, die sich diesem bürokratischen Irrsinn nicht beugen wollen oder können.
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Die Ängste der Menschen sind real. In Anbetracht des deutschen Abmahnunwesens sind sie auch realistisch. Vor zwei Wochen war sogar in der „Zeit“ zu lesen, dass es der deutschen Mittelschicht längst nicht so gut geht, wie hier immer behauptet wurde. Viele Menschen befürchten den sozialen Abstieg, und ihre Befürchtungen sind berechtigt. Viele von Ihnen, die hier im Plenum sitzen, haben ja selbst an dem Dokumentarfilmprojekt teilgenommen, auf das ich hier anspiele, Stichwort „Ungleichland“.
Jeder dritte Arbeitnehmer in Deutschland sieht sich finanziell nicht in der Lage, plötzliche Ausgaben von 1 000 Euro zu stemmen. Bei freischaffenden Journalisten, Fotografen, Künstlern sieht die Lage wohl nicht viel besser aus. Schon alleine die Androhung eines Bußgeldes in nur dreistelliger Höhe treibt viele dieser Menschen in die Verzweiflung und an den Rand des Ruins. Sie alle sind verantwortlich dafür, dass so große Unklarheit darüber herrscht, wie dieses Gesetz auszulegen ist und mit welcher Rigorosität Datenschutzdelikte am Ende verfolgt werden.
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Darf ich unbehelligt fotografieren oder nicht? Wie verträgt sich die Datenschutz-Grundverordnung mit der im Grundgesetz verankerten Freiheit der Meinungsäußerung oder der Informationsfreiheit?
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Darf ich meinen unabhängigen investigativen Journalismus auf YouTube veröffentlichen, oder muss ich mit horrenden Bußgeldern rechnen?
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Kein Anwalt wird es wagen, hier beschwichtigend zu antworten. Es gibt in unserem ach so demokratischen Land inzwischen genügend Beispiele für völlig unverhältnismäßige und willkürliche Gerichtsurteile.
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Die Kosten, die durch diese unsichere Rechtslage entstehen, belasten vor allem kleine Unternehmer und Geringverdiener.
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Ein Beispiel ist, wenn ein Handwerker bis zu 1 800 Euro für den Umbau seiner Homepage und weitere 2 000 Euro für seine Rechtsberatung verwenden muss, weil das Gesetz mit seinen 99 Artikeln nicht nur für den Laien, sondern auch für den Rest völlig undurchschaubar ist – ganz zu schweigen von der Zeit und den Nerven, die solche Dinge kosten.
Jan Philipp Albrecht von den Grünen in Brüssel
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feiert die Verordnung als klaren grünen Erfolg.
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Was daran besonders grün sein soll, ist mir schleierhaft. Aber grün ist an dieser Partei ja schon längst nichts mehr. Vielleicht sollte man über eine Umbenennung in „Die Roten“ oder „Die Bunten“ nachdenken.
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In einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 23. Mai 2018 hat Herr Albrecht übrigens der Bundesregierung vorgeworfen, sie habe der Öffentlichkeit nicht richtig erklärt, warum sie die Datenschutz-Grundverordnung auch auf europäischer Ebene mitgetragen hat. Er behauptete außerdem, alle Parteien, die im Bundestag vertreten sind, hätten das Gesetz mit verabschiedet. Hat man in Brüssel noch nicht mitbekommen, dass es eine neue Volkspartei im Deutschen Bundestag gibt?
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Die AfD hat jedenfalls definitiv gegen das Gesetz gestimmt. So viel steht fest.
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Sie können das drehen und wenden, wie Sie wollen: Alle anderen Fraktionen – von den Linken über SPD, Grüne und CDU/CSU bis zu den Liberalen – haben in Brüssel zugestimmt.
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Fast die Hälfte der deutschen Unternehmen ist überzeugt davon, dass die Umsetzung von Maßnahmen zur Einhaltung der Datenschutz-Grundverordnung den Arbeitsalltag komplexer und bürokratischer machen wird. Selbst die Handwerkskammern und Innungen und auch der BDI haben scharfe Kritik geübt und sehen dringenden Handlungsbedarf. Herr Mayer, das sollte auch Ihnen nicht entgangen sein.
Wir von der AfD fordern Sie auf, damit aufzuhören, unsere Bevölkerung mit Gesetzen und Regelungen dieser Art zu terrorisieren. Schaffen Sie unverzüglich Klarheit darüber, wer hier eigentlich geschützt werden soll
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und für wen die Ausnahmeregelungen gelten. Bitte tun Sie uns den Gefallen, und bringen Sie die Grundrechte auf Meinungs- und Informationsfreiheit in Einklang mit dem Grundrecht auf Datenschutz, wie es vom Gesetzgeber in Brüssel eigentlich auch vorgesehen ist. § 85 Datenschutz-Grundverordnung gibt es den Mitgliedstaaten ausdrücklich auf, hier entsprechende Regelungen zu treffen.
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Die vielen Juristen in den Ministerien werden doch wohl in der Lage sein, eine menschliche, vernünftige und wirtschaftliche Lösung zu finden und dafür zu sorgen, dass wir in diesem Land gut und gerne leben können.
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Es kann doch nicht so schwer sein, einen vernünftigen Ausgleich zwischen Meinungs- und Informationsfreiheit einerseits und Datenschutz andererseits zu schaffen. – Ich merke, Sie haben begriffen, was ich gemeint habe.
Offenbar hat das neue Bundesdatenschutzgesetz das Problem nicht gelöst. Sonst würde ja nicht so viel Kritik kommen – sogar von Ihnen, aus den eigenen Reihen der CDU.
Zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls ist die Datenschutz-Grundverordnung nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz ein weiterer Angriff auf die Meinungsfreiheit.
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Da unsere Änderungsanträge von Ihnen ohnehin aus Prinzip abgelehnt werden, liegt es jetzt an Ihnen, werte Kollegen, zu entscheiden, ob dieses Gesetz dazu missbraucht werden kann, die Freiheit der Bürger in diesem Land noch weiter zu beschneiden, und ob es zur neuen Geißel für den deutschen Mittelstand wird oder nicht.
Vielen Dank.
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Danke, Herr Kollege. – Bevor wir in der Aktuellen Stunde weitergehen und ich dem Kollegen Mohrs das Wort gebe, möchte ich Ihnen die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der diversen Abstimmungen bekannt machen:
Protokoll über die Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremiums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundeshaushaltsordnung: abgegebene Stimmen 656, ungültige Stimmen 3, gültige Stimmen 653. Mit Ja haben gestimmt 287 Kolleginnen und Kollegen, mit Nein haben gestimmt 314 Kolleginnen und Kollegen, enthalten haben sich 52. Der Abgeordnete Marcus Bühl hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 Jastimmen nicht erhalten und ist als Mitglied des Vertrauensgremiums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundeshaushaltsordnung nicht gewählt. Protokoll über die Wahl von zwei Mitgliedern des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes – Bundesfinanzierungsgremium –: abgegebene Stimmen 647. Von den abgegebenen Stimmen entfielen auf Albrecht Glaser 218 Jastimmen, es gab 372 Neinstimmen, 49 Enthaltungen und 8 ungültige Stimmen. Auf den Kollegen Volker Münz entfielen 287 Jastimmen, es gab 296 Neinstimmen, 60 Enthaltungen und 4 ungültige Stimmen. Die Abgeordneten Albrecht Glaser und Volker Münz haben die erforderliche Mehrheit damit nicht erreicht. Protokoll über die Wahl eines Mitglieds des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes: abgegebene Stimmen 657, ungültige Stimmen 3, gültige Stimmen 654. Mit Ja haben gestimmt 265 Kolleginnen und Kollegen, mit Nein haben gestimmt 330 Kolleginnen und Kollegen, Enthaltungen 59. Der Abgeordnete Peter Boehringer hat die erforderliche Mehrheit –
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– darf ich bitte weiter vorlesen? – von mindestens 355 Jastimmen nicht erreicht und ist als Mitglied des Sondergremiums des Stabilisierungsmechanismusgesetzes nicht gewählt.
Protokoll über die Wahl eines stellvertretenden Mitglieds des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes: abgegebene Stimmen 658, ungültige Stimmen 2, gültige Stimmen 656. Mit Ja haben gestimmt 273 Kolleginnen und Kollegen, mit Nein haben gestimmt 329 Kolleginnen und Kollegen, Enthaltungen 54. Die Abgeordnete Dr. Birgit Malsack-Winkemann hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 Jastimmen nicht erreicht und ist als stellvertretendes Mitglied des Sondergremiums des Stabilisierungsmechanismusgesetzes nicht gewählt. Ich gebe das jetzt zu den Akten und fahre fort in der Aktuellen Stunde. Ich gebe dem Kollegen Falko Mohrs für die SPD-Fraktion das Wort.
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Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Guten Morgen, Herr Höferlin, herzlich willkommen in der Realität. Ihre Kolleginnen und Kollegen im Europaparlament wussten ja, als sie zugestimmt haben, dass mit der Datenschutz-Grundverordnung etwas Gutes geschaffen wird.
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Insofern: Herzlich willkommen.
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Hören Sie einfach zu. Sie hatten ja in den letzten Jahren Bildungsurlaub,
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das haben Sie vorhin so gesagt. Vielleicht lernen Sie auch heute noch ein bisschen was dazu.
Wir wissen ja: Daten sind nicht nur das Kapital, sondern auch der Rohstoff, den wir für unsere wirtschaftliche Entwicklung brauchen. Deswegen ist es eben auch wichtig, dass wir da nicht nationale Einzelregelungen im Datenschutz haben, sondern – das ist übrigens auch im ureigenen Interesse von kleinen und mittelständischen Unternehmen – dass wir da europaweit einheitliche Regelungen haben, auf die sich alle Bürgerinnen und Bürger verlassen können.
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– Jetzt warten Sie doch einfach mal ab. – Genau diese europaweite Klarheit über die Daten ist eine ganz wichtige Voraussetzung, um unser Ziel eines digitalen Binnenmarktes in der Europäischen Union zu erreichen. Damit wird endlich auch die Umsetzung eines Level Playing Fields möglich. Das bedeutet also: Jeder, auch weltweit agierende Unternehmen, hat sich an die gleichen Regeln zu halten und kann sich eben nicht, wie im Fall Facebook mit Irland geschehen, das Land raussuchen, in dem besonders niedrige Datenschutzbedingungen gelten. Wozu das geführt hat, mussten wir alle beim Thema Facebook in den letzten Monaten erfahren.
Da wurden eben die Rechte der Bürgerinnen und Bürger – Frau Esken hat darauf hingewiesen: es geht im Wesentlichen um den Schutz der Bürgerinnen und Bürger, nicht um den Schutz der Daten – von Facebook missachtet und unterhöhlt, weil das Unternehmen wusste, dass die bisher vorgesehenen Strafmaßnahmen, nämlich in einer maximalen Höhe von 300 000 Euro, für ein Unternehmen wie Facebook, einem weltweit agierenden Konzern, völlig irrelevant sind. Wichtig ist, dass wir jetzt – auch das wurde erwähnt – Strafen verhängen können. Wenn weltweit agierende Unternehmen mit einer offensichtlichen Datensammelleidenschaft oder Datensammelwut mit entsprechenden Sanktionen belegt werden können, dann – wir sehen den Erfolg – erfolgen Anpassungen.
Frau Cotar, Sie müssen schon akzeptieren: Es gibt einen Beschluss der Datenschutzbeauftragten. Es ist übrigens in der Verordnung und in dem Gesetz in Deutschland vorgesehen, dass es eine Kaskade von Eskalationsstufen gibt: Erst gibt es einfache Interventionen eines Datenschutzbeauftragten mit Hinweisen dazu, was zu unterlassen ist und wo etwas verändert werden muss. Erst am Ende der Eskalationsstufen steht tatsächlich eine Bußgeldverhängung. Das, was Sie hier sagen, dass diese Regelungen Willkür seien, stimmt eindeutig nicht. Das, was Sie mit Fakten machen, Frau Cotar, ist Willkür, nicht das, was von den Datenschutzbeauftragten vorgenommen wird.
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Damit ist auch klar, dass eben nicht die kleinen Unternehmen im Fokus stehen, sondern die großen, weltweit agierenden Unternehmen. Es muss darum gehen, dass wir deswegen Klarheit schaffen.
Wir haben es leider erleben müssen, dass mit, sage ich mal, windig-findigen Geschäftsmodellen Gerüchte verbreitet wurden. Ich nenne vielleicht einmal eines der absurden Beispiele: In Bayern wurde erzählt, dass der bayerische Landesdatenschutzbeauftragte bzw. seine Außendienstmitarbeiter Listen hätten, welche Unternehmen in welcher Höhe abgemahnt werden sollen. Das Interessante an der Geschichte ist, dass der bayerische Datenschutzbeauftragte gar keine Außendienstmitarbeiter hat. An dieser Stelle brauchen wir einfach Klarheit, mit welchen wirklich falschen Informationen und Gerüchten Ängste geschürt werden, um hinterher die eigene Dienstleistung teuer zu verkaufen.
Auch da vielleicht ein kleiner Hinweis: Ich konnte meine Website übrigens nach Durchsicht der Vorschriften und nach Hinweisen der Landesdatenschutzbeauftragten ganz gut selber überarbeiten. Es hat mich keine 8 000 Euro gekostet. Ich gebe Ihnen aber auch gerne die Links weiter. Wenn das für Ihre Klarheit irgendwie hilft, dann mache ich das gerne. Wir können uns ja im Anschluss noch einmal unterhalten.
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Bei aller Kritik, die es vielleicht an der Umsetzung gibt, müssen wir uns klar vornehmen: In den nächsten Jahren geht es darum, weiter zu informieren und, statt dort anzuknüpfen, wo die Defizite in den letzten zwei Jahren aufgetreten sind, klarzumachen, wo Sicherheiten geschaffen werden müssen, so zum Beispiel beim Kunsturhebergesetz. Herr Mayer, ich bin froh, wenn wir da auch mit dem BMI an der Schaffung genau dieser Klarheit zusammenarbeiten. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe.
Noch ein Hinweis an alle, die jetzt mit irgendwelchen Ausnahmetatbeständen aus Österreich um die Ecke kommen: Es gibt die Einschätzung – auch der Europäischen Kommission –, dass es nicht EU-rechtskonform ist, mit der Rechtsfolge übrigens, dass damit am Ende überhaupt kein Schutz mehr für die Bürgerinnen und Bürger existiert.
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Das, meine Damen und Herren, ist eine Kapitulation der Politik, wenn man das als Ziel vor Augen hat. Unser Ziel ist es, die Bürgerinnen und Bürger zu schützen und weltweit agierende Konzerne in ihren Schranken zu halten, und da lassen wir uns nicht beirren.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Mohrs. – Nächste Rednerin: Dr. Frauke Petry.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Am 14. April 2016, also vor über zwei Jahren, wurde die Datenschutz-Grundverordnung im Europäischen Parlament verabschiedet. Es ist bereits gesagt worden: Damals stimmten nahezu alle Parteien zu.
Hörbar waren damals bereits die kritischen Stimmen, wenn man sie hören wollte. Bereits damals wurde darauf hingewiesen, dass Datenschutz für ein Fleischereigeschäft, eine Bäckerei oder einen kleinen Handwerksbetrieb mit zehn oder weniger Angestellten nicht das gleiche Niveau erfüllen kann wie der Datenschutz bei Großunternehmen. Aber diese kritischen Stimmen wurden wieder einmal ignoriert.
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Meine Damen und Herren, eine weitere Aufklärung sollten Sie folgen lassen. Es ist angeklungen, aber ich weiß nicht, ob es jeder Bürger versteht. Eine EU-Verordnung ist unmittelbar geltendes Recht. Das ist die stärkste rechtliche Waffe oder das stärkste Instrument, das die Europäische Union gegenüber Bürgern und Mitgliedstaaten hat. Das heißt, den Bürgern weiszumachen, wir könnten jetzt noch mit einem Blitzgesetz etwas verändern, etwas anpassen, das grenzt leider an Bürgerverdummung, meine Damen und Herren. Machen Sie doch diesen Fehler nicht!
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In der Tat: Mit dem Datenschutz-Anpassungsgesetz vom vergangenen Jahr hätte man die Möglichkeit gehabt, im engen Rahmen Erleichterungen für die Bürger vorzunehmen, aber es ist dies schuldig geblieben.
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– Ja, man kann immer nachbessern. Das zeigt aber nur, dass man am Anfang seine Hausaufgaben nicht gemacht hat.
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Und wenn wir tatsächlich den großen Medienunternehmen Einschränkungen bei der kommerziellen Datennutzung bescheren wollen, meine Damen und Herren, dann wäre es doch viel einfacher gewesen, etwas zu tun, was seit Jahren in Deutschland nicht passiert:
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eine Medienordnung für alle in den Medien Schaffenden, für Öffentlich-Rechtliche, für Private und für große Medienkonzerne zu schaffen,
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um endlich die Mediennutzung und die Nutzung von Daten der Bürger und Verbraucher auf eine gemeinsame nationale Basis zu stellen. Das ist bis heute aber nicht passiert.
Ich kann verstehen, dass die Vertreter der Koalition versuchen, die Versäumnisse kleinzureden. Ich glaube, sie sind selbst ein bisschen erschrocken darüber, wie viel Angst und Unsicherheit sie gerade bei Vereinen, gemeinnützigen Organisationen und beim deutschen Mittelstand, den wir alle dringend brauchen, verbreitet haben. Deswegen: In der Tat, sagen Sie dem Bürger doch, was Sie auf nationaler Ebene überhaupt noch regeln können! Ehrlicher wäre, zuzugeben, dass es nicht viel ist. Wir müssten uns fairerweise, wenn wir es ernst nehmen, für eine Neuregelung auf europäischer Ebene einsetzen. Das ist die Forderung, die die Blaue Partei an Sie stellt.
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Des Weiteren stellen wir die Forderung an Sie, dann doch den Bürgern auch zu erklären, wie zukünftig Zeitungen die Geburtstage von Lesern oder Fotos von neugeborenen Kindern veröffentlichen und wie ein Stück gutes, positives gesellschaftliches Leben mit dieser Datenschutz-Grundverordnung den Bach runtergeht. Geben Sie doch einfach zu, dass Sie etwas Gutes gewollt, aber es nicht erreicht haben. Das wäre immerhin ein Anfang.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Petry. – Nächster Redner in der Debatte: Dr. Patrick Sensburg für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Datenschutz-Grundverordnung gibt die Europäische Union uns, den Bürgerinnen und Bürgern, das Instrument in die Hand, autonom über unsere Daten entscheiden zu können. Daher ist dieser Rechtsakt aus dem Europäischen Parlament, aus Europa, ein guter Rechtsakt. Es gibt aber an verschiedenen Stellen Punkte, über die wir diskutieren müssen. Deswegen ist es gut, dass wir heute diskutieren. Aber es macht keinen Sinn, sich gegenseitig vorzuwerfen, an irgendeiner Stelle geschlafen zu haben. Lieber Kollege Höferlin, gerade wurde schon gesagt, dass die FDP im Europaparlament vertreten war. Es geht um die europäische Datenschutz-Grundverordnung, die vom Europäischen Parlament beschlossen wurde.
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Ihre Kollegin Frau Nadja Hirsch hat damals in einem Artikel des „Handelsblatts“ erklärt, warum wir die Datenschutz-Grundverordnung dringend brauchen,
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und hält an der Begründung bis heute fest. Entsprechend haben die Liberalen im Europäischen Parlament abgestimmt.
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An die Kolleginnen und Kollegen der AfD: Es haben immerhin fünf Ihrer Kolleginnen und Kollegen, die über die AfD in das Europaparlament eingezogen sind und die in der EKR-Fraktion geblieben sind, für die Datenschutz-Grundverordnung gestimmt.
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So ist das nun einmal. Diesen Schuh müssen Sie sich anziehen. Liebe Kollegin von Storch, Sie waren es im Europaparlament – das ist ein Kollegialorgan; Sie haben im LIBE-Ausschuss mit abgestimmt –, die es zu verantworten haben, genauso wie wir im Deutschen Bundestag alles gemeinsam verantworten.
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Staatssekretär Mayer hat nach meiner Meinung zu Recht auf drei Punkte hingewiesen, über die wir reden und nachdenken müssen. Der erste Punkt sind die Abmahnungen. Hier geht es im Kern um die professionellen Abmahner, die unsere kleinen ehrenamtlichen Vereine und mittelständischen Betriebe abmahnen. Wir müssen darüber nachdenken, welche Lösungen wir hier finden können. Deswegen begrüße ich es sehr, dass sowohl unsere rechtspolitische Sprecherin Frau Winkelmeier-Becker hier Vorschläge gemacht hat, als auch das Innenministerium gemeinsam mit dem Justizministerium schon länger nach Lösungen sucht, die weit über die Datenschutz-Grundverordnung hinausgehen und verhindern, dass es zu solchen Abmahnungen kommt.
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Der zweite Punkt ist: Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie wir zu einer Klärung bei der Bestellung der Datenschutzbeauftragten kommen. Da gibt es unbestimmte Rechtsbegriffe in der Datenschutz-Grundverordnung. Das ist etwas Normales in einem Gesetz. Schließlich sind Rechtsbegriffe generell abstrakt. Aber sie müssen für die Anwender klar sein – hier kann man nicht erst auf Gerichtsentscheidungen warten –, und hier müssen wir Hilfestellung geben. Deswegen ist es richtig, dass wir informativ nachsteuern und dass vonseiten der Ministerien noch einmal eine Informationsoffensive kommt. Eine solche Offensive hätte ich mir übrigens auch vom Europäischen Parlament und von der Kommission gewünscht; darauf hätte man drängen können. Ich habe keinen einzigen Wortbeitrag von Ihnen gefunden, Frau von Storch, wo Sie auf eine Informationskampagne für die Bürgerinnen und Bürger drängen. Falls es einen solchen Beitrag gibt, können Sie ihn mir gerne nachliefern. Ich habe heute den ganzen Vormittag vergeblich gesucht.
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Der dritte Bereich, über den wir uns Gedanken machen müssen, betrifft die Frage, ob wir nicht eine Regelung schaffen können – es ist richtig, dass in der europäischen Datenschutz-Grundverordnung Bußgelder vorgegeben sind –, die dafür sorgt, dass ein Erstverstoß in einer Phase, wo viel Unklarheit herrscht, nicht bußgeldbewehrt ist. Wir sind der Meinung: Keine Bußgeldbewehrung beim ersten Verstoß bei kleinen und mittelständischen Unternehmen, KMUs, und ehrenamtlichen Vereinen! Erst beim zweiten Verstoß, wenn man es hätte wissen können, werden Bußgelder verhängt.
Diese drei Punkte halte ich im Wesentlichen für überarbeitungsnotwendig.
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Ich freue mich, dass diese Bundesregierung und die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD schon lange vor dieser Aktuellen Stunde die Probleme der Bürger im Dialog mit ihnen erkannt haben und nachsteuern wollen. Aber es ist gut, dass es die Gelegenheit gibt, zu sagen, dass wir diese Punkte anpacken.
Danke schön.
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Vielen Dank, Dr. Sensburg. – Nächster Doktor: Dr. Jens Zimmermann für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, die Aktuelle Stunde hat sich gelohnt, weil wir alle hier noch einmal darstellen konnten, was bei der Umsetzung der Datenschutz-Grundverordnung eigentlich Sache ist. Das, was sich da an Mythen und Legenden mittlerweile gebildet hat, ist in meinen Augen eigentlich das größte Problem bei der Umsetzung. Natürlich müssen wir daraus lernen – das gebe ich auch zu –, was entsprechende Informationskampagnen für die Umsetzung von Verordnungen bewirken. Es ist gesagt worden: Der Beschluss ist vor zwei Jahren gefasst worden.
Aber es müssen sich auch die einen oder anderen Verbände erlauben lassen, dass man ihnen Fragen stellt. Wenn ich mir anschaue, wie viel Aufwand betrieben wird, um auf die politischen Entscheidungsträger Einfluss zu nehmen: Es wäre vielleicht nicht zu viel verlangt, wenn der eine oder andere Verband genauso viel Enthusiasmus dafür aufbringen würde, seine Mitglieder bei der Umsetzung so einer Verordnung zu unterstützen.
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Es ist gesagt worden: Die Datenschutz-Grundverordnung ist wichtig, weil sie auf europäischer Ebene für ein einheitliches Datenschutzrecht sorgt. Gerade die Behauptung, die Unternehmen wanderten deswegen jetzt ins europäische Ausland ab, lässt sich nicht mehr aufrechterhalten; denn es funktioniert eben nicht mehr, seinen Unternehmenssitz nach Irland zu verlagern, weil es dort laschere Datenschutzvorkehrungen gibt. Wir haben in Deutschland schon immer ein starkes Datenschutzrecht gehabt,
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und das ist auch gut so. Jetzt funktioniert es eben nicht mehr, dass man aus wirtschaftlichen Gründen einfach seinen Unternehmenssitz verlegt. Deswegen ist die Datenschutz-Grundverordnung der richtige Schritt.
Schauen wir uns jetzt mal an, was da alles so erzählt wird und wen es möglicherweise treffen könnte. Ich stelle mir diese berühmte Feuerwehr vor. Die habe ich natürlich auch in meinem Wahlkreis. Ich habe auch mit den Feuerwehrleuten darüber gesprochen. Es gibt zwei Möglichkeiten, wo „Gefahr“ – in Anführungszeichen – droht.
Das eine sind die berühmten Abmahnungen. Da haben wir als Koalition jetzt noch einmal deutlich gemacht – wir haben das bereits im Koalitionsvertrag geregelt –, dass wir gegen die gesamte Abmahnindustrie etwas machen wollen. Es ist eben – und das ist ganz wichtig – kein Phänomen der Datenschutz-Grundverordnung, dass das Instrument der Abmahnungen missbraucht wird. Das gibt es doch schon viel länger. Es sind auch Homepage-Betreiber und auch die berühmten Blogger abgemahnt worden, weil sie der Impressumspflicht nicht nachgekommen sind. Es werden Onlineshops abgemahnt, weil sie irgendwelche falschen Produktbeschreibungen enthalten. Das alles sind Ärgernisse, und dagegen muss was gemacht werden.
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Wir haben es im Koalitionsvertrag vereinbart, und das setzen wir jetzt um.
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Ich kann den Vereinen, den Verbänden und auch meiner Feuerwehr zusagen, dass wir das machen werden.
Die andere Seite sind Bußgelder, die von den Datenschutzbeauftragten angestrebt werden können. Da müssen wir doch wirklich mal die Kirche im Dorf lassen. Auch wer jetzt glaubt, dass sich die Datenschutzbeauftragten der Länder systematisch die freiwilligen Feuerwehren in unseren Wahlkreisen vornehmen, der muss doch eindeutig davon ausgehen, dass diese Datenschutzbeauftragten mit Augenmaß arbeiten werden. Auch ein Datenschutzbeauftragter könnte einer freiwilligen Feuerwehr einfach sagen: Sie haben möglicherweise keine Datenschutzerklärung auf Ihrer Homepage. Bitte holen Sie das nach. – Das liegt im Ermessen der Behörden.
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Ich habe wirklich überhaupt keinen Anlass, zu glauben, dass die Landesdatenschutzbeauftragten dieser Aufgabe nicht nachkommen werden. Da können Sie von der AfD noch so viel schreien, wie Sie wollen: Es wird dadurch nicht richtiger.
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Also, alles in allem: Ruhig bleiben bei diesem ganzen Thema.
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– Das müssen Sie noch lernen, mal ein bisschen ruhig zu bleiben. Das ist wirklich wahr.
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Wir werden als Koalition die notwendigen Maßnahmen, die an der einen oder anderen Stelle noch nötig sind, angehen, und wir werden natürlich auch – das ist ebenfalls schon gesagt worden – die Datenschutz-Grundverordnung entsprechend evaluieren.
Noch eine Sache fand ich interessant – es wurde so viel über das Abmahnthema gesprochen –: Die letzten Novellierungen von Vorlagen zum Thema Abmahnungen, die dieser Verordnung überhaupt Tür und Tor dafür geöffnet haben, sind überhaupt erst in der vorletzten Legislaturperiode, Anfang 2013, auf den Weg gebracht worden. Insofern schließt sich ein Kreis, lieber Herr Kollege Höferlin. Die eine Legislaturperiode, in der Sie nicht da waren, erlöst Sie nicht von den Dingen, die Sie in der Legislaturperiode davor mitgetragen haben. Aber wir werden es jetzt wieder geradebiegen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Zimmermann. – Nächster Redner: Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion, aus Augsburg.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Inkrafttreten der europäischen Datenschutz-Grundverordnung am 25. Mai ist von einigen herbeigesehnt und von anderen kritisch beäugt worden. Insbesondere in den letzten Tagen vor dem Inkrafttreten der Verordnung sind gerade im Bereich von Vereinen und Ehrenamtlichen, aber auch im Bereich von kleinen und mittleren Unternehmen Befürchtungen über die Reichweite und die Sanktionsmöglichkeiten der Verordnung lautgeworden. Als Politik haben wir die Aufgabe, darauf weder mit Häme noch mit Panik zu reagieren, sondern sachlich aufzuklären und den Regelungsbedarf dort, wo es ihn noch gibt, wahrzunehmen, aber auch sachlich und anständig über die Sachlage zu sprechen.
Tatsache ist, dass mit dem 25. Mai 2018 kein völlig anderes Datenschutzrecht in Deutschland existiert als einen Tag zuvor, weil die Datenschutz-Grundverordnung auf Regelungen aufbaut, die bislang schon in Kraft waren. Die Datenschutz-Grundverordnung baut auf der Datenschutzrichtlinie aus dem Jahr 1995 auf, die mehr als 20 Jahre in Kraft war. Darüber hinaus gibt es die Regelungen des Bundesdatenschutzgesetzes aus dem Jahr 2003, weshalb vieles von dem, was in der EU-Datenschutz-Grundverordnung geregelt wird, in Deutschland bereits geltendes Recht war. Man muss einfach deutlich machen, dass wir hier nicht einen völlig anderen Rechtskreis haben, sondern vieles, was im deutschen Recht bisher gang und gäbe war, europäisiert wurde. Das ist eigentlich etwas, wovon wir in Europa profitieren; denn überall, in jedem europäischen Land, gibt es jetzt die gleiche Rechtsordnung im Bereich des Datenschutzes. Das ist eine klasse Regulierung, die wir nicht kleinreden dürfen.
Dennoch, meine Damen und Herren, müssen wir auch sehen, worum es hier geht: Daten vermessen einen Menschen, Daten sind die Koordinaten, die einen Menschen mit seinen Vorlieben, vielleicht auch mit seinen ganz persönlichen Verfehlungen, mit seinen Krankheiten, mit seinen Beschäftigungsverhältnissen einordnen. Ja, diese Daten haben Schutz verdient – Schutz vor Bekanntwerden und Schutz vor missbräuchlicher Verwendung. Das ist in einem Zeitalter, in dem die Möglichkeiten der Datensammlung immer besser werden, ein wichtiges gesellschaftliches und gesetzgeberisches Ziel. Auch das dürfen wir nicht außer Acht lassen.
Darüber hinaus müssen wir über die Frage der möglichen Sanktionen sprechen; denn die Sanktionen haben die Debatte bestimmt. Da muss unterschieden werden zwischen den Sanktionen vonseiten der Datenschutzbeauftragten und möglichen Abmahnungen vonseiten der Wettbewerber oder Dritter. In Bezug auf die Sanktionen vonseiten der Datenschutzbehörden gilt natürlich das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und der Angemessenheit. Es ist eben nicht verhältnismäßig, einen kleinen Verein wegen eines erstmaligen, minimalen Verstoßes gegen Datenschutzrecht gleich mit einem hohen Bußgeld abzumahnen. Da sind die Datenschutzbehörden angewiesen, Augenmaß walten zu lassen, von einem Bußgeld abzusehen und es bei einem Hinweis zu belassen. Das verlangen wir ganz konkret von den Datenschutzbehörden.
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Auf der anderen Seite geht es um den Bereich des Wettbewerbes. Ich stelle für mich persönlich fest – ich glaube, auch für meine Fraktion –, dass die Frage der Beachtung der Datenschutzvorschriften nicht zum Kernbereich des Wettbewerbsrechts gehört. Deswegen muss man wirklich darüber sprechen, ob datenschutzrechtliche Vorschriften überhaupt in den Bereich des Wettbewerbsrechts gehören und damit Verstöße auch nach dem Unterlassungsklagengesetz und dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb abmahnfähig sind. Selbst wenn dies abmahnfähig wäre, müssten wir dafür Sorge tragen – und das machen wir jetzt mit einem klaren gesetzgeberischen Auftrag –, dass derjenige, der den Abmahnanwalt beauftragt, ihn auch bezahlt und die Abmahnkosten eben nicht beim Abgemahnten hängenbleiben. Wir werden darüber sprechen, ob wir nicht die Abmahnkosten auch deckeln, so wie es bereits im Bereich des Filesharing der Fall ist. Wir werden darüber sprechen, ob nicht Abmahnungen auch vonseiten der Anwaltschaft in den ersten Jahren einfach ohne Konsequenzen bleiben. Die wettbewerbswidrige und datenschutzwidrige Verfehlung muss zwar aus der Welt geschafft werden, aber es muss niemand Sorge haben, dass er mit hohen Gebühren überzogen wird. Das ist der Kern unseres Handelns.
Gestatten Sie mir noch einen Satz zum Thema Öffnungsklauseln. Die Öffnungsklauseln sind genutzt worden,
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gerade im Bereich der Privilegierung von Forschung und Wissenschaft, der Privilegierung von Berufsgeheimnisträgern. Wir haben zu überlegen, ob wir bei der Datenverarbeitung im Bereich der Beschäftigten, beim Beschäftigtendatenschutz, noch Erleichterungen vornehmen.
Aber insgesamt möchte ich davor warnen, dass wir das zur Panikmache verwenden.
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Es geht darum, dass wir jetzt die notwendigen Schritte unternehmen, um angemessen vor Abmahnungen zu schützen, und dennoch die Daten geschützt lassen.
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Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Volker Ullrich. – Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde: Philipp Amthor für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Ende dieser Aktuellen Stunde lässt sich immerhin sagen: Buchstabensalat aus Brüssel: EU-DSGVO – das war selten so sehr in aller Munde wie dieser Tage. Aber man muss am Ende dieser Debatte auch sagen: Es ist nicht immer in der richtigen Einordnung gewesen.
Schauen wir uns nur mal die Zeitungsüberschriften der letzten Tage an: „Die absurden Folgen der DSGVO“, „Die Abmahn-Maschinerie ist angelaufen“, „Mittelstandsverband warnt vor ‚Entdigitalisierung‘“ oder schlicht: „Quatsch aus Brüssel?“
Ja, der Unmut über die EU-DSGVO scheint groß zu sein. Das merke ich auch, wenn ich bei mir im Wahlkreis unterwegs bin.
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Das wundert auf den ersten Blick schon; denn sonst kennen wir es aus der öffentlichen Debatte ja eher so, dass die Entzückung gar nicht groß genug sein kann, wenn man über Verbraucherschutz und über Datenschutz redet.
Es zeigt sich am Ende unserer Debatte, glaube ich, eines ganz klar: Der Unmut über die Datenschutz-Grundverordnung, den es gibt, liegt weniger im materiellen Datenschutzrecht selbst begründet, sondern mehr darin, wie dieses Datenschutzrecht eingehegt ist. Die Probleme sind nämlich die erhöhte Sanktionsandrohung und vor allem die Abmahnindustrie, die angesprochen wurde. Das ist etwas, wo man ganz klar differenzieren muss. Nicht das Datenschutzrecht als solches ist schlecht und das große Problem, sondern das Problem ist, dass hier scheinbar etwas möglich gemacht wird, dass sich einige – unseriöse Anwaltskanzleien, dubiose Abmahnvereine – anschicken, mit diesem neuen Datenschutzrecht Geld zu verdienen. Ich sage ganz deutlich – das ist, glaube ich, für alle hier in der Debatte klar –: Dazu ist die europäische Datenschutz-Grundverordnung nicht gemacht.
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Staatssekretär Mayer hat heute sehr deutlich dargestellt, dass das Innenministerium und die öffentlichen Stellen sehr sensibel mit der Datenschutz-Grundverordnung umgehen werden und den Mittelstand vernünftig behandeln werden. Aber was das ganze Abmahnunwesen angeht, mit dem wir es zu tun haben, sage ich: Liebe SPD, da freue ich mich über die Offenheit, die wir jetzt gehört haben.
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Das liegt ganz klar im Spielfeld der SPD. Das liegt im Spielfeld Ihrer Ministerin Katarina Barley.
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Ich finde gut, wenn Sie auf den Koalitionsvertrag verweisen. Da wurde ja vereinbart:
Wir wollen den Missbrauch des bewährten Abmahnrechts verhindern ...
Das sollten wir dann auch machen. Und das geht. Meine Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker hat das sehr deutlich gemacht, gut vorgestellt. Die Kollegen aus der AG sind darauf eingegangen. Wir können die Abmahnkosten für einen bestimmten Bereich auf null Euro reduzieren. Das ist auch der richtige Weg. Damit werden wir umgehen.
Ich will zum Ende einer Rechtsdebatte fachlich vielleicht doch noch sagen: Ja, es geht darum, den Aufwendungsersatzanspruch aus § 12 UWG auszuschließen. Vorbilder gibt es dafür – das hat Kollege Ullrich ausgeführt –: die Übergangsregelung, wie wir sie etwa in § 32e Absatz 6 des GWB haben.
Aber zurück aus dem Paragrafendschungel! Das ist alles ganz einfach. Frau Barley kann das gern machen und die Abmahnindustrie regulieren. Sie hat volle Unterstützung dafür. Das aktuelle Gesetzesvorhaben zum Thema Musterfeststellungsklage bietet dafür guten Anlass.
Ich bin ja ganz optimistisch. Frau Barley hat sich dieser Tage eingelassen, dass eines der wichtigen Projekte ist, die geschlechtergerechte Sprache und den Gender-Star im Duden aufzunehmen. Dann, glaube ich, ist auch noch Kraft für den Kampf gegen die Abmahnindustrie.
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Ich will zum Abschluss sagen: Die EU-Datenschutz-Grundverordnung kann auch sinnvoll ausgedeutet werden. Wir haben gesagt, es gibt den wichtigen Hinweis auf den europäischen Wettbewerb. Wir haben einen europäischen Markt, und es ist sinnvoll, zu harmonisieren und Marktverzerrungen zu vermeiden. Es ist auch sinnvoll, ein unterschiedliches Niveau von Datenschutz zu schaffen und zu sagen: Wir regulieren diejenigen, die mit Daten ein Geschäft machen, stärker – Facebook, Google und ähnliche Unternehmen –, aber wir gehen nicht an gegen den Mittelstand. Ich glaube, das ist der richtige Weg.
Liebe Kollegen, ich will zum Abschluss sagen: Diese Aktuelle Stunde wurde ja von der AfD beantragt. Da lohnt es, auch noch einen kleinen Blick auf die datenschutzrechtliche Expertise der AfD zu werfen. Googeln Sie bei Gelegenheit mal den Kollegen Christoph Grimm. Eine Reise nach Mecklenburg-Vorpommern hilft; er ist dort Landtagsabgeordneter. Er hat, als das Landesdatenschutzgesetz novelliert wurde, um es an die Datenschutz-Grundverordnung anzupassen, nämlich ein kleines Plagiat hingelegt. Er hat eins zu eins einen Beitrag von der Plattform netzpolitik.org vorgelesen. Die haben sich darüber beschwert. netzpolitik.org – wie würden Sie sonst sagen: eine linksvergrünte Internetseite. Also, wenn das allein die Quellen der AfD sind, dann ist das, glaube ich, nicht der richtige Weg.
Wir machen eine bürgerfreundliche Auslegung der DSGVO. Dafür steht das Innenministerium, und dafür arbeiten wir.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Amthor. – Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Möglicherweise werden Sie jetzt die Plätze wechseln. Deswegen warte ich noch, bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe.
Guten Tag, liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Mittelmeer ist immer noch eine der gefährlichsten Migrationsrouten der Welt. Im vergangenen Jahr kamen nach Schätzung der Internationalen Organisation für Migration mindestens 3 000 Menschen auf ihrer Flucht über das Mittelmeer ums Leben. Jeder einzelne Todesfall ist einer zu viel, und jeder einzelne Todesfall ist eine furchtbare Tragödie für uns alle.
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Genau deshalb haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Sommer 2015 die maritime Mission EUNAVFOR MED Operation Sophia im zentralen und südlichen Mittelmeer ins Leben gerufen. Das Einsatzgebiet liegt südlich von Sizilien vor der Küste Libyens und Tunesiens. Das entspricht ungefähr der Größe der Bundesrepublik Deutschland.
Seitdem haben die Soldatinnen und Soldaten viel erreicht. Es geht insbesondere um drei Aufgaben im Rahmen dieses Auftrages. Erstens: Sie sollen die kriminellen Schleusernetzwerke im Mittelmeer bekämpfen. Zweitens: Sie sollen das Waffenembargo der Vereinten Nationen gegen Libyen auf hoher See durchsetzen. Drittens – das ist sehr umstritten, auch hier im Bundestag –: Sie sollen die libysche Küstenwache ausbilden, damit diese ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen vermag.
Jede dieser drei Aufgaben soll dabei helfen, Menschenleben zu retten und die verbrecherischen Strukturen zu zerschlagen, die hinter dem zynischen Menschenhandel stehen.
({1})
Das kann aber nur gelingen, wenn die Operation Sophia in eine umfassende Strategie zum Umgang mit Flucht und Migration aus Afrika eingebettet ist.
Herr Roth, sind Sie bereit zu einer Zwischenfrage oder -bemerkung von Dr. Neu?
Ja.
Bitte.
Herr Staatsminister Roth, es ist ja nun sehr offensichtlich, dass die Küstenwache die Funktion hat, die Flüchtlinge wieder nach Libyen zu bringen. Nun ist die Situation in den Lagern in Libyen – um es milde zu sagen – ganz schwierig für die Menschen. Es sind Lager, in denen Menschen vergewaltigt werden, gefoltert werden, getötet werden und versklavt werden. Ich werde gleich in meiner Rede noch mal darauf eingehen.
Was wird eigentlich seitens der Europäischen Union gemacht, um diese Zustände zu beheben? Es gab einen kurzen verbalen Vorstoß des französischen Präsidenten Macron. Danach hat man nichts mehr gehört. Es sind Zustände, die völlig inakzeptabel sind, gerade für eine wertebasierte Europäische Union. Was wird gemacht, um diese Zustände zu unterbinden?
({0})
Lieber Herr Kollege Neu, ich bin Ihnen sehr dankbar für die Frage, weil sie mir Gelegenheit gibt, noch mal etwas deutlicher als Sie zu formulieren: Die Verhältnisse in den sogenannten Detention Centers, in den Haftanstalten, in denen Geflüchtete untergebracht werden, sind barbarisch, menschenunwürdig und inakzeptabel.
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In dieser Bewertung stimmen wir alle überein. Die Kolleginnen und Kollegen unserer Botschaft haben sich vor Ort einen eigenen Eindruck zu schaffen versucht. Genau deshalb sind wir bestrebt, die Lage der Geflüchteten in Libyen zu verbessern.
Beim Küstenschutz geht es vor allem darum, dass Libyen seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen nachkommt. Wir achten bei der Ausbildung insbesondere darauf, dass die humanitären völkerrechtlichen Verpflichtungen geachtet und respektiert werden. Ich bin mit Ihnen derselben Auffassung: Auch hier haben wir erhebliche Defizite abzuarbeiten.
({1})
Wir haben 2017 ein entsprechendes Monitoringsystem eingeführt, mit dem die Aspekte „menschenrechtliche Umsetzung“ und „völkerrechtliche Akzeptanz“ beim Küstenschutz Libyens umgesetzt werden müssen. Genau das steht im Mittelpunkt der Ausbildung. Deshalb werbe ich so engagiert auch für diese dritte Säule des Mandates, um dessen Verlängerung ich Sie heute im Namen der Bundesregierung bitte.
({2})
Wir wollen den Menschen in Libyen erkennbar helfen. Wir beteiligen uns unter anderem an der Aufnahme von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen aus Libyen. Wir unterstützen die freiwillige Rückkehr von Menschen ohne Aufnahmeperspektive in ihre Herkunftsländer.
Über die Lage in den sogenannten Detention Centers habe ich schon gesprochen. Damit nähern wir uns dem Kern der Probleme in Libyen. Wir haben es – jetzt bin ich mal der Diplomat – nur sehr begrenzt mit funktionierender Staatlichkeit zu tun. Es muss uns also darum gehen, überhaupt ein Mindestmaß an funktionierender Verwaltung und Organisation zu erreichen. Davon ist Libyen derzeit noch sehr weit entfernt. Wenn wir dort konkret helfen wollen, dann ist das kein Prozess, der Monate, sondern dann ist das ein Prozess, der Jahre währen wird.
Dieser Strategie fühlen wir uns in entsprechendem Maße verpflichtet; denn ohne funktionierende Staatlichkeit kann es auch keine demokratisch kontrollierten Sicherheitskräfte und kann es auch nicht überall die Geltung der Menschenrechte geben. Darauf werden wir achten, und darauf achten wir auch.
Ich bin Ihnen dankbar, Herr Kollege Neu, dass Sie die jüngsten Aktivitäten des französischen Staatspräsidenten gelobt haben. Ich will dabei noch mal das besondere Engagement der Vereinten Nationen hervorheben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, an der EUNAVFOR MED Operation Sophia beteiligen sich insgesamt 26 Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Mit der Ausnahme von Dänemark sind alle EU-Mitgliedstaaten an Bord. Das zeigt: Der Einsatz im Mittelmeer ist europäische Teamarbeit. Das gilt nicht nur für die Operation insgesamt, sondern auch für die Besetzung der einzelnen Schiffe. Auf den Schiffen der deutschen Marine kommen immer wieder auch Kräfte aus Partnernationen zum Einsatz, die selbst kein eigenes Schiff haben: Kräfte aus Litauen, Finnland, Österreich und nicht zuletzt aus der Slowakei auf der Fregatte „Sachsen“. Die gelungene Eingliederung der Einheiten aus Partnerländern steht beispielhaft für die vertiefte europäische Zusammenarbeit bei Sicherheit und Verteidigung. Gemeinsam können wir mehr erreichen als alleine, und nur der gemeinsame Einsatz von europäischen Fähigkeiten führt zum Erfolg.
Ich möchte einige Erfolge beispielhaft erwähnen:
Erstens. Seit Beginn der Operation im Juni 2015 konnten insgesamt knapp 500 Schleuserboote aufgebracht und 139 der Schleuserei Verdächtige an die italienische Polizei übergeben werden.
Zweitens. Indem die Mission das Waffenembargo der Vereinten Nationen gegenüber Libyen auf hoher See durchsetzt, stärkt die Operation Sophia die libysche Einheitsregierung und trägt zur Stabilisierung des Landes bei.
Drittens. Die Operation Sophia hat seit Oktober 2016 mehr als 200 Angehörige der libyschen Küstenwache ausgebildet, sowohl auf hoher See als auch auf europäischen Boden.
Weil Sie, Herr Neu, das eben kritisch angesprochen haben, möchte ich unser Vorgehen noch mal ein bisschen erläutern. Genauso wie Sie und viele andere Kolleginnen und Kollegen sehe auch ich massive Defizite. Genau deshalb haben wir diesen Monitoringprozess eingeleitet. Wir wollen die Menschenrechtsfragen und das Völkerrecht zu einem zentralen Bestandteil der Ausbildung machen. Die EU-Operation hat einen entsprechenden Mechanismus eingeführt, um die Ausbildungsfortschritte in diesem Bereich systematisch zu erhöhen. Das hat dazu beigetragen – das bestätigen mir auch viele Kolleginnen und Kollegen –, Missstände aufzudecken, Fehlverhalten zu benennen und die Ausbildung insgesamt zu verbessern. Zum Beispiel gibt es nun mehr Sprachschulung, um auch die Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen – auch darüber haben wir in der Fragestunde öfter gestritten – zu verbessern.
Ich will die Operation Sophia nicht überbewerten. Sie ist wichtig; aber weitere Schritte müssen im Rahmen der umfassenden EU-Unterstützung erfolgen, damit Libyen künftig selbst seinen Verpflichtungen zur Seenotrettung unter Einhaltung internationaler Standards nachkommen kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn die Seenotrettung nicht die Kernaufgabe der Operation ist, zählt am Ende vor allem eines: In den vergangenen drei Jahren haben die Soldatinnen und Soldaten auf den Schiffen der Operation Sophia insgesamt mehr als 48 000 Menschen – Frauen, Männer, Kinder – vor dem Ertrinken im Mittelmeer gerettet, davon mehr als 22 500 mithilfe der Schiffe der deutschen Marine.
Ich möchte deshalb ausdrücklich allen Männern und Frauen auf den Schiffen EUNAVFOR MED Dank und Anerkennung aussprechen. Dies gilt im Übrigen nicht nur für die Soldatinnen und Soldaten, sondern auch für die anderen Retter im Mittelmeer, ob auf einem Schiff der italienischen Küstenwache, auf dem Schiff einer Nichtregierungsorganisation oder einem Handelsschiff.
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Wenn die Soldatinnen und Soldaten von ihrem Einsatz im Mittelmeer zurückkehren, berichten sie häufig von der besonders berührenden Erfahrung der Seenotrettung und blicken mit Stolz auf das, was sie auch auf unseren Auftrag hin geleistet haben, um Menschenleben zu retten. So wurde es mir auch von der Besatzung des Tenders „Werra“ berichtet, dem Patenschiff der Stadt Eschwege in meinem nordhessischen Wahlkreis, das ebenfalls im Mittelmeer im Einsatz war. Genau vor dem Hintergrund dieser ermutigenden Erfahrung und vor dem Hintergrund dessen, was alles noch zu tun ist, bitte ich Sie im Namen der Bundesregierung um Verlängerung dieses Mandates.
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Vielen Dank, Michael Roth. – Nächster Redner: Jan Nolte für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Auftrag der Operation Sophia, nämlich die Zerschlagung von Schleusernetzwerken, ist an sich sinnvoll und nötig. Auf der einen Seite würde so Europa und vor allem Deutschland vor weiterer irregulärer Migration mit all ihren negativen Folgen bewahrt. Auf der anderen Seite würden Tragödien im Mittelmeer verhindert. Leider ist der Ansatz, mit dem dieser Auftrag erfüllt werden soll, insgesamt unzweckmäßig, auch wenn nicht alles schlecht ist.
Die Erweiterung des Aufgabenspektrums unserer Kräfte auf die Ausbildung der libyschen Küstenwache war ein richtiger Schritt. Die gesunkenen Migrationszahlen über die Mittelmeerroute belegen ja, dass sie immer effektiver arbeitet. Auch die zivilen und politischen Missionen von EU und UN, die Berührung mit der Operation Sophia haben und von der Bundesregierung unterstützt werden, haben das Potenzial, die Lage in Libyen zu stabilisieren.
Da Libyen das Haupttransitland für Migranten aus Afrika ist und Deutschland wegen seines attraktiven Sozialsystems eines ihrer Hauptziele darstellt, liegt die Stabilität Libyens im deutschen Interesse. Das momentane Konzept ist aber so kontraproduktiv, dass man es ablehnen muss.
Sophia wurde in der Vergangenheit von Großbritannien, I talien und Belgien als zusätzlicher Anreiz für Migranten kritisiert. Es ist ja auch ganz logisch: Ein Schlepper erhält bis zu 10 000 Dollar pro Migrant. Unlängst hat die Marine von zwei Schlepperbooten 403 Migranten aufgegriffen. Bei solchen Mengen zahlender Kunden ist das Geschäft auch dann noch lukrativ, wenn für jede Fahrt ein neues Boot gekauft werden muss, weil wir das alte zerstört haben.
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Operation Sophia trifft eben nicht die Schleuser, sondern die Passagiere. Die Boote müssen als Nebenkosten jetzt natürlich günstig gehalten werden. Da die Schlepper die europäischen Streitkräfte, die ihre Passagiere sicher ans Ziel bringen, ja fest einplanen können, scheint ihnen das auch vertretbar. Die Migranten steigen eben trotzdem ins Boot. Inzwischen steigen sie aber nicht mehr in teure Holzboote, sondern in billige Schlauchboote. Gut gemeint ist eben nicht immer auch gut gemacht.
Nun schreiben Sie in Ihrem eigenen Antrag, dass die Ausbildung der libyschen Küstenwache auf hoher See abgeschlossen sei und nun innerhalb von EU-Mitgliedstaaten fortgesetzt werde. Der positive Effekt von Sophia fällt also weg, und es bleibt nur noch der negative Teil. In Migrationsfragen scheint das Credo zu lauten: Super, einfach immer weiter so. – Damit entfernen Sie sich vom Volk, wobei ich nicht weiß: Ist von den anderen Fraktionen jemand hier, für den die Existenz des deutschen Volkes infrage kommt? Ansonsten: Das sind die, die schon länger hier leben.
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Die AfD plädiert hier klar für den australischen Ansatz, der seit 2013 Tragödien zur See verhindert: konsequente Rückführung nach Afrika und Bearbeitung der Asylanträge in dort zu schaffenden Aufnahmezentren der UN. Dafür muss der rechtliche Rahmen geschaffen werden. Die Schleuser und ihre Hintermänner müssen an Land dingfest gemacht werden, und ihre Finanzströme gehören gestoppt.
Liebe Kollegen der Bundesregierung, keiner, der hier heute zusieht, versteht, warum wir die Migranten aus Afrika selbst nach Europa fahren.
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Keiner versteht, warum der deutsche Staat nicht die Macht hat, selbst zu entscheiden, wer einwandert und wer nicht. Man nimmt Sie nicht mehr ernst. Und wenn Sie nicht wollen, dass die AfD sich der Sache 2021 annimmt, dann beweisen Sie endlich Durchsetzungsfähigkeit.
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Nächster Redner: für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Peter Tauber.
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Hochverehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute über die Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Mission EUNAVFOR MED Operation Sophia.
Hinter diesem durchaus komplizierten Namen verbirgt sich ein ganz einfaches Ziel: Menschen vor dem Ertrinken aus dem Mittelmeer zu retten.
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Seit Beginn dieses Einsatzes im Juni 2015 nimmt die Bundeswehr daran teil, derzeit mit 103 Soldatinnen und Soldaten. Insgesamt beteiligen sich 1 100 Kräfte aus 26 Nationen.
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– Auf den Zuruf der Linkspartei,
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ob das das einzige Ziel sei, antworte ich: Nein, Sie dürfen meiner Rede weiter folgen; ich gehe auch auf die anderen Ziele der Mission ein. Doch natürlich spielt die Rettung von Menschenleben immer eine wichtige und entscheidende Rolle. Und unsere Soldatinnen und Soldaten können stolz darauf sein, dass sie einen Beitrag dazu leisten. Sie verweigern permanent die Anerkennung dieses Beitrags unserer Bundeswehr. Dafür sollten Sie sich schämen!
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Herr Tauber, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Ich erlaube keine Zwischenfrage. – Über 48 100 Menschen sind aus Seenot gerettet worden, davon über 22 500 von unseren Soldatinnen und Soldaten. Nicht von ungefähr trägt die Mission den Namen „Operation Sophia“. Ich weiß nicht, ob jedem der Hintergrund bekannt ist. Sophia ist ein kleines Mädchen, das am 24. August 2015 auf der Fregatte „Schleswig-Holstein“ geboren wurde. Zuvor hatten unsere Soldaten die schwangere Mutter aus dem Meer gerettet. Dieses Schicksal und auch die vielen Schicksale, die unerwähnt bleiben, weil immer noch Menschen im Mittelmeer ertrinken – und nicht nur im Mittelmeer ertrinken, sondern auch in der Sahara sterben; darüber wird viel zu wenig geredet –, zeigen, wie wichtig und notwendig diese Mission auf jeden Fall ist.
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Nicht alle werden gerettet, wenn auch sehr viele. Dafür sollten wir unseren Soldatinnen und Soldaten ein großes, ein lautes Dankeschön sagen. Sie stehen für das gute Deutschland unserer Zeit.
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Wahr ist auch, dass immer noch Menschen von skrupellosen Kriminellen auf nicht seetüchtige Boote geschickt werden. Wahr ist auch, dass immer noch Menschen ertrinken und dass wir diesen geretteten Menschen derzeit zunächst in Europa Obhut geben. Das liegt – das wissen Sie auch, auf die Rede meines Vorredners eingehend – daran, dass der EuGH uns noch einmal ins Stammbuch geschrieben hat, dass es verantwortungslos wäre, diese Menschen an die libysche Küste zurückzubringen, ohne dass wir dafür klare Regeln und Vereinbarungen haben. Das macht keinen Sinn. Deswegen wählen wir gemeinsam mit allen anderen Nationen, die dort im Einsatz sind, diesen Weg. Und aus der Rede meines Vorredners – das will ich doch noch einmal deutlich sagen – sprach ja nicht der Wunsch, das große Problem, das nicht nur Libyen hat, sondern auch viele andere Länder in Afrika haben, zu lösen. Darum ging es Ihnen gar nicht. Ihnen geht es lediglich darum, zum Ausdruck zu bringen, dass Sie Furcht haben. Sie haben schlichtweg Furcht vor Menschen, die fliehen.
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Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass, Hass zu unsäglichem Leid. Das ist der Pfad zur dunklen Seite. Wenn Sie für das dunkle Deutschland stehen wollen, ist das Ihre Entscheidung. Wir stehen für das gute Deutschland.
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Die Hauptaufgabe der Operation Sophia ist das Aufdecken von Schleusernetzwerken. Damit wird dafür gesorgt, dass die Menschen gar nicht erst in die Boote steigen.
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Daran wird auch deutlich, dass wir mit dieser Mission nur einen Baustein leisten und dass wir neben der Ausbildung der Küstenwache im Rahmen der politischen Zusammenarbeit dafür sorgen müssen, dass immer weniger Menschen den Weg über das Meer suchen, auf diesem Wege, in den Händen von Schleppern und Schleusern, von organisierter Kriminalität. Deswegen ist die Förderung des politischen Prozesses in einem immer noch fragilen Staat, die Verbesserung des Grenzschutzes, die Verbesserung der humanitären Situation – Staatsminister Roth hat ausführlich beschrieben, was die Haltung der Bundesregierung in dieser Frage ist – und auch die Stabilisierung der südlichen Nachbarländer Libyens, aus denen ja ein Großteil der Flüchtlinge stammt, ein wesentliches Ziel unserer Politik, wenn man sie im Zusammenhang sieht. Noch einmal: Die Mission Sophia ist und kann neben vielen anderen Maßnahmen eben nur ein Baustein sein, um den Menschen in Afrika eine Perspektive zu bieten. Denn genau darum muss es gehen.
Das Mandat ist im Kern unverändert. Die Obergrenze von bis zu 950 Soldatinnen und Soldaten ermöglicht es uns, weiterhin unseren Beitrag zur Mission mit der notwendigen Flexibilität zu leisten. Deswegen bitte ich Sie im Interesse der Sicherheit, aber auch der Menschlichkeit um Ihre Unterstützung für den vorgelegten Antrag.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Tauber. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat Stefan Liebich – Kurzintervention, kurz.
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Ich werde mich bemühen, Frau Vizepräsidentin. – Herr Tauber, Sie haben Ihre Rede damit begonnen, dass der Einsatz, über den wir hier sprechen, zum Ziel hat, Menschenleben zu retten. Stimmen Sie mir zu, wenn ich sage, dass für einen Einsatz, der das Ziel hat, Menschenleben zu retten, gar kein Mandat des Deutschen Bundestages notwendig wäre?
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Es wäre nämlich ein rein ziviler Einsatz.
Sie sind heute hier, weil Sie einen Antrag an den Deutschen Bundestag für einen militärischen Einsatz stellen, der den Kampf gegen Schlepper fortführen und die sogenannte Küstenwache ausbilden soll, die selber Verantwortung trägt für schreckliches Leid, schreckliches Sterben.
Es gab einmal eine zivile Rettungsmission, die allein von Italien finanziert wurde. Unter anderem trägt die Regierung der Bundesrepublik Deutschland Verantwortung dafür, dass diese zivile Rettungsmission eingestellt wurde. Damit hat das große Sterben auf dem Mittelmeer erst richtig begonnen.
Es ist mir wichtig, das hier festzustellen. Das, was Sie hier beschreiben, ist eine Tarnung dessen, was Sie eigentlich vorhaben.
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Herr Dr. Tauber, bitte.
Herr Kollege, ich stimme Ihnen in einem Punkt zu: Natürlich ist es ein Gebot der Christlichen Seefahrt, Menschen in Seenot zu helfen. Das ist unbestritten. Ich glaube, jeder, der das kann, wird das tun – Sie genauso wie ich, wenn wir in der Situation wären.
Was ich aber nicht unwidersprochen im Raum stehen lassen kann und worauf ich hinweisen möchte, ist, dass es Ihnen einfach schlichtweg schwerfällt, zu akzeptieren, dass unsere Soldatinnen und Soldaten in diesem Einsatz auch unter dem Aspekt der Humanität Herausragendes leisten. Und selbst Sie als Linke, die Sie sonst die Bundeswehr in jeder Wortmeldung herabwürdigen, könnten das einmal anerkennen. Diese Größe haben Sie leider nicht.
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Moment, es kommt gleich noch jemand von Ihnen, der eine Rede hält.
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– Ja, Moment, es kommt aber vorher noch jemand anderes, und zwar Ulrich Lechte für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Ich freue mich schon auf die Zwischenrufe der Linken.
Herr Kollege Nolte, ich mache jetzt etwas, was ich noch nie getan habe. Ich richte erst einmal das Wort an Sie. In unserem Grundgesetz steht in Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“, und nicht die des deutschen Volkes. Menschen leben weltweit.
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Wir stammen alle aus der gleichen Gattung, nämlich der des Homo sapiens. Das gilt für alle Menschen weltweit.
Nun zur eigentlichen Rede. Aus Libyen erreichen uns immer wieder erschütternde Nachrichten. Das ist uns ja bekannt. Erst letzte Woche wurde aus einem Lager von Menschenhändlern in der Nähe von Bani Walid berichtet. Dort konnten sich circa 100 Flüchtlinge aus der Gefangenschaft befreien. Dabei wurden 15 auf der Flucht erschossen und weitere verletzt. Das sind Zustände, wie wir sie aus dem amerikanischen Bürgerkrieg kennen. Sklaven werden verfolgt, werden gefangen genommen und wenn sie nicht spuren, werden sie erschossen. Das passiert gerade in Libyen. Man muss sich vor Augen führen: Die Leute sind aufgebrochen und haben eine Vision von einem besseren Leben, vielleicht hier in Europa. Dann sind sie dort in einem Lager, das von Menschenhändlern benutzt wird. Wenn das Geld für die Weiterfahrt nicht entsprechend fließt, werden die Frauen zur Prostitution gezwungen und die Männer zur Arbeit. Das nennt sich moderne Sklaverei. Das findet zurzeit in Libyen statt.
Man muss ganz offen sagen: Die Operation, über die wir heute beraten, ist eine Operation, die in Phasen aufgeteilt war. Wir sind derzeit in der Phase, dass wir verhindern können, dass Schlepperbanden irgendwelche Leute zu uns bringen. Man muss sich aber auf der Zunge zergehen lassen, dass unsere Freunde aus Russland im UN-Sicherheitsrat wieder einmal dafür gesorgt haben, dass es keine weiteren Resolutionen gibt. Die libysche Regierung hält uns davon ab, an Land einzugreifen. Das wäre auch innerhalb dieser Mission möglich gewesen, und zwar in Phase 2b und 3. Wir stehen heute hier und verhandeln über eine Mission, die übrigens bereits 43 000 Seelen aus dem Mittelmeer gerettet hat – Seenotrettung. Das sind so viele Einwohner wie bei mir in der Stadt Weiden in der Oberpfalz oder wie in Schwerte in Nordrhein-Westfalen.
Hier werden irgendwelche Debatten geführt über das übliche Theater, dass wir gar nicht helfen können, weil die Bundeswehr dort unterwegs ist. Von anderen kommt wieder der übliche Flüchtlingsquatsch. Es macht mich immer wieder ganz wahnsinnig mit Ihnen links und rechts. Es geht hier um eine klare Frage. Das Mandat ist sinnvoll. Wir kümmern uns um Menschenrechte auf der Welt. Menschenrechte sind für uns ein zentrales Gut. Deswegen wird die FDP auch der Überweisung in den Ausschuss zustimmen. Wir werden auch diesem Mandat zustimmen, und wir werden es verlängern. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass wir in Libyen selber eingreifen können.
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– Ja. Wir müssen die Menschen, die in Libyen in den Lagern wie Sklaven gehalten werden, aus den Lagern herausholen und dafür sorgen, dass die Menschenrechte auch in Libyen wieder eingehalten werden.
Unser Bundesaußenminister Westerwelle war damals gegen den Einsatz. Und warum? Er war gegen den Libyen-Einsatz, weil Libyen total destabilisiert ist.
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Die offizielle Regierung in Libyen – und das wissen Sie auch – ist eine der Regierungen in Libyen, mit denen wir es zu tun haben. Es gibt viele andere Gruppen in Libyen, die der Meinung sind, dass sie dort etwas zu sagen haben.
Das mit Russland hat mich wirklich sehr aufgeregt. Im Endeffekt freuen die sich darüber, dass ein Land an der Südflanke der Europäischen Union völlig destabilisiert ist. So wird die Destabilisierung nach Europa getragen, weil die rechten Kräfte durch die Themen Migranten und Flüchtlinge gestärkt werden. Im Endeffekt sind Sie beide für mich die verlängerten Arme von Moskau, vom Kreml.
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Wir von der FDP überweisen den Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Operation Sophia mit Wohlwollen in den Ausschuss.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Ulrich Lechte. – Und jetzt Dr. Alexander Neu für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Lechte, wenn die libysche Regierung es wollte, könnte sie Sie zu Landoperationen einladen. Dazu bedürfte es keiner UN-Sicherheitsratsresolution. Das wäre eine souveräne Entscheidung der libyschen Regierung. Das als Vorabbemerkung.
Zum eigentlichen Thema. Wer über Flüchtlinge redet, aber reale Fluchtursachen verschweigt, wie es heute erneut passiert ist – ich habe bislang von keinem Redner der anderen Fraktionen auch nur ein Wort zu Fluchtursachen gehört –, der will, dass sich nichts ändert.
Ich werde Ihnen Fluchtursachen nennen. Dazu gehören Kriege, militärische Interventionen und Rüstungsexporte, dazu gehören Klimawandel, Umweltverschmutzung und Raubbau an der Natur – vor allem der Industrieländer; die Folgen sind in Deutschland, aber vor allem in Afrika spürbar –, und dazu gehören Freihandel und der Export von Waren in schwache Volkswirtschaften jenseits der Europäischen Union. Das bedeutet exportierte Armut. Wenn EU-Bauern mit Milliardenbeträgen subventioniert werden, damit sie billiger und im Überschuss produzieren können und dieser Überschuss dann nach Afrika exportiert wird, werden die Bauern dort ruiniert.
Die Ursachen, die ich gerade genannt habe, sind die wesentlichen Ursachen für Flucht. Wir haben mittlerweile 65 Millionen Flüchtlinge weltweit. Da die Ursachen mit Profit und geopolitischen Machtansprüchen zusammenhängen, gibt es bislang kein Interesse, weder in Deutschland noch im Westen insgesamt, daran etwas zu ändern. Die Konsequenzen des Weiter-so-wie-bisher sind verzweifelte Kriegs-, Armuts- und Klimaflüchtlinge; Tendenz steigend. Und diesen Flüchtlingen schlägt in Deutschland und in Europa auch noch Rassismus entgegen. Das ist völlig inakzeptabel.
({0})
Was tut die Bundesregierung eigentlich? Die Bundesregierung und die Europäische Union setzen auf militarisierte Flüchtlingsabwehr. Die Bundesregierung folgt der Philosophie: Flüchtlinge, die man nicht sieht, existieren nicht. Ich finde das sehr zynisch, sehr geehrte Damen und Herren.
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Die militarisierte Flüchtlingsabwehr ist der eigentliche Auftrag von EUNAVFOR MED. Die konkreten Aufgaben wurden genannt: Bekämpfung der Schleuserkriminalität, Ausbildung und Kapazitätsaufbau der libyschen Küstenwache und Durchsetzung des UN-Waffenembargos.
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Ich möchte mich auf die Ausbildung der Küstenwache konzentrieren. Die libysche Küstenwache übernimmt hiermit den schmutzigen Job der Europäischen Union, nämlich die Abdrängung von Flüchtlingen zurück nach Libyen und die Unterbringung dort im Lager. In den Lagern droht Tod, Gewalt, Vergewaltigung und Versklavung. Der Missbrauch von Flüchtlingen in den Lagern selbst ist mittlerweile ein Geschäftsmodell. Das Verhalten der Europäischen Union und der Bundesregierung ist eindeutig völkerrechtswidrig, da Menschenrechte brutal verletzt werden – das wurde gerade schon dargestellt –,
({3})
und das nicht nur mit Duldung der Europäischen Union, sondern sogar mit Förderung; denn in den nächsten Jahren sollen weitere 285 Millionen Euro in die Ausbildung dieser sehr fragwürdigen Küstenwache investiert werden.
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Für die Bundesregierung und für die Europäische Union rechtfertigt das Ziel ganz offensichtlich alle Mittel, und das Ziel ist, möglichst wenig Flüchtlinge innerhalb der Europäischen Union und militärische Flüchtlingsabwehr statt Fluchtursachenbekämpfung. Ich finde das menschenverachtend und schändlich.
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Wir, Die Linke, fordern: Statt militarisierter Flüchtlingsabwehr mit Tausenden Toten pro Jahr – Sie haben es eben genannt, es gab 3 000 Tote im letzten Jahr – muss die Flucht nach Europa endlich legalisiert werden.
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Wir brauchen staatlich organisierte zivile Rettungsmissionen statt der Bundeswehr, die nur bei Seenot hilft.
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Und endlich müssen die Fluchtursachen angegangen werden, und das ernsthaft.
Im Übrigen: Die Linke dankt allen privaten Rettungsmissionen.
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Sie tun das, was humanistisch orientierte Menschen tun, nämlich Menschenleben retten.
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Lasse Sie mich noch eine Aussage zum Verfahren machen: Es ist jetzt wiederholt vorgekommen und ist mittlerweile schon Routine, dass sich die Bundesregierung außerstande sieht – angesichts 13 oder mehr Auslandsmandaten –, den Antrag auf Mandatsverlängerung rechtzeitig in den Bundestag einzubringen, und dann Fristverzicht von den Fraktionen im Deutschen Bundestag fordert. Die Linke wird diesen Fristverzicht weiterhin nicht erklären. Wir fordern Sie auf, die Mandate rechtzeitig einzubringen, sodass sie im normalen Verfahren verabschiedet werden können.
({10})
Sie haben angesichts der Vielzahl von Auslandseinsätzen offensichtlich den Überblick verloren.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Alexander Neu. – Nächste Rednerin in der Debatte: Agnieszka Brugger für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jahr für Jahr sterben Tausende Menschen auf der verzweifelten Flucht über das Mittelmeer. Allein letztes Jahr sind weit über 3 000 Menschen vor den Toren Europas ertrunken. Diese Zahlen sind nicht nur schrecklich, sondern sie bringen auch zum Ausdruck, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union hier versagt haben.
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Seit 2015 beteiligt sich die deutsche Marine an der Militärmission EUNAVFOR MED. Trotz aller Kritik – die wird ja nicht nur von uns Grünen geäußert – legt die Bundesregierung ein nahezu unverändertes Mandat vor, das auch Ausdruck ist für falsche Annahmen sowohl in der Außen- als auch in der Flüchtlingspolitik.
Aber bevor ich zu meiner Kritik komme, möchte auch ich mich im Namen meiner Fraktion bedanken bei den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. Denn auch wenn Seenotrettung nur eine Nebenaufgabe im Mandatstext ist, haben sie in den letzten Jahren über 22 000 Menschen das Leben gerettet. Unser Dank, unser Respekt und unsere Anerkennung gehen auch an die vielen Helferinnen und Helfer der privaten Seenotrettungsinitiativen wie der Handelsschiffe. All diese Menschen haben einen tollen Beitrag der Humanität in den letzten Jahren hier geleistet.
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Meine Damen und Herren, wenn ich die Redner von rechts außen hier im Plenum und im Ausschuss höre, dann fällt mir auf: Einerseits behaupten Sie immer wieder, für die Bundeswehr zu sprechen, auf der anderen Seite haben Sie nicht mal den Anstand, bei dem Dank, der von der Bundesregierung geäußert wurde, zu klatschen oder ihn selbst zum Ausdruck zu bringen. Herr Nolte, Sie haben hier ja nicht das erste Mal zu Marinemissionen gesprochen. Bisher sind Sie nicht nur durch Ihre zynischen, hässlichen Aussagen aufgefallen, sondern vor allem dadurch – ich erinnere mich gut, wie der Kollege Lambsdorff von der FDP Sie mal vorgeführt hat –, dass Sie es nicht mal geschafft haben – obwohl Sie ja so stolz sind, selbst Soldat gewesen zu sein –, die drei Marinemissionen Sea Guardian, EUNAVFOR MED und Atalanta überhaupt auseinanderzuhalten.
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Wenn ich Ihre Aussagen in den letzten Monaten zusammen betrachte, dann finde ich: Sie sollten einfach mal ehrlich sein und hier für Ihre Fraktion zum Ausdruck bringen, dass es Ihnen egal ist, ob die Menschen elend im Mittelmeer ertrinken, und dass es Ihnen auch egal ist, wenn sie in den Lagern in Libyen die Hölle auf Erden erleben und dort sterben.
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Wenn ich Ihre Reden höre, dann frage ich mich manchmal, ob es in Ihren Reihen nicht auch Leute gibt, die sich darüber auch noch heimlich freuen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Grüne haben immer sehr klargemacht, dass die Schlepper ein brutales, ein zynisches und ein kriminelles Geschäft mit der Verzweiflung und dem Leid der Geflüchteten machen. Wir haben auch immer klargemacht, dass man etwas dagegen tun muss; denn so, wie die Seenotrettung eigentlich nicht die primäre Aufgabe von Militärschiffen ist, wäre die Antwort auf die kriminellen Schlepperstrukturen in erster Linie eine rechtsstaatliche, eine polizeiliche.
Meine Damen und Herren, dieses Mandat hat – das sehen wir ganz anders als Sie von der FDP, Herr Lechte – sehr viele problematische Komponenten. Ich möchte eine dieser Komponenten exemplarisch darstellen: Es ist die Ausbildung der libyschen Küstenwache. Nach wie vor kann die Bundesregierung nicht sicherstellen, wer hier ausgebildet wird, und sie kann nicht sagen, welche schreckliche Rolle vielleicht Kräfte der libyschen Sicherheitskräfte als Milizen im grausamen Bürgerkrieg übernommen haben. Wir erhalten Berichte, nach denen zivile Seenotrettungsorganisationen immer wieder behindert und bedroht werden. Vor allem hören wir von einer Kooperation mit den Schleppern. Ist nicht die Aufgabe dieses Mandates, genau diese Schlepper zu bekämpfen? Man sieht: Das, was Sie hier tun, ist nicht sinnvoll, dient nicht dem Ziel und ist schon gar nicht sinnvoll mit Blick auf die Menschenrechte.
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Denn immer wieder werden Boote beschossen, sie werden abgedrängt. Dabei kommen Menschen ums Leben. Am Ende landen die Menschen wieder in den barbarischen Lagern in Libyen.
All das, meine Damen und Herren, ist der Koalition schon seit mehreren Jahren bekannt. Trotzdem halten Sie an einer Strategie fest, die nichts mit dem Schutz von Menschenrechten zu tun hat. Das ist kurzsichtig, und das ist verantwortungslos.
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Es ist ja nicht so, dass es keine Alternativen gäbe. Sie könnten zum Beispiel diese falsche Militärmission beenden und wirklich etwas gegen die Fluchtursachen tun.
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Sie könnten sich für legale und sichere Wege einsetzen. Aber vor allem könnten Sie die zivile Seenotrettung, die es mal gab, wieder aufgreifen. Dazu gehört für uns auch eine gerechte Verteilung der geretteten Flüchtlinge in Europa. Denn bisher ist es immer so, dass sie in Italien landen. Doch hier bräuchte es eigentlich eine gemeinsame europäische Antwort.
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Die Bundesregierung sollte lieber das tun, als dieses Mandat um ein weiteres Jahr zu verlängern.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist der Kollege Jürgen Hardt von der CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, dass die Operation Sophia ein gutes Beispiel für europäische Kooperation und für eine der Lage entsprechende Antwort auf die Herausforderungen im Mittelmeer ist. Wir alle haben unter den Bildern schiffbrüchiger, im Mittelmeer ertrunkener Menschen gelitten und gesagt: Wir müssen etwas tun. – Dann gab es andere, die zu Recht darauf hingewiesen haben: Na ja, wenn ihr mit den Schiffen sozusagen hinter dem Horizont der Küste entlangfahrt, dann haben die Schlepper ein gutes Argument, zu sagen: Steigt in die Boote, fahrt einige Meilen raus; da werdet ihr schon jemanden finden, der euch einsammelt.
Deswegen ist diese Mission beides: Sie ist eine Mission, die Seenotrettung betreibt, aber auch eine Mission, die das Schlepperunwesen und die kriminellen Machenschaften der Schlepper bekämpft. Beides gemeinsam macht den eigentlichen Sinn und den Charakter dieser Mission aus. Ich will das Thema, dass wir auch den Auftrag haben, Waffenschmuggel vor der libyschen Küste zu verhindern, jetzt nicht ausblenden. Aber ich glaube, wir können uns in dieser Debatte auf diese beiden Seiten ein und derselben Medaille – Seenotrettung und Bekämpfung des Schlepper- und Schleuserunwesens – konzentrieren.
Wenn man sich die Bilanz des bisherigen Einsatzes ansieht, dass 48 100 Menschen aus Seenot gerettet wurden, 22 500 von deutschen Soldaten auf deutschen Schiffen – zurzeit ist der Tender „Mosel“ dort im Einsatz –, dass rund 500 Schlepperboote vernichtet und rund 140 Schlepper den Behörden überstellt wurden, muss man feststellen: Das ist sicherlich noch nicht die Lösung des Problems, aber ein wirksamer und richtiger Beitrag. Deswegen, glaube ich, werden wir in den Beratungen im Ausschuss mehrheitlich zu dem Ergebnis kommen, dass dieser Einsatz in jedem Fall fortgesetzt werden sollte.
Aber dieser Einsatz hatte, so wie wir ihn angelegt haben, auch noch einige andere Dimensionen: Wir haben uns vorgestellt, im Rahmen dieses Einsatzes auch an der Küste selbst zu agieren. Wir haben uns vorgestellt, dass wir dann, wenn wir gefordert sind, Geld für Flüchtlingseinrichtungen zu zahlen, auch die Möglichkeit bekommen, darüber zu bestimmen, wie mit den Flüchtlingen in dem Land umgegangen wird. Davon sind wir leider noch entfernt.
Ich begrüßte deshalb die französische Initiative, die noch einmal versucht hat, die Konfliktparteien Libyens an einen Tisch zu bringen, mit dem Ziel, dass es vielleicht doch die Möglichkeit gibt, eine Regierung in dem Land zu bekommen, die in der Lage ist, die Souveränität über das gesamte Land auszuüben. Ich appelliere nachdrücklich an die ägyptische Regierung, ihren Einfluss auf diejenigen im Lande, die durch sie vielleicht beeinflussbar sind, die sich der Politik der Einheitsregierung gegenwärtig aber noch nicht anschließen mögen, geltend zu machen, damit es doch zu einer Verbesserung der inneren Lage Libyens kommt. Denn die innere Lage Libyens ist die Ursache dafür, dass wir zwar einen Fortschritt erzielt haben, dass wir aber mit Blick auf die Lösung des Problems nur so schwer vorankommen.
Hinzu kommt, dass hinter Libyen – geografisch gesprochen aus europäischer Sicht – auch viele afrikanische Probleme sind. Deswegen ist es eine gute Entscheidung aller Beteiligten gewesen – das gilt für die Regierungskoalition und ihren Koalitionsvertrag sowie für die Europäische Union –, dass wir unseren besonderen Fokus auf die Situation in Afrika richten wollen. Im Rahmen intensiver und nachhaltiger Partnerschaften mit afrikanischen Staaten – ich nenne beispielhaft Mali und Niger; hier engagiert sich Deutschland in besonderer Weise – wollen wir etwas tun, um den Flüchtlingsstrom vor allem aus den Staaten des westlichen Afrikas und aus Zentralafrika in Richtung Mittelmeerküste einzuschränken, und zwar insofern, als die Leute merken: Es ist besser, wenn sie in ihren Ländern bleiben und dort auf Hilfe setzen, als sich in die Hand der Schlepper zu begeben.
Insofern, glaube ich, liegt noch viel Arbeit vor uns. Dieses Mandat hilft uns aber, die Probleme zu lösen, und deswegen verdient es dieses Mandat, verlängert zu werden.
Herzlichen Dank.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! „Der Fortschritt ist eine Schnecke“: An dieses Zitat von Günter Grass habe ich gedacht, als ich mir letzte Woche die Pressekonferenz von Emmanuel Macron angesehen habe, auf der er die Ergebnisse des Libyen-Gipfels in Paris vorgestellt hat.
Es war sein zweiter Anlauf, und man kann wirklich sagen: Er hat einen langen Atem bewiesen, und er hat auch etwas erreicht. Er hat in der letzten Woche erreicht, dass auf der einen Seite der libysche Regierungschef Sarraj und auf der anderen Seite General Haftar sowie die Vertreter der beiden zerstrittenen Parlamente Libyens an einem Tisch saßen. Es waren dabei: die Europäische Union, die Afrikanische Union und diverse Nachbarstaaten. Alleine die Tatsache, dass die sich zusammensetzen und gemeinsam versuchen, eine Lösung zu erarbeiten, ist schon mal ein Fortschritt.
Es ist auch ein konkreter Fortschritt, dass mittlerweile ein Wahltermin für Libyen auf dem Tisch liegt, der 10. Dezember 2018. Es wäre ein noch größerer Fortschritt gewesen, wenn alle Anwesenden tatsächlich auch eine Abschlusserklärung unterzeichnet hätten. Tatsächlich haben sie sich aber nur darauf einigen können, dass die Abschlusserklärung in Anwesenheit aller verlesen wird. Ich habe jetzt gelernt, dass das auch ein diplomatisches Mittel ist. Sie haben sich also nur darauf geeinigt, dass es verlesen wird, und damit sind wir wieder bei der Schnecke.
Meine Damen und Herren, ich erzähle das deswegen, weil, wenn wir nachher und in den nächsten Wochen auch über EUNAVFOR MED reden, klar sein muss, dass im Mittelmeer selbst nur Symptombekämpfung stattfindet, wenn es um die Bekämpfung der Schlepperkriminalität geht. Das eigentliche Kernproblem muss an Land gelöst werden. Damit man an Land effektiv gegen Schleuser, gegen Menschenschmuggler vorgehen kann, braucht es ein gewisses Maß an Stabilität und Sicherheit im Land.
Dazu braucht es eine Regierung, die von allen Seiten anerkannt wird. Ein Weg dorthin geht über Wahlen. Auf diesem Weg sind wir jetzt einen kleinen Schritt vorangekommen, und ich hoffe, dass die Wahlen am 10. Dezember auch stattfinden werden.
Im Rahmen dessen, was auf See möglich ist, ist EUNAVFOR MED durchaus erfolgreich. Die Zahlen wurden gerade von Staatsminister Roth genannt: 500 Schleuserboote wurden zerstört, ungefähr 150 Verdächtige wurden den italienischen Behörden übergeben, und wir haben auch eine ganze Reihe von Erfolgen bei der Bekämpfung von Waffenschmuggel und Ähnlichem. 200 Mitglieder der Küstenwache Libyens wurden ausgebildet. Ich weiß, wie schwierig die Situation ist. Über 100 weitere stehen zur Ausbildung an.
({0})
Hier sind wir vorangekommen, und sie werden auch immer effektiver. Aber wir müssen einen langen Atem haben.
In der nächsten halben Stunde führen wir die Debatte zu UNIFIL; dabei geht es um den Libanon. Im Libanon bilden wir seit 2006 die Küstenwache aus – durchaus mit messbaren Erfolgen. Aber das zeigt, mit welchen Zeiträumen wir rechnen müssen.
Wir haben ein großes Interesse daran, dass sich die Situation in Libyen stabilisiert. Eine dauerhafte Instabilität in Libyen, direkt an der Außengrenze der Europäischen Union, können und wollen wir uns nicht erlauben. Es ist auch im deutschen Interesse, einen Beitrag dazu zu leisten, das Land zu stabilisieren. Wir tun das auf See mit EUNAVFOR MED, wir tun das an Land, soweit das möglich ist, mit unserer Entwicklungshilfe, und wir leisten zu den diplomatischen Bemühungen – jetzt erst wieder unter französischer Führung – einen wesentlichen Beitrag. Dieser Weg ist richtig. Wir wollen ihn fortsetzen. Ich bitte Sie nach den Beratungen in den Ausschüssen um Zustimmung zu diesem Mandat.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Punkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/2381 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber würde ich heute zu Digitalisierung, zu Bildung, zu Steuerentlastungen oder zu einem enkelfitten Sozialstaat sprechen.
({0})
Wichtige Themen gibt es genug. Aber bei der Migration besteht spätestens seit dem BAMF-Versagen eine besondere Dringlichkeit, weshalb sich der Deutsche Bundestag damit beschäftigen muss.
({1})
Der drohende Vertrauensverlust in unseren Rechtsstaat sowie die entstehenden kulturellen und sozialen Konflikte sind politischer Sprengstoff. Manche hier wollen ihn zünden, wir wollen ihn entschärfen.
({2})
Deshalb beantragen wir hier die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, weil man auf Hetze und Verschwörungstheorien am besten mit Vernunft und Aufklärung antwortet.
({3})
Der Innenausschuss befasst sich auf Sondersitzungen mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge; das wird fortgesetzt. Aber dieses Verfahren ist so, wie offenbar zu lange im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gearbeitet worden ist, nämlich schnell, aber nicht gründlich genug.
({4})
Wir hingegen wollen Zeugen vernehmen, auch ehemalige Beamte. Wir wollen Akteneinsicht auch dort nehmen, wo sich die Regierung momentan im Innenausschuss noch auf den vertraulichen Kernbereich des Exekutivhandelns zurückziehen kann; Stichwort: Verschlusssache, Nur für den Dienstgebrauch. Das Parlament hat ein Recht, die Instrumente der Strafprozessordnung zu nutzen. Auf dieses Recht wollen wir nicht verzichten, sondern im Gegenteil dieses Recht aktiv in Anspruch nehmen.
({5})
Die Frau Bundeskanzlerin hat gestern hier und Frau Nahles in einem Sommerinterview neulich erklärt, die Strukturprobleme im BAMF seien ihnen lange bekannt gewesen. Da stellt sich dann insbesondere die Frage, was aus diesem Wissen folgte.
Das BAMF war schließlich lediglich eine ausführende Behörde. Die politische Verantwortung liegt nicht beim einzelnen Sachbearbeiter. Die politische Verantwortung liegt dort, wo das Amt beaufsichtigt wird, wo über seine Ausstattung entschieden wurde, wo die zugrunde liegenden Gesetze und Verfahren beschlossen wurden und wo die Grundentscheidungen getroffen wurden, die zum massiven Anstieg der Fallzahlen geführt haben. Deshalb muss ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss auch das politische Umfeld untersuchen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in allen Fraktionen und Parteien gibt es unterstützende Stimmen. Dennoch bemerken wir eine Zögerlichkeit, und die hängt mit der AfD zusammen. Inzwischen ist es nach meinem Eindruck geradezu obsessiv, dass alle Welt darauf schaut, was diese Fraktion sagt, macht und fordert.
({7})
Uns interessiert nicht, ob die AfD unserem Antrag zustimmt. Uns interessiert vielmehr, wer ihm nicht zustimmt. Denn bei einem Vorgang dieser Tragweite sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass das Parlament alle Mittel zur Kontrolle der Regierung nutzt.
({8})
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, bieten wir der Regierungskoalition, bieten wir der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, bieten wir der Linksfraktion Gespräche über einen Einsetzungsantrag an.
({9})
Damit muss man nicht wochenlang warten; damit können wir sofort beginnen. Es liegt in Ihrer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass nicht der Eindruck entsteht, die AfD sei die einzige Oppositionskraft gegenüber der Regierung.
({10})
– Freuen Sie sich nicht zu früh! – Deshalb werden wir uns nicht davon abhalten lassen, das Richtige zu fordern, nur weil die Falschen zustimmen.
({11})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Patrick Schnieder.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Vorgänge im BAMF brauchen parlamentarische Aufarbeitung. Wir reden bei den Vorgängen im Bremer BAMF über einen echten Skandal.
({0})
Es gab offenbar vorsätzliche Rechtsverstöße in einer Behörde. Es wurden Asylentscheidungen getroffen, ohne dass die Identität der jeweiligen Person überhaupt geklärt war.
({1})
Es sind Entscheidungen getroffen worden, wofür die Behörde dort gar nicht zuständig war.
Das Vertrauen in die Arbeit dieser wichtigen Behörde ist massiv erschüttert. Das alles und noch mehr wissen wir, weil der Innenausschuss des Bundestages nach Bekanntwerden der Vorgänge in der Bremer Außenstelle die Aufklärung an sich gezogen hat. Wir wissen es, weil der Bundesinnenminister dem Innenausschuss gegenüber vollumfänglich Einblick gegeben hat.
Wir wollen die Vorgänge beim BAMF weiter aufklären.
({2})
Wir wollen wissen, was genau passiert ist, wie es dazu kommen konnte, warum so spät reagiert worden ist. Wir wollen wissen, ob es systemische Mängel beim BAMF gibt. Wir wollen wissen, ob und, wenn das so ist, wo die Zusammenarbeit zwischen Innenministerium und BAMF verbesserungsfähig ist, um es vorsichtig auszudrücken.
Es ist die Pflicht, aber auch das erste Recht der Ausschüsse, die Vorgänge in ihrem Bereich aufzuklären. Daher ist es die Pflicht, aber eben auch das Recht des Innenausschusses, für die Aufklärung in der BAMF-Affäre zu sorgen. Dem Innenausschuss hierfür nicht die Möglichkeit zu geben, wäre ein Misstrauensvotum gegenüber unseren Fachkollegen. Wer einen Untersuchungsausschuss einsetzt, schließt den Fachausschuss von der weiteren Befassung aus. Die Behörden müssen dann die Beweisbeschlüsse des Untersuchungsausschusses umsetzen.
Deshalb will ich zwei Punkte klar feststellen. Erstens. Es gibt einen Skandal im Bremer BAMF, der aufgeklärt werden muss. Und zweitens. Es gibt überhaupt keinen Grund, dem Innenausschuss jetzt die Aufklärung zu entziehen.
({3})
Es gibt auch keinen Hinweis, dass man zur Aufklärung die Zwangsmittel eines Untersuchungsausschusses benötigen wird, anders als Sie, Herr Lindner, das gerade hier behauptet haben, weil beispielsweise die Behörden nicht schlüssig und ausreichend berichten. Das Gegenteil ist der Fall: Innenministerium und BAMF legen alles offen.
({4})
Es zeichnet sich überhaupt nicht ab, dass der Innenausschuss nicht in der Lage wäre, in Sachen BAMF weitere Aufklärung zu betreiben. Dies wurde auch von der Opposition im Innenausschuss noch nicht behauptet.
Nach Abschluss der Befassung im Innenausschuss ist Bilanz zu ziehen, ob es noch weiteren parlamentarischen Aufklärungsbedarf gibt. Das kann heute niemand vorhersagen.
Wir jedenfalls sind bereit, im Anschluss an die Befassung im Innenausschuss über mögliche offene Fragen zu reden. Wir versperren uns einem Untersuchungsausschuss nie grundsätzlich.
Ganz deutlich muss man aber auch sagen: Zum jetzigen Zeitpunkt zeichnet sich ein Untersuchungsausschuss nicht ab. Weder ist er sachlich geboten, noch können die Anträge, die Sie beide hier vorgelegt haben, dazu führen. Denn sie sind schlichtweg unzulässig.
({5})
Wer sich die Anträge von AfD und FDP durchliest, stellt fest: Sie sind zum großen Teil verfassungswidrig.
({6})
Ein Untersuchungsausschuss hat Zwangsbefugnisse, über die selbst das Plenum hier nicht verfügt. Deshalb ist die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses an strenge verfassungsrechtliche Vorgaben gebunden. Das muss die AfD noch lernen. So lange sind Sie noch hier.
({7})
Aber die Freien Demokraten haben ihre Bänke noch nicht so lange frei gelassen. Sie müssten es eigentlich wissen.
({8})
Ich beziehe mich nun auf den Antrag der FDP. Der Untersuchungsausschuss soll danach klären, ob die Ausstattung von Landes- und Kommunalbehörden zur Erfüllung einer Aufgabe ausreichend ist, wie der Informationsfluss zwischen Behörden der Länder und der Kommunen ist oder wie die Qualität der Entscheidungen der Verwaltungsgerichte ist. All das sind Fragen, die entweder gar nicht untersuchbar sind oder ausschließlich in den Bundesländern durch die Landtage bearbeitet werden müssen oder die dem Kernbereich richterlicher Unabhängigkeit unterfallen.
({9})
Der Bundestag darf nicht in diese Zuständigkeiten hineinregieren.
In einer Hinsicht allerdings – jetzt hören Sie gut zu, und zwar die Kollegen beider Fraktionen – ist beiden Anträgen die Verfassungswidrigkeit gewissermaßen auf die Stirn geschrieben. In diesem Punkt – nicht nur in diesem, aber gerade in diesem Punkt – sind FDP und AfD Schwestern im Geiste.
({10})
Ein Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses darf nichts formulieren, was erst Ergebnis einer Untersuchung sein könnte. Sie nehmen das Ergebnis aber bereits vorweg. Sie geben vor, alles bereits zu wissen. Was wollen Sie denn dann noch untersuchen und aufklären?
({11})
Diese Feststellungen in beiden Anträgen sprechen deutlich gegen die Ernsthaftigkeit des Untersuchungsanliegens. Wer schon alles weiß, braucht keine Untersuchung mehr. Wer das Ergebnis einer Untersuchung schon kennt, will keine Untersuchung, sondern ein Tribunal. Und wer ein Tribunal will, will keine wirkliche Aufklärung.
({12})
Sie beide, FDP und AfD, legen mehr Wert auf PR als auf inhaltliche Arbeit in der Sache.
({13})
Das legen auch die Abläufe nahe. In der vorletzten Sitzungswoche fand die erste Befassung des Innenausschusses mit den Vorgängen in Bremen statt. Schon eine Sitzungswoche später hat die FDP diesen Tagesordnungspunkt angekündigt und aufgesetzt.
({14})
Dann hat die AfD einen Antrag vorgelegt, und zwar noch vor der FDP. Die FDP hat es dann vorgezogen, das auf einer Pressekonferenz am Montag „hinter der Bezahlschranke“, Herr Kollege Lindner, wie Sie das gestern so schön formuliert haben, zu präsentieren und nicht im Ersten Ausschuss oder hier im Plenum.
({15})
Es ging und geht FDP und AfD nur um einen PR-Coup. Wer einen Untersuchungsausschuss zur Befriedung der Gesellschaft in der gesamten Flüchtlingsfrage will – das tragen Sie wie ein Mantra vor sich her –, muss zunächst damit anfangen, einen Antrag ohne Vorfestlegungen und Vorurteile zu formulieren. Sonst ist Befriedung reine Illusion, weil Sie sie gar nicht wollen.
({16})
Trotz allem lehnen wir die Anträge heute nicht ab, sondern überweisen sie an den 1. Ausschuss. Dort können AfD und FDP nacharbeiten.
({17})
Wir konzentrieren uns in der Zwischenzeit weiter auf die Klärung der Vorgänge im BAMF. Noch einmal: Wir wollen aufklären, wir wollen schnell und gezielt aufklären. Wir wollen konkrete Probleme und Fehler aufdecken und dann zügig beheben.
({18})
Damit wollen wir Vertrauen in das BAMF zurückgewinnen. Wir werden nach Abschluss der Untersuchung im Innenausschuss entscheiden, ob wir einen solchen Untersuchungsausschuss brauchen, einen Ausschuss, der die dann möglicherweise noch offenen Fragen in den Blick nimmt und nicht nur für das Schaufenster und Pressekonferenzen taugt.
({19})
Als Nächstes hat für die AfD-Fraktion das Wort die Kollegin Beatrix von Storch.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 2004 beantragten CDU und CSU einen Untersuchungsausschuss gegen die rot-grüne Regierung wegen der Visapolitik. Zur Einsetzung sprach Herr Glos. Er sprach von einem Putsch gegen die Rechtsordnung und erklärte, die illegale Einwanderung fördere Schwarzarbeit, Prostitution, Menschenhandel und andere kriminelle Machenschaften. Den amtierenden Außenminister Fischer nannte er einen Zuhälter an dieser Stelle.
({0})
Wenn wir heute diesen Ton anschlagen würden – ich will mir das gar nicht vorstellen.
({1})
Ich möchte in aller Ruhe, aber in aller Klarheit sagen: In der letzten Legislaturperiode gab es verschiedene Untersuchungsausschüsse. Es gab einen zu der tragischen Figur des Herrn Edathy, zu Abgasmanipulationen und zu Aktienleerverkäufen. Wenn jetzt zu dem Thema „Migration und BAMF“ kein Untersuchungsausschuss kommt, dann wird das niemandem in dieser Republik zu vermitteln sein. Die Dimensionen jetzt sind um ein Unendliches viel größer als die aller Untersuchungsausschüsse, die es gab.
({2})
Zahlen nenne ich bewusst keine, weil sie so unglaublich sind.
Die Fragen, auf die dieses Land eine Antwort erwartet, lauten: Was ist im BAMF passiert, warum ist es passiert, und wer trägt dafür die Verantwortung?
({3})
Herr Seehofer hat bereits am 29. Mai 2018 im Innenausschuss richtigerweise gesagt: Die politische Verantwortung für die Fehler im BAMF liegen außerhalb des Amtes. – Darum haben wir einen Vorschlag für einen Untersuchungsauftrag vorgelegt, der die gesamte Asyl- und Migrationspolitik beleuchtet, einschließlich des BAMF.
Die Krise dort ist denklogisch nicht zu trennen von politischen Leitentscheidungen in der Asyl- und Migrationspolitik. Wo kamen denn plötzlich all die Menschen her, deren Anträge dann nicht mehr ordnungsgemäß bearbeitet werden konnten, mit all den Folgen für die Sicherheit, für die Kosten in diesem Land und für die Gesellschaft, die das Ganze zu zerreißen droht?
Es gab kein Gesetz zur Grenzöffnung. Das Parlament war daran nicht beteiligt. Es gab nur eine Weisung, eine mündliche, dazu. Heute hat mich die Antwort der Regierung erreicht, die gesagt hat: Die Weisung ist – ich zitiere wörtlich – nicht aufgezeichnet und auch nicht transkribiert. Es ist ein Nullum, diese Weisung zur Grenzöffnung.
({4})
Und: Die Rechtsgrundlage für dieses Nullum ist nicht geklärt. Welches Gesetz, welcher Artikel, welcher Absatz legitimiert die Grenzöffnung? In einem Rechtsstaat muss das klar sein.
({5})
Der nachmalige Bundesinnenminister Seehofer sprach selbst von der Herrschaft des Unrechts. Gleichwohl hält er, auch auf schriftliche Nachfrage, ausdrücklich an dieser Weisung fest und will sie nicht aufheben.
({6})
Kurz: Es geht bei der Einsetzung dieses Untersuchungsausschusses um nichts weniger als um die Rückkehr zu der Herrschaft des Rechts.
({7})
Der Betriebsrat des BAMF hat beschrieben, wie wegen des „Wir schaffen das“ mit dem Amtsantritt von Herrn Weise die Qualität der Erledigung der Asylanträge vollständig der Schnelligkeit untergeordnet wurde und wie in hunderttausend Fällen der Verfahren zum Beispiel die Identität nicht belegt wurde. Gleichwohl: Auf eine AfD-Anfrage erklärt die Regierung noch in diesem Februar wörtlich:
Das BAMF war und ist trotz der hohen Arbeitsbelastung jederzeit in der Lage, die ihm zufallenden Aufgaben zu erledigen.
Das war vor den Enthüllungen um all die Missstände allerorten.
Ich habe vor zwei Wochen, am 25. Mai, also nach den Enthüllungen, noch mal nachgefragt, ob die Bundesregierung an dieser Auffassung weiter festhält. Mit Datum von gestern erreicht mich jetzt die Erklärung des Parlamentarischen Staatssekretärs Stephan Mayer, der mir schreibt: Die Bundesregierung hält an ihrer Auffassung fest, dass nämlich das BAMF seinen Aufgaben jederzeit gerecht geworden ist.
({8})
Wir müssen ganz sachlich jetzt zweierlei feststellen: Erstens. Diese Regierung leidet an Realitätsverlust in fortgeschrittenem Stadium.
({9})
Zweitens. Wir können so jetzt nicht weiter aufklären, weder mit schriftlichen Fragen, auf die wir dann solche Antworten bekommen, noch mit mündlichen Fragen in Sondersitzungen des Innenausschusses.
({10})
Das mag schneller sein – das wurde hier gerade betont –, ist aber erwiesenermaßen sinnlos.
({11})
Und: Wie wir gerade beim BAMF festgestellt haben: Schnelligkeit vor Qualität führt ins Desaster.
Wir fordern den Untersuchungsausschuss seit September 2016 und begrüßen ausdrücklich, dass jetzt auch die FDP einen Antrag eingebracht hat, der sehr gut zu unserem passt. Lassen Sie uns den Ausschuss einsetzen, damit wahr wird, was selbst Frau Merkel genau so gesagt hat:
Eine Situation wie ... 2015 kann, soll und darf sich nicht wiederholen.
Vielen Dank.
({12})
Für die Fraktion der SPD hat als Nächstes das Wort der Kollege Dr. Lars Castellucci.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau von Storch, offene Grenzen sind eigentlich eine gute Sache. Fragen Sie mal Ihre Fraktionsvorsitzende, die regelmäßig zwischen der Schweiz und Deutschland pendelt.
({0})
Wir brauchen keinen Gegensatz zwischen offenen Grenzen und Sicherheit aufzumachen. Sie wollen Abschottung. Wir wollen dafür arbeiten, dass wir offene Grenzen in Europa haben, aber Sicherheit an den Außengrenzen herstellen. Und das werden wir auch schaffen.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte eines vor die Klammer ziehen, und das ist etwas, was mich sehr ärgert: wenn irgendwo ein Prügelknabe auftaucht, wenn einer oder eine oder wenige sich fehlverhalten und plötzlich eine ganze Gruppe verantwortlich gemacht wird. Ich glaube, das ist im Moment beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der Fall, und das dürfen wir so nicht zulassen.
({2})
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Ja.
Lieber Herr Kollege Castellucci, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage erlauben. Ich bin neulich in die Schweiz gefahren, und da wird immer noch kontrolliert.
({0})
War das jetzt Ihre Frage? – Also, ich wurde kürzlich nicht kontrolliert. Vielleicht liegt es an Ihnen – vielleicht, weil Sie vom Verfassungsschutz in Bayern schon mal untersucht worden sind, weil Sie der Identitären Bewegung nahestehen. Ich würde Sie auch kontrollieren. Das haben sie ganz gut gemacht, wenn sie Sie kontrolliert haben.
({0})
Aber ich glaube, Sie haben mein Argument eigentlich auch verstanden.
Weiter in der Rede. Bei diesem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge arbeiten Menschen, die Hausmeistertätigkeiten ausführen, dort sind Leute, die sich um die IT kümmern. Dort sind Menschen, die in den Jahren 2015 und 2016 gesagt haben: „Oh, mein Land braucht mich!“, und vielleicht haben sie sogar eine entfristete Stelle, einen festen Arbeitsplatz verlassen und gesagt: Wir gehen zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und helfen mit, weil wir gebraucht werden. – Sie haben einen schweren Job und müssen jeden Tag über menschliche Schicksale entscheiden. Ich finde, sie haben es nicht verdient, generell an den Pranger gestellt zu werden. Das muss an dieser Stelle auch klar gesagt werden.
({1})
Meine sehr verehrten Kollegen von der AfD und der FDP, interessanterweise passt zwischen Ihre beiden Anträge eigentlich kein Stück Papier. Da muss man sich auch seine Gedanken machen. Aber weil Sie über alles Mögliche reden wollen, möchte ich Ihnen mal sagen, worum es geht:
Erstens geht es um einen Vorfall in Bremen. Dieser Vorfall in Bremen hat das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit in Deutschland schwer erschüttert, übrigens auch mein Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit und sogar Vertrauen in mich; denn ich bin in den letzten ein, zwei Jahren auf Veranstaltungen gegangen und habe gesagt: Ja, wir haben den Rückstand abgearbeitet, jeder in diesem Land ist erkennungsdienstlich untersucht, die Fingerabdrücke sind genommen. – Jetzt erfahren wir, dass das gar nicht der Fall ist. Wir müssen das Vertrauen wiederherstellen. Ich sage an dieser Stelle aber auch: Da können wir nicht auf einen Untersuchungsausschuss warten. Deswegen ist die Bremer Außenstelle praktisch geschlossen worden. Hier müssen schnelle Konsequenzen erfolgen, und sie sind erfolgt.
({2})
Zweiter Punkt. Es ist völlig konsequent, dass man jetzt aufgrund der Bremer Vorkommnisse allgemein in Deutschland die Qualitätsprobleme untersucht. Der Umfang, in dem sie auftreten, ist erschütternd; aber dass es sie gibt, verwundert niemanden.
({3})
Deswegen haben wir ja gerade in den Koalitionsvertrag geschrieben, dass wir eine Qualitätsoffensive für dieses Bundesamt brauchen; denn wir wissen, dass es schon 2008 und 2009 ein Stiefkind des ehemaligen Innenministers war, der keinen Schwerpunkt auf Asyl- und Migrationsfragen gelegt hat. Schon damals sind Anträge liegen geblieben, und es ist kein Wunder, dass dann heute, in schwierigeren Zeiten, das Amt nicht in der Lage ist, dies abzuarbeiten. Was ich an dieser Stelle aber sagen will – wenn wir Exportweltmeister bleiben wollen, lassen wir das auch nicht zu –: Ich akzeptiere keinen Gegensatz zwischen Qualität und Quantität. In Deutschland erwarte ich von der Wirtschaft und von unseren Verwaltungen, auch von der Politik und denen, die die Aufsicht haben, dass wir beides hinbekommen.
({4})
Die Aufsicht muss gelingen; wir brauchen Qualität und schnelle Verfahren.
Letzter Punkt. Es geht auch um Führungsversagen. Deswegen ist es konsequent, dass Herr Innenminister den Bundesrechnungshof beauftragt hat, zu untersuchen,
({5})
und dass in diese Untersuchung auch das Innenministerium eingeschlossen ist. Wir müssen wissen: Wer hat etwas gewusst und nicht gehandelt? Und wir müssen wissen: Wer hätte etwas wissen müssen und hat offensichtlich nicht hingeschaut?
({6})
Das muss schnell aufgeklärt werden. Wiederum: Wir können da nicht auf einen Untersuchungsausschuss warten, sondern hier müssen wir konsequent handeln.
Wir haben jetzt in Folge drei Sondersitzungen des Innenausschusses. Die SPD-Fraktion wird diese Untersuchung mit allem Nachdruck und mit großer Konsequenz verfolgen und auf der Basis der Erkenntnisse dann entscheiden, ob ein Untersuchungsausschuss notwendig sein wird oder nicht.
Vielen Dank.
({7})
Ich rufe auf den Kollegen Dr. Dietmar Bartsch für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Debatte ist vortrefflich geeignet, unheimlich viel Sand in die Augen der Menschen zu streuen.
({0})
Vor allem ist die Debatte auch vortrefflich geeignet, das gesellschaftliche Klima zu vergiften.
({1})
Das ist das, was hier real passiert.
Ich will mal damit beginnen: Der Herr Lindner hat gesagt: Vernunft und Aufklärung. – Die Parlamentarier, die wissen das alle, aber für diejenigen, die zuschauen: Untersuchungsausschüsse, die regelt das Grundgesetz, Artikel 44. Da steht ganz klar: Der Antrag muss von einem Viertel der Abgeordneten des Deutschen Bundestages eingereicht werden. – Der Bundestag hat 709 Abgeordnete. Das heißt, 178 Abgeordnete werden dafür benötigt.
({2})
Das heißt im Übrigen auch, dass mindestens drei Oppositionsfraktionen einen solchen Antrag einreichen müssen, und das sagt alles. Selbst AfD und FDP, das reicht nicht. Die FDP weiß, sie hat mit diesem Antrag keine Chance.
Sie können sich doch noch daran erinnern: Wir haben mit den Grünen gemeinsam in der Legislatur 2005/09 Untersuchungsausschüsse eingerichtet; selbst bei Organklagen war das gemeinsam. Wir werden in dieser Legislatur hoffentlich auch zu dritt Untersuchungsausschüsse einsetzen, wenn es notwendig ist. Aber die FDP macht hier etwas, mit dem sie letztlich nur populistische Akzente setzt.
({3})
Liebe FDP, der Antrag lässt keinen echten Willen einer Rechtsstaatspartei erkennen, keine liberale Tradition,
({4})
wo es um gleiche Rechte für alle geht. Sie machen vor allen Dingen die Tür zur AfD auf, und ich bedauere das. Sie können das nicht wollen. Sie sehen doch, dass Sie ein Abgrenzungsproblem haben.
({5})
Dass es beim BAMF gravierende Probleme gibt – Diese Strukturprobleme sind doch bekannt gewesen. Ich hoffe, jeder hier – das ist völlig klar – will rückhaltlose Aufklärung, mit allen Mitteln, auch mit den staatsanwaltschaftlichen.
({6})
Aber diese Anträge zeigen: Es gibt keinen aufrichtigen Aufklärungswillen. Sie instrumentalisieren. Die Rede von Frau Storch war ein sensationelles Beispiel für Instrumentalisierung.
({7})
Warum ist es denn so? Ihre beiden Anträge beziehen sich ausschließlich auf die 1 200 Bescheide, die zugunsten von Flüchtlingen ergangen sind. Was ist denn mit den 32 500 Bescheiden, die von Gerichten korrigiert worden sind?
({8})
Kein Thema! Was ist mit den 4 500 Bescheiden, die das BAMF korrigiert hat?
Ich war in der Legislatur Berichterstatter für den Innenausschuss. Ich war schon dabei, als der Vorgänger von Herrn Weise abgelöst worden ist. Wir haben uns ständig über die Situation informieren lassen, und wir wussten, was für eine katastrophale Situation es war.
({9})
Es gibt ein Führungsversagen. Ja, es gibt ein Führungsversagen.
({10})
Ich will, dass das Führungsversagen auch aufgeklärt wird.
({11})
Die Situation im BAMF ist nicht vom Himmel gefallen. Natürlich gibt es Verantwortliche, die die Kürzung organisiert haben. Das ist die Wahrheit.
({12})
Jetzt sind die Beschäftigten die Leidtragenden. Auch das kann nicht sein. Die stehen kurz vor dem Kollaps.
Meine Kollegin Ulla Jelpke zum Beispiel stellt seit 2013 Anfragen zu den Altfällen. In den Antworten konnte man sehen, wie die Entwicklung ist. Die Regierungskoalition hätte handeln können.
Ich habe im April 2015 hier an diesem Platz gesagt: Es gibt Experten, die davon sprechen, dass 500 000 Menschen in diesem Jahr kommen können. – Auf der Regierungsbank hieß es von Herrn de Maizière: Linke Panikmache! – Frau Merkel hat den Kopf geschüttelt.
({13})
Ich habe gesagt: Jetzt müssen Sie investieren – 2 Milliarden war die Forderung –, auch ins BAMF. – Nichts haben Sie gemacht. Sie tragen als Regierungskoalition auch dafür Verantwortung, meine Damen und Herren.
({14})
Dass Horst Seehofer jetzt Aufklärungswillen zeigt, das überrascht mich nicht so sehr. Das ist noch mal eine schöne Kelle gegen die Kanzlerin. Aber das soll nicht mein Problem sein.
Ich will Ihnen Folgendes sagen: Mich stört besonders, dass die FDP hier so mitmacht. Wenn Sie wirklich aufklären wollen, machen Sie es anders! Das ist Verrat an liberalen Werten.
({15})
Dass wir bei einer solchen einseitigen und für das gesellschaftliche Klima nicht verantwortbaren Sicht nicht mitmachen, ist für uns selbstverständlich.
Herzlichen Dank.
({16})
Ich erteile das Wort der Kollegin Katrin Göring-Eckardt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Worum geht es? Ich will Ihnen sagen, worum es uns geht:
({0})
Uns geht es um Aufklärung. Uns geht es darum, dass Unregelmäßigkeiten, dass Missmanagement aufgeklärt werden, dass Fehlentscheidungen betrachtet werden, egal ob positiv oder negativ. Und da frage ich schon: Wo war eigentlich der Aufschrei im letzten Jahr, als es über 30 000 Fehlentscheidungen des BAMF gab, die gerichtlich zurückgenommen worden sind? Da gab es keinen Aufschrei, und das muss ich Ihnen vorwerfen.
({1})
Ich finde, das muss geändert werden. Wenn man sieht, dass das BAMF tatsächlich noch heute in keinem guten Zustand ist, und weil man vor den Jahren 2015/2016 manchmal den Eindruck haben musste – Herr Bartsch hat das gerade richtig ausgeführt –, die machen das mit Absicht, dass dieses Ding nicht richtig funktioniert, dann muss man sagen: Ja, das sollte aufgeklärt werden, und zwar jetzt und schnell.
({2})
Ab 2015 sollte es nur noch schnell gehen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben Zielvorgaben bekommen. Immer gab es neue Prioritäten. Das waren politische Entscheidungen der Großen Koalition, die dazu geführt haben. Das muss abgestellt werden, und zwar sehr grundsätzlich, meine Damen und Herren.
({3})
Herr Lindner, jetzt fragen Sie ja, warum wir eigentlich keinen PUA wollen. Das ist eine ganz einfache Sache: weil wir finden, dass unsere Aufklärungsstrategie die bessere, die schnellere und die vernünftigere ist. Sie ist nämlich nicht populistisch.
({4})
Die ersten Antworten liegen bereits auf dem Tisch, weil meine Kollegin Luise Amtsberg gefragt hat und über 50 Fragen mit über 50 Antworten versehen worden sind. Daran sehen Sie, dass es geht. So machen wir das übrigens schon seit Jahren hier in diesem Parlament, gemeinsam mit der Linken. Wir sagen: „Die Missstände müssen aufgeklärt werden“, und machen Vorschläge, wie das geht; denn genau das ist der Punkt.
({5})
Meine Damen und Herren von der FDP, Sie können sich ganz sicher sein: Wenn gemauert wird in der Bundesregierung, wenn da nicht aufgeklärt wird, wenn Unterlagen nicht eingesehen werden können und manche Frage, die wir an die Bundesregierung stellen, vielleicht dann doch wieder so beantwortet wird, wie wir es manchmal in der letzten Legislaturperiode erlebt haben, nämlich nicht, dann reden wir gern mit Ihnen. Aber wir reden mit Ihnen über einen vernünftigen Untersuchungsauftrag und nicht über das, was Sie jetzt hier machen.
({6})
Ich weiß, das hören Sie nicht gern – das hört auch der geschätzte Herr Kollege Thomae nicht gern –: Ihre Analyse und Ihre Ausrichtung teilen wir dezidiert nicht. Wenn Sie sich in die Reihe derjenigen stellen und sich denjenigen anschließen, die behaupten, es habe einen Rechtsbruch gegeben und es sei zu einer Grenzöffnung gekommen, dann empfehle ich Ihnen, genauso wie Beatrix von Storch: Lesen Sie wenigstens mal den Verfassungsblog. Lesen Sie die Debatte, die wir hier hatten, nach. Nein, das war kein Rechtsbruch; das war das, was wir in Europa gemeinsam haben – das ist eine echte Errungenschaft, meine Damen und Herren.
({7})
Das erwarte ich von Ihnen, dass Sie da umschwenken.
Eines wundert mich dann doch, Herr Lindner: dass Ihr Aufklärungswille erst mit dem Jahr 2014 beginnt. Da war doch auch irgendwas davor. Da waren Sie an der Regierung beteiligt. 2011 war der Arabische Frühling. Im gleichen Jahr sagte Innenminister Friedrich noch: Italien muss sein Flüchtlingsproblem selber regeln. 2012 hat die schwarz-gelbe Bundesregierung die Zahl der Stellen im BAMF erhöht. Um wie viel? Um 32 Stellen. Oder erinnern Sie sich an das Jahr 2013: Die Bürgermeisterin von Lampedusa sprach von ihrer Insel als dem größten Friedhof Europas.
Meine Damen und Herren von der FDP, ich finde, Sie bleiben die Antwort auf die Frage schuldig: Was hätten eigentlich Sie gemacht im Jahr 2015, und was hätten Sie davor, in Ihrer Regierungszeit, besser machen können?
({8})
Deswegen ganz klar und ganz eindeutig: Lassen Sie uns als Demokratinnen und Demokraten in diesem Hause gemeinsam dem Wahnsinn der AfD entgegenstellen, die das Land spalten will. Die wollen keinen Untersuchungsausschuss, die wollen auch keine Aufklärung. Die wollen ein Tribunal, und zwar ein Tribunal gegen die Menschlichkeit und die Solidarität in diesem Land.
({9})
Das werden wir nicht mitmachen, ganz klar und ganz eindeutig. Dazu, hoffe ich, habe ich auch Sie an meiner Seite.
({10})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Frauke Petry.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Betrug, Bestechung, Korruption – die Vorwürfe gegen das Bremer BAMF sind schwerwiegend. Mittlerweile überschlagen sich die Nachrichten über neue Delikte fast jeden Tag.
Die Dienststelle hat zwischen 2013 und 2017 eine große, vierstellige Anzahl von Asylanträgen ohne rechtliche Grundlage positiv beschieden. Dolmetscher, Ärzte, Anwälte erhielten Provisionen, wenn sie die Identitäten der Antragsteller fälschten. Ja, dass man sogar potenziellen islamischen Terroristen Asyl gewährte. Diese Skandale, die alle aus dem gleichen Motto erfolgten: „Tempo statt Sorgfalt“, dürften nur die Spitze des Eisberges bilden.
Herr Bartsch, ich glaube, Die Linke hat ein Demokratieproblem.
({0})
Nicht drei Fraktionen, nein – Sie haben es selbst gesagt –, 178 Abgeordnete dieses Bundestages können einen Untersuchungsausschuss beantragen.
({1})
Es ist schade, dass in diesem Haus immer wieder die Möglichkeiten des einzelnen Abgeordneten hinter die Fraktionsdisziplin zurückgestellt werden. Vielleicht haben Sie aber auch nur Angst vor Ihrer Kollegin Sahra Wagenknecht, die selbst schon gesagt hat, sie würde unter bestimmten Bedingungen einen Untersuchungsausschuss für sinnvoll halten.
Meine Damen und Herren, wer in diesem Haus tatsächlich Aufklärung für die Bürger über diesen Skandal möchte, der sollte in jedem Fall völlig unabhängig von seiner Fraktionszugehörigkeit einem solchen Antrag zustimmen und nicht die eine oder andere Fraktion gegeneinander ausspielen.
({2})
Alles andere – das wissen Sie, meine Damen und Herren – ist nichts anderes als niedrige taktische Parteipolitik.
Herzlichen Dank.
Der nächste Redner ist der Kollege Michael Frieser, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kollegen! Ich stelle mal fest: Zumindest das Bedürfnis nach Aufklärung eint uns, weil wir mit den Vorkommnissen vor allem in Bremen, aber auch insgesamt im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge etwas erleben müssen, was das fundamentale Vertrauen der Menschen in diesen Staat, in sein Verwaltungshandeln erschüttert hat. Das ist unbestritten.
Ich glaube, wir erleben im Augenblick, dass der Innenausschuss des Deutschen Bundestages an dieser Stelle eine ganz wichtige Arbeit leistet. Das, was wir in den letzten Tagen und Wochen erlebt haben, ist etwas, was eine gewisse Historie in dieser Parlamentsgeschichte darstellt. Dazu gehört der Aufklärungswille des Bundesinnenministers; an der Stelle bitte ich, den herzlichen Dank auszurichten. Ebenso einen herzlichen Dank an die Innenausschussvorsitzende, Andrea Lindholz; auch so kann man parlamentarische Arbeit leisten: indem sie tatsächlich aufklärt und Beiträge leistet.
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Das ist genau der Punkt: Dieses Parlament hat in seiner Geschäftsordnung ein mehrstufiges Verfahren. Im Grunde macht der Innenausschuss genau das, was im Augenblick notwendig ist.
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Wenn man einen Untersuchungsausschuss haben will, dann sollte man abwarten, was der Innenausschuss jetzt Schicht für Schicht abräumt. Vielleicht bleibt am Ende übrig, was im öffentlichen Interesse in einem Untersuchungsausschuss zu klären wäre. Deshalb – das muss ich sagen –: Seien Sie dankbar, dass der Innenausschuss im Augenblick ihre Arbeit macht, nämlich dass er aufklärt und am Ende des Tages gegebenenfalls zum Ergebnis kommt: Ja, ein Untersuchungsausschuss ist noch notwendig. Und wenn er notwendig ist, dann machen wir es. Aber im Augenblick muss man deutlich sagen: Ein Untersuchungsausschuss geht weit über die normalen Befugnisse des Parlaments hinaus. Zwangsbefugnisse, Vorladungen von Zeugen, Einsicht in Akten – das bedeutet Macht, und Macht fordert Verantwortung.
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Dieser Verantwortung, meine sehr verehrten Damen und Herren, sehe ich im Augenblick noch nicht Genüge getan. Es muss exakt und präzise formuliert werden, was ein solcher parlamentarischer Untersuchungsausschuss tatsächlich leisten kann und leisten soll. Deshalb hat er Verfassungsrang; deshalb gibt es ein eigenes Gesetz, wo genau das drinsteht. Es tut mir furchtbar leid, wenn ich das in dieser Klarheit als Ergebnis sagen muss: Beide Anträge, sowohl von der FDP als auch von der AfD, sind erstens rechtswidrig und zweitens verfassungswidrig.
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Ich darf noch mal auf die Voraussetzungen für einen Untersuchungsausschuss hinweisen: öffentliches Interesse, Befassungskompetenz des Deutschen Bundestages, das Bundesstaatsprinzip, das Rechtsstaatsprinzip und die Gewaltenteilung. Ich will es wahrlich nicht ganz aufbrechen, aber ein paar Beispiele müssen wir schon nennen. Herr Thomae, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze, aber die Anträge lesen sich so, als hätten beide Fraktionen von diesen Prinzipien noch nie etwas gehört.
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Für den Versuch, sich in den exekutiven Handlungsspielraum der Regierung, also den Freiraum, wie eine Regierung untereinander arbeitet, hineinzumogeln – nicht dass ich das von der AfD anders erwartet hätte; aber von der FDP hätte ich es nicht erwartet –, hätte ich sogar noch Verständnis, obwohl es sich um den Kernbereich exekutiven Handelns handelt – das muss die FDP mit ihrem liberalen Gewissen ausmachen –, aber zu der Forderung, die Entscheidungen von Verwaltungsgerichten in einem Untersuchungsausschuss überprüfen zu lassen – also die Kontrolle von Gerichten dem Parlament zu übertragen –, sage ich: Bis hierher und keinen Schritt weiter.
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Gerichte sind unabhängig, und Richter entscheiden frei in diesem Land. Daran wird sich auch nichts ändern, schon gar nicht durch diese Anträge.
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Dass sich der AfD-Antrag wie ein Erlebnisaufsatz liest – meine Güte! –, auch das war vielleicht zu erwarten, dieses namenlose Aufführen von Behörden, die Forderung: „Alle werden überprüft“. Ich weiß gar nicht, wie viel Zeit Sie glauben zu haben. Allein das, was in Ihrem Antrag steht, abzuarbeiten – glauben Sie uns aus berufenem Munde aus Untersuchungsausschüssen – würde, ich sage mal, grob geschätzt ungefähr 14 Jahre dauern.
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Und die Mehrheit dieses Parlaments wird dafür sorgen, dass das gar nicht funktionieren wird, weil Sie sich zum Beispiel an der Untersuchungskompetenz der Länder vergehen, an der Frage: Was regeln die Länder mit den Kommunen? Das ist alles etwas, was nicht zur Befassungskompetenz des Deutschen Bundestages und deshalb auch nicht in einen Untersuchungsausschuss gehört.
Und ich muss sagen – Patrick Schnieder hat es schon gesagt –: Wenn man eh schon weiß, was rauskommt, wozu braucht man dann eigentlich noch einen Untersuchungsausschuss? Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie in der Früh um halb vier oder um halb fünf die Zeugen befragen, dann wissen Sie nach 14, 15, 16 Stunden Zeugenvernehmung, dass ein Untersuchungsausschuss nicht der Ort für Provokationen und Tribunale ist. Da lassen wir uns auch nicht in die Irre führen.
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Im Augenblick ist es weder hinreichend bestimmt noch in irgendeiner Art und Weise abgrenzbar, was dort gemacht werden soll. Es ist klassischer Wahlkampf, hat mit parlamentarischer Arbeit leider nichts mehr zu tun. Ich kann Ihnen nur sagen: Diese ganzen Vorschriften haben einen Grund, nämlich dass man effektiv und effizient einem Thema näherkommt, dass man wirklich aufklären will. Diese beiden Anträge von AfD und FDP tun genau das Gegenteil: Sie klären nicht auf, sie erwecken sogar den Eindruck, dass sie daran gar kein Interesse haben. Das können wir nicht zulassen. Wir wollen, können und dürfen nicht einfach mit Siebenmeilenstiefeln darüber hinweggehen. Deshalb ist es wichtig, dass wir Ihnen im Geschäftsordnungsausschuss die Zeit geben, noch mal darüber nachzudenken, das heißt: Nachsitzen. Derweil macht der Innenausschuss des Deutschen Bundestages Ihre Arbeit. Wir hoffen, dass dann kein rechtswidriger und verfassungswidriger Antrag mehr übrig bleibt.
Vielen Dank.
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Ich rufe den letzten Redner zu diesem Tagesordnungspunkt auf, den Kollegen Uli Grötsch für die SPD-Fraktion.
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Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass man im Fortgang dieser Debatte gemerkt hat, wie sensibel das Thema, über das wir hier reden, trotz allem ist und wie wichtig es ist, dass man differenziert auf das Thema blickt und – vor allem – nicht alle über einen Kamm schert.
Wer sich hier vorne hinstellt und über Verschwörungstheorien redet und pauschal vom BAMF-Versagen spricht, der redet den Rechtspopulisten das Wort, liebe Kolleginnen und Kollegen, weil die Tatsachen doch etwas anders aussehen.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist von etwa 2 000 Mitarbeitern im Jahr 2015 auf knapp 10 000 Mitarbeiter heute so schnell aufgewachsen wie vor ihm wohl noch keine andere Behörde in der Geschichte dieses Landes. Deshalb und weil sie in einer in diesem Land einmaligen Situation waren und unter einem öffentlichen und auch politischen Dauerdruck standen, der – auch das gehört zur Wahrheit – ja auch von diesem Haus ausging, haben die Mitarbeiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge alles in allem in den Jahren 2015, 2016 und 2017 eine schier unglaubliche Leistung vollbracht. Die Steigerung von 130 000 Asylentscheiden noch im Jahr 2014 auf mehr als 700 000 Asylentscheidungen im Jahr 2016 ist eine Leistung, die hier an dieser Stelle auch einmal gewürdigt werden darf, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Keine Behörde stand jemals so unter politischem Druck, wie das beim BAMF der Fall war. Als die Bundeskanzlerin „Wir schaffen das“ gesagt hat,
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hat sie sich – da bin ich mir sicher – auch auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im BAMF, auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei den Polizeien, bei den Stadtverwaltungen, bei den Landratsämtern, auf die vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer verlassen. Sie und ganz sicher nicht zuletzt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im BAMF waren es, die das, was die Kanzlerin damals gemeint hat, geschafft haben.
Meiner Meinung nach ist das, was in diesen Jahren im Bereich Asyl und Flucht, egal von welchem Akteur, geleistet wurde, nichts anderes als eine historische Leistung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich möchte auch ein paar Sätze zur Rolle des Dienstherrn, zur Rolle der Dienst- und Fachaufsicht in diesem Themenfeld sagen. Ich habe mir gestern die Berichterstattung zur Personalversammlung im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angeschaut. Ich finde es schon ein Stück weit traurig: Die Mitarbeiter dort sind von Ihrem Haus, Herr Mayer, vom Haus des Bundesinnenministers Seehofer enttäuscht. Es herrscht der Eindruck, dass Sie nicht hinter den Mitarbeitern stehen und dass das ganze BAMF als eine Chaostruppe dargestellt wird. Ein guter Dienstherr stellt sich hinter seine Behörde und differenziert klar und deutlich und schert nicht alle über einen Kamm.
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Es ist nicht das BAMF, es sind einzelne Mitarbeiter im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die falsch gehandelt haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Man darf auch einmal erwähnen: Wenn es jetzt darum gehen soll, 3 200 befristete Stellen im BAMF zu entfristen, dann sind wir, die SPD-Bundestagsfraktion, an Ihrer Seite. Hätten wir die befristeten Beschäftigungsverhältnisse schon abgeschafft, dann müssten wir darüber vielleicht gar nicht mehr reden.
Ich sage Ihnen zum Ende: Die Vorkommnisse in der Bremer Außenstelle müssen natürlich aufgeklärt werden. Der Innenausschuss ist ohne Zweifel der richtige Ort, um die für das Parlament relevanten Fragen zu stellen.
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Die Fach- und Dienstaufsicht sind aber Sie, Herr Mayer; das ist das Bundesinnenministerium. Sie sind der politisch Verantwortliche. Setzen Sie einen Sonderermittler ein! Das gab es auch in anderen Zusammenhängen schon. Setzen Sie eine Kommission ein, die die richtigen Fragen stellt, die für die Exekutive und für uns alle von Interesse sind! Dann kann es in diesem Bereich schneller zur Aufklärung kommen, als es manchem heute vielleicht lieb ist.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksache 19/2524 und 19/2392 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident, vielen Dank. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir über den Libanon reden, geht es Ihnen wahrscheinlich ähnlich wie mir: Man erinnert sich an die Bilder von Bürgerkrieg, von Attentaten, von Milizen, die sich gegenseitig bekämpft haben. Angesichts der Geschichte, aber auch der Komplexität des Landes mit alleine 18 Religionsgemeinschaften mutet es fast schon wie ein kleines Wunder an, dass es dem Land gelungen ist, sich von den Konflikten der Region, gerade im Nachbarland Syrien, etwas abzukoppeln und sich im Wesentlichen herauszuhalten.
Meine Damen und Herren, ja, es hat Situationen gegeben, auch in der jüngeren Geschichte des Libanon, wo wir uns ernsthaft Sorgen machen mussten um die Ruhe und Stabilität des Landes. Wir erinnern uns an die Episode des Rücktritts von Ministerpräsident al-Hariri. Es gab dabei mit Sicherheit einen Zusammenhang mit der sozusagen regionalen Auseinandersetzung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Es gab Waffenstillstandsverletzungen, Drohgebärden der Hisbollah, auf die Israel verständlicherweise hochsensibel reagiert hat. Aber trotz dieser Vorzeichen ist es gelungen, Probleme einzudämmen und die Stabilität des Landes aufrechtzuerhalten, nicht zuletzt deshalb – das ist nicht der einzige Grund, aber doch ein wesentlicher Grund –, weil wir mit UNIFIL ein Instrument geschaffen haben, das Gespräche zwischen den Konfliktparteien ermöglicht hat. Allein das hat mit zur Stabilität beigetragen. Deswegen bleibt UNIFIL ein wichtiges Element zur Stabilisierung des Landes, aber auch der Region insgesamt.
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Wir haben als Bundesrepublik Deutschland einen Beitrag geleistet. Nach dem Krieg zwischen dem Libanon und Israel – man muss ja eigentlich sagen: der Hisbollah und Israel – 2006 gab es ja nicht nur Vermittlungsbemühungen der damaligen Bundesregierung, sondern wir haben uns dann auch mit einem großen Kontingent an dieser UN-Mission beteiligt. Ich hatte mehrfach die Gelegenheit, das Einsatzkontingent zu besuchen. Viele von Ihnen haben das in den letzten Jahren auch getan. 2017 war ich das letzte Mal in Naqura an der südlichen Grenze des Libanon, eine Region, die, wie Sie alle wissen, ausgesprochen instabil und politisch problematisch ist. Das Engagement der Soldatinnen und Soldaten, auch das Engagement der internationalen Gemeinschaft, die sich dort zusammengetan hat – im Moment unter Führung eines irischen Generals –, hat mit drei wesentlichen Elementen zur Stabilität beigetragen.
Erstens, meine sehr verehrten Damen und Herren, geht es um die Funktion von UNIFIL als Deeskalations- und Kommunikationskanal; darauf habe ich schon hingewiesen. Durch Diplomatie und Vermittlung arbeitet UNIFIL daran, und zwar ganz konkret, Spannungen abzubauen. An der Blue Line – das ist sozusagen die Demarkationslinie, die Waffenstillstandslinie, die damals vereinbart worden ist – gibt es tägliche Patrouillen. Es gibt aber vor allem ein Instrument, das bemerkenswert ist: einen Dreiparteienmechanismus, über den die Vertreter des Libanon und der israelischen Armee zwar nicht offiziell, aber sozusagen über die Vermittlung der Vereinten Nationen miteinander kommunizieren. Wir alle wissen, dass dort de facto miteinander geredet wird, und zwar ganz konkret über die Lage an der Grenze. Das ist ein wichtiger Beitrag, den wir dort leisten. Denn wir dürfen ja nicht vergessen: Es handelt sich lediglich um einen Waffenstillstand. Es gibt keinen politischen Prozess zwischen Israel und dem Libanon. Der Kriegszustand ist der aktuelle Zustand. Er währt fort. Deswegen ist es ganz wichtig, dass diese Möglichkeiten bestehen. Beide Staaten erkennen sich gegenseitig nicht an. Land- und Seegrenze – auch das übrigens durchaus ein Problem – sind nicht festgelegt. Aber beide Seiten akzeptieren in der Regel UNIFIL. Deswegen ist dieser Streitschlichtungsmechanismus wichtig, der nur unter dem Dach der Vereinten Nationen stattfindet. Ich glaube, es wäre ein Risiko, das wir nicht eingehen sollten, UNIFIL gerade in der aktuell angespannten Situation von dort zurückzuziehen. Denn es gibt weiterhin, zum Teil täglich, Verletzungen der Waffenruhe. UNIFIL berichtet über diese Verletzungen. Sie schickt Patrouillen in die Region. Wir haben eine verstärkte Patrouillentätigkeit. Die Berichterstattung, die der internationalen Gemeinschaft Informationen vermittelt und uns zur Verfügung stellt als neutrale Quelle in einer von parteilicher Berichterstattung geprägten Region, ist deswegen umso wichtiger.
Zweitens – das muss man auch ansprechen, weil es den größten Teil der Arbeit ausmacht – geht es um die Unterbindung des Waffenschmuggels von See. Dabei hilft es, die Ausrüstung von Gruppen zu verhindern, die destabilisierend wirken können. Es ist natürlich ein Beitrag zur Stabilität des Landes, übrigens auch der militärischen Strukturen der libanesischen Marine, die wir ebenfalls unterstützen. Es ist aber auch mir jedenfalls wichtig, zu sagen: Es ist auch ein Beitrag zur Sicherheit unserer israelischen Partner. Deswegen darf ich darauf hinweisen, dass dieser Beitrag zwei Komponenten hat: UNIFIL sichert maritim die Seeseite ab. Es gibt nur noch vereinzelt Waffenschmuggel, über den berichtet wird, und wir leisten einen Beitrag – auch das habe ich erwähnt –, die Marine auszustatten und auszurüsten. Das ist, glaube ich, ebenfalls wichtig.
Der dritte Aspekt, den ich erwähnen muss – ihn kann man gar nicht ignorieren –, ist, dass wir es hier mit einem Land zu tun haben, das große Sorge, vielleicht sogar offene Angst davor hat, dass der Konflikt erneut ausbrechen könnte, ein Land, das selber unverschuldet in die Situation geraten ist, das über 1 Million Flüchtlinge aus dem Nachbarland Syrien aufgenommen hat. Das ist eine enorme Leistung. Sie wissen, der Libanon ist ein kleines Land. Er hat etwa 4 Millionen Einwohner. Es ist ein Land, das 15 Jahre Bürgerkrieg hinter sich hat und dessen Belastungsgrenze längst erreicht ist. Angesichts dieser Situation, auch der politischen und konfessionellen Spannung, ist dies ein Aspekt, den man erwähnen muss.
Deswegen betten wir unser sicherheitspolitisches Engagement in ein politisches Engagement ein. Wir unterstützen die libanesische Regierung bei der Bewältigung dieser Flüchtlingskrise ganz konkret. Ich glaube, es geht insgesamt auch um ein politisches Zeichen, das wir damit aussenden, dass wir die Menschen dort nicht vergessen haben. Es gibt viele Beispiele. Wir haben Bildungsprogramme und Infrastrukturinvestitionen unterstützt. Die Beschulung, gerade auch die der Flüchtlinge, ist eine konkrete Entlastung des libanesischen Staates insgesamt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, insgesamt haben wir rund 380 Millionen Euro allein im Jahr 2017 in die Entwicklung des Libanon investiert.
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Das ist eine beträchtliche Summe. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal die Gelegenheit nutzen, dem Deutschen Bundestag dafür zu danken, dass die Bundesregierung in der Lage war, diese Gelder auch bereitzustellen. Es geht beispielsweise um die Einrichtung von Schulgebäuden. Ich habe darauf hingewiesen: Wir kooperieren an dieser Stelle auch mit UNICEF. Wasserinfrastruktur ist ganz wichtig. Wenn ich das noch einmal sagen darf, auch aus der Erfahrung zahlreicher Besuche in der Region – mit dem Kollegen Nouripour habe ich einige dieser Reisen gemeinsam gemacht –: Es ist wichtig, zu erläutern, dass wir den Flüchtlingen im Libanon helfen, aber auch immer daran denken, dass den Kommunen, den Gemeinden, von denen die Menschen aufgenommen worden sind, diese Leistungen zur Verfügung stehen, damit die Akzeptanz nicht weiter leidet. Das ist ganz, ganz wichtig.
Deswegen lassen Sie mich abschließend sagen: UNIFIL ist eine Operation, die unter extrem schwierigen Bedingungen erfolgreich gearbeitet hat und die uns die Möglichkeit bietet, fragile Annäherung, vorsichtige Annäherung zwischen Konfliktpartnern zu unterstützen. Sie bietet Informationen für eine politische Bewertung, die möglicherweise in den nächsten Wochen und Monaten noch wichtiger werden kann. Deswegen freuen wir uns auf eine Auseinandersetzung, die wichtig ist. Ich darf Sie herzlich bitten, diesem Antrag der Bundesregierung zuzustimmen und damit auch ein Signal an unsere Soldatinnen und Soldaten auszusenden, die in einer gefährlichen und schwierigen Region einen hervorragenden Job machen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Staatsminister. – Ich erteile das Wort für die AfD-Fraktion dem Kollegen Petr Bystron.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Freunde! Wir sollen heute entscheiden, ob der Einsatz deutscher Soldaten im Libanon noch einmal verlängert wird. 300 unserer Soldaten sind in diesem Moment im Libanon stationiert. Am Deck der Korvette „Magdeburg“ sollen sie libanesische Küstengewässer kontrollieren. Es stellt sich natürlich die Frage: Warum? Die Bundesregierung nennt dazu drei Gründe.
Erstens: um den Transport von Waffen ins libanesisch-israelische Grenzgebiet und den Schmuggel von Waffen zu unterbinden. Das war vielleicht ein hehres Ziel, als man die Mission aufgesetzt hatte, heute weiß man jedoch ganz genau, dass die Waffen an Land durch Syrien geschmuggelt werden. Also entfällt dieser Grund.
Der zweite Grund ist, eine Grenze zu sichern. Da wird es noch interessanter. Das ist eine Grenze, über die Sie selbst schreiben – ich zitiere aus dem vorliegenden Antrag der Bundesregierung –:
Derzeit haben weder Israel noch Libanon Interesse an einer gewaltsamen Eskalation …
Zusammengefasst: Wir sollen Waffenschmuggel unterbinden, der dort nicht stattfindet, und einen Konflikt zwischen zwei Parteien vermeiden, von denen keine ein Interesse an einem Konflikt hat.
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– Ich komme darauf zurück, wer sich dieses Mandat wünscht und warum. Danke für den Einwurf. – Die letzten einsatzfähigen Einheiten der sonst von Ihnen kaputtgesparten Truppe sollen irgendwo hingeschickt werden, wo sie garantiert nicht gebraucht werden. Das mag vielleicht einer Bundesregierung sinnvoll erscheinen, über die in der ganzen Welt gespottet wird, dass ihre Verteidigungsministerin mehr Kinder hat als ihre Armee einsatzfähige Kampfflugzeuge.
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Wir als Opposition halten den Einsatz nicht für sinnvoll;
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denn er kostet Geld. Unsere Bürger mussten in den zurückliegenden zwölf Jahren für diesen Einsatz fast 700 Millionen Euro bezahlen.
Jetzt komme ich auf Ihren Einwurf zurück. Die Einzige, die vom Verbleib unserer Soldaten in der Region profitiert, ist die Hisbollah; denn ein Großteil dieses Geldes wird in der Region ausgegeben. Das ist für die regierende Hisbollah im Libanon ein willkommenes Konjunkturprogramm. Das wollen die natürlich nicht missen; aus deren Sicht verständlich, aus unserer Sicht sicher nicht.
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Wenn Sie Grenzen sichern wollen, dann setzen Sie die Schiffe im Mittelmeer ein, damit unsere Soldaten Seite an Seite mit unseren italienischen Freunden die Außengrenzen Europas sichern.
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Beschützen Sie zuerst Europas Grenzen, bevor Sie die Bundeswehr völlig sinnlos zu Einsätzen in die Welt schicken, bei denen sie nicht gebraucht wird.
Zum dritten Grund: strategisches Interesse an dauerhaftem Frieden und Stabilität in der Region. Die Mission läuft seit 40 Jahren, seit 12 Jahren mit deutscher Beteiligung. Die Region ist trotzdem eine der instabilsten der Welt, vielleicht sogar der Krisenherd Nummer eins.
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Wenn Sie also wirklich Interesse an dauerhaftem Frieden und Stabilität in der Region haben, dann unterstützen Sie nicht die völkerrechtswidrigen Bombardements der Amerikaner wie neulich in Syrien. Und wenn Sie lernen wollen, wie man einen bewaffneten Konflikt in der Region löst, dann schauen Sie sich das von den Russen ab. Die haben das in Syrien eindrucksvoll bewiesen.
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Bevor Sie sich wieder anschicken, irgendwo in der Welt unser strategisches Interesse an einem dauerhaften Frieden und Stabilität in der Region – –
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Von wem?
Von dem Kollegen von den Grünen.
Ich gestatte gerne Fragen von allen Kollegen aus demokratischen Parteien, aber von den Grünen nicht.
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– Wir wissen doch ganz genau, wer in diesem Land hetzt und Hass sät, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen.
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– Lassen Sie uns das jetzt einmal würdig und ernsthaft zu Ende bringen, trotz Ihrer Zwischenrufe.
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Wenn Sie noch einmal Interesse an einem dauerhaften Frieden haben und Stabilität irgendwo in einer Region durchsetzen wollen, dann sorgen Sie zuerst für Frieden und Stabilität in Kandel, mitten in Berlin, am Breitscheidplatz, oder aktuell in Wiesbaden. Unsere Bevölkerung wird es Ihnen danken.
Danke schön.
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Der nächste Redner ist für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Silberhorn.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute über die Fortsetzung der Beteiligung der Deutschen Bundeswehr an der UN-Mission UNIFIL beraten, dann müssen wir nicht nur die Lage im Libanon, sondern die Lage in der gesamten Region in den Blick nehmen. Im Nachbarland Syrien geht ein brutaler Krieg ins achte Jahr. Ich verbitte mir, dass hier über das Völkerrecht in Bezug auf diesen Krieg und auf Russland doziert wird von einer Fraktion, die nicht nur unter den Bildern Assads Hände schüttelt, sondern die genau wie wir alle wissen muss, dass dort Chemiewaffen eingesetzt worden sind, dass dort Fassbomben eingesetzt worden sind,
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dass dort Schulen und Krankenhäuser aus der Luft bombardiert worden sind – in einem Land, in dem das von Ihnen zitierte Russland die vollständige Luftraumüberwachung innehat.
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Neben diesem Krieg in Syrien leidet die gesamte Region unter Spannungen, die unmittelbare Auswirkungen auf den Libanon haben. Die Hisbollah gewinnt an Einfluss und trägt durch ihre Rolle in den Konflikten, aber auch im Libanon selbst, unmittelbar zur Instabilität bei. Hinzu kommt: Der Libanon hat – das ist schon angesprochen worden – mehr als 1 Million Flüchtlinge aus seinem Nachbarland aufgenommen. Das ist eine höchst anerkennenswerte Leistung, die aber dazu führt, dass dieses Land an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gestoßen ist. Deswegen sollten wir auf all den Ebenen, auf denen wir tätig sind – auch in der Entwicklungspolitik und der Außenpolitik –, alles tun, um den Libanon bei der Bewältigung dieser Aufgabe zu unterstützen. Das liegt auch in unserem eigenen Interesse.
Meine Damen und Herren, angesichts der Situation bleibt die Lage im Libanon volatil. Es gibt aber auch positive Entwicklungen. Am 6. Mai dieses Jahres fanden die ersten Parlamentswahlen seit 2009 im Libanon statt. Sie wurden von der Beobachtungsmission der Europäischen Union als fair und frei eingestuft. Das ist ein wichtiger Erfolg für den Libanon. Dieser Erfolg ist auch der Arbeit der UN-Friedensmission UNIFIL zu verdanken.
Die Mission UNIFIL setzt sich mit derzeit rund 11 000 Soldatinnen und Soldaten aus 41 Ländern für einen dauerhaften Waffenstillstand zwischen Israel und dem Libanon ein. Die Rolle von UNIFIL als Puffer im Süden des Libanon und als wichtiger Vermittler zwischen beiden Ländern bleibt unverzichtbar. Mit der Bundeswehr beteiligen wir uns seit 2006 an der maritimen Komponente von UNIFIL. Zweck unserer Beteiligung ist zum Ersten, die libanesische Marine bei der Überwachung der Seegrenzen zu unterstützen, und zum Zweiten, den Aufbau der libanesischen Marine zu befördern, damit sie selbst zum Schutz ihrer eigenen Seegrenzen befähigt wird.
Unser Engagement bei UNIFIL ergänzen wir durch bilaterale Maßnahmen zur Ertüchtigung und Ausbildung der libanesischen Marine in enger Absprache mit den Verantwortlichen vor Ort. Meine Damen und Herren, ich konnte mir vor wenigen Tagen ein Bild davon direkt vor Ort machen. Ich habe mit den libanesischen Verantwortlichen gesprochen. Ich habe die Besatzung unserer Korvette „Magdeburg“ auf ihrer letzten Reise von Beirut nach Limassol begleiten können. Die Besatzung der Korvette „Braunschweig“ hat jetzt übernommen. Beiden Besatzungen möchte ich ausdrücklich danken für ihren großartigen Einsatz.
Ich möchte in meinen Dank die Besatzung des Bootes „Tabarja“ einbeziehen. Dieses Boot wurde der libanesischen Marine von der Bundeswehr zur Verfügung gestellt und ertüchtigt; wir haben auch die Besatzung dieses Bootes ausgebildet. Wenige Tage vor meinem Besuch konnte die Besatzung mit Boot von uns zertifiziert werden, sodass sie jetzt selbstständig in den libanesischen Hoheitsgewässern patrouillieren. Das ist ein sichtbarer Erfolg unserer Bemühungen.
Wir können zwar noch nicht abschätzen, wann die libanesische Marine in der Lage sein wird, die Grenzen ihrer Hoheitsgewässer selbstständig zu schützen. Aber ich bin mit Blick auf die Erdöl- und Gasvorkommen an der Küste ganz zuversichtlich, dass es ein erhebliches eigenes Interesse des Libanon gibt, die Marinekräfte weiter zu stärken. Bis dahin allerdings bleibt die Mission UNIFIL auch mit der maritimen Komponente weiterhin für die Sicherheit und Stabilität des Libanon erforderlich. Mit unserer weiteren Teilnahme an UNIFIL tragen wir auch zur regionalen Stabilität im Nahen Osten bei. Das Mandat selbst bleibt unverändert. Ich bitte Sie daher im Namen der Bundesregierung um Ihre Unterstützung für den heute vorliegenden Antrag.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist der Kollege Christian Sauter für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Routineeinsatz auf einem Pulverfass“, so haben Vertreter des Auswärtigen Amts in dieser Woche den Einsatz deutscher Soldaten bei UNIFIL bezeichnet. Wenn wir das Umfeld betrachten – den Bürgerkrieg in Syrien unter Beteiligung lokaler Mächte, diverser europäischer Staaten, der Vereinigten Staaten von Amerika und Russlands, Hisbollah-Erfolge und die politisch brisante Entwicklung im Libanon –, dann muss man dieser Umschreibung wohl zustimmen. Es mag ein Routineeinsatz sein; die äußeren Umstände, insbesondere der Krieg in Syrien, sind aber in der Tat ein Pulverfass. Dementsprechend machen wir uns die Entscheidung über diese Mission nicht leicht.
Die deutsche Marine ist derzeit mit einer Korvette beteiligt. Für solche küstennahen Einsätze sind diese Schiffe besonders gut geeignet. Schnellboote und Tender haben diesen Einsatz in der Vergangenheit abgeleistet. Hierfür gilt in erster Linie den beteiligten Soldatinnen und Soldaten unser Dank.
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Aktuell ist es die Korvette, die von Limassol aus ihren Verpflichtungen nachgeht. Umso wichtiger ist es, die Beschaffung eines zweiten Loses der Korvetten zu beschleunigen und der deutschen Marine die Mittel, die sie braucht, an die Hand zu geben.
UNIFIL ist also ein Einsatz in der Peripherie eines der umfassendsten offenen Konflikte in unserer Nachbarschaft, ein Einsatz in einer höchst komplexen Umgebung, wie die Vielzahl von Zwischenfällen in den vergangenen Jahren zeigt.
Fest steht, dass unser Partner in diesem Einsatz, die Libanesische Republik, auf Unterstützung angewiesen ist. Auch Israel begrüßt den Einsatz. Denn die Streitkräfte des multireligiösen Staates sind nicht in der Lage, die im Land ansässige Hisbollah in Schach zu halten. Diese bedroht von einem sicheren Rückzugsgebiet im Süden des Landes insbesondere Israel und damit auch die Bevölkerung des Libanon. Dieses Problem wird durch unsere Ausbildungsbemühungen adressiert; darauf werde ich später noch zu sprechen kommen.
Den Waffenzufluss über den Seeweg abzuschneiden, ist der erste wesentliche Zweck der deutschen Beteiligung an UNIFIL. Soweit bekannt, wird dieser Auftrag auch absolut erfüllt. Grundsätzlich sollte die Bundesregierung aber auf Ebene der Vereinten Nationen darauf drängen, dass der landgebundene Waffenschmuggel aus dem Iran über Syrien in den Libanon unterbunden wird.
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UNIFIL hat außerhalb des Bereiches des Mandats der Bundeswehr auch Mängel. Wenn wir Waffenrouten unterbinden, aber zusätzliche Alternativrouten existieren, dann hat der UN-Einsatz insgesamt Probleme in seiner Konstruktion. Dem müssen wir uns widmen. Dennoch überwiegen die Argumente für eine deutsche Beteiligung. Denn neben der Überwachung des Seeraumes und der Verhinderung von Waffenschmuggel auf dem Seeweg werden auch libanesische Soldaten ausgebildet; die Kollegen haben es eben erwähnt. Das ist wichtig. Denn stabile, wehrhafte und demokratisch legitimierte staatliche Institutionen im Libanon zu erhalten und auch zu stärken, liegt in unserem Interesse.
Dazu gehört vor allem die Stärkung der Streitkräfte. Denn nur mit einer funktionierenden demokratischen Kontrolle unterliegenden Streitkräften kann der Bedrohung begegnet werden. Das ist das, worum es letztlich geht.
Die FDP-Fraktion ist dem Einsatz gegenüber positiv eingestellt und wird zustimmen.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort nun der Kollege Stefan Liebich.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie wissen ja: Die Fraktion Die Linke ist bei Militäreinsätzen kritisch. Das wird auch so bleiben. Allerdings gibt es hier eine Ausnahme.
Als dieser Einsatz im Jahr 2006 beschlossen wurde, war das eine gute Entscheidung. Es war gut, dass die UNO damals noch stark war und dass der UN-Sicherheitsrat in der Lage war, gemeinsame Entscheidungen zu treffen und auch durchzusetzen. Davon können wir heute gar nicht mehr träumen.
Unser Kollege Wolfgang Gehrcke – einige kennen ihn noch – hat im Jahr 2011 hier formuliert: Ohne das UNIFIL-Mandat hätte es den Waffenstillstand im Libanon nicht gegeben. Es war notwendig.
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– Er hat ihm trotzdem nicht zugestimmt. Da erinnert sich der Kollege Trittin richtig,
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und deswegen werde ich auch diesen Teil noch mal erklären.
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Das werde ich mit einem Zitat tun.
Ich denke, dass schon vor dem Hintergrund unserer deutschen Geschichte die Frage beantwortet werden muss: Ist es ... klug, deutsche Soldaten, bewaffnete deutsche Soldaten, in den Nahen Osten zu schicken? Und da sage ich gemeinsam mit den früheren Außenministern Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher Nein.
Das war damals die Argumentation von Guido Westerwelle, und es war auch die Argumentation unserer Fraktion. Guido Westerwelle hat dann später als Außenminister seine Meinung geändert, wir sind bei unserer Meinung geblieben. Deutsche Soldaten haben im Nahen Osten nichts zu suchen.
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Dieser Einsatz wird hier Jahr für Jahr verlängert. Was hier als große Kontroverse begonnen hat – damals ist noch die Bundeskanzlerin in die Bütt gegangen; es gab heftige Auseinandersetzungen; es war schließlich der erste Einsatz überhaupt, bei dem deutsche Soldaten in den Nahen Osten geschickt wurden –, ist es inzwischen tatsächlich – darauf hat der Kollege Sauter ja hingewiesen – ein bisschen Routine geworden, obwohl der Einsatz eben auf einem Pulverfass stattfindet. Wir sind uns sicherlich einig: Auslandseinsätze der Bundeswehr sollten niemals Routine werden.
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Wer Hunderte junge Männer und Frauen auf eine lebensgefährliche Mission schickt, der muss gut begründen, warum das geschieht. Schließlich wird hier in dem Begründungstext auch ausdrücklich darauf verwiesen, dass der Einsatz militärischer Gewalt genehmigt wird. Deshalb darf man nach elfeinhalb Jahren auch fragen, ob die Begründung von damals eigentlich noch trägt.
Wir haben die Situation, dass wir hier einen Einsatz genehmigen, der bis zur Landesgrenze von Syrien geht. Dort tobt ein blutiger Krieg. Das war im Jahr 2006 nicht so. In der Begründung wird auch die libanesische Regierungskrise angeführt. Als könnte dort die Bundeswehr einen Beitrag leisten!
Niels Annen hat eben auf die trilateralen Gespräche verwiesen. Das ist ja alles gut und schön, aber die Bundeswehr ist nun wirklich keine Kommunikationsplattform.
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Sie müssen auch aufpassen. Es ist so, wie bei ganz vielen anderen Mandaten: Bei jedem Mandat gibt es am Anfang die eine Begründung, und dann verändert sich die Begründung von Jahr zu Jahr zu Jahr. Das heißt, man kommt ganz leicht in einen Auslandseinsatz hinein, und es ist sehr schwer, wieder herauszukommen.
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Ein Wort zum Schluss: Es wurde auch auf Waffenschmuggel Bezug genommen. Es ist ja richtig, Waffenschmuggel zu stoppen. Aber wäre es nicht noch besser, wenn verhindert würde, dass überhaupt Waffen in diese Region verkauft werden?
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Hierzu kann Deutschland einen Beitrag leisten. Deutschland mischt bei Waffenverkäufen – auch in die Region – aber weiter munter mit.
Ich will hier noch mal auf den blutigen Jemen-Krieg verweisen. Die SPD hat versprochen, dass die Waffenlieferungen an Staaten, die am Jemen-Krieg beteiligt sind, beendet werden. Bisher ist nichts passiert. Wenn Sie das machen würden, dann hätten Sie unsere Unterstützung.
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Für eine weitere Verlängerung eines Auslandseinsatzes, der ein unendlicher Auslandseinsatz zu werden droht, werden Sie unsere Unterstützung aber nicht bekommen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Für Bündnis 90/Die Grünen erhält das Wort der Kollege Omid Nouripour.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind nun im 40. Jahr des Einsatzes von UNIFIL insgesamt. Er hat 1978 begonnen, und seitdem sind 313 Peacekeeper im Einsatz ums Leben gekommen. Wir gedenken dieser und danken den Soldatinnen und Soldaten, die heute diesen immens wichtigen Dienst weiterhin leisten.
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Die Situation an der libanesisch-israelischen Grenze bleibt hochfragil. Das liegt im Übrigen daran, dass es da nicht nur diese beiden Akteure, sondern beispielsweise auch die Hisbollah gibt, die das Hauptproblem dort darstellt.
Ich hätte ja gerne einiges zu den Ausführungen des Kollegen Bystron gesagt, er ist nach seiner Rede aber rausgerannt. Sehr süß! Austeilen geht, aber wenn es ums Einstecken geht, rennt man lieber weg; okay. So sei es.
Die Lage an dieser Grenze ist extrem ernst. Sie braucht weiterhin große Beachtung. UN-Generalsekretär António Guterres hat vor einigen Monaten zu Recht gesagt: „Manchmal genügt ein Funke, um einen Konflikt wie diesen zu entfesseln.“ Er hat recht. Deshalb braucht es weiterhin UNIFIL.
UNIFIL Maritime, seit 2006 vor Ort, hat damals den Krieg zwischen der Hisbollah und Israel zu beenden geholfen und versucht, ein Umfeld zu schaffen, das wirtschaftliche Entwicklung und lokale Infrastruktur ermöglicht.
Kollege Liebich, nein, nicht die Bundeswehr ist ein Kommunikationsmedium, sondern das Mandat als politische Plattform ist dafür da, dass Israelis und Libanesen miteinander reden. Es gibt leider Gottes keine andere Plattform. Ihre Bedeutung kann man gar nicht hoch genug einschätzen.
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Es gibt Kritik am Einsatz. Beispielsweise hat die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Nikki Haley, dieser Tage geäußert, dass dieses Mandat gegenüber den illegalen Waffenlagern der Hisbollah blind sei. Daraufhin ist die UN-Resolution 2373 angepasst worden, verglichen mit den früheren Resolutionen. Jetzt wird eine beschleunigte Stationierung der libanesischen Streitkräfte im Südlibanon gefordert, mehr Inspektionen und Patrouillen, zu Fuß und auch in der Nacht. Das ist alles richtig.
Dennoch ist die Kritik ein wenig unfair. Wenn man will, dass UNIFIL das alles leistet, dann muss es diese Mission materiell, personell und auch von der Ausstattung her können. Wenn die Vereinigten Staaten von Amerika in diesen Tagen ihr Budget für die Peacekeeping-Missionen nahezu komplett löschen, dann ist es wohlfeil, von der UN-Mission die Umsetzung weiterer Aufgaben zu fordern, die sie dann einfach nicht leisten kann, weil am Ende das Geld und das Material fehlen.
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Wenn man will, dass UNIFIL mehr kann, dann muss man UNIFIL dazu in die Lage versetzen. Das ist in den letzten Jahren leider nicht passiert.
Die Lage im Libanon bleibt fragil. Es gibt dennoch einige Fortschritte im Land. Es gab nach über neun Jahren endlich Wahlen. Das schafft eine neue Legitimität des politischen Systems im Land. Das ist gut. Die Wahlergebnisse der Hisbollah sind allerdings besorgniserregend. Auch das zeigt, dass es dringend notwendig ist, dass wir weiterhin dranbleiben und gucken, wo man unterstützen kann.
Selbstverständlich hängt die Stabilität im Libanon nicht in erster Linie an der Militärpräsenz, sondern an der Frage der Infrastruktur. Ich wünschte mir, dass die Bundesregierung sich endlich überlegt, wie man von der Nothilfe und der humanitären Hilfe der letzten Jahre, die seit Beginn des Krieges in Syrien notwendig sind, endlich in eine permanente Entwicklungszusammenarbeit übergeht, die Infrastruktur auch nachhaltig schafft, gerade in Dörfern, in denen manchmal doppelt so viele Flüchtlinge wie Libanesinnen und Libanesen sind. Ich glaube, dass das die wichtigste Hilfe für Libanon wäre.
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Wir reden über eine Mission, die von Israel und vom Libanon gewünscht wird. Deshalb wird meine Fraktion UNIFIL auch in diesem Jahr weiterhin zustimmen.
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Nächster Redner der Kollege Paul Ziemiak für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um es kurz zu machen: UNIFIL ist erfolgreich. UNIFIL ist wichtig für die Stabilität in der Region, und UNIFIL liegt im deutschen Interesse. Warum?
Erstens. UNIFIL ist erfolgreich, weil es gelingt, den Waffenschmuggel über den Seeweg vollständig zu unterbinden. Es gelingt, die Küste zu kontrollieren. Es gelingt auch, die libanesische Marine immer weiter zu befähigen, das selbstständig zu tun. Wir helfen nicht nur in der Ausstattung, in der Radartechnik, sondern nach dem Prinzip „Train the Trainers“, die Ausbildung der Ausbilder im Libanon immer weiter fortzusetzen. Unser Ziel bleibt, dass die libanesische Küste am Ende durch die libanesische Marine selbstständig geschützt, überwacht und die Schiffe kontrolliert werden.
Die Möglichkeit der Gesprächsformate ist hier mehrfach angesprochen worden. Es ist auch ein großer Erfolg, dass es, gerade in diesem Mandat, zwischen den Gesprächspartnern im Libanon wie auch den israelischen Streitkräften Gesprächsformate gibt.
Zweitens. Es ist natürlich ein wichtiges Mandat für die Stabilität in dieser Region. Wenn man sich anschaut, wie dieses Mandat zustande gekommen ist, insbesondere seit 2006, seitdem sich auch Deutschland beteiligt, dann stellt sich die Frage: Was war denn vorher? Vorher gab es eine Seeblockade durch Israel. Das ist die Frage, die wir uns stellen müssen, wenn wir darüber diskutieren, ob wir den Einsatz verlängern wollen oder nicht: Was ist die Konsequenz, wenn man es nicht täte? Die Konsequenz wäre, dass Israel wieder eine Seeblockade errichten würde. Das würde die Situation im Nahen und Mittleren Osten nicht vereinfachen, sondern schwieriger machen.
Herr Liebich, Sie haben gefragt: Ist es klug, diesen Einsatz fortzusetzen? Sie sagen Nein aus Ihrer grundsätzlichen Überlegung, dass man deutsche Soldaten nicht in den Nahen oder Mittleren Osten entsendet. Aber Sie haben keine Antwort darauf geliefert, welchen Beitrag wir dann leisten können, um für mehr Stabilität und Sicherheit zu sorgen. Und Sie haben nicht gesagt, wie Sie die Küste überwachen wollen und wie Sie das legitime Sicherheitsinteresse Israels in dieser Region wahren wollen. Dazu haben Sie keine Ausführungen gemacht. Das ist traurig, und das ist schade, weil Sie eigentlich Ihre Möglichkeit verspielt haben, hier einen Punkt zu machen, zu sagen, wie Sie es für diese Region anders und besser machen würden.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es liegt drittens auch im Interesse Deutschlands. Ich habe bei den Ausführungen der AfD gedacht: Na ja, der Libanon ist ganz weit weg; wir brauchen uns darum nicht zu kümmern. – Das ist falsch. Aus meiner Sicht sind und bleiben der Nahe und der Mittlere Osten für uns als Europäische Union unser nächster Nachbar. Es ist von entscheidender Wichtigkeit, dass diese Region stabil wird. Es ist noch ein ganz langer Weg bis dahin, aber dieses Mandat bietet die Möglichkeit, diesen Weg weiterzugehen, und ist ein kleines Stück Hoffnung, dass es am Ende gelingen wird.
Der Libanon ist für uns auch deshalb so wichtig, weil er nicht nur aus einem Konflikt, sondern aus vielen Konflikten Millionen von Flüchtlingen aufgenommen hat. Es ist ein Staat, in dem verschiedene Konfessionen, verschiedene Ethnien zusammenleben.
Dieses Mandat wird am Ende nicht alle Probleme lösen. Aber ohne das Mandat können wir diesen Weg nicht weitergehen. Deswegen liegt es in unserem eigenen europäischen Interesse und im Interesse der Bundesrepublik Deutschland, dass wir uns weiter daran beteiligen. Die deutschen Soldatinnen und Soldaten leisten einen unglaublich wichtigen Beitrag für die Stabilität und die Überwachung der Küste, aber auch für die Sicherheit Israels.
Danke schön.
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Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ingo Gädechens, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin jetzt der achte Redner, um über das Mandat UNIFIL zu reden. Ich möchte Sie eigentlich an dieser Stelle vor Wiederholungen bewahren. Es ist viel Richtiges, aber auch viel Falsches gesagt worden.
Sehr geehrter Herr Parlamentarischer Staatssekretär Silberhorn, ich freue mich, dass Sie, kurz im Amt, gleich die Gelegenheit genutzt haben, in das Einsatzgebiet zu fahren, um sich mit der Besatzung der Korvette, aber auch mit den Ausbildern an Land, die die libanesische Marine dort ausbilden, auch in der Küstenradarorganisation und im Lagezentrum in Beirut auszutauschen.
Hier wurde ein Bild gezeichnet, als wenn die Summe, die wir für dieses UN-Mandat ausgeben, eine Wertschöpfung für die Hisbollah bedeuten würde. Welch ein Quatsch, meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt keine Wertschöpfung dort im Land für die Hisbollah. Es gibt eine Wertschöpfung für die Libanesen und für die Menschen, die mit den deutschen Soldaten in ihrem Heimatland zusammenarbeiten und nicht nur maritime Fähigkeiten erlangen, sondern auch etwas von unseren Werten und unserem Demokratieverständnis mitnehmen. Auch das ist ein Transfer, den wir in dieses fragile Land, in den Nahen Osten mitleisten, und auch das, denke ich, verdient größte Anerkennung.
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Vor nicht einmal vier Wochen haben israelische Luftstreitkräfte Vergeltungsanschläge in Syrien geflogen. Ziel waren iranische Quds-Brigaden, eine Eliteeinheit der iranischen Revolutionsgarden, die Israel zuvor angeblich – und das mag auch richtig sein – mit Raketen attackiert haben. Kurz danach waren dann diese israelischen Kampfflugzeuge auch über Beirut zu sehen.
Das macht deutlich – hier wurde der Begriff „Pulverfass“ gepflegt –: Der Nahe Osten ist nicht sicher. Das macht deutlich, wie nahe die Kräfte der Vereinten Nationen am Geschehen agieren. UNIFIL kann am Ende einer möglichen Eskalationsspirale einen erneuten militärischen Konflikt sicherlich nicht verhindern. Aber UNIFIL kann dazu beitragen, dass Spannungen abgebaut werden und es nicht zu weiteren Provokationen oder zu einem ungewollten Konflikt kommt.
Das, was wir seit 2006 nach Ausbruch des Krieges in das VN-Mandat eingebracht haben, nenne ich nachhaltig. Andere Nationen haben dem Libanon ein Schiff in den Hafen gelegt und gesagt: Nun werdet damit fertig. Fahrt zur See, sichert eure Küsten! – Wir haben dem Land das ehemalige Sicherungsboot „Bergen“, das nun „Tabarja“ genannt wird, gegeben, haben uns aber der Verantwortung gestellt und gesagt: Wir lassen euch mit diesem Boot nicht alleine, sondern bilden euch auch aus. – Wie stolz die libanesischen Marinesoldaten sind, konnte man auf den Bildern sehen, die Staatssekretär Silberhorn in die sozialen Netze gestellt hat. Als an der Korvette vorbei das Sicherungsboot passierte, wurde – das gibt es in vielen NATO-Marinen – Front nach Steuerbord bzw. Backbord gepfiffen, und die Libanesen haben das genauso gemacht, mit Flaggendip, wie man es in der deutschen Marine kennt. Die Ausbilder haben dort ganze Arbeit geleistet. Sie haben nicht nur Seemannschaft transportiert, sondern auch das, was wir unseren Wertekanon nennen. Dafür danke ich. Das macht mich stolz.
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– Es gibt hier einen persönlichen Bezug. Das will ich nicht verhehlen; sonst verstehen Sie das nicht.
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Ich will anfügen: Wir haben nur noch vier Sicherungsboote. Nicht, dass ihr von der Regierung auf die Idee kommt, noch mehr dorthin zu schicken. Das fünfte Sicherungsboot fehlt uns schmerzlich. Aber dort leistet es gute Dienste. Deshalb bin ich damit letztendlich einverstanden.
Ich bitte um Unterstützung für das UNIFIL-Mandat.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Ich schließe die Aussprache zu diesem Punkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/2383 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erst kürzlich hat der Reiseführer „Lonely Planet“, den ich noch aus der Zeit kenne, als ich jung war
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– das ist sehr lange her, ja –,
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die Republik Kosovo als eines der Topreiseziele für das Jahr 2018 ausgewählt. Seien wir ehrlich: Wer hätte das vor ein paar Jahren für möglich gehalten?
Wir kommen nun zum ernsten Kern dieser Debatte. Wenn wir auf die letzten 20 Jahre, auf die Zeit nach dem Ende des blutigen Krieges auf dem Balkan zurückblicken, müssen wir feststellen: Auf dem westlichen Balkan wächst die Demokratie wieder. Die Wirtschaft gewinnt an Stabilität, und die Region wächst langsam, aber sie wächst wieder zusammen. Zu Recht schaut die Welt inzwischen mit gesteigertem Interesse auf die Region, beispielsweise als Reiseziel, wie erwähnt. Das ist eigentlich ein gutes Zeichen. Gleichwohl ist uns allen klar: Der Krieg ist weiterhin in den Köpfen. Nicht alles ist aufgearbeitet. Deswegen müssen wir weiter hart arbeiten. Wir haben ein vitales Interesse daran, den westlichen Balkan fest in Europa zu verankern.
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Das gilt für Serbien und Montenegro, ebenso für Albanien und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien.
Auch Kosovo hat sich in den vergangenen Jahren allmählich konsolidiert, und Kosovo hat wichtige Fortschritte gemacht. Wahlen laufen inzwischen geordnet ab. Die Kosovo Police Force nimmt inzwischen umfassend Polizeiaufgaben wahr. Die kosovo-serbischen Gerichte und Staatsanwälte sind vollständig in die kosovarische Justiz integriert.
Dass dies alles innerhalb von weniger als 20 Jahren gelungen ist, das ist das Ergebnis der Bemühungen vieler: der Vereinten Nationen, der Europäischen Union, der NATO und ganz besonders wichtiger Partner wie beispielsweise der Vereinigten Staaten von Amerika. Und es ist auch das Verdienst unserer Soldatinnen und Soldaten, die im Rahmen von KFOR seit 1999 ihren Dienst tun. Dafür, denke ich, gebührt ihnen unser Dank und unser aller Anerkennung.
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Aber zur Wahrheit gehört auch: Die staatlichen Strukturen in Kosovo funktionieren noch nicht so, wie wir uns das wünschen.
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In der Geschichte der zweitjüngsten Republik der Welt gibt es nach wie vor Defizite im Aufbau des Staates, gibt es nach wie vor Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit – das ist allgemein bekannt –, bei der Bekämpfung von Korruption und, uns ganz besonders wichtig, bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Ja, auch die wirtschaftliche Situation ist bei allen Fortschritten nicht ideal. Insbesondere die hohe Jugendarbeitslosigkeit ist ein großes Problem, eine Bewährungsprobe für das junge Land.
Aber auch das Verhältnis zu Serbien bleibt schwierig, naturgemäß schwierig. Die kosovarisch-serbischen Beziehungen haben sich – allerdings dank der Vermittlung vor allem der Europäischen Union –
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langsam normalisiert. Es gibt einen Normalisierungsdialog, und die Lage hat sich in den letzten Jahren verbessert. Aber bis wir zu einer dauerhaften Entspannung des Verhältnisses kommen, bleibt dieses Zusammenleben eben schwierig, und das Verhältnis bleibt spannungsgeladen. Das ist letztlich auch der Grund, weshalb die internationale Truppenpräsenz KFOR im Moment jedenfalls noch erforderlich ist.
Insgesamt gesehen ist die Lage im Kosovo ruhig und stabil. Darüber sind wir froh, und wir sind dankbar, dass das so erreicht werden konnte. Aber wir wissen, dass eine Eskalation ganz schnell die Lage verändern kann. Das haben wir in diesem Jahr bereits zweimal erlebt. Das letzte größere Ereignis, das uns beschäftigt hat – ich würde eher sagen: beschäftigen musste –, war die zwischenzeitliche Festnahme von Herrn Djuric, dem Beauftragten von Präsident Vucic für die Verhandlungen mit dem Kosovo.
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Ein Eingreifen von KFOR war in dieser Situation dankenswerterweise nicht nötig, weil es am Ende doch zu einer Deeskalation und dann auch zu einem verantwortungsvollen Handeln der beteiligten politischen Akteure gekommen ist.
Aber – das ist mein Punkt hier –: Dass es KFOR quasi als stabilisierende Rückversicherung im Hintergrund gegeben hat, war auch ein Element, das dazu beigetragen hat, auch Druck ausgeübt hat, dass wir diese Krise wie auch vorhergegangene Krisen am Ende politisch lösen konnten. Das ist eben genau der Punkt: Wir können nicht ausschließen, dass sich die Sicherheitslage durch einen unerwarteten Zwischenfall kurzfristig verschlechtert; denn dieser Normalisierungsdialog wird von beiden Seiten auch noch schmerzhafte Kompromisse erfordern. Daher muss es bis auf Weiteres möglich bleiben, dass KFOR ergänzend – das will ich hier betonen; der Charakter von KFOR hat sich in den letzten Jahren ja verändert – zu den kosovarischen Polizeikräften und zur EU-Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX weiterhin eingebunden wird.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den kommenden zwölf Monaten wird die Präsenz deutscher Truppen im Kosovo weiter abnehmen. In den vergangenen Monaten waren durchschnittlich 440 deutsche Soldatinnen und Soldaten im Einsatz. Die Mandatsobergrenze – sie beträgt 800 Personen – soll allerdings beibehalten werden – das ist unsere Bitte –, um bei einer Verschlechterung der Sicherheitslage notfalls schnell und flexibel reagieren zu können. Ich denke, das ist ein pragmatisches Herangehen und gibt den Verantwortlichen vor Ort die notwendige Flexibilität.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, KFOR ist der älteste noch andauernde Auslandseinsatz der Bundeswehr. Und KFOR ist ganz ohne Zweifel eine Erfolgsgeschichte. Ich habe darauf hingewiesen, wie sehr sich der Charakter dieses Einsatzes über die letzten Jahre verändert hat. Auch die Tatsache, dass wir unsere Truppenpräsenz so weit reduzieren konnten, zeigt ja, dass es in die richtige Richtung geht. Wenn ich die vorhergegangene Debatte einmal aufgreifen darf, dann zeigt KFOR eben auch, dass der Weg nach der Entscheidung für einen solchen Auslandseinsatz nicht schnell zu Ende geht. Aber wir sehen, dass wir Fortschritte machen, und wir haben die Ziellinie im Blick. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt, den man hier auch nennen muss.
Auch wenn die Hoffnung besteht – ich habe das gesagt –, dass sich die Sicherheitslage in den nächsten Jahren und hoffentlich auch Monaten weiter stabilisieren kann, sind wir überzeugt: Der Einsatz bleibt ein wichtiges Element unseres Engagements für den Frieden und für die Sicherheit auf dem westlichen Balkan. Dieses Engagement ist in erster Linie ein politisches Engagement und ein wirtschaftliches Engagement mit dem Ziel, dass diese wichtige Region als eine gemeinsame Region denkt und handelt.
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Innerhalb dieses Kontextes ist es wichtig, dass wir dieses kleine Instrument KFOR weiterhin zur Verfügung haben. Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, bitte ich Sie auch im Namen der Bundesregierung, Ihre Zustimmung zur Verlängerung dieses Mandates in Erwägung zu ziehen. Ich bin sicher, wir werden hier vernünftig miteinander über Details beraten, wie wir es gewohnt sind.
Ich danke für die Aufmerksamkeit und freue mich auf die Debatte.
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Für die AfD-Fraktion spricht der Kollege Jens Kestner.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, heute Abend hat die NATO mit Luftschlägen … in Jugoslawien begonnen. Damit will das Bündnis weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte unterbinden und eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindern. Der jugoslawische Präsident Milosevic führt dort einen erbarmungslosen Krieg … Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung … auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen …
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Das sagte Kanzler Schröder am 24. März 1999 dem deutschen Volk in einer Fernsehansprache. Die NATO griff die Bundesrepublik Jugoslawien unter der Beteiligung 14 deutscher Tornados an, ohne dafür ein UN-Mandat zu haben und ohne dass ein NATO-Mitgliedstaat angegriffen und so der NATO-Bündnisfall ausgelöst worden wäre.
Von den damaligen und heutigen Befürwortern wird der Kosovo-Krieg als einer der ersten humanitären Kriegseinsätze bezeichnet und als Maßnahme zum Schutz vor weiteren Menschenrechtsverletzungen der jugoslawischen Sicherheitskräfte gerechtfertigt.
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Die serbische Regierung beklagte damals bei großen Teilen der albanischen Bevölkerung des Kosovo Abspaltungstendenzen und berief sich auf das Recht Serbiens, die seit 1997 auf dem damaligen Staatsgebiet mit Guerillamethoden agierende UCK zu bekämpfen.
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Zusammen mit Kanzler Schröder, Außenminister Fischer und Verteidigungsminister Scharping wurde an einer großen Lüge gestrickt, um diesen Krieg zu rechtfertigen. Eine dieser Lügen war das angebliche Massaker von Rogovo, der angebliche Hufeisenplan zur ethnischen Säuberung des Kosovo.
Nach letztendlich geschätzten 3 500 Todesopfern endete 1999 die Bombardierung Serbiens damit, dass Milosevic nachgab, seine Truppen zurückzog und den Weg für die Stationierung von NATO-Truppen freimachte. Die Bundeswehr rückte daraufhin mit einem großen Kontingent gemeinsam mit seinen Verbündeten in das Kosovo ein. Seit über 18 Jahren steht die Bundeswehr im Kosovo, und wir beraten heute über eine Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Truppenpräsenz im Kosovo, kurz KFOR.
Ich selbst durfte als Mitglied des zweiten Kontingents der KFOR die Zerstörungen und die verfeindeten Volksgruppen begleiten. Ich spürte den Hass der Albaner auf die Serben und die tiefe Angst der verbliebenen serbischen Bevölkerung im Kosovo. Die Bundeswehr hatte unter anderem den Auftrag, die verbliebenen Serben in Enklaven wie Velika Hoca und in Stadtteilen von Orahovac und Prizren zu schützen. Ich habe die brennenden Häuser von serbischen Familien, die geflohen waren, gesehen, von Albanern entzündet, um deren Rückkehr zu verhindern. Ich habe bestialisch ermordete Serben in Prizren gesehen.
Auf der anderen Seite musste ich auch mit ansehen, wenn albanische Frauen die Kleidung ihrer getöteten Ehemänner aus dem Grab heraus identifizieren mussten. Ich habe die Mordlust in den Augen der albanischen Bevölkerung gesehen, mit ihren eindeutigen Gesten, wenn wir im Rahmen unseres Auftrages serbische Familien in Bussen eskortiert haben, die ihre Verwandten in Mitrovica im nördlichen Kosovo besuchen wollten.
Warum sage ich das alles?
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Weil ich mich schon damals gefragt habe, ob eine reine Präsenz der Streitkräfte ausreicht, um dauerhaft Frieden in dieses Land zu bringen. Schon damals war mir klar: Hier muss eine nachhaltige politische Lösung angestrebt und gefunden werden.
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Im Jahr 2002 war ich dann Teil eines weiteren Kontingentes KFOR und konnte mir ein Bild von den angeblichen Erfolgen, die auch hier heute so angepriesen wurden, seit meiner ersten Einsatzzeit machen. Kriegsverbrecher und Mörder der UCK-Führung wie Hashim Thaci, die ich noch 1999 an Checkpoints kontrollierte, gehörten nun zur politischen Elite des Kosovo und sind heute Ansprechpartner für uns. Immer noch gab es Hass auf beiden Seiten. Sicherlich besserten sich die Infrastruktur und die Sicherheitslage des Landes – das nicht zuletzt durch die Unsummen an Hilfsgeldern, die an das Kosovo flossen und immer noch fließen –, aber eines war deutlich ersichtlich: An der politischen Lage hatte sich nichts, aber auch gar nichts verbessert. Korruption, Vetternwirtschaft und Kriminalität waren damals spürbar und sind heute immer noch ein fester Bestandteil des Kosovo, auch weil gerade die alten Kader der UCK immer noch in wichtigen Funktionen verankert sind.
Der Kosovo war damals und ist heute aus meiner Sicht ein gescheiterter Staat. Dieses Elend sollte beendet werden.
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Wo sind die zukunftsweisenden politischen Lösungen, die dazu beigetragen haben, dieses Land in eine wie auch immer geartete
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– keine Zwischenfrage; Sie können, wenn Sie möchten, danach etwas fragen – friedliche Zukunft zu entlassen? Jeder einzelne Soldat hat stets seinen Auftrag im Kosovo erfüllt und sein Bestes gegeben – für alle Menschen, sei es für Serben, sei es für Albaner. Aber wo ist denn nun letztendlich die wirkliche politische Lösung für diesen Konflikt in Sicht?
Es wurden seit damals Fakten geschaffen im Kosovo. Wir als AfD, wir stehen für Verstand statt Ideologie und Träumerei.
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Es gibt mit uns keinen Persilschein für einen unendlichen Einsatz deutscher Kräfte im Kosovo.
Wie könnte eine realistische politische Lösung aussehen?
Herr Kestner, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ja, ich komme zum Ende. – Eine ganz einfache Lösung wäre: der serbische Teil zu Serbien, der albanische Teil zu Albanien. Man könnte die Farce eines eigenständigen politischen Gebildes namens Kosovo beenden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Peter Tauber.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Republik Kosovo hat im März dieses Jahres den zehnten Jahrestag ihrer Unabhängigkeit gefeiert, und die Menschen dort führen heute ein Leben in Freiheit und auch in Frieden. Um an das anzuknüpfen, was Niels Annen gesagt hat: Wir Älteren erinnern uns daran, dass das auch mal anders war. – Dass das so ist, dazu haben wir einen Beitrag geleistet: seit 1999 mit der NATO-Mission KFOR.
Mittlerweile waren im Rahmen der Mission bereits über 100 000 Angehörige der Bundeswehr, Soldatinnen und Soldaten, aber auch zivile Mitarbeiter eingesetzt. Für ihren unermüdlichen Einsatz bin ich persönlich unseren Soldatinnen und Soldaten sehr dankbar.
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Ich bin auch stolz darauf, dass wir das wie immer nicht allein getan haben, sondern gemeinsam mit unseren Partnern, und damit einen Beitrag zu Sicherheit und Frieden in der gesamten Region geleistet haben. Denn dass die Lage heute im Kosovo stabil ist, trotz mancher Zwischenfälle, die es immer noch gibt, das hat etwas damit zu tun, dass wir in den 90er-Jahren auf diese Region Europas mit großer Sorge geschaut haben
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und uns gefragt haben, wie wir, wir alle in Europa, eigenverantwortlich einen Beitrag zu Sicherheit und Frieden überall auf unserem Kontinent leisten können.
Wenn Vorredner hier von einem gescheiterten Staat sprechen, wenn am Rednerpult des deutschen Parlaments erklärt wird, wie künftig Grenzen in Europa für andere Völker auszusehen hätten, dann, glaube ich, tun wir gut daran, zu erinnern, dass wir den Auftrag haben, für Stabilität und Frieden zu sorgen, dass wir andere Völker unterstützen wollen, dass wir aber niemandem vorschreiben, in welcher Form von Staatlichkeit innerhalb von welchen Grenzen sie zu leben haben.
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Das sagt viel über Ihr politisches Selbstverständnis aus, anderen Völkern das diktieren zu wollen. Das machen wir sicherlich nicht.
Was unbedingt gesagt werden muss, ist, dass dieser Einsatz natürlich nur dann einen Sinn macht – so wie das für alle Mandate gilt, die wir hier diskutieren –, wenn er im Rahmen des sogenannten vernetzten Ansatzes geschieht, das heißt, wenn wir darüber hinaus fragen: Welchen Beitrag braucht es für Stabilität und Frieden neben der rein militärischen Präsenz? Wenn Sie sich noch mal vor Augen führen, nicht nur mit welcher Zahl an Soldaten wir in den letzten Jahren bei KFOR beteiligt waren, sondern wenn Sie sich auch noch mal vor Augen führen, wie sich die Aufgaben unserer Soldaten in diesen Jahren verändert haben, dann kommen Sie nicht umhin, festzustellen, dass das eine Erfolgsgeschichte ist – eine langsame Erfolgsgeschichte –, aber dass wir insgesamt auf einem guten Weg sind.
Wir haben es ja nicht bei diesem Einsatz belassen. Ich will verweisen auf die 570 Millionen Euro der sozialen und wirtschaftlichen Aufbauhilfe für das Land seit 1999.
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Ich will verweisen auf den Beitrag der Europäischen Union zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit des Kosovo.
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– Da kam wieder ein wunderbarer Zwischenruf von der Linkspartei; die greife ich immer so wunderbar gerne auf, weil sie so unheimlich gut zeigen, dass Sie einfach auch positive Entwicklungen nicht wahrnehmen wollen, weil diese nicht in Ihr Weltbild passen. Sich einfach hier hinzustellen und pauschal zu sagen: „Das hat nichts gebracht“, obwohl Sie wissen, wie die Situation dort vor 20 Jahren war, das zeigt, dass Sie einfach die Augen vor der Welt verschließen.
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Sie machen sich die Welt, wie Sie sie wollen, und sehen nicht, wie sie ist. Das ist keine verantwortliche Politik.
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– Lieber Herr Neu, wir diskutieren das gerne an vielen anderen Stellen weiter. Ich weiß nicht, was Sie alles dazwischengerufen haben. Es braucht nicht immer eine Erwiderung. Das, was Ihnen in der Sache zu sagen ist, habe ich Ihnen gesagt.
Die Sicherheitslage ist noch nicht so, wie wir sie uns wünschen, sonst wären wir nicht dort. Aber sie hat sich eben deutlich verbessert. Auch die lokalen Sicherheitskräfte leisten eine gute und verlässliche Arbeit.
Herr Tauber, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Neu?
Nein, das brauche ich, ehrlich gesagt, nicht.
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– Die 35 Sekunden, die ich noch habe, nutze ich auch gerne, um darauf einzugehen: Angst ist keine Weltanschauung. Wer vor Ihnen Angst hat, der muss wirklich mit dem Klammerbeutel gepudert sein.
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Aber ich muss nicht auf jede Dummheit hier eingehen.
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Und vom Kollegen Neu bin ich viel gewohnt; mir reicht es im Ausschuss, ehrlich gesagt.
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Also, wir wollen die NATO-Mission fortsetzen. Wer schreit, hat unrecht, hat meine Mama mir immer beigebracht. Schreien Sie weiter; Sie haben immer unrecht.
Wir wollen die NATO-Mission KFOR fortsetzen. Das heute zur Debatte stehende Mandat für die Fortsetzung unseres Beitrags zu KFOR bleibt im Kern unverändert. Das gilt auch für die Obergrenze von 800 Soldatinnen und Soldaten. Daher bitte ich Sie im Namen der Bundesregierung um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann für die FDP.
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Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Tauber, ich höre Ihnen immer gerne zu. Man merkt dann doch manchmal, dass das Generalsekretärsdasein Ihnen ein bisschen fehlt. Aber es ist immer schön, Ihnen zuzuhören.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! Es ist in der Tat schon – oder gerade – 19 Jahre her, dass in Europa, nur eine Flugstunde von München entfernt, ein wirklich grausamer Krieg tobte. Der letzte der Jugoslawien-Kriege, die so viele Menschen das Leben gekostet haben, wurde im Kosovo ausgetragen. Auch dort mussten Hunderttausende die Flucht ergreifen. Man errechnete damals 825 000 Menschen, von denen übrigens viele nach Deutschland geflohen waren. In der Tat erinnere ich mich sehr gut an die Kinder der Geflohenen, die auch in den Klassen meiner Kinder waren und die dann anschließend, als der Frieden mehr oder weniger zurückkehrte, mit ihren Eltern zurück in ihre Heimat gegangen sind, weil diese ihr Land wieder aufgebaut haben.
Viele von Ihnen aus meiner Generation werden diese Bilder noch präsent haben. Für die jüngere Generation – gerade weil ich heute so viele junge Leute auf der Tribüne sehe – mag es unvorstellbar sein, dass sich so etwas in unserer Nachbarschaft zugetragen hat, in Europa, das für die meisten ganz selbstverständlich – Gott sei Dank – ein Ort des Friedens ist. Vielen Menschen in Deutschland ist heute, glaube ich, gar nicht mehr so präsent, dass die NATO, auch die Bundeswehr, dort nach wie vor aktiv ist, während gleichzeitig beim Westbalkangipfel über Perspektiven zu EU-Beitrittsverhandlungen diskutiert wird.
Die Aufgabe der KFOR damals, zu der mehr als 50 000 Soldatinnen und Soldaten aus 40 Nationen gehörten, war es, den Flüchtlingen wieder eine sichere Rückkehr zu ermöglichen und die Region zu stabilisieren. Das ist gelungen. Inzwischen hat sich der Auftrag naturgemäß verändert. Es geht heute darum, die ruhige, aber eben nicht immer stabile Sicherheitslage abzusichern und die staatlichen Sicherheitskräfte zu unterstützen. Konsequenterweise wurden auch die Einsatzkontingente der NATO immer weiter heruntergefahren. Deutschland ist heute nur noch mit einem Bruchteil der ursprünglichen Truppenstärke im Kosovo vertreten. 1999 waren es sage und schreibe 6 400 Soldatinnen und Soldaten, heute sind es weniger als 400; also eine ganze Division.
Die Sicherheitslage hat sich, wie gesagt, verbessert. Die kosovarischen Sicherheitskräfte sind zunehmend besser dazu in der Lage, für Stabilität zu sorgen. Wann dieser Prozess und damit auch der Auftrag der Bundeswehr letzten Endes abgeschlossen sein wird, kann heute niemand genau sagen. In der Region gibt es auch zehn Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo immer noch Spannungen. Der Normalisierungsprozess mit Serbien tritt leider auf der Stelle, und auch die schlechte wirtschaftliche Situation ist für eine politische Aussöhnung nicht gerade förderlich. Das sind Fakten, die es uns leider nicht erlauben, das Engagement der Bundeswehr auf der Stelle zu beenden, aber wir steuern bei KFOR erkennbar auf das Ende des Einsatzes zu. Wenn wir der Regierung Glauben schenken dürfen,
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wird das deutsche Einsatzkontingent in den kommenden zwölf Monaten noch einmal deutlich reduziert.
Meine Damen und Herren, wir wollen, dass dieser Einsatz verantwortungsvoll zu einem erfolgreichen Abschluss geführt wird. Das darf nicht überhastet geschehen. Der Einsatz führt auch zur Integration des Kosovo in transatlantische und europäische Strukturen. Deshalb unterstützen die Freien Demokraten diesen Einsatz weiterhin.
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Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke.
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Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wieder einmal beraten wir hier über den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo. Seit nunmehr 19 Jahren steht die Bundeswehr im Kosovo und soll hier für Sicherheit und Ordnung sorgen. Aber die Wirklichkeit im Kosovo ist erschütternd. Ein demokratisches, ein friedliches, ein multiethnisches Kosovo, wie es der Auftrag war, hat der KFOR-Einsatz jedenfalls nicht aufgebaut.
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230 000 Serben und Angehörige anderer ethnischer Minderheiten mussten nach diesem völkerrechtswidrigen NATO-Angriffskrieg fliehen
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und leben nach wie vor im Exil. Die soziale und wirtschaftliche Situation im Kosovo ist 19 Jahre nach dem Krieg einfach desaströs. Bitterste Armut ist verbreitet. Es kommt zu Mangelernährung und Wachstumsstörungen bei Kindern. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 50 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit soll 80 Prozent betragen. Die Lage für Roma und Serben im Kosovo bleibt nach wie vor unsicher. Wenn man den eigenen Anspruch der KFOR ernst nimmt, kann man hier nur ein völliges Versagen des KFOR-Einsatzes feststellen.
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Es ist auch unmenschlich, dass die Bundesländer verfolgte Roma in dieses Krisengebiet abschieben. Es ist ebenso bemerkenswert wie bedauerlich, dass dabei gerade die grün-schwarze Landesregierung in Baden-Württemberg eine führende Rolle einnimmt.
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Wenn man sich die Entwicklung der allgemeinen Sicherheitssituation im Kosovo anschaut, kann man über die Rolle der KFOR im Kosovo eigentlich nur noch den Kopf schütteln. Unter den Augen der KFOR haben mafiöse Netzwerke zusehends die Kontrolle über das Wirtschaftsleben und die Politik im Kosovo übernommen. Die islamistische Kopf-ab-Diktatur Saudi-Arabiens, die Türkei Erdogans und nichtstaatliche Geldgeber aus der arabischen Welt finanzieren im Kosovo laut Antworten der Bundesregierung auf Anfragen der Linksfraktion die Ausbreitung von islamistischen Strukturen im Kosovo. Ich finde, das ist keine Erfolgsmeldung Ihres Einsatz und Ihrer Arbeit im Kosovo. Das ist fürchterlich, und das ist erschreckend.
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Das zeigt, dass Stabilität anderes ist als das, was Sie hier als solche bezeichnen.
Was macht die Bundesregierung jetzt? Jetzt will die Bundesregierung auch noch Serbien zwingen, ihre völkerrechtswidrige Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo nachzuvollziehen. Unter Verletzung des EU-Rechts und des Völkerrechts setzen Sie als Hebel die EU-Beitrittsverhandlungen mit Serbien ein.
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Es ist wirklich abstrus, Russland wegen der Krim Völkerrechtsbruch vorzuwerfen
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und deshalb mit Sanktionen zu belegen, aber im Falle des Kosovo anderen Staaten die Anerkennung der völkerrechtswidrigen Sezession des Kosovo aufzuzwingen, meine Damen und Herren.
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Einer solchen Außenpolitik der doppelten Standards fehlt wirklich jeder völkerrechtliche Kompass.
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Dabei gibt es auch heute, 19 Jahre nach diesem Angriffskrieg, viel aufzuarbeiten. Ich rede jetzt nicht von den zahlreichen Opfern des damaligen Krieges und ihren Angehörigen und Hinterbliebenen, sondern über die Folgen des Krieges im Jahr 2018, also jetzt. Da frage ich mich: Warum beteiligen Sie sich nicht endlich an einer unabhängigen Untersuchung des Einsatzes von Uranmunition in diesem Krieg?
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Stattdessen lassen Sie NATO-Expertisen anfertigen, die natürlich keinen Zusammenhang zwischen den rasant gestiegenen Krebsraten in der Region und dem Einsatz von Uranmunition durch die NATO erkennen lassen. Ich finde, auch 19 Jahre nach diesem Angriffskrieg steht die Aufarbeitung der Folgen für das internationale Recht aus.
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Die Bundesregierung bewirbt sich morgen um einen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Wer aber Völkerrecht bricht und nicht bereit ist,
({11})
die eigenen Völkerrechtsbrüche und offenen Verletzungen der UN-Charta aufzuarbeiten, disqualifiziert sich für einen derart verantwortungsvollen Posten.
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Wir fordern die Bundesregierung auf, zum Völkerrecht zurückzukehren; denn das –
Frau Kollegin!
– mein letzter Satz – ist die wichtigste Voraussetzung für eine friedliche Außenpolitik.
({0})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Manuel Sarrazin das Wort.
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Frau Präsidentin! Jetzt haben wir hier von zwei Fraktionen im Hause eine fröhliche Geschichtsstunde erlebt. Das mag ich ja sehr.
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– Ja, Herr Dr. Neu, ich habe ja nichts gegen Geschichtsstunden, vor allem nicht, wenn mein Mikro an ist.
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Ich möchte aber einen Vorschlag machen: Wenn man etwas in diese Region hineintransportieren möchte, was meiner Ansicht nach die wichtigste Message für Frieden und Aussöhnung ist, dann das, dass man über alle Opfer und über alle Täter redet.
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Die beiden Beiträge, die ich meine, haben nur eine Seite beleuchtet: nur die einen Opfer, nur die einen Leiden, nur die einen Menschen, die unter diesem Konflikt gelitten haben, und nicht auch die anderen.
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Das ist nicht die Message für Frieden.
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Wir sagen – das sagt auch die Bundesregierung –: Die Grenzen in dieser Region sind gezogen. Es gibt gar keinen Weg, zu denken, die gezogenen Grenzen könnten verändert werden. Wer einerseits sagt: „Wir brauchen eine Gesamtlösung für die Region“, und andererseits vorschlägt, Grenzen zu verändern, der legt die Lunte an das Fass, der provoziert Krieg.
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Das ist das, was Sie hier vertreten haben.
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Deswegen ist es wichtig, dass der KFOR-Einsatz fortgesetzt wird. Gerade die serbischen Minderheiten, die im Kosovo noch leben – so wie beispielsweise der Abt vom Kloster Decani –, wünschen sich, dass KFOR präsent bleibt, und zwar als Rückversicherung, weil sie sich noch nicht 100 Prozent sicher fühlen. Die Lage ist sicherer, sie ist stabil; aber sie wünschen sich, dass wir als Rückversicherung präsent bleiben, falls schlechtere Zeiten eintreten. Deswegen gilt: Dieser Einsatz ist erfolgreich; aber der wirkliche Erfolg wird sich am Ende daran entscheiden, ob der Weg in Richtung Europäische Union für Kosovo und Serbien erfolgreich sein wird. Das müssen Sie einfach verstehen.
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Das, was wir sehen, ist: Das Kosovo ist in einer sehr, sehr intensiven Zeit. Der Normalisierungsprozess, der vor einigen Jahren eine fast ungeahnte Dynamisierung in die Beziehungen zwischen Serbien und Kosovo gebracht hat, ist ins Stocken geraten.
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Wir wünschen uns sehr, dass die kosovarische Seite und Präsident Vucic ins Gespräch kommen und dass wir tatsächlich bald eine richtig tragfähige Lösung bekommen.
Wir sehen auch, dass die internationale Gemeinschaft die kosovarische Politik dazu gebracht hat, ein Spezialgericht in Den Haag anzusiedeln, das die Kriegsverbrechen der UCK zwischen 1999 und 2001 aufarbeiten soll.
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Wir halten es für absolut notwendig, dass sich auch die kosovarische Politik dieser Verantwortung stellt; denn das ist es, was ich gerade gesagt habe:
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Alle Opfer dieses Krieges sind Opfer, derer gedacht werden muss und denen Respekt gezollt werden muss. Das ist die Grundlage für uns.
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Wenn ich mir überlege, was ein wirkliches Herangehen an diese Probleme in den nächsten zwölf Monaten für die Gesellschaft und für die angespannte politische Lage im Kosovo bedeuten kann, dann komme ich zu der festen Überzeugung, dass es besser ist, wenn wir unser Engagement nicht komplett einstellen, sondern die Bundeswehr präsent ist – mit 80 Soldatinnen und Soldaten im Land und einer Mandatsobergrenze von zunächst 800 –, um den Menschen im Kosovo – ganz egal ob es Serben, Ägypter, Kosovaren oder Albaner sind – das Gefühl zu geben: Ihr seid nicht alleine; Deutschland ist weiter da.
Ich habe im Kosovo einen großen Respekt gegenüber der Arbeit der deutschen Soldaten erlebt, die sehr beliebt bei allen Seiten vor Ort waren. Ich denke, dass wir diesen Einsatz deswegen guten Gewissens um ein weiteres Jahr verlängern können.
Vielen Dank.
({12})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Peter Beyer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Kosovo ist ein Land, das in der gesamten Region einzigartig ist. Es ist übrigens genauso einzigartig wie seine Menschen. Die Bevölkerung hat den jüngsten Altersdurchschnitt von allen Ländern in der gesamten Region, ja vielleicht sogar in der Europäischen Union. Dieser jüngste Staat Europas
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ist als Erstes von Deutschland als souveräner Staat anerkannt worden.
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Das ist sehr gut, das ist richtig. Nicht gut und nach wie vor nicht richtig ist allerdings, dass nach wie vor fünf Mitgliedstaaten der Europäischen Union das Kosovo nicht als unabhängigen, souveränen Staat anerkannt haben. Ich appelliere wie in jeder meiner Reden zum Kosovo an diese Staaten, sich dazu zu bewegen, diese Entscheidung noch einmal zu überdenken und das Kosovo endlich anzuerkennen.
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Meine Damen und Herren, wie ist es nun heute um das Kosovo bestellt? Die Sicherheitslage ist fortschreitend stabil, was zu einem Gutteil auch der hervorragenden Arbeit der Soldatinnen und Soldaten von KFOR zu verdanken ist. Aber wir stellen fest: Die Lage ist auch fragil. Eben genau deshalb ist die Truppenpräsenz von KFOR nach wie vor erforderlich. KFOR leistet dort einen unverzichtbaren Beitrag zur Stabilisierung und zur Sicherheit der Region. Wir hatten vorhin schon vom Herrn Staatsminister gehört, dass es sich um den längsten Auslandseinsatz der Bundeswehr handelt. Seit 1999 sind wir dort im Einsatz – mit zeitweise bis zu 6 500 Soldatinnen und Soldaten. Heute sind es deutlich weniger.
An der Lage und unserer Aufgabe dort ändert auch die Schließung des Einsatzlazaretts in Prizren vom Grundsatz her nichts. Die Verlagerung des deutschen Engagements auf das NATO-Beratungs- und Verbindungsteam und damit auf die Beratung der kosovarischen Sicherheitskräfte, die wir jetzt vornehmen, ist eine inhaltliche, tendenzielle Verlagerung; aber sie ändert nichts an der Wichtigkeit und Richtigkeit unserer Präsenz dort.
Meine Damen und Herren, auch die Beibehaltung der Obergrenze von 800 Einsatzkräften unterstreicht das deutsche Bekenntnis zu den eingegangenen Verpflichtungen gegenüber der NATO, gegenüber den Vereinten Nationen, ja, auch gegenüber dem Kosovo und gegenüber Serbien.
Wenn ich jetzt in letzter Zeit die Frage höre: „Lohnt es sich tatsächlich noch, die Beitrittsperspektive zur Europäischen Union aufrechtzuerhalten?“, dann antworte ich: Ja. Ich halte es für grob falsch, die Beitrittsperspektive, die wir im Jahre 2003 auf dem Gipfel von Thessaloniki gegeben haben, aufzugeben. Denn eine privilegierte Partnerschaft – so etwas wird vorgeschlagen – ist etwas, was nur derjenige als Argument vorbringen kann, der nicht verstanden hat, wie die Region funktioniert und welche Erfolge und Fortschritte es gibt. Wir stehen fest zu den gemachten Beitrittsperspektiven, meine Damen und Herren.
Ein Grund für die Verlängerung des Mandats ist auch, dass es immer noch keine Kosovo-Armee gibt. Der Transformationsprozess von der Kosovo Security Force hin zu einer Kosovo-Army dauert länger als ursprünglich gedacht.
Ein anderer Grund ist auch noch wichtig, um zu verstehen, warum es richtig ist, dass KFOR vor Ort noch gebraucht wird: der Einfluss dritter Akteure, insbesondere der Einfluss Russlands in der Region. Ein Beispiel: Das sogenannte russisch-serbische humanitäre Zentrum, das in der serbischen Stadt Nis, weniger als 100 Kilometer von der kosovarischen Hauptstadt Pristina entfernt, entstanden ist, wird sozusagen als Gegengewicht zur KFOR-Präsenz gesehen. Bei meinen Freundinnen und Freunden in Washington höre ich verstärkt Stimmen, die eine permanente Militärpräsenz im Kosovo in Betracht ziehen.
Meine Damen und Herren, jedem muss klar sein, jeder muss wissen, dass eine überbotmäßige Reduzierung der Truppenpräsenz, zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls, zu früh käme und damit gefährlich wäre. Das würde die bereits existierenden Spannungen in der Bevölkerung des Kosovo aufbrechen lassen und auch dem naheliegenden Einfluss Russlands ein offenes Feld überlassen. Das kann nicht in unserem Interesse sein, meine Damen und Herren.
Ich werbe genauso wie meine CDU/CSU-Bundestagsfraktion für die Verlängerung des Mandats, und ich danke ich Ihnen herzlich dafür, wenn Sie dabei mitmachen.
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Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Abgeordnete Thomas Erndl für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir sind im 20. Jahr des KFOR-Einsatzes. Es ist der längste Einsatz in der Geschichte der Bundeswehr; der Herr Staatsminister hat es dargestellt. Trotz einiger Rückschläge ist es der NATO-geführten Militärpräsenz gelungen, im Kosovo ein stabiles Umfeld zu schaffen für die schwierigen politischen Veränderungen, die notwendig waren. Deutschland hat dabei einen sehr großen Beitrag geleistet. Die Sicherheitslage ist gut und liegt mittlerweile im Wesentlichen in den Händen der Kosovaren selbst. Die KFOR-Kräfte bilden hier die dritte Sicherheitsebene und können flexibel an die Entwicklung der Sicherheitslage angepasst werden.
Können wir insgesamt zufrieden sein? Sowohl als auch: Es gibt Licht und Schatten. Diese Debatte hat es gezeigt: Wir haben eine stabile Sicherheitslage, die überhaupt die Grundlage für die politische Entwicklung ist. Aber natürlich gibt es gerade auch in wirtschaftlicher Hinsicht viel zu tun. Das ist aber doch kein Grund, KFOR insgesamt infrage zu stellen. Es verbleibt nach wie vor ein großes Konflikt- und Eskalationspotenzial, insbesondere im Norden. Die Lage wird oft als ruhig, aber nicht stabil bezeichnet, und manche sagen, es ist insgesamt noch mehr Sprengstoff, mehr Brisanz in der Region, als wir bei uns wahrnehmen. Ausdruck für die Instabilität ist die Ermordung des kosovarisch-serbischen Politikers Ivanovic, die kurzzeitige Verhaftung und Ausweisung des Kosovo-Beauftragten Djuric und einiges mehr. Das alles gefällt uns nicht. Natürlich können wir auch teilweise mit der politischen Situation nicht zufrieden sein. Korruption, mafiöse Strukturen, Islamismus: Viele Entwicklungen müssen wir mit Sorge betrachten. Aber können wir insgesamt zufrieden sein? Ich denke, ja. Es wurde viel geschaffen in diesen 20 Jahren. Ich verweise noch einmal auf meine Vorredner; sie haben hier schon vieles dargestellt.
Auch wenn wir noch viele Herausforderungen vor uns haben: Ich glaube, grundsätzliche Fragen friedlichen Zusammenlebens mitten in Europa sollten hier in diesem Hause keinen Dissens verursachen. Und wenn ich hier Kritik von links und von rechts höre, einfach hier vorgetragen ohne eine konkrete Lösung, dann muss ich fragen: Was hätten Sie denn 1999 getan?
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Hätten Sie das Morden einfach weiterlaufen lassen? Debattieren hätte den Menschen vor Ort sicherlich nicht geholfen.
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Meine Damen und Herren, in den Pfingstferien war ich mit meiner Familie im Norden Kroatiens, in Istrien, im Urlaub. Das ist von meinem Heimatort aus näher als Berlin. 1996 war ich als Soldat im ehemaligen Jugoslawien, auf dem Balkan. Ich stelle mich nicht hierhin und kritisiere, sondern ich frage mich in der Rückschau: Wie konnten wir damals solche Kriegshandlungen vor unserer Haustür zulassen? Wie konnten wir diese Situation zulassen?
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Was wäre denn 1999 Ihr Weg gewesen? Ich habe keine Antwort gehört. Deswegen war die Intervention der NATO im Jahr 1999 richtig.
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Deshalb war KFOR damals richtig und ist heute im 20. Jahr immer noch richtig, meine Damen und Herren.
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Den vielen Tausend Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die dort über Jahre ihren Dienst geleistet haben, gilt unser herzlichster Dank für diesen großen Einsatz. Wir vergessen auch nicht die 27, die bei diesem Einsatz ihr Leben lassen mussten.
Mancher mag nun meinen, angesichts der weiteren Reduzierung der Aufgabe des Feldlagers Prizren sei ein Ende absehbar. Ich vermag es an dieser Stelle nicht zu sagen. Der größte Fehler wäre, zu schnell nicht mehr hinzuschauen. Der größte Fehler wäre, in eine Situation zu kommen, in der wir vielleicht Provokationen zulassen und nicht mehr hinschauen. Ich glaube, es wird noch lange nötig sein, hinzuschauen, in welcher Form es auch immer geschehen wird. Im nächsten Jahr geschieht es im Rahmen des KFOR-Mandats. Deswegen bitte ich um Unterstützung für die Verlängerung.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/2384 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir Grüne haben die Reform der Wirtschafts- und Währungsunion auf die heutige Tagesordnung gesetzt. Eigentlich wäre es an der Regierung, dem Parlament einmal vorzustellen, was sie vorhat, und uns nicht nur per Sonntagszeitung darüber zu informieren. Es ist traurig, dass kein Vertreter der Regierung, der auf europäischer Ebene tätig ist, hier also Herr Roth, anwesend ist, um dieses Thema mit uns zu diskutieren.
({0})
250 Tage, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat es gebraucht, bis Frau Merkel Herrn Macron eine Antwort gegeben hat. 250 Tage – und das in einer Situation, die für uns Europäer alles andere als beruhigend ist: ein US- Botschafter, der offen angibt, Europa spalten zu wollen; Putin, der vorgibt, Europa einen zu wollen, und das Gegenteil tut; China, das Europas Infrastruktur aufkauft, um daraus politisch Profit zu schlagen. ln dieser Situation müsste doch allen klar sein: Wenn wir Europäerinnen und Europäer uns nicht selber helfen, hilft uns keiner. Wir wissen alle: Die Währungsunion ist nicht vollendet. Es braucht weitere Reformen und Solidarität zur Stabilisierung.
({1})
Macron hat Vorschläge gemacht, Juncker ebenso. Doch Frau Merkel wie immer: schweigen und blockieren. Der Druck im Kessel steigt und steigt – und im letzten Moment kommt etwas: wie immer zu spät und dann auch nur ein halber Schritt.
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Es ist immer die gleiche, brandgefährliche Merkel-Methode.
Erinnern Sie sich, als sich die Euro-Krise in Griechenland zuspitzte? Das war kurz vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Was machte Merkel also? Zögern, zaudern, warten bis zur Wahl. Dadurch eskalierte die Situation auf den Finanzmärkten. Eine rechtzeitige Antwort wäre so viel billiger gewesen.
Ein weiteres Beispiel ist Italien. Erinnern Sie sich? 2011 ist es durch Berlusconi in eine große Krise geraten. Er hatte sich eher um seine Liebschaften gekümmert als um sein Land. Dann kam Monti dran. Er ging die Reformen an: Rente, Arbeitsmarkt, die Berufsstände. Das alles ging er an. Gleichzeitig kam der Druck aus Europa, zu sparen. Er macht es. 30 Milliarden Euro kürzt er. Das war ein tödlicher Mix für die Wirtschaft und die Demokratie.
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Da hätte es klare Signale von Frau Merkel gebraucht, um die Menschen und nicht nur die Märkte zu beruhigen.
Jetzt gilt es, aus den Fehlern der letzten Jahre zu lernen. Kein Zaudern, kein Zögern, stattdessen endlich Handeln, und zwar im Sinne Gesamteuropas.
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Mit Blick auf die Wirtschafts- und Währungsunion gibt es vier Aufgaben.
Erstens: Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit stärken durch kluge Reformen und gezielte Investitionen.
Zweitens: Stabilisierung und Ausgleich makroökonomischer Unterschiede. Die gibt es. Die Idee Macrons, gemeinsame Aufgaben gemeinsam zu finanzieren, ist doch absolut richtig. Lassen Sie es uns endlich angehen und gemeinsam stemmen.
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Drittens: Rettungen in Notsituationen dürfen für den Steuerzahler nicht mehr teuer werden. Das geht mit der Vollendung der Bankenunion. Klar ist hier aber auch: Wer sein Haus selber anzündet, der darf nicht auf die Versicherung hoffen.
Viertens: Wir brauchen eine starke soziale Säule mit europäischen Mindeststandards; denn auch Sozialpolitik trägt zur Stabilisierung der Euro-Zone bei.
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Und was sind Merkels Antworten? Wie immer kommen sie nicht nur zu spät, sondern sie sind auch zu wenig. Und dann sind es noch Vorschläge, die zu weniger statt zu mehr demokratischer Legitimation führen. So will sie den Europäischen Währungsfonds rein zwischenstaatlich und ohne parlamentarische Kontrolle. Man gießt doch Öl ins Feuer der Populisten, wenn man in der Euro-Zone auf weniger Öffentlichkeit und Transparenz setzt statt auf mehr.
({7})
Wir wissen auch, dass sie wieder einmal viele Aufgaben angesprochen hat und was sie alles in Europa machen will. Das Problem ist nur: Sie gibt kein Geld dafür. Es sind alles nette Worte, aber es gibt kein Geld. Das ist auch nicht überraschend, schließlich steht die Landtagswahl in Bayern an. Ich kann nur hoffen, dass es nicht wieder so lange dauert, bis irgendetwas kommt, und dann wieder nur ein kleiner Trippelschritt. Es ist eigentlich zu gefährlich, mit innenpolitischen Machtspielen alles in Europa aufs Spiel zu setzen. Geben Sie sich einen Ruck!
Frau Kollegin.
Handeln Sie endlich für unsere Zukunft!
Ich danke Ihnen.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Dr. Katja Leikert das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verdanken der Europäischen Union Schutz und Wohlstand. Aber die Europäische Union ist keine Selbstverständlichkeit. Wir alle sind gefordert, diese große Gemeinschaftsidee ständig weiterzuentwickeln. Und da ist es gut, dass wir auf eine tiefe deutsch-französische Freundschaft setzen können. Wir sind froh und glücklich darüber, dass wir Frankreich als Nachbarn haben. Wir wollen ein starkes Europa, und da gibt es kein Zögern und Zaudern, wie Sie es eben angedeutet haben; denn nur wenn es der Europäischen Union gut geht, geht es Deutschland gut, und dann geht es auch Frankreich gut. Wir erteilen jeglicher kleingeistigen nationalistischen Spalterei eine klare Absage.
({0})
Es ist nicht erst seit gestern, dass sich die bipolare Welt in eine multipolare Welt gewandelt hat mit einem aufstrebenden Asien. Es ist auch nicht erst seit gestern, dass wir mit militärischen Konflikten in unserer unmittelbaren Nachbarschaft konfrontiert sind. Wir haben es mit massiven Migrationsbewegungen zu tun. Und natürlich treibt uns die Frage um, ob Europa auch noch in zehn Jahren ein starker, wettbewerbsfähiger Binnenmarkt ist.
Worum muss es uns jetzt gehen? Ich möchte kurz skizzieren, wie breit die Agenda ist, die wir politisch ausarbeiten wollen.
Erstens geht es um eine starke Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Dazu gehört die verstärkte Rüstungskooperation, aber auch die strategische Zusammenarbeit, insbesondere mit unseren französischen Freunden. Deutsch-französische Ideen sind beispielweise ein europäischer Sicherheitsrat sowie eine Interventionstruppe. Bereits jetzt arbeiten wir mit den Franzosen eng zusammen, beispielsweise in Mali oder auch im Irak.
Zweitens brauchen wir eine kluge Ausrichtung der Wirtschaftspolitik. Das beinhaltet mehr Investitionen in Zukunftstechnologien wie in den Bereich künstliche Intelligenz. Wir müssen auch weiterhin an dem Ziel festhalten, 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung zu investieren.
Drittens brauchen wir – das haben die letzten Jahre gezeigt – eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik, und dafür brauchen wir Europa. Dazu gehört ein einheitliches europäisches Asylrecht, dazu gehört ein guter Schutz der Außengrenzen, und dazu gehört ein Marshallplan mit Afrika, um die Zusammenarbeit zu intensivieren.
Diese Reformagenda, die ich eben skizziert habe, ist deshalb so wichtig für uns, weil wir ein wehrhaftes Europa brauchen und weil wir wollen, dass Europa auch in Zukunft international handlungsfähig bleibt. Wenn Europa neue Aufgaben übernehmen soll, liebe Frau Brantner, dann brauchen wir dafür natürlich mehr Geld. Wenn Sie den Koalitionsvertrag gelesen haben, dann wissen Sie, dass das Europa-Kapitel nicht irgendwo steht, an Stelle acht oder neun des Koalitionsvertrags, sondern an prominenter Stelle. Das ist das erste Kapitel.
({1})
Damit wird klar und deutlich skizziert, dass wir bereit sind, mehr Geld für Europa zu geben.
In den Anträgen – es liegt ja nicht nur ein Antrag der Grünen vor – nehmen Sie die Währungsunion besonders in den Blick. Das haben Sie eben auch getan, Frau Brantner. Es ist ja auch gut und richtig, immer wieder auf das Geld zu gucken. Gerade die Grünen erwarten an dieser Stelle mehr Lässigkeit von uns.
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Da muss ich Sie ein Stück weit enttäuschen; denn da ist etwas mehr Realismus gefragt. Wenn Sie sich in Europa umschauen, wenn Sie sich die Schuldenstände in manchen europäischen Staaten angucken, wird Ihnen klar, dass es richtig ist, dass wir bei unserer klaren Haltung bleiben: Erst kommt die Risikoreduzierung und die Einhaltung der Regeln, die wir uns in Europa selbst gesetzt haben, beispielsweise mit Blick auf die Bankenunion – wie Banken beaufsichtigt werden, wie Banken abgewickelt werden –,
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und erst dann kann man über so etwas wie Risikoteilung nachdenken.
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Momentan wird auf europäischer Ebene darüber diskutiert – auch das ist eine richtige Idee –, dass man, wenn es doch einmal so weit kommt, dass die gesamte Euro-Zone in Gefahr gerät, mit Krediten über einen Europäischen Währungsfonds unterstützend wirken kann, aber auch das nur zu ganz klaren Konditionen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht unsolidarisch, sondern einfach nur vernünftig.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Gerade mit Blick auf Großbritannien, das momentan wohl traurigste Kapitel in der Europäischen Union, bin ich persönlich sehr froh und hoffnungsvoll, dass ein Großteil der Deutschen ganz genau spürt und weiß, was diese Europäische Union für uns bedeutet. 75 Prozent der Deutschen sehen das übrigens so. Genau deshalb werden wir Europa stärken, damit es uns auch in Zukunft schützt. Das ist ein Satz von Macron. Den finde ich so schön, wie das Wetter momentan ist. Deshalb zitiere ich ihn gerne.
Ich wünsche allen noch einen schönen Abend. Danke schön.
({5})
Das Wort hat der Abgeordnete Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! „Tragen Sie Europa im Herzen“, das rief mir kürzlich ein Bürger auf einer Veranstaltung in Gera zu. Tragen Sie Europa im Herzen. – Er meint die eigentlich schöne Idee des Friedens durch Zusammenarbeit, des kulturellen Austauschs des gemeinsamen Handelns.
({0})
Und er hat recht.
Doch die Wahrheit ist: Die EU ist all das nicht mehr. Europäische Zusammenarbeit wurde ersetzt durch Richtlinien und Verordnungen aus Brüssel. Die Kommission hat zuerst die Glühlampe, dann das Bleigießen verboten und vergeht sich neuerdings an Wattestäbchen, Strohhalmen und dem Dieselmotor.
({1})
Migranten will sie zwangsansiedeln, völlig egal, ob das Land das will oder nicht. So was heißt, wie wir gelernt haben, „Solidarität“.
({2})
Was fordern Pro-EU-Parteien wie die Grünen für die Zukunft ein? Man schaut in den Antrag und liest: Man will einen Zukunftsfonds, ein Stabilisierungsbudget, einen Europäischen Währungsfonds, eine Bankenunion mit Abwicklungsfonds, eine soziale Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion, einen europäischen Chefkommissar. Sie erkennen es? Die Zukunft der EU wird nicht darin gesehen, Werte oder Zusammenarbeit zu leben. Hauptsache, es gibt Fonds und Budgets, in die Deutschland einzahlt und die ein Kommissar verteilt. Aus der einstigen Gemeinschaft der friedvollen Zusammenarbeit ist eine traurige und teure Schicksals- und Haftungsunion für die Fehler und die Misswirtschaft verschuldeter Länder geworden.
({3})
Und so befindet sich die Europäische Union verdientermaßen in der größten Krise ihrer Existenz.
({4})
Die EU ist in einer wirtschaftlichen Krise, weil der Euro nicht funktioniert und die Fantasie einer Einheitswährung, die es auch nie in der ganzen Union geben wird, an der Realität der unterschiedlichen Wirtschaftsräume scheitert.
({5})
Die Folgen der massiven Über- oder Unterbewertung sind in vielen Gegenden Europas Arbeitslosigkeit, Armut, Lohndumping, absurde Verschuldung und schließlich die Forderung, die einen Staaten sollten für die Fehler der anderen haften. Eine der zahlreichen Fehlleistungen von Angela Merkel war die Aussage: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Die Wahrheit ist: Die EU scheitert, gerade auch weil es den Euro gibt.
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Die EU ist vor allem aber in einer demokratischen Krise. Macron, Juncker und nun auch Merkel versuchen, eine immer stromlinienförmigere Union zu formieren, die nationale Identitäten nivelliert und dabei den politischen Willen vieler Menschen in Europa verletzt. Die deutsch-französische Freundschaft wird dazu missbraucht, dies voranzutreiben.
({7})
Eigentlich sollte die Kommission nichts anderes tun, als gemeinsame Projekte zu überwachen und ein paar Richtlinien zu erlassen. Mittlerweile werden die Mitgliedstaaten von der EU jährlich mit über 400 Rechtsetzungsakten mit Gesetzescharakter gepeinigt.
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Führungsfiguren wie Jean-Claude Juncker agieren zunehmend politisch und wollen regieren, immer mehr in die Souveränität der Länder hinein, obwohl sie nie jemand demokratisch gewählt hat.
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Juncker und Macron sind Sonnenkönige einer pervertierten europäischen Idee, und die FDP ist deren Prinzessin, wie sie durch ihren Antrag eindrucksvoll beweist.
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Das Modell einer überbordenden, undemokratischen EU scheitert vor unseren Augen. Tragen wir die ursprüngliche Idee europäischer Freundschaft im Herzen! Erinnern wir uns an den Élysée-Vertrag und an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft von 1957 – eine herausragende Leistung! Man hatte vereinbart, sich abzusprechen, regelmäßig miteinander zu reden, Austauschprogramme einzurichten.
({11})
– Wir waren dafür bzw. uns gab es noch gar nicht.
({12})
Man schuf eine Zollunion und einen Binnenmarkt zum Wohle aller. Aber kein Staat griff in die Angelegenheiten des anderen Staates ein. Europäische Zusammenarbeit bedeutete Austausch statt Bevormundung, Pluralismus statt Hegemonie, Stärke aus Vielfalt – in varietate concordia. Die Fonds und Budgets waren klein, die Wirtschaft war groß und stark. Selbst meine Großmutter hatte schon französische Gastschüler bei sich. Das war europäisch; das war gut.
({13})
Gestalten wir wieder ein Europa der Zusammenarbeit souveräner Nationen, europäische Freundschaft nach dem Vorbild der Römischen Verträge, mit Binnenmarkt, Freihandel, Zollunion und weitgehender Freizügigkeit – außer in die Sozialsysteme –,
({14})
eine Gemeinschaft der Freundschaft, in der man eine gemeinsame politische Stimme stets suchen und zu finden versuchen sollte, in der aber eine demokratische Kultur des Dissenses und des Diskurses gelebt werden kann,
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eine Gemeinschaft, in der die Nationen entscheiden und die Kontrolle behalten, ein Europa der Freiheit und nicht der Bevormundung! Das wäre eine Chance für eine großartige Europäische Gemeinschaft.
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Weniger EU ist mehr Europa. Tragen wir das im Herzen!
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Das Wort hat der Abgeordnete Johannes Schraps für die SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Ich glaube, auf meinen Vorredner brauche ich wirklich nicht lange einzugehen.
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Dass europapolitisches Verständnis da vollends fehlt, ist eben fünf lange Minuten deutlich geworden; vielen Dank.
({1})
Es ist jetzt das dritte Mal, dass ich hier vorne stehen darf und für meine Fraktion spreche, und stets spielten die Vorschläge von Macron eine wichtige Rolle. Das ist auch kein Wunder. Schließlich hat er seine Initiative für Europa am 26. September 2017, kurz nach der Bundestagswahl, vorgestellt.
Bei meiner ersten Rede im Januar hatten wir mit Martin Schulz gerade wichtige europapolitische Punkte im Sondierungspapier verankert.
({2})
Die zweite war dann im März, kurz nach Abschluss des Koalitionsvertrages. Auch hier war es meine Partei, die SPD, die dafür gesorgt hat, dass Europa maßgeblich für das Handeln der Bundesregierung wird.
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Als SPD-Bundestagsfraktion haben wir bereits vor zwei Jahren einen weitreichenden Beschluss zur Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion gefasst. Schon damals haben wir viele Forderungen genannt, die Macron später in seiner Sorbonne-Rede genannt hat. Damit gute europapolitische Vorschläge aber auch implementiert werden können, müssen wir unbedingt mit zwei Annahmen aufräumen:
Die erste ist der Mythos von Nettozahlern und Nettoempfängern. Der ist schlicht falsch.
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Der Mehrwert, den insbesondere Deutschland an Europa hat, ist weitaus größer als das, was wir für die Europäische Union finanziell aufwenden.
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Wir können uns nur so gut entwickeln und so leben, wie wir es tun, weil wir in einem europäischen Umfeld leben, das genau diese Entfaltungsmöglichkeiten auch zulässt. Deswegen ist es in unserem ureigenen Interesse, dieses sichere Umfeld, die Europäische Union, zu stärken und weiterzuentwickeln.
({6})
Die zweite Annahme ist, dass die erzielten Fortschritte bei der Entwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion bereits ausreichen. Auch das ist leider falsch. Spätestens nach der Expertenanhörung des Europaausschusses am Montag wird all denen, die aufmerksam zugehört haben, klar geworden sein, dass die Bankenunion erst dann wirkungsvoll die vorhandenen Risiken angeht, wenn sie auch wirklich vollendet ist. Wer fordert, auf halbem Weg stehen zu bleiben oder sogar zurückzulaufen, der beschwört höchstens eine Wiederkehr der Krise herauf.
({7})
Wir haben bereits große Anstrengungen in eine krisenfeste Sicherheitsstruktur der Wirtschafts- und Währungsunion gesteckt, beispielsweise mit einem einheitlichen Aufsichtsmechanismus. Auch unser Finanzminister Olaf Scholz – der Europa- und der Finanzbereich unserer Bundesregierung sind heute durch Christine Lambrecht und Niels Annen hier vertreten – hat beim Ecofin-Rat vor zwei Wochen erneut einen wichtigen Schritt hinbekommen, und zwar die Einigung auf ein Bankenpaket, das erhöhte Verlustpuffer von Banken für den Krisenfall vorsieht.
Es fehlen jedoch immer noch einige essenzielle Bausteine – das stimmt –, um weiterhin vorhandene Risiken im Bankensektor wirkungsvoll einzudämmen. Dafür wird aktuell unter anderem ein Bankenabwicklungsfonds aufgebaut. Damit der aber wirklich funktionsfähig ist, sollten wir eine Letztsicherung auch beim ESM einrichten.
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Diese Maßnahme würde die Struktur der WWU krisenfester machen und zudem für mehr Vertrauen sorgen.
Wir wollen nicht, dass Bürgerinnen und Bürger mit ihren Steuergeldern noch einmal für Banken haften müssen, die teilweise durch Profitsucht und hemmungslose Spekulationen in Schieflage geraten sind.
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Um das zu erreichen und damit aus einer Bankenkrise keine Staatsschuldenkrise werden kann, muss die Kopplung zwischen Staaten und Banken weiter aufgelöst werden.
Asymmetrische Schocks – von denen wird ja gerade aktuell mit Blick auf den Brexit immer wieder gerne geredet – sind eine Gefahr, die wir gerade in politisch unsicheren Zeiten wirklich nicht unterschätzen dürfen. Aus unserer Sicht sollte die Euro-Zone deshalb mit einer eigenen – möglichst im EU-Haushalt integrierten – Fiskalkapazität ausgestattet werden, um Risiken wirkungsvoll abfedern zu können.
({10})
Als einheitliche Finanzierungsquelle könnte dazu aus meiner Sicht zum Beispiel eine europäische Digitalsteuer dienen.
({11})
Daran, wie so was konkret ausgestaltet werden kann – damit komme ich zum Schluss, Frau Präsidentin –, wird mit den europäischen Partnern intensiv zu arbeiten sein.
({12})
Die Antwort der christdemokratischen Kanzlerin vor einigen Tagen war für mich höchstens ein kleiner Anfang. Als SPD denken wir da schon lange ein ganzes Stückchen weiter. Das kann man auch klar und deutlich noch einmal in unserem gerade veröffentlichten Positionspapier zur Wirtschafts- und Währungsunion nachlesen.
Ganz herzlichen Dank.
({13})
Ein kleiner Hinweis: Die Ankündigung des Schlusses der Rede ersetzt nicht den Schlusspunkt.
({0})
Ich bitte, das in Zukunft zu beachten.
Das Wort hat der Kollege Alexander Graf Lambsdorff für die FDP-Fraktion.
({1})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir führen eine europapolitische Debatte. Wir führen sie ohne die Bundeskanzlerin, und wir führen sie ohne den Außenminister.
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Das zeigt wenige Wochen vor einem wichtigen Treffen des Rates, in einer Zeit, in der mit dem Brexit, den Wahlen in Italien und den Fragen der WWU wirklich große Themen anstehen, einmal mehr, dass die europapolitische Debatte, die hier im Bundestag geführt werden muss, von der Bundesregierung nicht ernst genommen wird. Ich finde das absolut bedauerlich.
({1}))
Wer bei der Karlspreisverleihung in Aachen war, der hörte dort drei Reden zu Europa. Zwei waren von Mitgliedern der CDU, und eine war von Emmanuel Macron. Die von Macron war spitze. Die Rede des einen CDU-Redners war auch spitze, ihn sollten sie nach Berlin holen. Das war der Oberbürgermeister von Aachen. Er hat eine europapolitische Rede gehalten, die die CDU als Europapartei quasi wieder aufleben ließ.
Die Bundeskanzlerin ging anschließend hin und leierte lustlos eine Laudatio auf Emmanuel Macron runter, anstatt in Aachen, in der Öffentlichkeit zu sagen, wie sie sich die Zukunft unseres Kontinents vorstellt. Was hat sie stattdessen gemacht? Ein Interview gegeben, das die Bürgerinnen und Bürger unter der Voraussetzung lesen können, dass sie vorher für die Sonntagszeitung einen Obolus abliefern und sich diese Ausgabe kaufen. Meine Damen und Herren, wir müssen Europa anders debattieren.
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Das Thema ist zu wichtig, als das wir es nebensächlich behandeln könnten.
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Deswegen haben wir als Fraktion einen umfassenden Antrag vorgelegt. Wir wollen das gelebte Europa der Bürger. Wir wollen Erasmus+ stärken. Wir wollen die Mittel für den Austausch von Studenten und von Schülerinnen und Schülern verdoppeln.
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Wir wollen Free Interrail unterstützen. Wir wollen transnationale europäische Listen bei der Europawahl. Wir wollen Europa nach vorne bringen, auch effizienter machen. Die Verkleinerung der Kommission ist lange überfällig.
Wir wollen ein Europa mit einer dynamischen Wirtschaft. Wir wollen eine Modernisierung des EU-Haushalts in Richtung auf Forschung und Innovation. Wir wollen die Umwandlung – ja – des Europäischen Stabilisierungsmechanismus in einen Europäischen Währungsfonds, der in Krisen die Wirtschaft stabilisiert, weil wir in einer Währungsunion so etwas wie eine Feuerwehr brauchen.
Und wir wollen die Stärkung der Europäischen Investitionsbank, weil sie das private Kapital mobilisiert, um über Investitionen in Europa Wachstum und Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist das Drei-Säulen-Modell, das die Freien Demokraten hier vorschlagen: EU-Haushalt modernisieren, den EWF stärken und die Europäische Investitionsbank noch besser ausstatten als bisher.
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Was wir nicht wollen, liebe Grüne – ich habe Ihren Antrag durchgelesen –
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– ja, fleißige Abgeordnete bei der FDP –, sind Nebenhaushalte und Schattenbudgets. Auch die Grünen sind doch schon lange für die Budgetierung des Europäischen Entwicklungsfonds, aus gutem Grund. Neben- und Schattenhaushalte: Wie wird das Ganze denn kontrolliert, bitte schön, wenn wir hier noch einen Fonds machen und da noch ein Budget haben?
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Stärken wir doch bitte den europäischen Haushalt, der von einem Parlament kontrolliert wird, anstatt lauter Nebentöpfe in Brüssel aufzustellen, aus denen sich die Mitgliedstaaten diskretionär bedienen können: Wenn es mal nicht so gut läuft, bekomme ich Milliarden aus Brüssel. – Wer kontrolliert das?
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Wo kommt das Geld her? Nach welchen Kriterien wird es ausgegeben? Alles völlig unklar in dem Antrag der Grünen. Deswegen werden wir ihn auch ablehnen, meine Damen und Herren.
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– Nein, Emmanuel Macron möchte eben nicht, dass das vom Europaparlament kontrolliert wird.
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– Ach, das ist ja super.
Die Grünen haben uns vorgehalten, wir seien antieuropäisch, weil wir Macron kritisieren. Im Antrag der Grünen ist praktisch nichts von Macron übrig. Sie sind gegen die Atompolitik, die Flüchtlingspolitik, die Außen- und Sicherheitspolitik, die Beitrittsperspektive des Westbalkans und das Kerneuropakonzept von Emmanuel Macron. Da sind mehr Differenzen zwischen den Grünen und Macron als zwischen der FDP und Macron. Wir sind hier die Proeuropäer, meine Damen und Herren.
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Wir wollen eine starke europäische Außenpolitik.
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Wir wollen die Stärkung des Europäischen Auswärtigen Dienstes, Mehrheitsentscheidungen in der GASP und schnellstmöglich die Ratifizierung von CETA, um auch in der Handelspolitik ein starkes Zeichen zu setzen.
Lassen Sie mich noch einen Satz zum Schluss sagen. Herr Kleinwächter, Sie haben wirklich das wiederholt, was Sie hier aufgeschrieben haben, nämlich dass der deutsch-französische Freundschaftsvertrag und auch die EWG Eingriffe in die Souveränität der Länder nicht vorgesehen hatten. Auf welchem Planeten haben Sie Geschichtsunterricht gehabt?
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Schon 1951 wurde mit der Montanunion – das können Sie bei Wikipedia nachlesen – Folgendes begründet:
Eine besondere Neuheit war die Gründung einer Hohen Behörde, die ... gemeinsame Regelungen für alle Mitgliedstaaten treffen konnte.
Das war der Weg in die Supranationalität. Das war der Weg in die Strukturen, in die Europäische Kommission, in die Art der Zusammenarbeit, wie wir sie heute pflegen.
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Kollege Lambsdorff, ich weiß etwas, was Sie noch nicht wissen, nämlich dass Sie gleich die Möglichkeit haben, tatsächlich weiterzureden. Aber jetzt müssen Sie einen Punkt setzen.
Alles klar. Ich mache einen Punkt. – Das Europa der Nationen: Wohin das führt, konnten wir 1945 in Köln und in Dresden sehen. Wenn die AfD da wieder hinwill – herzlichen Glückwunsch. Wir anderen werden da nicht mitgehen.
Danke sehr.
({0})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Sarrazin das Wort.
Lieber Kollege Lambsdorff, die Grünen sind so sozial: Wenn Ihnen die Redezeit ausgeht, dann melden wir uns. Das ist doch gelebte europäische Solidarität.
Aber es gibt ja den angeblichen Wettbewerb, wer am meisten mit Macron erreicht.
({0})
Eines muss man einmal sagen: Echte Europäer haben sich über seine Rede an der Sorbonne gefreut, weil sie einen Impuls für Europa gegeben hat, und viele Europäer aus vielen Fraktionen haben versucht, diesen Impuls zu nutzen. Da waren die Grünen schon ganz glaubwürdig vorne dabei.
Das andere, was aber wichtig ist, zu sagen: Der allererste Schritt, den man machen müsste, um die Glaubwürdigkeit der Euro-Zone herzustellen, ist doch, dass für eine nächste mögliche Krise die Glaubwürdigkeit der Bankenunion durch einen Backstop mit Mitteln aus dem ESM untermalt wird. Das ist der erste und wichtigste Punkt von Emmanuel Macron, und es war übrigens der erste Punkt, zu dem Sie einen Antrag eingebracht haben: Niemals darf man das machen; dann ist Deutschland am Ende. Das machen wir niemals mit. – Das passt nicht zu Ihrer Erzählung.
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Zu dem zweiten Punkt. Herr Lambsdorff, ich weiß ganz genau, dass Sie in den Jamaika-Verhandlungen saßen und alles dafür getan haben, dass wir uns gemeinsam auf ein Konzept einigen, das auf Macron antwortet, und zwar rechtzeitig genug, um noch vor den italienischen Wahlen das Signal nach Italien zu geben. Wir hätten das wirklich gerne mit Ihnen gemacht,
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auch wenn wir über einzelne Punkte streiten. Zum Beispiel finden wir, dass die Erweiterungsperspektive für den Balkan wichtig ist.
Und dann ist Folgendes passiert: Ihr Parteivorsitzender hat unser schönes gemeinsames Projekt, bei dem wir gemeinsam Herrn Macron die Antwort hätten geben können, einfach so aus unseren Träumen gerissen und sich davongemacht.
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Das tut uns bis heute leid, Herr Lambsdorff. Wir hätten gern mit Ihnen gemeinsam Herrn Macron die Antwort gegeben. Das konnten wir leider nicht; es ist aber nicht unsere Schuld.
Danke sehr.
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Sie haben das Wort zu einer Erwiderung.
Lieber Kollege Sarrazin, Sie sind als Politiker besser als als Psychologe.
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Sie sind als Politiker auch besser als als Historiker für Vorgänge, die sich bei uns in der Partei abgespielt haben. Ich glaube, wir haben miteinander respektvoll um gute Positionen für Europa gestritten. Es stimmt: Wir sind nicht überall zusammengekommen. Das wissen die, mit denen wir das gemacht haben, sehr gut. Die Gespräche waren völlig in Ordnung.
Aber an einer Stelle muss ich Ihnen wirklich widersprechen: Der Backstop für die Banken war nicht der erste Punkt von Macron. Der erste Punkt von Macron, der gesamte erste Schlüssel seiner Rede, die er an der Sorbonne gehalten hat, war die Stärkung der Sicherheit Europas, der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, des gemeinsamen Grenzschutzes – Frontex – und der Terrorismusbekämpfung in Europa und dass wir das alles gemeinsam machen, weil die Sicherheit aus französischer Sicht ein absolut zentrales Thema ist.
Die ganzen Fragen zur Wirtschafts- und Währungsunion sind Punkt sechs in seiner Rede, nicht Punkt eins, und da haben wir an der einen oder anderen Stelle deswegen eine abweichende Meinung von Emmanuel Macron, weil er sich, wie wir finden, ausschließlich auf die Makroebene konzentriert. Und es ist ja klar, dass, wenn ich überall Geldtöpfe hinstelle, auch alles irgendwie läuft. Er hat aber völlig aus dem Blick verloren, welche Anreize man setzt, wenn man Geldtöpfe in die Mitte Europas stellt, aus denen dann Mitgliedstaaten, die sich nicht reformieren – und er reformiert Frankreich ja sehr stark –, einfach Geld bekommen.
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Wir sind der Meinung, das setzt die falschen Anreize für die wirtschaftliche Stärke Europas, und deswegen sind wir der Meinung, dass das nicht der richtige Weg ist.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Diether Dehm für die Fraktion Die Linke.
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Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Erfolge von rechten Parteien selbst bei werktätigen Schichten in Europa sind auch Reaktion auf mangelnde europäische Solidarität und auf deutsch-imperialistische Überheblichkeit bei der Bankenrettung und vor allem bei Exportüberschüssen, was ja immer die kongruente und reziproke Spiegelung der Schulden ist.
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Mit der Verweigerung von Flüchtlingskontingenten wollen jetzt einige nationalistische Regierungen zurückkoffern. Aber die multiplen Krisen und die hohe Gefährdung des Euro verschärfen sich weiter.
Nun hat die Kanzlerin sich endlich zur Macron-Rede geäußert. Aber das Einzige und, wenn wir Herrn Lambsdorff folgen, das Wichtigste, was sie mit ungeteilter Freude übernimmt, sind Aufrüstung, EU-Militär und robustere Abwehr von Menschen, die auch vor deutschen Waffen fliehen. Das ist nichts für Die Linke, egal ob es aus dem Mund von Macron oder aus dem von Frau Merkel kommt.
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Ansonsten akzeptiert Frau Merkel einen europäischen Finanzminister, aber nur als Verarmungskommissar für den Süden, während Macron zumindest in Erwägung zieht, bei wirtschaftlicher Schwäche antizyklisch gegenzusteuern. Aber dass ein europäischer Finanzminister jeglicher parlamentarischer Kontrolle entzogen ist, stört weder Macron noch Frau Merkel. Aber es stört Die Linke.
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Macron will ein Sonderbudget für konjunkturstabilisierende Investitionen, aber nur in der Euro-Zone. Das läuft – auch das haben wir von Herrn Lambsdorff gelernt – auf ein Kerneuropa hinaus. Ein Kerneuropa, lieber Herr Lambsdorff, lässt Europa zerfallen in zwei Geschwindigkeiten und sorgt für mehr Arbeitsmigranten dann aus Nicht-Euro-Ländern wie Polen, Ungarn und Bulgarien. Wenn Sie das alles wollen, kann ich Ihnen nur sagen: Das hat mit Zusammenhalt, mit dem Kohäsionsgedanken nichts, aber auch gar nichts zu tun.
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Ginge es nach Frau Merkel, bewegte sich das angesprochene Budget im niedrigen zweistelligen Milliardenbereich. Es wäre gebunden an sogenannte Strukturreformen – ein hübsches Wort für asoziale Kürzungsdiktate und grausame Schicksale –,
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und das, wo doch die Kommission die Investitionslücke in der Euro-Zone bei 400 Milliarden Euro sieht. Das sind 15 Prozent weniger als vor der Krise. Macrons Forderung nach ökonomischer und sozialer Konvergenz bleibt vage und öffnet einer Hartz-IV-Politik auf europäischer Ebene Tür und Tor. Die Arbeitskraftverkäuferinnen und -verkäufer in Deutschland müssen sich dann auf noch schärfere Wettbewerbsbedingungen einstellen beim Gürtel-enger-Schnallen.
Kritik von links und Gewerkschaftsseite wurde ebenso stets abgebügelt wie Gregor Gysis Kritik 1998 an der Euro-Einführung und an der Vertragsmissgeburt EU. Aber alles hat sich bewahrheitet. Heute fordert selbst Macron, deutsche Exportüberschüsse zurückzufahren durch höhere Löhne. Die Nachfrage ist ein Punkt, auf den man in der Debatte deutlicher hinweisen sollte.
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Was machen Sie denn, wenn Portugal, Spanien, Griechenland und Italien in Notwehr eine Südwährung auflegen sollten? Dann ist der Euro in den Hintern gekniffen, und der Exportüberschuss ist auch im Eimer. Wir brauchen jetzt 2 Prozent des BIP für Forschung, gegen Jugendarbeitslosigkeit, gegen Klimawandel, gleichen Lohn für gleiche Arbeit, nationale Sozialstandards vor der Binnenmarktfreiheit, einen koordinierten Mindeststeuersatz von 25 Prozent auf Gewinne von Kapitalgesellschaften und eine Quellensteuer von 25 Prozent auf abfließende Gelder. Steuergerechtigkeit bleibt eine Kernforderung der Linken.
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Wir brauchen – Frau Präsidentin, das sage ich zum Abschluss – gerade in Zeiten des durchgeknallten Tramplers im Weißen Haus militärischen und wirtschaftlichen Frieden mit dem europäischen Russland. Europa ist größer als die EU.
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Europa ist auch Russland. Darum ist Abrüstung proeuropäisch und nicht Aufrüstung.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Florian Hahn das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war gestern auf dem Kongress der Europäischen Volkspartei in München, bei dem sich gestern und heute Parteivorsitzende, europäische Staatschefs und führende Europapolitiker der EVP-Parteienfamilie, der auch die CSU und die CDU angehören,
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getroffen haben, um über die Zukunft Europas zu diskutieren. Neben Kardinal Marx und Botschafter Ischinger waren zahlreiche andere Gäste und Diskussionspartner geladen. Mein Eindruck war, dass allen bewusst ist, was Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Rede mit dem Satz „Europa steht am Scheideweg“ beschrieben hat. In der Tat geht es auch meiner Meinung nach darum, Europa zukunftsfest zu machen, weil die europäischen Nationalstaaten in vielen Bereichen nicht groß genug sind – auch Deutschland mit seinen 80 Millionen Menschen nicht –, um nicht zwischen den großen und globalen Akteuren aufgerieben zu werden, und auch zu klein sind, um sich für die massiven Veränderungsprozesse global ausreichend wappnen zu können. Deshalb müssen wir unsere Kräfte dort entsprechend bündeln und politisch an einem Strang ziehen .
Die deutsch-französische Achse ist dabei ein wichtiger Motor. Der französische Präsident hat in seiner vielbeachteten Rede im letzten September seine Vorstellungen zu Europa deutlich und klar definiert. Das war in der Tat ein wichtiger Impuls; das stimmt. Dass hierbei natürlich auch französische Interessen eine große Rolle spielen, sollten wir ihm mit Blick auf sein Amt nicht vorwerfen; aber wir sollten dies bei aller Sympathie für die Rhetorik und den Charme auch nicht übersehen.
Umso dankbarer bin ich, dass die Bundeskanzlerin in den vergangenen Tagen ihre Ideen und unsere Interessen eingebracht hat und so die Reformdebatte voranbringt. Europa müsse den Menschen ein Sicherheitsversprechen geben, sagte sie ihm, und das ist in vielerlei Hinsicht richtig und wichtig; denn es ist genau der Nutzen, den die Bürgerinnen und Bürger von Europa in verschiedenen Dimensionen erwarten: Sicherheit.
Die Bundeskanzlerin hat deshalb fünf Handlungsfelder identifiziert. Erstens: die gemeinsame Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Zweitens: die gemeinsame Entwicklungs-, Migrations- und Asylpolitik. Drittens: eine gemeinsame Wirtschafts-, Wissenschafts- und Währungsunion. Viertens: eine Union der Bildung, der kulturellen Vielfalt und der Bewahrung der Schöpfung. Fünftens: die Stärkung der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union.
Ich freue mich über die Klarstellung, dass es bei den anstehenden europäischen Reformen nicht nur um die Wirtschafts- und Währungsunion geht; denn hier droht in der Diskussion manchmal der Bogen überspannt zu werden. Solidarität kann nur als Hilfe zur Selbsthilfe gemeint sein, und zwar an diejenigen, die sich redlich bemühen, die Stabilitätsvorgaben und -vereinbarungen einzuhalten. Solidität geht vor Solidarität; dabei muss es bleiben. Europa muss für die Bürger einen echten erkennbaren Mehrwert liefern, indem es sich auf die Felder konzentriert, die es besser erledigen kann, als wenn jeder Mitgliedstaat für sich alleine rumwurschtelt. Verantwortlichkeiten müssen dabei klar benannt und eingehalten werden.
Migration ist das Thema, das die Menschen in unserem Land, das die Menschen in Europa am meisten bewegt. Das Angebot Macrons, im Bereich der Grenzsicherung, der gemeinsamen Asylpolitik und bei der Bekämpfung der Fluchtursachen enger zusammenzuarbeiten, sollten wir deshalb dringend annehmen.
Begrüßen möchte ich auch den mehrfachen Hinweis der Bundeskanzlerin auf die Notwendigkeit der Beteiligung der nationalen Parlamente. Ich bin optimistisch, dass wir die europäischen Herausforderungen der Zukunft gemeinsam werden meistern können. Deutschland und Frankreich müssen die Kraft und die Kompromissbereitschaft aufbringen, die hierfür notwendigen Initiativen gemeinsam zu entwickeln und den europäischen Partnern vorzuschlagen.
Drei Grundprinzipien müssen uns dabei den Weg weisen: das Haftungsprinzip, das Binnenmarktprinzip und das Subsidiaritätsprinzip. Ich freue mich auf die Diskussionen in den nächsten Wochen.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat die Abgeordnete Dr. Frauke Petry.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist unstrittig: Noch immer bilden Deutschland und Frankreich den Motor der Europäischen Union. Klar ist auch: Europäische Zusammenarbeit ist ohne diese Freundschaft nicht möglich. Freundschaft bedeutet aber nicht, dass man sich zugunsten des anderen vergisst, und sie bedeutet ebenso wenig, dass man den anderen bedrängt und immer neue, vor allen Dingen finanzielle Forderungen stellt. Wer solche missverstandene Freundschaft sucht, der wird in den Anträgen der Fraktion der Grünen und leider auch der FDP gleichermaßen fündig.
Liebe SPD, dass Sie, wenn es hart auf hart kommt, die Akzeptanz der Grundrechenarten verweigern und die schlichten Fakten von Nettozahlern und Nettoempfängern zu einem Mythos erklären, das spricht Bände über Ihr Wirtschaftsverständnis.
Wir schwanken zwischen nationaler Selbstaufgabe und EU-bürokratischer Selbstüberhöhung, und Sie Grünen sind zumindest ehrlich, wenn Sie sagen, dass es vor allen Dingen eines bedeutet: mehr Geld, das die Geberländer zahlen sollen.
Sie, liebe FDP, täuschen Ihre Wähler. Sie täuschen die Bürger, indem Sie so tun, als wollten Sie nicht mehr EU-Budget und mehr nationale Souveränität. In Wirklichkeit hängen Sie genau der gleichen EU-Utopie an wie die Grünen. Das merkt man auch an Ihrem Abstimmungsverhalten im EU-Parlament.
Tatsächlich ist es so, dass die Reformallianz aus Deutschland und Frankreich am Ende teuer bezahlt sein wird. Die osteuropäischen Staaten werden als Hindernisse innerhalb der Europäischen Union angesehen. Dabei geht es am Ende um eine demokratische Kontroverse. Es muss uns aufhorchen lassen, dass die Osteuropäer ein anderes Europa wollen als Sie. Es kann nicht sein, dass ein neues Europa von Knebelverträgen gekennzeichnet ist, dass diese Knebelverträge am Ende uns zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammenschmieden, sodass uns eine Auflösung solcher Verträge teuer zu stehen käme.
Kurzum: Wir sollten über eine richtige Idee für Europa nachdenken, und das ist eben nicht die Utopie von Herrn Macron. Wir wollen ihn nicht zum nächsten Sonnenkönig machen. Und nein, Frankreich kann sich seine europäischen Träume nicht von Deutschland bezahlen lassen.
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Meine Damen und Herren, es sollte uns zu denken geben, dass eines der Gründerländer der Europäischen Union, Italien, nun eine sehr EU-kritische Regierung unter linker und rechter Beteiligung gleichermaßen hat. Wir reden von einem Kernland der Europäischen Union.
Meine Damen und Herren, wenn Sie so weitermachen, werden wir nicht die Akzeptanz Europas fördern, sondern die Feindschaft zur EU vergrößern, und das kann nicht allen Ernstes unser Ziel sein. Deswegen sollten wir als wahre Unterstützer europäischer Ideen nicht mehr von dieser EU fordern. Wir sollten uns in der Tat auf das konzentrieren, was sie groß gemacht hat, und das war der friedliche und demokratische Wettbewerb der europäischen Nationalstaaten.
Herzlichen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun die Abgeordnete Angelika Glöckner das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Für die SPD hatte die Europapolitik schon immer oberste Priorität. Wir wissen: Deutschland geht es auf Dauer nur gut, wenn Europa nicht schwächelt. Präsident Trump verlagert seinen Fokus mehr und mehr auf den asiatischen Raum, verhängt Strafzölle gegen Europa, und auch der amerikanische Ausstieg aus dem Atomabkommen mit dem Iran stellt ganz Europa vor Herausforderungen. Der Klimawandel, die Digitalisierung, die vielen Krisenherde mit Millionen Menschen auf der Flucht – all diese globalen Themen kann Europa nur gemeinsam lösen.
Aber ich will auch sagen: Ich glaube, Sie müssen den Kopf nicht in den Sand stecken. Mit mehr als 500 Millionen Unionsbürgern verfügen wir über ein großes Potenzial an Erfindungsgeist und Vielfalt. Vor allem verfügen wir über das wertvollste Gut überhaupt: den Wert der Freiheit und der Demokratie für die Menschen in der Europäischen Union. Dafür, verehrte Kolleginnen und Kollegen, lohnt sich der Einsatz.
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Sowohl Deutschland als auch Frankreich verfügen über eindeutig proeuropäische Regierungen. Einem deutsch-französischen Tandem als Antriebsmotor für europäische Reformen steht im Grunde genommen nichts entgegen. Ich rede oft in meinem Wahlkreis, der unmittelbar an der französischen Grenze liegt, mit den Menschen, und sie wollen ein geeintes und ein starkes Europa, gerade in diesen unruhigen Zeiten. Und in Gesprächen höre ich immer wieder die gleichen Erwartungen: Die Politik muss etwas gegen die Steuervermeidung tun, die Steuerzahler dürfen nicht für die Bankenrettung herhalten, wir dürfen kein Lohn- und Sozialdumping zulassen, und die EU muss handlungsfähiger und schlagkräftiger werden. Ich antworte den Leuten: Vorschläge für europaweite Mindeststeuersätze, für die Vollendung der Bankenunion – damit Banken eben nicht wieder mit Steuergeldern gerettet werden müssen – liegen auf dem Tisch. Wir wollen den Europäischen Stabilitätsmechanismus zu einem Europäischen Währungsfonds weiterentwickeln, und wir können uns perspektivisch sogar einen europäischen Finanzminister vorstellen, um Wirtschafts- und Finanzpolitik besser aufeinander abzustimmen und effektiver gegen Steuerbetrug und Steuervermeidung in Europa vorzugehen. – Das stand auch schon immer im Wahlprogramm der SPD.
Im gemeinsamen Binnenmarkt ist der Wettbewerb elementar für Wachstum und Wohlstand, allerdings nur, wenn der Wettbewerb um die günstigen Preise nicht zu Lohn- und Sozialdumping führt. Deshalb muss die soziale Dimension der EU entsprechend starke Beachtung finden.
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Die Sozialdemokratie fordert seit langem europäische Mindestlöhne und einen Rahmen für soziale Grundsicherungssysteme.
Die Anträge der Opposition, die uns heute hier vorgelegt wurden, enthalten insofern nichts Neues. Allerdings, beim Durchlesen – das muss ich sagen – erwecken sie schon den Eindruck, als gäbe es in der EU den totalen Stillstand. Das, finde ich, muss man auch differenziert betrachten. Die Verabschiedung der europäischen Säule sozialer Rechte im letzten November, dieser Grundsätze für ein sozialeres Europa, trägt bereits erste Früchte,
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etwa mit der beabsichtigten Transparenzinitiative zur Stärkung von Beschäftigtenrechten.
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Ganz besonders freut es mich, dass nun endlich, übrigens auf sozialdemokratischen Druck, die Reform der EU-Entsenderichtlinie verabschiedet werden konnte. Das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ muss innerhalb der EU flächendeckend gelten.
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In einem Punkt pflichte ich allerdings den Oppositionsanträgen der Linken und der Grünen bei: Es ist Zeit zum Handeln. Beim anstehenden Europäischen Rat Ende Juni hat die Bundeskanzlerin die Gelegenheit dazu.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Heribert Hirte das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer! Es ist gut, dass wir über Europa reden. Noch besser ist, dass wir drei Anträge haben, die sich eindeutig als proeuropäische Anträge bezeichnen lassen können. Sie sind in den Einzelheiten unterschiedlich – das ist normal –, aber es ist ein Teil des Streits, der die Politik ausmacht, dass wir über die Inhalte streiten und nicht über die Frage, an welcher Stelle etwas geregelt wird. Das ist das Problem, das bei allen diesen Kompetenz- und Subsidiaritätsdiskussionen ein bisschen zu kurz kommt.
Sie haben in den Anträgen angemahnt, Bundeskanzlerin Merkel solle endlich auf Macron zugehen. Sie ist auf ihn zugegangen, nicht zu spät, sondern genau rechtzeitig, sodass über alle diese Fragen noch geredet werden kann.
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Sie hat einige Punkte genannt, auf die es uns ankommen wird, die wir auch mit unserem Koalitionspartner abgestimmt haben. Ich möchte einige herausgreifen:
Ganz wichtig – das ist das, was die Menschen in diesem Land umtreibt – ist die Stärkung der gemeinsamen außen- und verteidigungspolitischen Zusammenarbeit. Wir brauchen eine Sicherung der Außengrenzen; denn nur dann können wir den Markt im Innern weiter so frei gestalten, wie wir es seit Jahrzehnten erlebt haben und wie wir es auch gemeinsam aufrechterhalten wollen.
Wir brauchen – das ist ein ganz wichtiger Schritt, den die Bundeskanzlerin jetzt ins Gespräch gebracht hat; ich selbst habe das früher schon mal getan; ich gucke den Kollegen Sarrazin an; wir haben über diese Frage diskutiert – ein gemeinsames europäisches Asylrecht. Das ist schwierig, weil wir mit unserem deutschen Grundrecht natürlich eine gewisse Unikatsituation haben. Aber ich sage dazu: Wenn wir offene Grenzen im Innern haben, dann müssen wir auch diesen Punkt vergemeinschaften. Wir müssen ihn meines Erachtens auch so weit vergemeinschaften, dass wir einen einheitlichen Rechtsschutzmechanismus dafür schaffen.
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Einen Investivhaushalt hat die Bundeskanzlerin vorgeschlagen.
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Ja, Investitionen sind nötig. Sie werden auch kommen. Das Geld, das wir eingenommen haben, wird ausgegeben. Aber sie hat auch darauf hingewiesen, dass es bei der Einrichtung des Europäischen Währungsfonds bei der intergouvernementalen Zusammenarbeit bleibt. Wir haben hier auf der Basis verschiedener Anträge über diese Frage intensiv gestritten. Ich halte dies für richtig, weil das einer der Wege ist, etwas sicherzustellen, was vielen hier im Haus wichtig ist, nämlich die Beteiligung der nationalen Parlamente.
Wir werden – auch das ist wichtig – die Vollendung der Bankenunion bekommen. Risikoverteilung ist immer erst der zweite Punkt. Wir müssen zunächst Risikominimierung vornehmen; darüber werden wir morgen, wenn wir über die Einlagensicherung reden, noch intensiver beraten. Das bedeutet für mich, der ich mich intensiv mit Insolvenzrecht beschäftige: Ohne Reformen der nationalen Insolvenzrechte kommen wir nicht weiter. Dabei geht es dezidiert nicht, dass einige Länder ein Fiskusprivileg, einen Zugriff des Staates auf die Insolvenzmasse, haben, das wir bei uns in Deutschland nicht haben; denn dann wird dieses Band, dieses ziemlich verheerende Band zwischen Banken und Staaten nicht zertrennt. Das muss aber sein.
Was wir nicht brauchen – deshalb finden Sie es in den Vorschlägen der Bundeskanzlerin auch nicht –, ist eine europäische Arbeitslosenversicherung. Worüber man aber meines Erachtens nachdenken sollte – das ist gerade an die Italiener gerichtet, mit Blick auf die Arbeitslosigkeit in Süditalien –, ist eine Insolvenzgeldvorfinanzierung, eine europäische gemeinschaftliche Regelung, weil sie kurzfristige Krisen überbrücken kann.
Letztlich möchte ich noch ein gemeinsames deutsch-französisches Projekt ansprechen, nämlich das, was Macron in seiner Rede an der Sorbonne hervorgehoben hat: dass wir, Deutschland und Frankreich, auch vorangehen sollten bei der richtigen Kodifikation des Handels-, Wirtschafts- und Insolvenzrechts, das auf europäischer Ebene ein Flickenteppich ist. Deutschland und Frankreich könnten hier bei einer Vollkodifikation eine Vorreiterrolle übernehmen. Eine Gruppe von Wissenschaftlern, angeführt von Matthias Lehmann, Jessica Schmidt und Reiner Schulze, hat hier als zivilgesellschaftliche Initiative erste Anfänge gemacht. Ich glaube, wir sollten das, gerade weil es ein deutsch-französisches Projekt ist, auch vonseiten des Bundestages unterstützen.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/2111, 19/2535, 19/2517 und 19/2534 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Vor ein paar Jahren war ich in Myanmar und musste mir leider angucken, wie die Situation dort ist und wie es ist, wenn Menschen auf der einen Seite große Angst haben, auf der anderen Seite aber auch hasserfüllt sind. Es gibt deutsche Projekte der Entwicklungszusammenarbeit, unter anderem organisiert von Brot für die Welt, die vertriebenen Rohingya, aber auch Vertriebenen der buddhistischen Mehrheit, die es ebenfalls gibt, helfen.
Das zeigt: Wir reden von einem Konflikt, der nicht eindimensional ist. Es gibt selbstverständlich – das wissen wir – militante Rohingya, die Armee und Polizeistationen überfallen haben. Das war dann der Vorwand für ethnische Säuberungen, die stattgefunden haben. Amnesty International beklagte erst dieser Tage, dass es Gräueltaten auch der Rohingya-Miliz gegenüber Hindus gab, und spricht von etwa 100 Umgebrachten.
Aber – auch das ist klar – die Hauptleidtragenden des Konflikts ist die muslimische Minderheit der Rohingya. Sie sind deshalb die Hauptleidtragenden, weil sie staaten- und weitgehend rechtlos sind und weil sie einem massenhaften strukturellen Rassismus und insbesondere abartigen Hassreden ausgesetzt sind.
Ein besonders ekelhaftes Beispiel für solche Hassreden liefert einer der leider einflussreichsten buddhistischen Mönche, Ashin Wirathu, der die ehemalige Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen eine Hexe und Hure nennt oder der sagt – ich zitiere –: Diese Muslime gehören nicht zu uns. Sie sind weniger schützenswert als Moskitos. – Weiterhin bestreitet er, dass Soldaten andersgläubige Frauen vergewaltigt haben könnten, mit dem abstoßenden Argument – ich zitiere –: Deren Körper sind eben zu abstoßend.
Das zeigt: Sprache tötet, Hass tötet – übrigens nicht nur in Myanmar. Das war der Hintergrund, vor dem aufgrund von Gräueltaten, Massakern und ethnischen Säuberungen durch das Militär, aber auch durch die einheimische Bevölkerung mittlerweile über 700 000 Vertriebene Richtung Bangladesch geflüchtet sind, wo sie zum Teil unter erbärmlichen Bedingungen in Cox’s Bazar leben. Für uns muss klar sein – ich glaube, das muss heute der gemeinsame Appell des Deutschen Bundestages sein –, dass die Heimat all dieser Menschen Myanmar ist.
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Die meisten Menschen kommen aus Rakhine State. Das ist ihre Heimat. Das ist der Ort, an dem sie gelebt haben, und das ist der Ort, an dem sie leben können sollten.
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Es ist gut, dass es jetzt eine Vereinbarung zwischen Myanmar und den Vereinten Nationen darüber gibt, dass die Vereinten Nationen Zugang bekommen zu Rakhine State, welchen sie absurderweise in den letzten Monaten und Jahren nicht bekommen hatten, um zu gucken, ob es für die Menschen, die eine riesige Angst haben, eine Möglichkeit gibt, in diese Region zurückzukehren.
Für uns ist es heute notwendig, gemeinsam Folgendes zu fordern: Erstens. Myanmar muss eine vollständige Rückkehr all dieser Flüchtlinge ermöglichen.
Zweitens. Die Grundbedingung dafür sind – sonst wird das nicht funktionieren – volle staatsbürgerschaftliche Rechte der Rohingya.
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Drittens. Es muss eine internationale Untersuchung der Gräueltaten und der schwersten Menschenrechtsverletzungen bis hin zum Völkermord, die begangen worden sind, erfolgen.
Viertens fordern wir ein umfassendes und glaubwürdiges Konzept der Regierung in Myanmar gegen diejenigen, die Hassreden verbreiten, und gegen die Hassredner selbst.
Hinzu kommt die humanitäre Hilfe, die wir, glaube ich, gut leisten. Allerdings können wir in der internationalen Gemeinschaft noch mehr tun, um humanitäre Übergangshilfe für die geschundenen Menschen dort zu leisten.
Noch mal mein herzlicher Appell an dieses Haus, sich die Situation dieser geschundenen Menschen zu vergegenwärtigen und heute ein starkes Signal zu setzen, dass jedenfalls wir aus Deutschland über Europa hinaus, aber auch weltweit alles tun wollen, um diesen Menschen zu helfen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Jürgen Braun für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! „Amnesty International bestätigt die AfD-Fraktion“. So könnte eine Überschrift zum Thema Birma, dem heutigen Myanmar, lauten.
({0})
Am 23. Mai, also vor zwei Wochen, berichtete die „Neue Zürcher Zeitung“ von Massakern – Überschrift: „Militante Rohingya töten offenbar gezielt Hindus und Buddhisten“. Also: Moslems töten massenhaft Buddhisten und Hindus. So sieht es Amnesty International.
Vier Wochen vorher, bei der ersten Lesung dieses einseitigen und populistischen Antrags der Altparteien, stand die AfD-Fraktion allein mit ihrer kritischen Sicht.
({1})
Nur Herr Patzelt bemühte sich neben uns um etwas Differenzierung.
({2})
Und jetzt: Amnesty International bestätigt die AfD-Fraktion.
Sie von den Altparteien haben immer noch nichts gelernt.
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Sie verwechseln mal wieder Ursache und Wirkung. Zuerst gab es die Überfälle, die Massenmorde durch islamische Terroristen, dann antwortete das birmanische Militär. Der führende deutsche Birma-Experte, Hans-Bernd Zöllner, stellt nüchtern fest: „Der jetzige Konflikt wurde ausgelöst durch Angriffe militanter Rohingya-Aktivisten.“ Es ist kein Vorwand, Herr Schwabe, nein, kein Vorwand.
({4})
Ihre links-grüne Hypermoral hat in der ersten Lesung und im Ausschuss mal wieder unter Beweis gestellt: Künstlich übertriebenes Moralisieren – eben Hypermoral – ist keine Politik für die Menschenrechte, das ist Heuchelei.
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Sie tönen lautstark von ethnischer Säuberung, gar von Völkermord an einer Volksgruppe, die von islamischen Terroristen gelenkt ist. Wenn angeblich Moslems Opfer sind, kann es Ihnen nicht schnell genug gehen: „Ethnische Säuberung“, „Völkermord“ tönen Sie inflationär im Plenum und im Ausschuss.
({6})
Dabei ist die Faktenlage in Birma, dem heutigen Myanmar, viel komplizierter, als die deutschen Medien und die Altparteien wahrhaben wollen. Der ausgezeichnete Kenner Myanmars, Klaus-Jürgen Gadamer, schreibt:
Islamische und westliche Politik und Medien folgen in ihren Berichten offenbar Gerüchten, die gezielt von der ARSA
– also den Terroristen –
gestreut werden. Aung San Suu Kyi sprach in diesem Zusammenhang von Fake News in den westlichen Medien.
({7})
Sonst rühmen Sie doch immer Papst Franziskus. Sie überschlagen sich vor Jubel, wenn Sie mal wieder eher linkspopulistische Töne aus dem Vatikan hören. Kollege Brand hat sich in der ersten Lesung auch auf den Papst in Myanmar berufen.
({8})
Das Wesentliche hat er aber natürlich verschwiegen: Dieser so angesagte Franziskus vermeidet das R-Wort; der Kampfbegriff „Rohingya“ kommt ihm nicht über die Lippen.
({9})
Kann es sein, dass der Vatikan besser informiert ist über die Lage der Volksgruppen und Religionen in Myanmar?
({10})
Kann es sein, dass Ihnen mal wieder der links-grüne Mief Ihren Blick auf die Realitäten der Welt vernebelt?
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Bei den christlichen Armeniern haben Sie über 100 Jahre gebraucht, um den einzig treffenden Begriff „Völkermord“ auch nur einmal in den Mund zu nehmen,
({12})
und die Bundesregierung unter der rot-grünen Kanzlerin eiert weiter herum – wir kennen das seit über zwölf Jahren.
({13})
Bei einer angeblichen Volksgruppe ganz weit weg geht es ganz schnell, da gibt es Forderungen an das arme Myanmar; es geht ja um die Ausbreitung des Islam.
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Wir halten aber fest: Auch die Birmanen haben das Recht auf Selbstverteidigung gegen terroristische Überfälle.
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Das Schicksal der Buddhisten, der Hindus oder Christen in Birma spielt bei Ihnen aber eine nebensächliche Rolle.
({16})
In Ihrem Antrag kommt es nicht vor. Nicht jeder Übergriff des Militärs, nicht jedes Verbrechen ist Völkermord. Begreifen Sie das endlich.
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Hören Sie endlich auf, ohne klare Fakten und inflationär mit dem Begriff „Völkermord“ um sich zu werfen. Birma ist nicht Armenien.
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Sie verharmlosen damit die eindeutigen Massenmorde des 20. Jahrhunderts, auch die Morde durch zwei totalitäre Regime.
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Sie verharmlosen also nicht nur den Völkermord an den Armeniern. Sie verharmlosen den Nationalsozialismus und den Kommunismus:
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Millionen Ermordete in Deutschland, in der Sowjetunion, in China, in Nordkorea und anderswo,
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überall dort, wo die Gründer der Grünen und der Linkspartei ihre blutigen Vorbilder hatten.
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Zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag hat nun der Kollege Norbert Altenkamp für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will es in meiner ersten Rede mit etwas Versachlichung versuchen.
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– Danach natürlich auch, logisch. – Der Rohingya-Konflikt steht beispielhaft für den immer gleichen Wirkmechanismus in aller Welt zu allen Zeiten: Mehrheiten unterdrücken Minderheiten und verwehren ihnen Rechte. Teile dieser Minderheiten radikalisieren sich und geben damit Mehrheiten die vermeintliche Rechtfertigung, umso brutaler gegen Minderheiten vorzugehen. Wir sehen mit Entsetzen, was im Rakhine-Staat in Myanmar passiert. Die übermäßig brutalen militärischen Übergriffe auf die Rohingya zeigen laut UN-Vertretern alle Anzeichen eines Völkermords; ich benenne das so. Das ist der bisher schreckliche Höhepunkt systematischer Diskriminierungen, die bereits seit über 70 Jahren andauern. Hinzu kommt: Die Verhältnisse in den Flüchtlingslagern in Bangladesch sind teilweise katastrophal, und der kommende Monsun könnte dort viele weitere Tote fordern.
Wir müssen handeln, und zwar schnell, um eine weitere Eskalation der Krise zu vermeiden. Deutschland muss helfen, den bewaffneten Konflikt so schnell wie möglich zu beenden, die Menschenrechte für alle zu schützen, die humanitäre Soforthilfe in Bangladesch und in Rakhine zu verstärken und den Konflikt zwischen den Rohingya und der Regierung in Myanmar nachhaltig zu lösen.
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Unser Antrag zeigt dazu die wichtigsten Handlungsoptionen auf. Er ist zugleich ein wichtiges politisches Signal dafür, dass die Verteidigung der Menschenrechte ein zentrales Element der deutschen Politik ist.
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Um nachhaltig Erfolg zu haben, müssen wir bei den Ursachen des Konflikts ansetzen und Vereinfachungen vermeiden. Es handelt sich nämlich hier gerade nicht nur um einen rein religiösen oder kulturellen Konflikt. Der heutige Konflikt ist das Ergebnis der nicht gewollten Integration der überwiegend muslimischen Minderheit der Rohingya seit der Staatsgründung von Myanmar. Das hat zu ihrem politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ausschluss geführt.
Der Bericht der Kofi-Annan-Kommission über den Rakhine-Staat spricht von drei Krisen, die wir dringend angehen müssen: die Menschenrechtskrise, die Sicherheitskrise und die Entwicklungskrise. Die Menschenrechtskrise beginnt mit der Unabhängigkeit Burmas 1948. Obwohl die muslimische Minderheit seit mindestens dem 12. Jahrhundert dort lebt, wurden die Rakhine nach der Staatsgründung nicht als eine der 135 – 135! – nationalen Gruppen anerkannt. Deshalb haben sie nie Staatsbürgerschaftsrechte erhalten. Die Rohingya erhalten nur eine – ich nenne sie mal so – Ausländerkarte, die die Ausübung von wesentlichen Menschenrechten ausschließt. Sie können sich innerhalb des Landes nicht frei bewegen und dürfen nicht verreisen. Sie haben nur begrenzt Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem. Sie dürfen bestimmte Berufe nicht ausüben und haben Probleme beim Heiraten und bei der Pflege ihrer religiösen Traditionen.
All das hat zu einem dauernden und oft bewaffneten Konflikt geführt, der auf beiden Seiten – ich betone: auf beiden Seiten – immer weiter eskaliert ist und eine allgemeine Sicherheitskrise ausgelöst hat, mit zielgerichteten Angriffen bewaffneter muslimischer Gruppen, besonders der radikalen „Arakan Rohingya Salvation Army“, mit den brutalen Reaktionen des myanmarischen Militärs und mit den Konflikten der Rohingya mit anderen Bevölkerungsgruppen in Rakhine.
Die verbreitete Unsicherheit, die Verletzung der Menschenrechte und die mangelhaften Entwicklungspläne der Regierung machen die Region zudem höchst unattraktiv für Investitionen. So hat die Entwicklungskrise die Armutsrate in Rakhine auf 78 Prozent erhöht; sie ist damit doppelt so hoch wie im Durchschnitt in Myanmar, und dem Land geht es so schon nicht gut. Die Situation ist noch schlimmer im Norden des Staates, wo die Rohingya leben.
Alle drei Krisen verstärken sich gegenseitig und führen in einen Teufelskreis. Diesen Teufelskreis zu durchbrechen, muss unser Ziel sein, um eine weitere Radikalisierung beider Seiten zu vermeiden.
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Die Kofi-Annan-Kommission hat in Myanmar mit über 1 000 Betroffenen aus allen Bereichen nach Auswegen aus der Krise gesucht und 88 Lösungsvorschläge vorgestellt. Keine Angst, ich lese jetzt nicht alle 88 vor. Aber die Hauptbotschaft ist: Die freiwillige Rückkehr und die Integration der Rohingya in Rakhine können nur gelingen, wenn Gleichberechtigung, Sicherheit und Entwicklungsperspektiven garantiert werden. Kernpunkt dafür ist die Anerkennung der Rohingya als Volksgruppe und die Klärung ihrer staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.
Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg ist dabei, dass wir von unserer Seite aus mit allen Konfliktparteien im Dialog bleiben und dabei die gemäßigten Kräfte unterstützen. Gleichzeitig müssen wir den Dialog zwischen den Konfliktparteien in Myanmar selbst auf allen Ebenen systematisch stärken. Dazu können wir durch unsere humanitäre und wirtschaftliche Hilfe wesentlich beitragen.
Ich komme zum Schluss: Unser Einsatz für eine nachhaltige Lösung des Konflikts in Rakhine ist wichtig, weil wir aus humanitären Gründen dazu verpflichtet sind. Unser Grundgesetz sagt dazu in Artikel 1 ganz klar: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die Menschenrechte gelten für alle Menschen weltweit, jenseits von Religion, Herkunft und Geschlecht. Kein Mensch und keine Gruppe kann davon ausgeschlossen werden.
Wenn nun Kollegen und Kolleginnen in diesem Haus die erwiesenen Verletzungen der Menschenrechte an einem ganzen Volk gar nicht anerkennen, bestimmen sie dieses Volk, und zwar wegen seiner Religion, als weniger menschlich. Das ist mit meinem christlichen Verständnis nicht vereinbar.
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Unser Einsatz für eine Lösung des Konfliktes ist auch deshalb dringend notwendig, damit wir die Entwicklung eines muslimischen Terrorismus in Rakhine nach dem Vorbild des IS verhindern können; denn eine unterdrückte Minderheit, die derart brutal behandelt wird wie die Rohingya, ist ohne jeden Zweifel ein fruchtbarer Boden für die Entfaltung von weiterem Extremismus.
({5})
Wir wollen und müssen von deutscher Seite alles dafür tun, den Konflikt in Rakhine dauerhaft und friedlich zu lösen. Die Vorschläge aus unserem Antrag und dem Kofi-Annan-Bericht sind dafür die richtige Basis. Ich freue mich übrigens sehr, dass Papst Franziskus zu einer internationalen Konferenz aufgerufen hat und diese unterstützen möchte; denn dies ist auch wichtig für die Christen in der Region.
Herzlichen Dank.
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Kollege Altenkamp, ich möchte ausdrücklich würdigen, dass Ihnen etwas gelungen ist, was fraktionsübergreifend selten einem Kollegen in der ersten Rede gelingt, nämlich tatsächlich unter der Redezeit zu bleiben. Auch das gehört dazu, wenn ich ansonsten hier immer wieder mal eingreifen muss.
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Das Wort hat die Kollegin Gyde Jensen für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir können heute ein deutliches Zeichen setzen – gegen Vertreibung, gegen Diskriminierung, gegen staatliche Repression. Wir können ein deutliches Zeichen dafür setzen, dass wir die Massenvertreibung der Rohingya nicht einfach unwidersprochen lassen.
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Die Situation der Rohingya ist aber nicht erst seit Ausbruch der Gewalt erschreckend. Die Vertreibung ist Ergebnis einer systematischen Ausgrenzung, die zur völligen Entwurzelung einer gesamten Volksgruppe geführt hat. Seit Jahrzehnten werden Rohingya in Myanmar systematisch aus dem Alltag verdrängt. Sie bekleiden keine öffentlichen Ämter in ihrer Heimat. Ihre Geschichte wurde aus den Schulbüchern getilgt. Ihre Kultur findet im öffentlichen Raum nicht statt. Die Staatsbürgerschaft wird ihnen verweigert. Kurzum: Wir erleben das Ergebnis einer jahrzehntelangen systematischen Verdrängung der Rohingya aus dem gesellschaftlichen Leben.
Meine Damen und Herren, hier trifft uns eine besondere Verantwortung, Hilfe anzubieten, Hilfe zu leisten. Dieser überfraktionelle Antrag der Grünen, der Koalitionsfraktionen und von uns Freien Demokraten zeigt deutlich, dass wir uns dieser Verantwortung bewusst sind. Das trifft aber leider nicht auf jede Fraktion des Deutschen Bundestages zu. In der ersten Lesung zu diesem Antrag stellte die AfD-Fraktion hier ernsthaft die Frage: Wer ist hier Opfer, und wer ist hier Täter?
({1})
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wenn über 700 000 Menschen aus einer Region vertrieben werden und Sie zuallererst die Frage nach der Schuld stellen, dann – jetzt muss ich Sie zitieren, Herr Braun, und zwar nicht nur aus der letzten Lesung, sondern auch aus dieser Lesung –
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täte es Ihnen sehr gut, sich auch etwas von dieser vermeintlichen „links-grünen Hypermoral“, die Sie uns in Ihrer heutigen Rede und auch in der ersten Lesung attestierten, anzugewöhnen.
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Bei Gefahr in Verzug handeln wir aus Notwendigkeit und fragen nicht zuallererst nach Verantwortlichkeit. Meine Damen und Herren, wir müssen also eine Debatte darüber führen, wie wir Menschen helfen können. In erster Linie müssen wir uns dafür einsetzen, dass Hilfsorganisationen uneingeschränkter Zugang zu den Notfallgebieten gewährt wird. Eine politische Führung, die Hilfe in einer akuten Notsituation abweist, nur um ihr eigenes Gesicht zu wahren, hat jede Legitimation verloren.
Kollegin Jensen, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Martin Sichert?
Nein, diesmal nicht. – Umso wichtiger ist es also, dass Nachbarstaaten Hilfe leisten. Die Situation der Geflüchteten in den angrenzenden Staaten ist indes erschreckend. Bangladesch ist bereits seit einiger Zeit überlastet und mit der Situation in den Lagern heillos überfordert. Das Land verweigert die Integration der Geflüchteten und behandelt diese wie Gefangene. Das trägt nicht zur Lösung der Situation bei. Wir fordern, dass die Verantwortlichen für die Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden. Einflussreiche Persönlichkeiten wie die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi dürfen diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit in ihrem eigenen Land nicht einfach stillschweigend zur Kenntnis nehmen.
({0})
Hier muss viel mehr öffentlicher und politischer Druck auf die Konfliktparteien ausgeübt werden.
Meine Damen und Herren, für eine langfristige Lösung des Konflikts brauchen wir abgesehen davon mehr als nur humanitäre Hilfe. Hier sind die Empfehlungen der Kofi-Annan-Kommission, die heute auch schon genannt wurden, entscheidend.
({1})
Diese beinhalten unter anderem auch die wirtschaftliche und die soziale Integration der Rohingya in Myanmar, die Überarbeitung des Staatsbürgerschaftsrechts und auch die kulturelle Zusammenarbeit. Bevor es aber dazu kommt, dass es in Myanmar besser wird, muss noch einiges passieren. In einem ersten Schritt muss Myanmar, bekanntermaßen ein Vielvölkerstaat mit über 150 Ethnien, auch die Rohingya als eine dieser Volksgruppen anerkennen. Denn Ziel muss immer bleiben, für eine nachhaltige Lebenssituation in Myanmar zu sorgen, die es den Rohingya erlaubt, in ihre Heimat zurückzukehren und gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Herzlichen Dank.
({2})
Zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Martin Sichert das Wort.
({0})
Kollegin Jensen, Sie haben gerade gesagt, das Problem wäre das Thema „Opfer oder Täter“. Das ist an der Stelle tatsächlich eine Sache, die nicht eindeutig ist. Es gab am 25. August 2017 ein Massaker durch Rohingya-Rebellen und Zivilisten der Rohingya, bei denen 53 Zivilisten brutalst abgeschlachtet wurden – mit Messern, mit Spaten, mit Eisenstangen. Es wurden an demselben Tag 30 Stationen von Polizei- und Sicherheitskräften von den Rohingya in einer Offensive angegriffen. Daraufhin ist diese Situation so eskaliert. Wenn man nun über die Situation in Myanmar reden möchte, dann muss man den Menschen in Myanmar auch klarmachen, wie man verhindern möchte, dass sich so etwas wiederholt und dass es auch keine Übergriffe seitens der Rohingya auf andere in Myanmar gibt. Wie wollen Sie das sicherstellen?
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Sie haben das Wort zu einer Erwiderung.
Vielen Dank. – Dann haben Sie meine Rede wahrscheinlich nicht verstanden. Ich habe gesagt: Diejenigen, die die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die auf beiden Seiten begangen wurden, verübt haben, müssen zur Verantwortung gezogen werden. Das gilt natürlich für beide Richtungen. In der ersten Lesung – Sie waren sicherlich dabei; Herr Braun sitzt hier vorne und hat es vorhin noch einmal wiederholt – wurde als Erstes die Frage gestellt, ob es überhaupt die Notwendigkeit für Hilfe gibt, wenn die Rohingya eine terroristische Gruppe sind, die es gar nicht verdient, dass Hilfe geleistet wird.
({0})
– Sie können gerne die Plenardebatten und die Protokolle nachvollziehen.
({1})
Aber wenn Sie sich hierhinstellen und als Allererstes die Frage stellen, ob die Rohingya eine Notsituation sozusagen auskosten,
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dann würde ich mir sehr wünschen, wenn Sie nicht diese Doppelmoral zeigten.
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– Ich hoffe, dass Sie die Plenarprotokolle noch einmal lesen.
Sie haben heute noch einmal von der Hypermoral bei uns gesprochen. Hier muss ich sagen – hier beziehe ich auch gerne alle mit ein –:
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Die Hypermoral, die Sie angesprochen haben, ist ein Kompliment an uns, an alle anderen Fraktionen, die diesen interfraktionellen Antrag gestellt haben.
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Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat die Kollegin Zaklin Nastic für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute über eine besondere Form der Demütigung, die Menschen Menschen antun: die Staatenlosigkeit. Das klingt auf den ersten Blick harmlos, insbesondere für diejenigen, die den Staat sowieso ablehnen, wie zum Beispiel radikale Neoliberale. Aber ein funktionierender Sozial- und Rechtsstaat ist einer der wenigen Schutzräume auch für die sogenannten kleinen Leute. So ist die Lage der Rohingya in Myanmar so verheerend, dass das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge sogar von der am schnellsten wachsenden Flüchtlingskrise weltweit spricht; denn wer keine Staatsbürgerschaft, also kein Recht auf Rechte hat, gerät schnell in den Reißwolf der Willkür.
({0})
Ende August des vergangenen Jahres begann die massenhafte Vertreibung der Rohingya aus Myanmar. Etwa 700 000 Menschen der ethnischen Minderheit sind in kürzester Zeit nach Bangladesch geflohen. Dort leben die meisten im riesigen Flüchtlingslager Kutupalong. 60 Prozent der Schutzsuchenden sind übrigens Kinder. Viele von ihnen wurden im Zuge der Vertreibung von ihren Familien getrennt. Unzählige Frauen und Mädchen wurden Opfer massivster sexueller Übergriffe. Ja, sogar vor Säuglingen und Kindern haben die Angreifer nicht Halt gemacht. Ganze Dörfer wurden niedergebrannt. Viele Rohingya erzählen von brutalsten Massentötungen. Während der Regenzeit in den Sommermonaten wird sich die Situation der Rohingya erst recht zuspitzen; denn die provisorischen Hütten werden vom Regen einfach weggespült. Diskriminierung und offene Äußerungen von Hass gegen Rohingya sind in Myanmar gesellschaftsfähig geworden und ziehen sich durch alle Schichten und Milieus. Religiöser Fanatismus und Ultranationalismus machen jedes dahergelaufene Würstchen zum brutalen Totschläger. Staatenlose werden erst zum Sündenbock und danach zum Freiwild.
Myanmar ist nur ein extremes Beispiel dafür, um deutlich zu machen, wohin Hetze gegen Minderheiten führen kann.
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Das Feindbild einer fremden Rasse oder Religion soll davon ablenken, dass das Geld nicht zum Leben reicht, dass es nicht für die Miete reicht oder es an Krankenhausausstattung fehlt. Wer dieses schäbige Gegeneinanderhetzen auch noch vom noblen Sessel einer gutbezahlten Elite führt, macht sich mitschuldig an künftigen Pogromen, meine Damen und Herren.
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Wer die ehemalige Integrationsbeauftragte der Bundesregierung nach Anatolien entsorgen möchte, der sorgt auch dafür, dass andere andere anderswo entsorgen wollen.
Sicher tragen auch jene Mitschuld, die von Armut profitieren, Armut nicht bekämpfen oder diese sogar herbeiführen; denn auch Armut ist Nahrung für Pogrome. Myanmar zeigt auf grausame Weise, wohin das führen kann. Aber wer ein wenig im deutschen „Vogelschiss“ sucht, wird ähnlich grausame Bilder freilegen können; denn in den zwölf Jahren wurden Hunderte von deutschen Denkern, Dichtern, Künstlern und Humanisten verfolgt und getötet.
In Deutschland sind fast 22 000 Menschen staatenlos, weltweit beträgt die Zahl 10 Millionen. Die größte Gruppe davon sind übrigens die Rohingya. Der UNHCR hat sich zum Ziel gesetzt, die Staatenlosigkeit bis zum Jahr 2024 abzuschaffen. Um das zu erreichen, muss noch viel getan werden, auch hier in Deutschland.
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Das erreichen wir dann, wenn – um es im Sinne von Willy Brandt auszudrücken – das Recht des Stärkeren der Stärke des Rechts weicht. Nur eine demokratische Staatsbürgerschaft stoppt die Willkür. Dafür tritt die Linke mit ihrem Antrag ein.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Margarete Bause für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Im August letzten Jahres, vor etwas mehr als neun Monaten, mussten Hunderttausende Frauen, Kinder und Männer der muslimischen Volksgruppe der Rohingya in Myanmar vor entsetzlicher Gewalt aus ihrer Heimat fliehen. Jetzt kommen in den trostlosen, überfüllten und vom Monsunregen überfluteten Flüchtlingslagern in Bangladesch täglich Dutzende von Babys auf die Welt. Für mich ist diese Vorstellung kaum erträglich. Diese unschuldigen kleinen Menschen sind die Zeugnisse unvorstellbarer Gräueltaten. Sie zeugen von der systematischen und massenhaften Vergewaltigung ihrer Mütter. Diesen Müttern und ihren Kindern droht, dass sie ein Leben lang stigmatisiert und ausgegrenzt werden, wenn sie keine Hilfe bekommen. Wenn wir von den circa 700 000 Rohingya sprechen, die aus dem Land geflohen sind, dann sprechen wir insbesondere von Frauen und Kindern. Die Mehrheit in den Lagern sind Frauen und Kinder. Wir sprechen von ihren Demütigungen, von Misshandlungen, von brutalsten Gewalttaten gegenüber besonders Schutzlosen.
Viele dieser Verbrechen sind verlässlich dokumentiert. Die Lektüre finde ich wirklich kaum erträglich. Die Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch und Fortify Rights haben kürzlich einen Bericht für den UN-Ausschuss zur Frauenrechtskonvention vorgelegt. Dieser Bericht führt zahllose Gräueltaten auf. Ermordungen, Folter, Massenvergewaltigungen, andere sexuelle Übergriffe, willkürliche Verhaftungen und Brandstiftungen wurden von Myanmars Militär und von staatlichen Sicherheitskräften begangen. Ich erspare Ihnen und mir, Details aus diesen Aussagen vorzulesen, aber ich zitiere einen Minister der myanmarischen Provinz Rakhine, der von der BBC mit den Vorwürfen konfrontiert wurde und antwortete: Ja, wo sind denn die Beweise? Schaut euch doch diese Frauen an, die diese Anschuldigungen vorbringen! Wer will denn die vergewaltigen? – Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei so viel Zynismus stockt mir der Atem, und Sie, Herr Braun, machen sich mit Ihren Äußerungen mit den Tätern gemein. Sie sollten sich schämen.
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Wir fordern juristische Aufarbeitung aller in Myanmar begangenen Menschenrechtsverletzungen und die Verurteilung der Täter. Die UN-Sondergesandte für sexuelle Gewalt in Konflikten, Pramilla Patten, nannte die zahllosen sexuellen Übergriffe gegenüber Rohingya-Frauen und -mädchen ein – Zitat – „bewusst eingesetztes Werkzeug des Terrors, um die Rohingya als Volksgruppe auszulöschen“.
Die Regierung Myanmars ist von der UNO im vergangenen November aufgefordert worden, binnen sechs Monaten zu den schweren Vorwürfen Stellung zu nehmen. Bisher kam keine Antwort. Gestern wurde bekannt, dass es eine gemeinsame Absichtserklärung der UN und Myanmar gibt zur – Zitat – „freiwilligen, sicheren, würdigen und nachhaltigen“ Rückführung der Rohingya. Allerdings wurde der genaue Inhalt dieser Absichtserklärung nicht veröffentlicht. Auch wurden Vertreter der Rohingya an dieser Vereinbarung offensichtlich nicht beteiligt. Menschenrechtsorganisationen sind deshalb zu Recht skeptisch, was eine baldige sichere Rückkehr angeht; denn eine Rückkehr ist nur denkbar, wenn die Verbrechen geahndet, die Täter zur Rechenschaft gezogen und der Schutz und die Rechte der Minderheit der Rohingya – dazu gehört auch das Recht auf Staatsangehörigkeit – sichergestellt werden.
Danke schön.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Aydan Özoğuz.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schrieb 2012 in einer Festschrift – Zitat –: Die Weltgemeinschaft darf dort nicht tatenlos bleiben, wo die Verbrechen innerhalb eines Staates ein unerträgliches Ausmaß annehmen. Dort muss die Welt schützend eingreifen, die Menschenrechte verteidigen und Menschenleben retten. – Zitat Ende. Und deshalb, so fährt er fort, stünden die Namen Ruanda als auch Srebrenica für das kollektive Versagen der Weltgemeinschaft.
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Hier wurde zu spät eingegriffen, der Ernst der Lage verkannt. Das muss für uns alle eine Mahnung sein – bis heute. Deshalb, meine Damen und Herren, lassen Sie uns bitte dafür eintreten, dass sich mit den Rohingya im Grenzgebiet zwischen Myanmar und Bangladesch nicht noch ein weiterer Name hinzugesellt.
({1})
Wir können die Augen nicht davor verschließen, dass dort Tausende Menschen ermordet und Hunderttausende vertrieben wurden. Es ist sicherlich ein erster Schritt, wenn auf dem Papier zumindest etwas vereinbart wird, auch wenn wir den Inhalt noch nicht kennen. Aber für diese Menschen ist eine Rückkehr in abgebrannte Dörfer unter den jetzigen Zeichen kaum eine Option; denn für die von burmesischen Streitkräften gepeinigten Frauen ist es sicherlich keine Option, zurück in deren Nähe zu ziehen. Zugleich kann das mit 800 000 Bewohnern inzwischen größte Flüchtlingslager der Welt, Kutupalong, keine Option für einen dauerhaften Verbleib sein.
In der Tat kann man nun viel nachlesen über die Entstehungsgeschichte dieses Konflikts, welcher offensichtlich schon zu Zeiten des britischen Kolonialismus seinen Lauf genommen hat. Das ist eine zutiefst komplexe Geschichte. Ganz ohne Zweifel – ich glaube, das bestreitet hier niemand, sondern jeder nimmt das sehr ernst – gibt es unter den Menschen in der Grenzregion auch Gewaltbereitschaft, bis hin zu schrecklichen terroristischen Anschlägen. Wer nun aber argumentiert, die Rohingya seien keine eigenständige Volksgruppe, und im nächsten Atemzug brutalste Gewalt gegen genau diese Gruppe, gegen Hunderttausende Frauen und Kinder rechtfertigt, weil militante Gruppen Terrorakte verüben, der widerspricht sich nicht nur selbst, sondern offenbart damit auch ein extrem hohes Maß an Menschenverachtung.
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Man kann nicht nur in den Medien darüber lesen. Es gibt ja auch Menschenrechtsorganisationen vor Ort; das wurde teilweise schon berichtet. Auch ich habe mit denen gesprochen. Sie können kaum berichten, was sie dort erleben, was sie dort sehen. Deswegen sage ich es jetzt noch einmal: Die argumentative Vorgehensweise der Sippenhaft, des Generalverdachts, der Pauschalisierung ist immer Gift. Sie spaltet, stigmatisiert und schürt Konflikte, und das ist nicht hinzunehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Was muss nun also passieren im am dichtesten besiedelten Flächenland der Welt, in Bangladesch? Es gibt eine gewisse Unterstützung; aber es gibt eben keine unbewohnten, aber bewohnbaren Gebiete, in denen Rohingya eine Heimat finden könnten. Wir fordern daher in unserem Antrag die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, dass die Voraussetzungen für eine freiwillige und sichere Rückkehr der Flüchtlinge nach Myanmar geschaffen werden. Das muss aber natürlich von Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen begleitet werden.
Ich möchte zum Schluss, weil das hier so häufig genannt wurde, sagen: Die Fraktionen in diesem Hause sind sich ja selten einig, auch wenn das manche hier behaupten. Das ist auch richtig so; das ist die Lebendigkeit der Demokratie. Aber bei allen Differenzen teilen wir hier einen Grundkonsens, nämlich die Notwendigkeit des Schutzes von Individuen vor Gewalt und Vernichtung. Lassen Sie uns bitte daran festhalten, auch wenn einige immer wieder versuchen, dies zu untergraben.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die fraktionslose Abgeordnete Dr. Frauke Petry.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Krise im Westen Myanmars beherrscht die politische und mediale Debatte, und unisono hören wir: Den Rohingya muss geholfen werden. Offen bleibt, wenn man den Leitfaden des Antrags betrachtet, allerdings, warum Sie nicht die Gesamtheit der Geschehnisse in Myanmar betrachten.
({0})
Ja, Sie geben zu, dass es auch Gewaltexzesse der Rohingya gegeben hat. Sie tun aber so, als sei dies nur die Ausnahme und nicht möglicherweise Grund für die in der Tat historischen Verwerfungen in dieser Region. Der Antrag verschweigt also viele der Massaker, die sich im Vorfeld der militärischen Operationen im August des letzten Jahres abspielten, und zwar vonseiten der Rohingya.
Erst jüngst hat Amnesty International von Vergewaltigungen, Folterungen und Massenexekutionen von Hindus und Buddhisten durch muslimische Extremisten berichtet. Auch hier war die ARSA beteiligt und verantwortlich. Sie wissen es. Aber was folgt denn daraus? Was hat die Bundesregierung vor, um künftig das Leben aller Menschen – der Muslime, der Buddhisten und der Hindus – zu schützen und diesen radikalislamischen Auswüchsen entgegenzutreten? Keine Antwort. Sie fordern noch nicht einmal die Entwaffnung dieser radikalislamischen Miliz, und die Interessen der übrigen Einwohner der Region ignorieren Sie komplett.
({1})
Meine Damen und Herren, muss die Myanmar-Regierung, die rechtmäßige Regierung – das sollten wir festhalten –, erst ihre Operationen einstellen, damit dann vielleicht in der Folge auch die radikalislamische Miliz ARSA ihre mutwilligen Angriffe einstellt? Oder setzt sie sie einfach fort?
Meine Damen und Herren, diese Art von Außenpolitik ist dilettantisch. Wenn ich das so sagen darf: Es verstört mich umso mehr, dass es die Bundesregierung im Vorfeld dieser Debatte hier im Bundestag noch nicht einmal für nötig gehalten hat, mit der Botschaft des betroffenen Landes, mit dem Botschafter Myanmars in Berlin zu diesem Thema auch nur Kontakt aufzunehmen. Stattdessen lautet Ihre Botschaft: Vergabe der Staatsbürgerschaft an die Rohingya. Meine Damen und Herren, Sie täuschen die Bürger; denn das hat die Kofi-Annan-Kommission überhaupt nicht gefordert. Sie hat die Klärung der staatsbürgerschaftlichen Verhältnisse und neue Kriterien gefordert.
({2})
Sie gehen also weit über die Ergebnisse der Kofi-Annan-Kommission hinaus. Ich frage mich, warum Sie das – vielleicht wider besseres Wissen oder aus Unwissen – tun.
Zudem ist die myanmarische Verwaltung auf solche behördliche Überbelastung nicht vorbereitet – wir reden hier über ein Entwicklungsland –, wie man mir nichts, dir nichts 1 Million Rohingya daraufhin prüfen soll, wer Anrecht auf diese Staatsbürgerschaft hat oder wer nicht. Und das sagen wir, die wir es nicht schaffen – gerade heute haben wir darüber diskutiert –, im BAMF mit der illegalen Migration und dem Missbrauch unseres eigenen Asylrechts klarzukommen.
({3})
Meine Damen und Herren, ich will in keiner Weise Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierung kleinreden; darum geht es nicht.
({4})
Aber eine solch einseitige Politik, wie Sie sie vorschlagen, wird der Region weder Frieden noch Stabilität bringen. Wir sind bereit, an einer konstruktiven Lösung mitzuarbeiten. Diese muss aber alle Partner einbinden, meine Damen und Herren: nicht nur die Rohingya, sondern auch die Arakanesen,
({5})
nicht gegen die Regierung von Myanmar
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– hören Sie doch zu! –, sondern mit der Regierung von Myanmar. Weniger Aktionismus, mehr Vernunft, meine Damen und Herren.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Abgeordnete Sebastian Brehm, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits bei der letzten Behandlung hier im Hause, im April 2018, durfte ich zum gemeinsamen Rohingya-Antrag von Union, SPD, FDP und den Grünen sprechen. Heute, Anfang Juni, ist die Lage in den Flüchtlingslagern in Bangladesch keineswegs besser. Der Beginn der Regenzeit verschärft die Lage zusehends. Auch wenn es derzeit weniger Berichterstattung gibt, so gibt es nicht weniger Leid. Das dürfen wir nicht akzeptieren.
Mein Kollege Norbert Altenkamp hat die Lage in Myanmar und in Bangladesch in seiner Rede vorhin sehr differenziert und zutreffend beschrieben. Die Lage der dort lebenden Menschen – insbesondere der Kinder – ist und bleibt dramatisch und sehr ernst.
Für uns bleibt zusammenfassend, wie auch schon in der letzten Behandlung dieses Themas im April, das Ergebnis:
Erstens. Die Gewalt gegen die Rohingya muss gestoppt werden.
Zweitens. Verbrechen gegen die Menschlichkeit müssen juristisch aufgearbeitet, die Täter verurteilt und die Opfer entschädigt werden.
({0})
Gewalttaten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind in jedem Fall zu verurteilen – egal von wem sie begangen werden und wer die Opfer sind.
({1})
Ethnische Säuberungen, wie die Vereinten Nationen die Verbrechen an den Rohingya nennen, dürfen wir dabei niemals akzeptieren.
Ich will es an dieser Stelle bewusst noch mal wiederholen: Alleine aus unserer christlichen Verantwortung heraus haben wir die Verpflichtung, hier als Deutscher Bundestag zu handeln.
Der wichtige Grundsatz von null Toleranz gegen Gewalt gilt übrigens für alle Seiten, also auch für die Verbrechen durch die Rebellengruppen der Rohingya selbst.
({2})
Deren koordinierte Angriffe auf Polizei- und Armeeposten in Myanmar werden vom politischen und vom militärischen Regime zwar als maßgebliche Begründung für die Eskalation genutzt, in Wahrheit dauert die Leidensgeschichte der Rohingya aber schon jahrzehntelang an.
Die Gründe für diesen Konflikt sind vielfältig und vielschichtig. Die Staatenlosigkeit der Rohingya ist mit Sicherheit eine wesentliche Ursache, aber nur eine von vielen.
Diese Problematik der Staatenlosigkeit will die Linke mit ihrem Antrag „Staatenlosigkeit weltweit abschaffen“ – Frau Nastic hat gar nicht viel über ihren Antrag gesagt; darin sind sehr interessante Punkte, die auch unser eigenes Land betreffen – nutzen – sozusagen als Hilfsvehikel. Deswegen muss man über diesen Antrag auch sprechen.
Ihr Antrag ist bei dieser Problematik weder hilfreich noch förderlich, und die Vergleiche, die Sie in dem Antrag anstellen, sind, auf Deutschland bezogen, auch falsch; denn von der Situation in Myanmar und Bangladesch – sie ist dort wirklich schlimm – auf die Situation von Staatenlosen weltweit und insbesondere in Deutschland zu schließen, ist der falsche Rückschluss.
({3})
Jede Situation ist für sich betrachtet nicht einfach, und jede Situation braucht wahrscheinlich unterschiedliche und individuelle Lösungsansätze.
Auch Ihr Rückbezug auf die Philosophin Hannah Arendt, die als Jüdin in Deutschland von den Nationalsozialisten entrechtet und verfolgt wurde, ist auf die heutige Situation in Deutschland Gott sei Dank nicht zu übertragen.
({4})
Im heutigen Deutschland haben wir eine ganz andere Situation, eine gute Situation. Gerade in der Verantwortung vor unserer Geschichte bietet unser Rechtsstaat allen Menschen Schutz, übrigens auch den von Ihnen erwähnten Staatenlosen.
Ihr Antrag suggeriert, dass es in Deutschland keinerlei Wege zur Einbürgerung für Staatenlose gibt, und das ist einfach falsch. Die Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Rechtsstellung von Staatenlosen von 1954 und zur Verminderung der Staatenlosigkeit von 1961 wurden bereits damals, also vor über 60 bzw. 50 Jahren, umgesetzt. Nach den Voraussetzungen des Staatsangehörigkeitsrechts können auch heute Staatenlose Einbürgerung unter erleichterten Voraussetzungen beantragen und erwerben. Ebenso können Kinder, die in Deutschland geboren werden und eigentlich staatenlos wären, auf zwei Wegen die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben.
Die Behauptung, dass in Deutschland geborene Kinder von Flüchtlingen und Asylsuchenden keine Geburtspapiere erhalten, ist ebenfalls nicht richtig. Wenn entsprechende Informationen zu den Eltern fehlen, dann wird ein beglaubigter Registerauszug erteilt, der rechtlich einer Geburtsurkunde gleichwertig ist. Sobald die fehlenden Informationen über die Eltern vorliegen, wird eben eine Geburtsurkunde erstellt.
({5})
Der Schutz von Staatenlosen – egal ob Kind oder Erwachsener – ist in Deutschland jederzeit vollumfänglich gegeben.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, würde man mehr Erleichterungen für Staatenlose, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern, in Deutschland schaffen, würde man die tatsächlichen Einbürgerungsvoraussetzungen, nämlich den Erwerb unserer deutschen Sprache, ein Bekenntnis zu unserer Kultur und ein Bekenntnis zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, konterkarieren. Staatenlosigkeit würde bei Umsetzung Ihres Antrags ein attraktiver Weg, um die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben, ohne die Voraussetzungen einer ordentlichen Einbürgerung erfüllen zu müssen. Das ist mit uns als CDU/CSU-Fraktion nicht zu machen. Deswegen lehnen wir diesen Antrag ab.
({7})
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe deshalb die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Die Gewaltexzesse gegen die Rohingya stoppen – Für die vollständige Anerkennung als gleichberechtigte Volksgruppe in Myanmar“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/2115, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/1708 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Bei Gegenstimmen von der AfD mit der Mehrheit des übrigen Hauses angenommen.
Dann kommen wir zu Punkt 13 b. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Staatenlosigkeit weltweit abschaffen – Für das Recht, Rechte zu haben“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/2583, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/1688 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Bei Gegenstimmen der Grünen und der Fraktion Die Linke ist mit der Mehrheit des übrigen Hauses damit die Beschlussempfehlung angenommen.
Guten Abend, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 14. April 2018 haben die USA, Großbritannien und Frankreich Luftschläge gegen Syrien durchgeführt. Die AfD-Bundestagsfraktion beantragt, diese Angriffe als eklatante Verstöße gegen das Völkerrecht zu verurteilen.
({0})
Wir fordern Sie alle und ganz besonders die Regierungsfraktionen damit erneut auf, diese Regierung zu kontrollieren und auch zu korrigieren, wenn sie geltendes Recht missachtet; denn genau dafür sind wir alle hier vom deutschen Volk gewählt worden.
({1})
Die Luftangriffe auf Syrien waren rechtswidrig.
({2})
Das ist die einhellige Meinung aller Fachleute. Auch der Wissenschaftliche Dienst dieses Hauses bestätigt dies in aller Klarheit.
({3})
Trotzdem werden Sie unseren Antrag voraussichtlich wieder ablehnen:
({4})
die Regierungsfraktionen, weil ihnen schlichtweg der Mut fehlt, ihrer Regierung die Grenzen aufzuzeigen, und die Oppositionsfraktionen, also die anderen, weil sie in zutiefst undemokratischer Weise sowieso alles zurückweisen, was von uns kommt.
({5})
Damit werden Sie unserem Land weiteren Schaden zufügen. Denn es geht hier doch nicht nur um Syrien; es geht um viel mehr, nämlich um die Glaubwürdigkeit der deutschen Politik, unserer Regierung und dieses Parlamentes.
({6})
Noch gestern hat die Kanzlerin an dieser Stelle erklärt, Russland dürfe am kommenden G-7-Treffen wichtiger Regierungschefs nicht teilnehmen, weil die Krim völkerrechtswidrig annektiert wurde – dieselbe Kanzlerin, die den ebenso völkerrechtswidrigen Angriff auf Syrien als „erforderlich und angemessen“ bezeichnet hat. Meine Damen und Herren, wie, bitte, kann denn ein Rechtsbruch erforderlich und angemessen sein?
({7})
Wollen Sie das dieser Regierung wirklich durchgehen lassen? Getreu dem Zitat von Goethe:
Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihrs nicht aus, so legt was unter.
Treten Sie mit uns dieser Beliebigkeit entschlossen entgegen! Wie wollen Sie denn sonst noch glaubwürdig die von den USA auch gegen Europa verhängten Strafzölle als rechtswidrig kritisieren und dem US-Präsidenten Trump bei der Aufkündigung des Atomabkommens mit dem Iran Vertragsbruch vorwerfen? Und wie können Sie es denn überhaupt noch zulassen, dass unsere Wirtschaftssanktionen gegen Russland fortgeführt werden – zum Schaden beider Länder?
Meine Damen und Herren, das können Sie nicht, wenn Sie wie wir für eine glaubwürdige und rechtstreue deutsche Politik stehen.
({8})
Sie können sich nicht nur dann auf das Recht berufen, wenn es Ihnen nützlich erscheint, und es beiseiteschieben, wenn es Sie stört.
({9})
Was Recht ist, muss Recht bleiben. Nur so kann Deutschland ein respektierter und verlässlicher Partner in der Weltpolitik sein.
Als nächstes Beispiel: die juristische Beliebigkeit beim Einmarsch der Türkei in Syrien im Januar 2018. Große Teile von Syrien wurden besetzt und, so wie es aussieht, dauerhaft besetzt: ein weiterer klarer Verstoß gegen das Völkerrecht. Und was hören wir von der Bundesregierung? Etwa Forderungen nach Sanktionen? Nein. Wir hören ein ohrenbetäubendes Schweigen.
({10})
Wie passt das zu dem Anspruch dieses Parlamentes, weltweit und jederzeit für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einzutreten? Und wenn Sie schon diesen offensichtlichen Widerspruch nicht sehen wollen, erwarten Sie bitte nicht, dass auch andere davor ihre Augen verschließen.
({11})
Die AfD wurde aus vielen Gründen in den Bundestag gewählt. Ein ganz wichtiger ist, Gesetz und Recht in diesem Lande wiederherzustellen.
({12})
Denn das Recht ist die Grundlage des Zusammenlebens in jeder Gemeinschaft, im Inneren wie im Äußeren. Wir erwarten von unseren Bürgern jeden Tag, dass sie sich an das Recht halten.
({13})
Umso wichtiger ist es, dass der Staat dabei als großes Vorbild vorangeht.
({14})
Denn ansonsten wird eine Sichtweise weiter zunehmen, die der römische Philosoph Augustinus von Hippo einmal wie folgt beschrieb:
({15})
Nimm das Recht weg – was ist der Staat dann noch anderes als eine große Räuberbande?
Deshalb fordern wir Sie auf: Treten Sie mit uns dafür ein, das Recht in allen Bereichen wieder durchzusetzen! Unterstützen Sie daher unseren Antrag!
Vielen Dank.
({16})
Nächster Redner ist Roderich Kiesewetter für die CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit sieben Jahren tobt ein fürchterlicher Krieg in Syrien. Mehr als 12 Millionen Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Über 1 Million Menschen sind verstümmelt, Hunderttausende umgekommen. Die schlimmste humanitäre Katastrophe seit 1945 – und kein Wort des Antragstellers dazu.
({0})
Ich bin entsetzt von der Art und Weise, wie hier versucht wird, in der Fokussierung auf ein Einzelthema internationale Probleme zu verdrängen und in einer Nabelschau eigene Befindlichkeiten auf den Tisch zu legen, die traurig sind.
({1})
Traurig ist nämlich Folgendes: Am 14. April gab es ein Zeichen des Westens auf einer schwierigen völkerrechtlichen Grundlage,
({2})
gegen ein verbrecherisches System, das 12 Millionen Menschen vertrieben hat, davon 7 Millionen Menschen außerhalb des eigenen Landes,
({3})
ein verbrecherisches System, das Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung einsetzt,
({4})
und ein Russland hat die Beweisaufnahme verhindert – danke für die Brücke –,
({5})
indem es, als die internationale Kommission der Vereinten Nationen die Beweisaufnahme starten wollte, genau die Zeit abgewartet hat, bis sich die Giftstoffe verflüchtigt haben. So kann man keine Politik machen. Es ist dieses Hauses unwürdig, dass die Linke und die AfD geradezu einseitige – auf die AfD trifft es im wahrsten Sinne des Wortes zu – Anträge vorlegen, die nicht den Völkerrechtsbruch von Assad und auf keinen Fall die Stützung des Völkerrechtsbruchs durch Russland betreffen.
({6})
Es ist mir aber auch ein Herzensanliegen, Lösungen aufzuzeigen. Keiner der Anträge der AfD und der Linken zeigt Lösungen auf. Ich danke den Grünen für die Perspektiven, die sie eröffnet haben. Die Lage, die wir haben, ist gekennzeichnet durch einen ins Stocken gekommenen internationalen Prozess. Der Friedensprozess, von den Vereinten Nationen durch de Mistura geführt, ist ins Stocken gekommen. Die Bundesrepublik Deutschland, die Bundesregierung unterstützt zwar kraftvoll de Mistura mit technischer Expertise, mit Personal und vor allen Dingen politisch flankierend. Aber wir müssen ehrlich sein: Dieser Prozess ist ins Stocken gekommen. Das Vakuum, das er hinterlässt – die internationalen Einrichtungen wie die Vereinten Nationen sind gelähmt –, führt zu regionaler Machtpolitik auf brutalste Art und Weise.
Herr Kiesewetter, gestatten Sie eine Zwischenfrage eines Kollegen der AfD?
Ja, ich habe keine Scheu vor diesen Zwischenfragen.
Herr Kiesewetter, Sie haben gerade von einer schwierigen völkerrechtlichen Grundlage geredet. Was ist denn diese schwierige völkerrechtliche Grundlage, die dann einen solchen Angriff legitimieren würde?
Lieber Herr Kollege, ich würde mir wünschen, dass wir der internationalen Schutzverantwortung, der Responsibility to Protect, gerecht werden könnten, die aber in diesem Falle nicht greift, weil die fünf Bedingungen nicht wirksam sind. Wir sind in einer Grauzone.
({0})
Aber nichts zu tun, wäre noch heftiger gewesen. Aber der Punkt ist: Sie zeigen keine Lösungen auf. Ich zeige Lösungen auf. Die Union, die Regierungsfraktionen, selbst die Grünen zeigen Lösungen auf,
({1})
wie wir aus diesem Dilemma kommen können. Ich möchte Ihnen eine Lösung aufzeigen, nämlich dass wir nicht einseitig das Handeln des Westens anprangern und dabei in keinster Weise die Ursachen – die millionenfache Vertreibung der syrischen Bevölkerung, die Duldung des Völkermords und die Einsätze von Chemiewaffen – ansprechen. Da sind Sie einseitig und für mich kein Diskussionspartner.
({2})
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Alexander Neu?
Nein, ich ermögliche ihm eine Kurzintervention,
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weil ich glaube, dass ich mit meiner knappen Zeit den Gedanken, den ich ausführen will, sonst nicht ausreichend darlegen kann. Lieber Dr. Neu, ich freue mich auf Ihre Kurzintervention.
({1})
Ich möchte sehr deutlich Folgendes ansprechen: Der Schlüssel liegt in einem Dialog mit Russland. Russland verzettelt sich zurzeit in einem Krieg im Untergrund. Russland kann doch gar kein Interesse daran haben, über Jahre in eine Art Vietnam geführt zu werden. Wir können kein Interesse haben, dass Millionen Flüchtlinge nicht in die Heimat zurückkommen. Also muss der Friedensprozess so aussehen, dass wir Russland mit geeinter europäischer Stimme zeigen: Europa ist in der Lage, mit Expertise, mit Geld und mit Können Erhebliches für den Wiederaufbau zu leisten. Aber dafür stellen wir Bedingungen, nämlich dass Russland einem Friedensprozess zustimmt, einer Übergangsregierung zustimmt, einer internationalen Schutzverantwortung zustimmt und für Strukturen sorgt, die für einen Übergang geeignet sind.
({2})
Unser deutsches Engagement: Wir sollten uns nicht verstecken. Wir haben in Jordanien, im Libanon und im Irak mit beeindruckendem Engagement – quasi wie drei Magneten um das böse Kraftfeld Syrien herum – mit UNIFIL, der IS-Bekämpfung aus Jordanien heraus und mit dem Engagement im Irak gezeigt, dass wir bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Wir haben auch mit der Unterstützung der Peschmerga, mit der Verhinderung des Völkermords an den Jesiden gezeigt, dass wir erfolgreich sind.
Unsere Aufgabe ist doch jetzt, das europäische wilde Durcheinander in ein Orchester zu bringen, in dem wir gemeinsam mit Frankreich – ich bin für die Debatte zu Deutschland und Frankreich, die wir heute gehört haben, sehr dankbar – eine Strategie entwickeln, die Europa eint, die einen Wiederaufbau möglich macht, die den politischen Prozess zustande bringt und dann mit weitem Blick die Rückkehr der Flüchtlinge ermöglicht. Deshalb sollten wir UNIFIL, Counter Daesh und die Mandate im Irak stützen und zusammen mit Russland eine Initiative starten. Dazu ist der Dialog erforderlich, weil Russland auf Dauer kein Interesse daran hat, sich dort zu verzahnen. Aber diese Frage generell zu leugnen, wie es hier Linke und AfD tun, halte ich für bedenklich.
({3})
Ich habe noch neun Sekunden Redezeit und wäre bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen.
Ihre Zwischenfrage, bitte.
Ich finde es wirklich immer süß, wenn versucht wird, Tatsachen dadurch zu entkräften, dass man behauptet, dass es angeblich eine Querfront von links nach rechts gibt. Ich kann Ihnen versichern: Die gibt es nicht.
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Erste Anmerkung.
Zweite Anmerkung, Kollege Kiesewetter.
Zwischenfrage!
Sie haben gerade die RtoP angesprochen, die Schutzverantwortung. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Es gibt diese Schutzverantwortung nicht als internationale Norm. Das hätten zwar die Grünen und einige bei den Sozialdemokraten ganz gerne, aber es gibt sie nicht als Norm – weder völkergewohnheitsrechtlich noch in der UN-Charta. Insofern ist es abwegig, mit dem Argument der Schutzverantwortung eine völkerrechtsfragwürdige Argumentation zu liefern. Das ist völlig daneben. Schauen Sie sich noch einmal das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages an. Sie lernen daraus, vielleicht auch für die Zukunft. Der Autor hat ja nicht nur seine Meinung wiedergegeben, sondern er hat den aktuellen Stand der Völkerrechtsdebatte reflektiert.
({0})
Das war keine Frage; aber ich möchte trotzdem erwidern. Sie haben mir nicht zugehört. Ich habe gesagt: Ich wünsche mir, dass die Schutzverantwortung greift. Das ist nämlich eine Weiterentwicklung internationalen Rechts
({0})
als Folge von Ruanda, Srebrenica, von vielen anderen Geschehnissen, wo wir kaum handeln konnten. Und es war dieses Haus, das im Jahre 1999, vor fast 20 Jahren, über seinen Schatten gesprungen ist mit einer rot-grünen Regierung, die damals gesagt hat: Wir können den Völkermord an den Kosovaren nicht eskalieren lassen.
({1})
Wenn die internationale Gemeinschaft durch die Vetomächte gelähmt wird, dann müssen wir zeigen, dass wir selber Handlungsfähigkeit kreieren. Und wenn es um Menschlichkeit geht, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir Zeichen setzen. Am 14. April ist kein Mensch gestorben.
In diesem Sinne danke ich Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Bijan Djir-Sarai.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 14. April entschieden sich die USA, Frankreich und Großbritannien, auf den Einsatz von Chemiewaffen in Syrien zu reagieren. Mit gezielten Luftangriffen zerstörten sie mutmaßliche Produktionsstätten des syrischen Regimes. Die Bundesregierung entschied sich gegen eine Beteiligung an dem Angriff der Verbündeten. Die Bundesregierung war allerdings auch nicht explizit gefragt worden. Wäre sie gefragt worden, hätte es an Kapazitäten und Fähigkeiten gemangelt.
Heute, knapp zwei Monate später, diskutieren wir nicht darüber, wie wir diesen Krieg beenden können, sondern darüber, ob diese Luftschläge zu verurteilen sind oder nicht. Diese Luftschläge hatten keinen Einfluss auf den weiteren Verlauf des Krieges. Uns sollte es aus meiner Sicht bei dieser Debatte nicht um Vergangenheitsbewältigung in einem sinnlosen Bürgerkrieg gehen; wir sollten uns dringend mit der Frage beschäftigen, wie wir die Gewalt in Syrien beenden können.
({0})
Ich denke, es besteht Konsens über die Tatsache, dass in Syrien in den letzten Jahren schreckliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden. Während wir hier debattieren, geht die Gewalt weiter. Ob Russland, Iran, Türkei, das Assad-Regime oder die sogenannte syrische Opposition – sie alle tragen Verantwortung für die Ereignisse in Syrien.
Der syrische Bürgerkrieg ist ein komplexer Konflikt geworden, weil hier viele Interessen im Spiel sind. Ginge es nur um die Syrer, wäre eine Lösung möglich. Doch leider geht es nicht um die Menschen; der syrische Bürgerkrieg ist heute ein Stellvertreterkrieg auf Kosten des syrischen Volkes.
({1})
Das Völkerrecht wird in Syrien täglich mit Füßen getreten – da kommen wir mit der bloßen Benennung von Problemen genauso weit wie mit Russlands ständiger Blockadepolitik im Sicherheitsrat. Der UN-Sicherheitsrat bleibt in der Frage des Syrien-Kriegs somit weiterhin handlungsunfähig. Dieser nun bereits acht Jahre andauernde Zustand sollte uns deutlich vor Augen führen, wie bitter nötig Reformen des Sicherheitsrates sind. Im jetzigen Zustand gibt es definitiv keine Weiterentwicklung.
Doch man darf nicht die Hoffnung aufgeben. Vor dem Hintergrund der zahlreichen gescheiterten Verhandlungen von Astana und Genf und des blockierten Sicherheitsrats ist die Bundesregierung aufgefordert, die Konfliktakteure im Sinne des Oslo-Prozesses an einen Tisch zu bringen – mit Sonderbotschaftern und frei von medialen Zwängen. Und auch bei diesem Konflikt ist es wichtig, dass am Ende des Tages Europa mit einer Stimme spricht.
Meine Damen und Herren, auch wenn der Krieg in Syrien noch nicht zu Ende ist, so hat jedoch die Nachkriegsordnung vor Ort begonnen. Russland und vor allem der Iran sind dabei, sich in Syrien dauerhaft einzurichten. Und auf der anderen Seite sorgt das Assad-Regime mit einem Dekret für die Enteignung seines eigenen Volkes. Das wird die erfolgreiche Rückkehr von syrischen Flüchtlingen deutlich erschweren. Gerade diese Menschen werden für den Wiederaufbau und die Zukunft ihrer syrischen Heimat gebraucht.
Meine Damen und Herren, wir erleben derzeit einen Rückzug aus der Diplomatie seitens der US-Administration. Früher war es üblich, wenn man die Gewalt im Nahen und Mittleren Osten stoppen wollte, in Washington anzurufen. Heute ist die Bundesregierung, heute ist die Bundeskanzlerin leider gezwungen, in Moskau anzurufen.
({2})
Wir brauchen dringend eine internationale Lösung, eine Nachkriegsordnung, die nachhaltig und stabil ist und am Ende des Tages die Interessen aller Akteure der Region berücksichtigt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank. – Als Nächstes spricht die Kollegin Daniela De Ridder für die Fraktion der SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Seit sieben Jahren tobt ein blutiger Krieg in Syrien. Sieben lange Jahre – das ist im Übrigen länger, als der Zweite Weltkrieg hier in Europa seine Verheerungen und Verirrungen anrichten konnte. Rund 400 000 Tote sind zu beklagen, und es sind vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen. Und an diesem Krieg ist nichts zu beschönigen; denn ein Krieg ist ein Krieg ist ein Krieg. Es ist in der Tat erwiesen – der Kollege Kiesewetter hat es eben erwähnt –, dass es dabei mehrfach zu Giftgaseinsätzen gekommen ist. Syrien – und das ist relevant an dieser Stelle – ist doch in die Organisation für das Verbot chemischer Waffen eingetreten, und dennoch kam es zum Einsatz von Sarin, obgleich alle Chemiewaffen vernichtet werden sollten, auch das mithilfe Russlands.
Schauen wir uns, wenn es um die Einsätze im April dieses Jahres geht, auch mal an, was die Ziele waren; das bleibt ja unerwähnt. Alle Ziele waren nämlich potenzielle Einrichtungen der Chemiewaffenproduktion.
({0})
– Ich glaube, das ist mir zu unintelligent. Lassen Sie uns lieber über andere Dinge reden, die wirklich hilfreich sind.
Krieg und seine Opfer dürfen uns nicht kaltlassen, aber mit bloßer Empörungsrhetorik kommen wir hier nicht weiter; denn das hilft nicht, das rettet nicht ein einziges Menschenleben. Empörungsrhetorik ist mir zu billig. 70 Prozent der syrischen Bevölkerung – darum geht es nämlich – lebt heute in bitterer Armut, und 13 Millionen Syrer sind auf der Flucht. Und auch hier noch mal eine Dimension: 13 Millionen – das sind mehr Einwohner, als die Städte Berlin, Hamburg, München und Köln zusammen haben.
Es muss doch heute vielmehr darum gehen, welche klaren Handlungsansätze wir diskutieren können. Deshalb bin ich an der Stelle auch den Grünen für ihren Antrag sehr dankbar. Ja, wir müssen noch einmal über die Syrien-Konferenz reden und nicht nur über das Geld, das wir hier investieren. Sie wissen: Wir haben Milliardenbeträge investiert. Aber die Syrien-Konferenz braucht einen neuen Schub.
Ja, lassen Sie uns darüber reden, dass wir die NGOs besser einbinden! Lassen Sie uns darüber sprechen, was für den Wiederaufbau getan werden kann, was für humanitäre Hilfen getan werden kann! Lassen Sie uns darüber sprechen, was wir für Krankenhäuser und Schulen in Syrien tun können! Wenn ich schon dabei bin – meine Wunschliste möchte ich noch verlängern –: Wir sollten auch darüber reden, was es bedeuten würde, wenn Syrien eine neue Verfassung bekäme, freie Wahlen hätte oder eine unbelastete Regierung.
({1})
Es ist in der Tat ein Segen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, dass wir ein Strafgesetz haben, das es bereits heute zulässt, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit, was Syrien anbelangt, in Deutschland verfolgt werden können; das ist das Weltrechtsprinzip. Dies geschieht bereits. Da gilt mein ganz besonderer Dank dem Generalbundesanwalt Dr. Peter Frank, weil er sich dafür einsetzt. Das dient dem Schutz der Menschenrechte.
({2})
Ich will Sie aber noch ganz kurz teilhaben lassen an dem Telefonat, das ich gestern mit der französischen Journalistin Garance Le Caisne führte. Das ist die Journalistin, die jenen Mann interviewte, der unter dem Decknamen „Caesar“ als anonymer Fotograf inzwischen zum Staatsfeind Nummer eins für Assad geworden ist. Er war noch beim Militär, als er seinerzeit die Todesopfer aus Assads Foltergefängnissen fotografieren musste. Diese Fotos – ich vermute, viele von Ihnen kennen sie – schockierten die Welt und machten „Caesar“ zu einem Flüchtling des Assad-Regimes.
Ich finde, wir sollten Garance Le Caisne in unseren Ausschuss einladen und uns von ihr berichten lassen. Garance Le Caisne forderte mich auf, Ihnen zu sagen, wie stolz wir auf unser Land sein dürfen, weil wir, so sagte sie, aus der Shoah gelernt haben. Ja, Madame Le Caisne, ich bin stolz auf mein Land, weil es eine wehrhafte Demokratie ist, und ich werde bis zum letzten Atemzug darum kämpfen, dass dies so bleibt.
({3})
Abschließend einen Satz an Sie, meine Herren von der AfD: Ihre unsägliche Rhetorik ohne jeden Lösungsvorschlag entsetzt mich zutiefst. Das empört mich. Ihre Rhetorik ist zumeist degoutant. Daher hoffe ich für dieses demokratische Land, aber auch für die Wähler, die Sie nur aus Protest gewählt haben, dass Ihre Partei ein Fliegenschiss in der Geschichte dieses stolzen demokratischen Parlaments bleiben wird.
Vielen Dank.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Heike Hänsel von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach dem militärischen Einmarsch der türkischen Armee Ende Januar in den Norden Syriens, in die Region Afrin, da standen wir alle hier und haben debattiert. Alle Fraktionen des Deutschen Bundestages haben diese Offensive als völkerrechtswidrig verurteilt, und das war richtig so.
({0})
Wir wurden darin auch bestätigt durch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, in Auftrag gegeben von der Linksfraktion.
Allein die Bundesregierung konnte sich nicht dazu durchringen, die Verletzung des Völkerrechts durch die Türkei festzustellen. Außenminister Maas stand hier und sagte, ja, je nachdem, wie lange nun die türkische Besatzung in Afrin andauere, müsse die Situation dann neu bewertet werden. Das war damals schon eine skandalöse und unseriöse außenpolitische Position.
({1})
Aber es wird noch dreister; denn obwohl die türkische Besatzung, die mittlerweile einer Annexion von Afrin gleichkommt, bis heute anhält, bekommen wir jetzt vom Außenministerium auf unsere kürzlich gestellte Frage hin, ob denn mittlerweile der Einmarsch völkerrechtswidrig sei, die Antwort – ich zitiere –:
Der Bundesregierung liegen derzeit keine hinreichenden Tatsacheninformationen für eine abschließende Bewertung der Lage in der Region rund um Afrin vor.
({2})
Die türkische Präsenz … ist ständiges Thema von Gesprächen zwischen der Bundesregierung und der türkischen Regierung.
Fast fünf Monate nach dem Angriff kann die Bundesregierung keine völkerrechtliche Bewertung abgeben? Das ist wirklich unfassbar. Sie treten das Völkerrecht hier bewusst mit Füßen.
({3})
Es ist auch bitter; denn die Bundesregierung negiert damit auch das Leid von über 150 000 vertriebenen Kurden und Kurdinnen, Jesiden und Sunniten in dieser ehemals multiethnischen Region, die jetzt übrigens in den Flüchtlingslagern kaum Zugang zu humanitärer Hilfe haben, und der in Afrin verbliebenen Menschen, die unter einer islamistischen Herrschaft der AKP und der sogenannten Freien Syrischen Armee leiden und drangsaliert werden.
Meine Kollegin Zaklin Nastic war erst vor kurzem in der Region und hat von Zwangsverschleierung, Plünderung, Verhaftungen und politischer Verfolgung berichtet. Die Türkei plant die Umsiedelung Hunderttausender syrischer Flüchtlinge aus der Türkei in diese Region, um die Region auch ethnisch zu verändern – alles finanziert mit Steuergeldern aus der EU für Erdogan und, besonders perfide, mit Unterstützung deutscher Waffenexporte. Das ist der Skandal:
({4})
dass nach der Offensive in Afrin weiterhin Rüstungsexporte an die Türkei gingen. Das muss endlich ein Ende haben.
({5})
Ähnlich verhielt es sich mit dem US-geführten Militärschlag gegen Syrien im April dieses Jahres. Auch er verstieß eindeutig gegen das Völkerrecht.
({6})
Auch das hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages auf unsere Anfragen hin festgestellt. Zudem – noch dazu – fand dieser Angriff ohne jegliche Beweise statt.
({7})
Es wurde einfach losgebombt,
({8})
und danach sollte aufgeklärt werden. Es wurde nicht mal die UN-Aufklärung abgewartet. Das ist Wildwestmentalität à la Trump und nicht hinnehmbar.
({9})
Auch die NATO-Staaten müssen sich an das Völkerrecht halten.
Die Bundesregierung kann noch dazu bis heute nicht ausschließen, dass für diese Angriffe auf Syrien Daten verwendet werden, die von Bundeswehrtornados und AWACS-Flugzeugen stammen. Genau deswegen müssen diese Bundeswehrflugzeuge endlich aus der Region abgezogen werden.
({10})
Wir fordern eine Außenpolitik, die das Völkerrecht als internationalen Ordnungsrahmen uneingeschränkt achtet und befördert. Das ist die Voraussetzung für jede Friedenspolitik.
({11})
Abschließend: Die Bundesregierung bewirbt sich morgen offiziell um einen Sitz im erweiterten UN-Sicherheitsrat. Ich bin der Meinung: Wer in den internationalen Beziehungen das Faustrecht statt das Völkerrecht unterstützt, der hat im UN-Sicherheitsrat nichts verloren.
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Nächste Rednerin ist die Abgeordnete Agnieszka Brugger für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die letzten Jahre in Syrien waren eine grausame Aneinanderreihung von schrecklichen Menschenrechtsverletzungen und brutalen Brüchen des Völkerrechts, die insbesondere Woche für Woche durch den syrischen Präsidenten Assad verübt werden,
({0})
gegen seine eigene Zivilbevölkerung.
({1})
Und ja: Natürlich werden wir den Antrag der AfD nicht unterstützen und ihm nicht zustimmen. Ich sage Ihnen auch gerne, warum: Alles, was Sie zum Völkerrecht in Syrien zu sagen haben, passt in drei Stichpunkte und auf ein DIN-A4-Blatt. In Ihrer Rede von fünf Minuten verurteilen Sie zwar die Raketenangriffe von Donald Trump. Aber Sie sagen kein einziges Wort zu den Giftgaseinsätzen, die seit Jahren in Syrien stattfinden. Sieben Jahre grausame Kriegsverbrechen von Assad, die Sie nicht ein Mal erwähnen. Wie zynisch ist das denn!
({2})
Aber bei Ihnen sind die übelsten Völkerrechtsbrüche offensichtlich erlaubt, wenn sie von den Diktatoren begangen werden, die Sie verehren und mit deren Unterstützern Ihre Reisedelegation gerne Kaffee trinkt.
({3})
Aber, meine Damen und Herren, was will man auch von einer Fraktion erwarten, deren Vorsitzender den größten Massenmord der Geschichte als „Vogelschiss“ bezeichnet.
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Ganz ehrlich: Worte und Werte wie Menschenrechte und Völkerrecht und den Bezug auf die Vereinten Nationen brauchen Sie gar nicht in den Mund zu nehmen.
({5})
Meine Damen und Herren, obwohl eigentlich niemand ein Interesse daran haben kann, dass Syrien komplett zerstört wird und im absoluten Chaos versinkt, verfolgt eine Reihe von Staaten ohne jede Rücksicht, ohne jeden Skrupel ihre eigenen nationalen Machtinteressen. Den Preis dafür zahlt immer wieder die Zivilbevölkerung. Da geht es um die Rolle von Staaten wie Katar, Iran, Saudi-Arabien. Das sieht man aber auch am völkerrechtswidrigen Einmarsch und an der Besetzung von Afrin durch die Türkei. Ganz besonders sieht man das aber auch an der Rolle von Wladimir Putin, der seine schützende Hand über dieses Assad-Regime hält und es mit Militärpräsenz, mit Bombardierung – da brauchen Sie gar nicht zu schnaufen und zu lachen – und mit Blockaden im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unterstützt.
({6})
Assad hat zum wiederholten Male international geächtete Massenvernichtungswaffen eingesetzt. Herr Kollege Neu, erklären Sie mir doch mal, was das denn anderes ist als ein Bruch des Völkerrechts.
({7})
Frau Kollegin Brugger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehm?
Gerne.
Frau Kollegin, ich habe zwei Fragen.
Erstens. Bei den Fachleuten ist wirklich umstritten, ob Assad dort tätig war oder nicht oder ob in der Situation das Prinzip der al-Nusra eingehalten wurde, die ja auch über solches Giftgas verfügt, um andere zur Intervention zu bewegen. Warum sollte Assad, wenn seine Armee erfolgreich auf dem Vormarsch ist und international Konditionen für die Einleitung eines Friedensprozesses geschaffen werden, genau in dieser Situation Giftgas einsetzen?
Die zweite Frage ist: Sind Sie wirklich der Meinung, dass man so vorschnell, wie das einige tun, Putin in diesem Zusammenhang mit einbeziehen und immer gleich Russen-Bashing betreiben muss? Ist das nicht etwas, bei dem wir zumindest in der Diskussion und vor dem Hintergrund anderer Vorgänge – Stichwort „Skripal“ – etwas Zurückhaltung benötigen und erst nachprüfen, bevor wir immer gleich die Russen als Täter vermuten und die Visitenkarte von Wladimir Putin am Tatort finden?
Herr Kollege Dehm, ich erkläre Ihnen das gerne noch mal. Es ist ja nicht so, dass das der erste mutmaßliche Giftgaseinsatz in Syrien war. Ihre Kollegin hat hier gerade ein flammendes Plädoyer für das Völkerrecht gehalten. Das können wir als Grüne nur unterstützen; auch wir setzen uns für das Völkerrecht ein.
({0})
Vor diesem Hintergrund sind Organisationen wie zum Beispiel die OPCW, die Organisation für das Verbot chemischer Waffen, die unter anderem mit Unterstützung Ihres so geschätzten Russlands eingerichtet wurde, mehrfach in Syrien gewesen. Es gab in den letzten sieben Jahren 34 festgestellte Einsätze von Giftgas. Davon hat der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen 27 Angriffe – die sind da sehr präzise; es gibt zu Recht den Verdacht, dass es mehr waren, aber nur bei 27 Angriffen konnten sie es genau nachweisen – dem Assad-Regime zuordnen können. Ich finde, das gehört zur Wahrheit dazu.
({1})
– Nein, nicht nur im letzten Jahr, sondern in sieben Jahren brutaler Kriegsgeschichte in Syrien. Das können Sie nicht ignorieren. Auch Russland war mit daran beteiligt, die syrischen Chemiewaffen zu vernichten.
Ich erwarte von einem Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, dass es Völkerrecht hält, beschützt und seine versprochenen Zusagen an der Stelle einhält.
({2})
Aber dazu findet sich kein einziges Wort im Antrag der AfD. Dazu findet sich auch leider kein Wort im Antrag der Linken. Ich muss Ihnen sagen: Wer das Völkerrecht immer nur selektiv verteidigt, wer sich dazu ausschweigt, dem geht es doch nicht wirklich um das Völkerrecht, dem geht es um etwas ganz anderes. Auch da sprach Ihre Frage gerade Bände.
({3})
Meine Damen und Herren, auch die Bundesregierung kann sich nicht glaubwürdig für das Völkerrecht einsetzen. Wenn Ihnen das Völkerrecht so wichtig ist, dann darf man eben nicht schweigen, wenn die Türkei völkerrechtswidrig in Afrin einmarschiert. Dann muss man auch sagen, dass die Raketenangriffe von Donald Trump völkerrechtswidrig waren, und man darf sie nicht auch noch rhetorisch unterstützen.
({4})
Gerade in einer Zeit, in der einige versuchen, das Völkerrecht zu zerbomben und es durch das Recht des Stärkeren zu ersetzen, gilt: Wer das erhalten will, wer das beschützen will, der muss es erst recht hochhalten, der muss es erst recht verteidigen, und vor allem muss er es selbst einhalten.
({5})
Meine Damen und Herren, ich bin dem Kollegen Kiesewetter dankbar; in unseren beiden Anträgen legen wir der Bundesregierung sehr konkrete Vorschläge dafür vor, was sie tun könnte. Natürlich können Sie den Konflikt in Syrien nicht lösen. Aber wir fragen Sie – wenn der Sicherheitsrat blockiert ist; wir sind ebenso wie Sie sehr frustriert darüber –: Warum gehen Sie dann nicht in die Generalversammlung und werben da um Mehrheiten für die Resolutionen? Warum unterstützen Sie nicht stärker den Beweismittelmechanismus der Vereinten Nationen für Syrien, damit die Verbrechen dokumentiert werden, die Schuldigen irgendwann mal zur Rechenschaft gezogen werden können und die Botschaft an die Diktatoren dieser Welt ausgeht, dass solche Dinge einfach nicht ungesühnt bleiben?
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Ein letztes Beispiel möchte ich Ihnen noch geben: Wir haben heute Vormittag hier im Plenum über die Einschränkung des Familiennachzugs diskutiert. Auch das ist keine kluge, auch das ist keine humanitäre Antwort, wenn es darum geht, wenigstens ein bisschen was dafür zu tun, dass das Leid der Menschen in Syrien gemindert wird. Das ist eine moralische Bankrotterklärung. Und nein, diese Bundesregierung tut bei weitem nicht alles, um das Leid der Menschen in Syrien zu lindern und um politische Lösungen auf den Weg zu bringen.
Meine Damen und Herren, es gibt keinen guten Grund, das alles und noch viel mehr nicht zu tun. Tun Sie es endlich!
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Nächster Redner ist der Abgeordnete Thorsten Frei für die CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man diese Debatte verfolgt, insbesondere von links und von rechts, dann stellt man fest, dass hier ganz entscheidend Ursache und Wirkung miteinander verwechselt werden.
({0})
Es ist nicht nur die selektive Wahrnehmung der Wahrheit, sondern ein ganz bewusstes Verdrehen von Tatsachen; das muss man auch in aller Deutlichkeit ansprechen.
({1})
Es geht darum – viele Vorredner sind darauf eingegangen –, dass man klar zuordnen kann, was in Syrien passiert: nicht nur der Krieg seit 2001, nicht nur die Millionen Vertriebenen, die 500 000 Toten und ein Regime, das die eigene Bevölkerung mit Streu- und Fassbomben bombardiert, und zwar zivile Einrichtungen, Schulen, Krankenhäuser. Es ist doch nicht so, dass wir über Giftgaseinsätze fabulieren würden, sondern es ist tatsächlich so, dass es im letzten Jahr 16 nachgewiesene Einsätze von Giftgas gegeben hat. Seit der Verabschiedung der Resolution 2118 im Jahr 2013 wurde 34-mal Giftgas in Syrien eingesetzt. Das kann man auch zuordnen. Darauf, meine sehr verehrten Damen und Herren, braucht man eine Antwort.
Die Grünen versuchen, eine Antwort zu geben, indem sie beispielsweise Vorschläge machen und darauf hinweisen, dass man dokumentieren, bewerten und aufarbeiten muss, dass man auch dafür sorgen muss, dass diejenigen, die dieses verursacht haben, tatsächlich zur Rechenschaft gezogen werden können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das, was am 14. April passiert ist, war eine ganz konkrete Antwort auf den letzten dieser 34 Giftgaseinsätze, als in Duma 42 Menschen getötet, 500 Menschen verletzt wurden.
({2})
Darüber kann man natürlich reden.
({3})
Nur: Es gab schon mal einen amerikanischen Präsidenten, der rote Linien gezogen hat. Und was ist passiert? Es gab weitere Dutzende Giftgaseinsätze in Syrien.
({4})
Deshalb geht es darum, dass man Menschenleben verteidigt, wo die Möglichkeiten bestehen. Deshalb sage ich ganz offen: Ich finde, dieser Einsatz der Amerikaner, Franzosen und Briten war angemessen, erforderlich und notwendig.
({5})
Und er war deshalb verhältnismäßig – das will ich Ihnen auch sagen; einer meiner Vorredner ist darauf eingegangen –, weil es keine Toten gab und er örtlich und zeitlich begrenzt war. Das waren Angriffe auf Einrichtungen, Kommandozentralen, Lager, Forschungseinrichtungen. Das ist etwas völlig anderes. Damit konnten Menschenleben gerettet werden. Genau darum geht es.
Ich glaube – das will ich an dieser Stelle sagen –, dass man natürlich auch rechtsmissbräuchlich unterwegs sein kann. Hier geht es darum, auf eine ganz konkrete Anforderung ganz konkrete Antworten zu liefern. Genau das ist passiert, und das kann man nicht wegreden. Deshalb, glaube ich, ist es auch notwendig, das klar zu benennen. Auch ich weiß, dass man am Ende Realitäten beachten muss, wenn man zu nachhaltigen und stabilen Lösungen kommen will. Aber klar ist, dass das Assad-Regime dies nicht tun konnte, ohne die politische und militärische Unterstützung von Iran und Russland.
({6})
Mehr als zehnmal hat sich Russland im Sicherheitsrat vor Assad gestellt. Assad wäre militärisch längst erledigt gewesen – er hat mehr als die Hälfte seines Militärs durch Tote und Fahnenflucht verloren –, wenn er nicht die Unterstützung von Russland und Iran gehabt hätte.
({7})
Diese klaren Verantwortlichkeiten muss man auch benennen. Das gehört zur Wahrheit dazu, und das verleugnen Sie mit Ihrer Argumentation.
({8})
Deswegen ist aus meiner Sicht vollkommen klar: Wir brauchen eine Vereinigung der bisherigen Verhandlungsprozesse. Aber wir brauchen auch klare Bedingungen, die sicherstellen, dass das Zündeln, das Provozieren in der Region ein Ende haben muss. Dafür müssen wir die Voraussetzungen schaffen.
Vielen Dank.
({9})
Herr Frei, gestatten Sie noch eine Zwischenbemerkung der Kollegin Nastic von der Linken? Sie hatte sich rechtzeitig gemeldet.
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Bitte sehr.
Vielen Dank, Herr Frei. Ihre sehr leidenschaftliche Rede würde ich hier gerne auch einmal zu dem völkerrechtswidrigen Angriff in Afrin im Norden Syriens mit all den Vorverurteilungen gegenüber der Türkei hören. Mir haben gerade letzte Woche Mütter, Väter, Brüder, Schwestern erzählt, wie die Türkei zusammen mit Angehörigen der Al-Nusra-Front in Afrin eingefallen ist, wie sie mit Flugzeugen brutalst ganze Dörfer bombardieren, mit Waffen und deutschen Panzern dort einfallen, Hunderte von Zivilisten ermorden, die radikale Scharia einführen. Wird Ihre Regierung dann endlich die Einhaltung des Völkerrechts auch von der Türkei einfordern und vor allen Dingen Erdogan vor den Internationalen Strafgerichtshof stellen?
({0})
Wollen Sie entgegnen?
Ja.
Bitte.
Frau Kollegin Nastic, wir hatten hier im Parlament auch eine Debatte über den Einmarsch der Türkei in Afrin. Auch ich hatte die Gelegenheit, für unsere Fraktion dazu zu sprechen, und ich habe dort genau wie alle anderen Redner deutlich formuliert, dass dieser Einmarsch der Türkei in Afrin völkerrechtswidrig ist.
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An dieser Feststellung gibt es nichts zu deuteln. Deswegen ist unsere Position hier auch sonnenklar.
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Dann fahren wir fort mit der Rednerliste. Nächste Rednerin ist Gabriele Heinrich für die SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Meine Damen und Herren! In meiner Heimatstadt Nürnberg wird seit 1995 alle zwei Jahre der Internationale Nürnberger Menschenrechtspreis vergeben. Im letzten Jahr – und das war das einzige Mal in all den Jahren – musste die Identität des Preisträgers geheim bleiben. „Caesar“ – er wurde in der Debatte heute schon erwähnt – ist der Deckname eines syrischen Militärfotografen, der es geschafft hat, Fotos aus syrischen Folterkellern herauszuschmuggeln – Beweise, 28 000 Fotos.
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Viele dieser Fotos sind nur sehr schwer zu ertragen. Es sind Fotos von ausgemergelten, verstümmelten Leichen von Menschen, die in syrischen Gefängnissen durch Folter, Hinrichtung, Krankheit und Unterernährung getötet wurden.
„Caesar“ versteckt sich irgendwo in Europa. Ich empfinde große Hochachtung für Menschen, die ihr Leben riskieren, um Verbrechen zu dokumentieren, egal wer diese Verbrechen begangen hat,
({1})
ob IS, Regierungstruppen, Polizei, sonstige Milizen, welche Länder auch immer, damit diese Verbrechen nicht straflos bleiben – auch nicht in Syrien.
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Straflosigkeit bedeutet eine zusätzliche Verhöhnung der Opfer. Die Angehörigen, die traumatisierten Überlebenden, sie alle ertragen ein Leben voller psychischer und physischer Schmerzen, während die Täter frei herumlaufen. Das dürfen wir nicht zulassen; denn Versöhnung oder auch nur eine friedlichere Zukunft kann so niemals vorangebracht werden.
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Ein Anfang ist gemacht. Die Gruppe um „Caesar“ hat die Bilder 2017 dem Generalbundesanwalt übergeben; er ermittelt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.
Einige dieser Täter leben vielleicht mittlerweile in Deutschland. Den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag müssen syrische Täter nicht fürchten; Syrien hat das Römische Statut nicht unterzeichnet. Der UN-Sicherheitsrat blockiert, dass es dennoch zur Anklage kommen könnte. Leider blockiert auch Russland. Wir müssen versuchen, diese Blockade zu brechen.
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Deutschland ist eines der Länder, in denen das Weltrechtsprinzip gilt. Unser Strafgesetz sieht vor, dass Kriegsverbrecher und Folterer hier vor Gericht gestellt werden können, auch wenn die Taten nicht in Deutschland verübt wurden. Das wollen, das müssen wir tun. Wir sind auch nicht alleine: Schweden, Frankreich, Österreich, in all diesen Ländern wird gegen syrische Täter ermittelt.
Syrien, das bedeutet – das wurde heute schon gesagt; ich glaube aber, man muss es immer wieder sagen – geschätzt 500 000 Tote, 1,5 Millionen Menschen mit bleibenden Verletzungen und ungefähr 12 Millionen Flüchtlinge. Hinzu kommen unzählige Opfer sexueller Gewalt, meist Frauen, aber auch Männer. In Syrien wurde systematisch sexualisierte Gewalt eingesetzt, um Geständnisse oder Informationen zu erpressen, als Bestrafung oder einfach, um oppositionelle Gemeinschaften zu terrorisieren, so heißt es in einem Bericht der Vereinten Nationen. Das alles darf nicht ungesühnt bleiben.
Es gibt viele Hebel, an denen wir ansetzen können und die im Antrag der Grünen auch genannt werden. Ich finde es sehr wichtig, international und national an diesem Thema dranzubleiben. Deutschland darf kein sicherer Hafen für IS-Verbrecher, für Assads Folterknechte und für Vergewaltiger sein.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in dieser Debatte ist Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 7. April dieses Jahres sind über 40 Menschen bei einem furchtbaren Giftgasangriff in Ost-Ghuta gestorben. Das war ein Giftgasangriff, der auf viele andere Angriffe gefolgt ist, die in den letzten Jahren zu verzeichnen gewesen sind. In der Nacht vom 13. auf den 14. April haben die USA, Frankreich und Großbritannien durch einen begrenzten Militärschlag auf Forschungseinrichtungen, auf Fabriken und auf militärische Infrastruktur eine militärisch gebotene und notwendige Antwort gegeben, weil politisch feststeht, dass bei einem schweren Kriegsverbrechen, bei einem Bruch des Völkerrechts, bei einem menschenunwürdigen Einsatz von Giftgas die westliche Wertegemeinschaft nicht zusehen darf. Vielmehr ist eine rote Linie überschritten, und das muss auch geahndet werden.
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Die völkerrechtliche Einordnung dieses Vorgangs ist umstritten. Aber es ist nicht so, dass eine Völkerrechtswidrigkeit von vornherein feststehen muss. Ganz im Gegenteil: Das Völkerrecht bzw. das Völkergewohnheitsrecht unterliegt immer wieder einer Fortbildung und muss im Lichte der jeweiligen Konstellationen betrachtet werden.
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Ja, es gibt das Gewaltverbot der UN-Charta. Ein militärischer Einsatz ist nur dann erlaubt, wenn es entweder eine Resolution des UN-Sicherheitsrates gibt oder ein Akt der Selbstverteidigung vorliegt.
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Im Augenblick muss man aber deutlich feststellen, dass die Sachlage in Bezug auf den Giftgaseinsatz in Syrien wesentlich komplexer ist. Es ist zunächst einmal festzuhalten, dass es bereits eine Resolution des UN-Sicherheitsrates aus dem Jahr 2013 gibt, die Resolution 2118.
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Diese Resolution sagt ganz klar, dass dem syrischen Regime, dem syrischen Staat verboten wird, chemische Mittel einzusetzen. Der syrische Staat hat auch die Pflicht, diese Mittel zu beseitigen, und es besteht auch ein ganz klarer Auftrag, die Vertreter der Organisation für das Verbot chemischer Waffen ins Land zu lassen, um die Vernichtung der Chemiewaffen zu überprüfen.
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Diese Verpflichtung hat der syrische Staat nicht erfüllt. Ganz im Gegenteil: Sogar der UN-Sicherheitsrat hat im weiteren Verlauf durch ein Veto von Russland und China diese Verpflichtung unterlaufen. Jetzt haben wir die völkerrechtliche Situation eines sich blockierenden Sicherheitsrates. Wir hätten eigentlich eine positive Mehrheit für einen Einsatz, wenn es nicht dieses Vetorecht gäbe.
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Aber das Vetorecht, das in diesem Fall von Russland und auch von China ausgeübt worden ist, steht meines Erachtens nicht im Einklang mit der Verpflichtung dieser Staaten, eine humanitäre Intervention zuzulassen und das Völkerrecht zu respektieren.
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Warum? Die besonderen Rechte eines Vetostaates bedeuten auch besondere Pflichten, und zwar besondere Pflichten zur Geltendmachung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte. Gerade wenn Chemiewaffen eingesetzt werden – ein besonders grausamer Bruch des Völkerrechts –, muss vor dem Hintergrund eines zerfallenden Staates, einer fehlenden Staatsgewalt, einem Vorliegen einer Resolution des UN-Sicherheitsrates und des Konzepts der UN-Schutzverantwortung zumindest ein klar definierter Militärschlag möglich sein, um das Töten und das Morden zu beenden und Chemiewaffenbestände zu beseitigen. Das ist eine nötige und gute Fortentwicklung des Völkerrechts.
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Herr Ullrich, wollen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehm zulassen?
Ja.
Herr Kollege, ich möchte nur daran erinnern und Sie fragen, wie Sie das bewerten, dass etwa im selben Duktus, um nicht zu sagen: Pathos in Bezug auf Libyen genau dasselbe gesagt wurde: Bomben auf die eigene Bevölkerung. Alle diese Szenarien habe ich gehört. Dann hat Guido Westerwelle hier begründet, warum er als Außenminister dem nicht zustimmen kann. Es gab übrigens Zwischenrufe von der SPD, merkwürdigerweise gegen Guido Westerwelle, was mich bei der Tradition dieser Partei sehr gewundert hat. Dann hat Frankreich eine Einzelaktion gemacht und Libyen bombardiert. Das Ergebnis ist, dass heute – es schwankt – zwischen 50 und 70 Prozent des gesamten libyschen Territoriums unter islamistisch-terroristischer Kontrolle ist. Das Ergebnis ist, dass wir die größte Flüchtlingswelle aus Libyen haben. Ich möchte nur daran erinnern, dass unter Assad Frauen wenigstens zur Schule gehen können. Wissen Sie, was danach kommt? Wenn sich in Libyen Frauen heute die Fußnägel lackieren, werden ihnen die Füße abgeschnitten. Das ist die Realität, nachdem dort interveniert worden ist. Wissen Sie, was passiert?
Die zweite Frage: Warum hindert man Assad daran, bei einer Wahl überhaupt zu kandidieren? Wenn das eine Wahl wäre, die international kontrolliert wird: Warum soll er dann nicht kandidieren, wenn er nicht möglicherweise eine Mehrheit bekommt? Wissen wir hier, wer der richtige Kandidat für Syrien ist?
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Herr Kollege Dehm, Ihre Bemerkung in Bezug auf das Lackieren von Fußnägeln empfinde ich angesichts vieler Tausend toter Kinder im syrischen Bürgerkrieg und vieler Millionen Menschen auf der Flucht als zynisch.
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Ich stelle im Weiteren fest, dass Sie nicht auf meine völkerrechtlichen Beweggründe reagiert haben,
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sondern zunächst einmal eine völlige Nebelkerze geworfen haben, indem Sie jetzt den Fall Libyen ansprechen, und darüber hinaus über die Frage einer Nachkriegsordnung in Syrien sprechen.
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Der Fall Libyen ist nicht mit dem Fall Syrien vergleichbar. Was Syrien betrifft, sage ich Ihnen ganz ehrlich: Ja, wir brauchen eine Nachkriegsordnung für Syrien. Wir brauchen auch eine Anklage der Kriegsverbrecher, die Giftgasattacken in Syrien zu verantworten haben, vor einem internationalen Strafgerichtshof.
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Das muss die Antwort der Weltgemeinschaft sein, und das sollten Sie thematisieren.
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Abschließend, Herr Präsident: Wir brauchen eine Nachkriegsordnung für Syrien. Das wird ein langer Weg für die Weltgemeinschaft werden. Wir brauchen eine strafrechtliche Verantwortung für die Täter. Wir brauchen auch eine Unterstützung derjenigen Akteure, die weltweit Beweise sammeln. Wir brauchen aber auch eine Unterstützung der Strukturverfahren in Deutschland gegenüber Kriegsverbrechern, weil: Recht darf dem Unrecht nicht weichen. Wir müssen dem humanitären Völkerrecht zur Geltung verhelfen. Wir müssen das Morden beenden, und wir müssen dafür sorgen, dass sich auch diese Blockade im UN-Sicherheitsrat auflöst, damit die Weltgemeinschaft gegenüber diesem Gräuel mit einer Stimme spricht.
Herzlichen Dank.
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Liebe Kollegen und Kolleginnen, ich habe in dieser Debatte insgesamt fünf Zwischenbemerkungen bzw. Zwischenfragen zugelassen. Es liegen weitere Wünsche auf Zwischenbemerkungen vor. Ich bin gerne bereit, sie zuzulassen, wenn wir über eine Frage debattieren, die neu ist und die ausführlich zum ersten oder zum zweiten Mal diskutiert werden muss. Aber diese Völkerrechtsfrage ist hier wiederholt und ausführlich diskutiert worden. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit sehe ich davon ab, weitere Zwischenfragen, Zwischenbemerkungen oder Kurzinterventionen zuzulassen. Ich hoffe auf Ihr Verständnis.
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Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/2470, 19/2518, 19/1876 und 19/2513 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich nehme an, Sie sind damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gerade kleine und mittelständische Unternehmen sind Garanten für Arbeitsplätze in Deutschland. Damit dieser Jobmotor Mittelstand weiter läuft, brauchen Unternehmen früher oder später frisches Kapital, um zu wachsen, um neue Märkte und neue Zielgruppen zu erschließen und um neue Produkte zu entwickeln. Woher kommt dieses Geld? Aktuell zu weit über 80 Prozent aus Bankkrediten, zu weit weniger als 20 Prozent über die Kapitalmärkte.
Bei der Unternehmensfinanzierung über Kapitalmärkte liegt also eine Menge Potenzial brach. Dieses Potenzial sollten wir heben. Ein Hindernis sind zum Beispiel die hohen Kosten und der immense Aufwand, einen Wertpapierprospekt zu erstellen. Mehrere Hundert Seiten sind für einen solchen Prospekt keine Seltenheit, eine Hürde, die gerade für kleine und mittlere Unternehmen sehr hoch liegt. Uns als CDU und CSU ist es wichtig, solche Hürden aus dem Weg zu räumen, gerade um mittelständischen Unternehmen die Kapitalaufnahme zu erleichtern. Das schafft neue Arbeitsplätze in Deutschland.
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Mit der EU-Prospektverordnung geht die Europäische Union einen guten Schritt in die richtige Richtung. Die Verordnung ist Teil der geplanten EU-Kapitalmarktunion. Sie ersetzt die bisherige Prospektrichtlinie. Ziel ist es, gerade mittelständischen Unternehmen, aber auch Start-ups den Zugang zu Kapital zu erleichtern und preiswerter zu machen. Das begrüßen wir als Unionsfraktion; denn wir brauchen neue Ideen und mehr Wertschöpfung in Deutschland.
Mit der Prospektverordnung wird einerseits die Erstellung von Wertpapierprospekten einfacher und flexibler, andererseits werden die Ausnahmen von der Prospektpflicht deutlich ausgeweitet. Bisher muss grundsätzlich ab einem Angebot von 100 000 Euro ein Wertpapierprospekt erstellt werden. Diese Schwelle wird nun durch die Verordnung zunächst auf 1 Million Euro angehoben. Die Verordnung gibt uns als nationalem Gesetzgeber aber noch die Möglichkeit, einen Schritt weiterzugehen und diese Grenze von 1 Million Euro auf 8 Millionen Euro hochzusetzen. Gleichzeitig können wir verhältnismäßige Offenlegungspflichten unterhalb von 1 Million Euro festlegen. Die Bundesregierung will mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Spielräume nutzen, die uns die EU-Verordnung bei der Prospektpflicht lässt.
Zunächst möchte ich mich vor allem bei unserem Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier bedanken. Er hat sich maßgeblich dafür eingesetzt, dass die Prospektfreigrenze bei Wertpapieremissionen im Gesetzentwurf gegenüber dem Referentenentwurf auf 8 Millionen Euro angehoben wurde.
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Indem wir in unserem Land diesen von der EU festgelegten Maximalbetrag ausschöpfen, stärken wir den Finanzplatz Deutschland auch im innereuropäischen Wettbewerb. Gleichzeitig machen wir es Mittelständlern, kleinen Unternehmern und Gründern leichter, sich über die Kapitalmärkte zu finanzieren.
Unterhalb der neuen Schwelle von 8 Millionen Euro wird künftig anstatt eines aufwendigen Prospekts nur noch ein dreiseitiges Wertpapierinformationsblatt zu veröffentlichen sein. Damit sollen Anleger in übersichtlicher und leicht verständlicher Weise über das Wertpapier und die damit verbundenen Anlagerisiken informiert werden.
Gleichzeitig sieht der Gesetzentwurf eine Einschränkung vor. Privatanleger sollen bei prospektfreien Angeboten zwischen 1 Million Euro und 8 Millionen Euro nur eingeschränkt investieren dürfen. Danach könnte kaum ein Privatanleger, noch nicht einmal, wenn er vermögend wäre, hier mehr als 10 000 Euro investieren. Diese Einschränkung geht, so finde ich, nicht nur über die Vorgaben der EU-Prospektverordnung hinaus, sondern sie ist auch bevormundend und zu restriktiv.
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Das sieht auch der Bundesrat so, wie Sie Punkt drei seiner Ausschussempfehlungen entnehmen können. Gerade auf diese sogenannten Einzelanlageschwellen werden wir als Union im weiteren Verlauf der parlamentarischen Beratungen ein Auge werfen. Wir werden die Sachverständigen dazu befragen. Dazu nutzen wir auch die Anhörung im Finanzausschuss in der kommenden Woche.
Uns als Union ist Verbraucherschutz wichtig. Wir wollen, dass Privatanleger eigenverantwortlich gute Anlageentscheidungen treffen können. Verbraucherschutz bedeutet für uns aber auch, Verbraucher nicht zu bevormunden und ihnen Anlage- und Ertragsmöglichkeiten nicht unnötig zu verwehren.
Im Vorfeld der Beratungen ist zudem die Frage aufgekommen, ob nicht auch für GmbHs Erleichterungen bei der Prospektpflicht sinnvoll sein können. In Deutschland wird der überwiegende Teil der kleinen und mittleren Unternehmen in der Rechtsform der GmbH geführt. Während GmbH-Anteile zu den Vermögensanlagen gehören, knüpft die EU-Prospektverordnung jedoch an den Wertpapierbegriff an. Der Bundesverband Crowdfunding fordert eine Änderung im Vermögensanlagengesetz für Schwarmfinanzierungen. Er kritisiert, dass, wenn die Prospektfreiheitsgrenze nicht auch für GmbHs angehoben wird, künftig Aktien bis 8 Millionen Euro prospektfrei angeboten werden können, GmbH-Anteile jedoch nur bis 100 000 Euro.
CDU/CSU und SPD haben die Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode im Zuge der Umsetzung der Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie um Evaluierung der Befreiungstatbestände des Vermögensanlagengesetzes bis Anfang 2019 gebeten. Im kommenden Jahr soll mit einem weiteren Gesetz der Hauptteil der EU-Prospektverordnung im deutschen Recht verankert werden. Bis dahin brauchen wir die Ergebnisse dieser Evaluierung. Dann können wir auch die Frage beantworten, ob es sinnvoll ist, weitere Erleichterungen bei der Prospektpflicht vorzunehmen oder nicht.
Bei dem heute zu beratenden Gesetzentwurf geht es erst einmal um die Ausübung der genannten Optionen. Neben diesen Themen der EU-Prospektverordnung sollen mit dem vorliegenden Mantelgesetz zudem weitere Finanzmarktgesetze geändert werden, etwa im Kreditwesengesetz – dort werden zum Beispiel die Vorschriften über die Rangfolge von Bankengläubigern an EU-Regeln angepasst – oder im Kapitalanlagegesetzbuch, in dem spezielle Bußgeldvorschriften für Verstöße gegen die Verordnung über Geldmarktfonds geschaffen werden.
Ich gehe mit einem gewohnt kritischen Blick, aber auch mit Zuversicht in die anstehenden parlamentarischen Beratungen, auch und gerade in die Anhörung im Finanzausschuss in der kommenden Woche. Am Ende muss eine Lösung stehen, die bessere Finanzierungsmöglichkeiten des Mittelstandes und einen starken Anlegerschutz schafft. Dafür werden wir von der CDU/CSU uns einsetzen.
Vielen Dank.
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Als Nächstes spricht für die AfD der Abgeordnete Kay Gottschalk.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der hier vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Ausübung von Optionen der EU-Prospektverordnung und zur Anpassung weiterer Finanzmarktgesetze geht leider, wie so viele Regelungen, die uns von der EU und von Ihnen hier vorgelegt werden, an der Lebenswirklichkeit und dem eigentlichen Schutzzweck der Norm, der von Herrn Hauer hier genannt wurde, nämlich die Verbraucher zu schützen, komplett vorbei.
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Das Gesetz soll zwei Optionen für die Mitgliedstaaten vorsehen – Sie haben sie genannt –: Zwischen 100 000 Euro und 8 Millionen Euro ist ein dreiseitiges Wertpapierinformationsblatt vorgesehen, und über 8 Millionen Euro ist ein Prospekt nach der EU-Prospektverordnung vorgesehen. Nun gibt es diese Prospektverordnung nicht erst seit gestern oder vorgestern. Wir kennen sie in Deutschland schon viel, viel länger. Sie hat Stilblüten getrieben. Ich werde Ihnen an der Wirklichkeit zeigen – P&R sei hier schon einmal genannt –, dass diese Verordnung insbesondere im Ernstfall am Schutzzweck der Norm, dem Schutz der Anleger und der Kleinsparer, komplett vorbeigeht; denn Sie vergessen bei Ihren Verordnungen immer die Exekutive, die BaFin, und insbesondere darum wird sich meine Rede drehen. Sie schaffen hier eigentlich nur ein bürokratisches EU-Monster, das gefüttert und am Leben erhalten werden soll, damit viele Beamte in der BaFin oder der EU ein nettes Plätzchen haben. Aber im Ernstfall, wie gesagt, lassen Sie die kleinen und mittleren Sparer komplett im Regen stehen.
Lassen Sie mich dazu die BaFin zitieren. Was sagt die BaFin, die dafür verantwortlich ist, die Prospekte zu prüfen? Ich zitiere mit der Erlaubnis des Präsidenten:
Um sachgerechte Anlageentscheidungen treffen zu können, müssen Anleger umfangreich und verlässlich über den Emittenten und das betreffende Wertpapier oder die Vermögensanlage informiert werden. In Deutschland dürfen Wertpapiere und Vermögensanlagen daher nicht ohne einen Prospekt öffentlich angeboten werden.
Meine Damen und Herren, was suggeriert das millionenfach, wenn Verbraucher in Deutschland beraten werden? Es suggeriert, dass die BaFin geprüft und testiert hat. Wenn Sie sich mit Verbraucherschützern auseinandersetzen, wird dies in der Wirklichkeit tausendfach so angeführt. Die Rechtslage – das wissen wir alle – ist eine komplett andere. Denn die BaFin prüft nur, ob der Prospekt die gesetzlich geforderten Mindestangaben enthält und verständlich abgefasst worden ist. Zusätzlich wird sichergestellt, dass der Prospekt keine widersprüchlichen Aussagen enthält. Sie sprechen hier vom Anlegerschutz. Genau das ist der Schutzzweck der Norm, der wichtig ist und den wir auch hochhalten sollten. Aber außer wohlgemeinten Aussagen und einer weiteren Floskel, die hinzugefügt wird, ist das nichts.
Nun kommen wir zur Wirklichkeit des Jahres 2013, vielleicht zu einer Bewährungsprobe der Prospektverordnung und der BaFin. Im Jahr 2013 ging, falls Sie sich erinnern, die Frankfurter Immobiliengruppe S&K in die Insolvenz. Damals schon stellten die Insolvenzverwalter die Frage, ob bei der BaFin niemand bemerkt hat, dass S&K wahrscheinlich Geschäfte betrieben hat, die einer Bankerlaubnis bedurft hätten. Schließlich wurde jeder Fonds der Behörde vor dem Vertrieb zur Prüfung und zur Freigabe vorgelegt. Dazu sagte der damalige Sprecher der BaFin, Sven Gebauer, der BaFin sei es – ich zitiere – „nicht erlaubt, eine inhaltliche prospektrechtliche Prüfung vorzunehmen“.
2015 stand der nächste Skandal an: Prokon. Wieder im Mittelpunkt: die Prospektverordnung und die BaFin. Nun reagierte die damalige Regierung, und sie verschärfte die Regeln. Sie wollte nun viel entschlossener die angeblich missbräuchliche Nutzung der Prospekte überprüfen und vermeiden. Am 5. Juni dieses Jahres, wenn ich die „FAZ“ zitieren darf, ist die BaFin – das ist der nächste Fall – in der Wirklichkeit angekommen; denn nun haben wir den Fall der Anlagegesellschaft P&R. In der „FAZ“ war zu lesen, dass 54 000 Anleger der insolventen Anlagegesellschaft P&R wohl kaum die eingesammelten 3,5 Milliarden Euro zurückerhalten werden. Doch die Erkenntnis des Insolvenzverwalters Michael Jaffé, wonach rund 1 Million Schiffscontainer – ich wiederhole in Worten: eine Million Schiffscontainer – sozusagen leerverkauft worden sind, eröffnet zum einen die Frage „Was tat die BaFin, die ja dieses Gesetz umsetzen soll?“ und zum anderen die Frage „Was taten eigentlich die Abschlussprüfer?“ Zu diesem Gesetzentwurf bleibt also letztlich nur festzustellen: Gut gemeint ist nicht gut gemacht.
({1})
Wir brauchen kein Gesetz, das die Anleger im Ernstfall nicht schützt und sie mit ihren Sorgen im Regen stehen lässt.
Meine Damen und Herren von der SPD, denken Sie an die vielen Kleinsparer, die durch dieses bürokratische Monster sicherlich nicht geschützt werden. Sie machen hier nur Rechtsanwälte reich.
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Das ist nicht unser Ziel.
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Wir als AfD-Fraktion werden dieses unsinnige Gesetz – wie viele weitere der EU – ablehnen.
Vielen Dank.
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Als Nächste spricht die Parlamentarische Staatssekretärin Christine Lambrecht für die Bundesregierung.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bevor wir uns wieder dem eigentlichen Thema, nämlich der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes, widmen,
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noch einige Anmerkungen, Herr Gottschalk – wir haben dieses Thema ja schon im Finanzausschuss angesprochen –: Sie haben hier suggeriert, in dem Fall, den Sie zitiert haben, seien Kleinstanleger betroffen. Ich glaube, man muss wissen, um was es dabei geht. Hier wurde in die Zurverfügungstellung von Schiffscontainern investiert. Das ist nicht die klassische Anlage von Kleinstsparern; das will ich nur voranstellen.
Dann will ich etwas zu der Kritik an der BaFin sagen. Ich bin zwar nicht in der Rolle als Sprecherin der BaFin hier. Aber zu erwarten, dass die BaFin Unternehmen daraufhin prüft, ob das, was Gegenstand des Geschäftes und des Angebotes ist, also die Sachgüter, sprich: die Container, in deren Zurverfügungstellung investiert wird, vorhanden ist, kann nicht erwartet werden. Es wäre auch völlig falsch, den Eindruck zu erwecken, dass die BaFin zu jedem Unternehmen geht und schaut, ob die entsprechenden Sachgüter vorhanden sind.
({1})
Das geht nicht, und es wäre auch falsch, das von der BaFin zu erwarten.
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Was aber zu erwarten ist, ist, dass ein entsprechendes Prospekt vorliegt, in dem auch auf die entsprechenden Risiken hingewiesen wird. Genau das war in den von Ihnen benannten Fällen auch gegeben.
In solchen Fällen, in denen, wie gesagt, in die Zurverfügungstellung investiert wird – es wird also nicht irgendein Anteil erkauft; das hätte man ja so denken können –, muss deswegen auch das entsprechende Risiko benannt werden, und das ist geschehen. Es ist eben auch Aufgabe des Anlegers, sich Gedanken darüber zu machen, ob das, was versprochen wird, auch tatsächlich gegeben ist.
Weil ich nur einige wenige Minuten Redezeit habe, möchte ich jetzt gerne etwas zu diesem Gesetzentwurf sagen. – Wir nutzen damit die Optionen aus, die uns die EU gibt. Der Kollege Hauer hat ja schon darauf hingewiesen: Wir nutzen diesen Spielraum aus, sodass bei diesen Wertpapierangeboten erst ab 8 Millionen Euro eine Prospektpflicht gegeben ist. Das bedeutet aber nicht, dass der Anleger sich selbst überlassen ist, wenn der Betrag niedriger ist, und das Risiko sowie die Informationspflicht alleine trägt. Nein, das ist nicht der Fall, sondern es wird ein dreiseitiges Informationsblatt gefordert. Das hört sich lapidar an, aber da steckt ordentlich was drin.
Uns ist es wichtig, dass wir auf der einen Seite stabile Finanzmärkte in einem rechtssicheren Umfeld haben und auf der anderen Seite auch der Anlegerschutz gewährleistet wird. Deswegen nutzen wir diese Grenze zwar, aber wir achten dabei auch darauf, dass dieses Informationsblatt den Anleger entsprechend informiert und gegebenenfalls auch schützt.
Es muss erstellt, von der BaFin gestattet und vom Anbieter veröffentlicht werden. Es muss die mit den Wertpapieren verbundenen Rechte, die Geschäftstätigkeiten des Emittenten, aber auch die mit den Wertpapieren und mit dem Emittenten verbundenen Risiken – das ist ganz wichtig –, die Kosten, die Provisionen und natürlich auch die Angebotsbedingungen enthalten.
Ich glaube, unter diesen Bedingungen ist es vertretbar, den Spielraum, den wir haben, entsprechend zu nutzen. Deswegen haben wir das auch getan. Uns ist es eben, wie gesagt, wichtig, dass der Anlegerschutz gewahrt und gleichzeitig das wirtschaftliche Handeln nicht über Gebühr belastet wird. Deshalb haben wir uns darauf verständigt.
({3}),
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist ein Mantelgesetz. Das heißt, in ganz vielen anderen Gesetzen wird auch noch etwas verändert. Ich würde jetzt gerne noch auf jeden einzelnen Bereich eingehen, aber das lässt meine Redezeit leider nicht zu.
Wir werden in den Gremien eine engagierte Diskussion führen. Es ist auch schon angesprochen worden, Herr Hauer, dass ein Fachgespräch ansteht. Es wird sicherlich spannend werden, die Gutachter zu den Fragen zu hören, die Sie jetzt noch mal in Bezug auf den Umgang mit GmbHs angesprochen haben. Wir werden sehr interessiert dabei sein, zuhören und dann auch die entsprechenden Schlüsse ziehen.
In diesem Sinne: Danke für Ihre Aufmerksamkeit, und ich freue mich auf die Diskussionen im Ausschuss und auch auf die Fachgespräche.
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Nächster ist Frank Schäffler für die FDP.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen diese Verordnung in Deutschland umsetzen und haben Optionen, die wir nutzen können. Das werden wir in den entsprechenden Ausschussberatungen und in der Anhörung tun. Ich teile das, was Herr Hauer gesagt hat, dass wir nämlich die Spielräume, die die Verordnung bietet, auch im Sinne der Emittenten und der Anleger nutzen sollten.
Ich möchte das an dieser Stelle aber etwas grundsätzlicher zum Thema machen und meinen Kollegen Otto Fricke zitieren.
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Er hat gesagt:
Die bisherige Verhandlungstaktik der EU überzeugt mich nicht!
Das ist auch meine Meinung. Ich glaube, wir sind im Bereich des Anlegerschutzes auf dem falschen Weg.
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Ich glaube, wir unterliegen einer Regulierungsillusion. Wenn wir neue Prospekte, neue Broschüren, neue Nachweise verlangen, tun wir so, als ob wir irgendetwas für den Anlegerschutz machen würden. Das halte ich für falsch.
Dieser Tage war ich bei meiner örtlichen Sparkasse und habe mir einmal darstellen lassen, was heutzutage ein Kleinanleger an Informationen auf den Tisch geknallt bekommt, wenn er einen Einmalbeitrag leistet: 180 Seiten Basisinformationen über Wertpapiere und weitere Kapitalanlagen, 30 Seiten Kundeninformationen zum Geschäft mit Wertpapieren und weiteren Finanzinstrumenten, 33 Seiten Basisinformation über Vermögensanlagen in Investmentfonds und zusätzliche Geschäftsbedingungen, Preis- und Leistungsverzeichnisse
({2})
sowie Datenschutzrichtlinien, Verkaufsprospekte der Investmentgesellschaft. Am Schluss muss er noch eine Geeignetheitsprüfung für Geldanlagen machen. Er muss seine Vermögensverhältnisse darlegen. Er muss sein Einkommen darlegen. Er muss am Ende auch Anlageerfahrung darlegen.
In der Summe muss er 400 Seiten durcharbeiten, um einen Einmalbeitrag anlegen zu dürfen. Entscheidet er sich danach, 50 Euro monatlich anzulegen, bekommt er diese 400 Seiten noch einmal auf den Tisch geknallt.
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Wir glauben, darüber könnte man Anlegerschutz realisieren. Wir machen das Gegenteil: Wir stärken nicht den Anlegerschutz, sondern wir schwächen den Anlegerschutz damit,
({4})
weil die Menschen zu Hause bleiben, ihr Geld im Zweifel unters Kopfkissen legen und eben keine sinnvollen Anlagen für das Alter wählen. Das ist unsere Realität. Deshalb, glaube ich, müssen wir im Anlegerschutz neu denken.
({5})
Wir müssen im Kern die Rechte der Anleger im Verhältnis zwischen Anleger und den entsprechenden Verkäufern stärken. Gegenüber den Emittenten auf der anderen Seite müssen wir die Rolle des Anlegers in diesem Dreiklang viel stärker herausarbeiten. Daran sollten wir als Deutscher Bundestag arbeiten und nicht einer Regulierungsillusion unterliegen, indem wir glauben, wir hätten damit etwas für den Anlegerschutz getan.
Das, was wir tun, führt am Ende dazu, dass wir damit zufrieden sind, etwas vorgelegt zu haben, und dass die Banken im Zweifel durch ihren Wust an Bürokratie aus der Haftung raus sind. Das ist aber kein Anlegerschutz, sondern das führt dazu, dass die Menschen in ihren Freiheiten eher eingeschränkt sind, zu Hause bleiben und nicht fürs Alter vorsorgen.
Deshalb sollten wir alles dafür tun, dass sich diese Richtung ändert. Unabhängig von diesem Gesetz sollten wir stärker für Freiheit in der Anlagepolitik werben.
Vielen Dank.
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Als Nächstes spricht für die Fraktion Die Linke der Kollege Hubertus Zdebel.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich muss am Anfang auf jeden Fall ein paar Takte zu dem Anlageskandal im Zusammenhang mit der Pleite des Containerfinanzierers P&R sagen. Ich meine, das kann so nicht stehen bleiben. Ich weiß, dass es dabei um andere Anlageformen als um die geht, über die wir heute diskutieren. Aber das ist natürlich ein Anlageskandal.
Wir reden heute über Anlegerschutz. Der Anlegerschutz ist in Deutschland zehn Jahre nach der internationalen Finanzkrise – das zeigt dieser Fall – immer noch nicht viel weitergekommen.
({0})
Außerdem stimmt meines Erachtens auch nicht das, was Sie gerade gesagt haben, Frau Staatssekretärin. Mir liegt ein Artikel aus dem „Handelsblatt“ vor, in dem sehr deutlich darauf hingewiesen wird, dass es in dem Prospekt Widersprüche gab. Es lag ein Prospekt vor, in dem den Anlegern versprochen worden ist, das investierte Geld innerhalb von 90 Tagen in neue Container zu investieren. Hinten im Prospekt haben sich aber Informationen darüber befunden, die dazu im Widerspruch standen, dass das Geld nämlich nicht so schnell investiert wird. Das hätte die BaFin de facto prüfen müssen; das muss man hier in aller Deutlichkeit sagen.
({1})
Da stellen sich Fragen – diese werden wir heute Abend nicht klären – zur Aufklärung dieser Angelegenheit.
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Ich komme zum eigentlichen Thema. Es geht ja um Anlageschutz und um die Umsetzung der EU-Prospektverordnung in nationales Recht, zu dem die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt hat.
Danach müssen Emittenten zukünftig bei Wertpapieremissionen von 100 000 Euro bis 8 Millionen Euro pro Jahr keinen Wertpapierprospekt mehr erstellen. Stattdessen soll bei diesem Finanzvolumen zukünftig ein dreiseitiges Wertpapier-Informationsblatt genügen, das den Anleger über das Wertpapier und die damit verbundenen wesentlichen Anlagerisiken informieren soll. Damit sollen Aufwand und Kosten für Unternehmen reduziert werden. Das ist das erklärte Ziel.
Interessanterweise – das habe ich heute noch nicht so deutlich gehört – war im Referentenentwurf der Bundesregierung noch eine andere Regelung vorgesehen. Der Anwendungsbereich des Wertpapier-Informationsblattes sollte hier nur für Emissionen zwischen 100 000 Euro und 1 Million Euro gelten. Das ist das Minimum, das die Verordnung als Pflicht vorsieht. Das ist schon mehrmals erwähnt worden. Das war die ursprüngliche Absicht.
Mit dem jetzt vorliegenden Regierungsentwurf wird der Anwendungsbereich erheblich ausgeweitet: auf bis zu 8 Millionen Euro.
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Hier wird jetzt vom Maximum der Option, was die EU-Verordnung angeht, Gebrauch gemacht.
Da stellt sich für mich die Frage, warum das so ist. In unseren Augen stellt sich die Bundesregierung damit allzu leichtfertig auf die Seite der Anbieter und Wertpapieremittenten. Der Anlegerschutz droht dadurch ins Hintertreffen zu geraten.
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Wir Linken halten es grundsätzlich für gut, wenn die Anbieter für fast alle Geldanlagen Verkaufsprospekte vorlegen müssen; denn die Prospektpflicht diszipliniert die Unternehmen und schafft mehr Transparenz.
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Ein Prospekt ist für die Anleger essenziell, um auch im Nachhinein bei etwaiger Fehlberatung überhaupt Schadensersatz geltend machen oder die Wertpapieremittenten in Haftung nehmen zu können.
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Daher stellen wir uns allerdings nicht grundsätzlich gegen die Förderung von jungen gemeinnützigen Projekten oder jungen Unternehmungen in der Start-up-Phase. Denn – daran erinnern sich vielleicht diejenigen, die es mitbekommen haben – beim Kleinanlegerschutzgesetz konnten wir uns durchaus vorstellen, den vorgesehenen Schwellenwert von 2,5 Millionen Euro, ab dem ein Prospekt zu erstellen ist, zu unterstützen, und wir haben das letztlich auch unterstützt.
Allerdings geht es bei einem Finanzvolumen von 8 Millionen Euro, was jetzt geplant ist, teilweise gar nicht mehr um Kleinunternehmen, die Sie immer wieder anführen. Da geht es um ganz andere Größenordnungen, und es stellt sich die Frage, ob Sie mit den 8 Millionen Euro die von Ihnen immer avisierte Zielgruppe überhaupt noch im Auge haben.
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Ich denke auch angesichts meiner Redezeit: Wir haben noch genug Zeit – auch in der anstehenden Anhörung nächste Woche und in den weiteren Beratungen –, uns weiter mit Fragen auseinanderzusetzen. Dann komme ich gerne auch noch einmal auf grundsätzliche Vorschläge zum Anlegerschutz wie zum Beispiel den Finanz-TÜV oder mehr Befugnisse der BaFin zurück.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Jetzt kommt Dr. Danyal Bayaz für Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir begrüßen es, dass bei dieser Prospektpflicht jetzt auch einige unnötige bürokratische Anforderungen wegfallen. Das hilft ja nicht nur kleineren und mittleren Unternehmen; es hilft eben auch Verbraucherinnen und Verbrauchern gerade aus dem Kleinanlegerbereich, dass sie sich jetzt mit verständlichen Informationsblättern – und die gibt es durchaus auf dem Markt, Herr Schäffler – besser über ihre Geldanlage informieren können. Ich finde, da zeigt auch der vorliegende Gesetzentwurf, dass Bürokratieabbau einerseits und Verbraucherschutz andererseits durchaus zusammengehen können.
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Ja, auch die Frage muss man einmal stellen dürfen: Wem haben wir denn diesen Impuls zu verdanken? Der Europäischen Union, meine Damen und Herren, und ich glaube, es gilt gerade in so Euro-skeptischen Zeiten wie jetzt, auch das an dieser Stelle einmal zu betonen.
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Aber es gibt keinen Grund für übertriebene Zufriedenheit. Wir müssen bei der Regulierung von Finanzmarktprodukten durchaus weitere Schritte gehen. Für mich persönlich sind drei Schritte wichtig.
Erstens. Der gut informierte Verbraucher sollte stets unser Leitbild sein, und das mit möglichst wenig Überforderung. Es macht einen Unterschied, ob ich einen 60-Seiten-Prospekt mit dem Charme von AGBs lesen muss oder ob ich einen wesentlichen Überblick über Produkt- und Risikomerkmale für ein Investment habe und das sozusagen auf einen Blick sehen kann.
Ich finde, Kleinanleger sollten zu jedem Finanzprodukt ein vergleichbares Informationsblatt haben, egal ob sie in Schiffscontainer, Windparks oder Start-ups investieren. Das ist heute noch nicht so der Fall. Es gibt ja durchaus Unterschiede zwischen dem Basisinformationsblatt für sogenannte verpackte Produkte – Lebensversicherungen und Zertifikate gehören dazu – und auf der anderen Seite Wertpapierinformationsblättern. Das erschwert Anlegern den Vergleich. Übrigens: Auch hier gibt es eine gute europäische Orientierungshilfe, das sogenannte PRIIPS Key Information Document, ein kurzes Dokument mit den wichtigsten Informationen auf einen Blick. Mehr Standardisierung, mehr Vergleichbarkeit gerade auf europäischer Ebene, das würde uns an dieser Stelle helfen.
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Mein zweiter Punkt – darauf ist noch keiner meiner Vorrednerinnen und Vorredner eingegangen; er ist trotzdem, glaube ich, immens wichtig –: Wir müssen noch konsequenter ökologische und soziale Nachhaltigkeit mitdenken, auch bei Finanzmarktprodukten. Auch an dieser Stelle ist Europa weiter als die Bundesrepublik. Die eben angesprochene PRIIPS-Verordnung ermöglicht ausdrücklich die Aufnahme von Nachhaltigkeitskriterien, und das ist auch richtig so. Viele Menschen da draußen wollen sichergehen, dass ihr Geld nicht mehr Natur zerstört, nicht mehr Waffen produziert, nicht mehr in unmenschliche Arbeitsbedingungen fließt. Ich finde, aus dieser Nische ist wirklich ein Trend geworden. Egal ob man sich Versicherungen, Banken oder Fintechs anschaut, immer mehr Anbieter ziehen sich zum Beispiel aus der Finanzierung fossiler Energieträger zurück. Und deswegen haben wir auch eine klare Forderung an die Bundesregierung an dieser Stelle: Hören Sie auf, Green Finance und die globale Divestment-Bewegung zu ignorieren! Im Gegenteil: Stärken Sie sie! Nehmen Sie also bitte auch ökologische und soziale Kriterien in das Basisinformationsblatt auf.
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Und drittens. Anlageprodukte werden komplizierter. Die Digitalisierung beschleunigt diesen Prozess, Stichwort „Kryptowährung“. Auch da müssen jetzt Politik und Aufsichtsbehörden reagieren, zum einen auch um hier Anlegerschutz zu gewährleisten, zum anderen aber auch, um die Chance neuer Technologien zu nutzen. Ich finde es gut, dass es durch ICOs, also durch die Emission von neuen Unternehmensanteilen in sogenannten Kryptoassets, jetzt auch Alternativen zur Finanzierung neuer, innovativer Geschäftsmodelle gibt. 2016 war das noch ein kleiner Markt; 100 Millionen Dollar schätzt man. Letztes Jahr waren es über 6 Milliarden Dollar, und dieser Markt wächst gigantisch weiter. Aber natürlich hat dieser Trend auch zwei Seiten. Viele der virtuellen Börsengänge über ICOs scheitern. Außerdem gibt es neben vielen seriösen Unternehmen durchaus betrügerische Projekte. Für diesen jungen, noch weitgehend unregulierten Markt brauchen wir klare, verlässliche Regeln, und zwar am besten mit möglichst wenig Bürokratie, aber mit einfachem und glasklarem Anlegerschutz. Da muss die Bundesregierung, glaube ich, einen Zahn zulegen.
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Junge Unternehmen und Verbraucherinnen und Verbraucher warten auf sie. Ich hoffe, dass Sie sie nicht hängen lassen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist Sebastian Brehm für die CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der EU-Prospektverordnung werden mehrere Finanzmarktgesetze geändert und europarechtliche Vorgaben umgesetzt; der Kollege Hauer hat das schon ausführlich dargestellt. Normalerweise, wenn solche Umsetzungen erfolgen, neigt die deutsche Gründlichkeit dazu, EU-Vorgaben noch deutlich zu übertreffen. Mit großer Freude können wir zur Kenntnis nehmen, dass der jetzige Gesetzentwurf ein gutes Beispiel ist für die Art und Weise, wie wir europäische Verordnungen richtig und sinnvoll umsetzen. Das Wichtigste ist dabei, eben nicht die Vorgaben der Verordnung zu übertreffen, sondern insbesondere die Freiheiten zu nutzen. Es geht vielmehr darum, die europäischen Vorgaben im Rahmen der nationalen Umsetzung zielgenau zu gestalten, Schwellenwerte zu vereinheitlichen und wichtige Erleichterungen sowie eine Entbürokratisierung zu erreichen.
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Auf das Prinzip der Eins-zu-eins-Umsetzung von EU-Vorgaben haben wir uns im Koalitionsvertrag verständigt, weil es auch in diesem Fall, bei der EU-Prospektverordnung, für die Unternehmerinnen und Unternehmer in unserem Land eine Grundvoraussetzung ist für den Erfolg ihres Geschäfts. Diese Eins-zu-eins-Umsetzung sollte uns übrigens leiten bei allen anderen Vorlagen und Vorgaben, die wir bekommen. Da kommen ja in den nächsten Monaten einige auf uns zu. Wir müssen die Chancen und Optionen nutzen, die aus Brüssel kommen, und dürfen nicht die Nachteile mit eigenen Vorschriften noch verschärfen. Bei der Umsetzung der Prospektverordnung machen wir genau das. Wir nutzen die Optionen aus, um einerseits den einfachen Zugang zu kapitalmarktbasierter Finanzierung für mehr Unternehmer zu ermöglichen und andererseits eine Entbürokratisierung zu erreichen.
Es ist deshalb wichtig und richtig, dass wir den Schwellenwert erhöhen. Wir nutzen hier richtigerweise den Spielraum der EU-Verordnung in voller Höhe aus. Das heißt, in Zukunft wird für alle Emissionen ab einem Wert von 8 Millionen Euro ein umfassender Emissionsprospekt erstellt. Für Emissionen im Wert von 100 000 bis 8 Millionen Euro ist zukünftig ein kompaktes dreiseitiges Wertpapier-Informationsblatt ausreichend. Dieses Wertpapier-Informationsblatt muss die notwendigen und wichtigsten Informationen und Anlegerrisiken nach einem standardisierten Verfahren zusammenfassen. Es dient dem Schutz der Anleger. Es ist transparent, und es erleichtert aber auch kleineren Emittenten die Möglichkeit der Finanzierung.
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Um die nichtqualifizierten Anleger, also letztlich Privatpersonen, zu schützen, wurde vereinbart, bei prospektfreien Anlagen zwischen 1 Million und 8 Millionen Euro Einzelanlagenschwellen einzuhalten. Diese liegen zwischen 1 000 und 10 000 Euro. Ich sehe das durchaus kritisch; denn so bleiben private Anleger zwar vor großen finanziellen Risiken bewahrt, allerdings auch vor entsprechenden Chancen, und sie sind letztlich von der Gewinnverwendung ausgeschlossen. Ob diese Einzelanlageschwellen sinnvoll sind – ich glaube es nicht –, müssen wir noch besprechen und in der weiteren Debatte diskutieren. Dies ist ein Kompromiss, den wir mit den Partnern geschlossen haben.
Wenn man die Regulierung unserer europäischen Nachbarn anschaut, so sieht man: In vielen Ländern gilt jetzt schon eine Grenze von 5 Millionen Euro. Also, wir haben in der jetzigen Zeit letztlich einen Wettbewerbsnachteil. Durch die Einzelanlagenschwellen gibt es sowieso fast in keinem europäischen Land, also auch hier nicht, einen Wettbewerbsnachteil. Unsere europäischen Nachbarn werden diese 8-Millionen-Euro-Grenze ebenfalls wahrnehmen, sodass wir an diesem Punkt auf Augenhöhe sind.
Aber an einem anderen Punkt sind wir leider nicht auf Augenhöhe. Deswegen ist es richtig und notwendig, dass wir diskutieren, ob wir einer Erweiterung der Möglichkeit der erleichterten Kapitalmarktfinanzierung von GmbHs zustimmen. Dies betrifft insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen, übrigens auch alle Existenzgründer im sogenannten Crowdfunding. Wir haben hier bisher Wettbewerbsnachteile gegenüber unseren Partnern in Europa und auch gegenüber unseren Partnern in der Welt. Deswegen ist es richtig, wenn man den deutschen Mittelstand unterstützen will, dass wir auch dann prüfen, den Zugang der GmbHs zu erleichtern. Das wollen wir auch in den nächsten Diskussionen tun.
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Denn die Start-ups und die Gründer sind Innovationsmotoren, sind Zukunftsgestalter. Wenn wir hier keine Möglichkeit der Kapitalmarktfinanzierung geben, dann wird sich die Szene eben in andere Länder Europas oder der Welt – man denke nur an die Start-up-Szene in Israel – verlagern. Deswegen müssen wir diese Zukunftsgestalter unterstützen, und deswegen wollen wir auch in den nächsten parlamentarischen Diskussionen hier ein deutliches Signal setzen.
Der Deutsche Bundestag hat in der vergangenen Legislaturperiode das Bundesfinanzministerium diesbezüglich um eine Evaluierung bis Anfang 2019 gebeten. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse wollen wir intensiv diskutieren, wie wir GmbHs einbeziehen und so unseren Mittelstand stärken können. Dies werden wir ab 2019 oder auch noch in der jetzt anstehenden Anhörung intensiv diskutieren. Ich denke, es ist der richtige Weg. Es ist entbürokratisierend und erleichternd für die kleinen und mittleren Unternehmen, die das Rückgrat unserer Gesellschaft und das Rückgrat unserer Wirtschaft sind.
Herzlichen Dank.
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Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist Sarah Ryglewski für die Fraktion der SPD.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, die bisherige Debatte hat gezeigt, wie herausfordernd der Spagat zwischen Anlegerschutz und der Möglichkeit für Unternehmerinnen und Unternehmer, an Kapital zu kommen, ist. Deswegen erst mal ein Kompliment an die Bundesregierung. Ich glaube, dass mit diesem Gesetzentwurf dieser Spagat sehr gut gelungen ist.
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Das Thema Anlegerschutz ist uns, der SPD, sehr wichtig. Wir haben uns nicht nur in dieser Legislaturperiode einiges vorgenommen, sondern wir haben hier auch schon in der Vergangenheit viel gemacht. Wir sind da natürlich auch durch die Erfahrungen in der Finanzmarktkrise gebrandmarkt. Ich erinnere daran, dass wir mit dem Kleinanlegerschutzgesetz in der letzten Legislaturperiode hier wirklich Wegweisendes erreicht haben. Denn bis dato hatten wir das Paradoxon, dass es bei Aktienanleihen, also bei relativ stark regulierten Produkten, schon immer die Prospektpflicht gab, über die wir hier gesprochen haben, dass das aber bei den viel weniger regulierten Produkten des grauen Kapitalmarkts mitnichten der Fall war. Jetzt sind wir aber in der Situation, dass auch hier mehr Transparenz herrscht. Wichtig ist uns bei dem Thema, über das wir heute reden, dass der graue Kapitalmarkt natürlich weiterhin der Prospektpflicht unterliegt.
Wir können beim Thema Aktien und Anleihen aber schon auch schauen: Wie können wir hier die Bedingungen für Unternehmen verbessern? Insofern halten wir bei der Prospektpflicht eine Schwelle von 8 Millionen Euro für durchaus gangbar. Ich möchte einfach daran erinnern, dass das Risiko des Anlegers nicht automatisch mit der Höhe der Emission steigt, sondern es in der Tat darum geht, wie viel der Einzelne investiert. Natürlich steigt die Komplexität eines Produktes auch mit dem Finanzvolumen, das dahintersteckt; aber wesentlich ist doch auch, dass wir gucken, ob der Einzelne sich mit einer Anlage verspekuliert oder nicht. Deswegen sage ich ganz klar: Die vorgesehenen Schwellenwerte, Herr Hauer, sind eben nicht eine Bevormundung des Anlegers, und sie sind auch nicht ein Eingriff in die Freiheit des unternehmerischen Handelns oder dergleichen, sondern es geht eben darum, dass wir hier etwas ins Gesetz gießen, was man in jedem Börsenratgeber nachlesen kann: Man möge bitte nicht sein ganzes Geld in ein einziges Produkt stecken.
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– Sie nennen es Bevormundung, wir nennen es eigentlich nur ins Gesetz gegossene Ratgeberpraxis.
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– Ja. Es ist ja nun auch nicht so, dass man jetzt sagt, das müsse die einzige Investition eines Anlegers sein; er hat ja die Möglichkeit, weiteres Geld in andere Produkte zu investieren.
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– Wir sehen das anders. Aber darüber werden wir ja noch vielfach diskutieren; dazu haben wir ja noch Gelegenheit. Ich freue mich auf nächste Woche Montag.
Was wir auch sicherstellen, ist, dass das berechtigte Informationsinteresse des einzelnen Anlegers weiterhin gewahrt bleibt. Denn jeder Anleger – ich glaube, da sind wir uns alle einig – hat das gute Recht und meiner Meinung nach auch die Pflicht, sich zu informieren, worin er investiert. Da sind wir mit dem Wertpapier-Informationsblatt gut aufgestellt.
Ich fand die Ausführungen des Kollegen Bayaz sehr gut, dass ein Prospekt nicht unbedingt die Klarheit für den Anleger erhöht. Sie haben das so schön ausgedrückt: Das habe den Charme von AGBs. Ich habe mir – ich weiß, das ist ein anderer Bereich – das P&R-Prospekt noch mal angeguckt. Es verströmt leider nicht den Charme von AGBs, sondern eher das wohlige Gefühl eines Werbeprospektes. Darin liegt für mich, ehrlich gesagt, ein Problem. Deswegen finde ich richtig, dass wir uns angucken, wie wir die Wertpapierprospekte noch stärker so gestalten können, dass der einzelne Anleger genau weiß: Was kaufe ich hier, worin investiere ich? Das, was wir da schon haben, ist in der Tat gut aufgebaut.
Im Übrigen ein kleiner Nachsatz zum Thema P&R; da kommen wir dann auch wieder zur Freiheit. Auf dem Prospekt steht oben ganz dick drauf: Wer dieses Produkt kauft, der riskiert den Totalverlust. – Und wer eine halbe Seite tiefer liest, der liest auch, dass er unter Umständen sogar mit seinem Privatvermögen dafür haftet. Also, wer das dann noch kauft – bei aller Liebe zum Anlegerschutz –, der hat auch eine gewisse Eigenverantwortung. Die kann man dem Verbraucher nicht nehmen.
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Ich finde, in dieser Diskussion sind viele gute Anregungen aufgekommen. Wir müssen auch noch mal gucken, wie man an verschiedenen Stellen nachsteuern kann. Wir haben jetzt die Möglichkeit, das zu tun. Wir werden auch die Evaluierung des Kleinanlegerschutzgesetzes dafür nutzen. Ich glaube, wir haben hier, aus dieser Debatte, viele Punkte mitgenommen, an denen wir noch nachsteuern können, und werden am Montag damit anfangen, das Gesetz weiter zu verbessern und vielleicht auch ein paar Ideen für weitere Gesetzesvorschläge mitzunehmen. Ich freue mich drauf.
Vielen Dank.
({5})
Damit sind wir am Ende der Rednerliste. Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Dann schließe ich die Debatte.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/2435 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Anderweitige Vorschläge sehe ich hier nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn es heute schon spät ist, bin ich froh, dass wir endlich einmal explizit zu Afrika sprechen. Die Kanzlerin hat gerade erst am Sonntag im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ davon gesprochen, dass es eine gemeinsame europäische Entwicklungspolitik geben muss. Liebe Große Koalition, herzlichen Glückwunsch! Mit unserem Antrag können Sie dafür sorgen, dass den Worten der Kanzlerin nun auch Taten folgen.
({0})
Die Zukunft Afrikas muss hier in diesem Hause noch viel ernster genommen werden. Afrika verdient als Kontinent der Chancen eine echte europäische Zukunftsstrategie.
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Die muss in ihrer Dimension auch den Problemen und den Potenzialen des Kontinents gerecht werden. Das geht nicht mit einem Mega-Abkommen mit 107 Ländern. Deshalb wollen wir das Cotonou-Folgeabkommen in drei Abkommen teilen. Nur so können wir gewährleisten, dass wir mit unseren Maßnahmen auch wirklich den Bedürfnissen unserer afrikanischen, unserer karibischen und unserer pazifischen Partner gerecht werden.
Dabei muss Afrika ganz klar im Fokus der Debatte stehen. Während im Rest der Welt die Armut stark gesunken ist, leben in Afrika noch immer über 450 Millionen Menschen in extremer Armut. Während die weltweiten Handelsströme zunehmen, liegt der afrikanische Binnenhandel noch immer am Boden. Und während Horst Seehofer noch über AnKER-Zentren philosophiert, sind in Afrika 21 Millionen Menschen auf der Flucht. Das ist die Realität nach 55 Jahren Entwicklungs- und Handelsbeziehungen zwischen der Europäischen Union und Afrika. Für uns Freie Demokraten steht fest: Ein Weiter-so in der bisherigen Afrikapolitik darf es nicht geben.
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Wir brauchen ein Abkommen mit Afrika, das vier Säulen beinhaltet: Armutsbekämpfung, Fluchtursachenbekämpfung, Auf- und Ausbau des afrikanischen Binnenmarktes und Migrationssteuerung. Allein in Afrika südlich der Sahara gibt es 26 Länder, die zu den ärmsten der Welt zählen. Für diese Länder brauchen wir vor allem Maßnahmen zur Nahrungsmittelsicherung, zur Gesundheitsversorgung, zur Grundbildung und zum Aufbau einer wirtschaftlichen Infrastruktur. Globale Herausforderungen brauchen globale Lösungen.
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Wir müssen Maßnahmen bündeln und auf der europäischen Ebene zusammenführen. Das gilt natürlich auch für die besser entwickelten Länder in Afrika. Dort steht an vorderster Stelle der Ausbau von Infrastruktur. Das sind natürlich zum einen ganz banal Schienen, Straßen, Häfen. Das ist aber auch der Aufbau staatlicher Infrastruktur wie beispielsweise Steuer- und Eigentumsverwaltung. Das ist die Herausforderung, wenn wir den afrikanischen Binnenhandel ankurbeln wollen. Handel sorgt für Frieden. Schon im 19. Jahrhundert wusste Bastiat – Zitat –:
Wenn Waren nicht Grenzen überqueren, dann werden es Soldaten tun.
Gerade als Europäer wissen wir das sehr genau.
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Diese Erfahrung können wir auch in der Entwicklungszusammenarbeit nutzen. Wenn wir unsere Mittel europäisch bündeln, haben wir ganz andere Hebel, zum einen, um mehr Investitionen von Privatunternehmen zu generieren, zum anderen aber auch, um die Einhaltung von Menschenrechten durchzusetzen. Auch da können wir mehr Druck auf Länder ausüben, wenn wir zum Beispiel ein großes europäisches Projekt mit einem Umfang von 150 Millionen Euro in die Waagschale werfen anstatt eines kleinen deutschen Projektes mit einem Umfang von 2 Millionen Euro.
Uns geht es darum, die Lebensbedingungen der Menschen vor Ort effizient und nachhaltig zu verbessern. Jeder Mensch hat ein Anrecht auf ein freies und selbstbestimmtes Leben.
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Und weil das so ist, müssen wir auch endlich damit anfangen, die Konzepte zur Migrationssteuerung mit der Fluchtursachenbekämpfung auf europäischer Ebene zusammenzuführen. Dazu gehört zuallererst, dass wir die nordafrikanischen Staaten in das Abkommen integrieren.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Ich komme zum Ende. – Diese sind gleich doppelt belastet: durch Binnenmigration und als Transitländer für illegale Migration nach Europa.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Als Nächster hat das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Norbert Barthle für die Bundesregierung.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr in der Beek, ich will Ihnen zunächst in zwei Punkten recht geben: Zum einen ist es gut, dass wir heute Gelegenheit haben, über Afrika zu reden – auch wenn es zu später Stunde geschieht. Zum Zweiten will ich Ihnen recht geben bezüglich der Aussage, dass wir eine bessere Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union brauchen, was die Afrika-Politik anbelangt. Das muss intensiver gestaltet werden. Aber daran arbeiten wir bereits; denn anders werden wir die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, auch nicht bewältigen können.
Wir tun zwar schon viel über die Mittel im EU-Haushalt und über den EEF hinaus. Wir engagieren uns in verschiedenen Fonds. Ich nenne als Beispiel den Afrika-Nothilfefonds und den Bêkou-Fonds für Zentralafrika. Aber das reicht nicht. Wir müssen unsere Anstrengungen in der Tat europäisieren.
Deshalb hat das BMZ das Thema Afrika nicht nur im Koalitionsvertrag verankert, sondern auch ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt; denn uns ist es wichtig, die enormen Potenziale, die Afrika bietet, sozusagen mit dem Marshallplan mit Afrika kenntlich zu machen. Afrika ist jung, Afrika ist reich an Ressourcen, verfügt über enorme Bodenschätze und große Agrarflächen, und Afrika wird im Jahre 2035 das größte Arbeitskräftepotenzial der Welt haben. Überdies steigt die Wirtschaftsleistung auf diesem Kontinent stärker als in vielen anderen Regionen. Diese Potenziale gilt es zu heben. Wir wissen aber auch, dass wir riesige Herausforderungen haben.
Allein bis zum Jahre 2050 wird sich durch das hohe Bevölkerungswachstum die Bevölkerung verdoppelt haben. Eben das führt auch zu einer hohen Jugendarbeitslosigkeit. Deshalb wissen wir alle: Wir bräuchten eigentlich 20 Millionen neue Jobs pro Jahr, um die jungen Menschen in Arbeit zu bringen.
Zudem ist es so, dass die Wertschöpfung in Afrika in der Regel woanders geschieht. Afrika ist überwiegend Rohstofflieferant. Dazu kommen illegale Finanzströme, Steuerhinterziehung, Korruption, die zu leeren öffentlichen Kassen führen. Deshalb arbeiten wir daran, die Chancen für die Menschen in Afrika zu verbessern. Dazu braucht es einen Wandel, und dazu braucht es riesige Investitionen.
Laut Afrikanischer Entwicklungsbank sind allein 170 Milliarden US-Dollar pro Jahr für Infrastrukturinvestitionen notwendig. Alle Geber zusammen geben aber nur 50 Milliarden US-Dollar pro Jahr; das reicht also bei weitem nicht aus. Deshalb brauchen wir eine Hebelung der Investitionen, und dafür brauchen wir mehr Engagement der Privatwirtschaft und mehr innerafrikanischen Handel. Außerdem brauchen wir eine neue EU-Handelspolitik mit einer vollständigen Marktöffnung für landwirtschaftliche Produkte. Auch deswegen arbeiten wir an der Initiative „African Mittelstand“. Da passt es gut, dass mein Kollege Thomas Bareiß vom Wirtschaftsministerium gerade heute erklärt hat, dass die Bundesregierung die Investitionsbedingungen für mittelständische Unternehmen aus Deutschland verbessern wird.
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Die EU-Institutionen und ihre Mitgliedstaaten sind die größten Geber weltweit für Afrika. Auch da besteht ein großer Hebel, den wir nutzen sollten. Wir packen das an mit dem sogenannten External Investment Plan, EIP. 4 Milliarden Euro werden aus EU-Geldern eingesetzt, und daraus entstehen 40 Milliarden Euro an Investitionen. Das ist ein Beispiel, wie wir Hebel auch auf europäischer Ebene besser einsetzen können.
Wir haben jetzt, meine Damen und Herren, die Chance, Einfluss zu nehmen; denn jetzt wird über den mehrjährigen Finanzrahmen verhandelt. Das geschieht nur alle sieben Jahre. Jetzt geht es um die Post-Cotonou-Abkommen als neue Grundlage für die EU-Afrika-Beziehungen. Da müssen wir erreichen, dass die Afrika-Säule gestärkt wird, mit doppelt so vielen Mitteln wie bisher und einer Budgetierung des EEF, und mit einem Leitmotiv, nämlich 20 Millionen neue Arbeitsplätze zu schaffen.
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Deshalb – noch einmal – gilt die Devise: Jobs, Jobs, Jobs und nochmals Jobs, und das am besten mit einer Afrika-Strategie.
Das versuchen wir erstens auf nationaler Ebene zu erreichen. Es ist nämlich nicht nur eine BMZ-Aufgabe, sondern eine Aufgabe der gesamten Bundesregierung, eine nachhaltige Entwicklung abgestimmt über alle Ressorts hinweg zu initiieren. Gleichzeitig arbeiten wir an einem Entwicklungsinvestitionsgesetz, das wir auf den Weg bringen wollen, um deutschen Investoren dort bessere Rahmenbedingungen zu schaffen.
Zweitens. Auf EU-Ebene gilt dasselbe; auch dort setzen wir uns für eine Politikkohärenz in der Entwicklung ein. Mit einer Afrika-Politik erreicht man wesentlich mehr. Mein Minister, Gerd Müller, sagt immer wieder: Wir müssen den Marshallplan mit Afrika europäisieren. Finanziert werden soll er nach seinem Vorschlag mit einer Finanztransaktionsteuer. Überdies hat Minister Müller beim letzten EU-Entwicklungsministerrat einen Fünf-Punkte-Plan mit klaren Eckpunkten vorgelegt. Punkt eins: mehr Privatinvestitionen. Punkt zwei: Erhöhung der Eigeneinnahmen der afrikanischen Staaten. Punkt drei: EU-Haushaltsschwerpunkte für Entwicklung, Frieden und Wirtschaft. Punkt vier: Neugestaltung der Handelsbeziehungen. Und Punkt fünf: Ausbau der institutionellen Zusammenarbeit, sprich: Einrichtung eines ständigen EU-Afrika-Rates.
Darüber hinaus will ich nochmals erwähnen, meine Damen und Herren, dass Entwicklungszusammenarbeit immer auch Friedenspolitik ist. Wir engagieren uns in diesem Zusammenhang mit 2 Milliarden Euro pro Jahr allein für zivile Krisenprävention und Friedensförderung, und wir legen Wert darauf, dass Entwicklungsgelder nicht für militärische Zwecke verwandt werden dürfen. Auch da müssen wir darauf achten, dass diese Grenzen im künftigen EU-Haushalt nicht verwischt werden.
Eines ist für uns klar: Grundlage unserer gesamten Entwicklungszusammenarbeit ist es, die Würde der Menschen überall auf der Welt zu achten, und zwar unabhängig von der Zufälligkeit ihres Geburtsortes. Viele von uns haben das Glück, hier geboren worden zu sein;
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das ist keine Selbstverständlichkeit. Deshalb gilt es für uns, überall dort, wo wir es können, Fluchtursachen zu bekämpfen. Das tun wir mit vielen unserer Maßnahmen, unter anderem mit einem Rückkehrprogramm, das sich sowohl an Binnenflüchtlinge als auch an Flüchtlinge richtet, die hier sind. Beides unterstützen wir nach Kräften, –
Herr Staatssekretär, kommen Sie zum Schluss, bitte.
– um damit Perspektiven zu eröffnen für Menschen, die entweder in Afrika einen Neustart suchen oder von hier aus wieder zurückkehren und dort neu starten wollen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach der bisherigen Zeitplanung kommen wir jetzt um 2 Uhr hier raus. Man kann es natürlich für gerechtfertigt halten,
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es gibt aber auch ein Menschenrecht auf Schlaf; das wollte ich nur sagen.
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Deshalb werde ich mit Ihrer Zustimmung keine Zwischenfragen, keine Kurzinterventionen mehr zulassen und auch auf die Zeiteinhaltung sehr genau achten.
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Als Nächstes hat für die AfD der Kollege Dietmar Friedhoff das Wort.
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Werter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Nach meiner letzten Rede wurde mir von Frau Weber von der SPD entgegengehalten, wie man so ein ernstes Thema mit einem Fußballspiel vergleichen kann.
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Da fällt mir spontan Ruanda ein, ein Staat, der von Deutschland in den letzten drei Jahren über 100 Millionen Euro an Entwicklungshilfe bekommen hat. Dessen Präsident, Paul Kagame, hat nun 35 Millionen Euro an Arsenal London überwiesen für Trikotwerbung „Visit Rwanda“. Nun leistet also Deutschland indirekt Entwicklungshilfe für Großbritannien über Afrika. Klingt zwar komisch, ist aber so. Und so hat das eben, liebe SPD, immer alles was mit Fußball zu tun. Bunte Welt, Wunderwelt!
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Zur Sache und zum Antrag der FDP „Für ein neues EU-Afrika-Abkommen“. Sie sagen, dass globale Herausforderungen globale Lösungen benötigen; eine konzertierte Entwicklungszusammenarbeit ist der kleinteiligen, bilateralen Zusammenarbeit vorzuziehen. Wir sagen: bilaterale Hilfe stärken, nationale Verantwortung und Kontrolle übernehmen und eben nicht abgeben, nicht Europas Superzahler werden, ohne Einwirkungsmöglichkeiten des deutschen Parlaments, ohne Einwirkung in Umsetzung und Rechtsprechung. Denn: Was die Zentralisierungseuropäer einmal haben, das geben sie natürlich nicht mehr aus ihrer Hand. Und das bedeutet Schaffung neuer europäischer Superstrukturen, die einfach eines tun: weiter Kosten erzeugen.
Aber was kann Europa Afrika derzeit überhaupt bieten? Ein eigener Kontinent im globalen Selbstfindungsprozess, wankend zwischen globaler Zentralisierung und nationalem Heimatgefühl. Ein Europa der Vaterländer trifft auf Grenzöffner und Allweltversteher. Welches europäische Gesamtkonzept wollen Sie Afrika bieten?
Afrika, die Wiege der Menschheit, besteht nicht nur aus 55 Ländern, den vielfältigsten Kulturen, mehr als 2 000 Sprachen, sondern auch durch von ehemaligen Kolonialmächten willkürlich gezogene Grenzen. Nahost lässt grüßen. Es hat weder eine zentrale Wertevorstellung, noch einen gemeinsamen Zielhorizont. Zudem wird hier gerne übersehen, dass der Norden Afrikas zum Großteil aus muslimischen Staaten besteht – Staaten, die nicht nur fragil sind, sondern diverse Menschenrechte, unsere Werte, nicht annähernd teilen. Jenseits der Cliquen- und Vetternwirtschaft sind auch die teilweise vorherrschende archaische Grunderziehung und der trennende muslimische Glaube ein großer Hemmschuh in der Umsetzung europäischer Strukturen – gerade auch dort, wo der muslimische Glaube zur Staatspolitik wird. Und genau dieser Glaube ist eben auch das Problem bei Wachstum und Entwicklung. Das kommt nicht von uns; das ist der religionssoziologische Ansatz von Max Weber. Den kann ich nur empfehlen, der ist lesenswert.
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– Genau. – Wer das nicht realistisch sieht, wer das nicht ehrlich sieht, wird nicht die richtigen Antworten auf die Fragen der Zukunft geben können, zumal viele zusätzliche Probleme durch den Kampf um Rohstoffe entstehen.
Neben einer Migrationsindustrie entsteht gerade auch eine sich selbst versorgende Entwicklungshilfeindustrie bzw. hat sich schon etabliert. Immer mehr Menschen verdienen an der Hilfe mit der Not anderer. Haben Sie sich jemals gefragt, wie viel von 1 Euro Entwicklungshilfe wirklich bei den Menschen vor Ort ankommt? 10 Cent, 5 Cent oder 1 Cent? Wie wäre es denn, wenn wir die Frage einmal andersherum stellen: Was müssen wir tun, damit möglichst alles bei den Menschen vor Ort ankommt?
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Jetzt kommen wir zu unseren linken Freunden. Der Antrag der Linken hat, nun ja, wie immer ganz nett angefangen. Man hat schon die Hoffnung: Sie schaffen es dieses Mal. – Aber nein, kurz vor der Zielgeraden funken diese postkommunistischen Gedanken immer wieder dazwischen. Die Gesinnungsethik schlägt emotionale Wellen und verhindert so eine wirkungsvolle Verantwortungsethik.
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Denn was fordern unsere roten Weltenretter? Legale Migrationswege für alle zu schaffen und allen Geflüchteten, also auch allen, die noch kommen werden, Zugang zu einem fairen Asylverfahren und zum jeweils geltenden Arbeitsrecht der EU zu bieten. Das bedeutet nach Schätzungen bis 2050 700 Millionen Flüchtlinge, davon 70 Millionen auf dem Weg nach Europa – unter diesen Bedingungen vermutlich viel mehr.
({5})
– 700 Millionen, aber 70 Millionen auf dem Weg nach Europa.
Ich wiederhole: Man kann nur helfen, wenn man in der Lage ist, zu helfen. Einer der Einsatzgrundsätze eines jeden Hilfeleistenden ist: Bringe dich bei der Hilfe niemals selbst in Gefahr. Niemals! Was Sie, liebe Linke, tun wollen, ist, das deutsche Sicherheits- und Sozialsystem vorsätzlich auszuhöhlen und auszulöschen.
({6})
Wir sagen: Kommen Sie endlich aus Ihrem Wolkenkuckucksheim.
({7})
Und übrigens: Man kann mit dem Geld, welches wir in Deutschland für die Bewältigung der Fluchtkrise aufwenden, vor Ort in Afrika um den Faktor 100 helfen. Das heißt, entweder helfen wir 1 Million Menschen in Deutschland oder 100 Millionen Menschen in Afrika. Wir brauchen keine offenen Grenzen, sondern ein stabiles Deutschland, ein Deutschland, das helfen kann und es auch will, realistisch und ehrlich.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schlusssatz. – Denn damit der kranke und noch ruhende afrikanische Löwe endlich springen kann und nicht vom chinesischen Drachen verschlungen wird,
({0})
bedarf es nicht eines europäischen Sternenhimmels, sondern eines vitalen deutschen Adlers.
Danke.
({1})
Als Nächstes für die SPD der Kollege Christoph Matschie.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Friedhoff, Sie haben auf die Frage, über die hier heute aufgrund der Anträge diskutiert werden soll, keine Antwort gegeben, sondern Sie haben wieder einmal versucht, alles ins AfD-Schema – Grenzen zu, möglichst keiner rein und alles, was fremd ist, erst mal als fremd klassifizieren – zu pressen.
({0})
Ich sage Ihnen, es gibt mindestens drei gute Gründe, weshalb wir eine intensivere Zusammenarbeit mit Afrika brauchen.
({1})
– Hören Sie einfach mal zu. Sie auch, Herr Friedhoff.
Erstens. Der erste wichtige Grund ist der menschliche Anstand.
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Zu menschlichem Anstand gehört, dass wir als Menschen miteinander umgehen, dass wir uns da unterstützen, wo jemand Unterstützung braucht.
({3})
Dazu kommt auch eine gewisse historische Verantwortung, die Europa in Afrika immer noch hat.
({4})
Zweitens. Jeder weiß: Man kann nicht auf Dauer in Sicherheit leben, wenn es den Nachbarn schlecht geht, wenn die Nachbarschaft instabil ist. Es liegt also in unserem ureigenen Sicherheitsinteresse, mehr für Entwicklung in Afrika zu tun, mehr für Stabilität zu tun; das ist unser Interesse.
({5})
Drittens. Auch die wirtschaftliche Vernunft gebietet eine intensivere Zusammenarbeit; denn Afrika bietet enorme Chancen für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
({6})
Afrika ist ein Kontinent mit einer sehr jungen dynamischen Bevölkerung.
({7})
Ja, ich weiß, es gibt viele Staaten in einer fragilen Situation. Es gibt Katastrophen auf diesem Kontinent. Aber es gibt auch positive Entwicklungen: positive wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen. Und es geht auf diesem Kontinent voran. Es ist nicht umsonst, zusammenzuarbeiten
({8})
und sich miteinander zu engagieren, sondern das bringt auch etwas.
({9})
Die Entwicklungszusammenarbeit der letzten Jahre hat auch dazu geführt, dass sich die Kindersterblichkeit halbiert hat, dass die Zahl der Menschen in absoluter Armut prozentual abgenommen hat, Das zeigt: Wir können etwas bewegen, wenn wir gemeinsam anpacken.
({10})
Ich will aber genauso deutlich sagen: Deshalb hat sich diese Koalition vorgenommen – und das steht im Koalitionsvertrag –:
({11})
Eine intensive Zusammenarbeit mit unserem Nachbarkontinent Afrika gehört zu den wichtigsten strategischen Aufgaben dieser Koalition.
({12})
Dazu gehört auch das Abkommen, das hier diskutiert wird.
Ich will allerdings, werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP und auch von der Linken, zunächst einmal fragen, warum Sie die Anträge jetzt einbringen. Die EU hat ja ihr Verhandlungsmandat für das Nachfolgeabkommen von Cotonou schon verhandelt. Es gibt nur eine offene Frage, die von Ungarn blockiert wird, die noch gelöst werden soll. Ansonsten steht das Verhandlungsmandat fest. Ihre Anträge kommen also in der Tat ein bisschen spät.
Ich will aber auch inhaltlich etwas dazu sagen:
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Sie haben hier vorgetragen, dass Sie drei unterschiedliche Abkommen wollen. Die EU-Staaten haben sich aber schon gemeinsam entschieden, einen anderen Weg zu gehen, nämlich ein gemeinsames Dach beizubehalten und darunter drei regionale Säulen zu verhandeln. Ich glaube, es ist auch sinnvoll, dann, wenn man gemeinsame Grundprinzipien hat, mit drei unterschiedlichen Säulen auf die konkrete Situation einzugehen.
({14})
Ich glaube, dass uns einiges, was in diesen Anträgen steht, verbindet
({15})
und wir gemeinsam das Interesse haben, zu einer intensiveren strategischen Zusammenarbeit mit Afrika zu kommen. Ich will an dieser Stelle auch deutlich sagen: Ich habe eine klare Erwartung an die Bundesregierung.
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Wir haben inzwischen mehr Ministerien, die sich mit dieser Frage auseinandersetzen. Was wir aber auch brauchen, ist eine klare, strukturierte Zusammenarbeit innerhalb der Bundesregierung.
Herr Kollege.
Wir brauchen eine konsistente Afrika-Strategie, und ich hoffe, dass uns die Bundesregierung dazu bald etwas vorlegt.
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Herzlichen Dank. – Als Nächstes für die Fraktion Die Linke die Kollegin Eva-Maria Schreiber.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste!
Frau Kollegin, einen ganz kleinen Moment. – Ich kann die Kolleginnen und Kollegen der AfD-Fraktion und der FDP-Fraktion verstehen, dass der Abend launige Auseinandersetzungen befördert; aber es wäre schön, Sie würden der Rednerin zuhören.
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Danke. – Der afrikanische Kontinent leidet bis heute unter den Folgen von Kolonialismus, Sklaverei, Rassismus und – vor allem – unter ungleichen Wirtschaftsbeziehungen. Die aktuelle Politik Deutschlands und der EU zementiert diese Ungleichheit, führt zu immer strengerer Abschottung der europäischen Außengrenzen und bringt Menschen dazu, aus ihrer Heimat zu fliehen.
Diese Menschen sagen: Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört. – Das ist eine unbequeme Wahrheit: Wir leben auf Kosten des globalen Südens.
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Die Linke sagt: Wer Afrika wirklich auf die Beine helfen will, muss auch bereit sein, auf eigene Vorteile zu verzichten.
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Bei genauer Durchsicht des Antrags der FDP stellt man jedoch fest, dass die Hauptfrage dort lautet: Wie positionieren wir uns in Afrika, damit China unseren Wirtschaftsunternehmen nicht die Butter vom Brot nimmt? Stattdessen muss die Frage doch lauten: Was müssen wir ändern, damit Afrika selbst mehr Butter auf dem Brot bleibt?
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Oft hat die aktuelle Afrika-Politik eine verheerende Wirkung. Wo Migrationsmanagement draufsteht, ist Flüchtlingsbekämpfung drin. Hinter „optimale Rahmenbedingungen für Privatinvestitionen schaffen“ verstecken sich Profitinteressen deutscher und europäischer Konzerne. Die Bundesregierung will zunehmend mit Reformchampions zusammenarbeiten. Im FDP-Antrag heißt das „Performance-orientierte Auswahl“ von Ländern. Das ist nicht nur eurozentrisch, sondern aus drei Gründen problematisch.
Erstens konzentriert sich Entwicklungspolitik damit nur auf die bereits jetzt wirtschaftlich Stärksten. Die Schwächsten fallen hinten runter.
Zweitens nützen Privatinvestitionen ohne ökologische, soziale oder menschenrechtliche Mindeststandards vor allem den deutschen Unternehmen.
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Drittens arbeiten sie immer intensiver mit autoritären und menschenverachtenden Regimen wie Äthiopien und Ägypten zusammen. In Libyen unterstützen sie ehemalige Menschenhändler, die auf Küstenwache umgesattelt haben und denen, früher wie heute, das Leben eines Flüchtlings keinen Pfifferling wert ist.
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Vor wenigen Wochen erst haben sie 15 Menschen bei einem Ausbruchsversuch aus einem Lager erschossen. In diesen Lagern herrschen unglaubliche Zustände: Folterungen und Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung, es soll sogar zu Exekutionen kommen, Sklavenhandel ist auch wieder an der Tagesordnung – und das im 21. Jahrhundert! Das ist ein Skandal.
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Wer mit solchen Partnern zusammenarbeitet, versenkt eigenhändig die Menschenrechte im Mittelmeer.
Aber es geht im Antrag doch nur um Freihandel. – Freihandel zwischen Ungleichen reproduziert Ungleichheit. Das ist eine Binsenweisheit, die Sie nicht wahrhaben wollen. Denn auch das Cotonou-Folgeabkommen der EU mit den Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifikraums soll die wirtschaftlich Schwächeren vor allem zum Abbau von Importzöllen, zum Verbot von Exportsteuern und zur Liberalisierung ihrer öffentlichen Dienstleistungsmärkte verpflichten. Im Kommissionsentwurf heißt es, die Position der EU-Agrarproduzenten und Exporteure in den globalen Lieferketten soll gestärkt werden. Was wollen Sie eigentlich? Soll die afrikanische Wirtschaft auf die Beine kommen, oder sollen vor allem unsere Unternehmen ihre Gewinne steigern?
Die FDP hat sich mit dem vorliegenden Antrag in meinen Augen für die deutsche Wirtschaft entschieden. Wenn Sie eine Entwicklung des Aufholens in Afrika ermöglichen wollen – das wollen Sie ja laut Ihrem Antrag; das steht ja drin –: Stellen Sie die Interessen der afrikanischen Länder in den Mittelpunkt! Verzichten Sie endlich auf Privatisierungs- und Liberalisierungsforderungen! Internationale Konzerne prellen die Entwicklungsländer jährlich um bis zu 100 Milliarden US-Dollar. Stoppen Sie diese Steuerflucht!
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Unterstützen Sie nicht repressive Regierungen!
Frau Kollegin, auch Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich bin sofort fertig. – Stellen Sie die Bekämpfung von Armut und Hunger ins Zentrum! Unterstützen Sie die Menschen, die in Freiheit leben wollen! Dafür treten wir in unserem Antrag ein.
Frau Kollegin.
Weitere Vorschläge finden Sie dort, inklusive Finanztransaktionsteuer.
Vielen Dank.
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Als Nächstes für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Uwe Kekeritz.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das Post-Cotonou-Folgeabkommen könnte eines der bedeutendsten Abkommen der EU werden. Es soll ja immerhin mit über 100 Ländern abgeschlossen werden. Es handelt sich also tatsächlich um die Champions League der europäischen Außenbeziehungen. Leider zeigt der Mandatsentwurf jedoch, dass die Regierung und die EU auf Kreisklasseniveau spielen wollen.
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Dieser Entwurf schafft es zum Beispiel nicht, die postkoloniale Zweiteilung des jetzigen Cotonou-Abkommens zwischen AKP- und Nicht-AKP-Staaten aufzubrechen. Das ist rückwärtsgewandt und entspricht auch nicht den heutigen Herausforderungen.
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Es reicht eben nicht aus, wie im aktuellen Entwurf vorgesehen, der AU oder den MENA-Staaten einen Beobachterstatus einzuräumen. Sie müssen von Anfang an am Verhandlungstisch sitzen. Nur so kann man tatsächlich eine Partnerschaft auf Augenhöhe erreichen.
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Zum FDP-Antrag. Sie fordern, dass der unsägliche Holzweg, der auf dem Valletta-Gipfel 2015 beschlossen wurde, sogar ausgebaut werden soll. Dabei waren Sie doch einmal eine Menschenrechtspartei. Oder täusche ich mich da?
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Das verträgt sich nicht mit Ihrer „Festung Europa“-Rhetorik, die sich durch den ganzen Antrag zieht. Dabei müsste doch auch Ihnen klar sein: Entwicklungszusammenarbeit darf nicht zur Flüchtlingsabwehr degradiert werden.
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Seit Valletta werden Entwicklungsgelder für fragwürdige Grenzschutzprojekte und Sicherheitskonzepte zweckentfremdet. Entwicklungsgelder werden als Druckmittel eingesetzt. All das halte ich für grundfalsch. Fluchtursachen bekämpfen heißt eben nicht: Flüchtlinge bekämpfen.
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In Bezug auf die EPAs verschließen Sie, liebe FDP, schlicht die Augen. Sie wollen es einfach nicht wahrhaben, was die Verhandlungen der EPAs angerichtet haben. Wir stehen heute vor einem handelspolitischen Scheiterhaufen. Die EPAs sind inhaltlich gescheitert und haben die Beziehungen zwischen den afrikanischen Staaten und der EU schwer belastet.
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Ja, Herr Beek, Sie haben in Ihrer Rede kritisiert, dass der Handel innerhalb der afrikanischen Staaten noch immer so gering ist. Dann überlegen Sie sich einmal, warum sich viele Staaten Afrikas gegen diese EPAs gewendet haben. Sie haben nämlich gesagt, das wird durch die EPAs eher verhindert denn gefördert.
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Die 13-jährige Verhandlungszeit war durch Arroganz, Drohungen und zum Schluss mit Erpressungen durch die EU-Verhandler gespickt.
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Die Bewertungen der EPAs müssen natürlich auch diesen Aspekt berücksichtigen. Wir brauchen endlich einen handelspolitischen Neuanfang. Wir brauchen einen Handel, der nachhaltige Entwicklung ermöglicht und nicht verhindert.
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Hierzu muss die Bundesregierung ihren Beitrag leisten. Statt von einem Marshallplan zu fabulieren, müssten Sie im Rahmen des Cotonou-Folgeabkommens dem Globalen Süden endlich die Möglichkeit geben, sich positiv zu entwickeln.
Ja, leider hat auch der Antrag der Linken erhebliche Defizite.
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– Doch. – Wir sind ganz nahe beieinander, wenn es um die Kritik von Handels-, Agrar- oder Finanzpolitik geht. Ich bin auch bei Ihnen, wenn es um gesetzliche und menschenrechtliche Sorgfaltspflichten für Unternehmen oder wenn es um die Finanztransaktionsteuer geht. Ich widerspreche den Linken aber vehement, wenn sie den Industriestaaten die alleinige Schuld an der wirtschaftlichen und sozialen Lage in Afrika geben und dabei vergessen, dass auch die afrikanischen Regierungen ein enormes Maß an Verantwortung tragen müssen.
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Sie suchen in Ihrem Antrag die Schuld so sehr bei Europa, dass Sie den Afrikanern die Ownership über ihre eigene Politik absprechen. Ich sage Ihnen: Das geht gar nicht.
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Wir fordern eine neue faire Partnerschaft mit dem Globalen Süden auf Augenhöhe.
Herr Kollege.
Der Rahmen dafür – ich bin am Ende – ist längst definiert. Es sind nämlich die SDGs, das Pariser Klimaabkommen, die kommende Kleinbauernkonvention, die Menschenrechte.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Ich finde es immer bemerkenswert, wenn gesagt wird: Ich bin am Ende. – Ich will darauf hinweisen, Kolleginnen und Kollegen: Wenn ich bei jedem Redebeitrag eine Minute dazugeben würde
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– 24 Sekunden, aber darüber will ich mich gar nicht streiten –, dann tagen wir noch um 4 Uhr nachts. Ich werde jetzt – das kündige ich hiermit an – nach meiner ersten Aufforderung noch einen weiteren Satz zulassen und dann das Mikrofon abschalten, weil wir sonst nicht weiterkommen.
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Kolleginnen und Kollegen, als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Johannes Selle.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Vorbereitung auf die Verhandlungen zu einem neuen Abkommen mit den AKP-Staaten werden wir im Ausschuss über zwei Anträge im Detail beraten, die von den Linken und der FDP eingebracht wurden. Die Europäische Union hat dazu im Rat für auswärtige Beziehungen Verhandlungsrichtlinien diskutiert mit den Schwerpunkten Menschenrechte und gute Regierungsführung, Förderung nachhaltigen Wachstums und der Arbeitsplätze, Schutz der Umwelt, Klimawandel, erneuerbare Energien, Förderung von Frieden, Sicherheit, Gerechtigkeit und Würde. Die Verhandlungen sollen mit Blick auf die Agenda 2030 geführt werden.
Der EU-AKP-Ministerrat hat sich besonders mit dem gefährdeten Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, befasst und bekräftigt, das Pariser Klimarahmenabkommen umzusetzen. Beim Rat der Entwicklungsminister im Mai haben Frankreich und Deutschland gemeinsam Schwerpunkte in der Zusammenarbeit zwischen der EU und Afrika vorgestellt. Dazu gehören die Stärkung der wirtschaftlichen Integration innerhalb Afrikas und der Wertschöpfungsketten, deren Produkte in einer afrikanischen Freihandelszone dann leicht ausgetauscht werden können. Dazu gehört ferner, die Entwicklung der Privatwirtschaft in Afrika, die Ermutigung der afrikanischen Diaspora für ein Engagement in der Heimat und die Rahmenbedingungen in afrikanischen Ländern zu verbessern, wozu die Rechtsstaatlichkeit, eigene Finanzsysteme und das Mobilisieren eigener Ressourcen gehören. Aber es könnte noch viel mehr aufgezählt werden.
Die AKP-Länder haben das Verhandlungsmandat im Mai angenommen und verknüpfen hohe Erwartungen an eine engere Bindung an die EU. Der Außenminister der Republik Togo, Professor Dr. Robert Dussey, der am vergangenen Freitag zum Verhandlungsführer der AKP-Staaten im Post-Cotonou-Prozess gewählt wurde, hat uns darüber gestern informiert. Ihm liegt besonders am Paradigmenwechsel und daran, die Chancen in Afrika zu sehen.
Die Verhandlungen sollen im August beginnen. In Vorbereitung auf die Verhandlungen wird klar: Verbesserungen und das Erreichen der Agenda-2030-Ziele hängen von der wirtschaftlichen Entwicklung ab, die Perspektiven für die vielen jungen Menschen bieten kann, das heißt, Arbeitsplätze zu schaffen durch Menschen, die Ideen haben und diese auch umsetzen können. Das heißt auch freier Austausch der Erzeugnisse, um die Stärken der Regionen zu nutzen. Das kann als Voraussetzung gar nicht oft genug betont werden, weil es die afrikanischen Länder genauso sehen; das kann jeder erleben, der Afrika besucht. Es geht dabei nicht um eine rücksichtslose Entwicklung, sondern um die Förderung wirtschaftlicher Tätigkeit unter Berücksichtigung der Menschenwürde, Beachtung verfasster Menschenrechte, Klimawandel, Nachhaltigkeit und Bewahrung der Schöpfung.
Die Zeit für die Umsetzung der Agenda 2030 ist knapp geworden. Auch wir in Deutschland müssen unsere Ziele schneller erreichen. Im Kontakt mit willigen Unternehmen, die mit mir schon in Afrika waren, spürt man, dass zum Beispiel unsere Exportkreditgarantien mit ihren Richtlinien nicht zu den Ländern passen und schon gar nicht für kleinere Unternehmen ausreichen.
Für eine wirtschaftliche Tätigkeit sind eine geeignete Finanzierung und eine passende Risikoabdeckung grundlegend. Wir haben da noch viel nachzuarbeiten, insbesondere mit Blick auf unsere Wettbewerber. Ich blicke mit großer Erwartung auf das Investitionsgesetz, das Minister Müller vorbereitet und wünsche mir mehr Schnelligkeit.
In dieser Vorphase der Verhandlungen werden mit den beiden vorliegenden Anträgen nun Forderungen an die Bundesregierung gestellt. Der Leser merkt schnell, dass sie im Duktus weit auseinanderliegen.
Im Zuge der Beratung des Antrags der FDP werden wir uns damit beschäftigen müssen, ob wir im strategischen Ansatz so weit gehen wollen. Ist jetzt der richtige Zeitpunkt, aus den drei Säulen der AKP-Verhandlungen drei unabhängige Verträge zu machen? Oder ist es richtig, in diesem Verhandlungsprozess die bilaterale Zusammenarbeit der europäischen Staaten mit AKP-Staaten zu harmonisieren und stärker zu europäisieren? Die insgesamt 29 Vorschläge des FDP-Antrages können hier nicht diskutiert werden.
Der gemeinsame Wille Europas und der AKP-Staaten wird im Antrag der Linken in einer Atmosphäre vermutet, wie sie vielleicht vor 100 Jahren existierte.
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Das Verhältnis beider Kontinente war und ist jedoch bis heute von Rassismus, Herrenmenschentum, Sklaverei, Ausbeutung, Kolonialismus und Gewalt gegenüber Afrika und den Menschen schwarzer Hautfarbe geprägt.
Weiter steht in Ihrem Antrag:
Die EU unterlässt nichts unversucht, Afrika sein entwicklungsfeindliches Freihandelsdogma aufzuzwingen.
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… Mit dieser Offensive zur wirtschaftlichen Durchdringung Afrikas will die EU im Wettlauf um … billige Arbeitskräfte gegenüber … China, Indien und den USA verlorenen Boden wieder gutmachen.
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Ihre solidarischen und entwicklungsförderlichen Ideen gehen in diesem Gestrüpp unter. Wann werden Sie diesen ideologischen Ballast abwerfen?
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Meine Damen und Herren, wir sollten den Post-Cotonou-Prozess nutzen, um viel mehr Mut in die Debatte zu bringen. Wir sollten mit guten Ideen überzeugen und andere mitreißen, sich für Afrika zu engagieren.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Selle. – Als nächster und letzter Redner für die SPD-Fraktion der Kollege Dr. Sascha Raabe.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ja, es stimmt: Afrika könnte ein reicher Kontinent sein. Er ist nicht arm wegen der Hitze oder weil es zu wenig Bodenschätze gibt, sondern weil für viele Länder der Reichtum an Rohstoffen eher Fluch als Segen ist. Das hat natürlich viel damit zu tun – das steht zu Recht in dem Antrag der Linken –, dass europäische Unternehmen den afrikanischen Kontinent nur als Rohstoffversorger für Europa wahrnehmen. Dementsprechend muss die Handelspolitik der Europäischen Union geändert werden. Das ist keine Frage.
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Als jemand, der seit 2002 im entwicklungspolitischen Ausschuss tätig ist und in diese Länder fährt, sehe ich natürlich schon eine Veränderung in den letzten 10, 15 Jahren. Wenn man heute vom Flughafen in die meisten Hauptstädte der afrikanischen Länder fährt, sieht man immer mehr Villen, immer mehr SUVs, immer mehr Vier- und Fünf-Sterne-Hotels, immer größere Präsidentenpaläste. Doch wenn man aufs Land fährt, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein: die gleiche bittere Armut wie früher. Woran liegt das? Das liegt daran, dass heute nicht mehr nur der böse Norden den Süden ausbeutet, sondern es heute in den meisten afrikanischen Staaten auch eine korrupte, verantwortungslose Elite gibt, die gemeinsam mit den Regierungen und den Unternehmen in den Industrieländern das eigene Volk ausbeutet.
Deswegen müssen wir, wenn wir mit den afrikanischen Staaten jetzt ein neues Abkommen abschließen und damit unsere Handelsbeziehungen neu ordnen, darauf achten, dass Menschenrechte, Arbeitnehmerrechte und soziale Standards endlich verbindlich sind und eingehalten werden und dies die Voraussetzung für den Handel mit afrikanischen Staaten ist.
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Das bedeutet, dass wir es nicht mehr zulassen dürfen, dass fast 2 Millionen Kinder auf den Kakaoplantagen in der Elfenbeinküste und in Ghana arbeiten, sich selbst mit Pestiziden vergiften, mit Macheten arbeiten müssen und nicht zur Schule gehen können. Wir dürfen nicht zulassen, dass das die nächste Generation ist, die, weil sie dort keine Perspektiven hat, an Europas Tür anklopft, um hier als Armutsflüchtling vielleicht eine Chance zu finden.
Deswegen muss endlich Ernst gemacht werden mit vielen von den Dingen, die schon in unseren Präferenzregeln stehen. Darin steht eigentlich, dass es keine Kinderarbeit und keine Menschenrechtsverletzungen geben darf, wenn man zollfrei Waren in die EU liefern will.
Im Augenblick ist die Europäische Union ja dabei, mit Staaten in der ganzen Welt Verhandlungen über Freihandelsabkommen zu führen, auch mit den afrikanischen Staaten über ein Nachfolgeabkommen zum Cotonou-Abkommen. Da gibt es ein schönes Nachhaltigkeitskapitel, in dem wieder drinsteht – ganz toll –, dass die Menschenrechte eingehalten werden sollen, dass es keine Kinderarbeit geben soll, dass die Arbeitnehmerrechte gelten sollen. Aber was passiert, wenn dagegen verstoßen wird? All diese Verträge sind wieder so angelegt, dass am Ende im Prinzip nichts erfolgt. Es heißt, man führe einen Dialog mit der Zivilgesellschaft, und am Ende ist das schärfste Schwert die Rüge eines Expertengremiums.
Deswegen fordere ich Minister Müller auf – er hat mir versprochen, das zu tun; ich werde das weiter beobachten –, mit dem Kollegen Altmaier zu reden, damit Brüssel jetzt nicht mit Japan und Singapur Verträge abschließt, in denen diese Nachhaltigkeitskapitel unverbindlich sind; denn wenn wir das mit diesen Ländern unverbindlich halten, dann sagen die afrikanischen Länder zu Recht: Warum behandelt ihr diese Länder anders als uns? – Nein, wir müssen, um glaubwürdig zu bleiben, allen Ländern, mit denen wir Handel treiben wollen, klarmachen: Es kommt nicht nur darauf an, dass ihr technische und sanitäre Standards einhaltet, sondern für uns ist auch wichtig, unter welchen Bedingungen die Produkte, die bei uns auf die Märkte kommen, hergestellt werden; wir wollen kein Blut an T-Shirts; wir wollen nicht, dass auf Kakao- und Kaffeeplantagen Kinder arbeiten; wir wollen nicht, dass Arbeiter aus der Luft mit Pestiziden vergiftet werden. Nur wenn das gewährleistet ist, dann dürfen die Waren zollfrei nach Europa geliefert werden.
Ansonsten gilt: Fairer statt freier Handel; das ist es, was wir brauchen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Raabe. – Das war kurz vor La-Ola-Wellen.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/2528 und 19/2519 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung jeweils beim Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe drei Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Ich bin gerührt, wie groß insbesondere in meiner Fraktion das Interesse am Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes, betreffend die Einführung der Zivilprozessordnung, ist.
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Das zeigt: Die SPD ist und bleibt die Rechtsstaatspartei in Deutschland.
Auch zu dieser Stunde will ich, auch wenn wir es hier zugegebenermaßen mit einem Thema für juristische Feinschmecker zu tun haben, ganz im Ernst daran erinnern, wie wichtig ein funktionierender Rechtsstaat für eine freie, demokratische Gesellschaft ist. Wir alle sehen, dass antirechtsstaatliche Tendenzen in der Welt leider zunehmen. Das mahnt uns alle. Wir sollten uns dem entschieden entgegenstellen.
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Für uns in Deutschland bedeutet dies, dass wir uns alle für einen funktionierenden Rechtsstaat einsetzen und uns für eine leistungsfähige Justiz engagieren müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Die Justiz in Deutschland leistet Hervorragendes. Wir haben eine Rechtsprechung von hoher Qualität. Damit das so bleibt, haben sich die Koalitionsfraktionen als ein zentrales Ziel vorgenommen, einen Pakt für den Rechtsstaat zu schließen. Wir wollen 2 000 zusätzliche Stellen in der Justiz – bei den Richtern, bei den Staatsanwälten und beim Folgepersonal – schaffen. Das ist auch dringend nötig. Denn die besten Gesetze bringen nun einmal nichts, wenn wir nicht das erforderliche Justizpersonal haben, um diese Gesetze anzuwenden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Das gilt insbesondere für den Bundesgerichtshof. Gerade beim BGH ist eine ausreichende personelle Ausstattung erforderlich. Der BGH muss handlungsfähig sein. Dem dient der heute vorliegende Gesetzentwurf. Es geht um die Nichtzulassungsbeschwerde. Für die wenigen im Saal, die nicht wissen, was das ist: Sie ist das Rechtsmittel, das man einlegen kann, wenn ein Berufungsgericht die Revision eines Anliegens zum Bundesgerichtshof nicht zugelassen hat. Da haben wir eine Wertgrenze von 20 000 Euro, die noch bis zum 30. Juni 2018 gilt. Wenn wir die Gültigkeit dieser Wertgrenze nicht verlängern, dann kommt es zu einer erheblichen Mehrbelastung beim BGH. Denn die ursprüngliche Vermutung aus dem Jahr 2001, als wir die Nichtzulassungsbeschwerde eingeführt haben, dass das dann rückläufig sein wird, hat sich gerade nicht erfüllt.
Dabei ist festzuhalten, dass 90 Prozent all dieser Rechtsmittel, dieser Nichtzulassungsbeschwerden, erfolglos sind, also überhaupt nicht greifen. Deswegen können wir die Grenze von 20 000 Euro guten Gewissens einführen.
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Vom Bundesgerichtshof ist zu hören, dass die dortigen Zivilrichter mittlerweile einen großen Teil ihrer Arbeitskraft in die Abarbeitung von Nichtzulassungsbeschwerden investieren müssen. Das bedeutet, dass auf der anderen Seite dann wichtige Verfahren, die Millionen von Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland betreffen, nicht bearbeitet werden können und liegen bleiben. Das können wir nicht wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Im Jahre 1495 gründete der Wormser Reichstag das erste oberste Gericht für die zersplitterten deutschen Gebiete. Auf der Internetseite des Bundesgerichtshofes ist zu lesen, dass dieses Reichskammergericht mit knappen Personalmitteln zu kämpfen hatte, sodass man jahrelang nicht richterlich tätig werden konnte. Das droht dem BGH erfreulicherweise nicht. Dennoch ist es gut, dass das Bundesjustizministerium – mein ausdrücklicher Dank hierfür – schon bald eine Bund-Länder-Gruppe zur ZPO-Reform einsetzen wird,
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in der es unter anderem um die Zukunft der Nichtzulassungsbeschwerde gehen wird.
Ein herzlicher Dank dafür, dass wir in diese Diskussionen schnell eintreten werden. Denn wir sollten wirklich den Ehrgeiz haben, diese Wertgrenze nicht noch einmal verlängern zu müssen, sondern in den anderthalb Jahren, um die wir sie jetzt verlängern wollen, Lösungen zu finden, damit wir eine dauerhafte Regelung bekommen. Wir werden sicherlich darüber diskutieren, ob die Möglichkeit, Berufungen wie bisher ohne mündliche Verhandlung zurückzuweisen, infrage gestellt werden muss. Wir werden beraten, ob die Nichtzulassungsbeschwerde auch in Familiensachen Sinn macht. Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, dass den Anliegen Ihres Antrags schon längst Rechnung getragen wird.
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Weil die Arbeitsbelastung des BGH bekannt ist und weil auch jetzt schon die Fallzahlen veröffentlicht werden und einsehbar sind, halten wir die Forderung der FDP nach einer Evaluation und halbjährlichen Berichten einfach für zu aufwendig und schlicht für unnötig und nicht zielführend. Eine weitere Kommission einzurichten, wie es die FDP vorschlägt, halten wir auch nicht für notwendig – wir haben schon sehr viele Kommissionen eingerichtet –, zumal es jetzt diese Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur ZPO-Reform gibt, die zeitnah tagen wird. Das ist der effektivere Weg, und wir brauchen diese Kommission nicht.
Stimmen wir diesem wichtigen Gesetzentwurf, der die berechtigte und angemessene Aufmerksamkeit hier im Plenum durch Ihre Anwesenheit auch bekommt – vielen Dank dafür –, heute also zu! Dadurch entlasten wir den BGH und sorgen wir dafür, dass wir weiterhin eine qualitativ hochwertige Rechtsprechung beim Bundesgerichtshof hier in Deutschland haben.
Herzlichen Dank.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Fechner. Das war zeitlich vorbildlich. – Als Nächstes für die AfD der Kollege Jens Maier.
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Wer macht hier was nach? – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist jetzt 23.51 Uhr. Zu vorgerückter Stunde – sozusagen am Ende des Tages – beschäftigen wir uns jetzt mit einem Gesetzentwurf, auf dessen rechtzeitige Verabschiedung viele Berufungs- und Revisionsrichter in der Zivilgerichtsbarkeit warten. Sie können beruhigt sein. Auch diesmal wird er kommen, und die AfD wird auch zustimmen, weil es eine andere Alternative ja überhaupt nicht gibt.
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Damit kann es aber nicht sein Bewenden haben – der Kollege Fechner hat schon darauf hingewiesen –; denn auch die Verlängerung der am 30. Juni 2018 auslaufenden Regelung wird am Grundproblem nichts ändern. Die Verlängerung ist nämlich nur die abermalige Verlängerung eines Provisoriums. Wir brauchen aber eine abschließende, endgültige und wirksame Lösung.
Dafür sind verschiedene Vorschläge gemacht bzw. in der Anhörung der Sachverständigen diskutiert worden. Eine Sache ist dabei ein bisschen außen vor gelassen worden – die möchte ich hier kurz ansprechen –, nämlich die Rechtsschutzversicherung.
Für meine Begriffe wäre es ein ganz großes Entlastungsprogramm für die Zivilgerichtsbarkeit, wenn man die Rechtsschutzversicherung mehr unter Kontrolle bringen würde. Das weiß ich, weil ich spezialzuständig für Berufungsverfahren bei Verkehrsunfällen war. Ein sehr großer Prozentsatz – ich schätze, über die Hälfte – aller Berufungsverfahren wurde durch Rechtsschutzversicherungen finanziert, und ich kann aus eigener Erfahrung sagen: Da wurde der größte Blödsinn eingeklagt und nach Klageabweisung in der Berufungsinstanz weiterverfolgt, manchmal auch noch mit dem Antrag, die Revision im Falle der Berufungszurückweisung zuzulassen. Dort läuft ein ganz großer Blödsinn, und es sollte möglich sein, hier irgendein Regulativ einzubauen.
Ähnliches gilt übrigens bei der Prozesskostenhilfe. Auch hier sollte man andere Wege gehen. Ein ganz einfacher Weg bestünde darin, die Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse auf den Rechtspfleger zu übertragen. Dadurch würde etwas genauer auf die Leistungsfähigkeit der Antragsteller gesehen werden.
Als Letztes – ich habe ja nicht so viel Redezeit –
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sollte man vielleicht auch an die Einführung einer Missbrauchsgebühr analog zu den Vorschriften zum SGB und des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes denken. Damit kann man offensichtlich unbegründete Rechtsmitteleinlegungen sanktionieren.
Bei der Anhörung der Sachverständigen wurde auch deutlich, dass wir immer noch eine Mindestbeschwer brauchen. Insofern muss man daran wohl festhalten. Ob das allerdings 20 000 Euro sein müssen, weiß ich nicht.
Ich sehe hier die Lampe leuchten. – Wir stimmen dem Gesetzentwurf jedenfalls zu.
Danke schön.
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Herr Kollege Maier, herzlichen Dank. Wenigstens Sie beachten die Lampe. – Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Volker Ullrich.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Revision zum Bundesgerichtshof ist zulässig, wenn das Berufungsgericht die Revision im Urteil ausdrücklich zulässt. Sie kann diese Revision zulassen, wenn die Rechtssache eine übergeordnete und grundsätzliche Bedeutung hat, übrigens unabhängig vom Streitwert. Es kann auch um die Bankgebühr von 19,50 Euro gehen, den Handyvertrag oder den Stromtarif.
Wird aber diese Revision nicht zugelassen, dann kann der Beschwerdeführer im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde die Zulassung zum Bundesgerichtshof erzwingen, aber eben nur dann, wenn der Streitwert über 20 000 Euro liegt. Ich meine, das ist eine richtige und kluge Regelung, weil sie auf der einen Seite den Rechtsfrieden garantiert und auf der anderen Seite dafür sorgt, dass der Bundesgerichtshof nicht überlastet wird.
Die Geltungsdauer dieser Regelung würde, wenn wir heute nicht tätig werden, am 30. Juni dieses Jahres auslaufen. Deswegen ist es richtig, dass wir die Dauer dieser Regelung nachher verlängern.
Was würde denn passieren, wenn wir die Geltungsdauer nicht verlängern würden? Dann würde der Bundesgerichtshof eine Vielzahl von weiteren Nichtzulassungsbeschwerden bekommen, und zwar zu vielen Fällen, die keine grundsätzliche Bedeutung haben und deren Streitwert unter 20 000 Euro liegt.
Natürlich kann die Antwort darauf sein, den Bundesgerichtshof besser auszustatten: mit weiteren Senaten, mehr Personal und weiteren Sälen. Aber ich glaube, die entscheidende Frage ist: Was würde das aus dem Bundesgerichtshof machen? Die Frage der Ressourcen kann nicht das Thema sein. Vielmehr ist die Frage: Welchen Charakter hat dann das Gericht noch? Der Charakter würde darin bestehen, dass aus einem Bundesgerichtshof mit einer überschaubaren Zahl von Senaten ein Bundesgerichtshof mit einer unüberschaubaren Zahl an Senaten werden würde, ein Bundesgerichtshof, bei dem dann überwiegend der Gemeinsame Senat die Rechtsprechung übernehmen würde.
Ich glaube, vor dem Hintergrund unseres Ziels einer Einheitlichkeit der Rechtsprechung und einer hohen Qualität sollten wir den Bundesgerichtshof nicht überfordern, sondern ihm das zuweisen, was er als Aufgabe hat, nämlich die Einheitlichkeit der Rechtsprechung sicherzustellen und dafür zu sorgen, dass wir auch in der obergerichtlichen Rechtsprechung eine hohe Qualität haben. Das sind wir der Justiz schuldig.
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Meine Damen und Herren, es geht auch um Rechtssicherheit. Es geht um Rechtsfrieden. Beides erreichen wir nicht oder nicht besser, wenn wir drei Instanzen haben. Wir haben in Deutschland eine exzellente Rechtsprechung an den Oberlandesgerichten. Viele Streitigkeiten lassen sich mit befriedigender Wirkung an den Oberlandesgerichten entscheiden. Ich glaube nicht, dass wir bei jeder Rechtsstreitigkeit zwangsläufig zum Bundesgerichtshof gehen müssen. Deswegen ist es richtig, dass wir hier eine gewisse Bremse verstetigen, damit wir deutlich machen, dass der Bundesgerichtshof eben ein besonderes Gericht ist und nur so seinen Aufgaben gerecht werden kann.
Ja, es ist etwas – wie soll ich es ausdrücken? – befremdlich, dass wir nun tatsächlich zum wiederholten Male die Geltungsdauer dieser Streitwertgrenze um eine geraume Zeit verlängern. Wir als Gesetzgeber haben die Aufgabe, in den nächsten eineinhalb Jahren im Rahmen einer Reform der ZPO diese Frage zu verstetigen. Wir müssen über die Frage reden, ob Berufungszurückweisungen am Oberlandesgericht tatsächlich ohne Begründung zulässig sind. Wir müssen darüber reden, ob wir die Höhe des Streitwerts von 20 000 Euro, einer Zahl, die übrigens noch aus dem Jahr 2001 stammt, nicht dynamisieren und den Bundesgerichtshof durch einen höheren Betrag weiterhin von Fällen entlasten. Wir müssen auch darüber sprechen, wie wir durch Digitalisierung unsere Justiz für die Anforderungen des digitalen Rechtsverkehrs fit machen. Das sind die Themen, über die wir sprechen müssen.
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Abschließend möchte ich mich auf einen Punkt konzentrieren, der mir wichtig erscheint. Wir reden heute über ein Spezialgebiet aus der Justiz. Aber insgesamt haben wir die Aufgabe, dass wir die Rechtsprechung in Deutschland nicht schlechtreden sollten und dass wir denjenigen entgegentreten, die sagen: Es wird in diesem Land nicht Recht und Gesetz vollzogen. – Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben eine erstklassig arbeitende Justiz. Wir haben Richter und Staatsanwälte, die sich für diesen Rechtsstaat engagieren. Hinter ihnen stehen wir. Mit der heutigen Entscheidung geben wir unserer Justiz ein Stück mehr Rechtssicherheit und drücken dem Bundesgerichtshof unsere Wertschätzung aus. Deswegen bitte ich um Zustimmung zu diesem Gesetz.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Als Nächstes für die FDP-Fraktion die Kollegin Katrin Helling-Plahr.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wäre nicht verantwortlich, die Regelung der Beschränkung der Zulässigkeit von Nichtzulassungsbeschwerden zum Bundesgerichtshof auf Revisionsverfahren mit einem Beschwerdewert von über 20 000 Euro jetzt zum 30. Juni auslaufen zu lassen und den BGH dann in drei Wochen mit einer entsprechend befürchteten Nichtzulassungsbeschwerdeflut lahmzulegen. So weit sind wir uns einig.
Aber um aus der Sachverständigenanhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz zu zitieren: „Die Streitwertgrenze stellt im Konzept des Revisionsrechts eine Anomalie dar“. „Den Zugang zu dem der Wahrung des Rechts dienenden Revisionsgericht von einer mehr oder weniger willkürlich gezogenen Wertgrenze abhängig zu machen, ist im Grunde eines Rechtsstaats unwürdig.“ So die Professoren Heinze und Greger.
Es kann und darf deshalb nicht sein, dass wir die fünfte Verlängerung der als Übergangsregelung geschaffenen Streitwertgrenze hier beschließen und dann in den nächsten eineinhalb Jahren in GroKo-Manier wieder nichts geschieht.
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Die Kollegen der Koalitionsfraktionen haben schließlich schon im Rahmen der vorherigen Verlängerung der Regelung im Jahr 2016 angekündigt, dies sei die letzte Verlängerung; man müsse grundsätzlich debattieren. Nun stehen wir wieder hier.
Wiederholt und vor Jahren schon hat der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz eine Analyse der Belastungssituation am Bundesgerichtshof gefordert. Nichts ist geschehen.
Nun begründen Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU und SPD, den Antrag schon wieder damit, Sie wollten die Entwicklung der Geschäftsbelastung des BGH beobachten. Mir fehlt der Glaube, dass nun alles anders wird.
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Aber nun gut, machen wir den Lackmustest. Wir haben einen Entschließungsantrag vorgelegt und wollen mit Ihnen gemeinsam beschließen, dass die Arbeitsbelastung des Bundesgerichtshofs evaluiert, dem Rechtsausschuss regelmäßig berichtet wird und dass eine Kommission eingesetzt wird, die sich mit entsprechenden Reformen der Zivilprozessordnung befasst. Stimmen Sie zu? Es ist wahrlich nicht aufwendig. Wenn eine entsprechende Arbeitsgruppe ohnehin geplant ist, wie Sie sagen, Herr Kollege Fechner, dann ist es ja auch kein Problem, unserem Entschließungsantrag heute zuzustimmen.
Wir müssen nämlich dringend reden. Eine Regelung der Streitwertgrenze gehört nicht in dem Einführungsgesetz der ZPO versteckt. Das ist intransparent. Die Ermöglichung von Entscheidungen im Beschlussweg ohne mündliche Verhandlungen, von Zurückweisungsbeschlüssen ohne Begründung schafft nur vermeintlich höhere Effizienz der Justiz. Das ist kurzsichtig. Wir brauchen eine bessere Akzeptanz der Entscheidungen auch in unteren Instanzen.
Wir müssen Rechtsprechung für die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbarer machen. Wieso scheuen Sie eine personelle Aufstockung des BGH bzw. einen 13. Senat wirklich? Nur weil dann ein Strafsenat nach Leipzig ziehen müsste?
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zu Ihrem letzten Satz.
Eine Streitwertgrenze versperrt den Weg, sie ist so niedrig wie möglich auszugestalten.
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Lassen Sie uns die ZPO gemeinsam updaten!
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Herzlichen Dank. – Herr Kollege Gauland, ich habe das als Komma verstanden zwischen den beiden. – Als Nächstes für die Fraktion Die Linke die Kollegin Amira Mohamed Ali.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Der eigentliche Grund für diese ganze Debatte heute ist, dass unsere Gerichte nahezu flächendeckend seit Jahren viel zu schlecht ausgestattet sind.
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Die Richterinnen und Richter sind überlastet; die Verfahren dauern zu lange.
Und nun wollen Sie die Gültigkeitsdauer eines Gesetzes verlängern, das den Bundesgerichtshof entlasten soll, indem dort im Wesentlichen nur Fälle mit einem Streitwert von mindestens 20 000 Euro zugelassen werden.
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Das bedeutet, dass Menschen ein Rechtsweg abgeschnitten wird, auch den Menschen, die nicht viel Geld haben und für die wenige Tausend Euro schon ein Vermögen sind.
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Dieses Gesetz wurde vor einigen Jahren befristet eingeführt. Seither wird es immer wieder verlängert, mit der Begründung, man müsse noch evaluieren und herausfinden, ob es wirklich etwas bringt. Und jetzt ist es wieder so weit. Die Befristung läuft Ende dieses Monats aus. Das Gesetz soll für weitere anderthalb Jahre verlängert werden. Die Linke lehnt diese Verlängerung ab.
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Sie evaluieren jetzt schon seit 2011. Sie haben nach wie vor kein Konzept dafür. Ihr neues Argument der Kommission, die Sie einsetzen wollen, wirkt wie ein Notnagel. Außerdem: Durch dieses Gesetz entstehen einige Verfahren auch erst, nämlich die über die Höhe des Streitwerts. Aber am wichtigsten: Die Linke ist nicht der Meinung, dass alles unter 20 000 Euro Streitwert nicht den vollen Instanzenzug verdient.
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Gerade gestern war ich bei einer Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung zu Gast. Die Schuldnerberater berichten von Fällen, in denen Menschen wegen viel geringerer Beträge als dieser Wertgrenze in die Schuldenfalle, in Existenznot, in völlige Verzweiflung geraten. Genau diese Menschen haben auch ein Recht auf alle Instanzen.
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Einen wesentlichen Faktor, der zur Überlastung unseres Bundesgerichtshofs führt, könnte man anders abstellen, indem man § 522 ZPO abändert bzw. die Reform von 2011 zurücknimmt. Damals wurde eingeführt, dass die Berufungsgerichte ohne eine mündliche Verhandlung oder ausführliche Begründung die Revision zum Bundesgerichtshof als „offensichtlich unbegründet“ nicht zulassen können. Das führte dazu, dass es Unmengen von Nichtzulassungsbeschwerden gibt, mit denen der BGH sich befassen muss. Es ist doch klar, dass die Menschen damit nicht zufrieden sind, wenn sie so abgespeist werden.
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Die Zahlen sprechen Bände: etwa 1 000 neue Nichtzulassungsbeschwerden pro Jahr beim BGH, nur etwa 3 Prozent davon erfolgreich. Meine Erfahrung als Rechtsanwältin sagt mir: Würden die Gerichte in einer mündlichen Verhandlung erklären, weshalb sie die Anrufung des Bundesgerichtshofs nicht zulassen, würde das die Akzeptanz der Gerichtsentscheidungen erhöhen und viele unnötige Verfahren verhindern.
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Kolleginnen und Kollegen von der Regierung, die falsche Antwort auf die Überlastung der Gerichte ist es, Menschen den Rechtsweg abzuschneiden. Wenn Sie die Situation verbessern wollen, müssen Sie unsere Justiz besser ausstatten und das Recht auf mündliche Verhandlung stärken. Das schafft Vertrauen in unseren Rechtsstaat, und dieses Vertrauen ist wichtiger denn je.
Danke schön.
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Herzlichen Dank, Frau Kollegin Mohamed Ali. – Als Nächstes für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Dr. Manuela Rottmann.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Dr. Fechner, ich freue mich sehr, dass Sie, nachdem Sie so zerknirscht und unglücklich geguckt haben, als wir gesagt haben: „Nein, wir lassen das Thema nicht schon wieder wie in der letzten Sitzungswoche ohne Debatte durchlaufen“, und „Nein, wir wollen sogar eine Anhörung dazu durchsetzen“, heute wieder fröhlich sind. Warum haben wir das gemacht? Der Rechtsstaat wurde wieder beschworen; das ist der Slogan dieser Legislaturperiode.
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Man kann dem Rechtsstaat auf zweierlei Art und Weise schaden. Man kann ihn immer nur dann im Mund führen, wenn man ihn eigentlich missbraucht, um Bürgerrechte abzuräumen; so macht es die CSU. Oder man kann ihn verlottern lassen.
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Das kann man machen, indem man den Rechtsanwendern undurchdachte Last-Minute-Gesetze vor die Füße wirft, die in der Praxis mehr Probleme schaffen als sie lösen, indem man versäumt, das Verfahrensrecht up to date zu halten im Hinblick auf die sich immer stärker ändernden Anforderungen, oder indem man über Jahrzehnte mit Notlösungen arbeitet. Dass der Gesetzgeber sich mit Sorgfalt und mit Engagement und auch um diese Uhrzeit um das Verfahrensrecht kümmert, das ist viel mehr wert als die Werbekampagnen, die Sie geplant haben. Daran erkennen die Bürger, dass dieser Rechtsstaat für sie da ist.
({2})
Das ewige Provisorium der Wertgrenze soll also wieder verlängert werden. Ich kann sagen: In den vergangenen Jahren hätten Sie genug Zeit und auch Anlass gehabt, über einen modernen Weg der Reform des Zivilverfahrensrechts gründlich nachzudenken; denn, Herr Dr. Ullrich, es ist nicht alles so rosig, wie Sie es beschreiben. Die Eingangszahlen in der ersten Instanz in den Zivilgerichten gehen seit zwanzig Jahren kontinuierlich und drastisch zurück. Wir wissen gar nicht, warum. Wir kennen die Ursachen nicht. Wir wissen nicht, ob es andere Konfliktlösungsmechanismen gibt, die funktionieren, oder ob sich die Menschen tatsächlich von der Justiz abwenden, weil sie ihnen zu teuer, zu aufwendig, zu kompliziert geworden ist. Gleichzeitig ist trotz Ihrer 20 000-Euro-Wertgrenze die Belastung des BGH durch Nichtzulassungsbeschwerden ja hoch geblieben.
Also: Wir hatten eine Anhörung. Wir hatten ein einhelliges Ergebnis in einem Punkt. Wissenschaftler und Praktiker waren sich einig, dass man § 522 Absätze 2 und 3 ZPO streichen sollte. Das heißt, dass es keine Zurückweisung der Berufung mehr gibt ohne mündliche Verhandlung. Da haben wir ein Ergebnis. Das könnten wir jetzt mal umsetzen. Das wollen Sie wieder vertagen, wollen eine Kommission.
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Wir haben aber auch viele unterschiedliche Lösungsvorschläge, zu denen es noch keinen Konsens gibt und zu denen wir eine Abwägung und Prüfung brauchen.
Die Regierungsfraktionen versprechen uns jetzt wieder eine Kommission – eine Bund-Länder-Kommission. Die gab es bereits zu diesem Thema. Es hat sich aber nichts geändert. Wir sind am selben Punkt wie vor der letzten Verlängerung und vor der vorletzten und vor der vorvorletzten und vor der vorvorvorletzten. Ich wette, dass wir Ende 2019 wieder an genau diesem Punkt sein werden.
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Wir begrüßen daher ausdrücklich den Antrag der FDP, ein konkretes Verfahren zu schaffen; wir schließen uns diesem Antrag an. Wenn Sie es mit dem Rechtsstaat ernst meinen, dann unterstützen auch Sie ihn.
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Herzlichen Dank. – Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kollegen Professor Dr. Heribert Hirte das Wort.
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Lieber Nachtwächter!
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Herr Kollege, ich nehme das als Kompliment.
Sie haben heute Morgen schon angekündigt, dass Sie eigentlich nicht mehr kommen wollten. Daran, dass Sie doch kommen müssen, haben wir den ganzen Tag gearbeitet. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Fechner, Sie haben es in Ihrer Rede zur ersten Lesung dieses Gesetzentwurfs so schön gesagt:
Wer recht hat, muss auch recht bekommen, und das schnell und kostengünstig.
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Das treibt uns hier alle gemeinsam um. Deshalb haben wir in unserer Koalitionsvereinbarung auch einen „Pakt für den Rechtsstaat“ verabredet, an dem wir arbeiten. Dabei müssen wir insbesondere die Länder – das möchte ich bei dieser Gelegenheit betonen; wir haben das schon heute Morgen einmal in einem anderen Zusammenhang gesagt – mit ins Boot ziehen.
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– Richtig, gestern Morgen. Ich hatte die Uhr jetzt nicht ganz so genau im Kopf; sie ist nämlich hinter mir.
Nein, die ist auch vor Ihnen, Herr Kollege. Wenn Sie nach vorne gucken, sehen Sie sie.
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Frau Kollegin Rottmann, Sie haben die Frage gestellt, warum die Eingangszahlen bei den unteren Gerichten zurückgehen, und behauptet, darauf gebe es keine Antwort. Doch, darauf gibt es eine Antwort. Eine Antwort ist nämlich das Internet. Die Menschen haben gerade bei kleinen Streitigkeiten in einem deutlich höheren Maße als früher Zugang zum Recht, und sie führen einfache Rechtsstreitigkeiten nicht mehr, wohl aber komplexe Streitigkeiten. Das sind die, die zum BGH gehen. Das ist dann auch einer der Gründe, warum wir hier eine Diskussion darüber haben, ob die Wertgrenze für die Nichtzulassungsbeschwerde noch einmal befristet verlängert werden soll.
Um es deutlich zu sagen: Ich würde mir wünschen, wir müssten über keine Grenzen nachdenken und jeder könnte unbegrenzt vor den Gerichten klagen. Aber wir haben Ressourcen, die begrenzt sind, und deshalb geht das so nicht.
Noch richtiger und wichtiger wäre es, wenn wir nur bei einer einzigen Instanz bleiben könnten, sodass die erste Entscheidung die richtige Entscheidung ist. Denn jede Berufung, jede Revision kostet zusätzliches Geld für die Parteien, kostet Zeit, und eine Partei muss auf die richtige Entscheidung, die vielleicht auch nur vermeintlich richtige Entscheidung, länger warten.
Weil die zweite Instanz auch verfassungsrechtlich unter dem Gesichtspunkt der Rechtsweggarantie als Rechtsschutzinstrument nicht zwingend geboten ist – der Kollege Ernst von den Linken ist nicht da; mit ihm habe ich immer wieder darüber gestritten –, habe ich auch im Zusammenhang mit TTIP und CETA gesagt: Wir brauchen nicht zwingend eine zweite Instanz. Wir brauchen eine richtige Entscheidung. Deshalb – weil wir eine Rechtsschutzgarantie nur in Bezug auf eine Instanz haben – kann auch nicht davon die Rede sein, dass die Grenze, um die es hier geht, eine willkürliche Grenze ist; schließlich mussten wir gerade diese zweite Instanz nicht einräumen.
In der Tat, wenn wir uns vor Augen führen, dass 10 Prozent der Nichtzulassungsbeschwerden erfolgreich sind – theoretisch könnte das auch bei den Beschwerden unterhalb dieser Ebene der Fall sein –, dann sollten wir über die Frage nachdenken – mit Blick auf den Antrag der Grünen sage ich, darüber werden wir auch nachdenken –, ob es irgendwelche Alternativen gibt, um sozusagen dieses Restproblem des fehlenden Rechtsschutzes zu lösen. Ein Problem gehen wir gerade an: Das ist die Musterfeststellungsklage. Denn da geht es natürlich um die Frage, wie in vergleichbaren Fällen von grundsätzlicher Bedeutung Recht durch die Instanzen besser gewährleistet werden kann.
Ich will noch zwei weitere Punkte nennen, über die man nachdenken könnte. Kostenregelungen könnten ein Ansatz sein – der Kollege hat das eben schon angesprochen –, dass man etwa dann, wenn man die jetzige Wertgrenze nicht beibehalten möchte, sagt: Ein Mindeststreitwert von 20 000 Euro ist kostenrelevant. Man kann auch über die Frage nachdenken, ob der Streitwert isoliert für die Revisionszulassung im Hinblick auf andere, parallele Verfahren nach oben gesetzt werden kann. Insofern: Möglichkeiten gibt es. Ich bin am Ende.
Vielen Dank. – Vier Sekunden schenke ich Ihnen.
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Ich danke für Ihren Beitrag. – Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes, betreffend die Einführung der Zivilprozessordnung. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/2500, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/1686 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, FDP und AfD gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Fraktion der Grünen der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann stelle ich fest, dass mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, AfD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Gesetzentwurf angenommen ist.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/2561. Wer stimmt für diese Entschließung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Entschließungsantrag mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von FDP und Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung von Linken und AfD abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/2562. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Linken bei Enthaltung der Fraktion der AfD abgelehnt.
Schönen guten Morgen, Herr Präsident! Schönen guten Morgen, meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jahr für Jahr werden mehr als 170 000 Menschen so krank, dass sie nicht mehr oder nur noch eingeschränkt arbeiten können und sie eine Erwerbsminderungsrente beantragen müssen. Vor 20 Jahren mussten die meisten von ihnen wegen Rückenschäden oder kaputten Knien frühzeitig in die Rente gehen. Heute lautet bei fast jeder zweiten Erwerbsminderungsrente die Diagnose: Burn-out oder andere psychische Probleme.
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Deshalb, liebe Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber – wenn Sie das hören –: Jede Erwerbsminderungsrente aufgrund von Erwerbsarbeit ist eine zu viel. Arbeit darf nicht krank machen.
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Ihre Beschäftigten brauchen Pausen, Urlaub, existenzsichernde Löhne, gute Arbeitsbedingungen und mehr freie Zeit für sich selbst, ihre Familien und für ihre Gesundheit.
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– Genau.
Meine Damen und Herren, wir dürfen die Betroffenen, die zu krank sind, um einer Erwerbsarbeit nachzugehen, nicht im Regen stehen lassen. Wer krank wird, darf nicht mit Armut bestraft werden.
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Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, seit 2014 hat die Koalition das Risiko, wegen Krankheit in Armut zu enden, verringert –
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okay, erkenne ich an. Aber bis dato haben viele Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner nichts oder nur sehr wenig davon. Denn zwischen 2014 und 2016 sind die vollen Erwerbsminderungsrenten der jeweils neu in eine Erwerbsminderungsrente Gegangenen zwar um 72 Euro im Schnitt gestiegen, aber damit liegen die Betroffenen mit durchschnittlichen Renten von nur 736 Euro immer noch 48 Euro unter der Grundsicherungsschwelle. Sie werden also weiter aufs Sozialamt gehen müssen. Und das bedeutet für viele Menschen eben keinerlei Verbesserung, weil die 72 Euro höherer Rente voll auf die Grundsicherung bei Erwerbsminderung angerechnet werden.
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Das heißt, sie kommen überhaupt nicht bei ihnen an. Und darum, liebe Koalition, sage ich Ihnen: zu kurz gesprungen!
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Ihre Reform ist zutiefst ungerecht. Warum? Die Jahrgänge, die vor 2014 in die EM-Rente gehen mussten, haben von alledem keinen einzigen Cent gesehen. Das sind sage und schreibe 1,8 Millionen Menschen, die mit lebenslangen Abschlägen von 10,8 Prozent bestraft werden.
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Das bedeutet für viele knapp 90 Euro weniger im Monat, und das ist viel Geld.
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Das alles gilt lebenslang; denn durchschnittlich sind die Betroffenen bei ihrem Eintritt in die Erwerbsminderungsrente knapp 52 Jahre alt.
Deshalb haben wir sofort nach der Bundestagswahl unseren Antrag vorgelegt. Ich sage: Unterstützen Sie ihn, und die Altersarmut von Erwerbsminderungsrentnerinnen und ‑rentnern würde endlich wirksam und deutlich bekämpft werden.
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Meine Damen und Herren, Die Linke fordert erstens, dass die systemwidrigen und nicht zu begründenden Abschläge von meist 10,8 Prozent für nahezu alle Betroffenen abgeschafft werden. Alternativ dazu könnte man diese Ungerechtigkeit bei den bestehenden EM-Renten auch über einen pauschalen Aufschlag lösen – genauso wie bei der sogenannten Mütterrente. Auch das wäre für uns eine denkbare Lösung.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der öffentlichen Sachverständigenanhörung im Mai 2017 sagte die Caritas, die Abschläge seien vielleicht gerechtfertigt, wenn man freiwillig frühzeitig in Rente gehen wolle, aber das sei bei Erwerbsminderungsrentnern, die ja zu krank zum Arbeiten seien, definitiv nicht der Fall. Stimmt! Niemand wird freiwillig krank.
Deswegen fordern wir Linken zweitens, dass die sogenannte Zurechnungszeit in einem Schritt bis 65 Jahre bzw. bis zur jeweils gültigen Regelaltersgrenze verlängert wird.
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Die Zurechnungszeit liegt derzeit bei 62 Jahren und drei Monaten. Bei der Rentenberechnung werden Erwerbsminderungsrentner dann so gestellt, als hätten sie bis zu diesem Alter weiter auf ihrem bisher erreichten durchschnittlichen Verdienstniveau gearbeitet. So würden bestehende Renten durch die Abschaffung der Abschläge im Schnitt um rund 90 Euro angehoben werden.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zu Ihrem letzten Satz.
Eine neue Rente stiege durch die zusätzliche Anhebung der Zurechnungszeit, die 65 Euro netto brächte, durchschnittlich sogar um mindestens 155 Euro. Das wäre gerecht. Das würde vielen zumindest den Gang zum Sozialamt ersparen, und das wäre ein echter Beitrag gegen Altersarmut.
Herzlichen Dank. Schönen guten Morgen!
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Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Max Straubinger.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Linke-Fraktion hat wieder einen Antrag zur Verbesserung der Erwerbsminderungsrente gestellt. Das ist im Grundsatz richtig; daran gibt es überhaupt nichts zu deuteln. Nur leider Gottes bleibt dieser Antrag hinter dem zurück, was die Koalition in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart hat.
({0})
Das kommt davon, wenn man entweder nicht abwarten kann oder nur Aktionismus tätigen will; aber das will ich Ihnen nicht unterstellen.
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Wir haben die gleiche Zielrichtung.
Mit der Erwerbsminderungsrente – das möchte ich auch feststellen – ist es nicht so, wie Sie darlegen wollen, Herr Birkwald, dass wir die Leute im Regen stehen lassen, sondern das ist eine der wichtigsten sozialen Absicherungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für die Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung, auch wenn sie nicht immer den Lebensstandard sichern kann. Aber es ist grundsätzlich auch bei der Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung so, dass sie nicht lebensstandardsichernd ist,
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sondern dass der Versicherte zusätzliche Vorsorge zu treffen hat. Deshalb ist das Grundprinzip, dass wir die gesetzliche Rentenversicherung als Grundversorgung und dann die betriebliche Altersversorgung und die private Vorsorge zusätzlich zu sehen haben. Das gilt auch für die Erwerbsminderungsrente; denn es gibt auch noch die zusätzlichen Angebote der privaten Versicherungswirtschaft.
Aber nichtsdestotrotz hat sich die Koalition hier natürlich wiederum eine Verbesserung vorgenommen. Herr Kollege Birkwald hat darauf hingewiesen, dass wir in der vergangenen Legislaturperiode die Zurechnungszeit bereits verbessert haben und damit eine höhere Erwerbsminderungsrente ermöglicht haben.
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Ich gebe zu: Das ist nicht genug angesichts dessen, dass rund 10 bis 12 Prozent der Beschäftigten aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigung frühzeitig in Rente gehen müssen und letztendlich Grundsicherungsbedarf haben. Deshalb wollen wir da Verbesserungen schaffen. Wir werden – die Koalition hat sich dazu verpflichtet – die Zurechnungszeit erneut verändern, und zwar auf einen Schlag auf 65 Jahre und 8 Monate erhöhen. Das bedeutet eine deutliche Verbesserung für die Erwerbsunfähigkeitsrentnerinnen und ‑rentner.
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– Das geht weiter als Ihr Antrag, Herr Birkwald.
Dem Zweiten, das Sie fordern, nämlich auf die Abschläge zu verzichten, können wir nicht nähertreten. Das muss man im Zusammenhang sehen. Das betrifft auch die Abschläge bei der Altersrente. Wir werden dahin gehend sowieso eine gute Symbiose finden. Denn die Abschläge bei frühzeitiger Erwerbsunfähigkeit betragen ja im Höchstfall 10,8 Prozent, während bei vorzeitiger Altersgeldinanspruchnahme zukünftig bei der Rente mit 67 die Abschläge 14,4 Prozent betragen werden. Natürlich ist es gerechtfertigt, aufgrund längeren Rentenbezugs auch entsprechende Abschläge in Kauf zu nehmen. Deshalb, glaube ich, ist es richtig, dies hier so zu tätigen.
Eines muss man schon richtigstellen, Herr Kollege Birkwald: Nicht alle 1,8 Millionen Erwerbsunfähigkeitsrentner haben Abschläge in Kauf zu nehmen.
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– Nein, nein, Sie haben gesagt: 1,8 Millionen Erwerbsunfähigkeitsrentner haben Abschläge. – Und das stimmt nicht.
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– Nein, nein, Sie haben es so gesagt; ich habe da gut zugehört. – Bis 1995/96, glaube ich, waren keine Abschläge feststellbar.
Deshalb lohnt sich durchaus eine Zeitreise und ein Blick auf die Inanspruchnahme der Erwerbsunfähigkeitsrenten. Es ist ja schon bemerkenswert, dass zum Beispiel 1995 184 000 Männer Erwerbsunfähigkeitsrente in Anspruch genommen haben – nehmen mussten, unterstelle ich. 2016 waren es nur 86 000 Männer, die Erwerbsunfähigkeitsrente in Anspruch genommen haben oder nehmen mussten.
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Das mag sicherlich den besseren Rehamöglichkeiten und dergleichen mehr geschuldet sein, auch unserem Ansinnen, die Menschen möglichst lange in der Erwerbstätigkeit zu halten und dementsprechend Unterstützungsleistungen zu geben. Trotzdem mag es in der Vergangenheit, zumindest bis 1995, etwas verführerisch gewesen sein, lieber in Erwerbsunfähigkeitsrente zu gehen – das ist wie vorgezogenes Altersruhegeld in Anspruch zu nehmen – und vielleicht Abschläge in Kauf zu nehmen. Das muss man in diesem Zusammenhang vielleicht auch sehen, Herr Kollege Birkwald, und ich würde Ihnen nahelegen, dies bei den kommenden Beratungen mit aufzunehmen.
In diesem Sinne herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Und ich spare uns eine Minute.
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Herr Kollege Straubinger, ich finde das vorbildlich. Man muss die Redezeiten auch nicht ausschöpfen. Ich bedanke mich herzlich bei Ihnen. – Als Nächstes für die AfD-Fraktion der Kollege Jörg Schneider.
({0})
Herr Präsident! Guten Morgen, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Entwicklung der letzten 20 Jahre der Erwerbsminderungsrente ist nicht unbedingt eine Erfolgsgeschichte. Der Antrag der Linken enthält da zwei sehr markante Eckwerte. Im Jahr 2000 erhielt ein Neurentner bei vollständiger Erwerbsminderung eine Rente von durchschnittlich 738 Euro, im Jahr 2016 – ich habe eine etwas andere Zahl gefunden als Sie – 763 Euro. Das sind gerade einmal 25 Euro mehr; das sind 4 Prozent. Wenn ich da einmal die Teuerungsrate dagegensetze, stelle ich fest: Wer 2018 erstmalig Erwerbsminderungsrentner wurde, hatte gegenüber 2000 einen Kaufkraftverlust von ungefähr einem Fünftel hinzunehmen.
Da die Großkoalitionäre immer von den doppelten Haltelinien bei der Rente sprechen: Zumindest die Haltelinie Rentenniveau haben Sie ziemlich klar gerissen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({0})
In der letzten Legislatur gab es das sogenannte – jetzt muss ich ablesen – Leistungsverbesserungsgesetz; viele Buchstaben für wenig Leistungsverbesserung. Herr Straubinger hat es ja eben schon erwähnt. Man möchte jetzt zumindest die schrittweise Erhöhung der Anrechnungszeiten verändern.
Bisher war es tatsächlich so geplant: Wer 2024 erstmalig Erwerbsminderungsrente bekommt, bei dem wird sie so berechnet, als ob er bis zum 65. Lebensjahr gearbeitet hätte. Wer sie in diesem Jahr erstmalig bekommt, hätte Pech gehabt; da werden praktisch nur die Arbeitszeiten bis zum 62. Lebensjahr anerkannt. Wenn Sie das in einer Stufe verändern wollen, dann ist das schon mal ein Schritt in die richtige Richtung.
Rückwirkend betrachtet gibt es dann natürlich viele, denen man diese Erwerbszeiten nicht angerechnet hat. Gerade in Richtung der SPD möchte ich dazu fragen: Ist das das, was Sie mit sozialer Gerechtigkeit meinen, meine sehr verehrten Damen und Herren?
({1})
– Danke schön. Die sind ein bisschen müde; das müssen Sie denen nachsehen.
Wir befürworten den Antrag der Linken. Allerdings: Er geht uns in der Tat nicht weit genug. Wir haben eben von 763 Euro Erwerbsminderungsrente gesprochen, die es gibt. 763 Euro! Herr Straubinger, Sie sprachen davon, dass es eigentlich nur eine Basis wäre, dass es ja noch zusätzliche Vermögenswerte, Einkünfte gäbe. Wissen Sie: Wer 763 Euro Erwerbsminderungsrente erhält, der hatte in seinem Leben vermutlich nicht viele Chancen, großes Vermögen aufzubauen. Bei dem ist vielleicht noch nicht einmal die selbst genutzte Zwei-Zimmer-Eigentumswohnung abbezahlt.
Sie schicken diese Leute zu einem großen Teil direkt in die Grundsicherung.
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Die kriegen ein paar Euro an Aufstockungsleistung und werden dann genauso behandelt wie derjenige, der noch nie einen Cent in unsere Sozialversicherung eingezahlt hat, der noch nie einen Tag in diesem Land gearbeitet hat. Und Verzeihung: Ich finde, Arbeitnehmer, die erwerbsunfähig geworden sind, so zu behandeln, ist eine Schande für dieses Land, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Sinnvoll wäre unserer Meinung nach eine völlige Neuausrichtung der Erwerbsminderungsrente im Sinne von Ludwig Erhard. Soziale Marktwirtschaft bedeutet eben auch, dass derjenige, der nicht mehr arbeiten kann, tatsächlich ein Auskommen hat, von dem er vernünftig leben kann.
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– Über die Zahlen können wir uns dann gerne im Ausschuss unterhalten.
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Ich kann Ihnen dazu aber ganz klar etwas sagen. – Ist das eine Zwischenfrage oder geht das von meiner Zeit ab?
Herr Kollege, das war ein Zwischenruf, keine Zwischenfrage. Das geht selbstverständlich von Ihrer Zeit ab.
Gut, ich gehe natürlich trotzdem gerne auf den Zwischenruf ein, Herr Kurth. Wir haben immer gesagt – das können Sie auch in unserem Programm nachlesen –: Arbeit muss sich lohnen. Das heißt: Der, der gearbeitet hat, muss im Endeffekt mehr rausbekommen als der, der keine Arbeit geleistet hat.
({0})
Ich denke mir, wir sollten das Thema Erwerbsminderungsrente nicht auf die leichte Schulter nehmen. Das kann jedem von uns passieren. Das kann unseren Familienmitgliedern passieren, das kann auch den Millionen Menschen passieren, die uns als Wähler ihr Vertrauen ausgesprochen haben. Das sind Menschen, die jeden Tag arbeiten gehen, die jeden Tag Steuern bezahlen, die in die Sozialversicherungssysteme einbezahlen, und die eben auch jeden Tag durch Unfall oder Krankheit in den Zustand der Erwerbsminderung kommen können und dann auf diese Rente angewiesen sind.
Ich denke, wir sollten diese Menschen nicht enttäuschen. Wir sollten unsere sozialen Sicherungssysteme in die Richtung weiterentwickeln, dass sie diesen Namen auch wirklich verdienen, dass sie wirklich soziale Sicherheit für die Menschen bieten, die in diesem Land hart arbeiten.
Ich danke Ihnen.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Schneider. – Als Nächstes für die SPD-Fraktion der Kollege Michael Gerdes.
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Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So richtig ich es finde, auf die prekäre Situation von Erwerbsgeminderten aufmerksam zu machen, so wenig zukunftsweisend finde ich den vorliegenden Antrag der Linksfraktion. Er enthält die bekannten Forderungen: Abschaffung der Abschläge, schnellere Verlängerung von Zurechnungszeiten sowie Ausweitung der Verbesserungen auf die sogenannten Bestandsrentner. Dabei geht es vor allem darum, Erwerbstätige vor dem Risiko der Erwerbsminderung zu schützen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in den zurückliegenden Wahlperioden gleich zweimal Leistungsverbesserungen bei den Erwerbsminderungsrenten auf den Weg gebracht. Das war absolut notwendig, wie der Blick auf die durchschnittlichen Rentenzahlbeträge beweist. Bezieher einer Erwerbsminderungsrente sind deutlich öfter von Grundsicherungsleistungen abhängig als Altersrentner.
Der Anspruch an unser Sozialversicherungssystem muss ein anderer sein. Wir wollen Altersarmut verhindern. Trotz der erwähnten Gesetzesinitiativen von 2014 und 2017 waren wir als SPD-Fraktion immer der Meinung, dass weitere Schritte im Sinne der Betroffenen kommen müssen. Nicht von ungefähr steht die Erwerbsminderungsrente auch wieder im Koalitionsvertrag.
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Wie schon gerade gehört, haben sich SPD und Union darauf verständigt, die Anhebung der Zurechnungszeiten zu beschleunigen, indem wir das jetzt vorgesehene Alter von 62 Jahren und drei Monaten in einem Schritt auf 65 Jahre und acht Monate anheben. Danach wird die Zurechnungszeit in weiteren Monatsschritten entsprechend der Anhebung der Regelaltersgrenze auf das Alter 67 angehoben.
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Herr Kollege Birkwald, die Vorbereitungen für dieses Gesetz sind unter der Federführung unseres Sozialministers Hubertus Heil bereits angelaufen. Der Gesetzentwurf soll möglichst kurzfristig in den Bundestag eingebracht werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus meiner Sicht braucht die Erwerbsminderungsrente eine Generalüberholung in Richtung Prävention. Das haben verschiedene Experten bei der Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales vor genau einem Jahr bestätigt. Mit der kontrovers diskutierten Abschaffung der Abschläge würden sich zwar die Zahlbeträge für Erwerbsminderungsrentner erhöhen, das Problem der nichtauskömmlichen Rente lösen wir damit aber nur bedingt.
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– Ja. – Gute Arbeit schützt vor Armut. Menschen mit verminderter Erwerbsfähigkeit brauchen bessere Bedingungen bei der Wiedereingliederung ins Berufsleben. Wichtig finde ich, dass wir früher aktiv werden und nicht erst, wenn die vorzeitige Verrentung ins Haus steht. Der Grundgedanke lautet: Prävention vor Reha, Reha vor Rente. Dieser Kulturwandel muss sich erst durchsetzen; aber er wird sich für Arbeitgeber, Arbeitnehmer und auch für den Sozialstaat lohnen. Erwerbsminderungsrente sollte die Ultima Ratio sein.
Meine Damen und Herren, in der Realität fehlt es leider nicht nur an Wissen über Rehaleistungen, sondern vor allem an Arbeitsgelegenheiten. Mit Recht wird danach gefragt, wo die Jobs für diejenigen sind, die aufgrund ihrer Krankheit nur drei bis sechs Stunden am Tag arbeitsfähig sind. Wie weit sind die Unternehmen in ihrem Handeln, wenn es um betriebliches Gesundheitsmanagement und Eingliederungshilfen geht? Was tun wir dafür, dass Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung, Erwerbstätige sowie Arbeitgeber bei der betrieblichen Gesundheitsförderung an einem Strang ziehen? Es kommt eben nicht nur auf die Finanzierung von Prävention und Reha an, es muss deutlich mehr sensibilisiert und aufgeklärt werden. Das Ziel heißt, Erwerbstätige vor der Berufsunfähigkeit zu bewahren.
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Auch zum Thema Prävention finden sich im Koalitionsvertrag von SPD und Union Vereinbarungen, die wir abarbeiten werden. In diesem Sinne: Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen noch einen schönen Morgen. In diesem Sinne: Glück auf!
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Gerdes. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir ist mittlerweile klar geworden, warum die linke Seite des Hauses so fröhlich ist. Es wurde in einen Geburtstag hinein gefeiert. Die Kollegin Hajduk hat heute Geburtstag. Ich gratuliere herzlich, es ist zwar kein runder, aber ein halbrunder.
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Als Nächstes für die FDP-Fraktion der Kollege Johannes Vogel.
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Hochverehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
So gehört sich das.
So gehört sich das, wie er zu Recht sagt. – Die Menschen, wir alle, werden immer älter und bleiben immer länger fit. Das ist erst mal eine großartige Nachricht. Aber die Lebenswege sind unterschiedlich – da haben Sie recht, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken –: Bei manchen Menschen spielt die Gesundheit nicht mit, ein Schicksalsschlag kommt, eine Krankheit, von der man sich nie wieder erholt. Deshalb brauchen wir eine starke Erwerbsminderungsrente; das ist völlig richtig. Und natürlich ist klar, dass, wenn die Erwerbsminderungsrente so berechnet wird, als hätte jemand bis zum Renteneintrittsalter einbezahlt, es dann, wenn das Renteneintrittsalter steigt, richtig ist, dass auch die sogenannte Zurechnungszeit erhöht wird und man sie künftig auch aufwachsen lässt, wenn das Renteneintrittsalter weiter bis hin zur Rente mit 67 steigt.
Ich freue mich, dass dieser Wunsch uns hier offenbar alle eint. Das war in den Jamaika-Gesprächen konsentiert – einer der wenigen Punkte, die konsentiert waren –, und es findet sich jetzt im Koalitionsvertrag von Union und SPD. Das ist richtig. Und ich freue mich ernsthaft, dass diese Position hier alle teilen und dass wir das voranbringen.
({0})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ich glaube schon, dass auch bei vorzeitigen Erwerbsminderungsrenten gewisse Abschläge zumutbar sind. Übrigens: Wenn man eine private Berufsunfähigkeitsrente abschließt, schließt man die auch nicht in der vollen Höhe seines Gehaltes ab, sondern mit gewissen Abschlägen. Auch das Verfassungsgericht hat festgestellt, dass diese Abschläge zumutbar sind. Ich glaube, dass sie auch nachvollziehbar und verhältnismäßig sind. Insofern geht Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, natürlich mal wieder erheblich zu weit. Sie lassen wie so oft die notwendige Balance in der Sozialpolitik vermissen.
({1})
– Deshalb überzeugt uns dieser Antrag nicht, lieber Matthias Birkwald.
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Das soll es zu eurem Antrag auch schon gewesen sein.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich an die Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD zu wenden, die hier übrigens mit erheblich besserer Anwesenheit glänzen als die Fraktion, die den Antrag eingebracht hat, lieber Kollege,
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und Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, sagen: Ja, wir brauchen in einer Zeit, in der die Menschen älter werden und länger fit bleiben, starke Erwerbsminderungsrenten. Man kann aber auch noch eine andere Veränderung beobachten: Die Lebenswege entwickeln sich ganz wunderbar unterschiedlich. Der eine arbeitet, seit er 16 ist, der andere promoviert, bis er 35 ist. Auch die Berufe unterscheiden sich. Ist es in einer sich so sehr verändernden Arbeitswelt wirklich noch zeitgemäß, dass wir im Alter alle Menschen über einen Kamm scheren?
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, denkt hier doch komplett und geht eine mutige Modernisierung unseres Rentensystems an! Führt endlich einen vollständig flexiblen Renteneintritt ein, so wie uns das die skandinavischen Länder erfolgreich vormachen! Das wäre eine mutige Reform – anders als das, was ihr in der Rentenpolitik macht. Ihr destabilisiert die gesamten Rentenfinanzen durch eure teuren Mehrausgaben. Werft euer Herz über die Hürde! Das wäre eine vernünftige Reform, die uns voranbringen würde.
Schweden und Norwegen machen uns das doch erfolgreich vor. Da entscheidet jeder selbst, wann er in Rente geht. Wenn man früher geht, kriegt man weniger Rente; wenn man später geht, kriegt man mehr.
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Zuverdienstgrenzen gibt es nicht, Teilrenten sind flexibel möglich. Wozu führt das? Der gesellschaftliche Konflikt über das Rentenalter ist befriedet, alle sind zufrieden, und das Renteneintrittsalter ist im Schnitt auch noch höher als in Deutschland.
Ich würde sagen, das ist ein überzeugendes System. Ein überzeugendes System sollte man übernehmen.
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Deshalb will ich anregen, dass wir, wenn wir über eine Veränderung im Rentensystem reden, nicht mit einer Wünsch-dir-was-Politik der Linken vorgehen, sondern die Gelegenheit wahrnehmen, einen echten Sprung in der Modernisierung unseres Rentensystems zu machen.
Seit Bismarcks Zeiten entscheiden Politiker, wann die Menschen in Rente zu gehen haben. Lassen wir die Menschen das doch in Zukunft ganz einfach selbst entscheiden! Das wäre moderne Politik.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Kollege Vogel. – Als Nächstes für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Markus Kurth.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Vogel, dass Sie jetzt einen Großteil Ihrer Redezeit zum Thema Erwerbsminderungsrente auf Konzepte verwenden, bei denen Leute selbst entscheiden können sollen, wann sie in Rente gehen, finde ich schon ziemlich bemerkenswert; denn gerade bei der Erwerbsminderungsrente entscheidet man eben nicht selbst, sondern ist aufgrund gesundheitlicher Gründe gezwungen, in Rente zu gehen.
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Das macht die gesamte Problematik aus. Darum, finde ich, ist die Frage der Abschläge bei allen Problemen, Herr Straubinger, die sich vielleicht durch falsche Anreize ergeben könnten – man muss das dann durch medizinische Prüfungen korrigieren –, nach wie vor zu diskutieren.
Wir müssen auch mal über Zahlen reden. Sie haben da eine ganze Reihe Zahlen genannt. Sie haben gesagt, dass gar nicht alle 1,8 Millionen Erwerbsminderungsrentner im Bestand zum Beispiel Abschläge hätten erfahren müssen, weil es diese vor 1995 nicht gegeben hätte.
Dann hören Sie mir mal zu: Wir haben in dieser Legislaturperiode schon zwei Kleine Anfragen zum Komplex „Erwerbsminderungsrente“ gestellt. Wir haben einmal die Frage gestellt: Wie viele Neurentnerinnen und Neurentner, die aus der Erwerbsminderungsrente in die Rente gehen, müssen denn Abschläge hinnehmen? Raten Sie mal: Es sind 96 Prozent, also fast alle. Das ist doch die relevante Zahl. Nicht der Rückblick ist relevant.
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Sie haben noch eine weitere Zahl genannt, um den Eindruck zu erwecken, das Problem befinde sich doch eigentlich auf dem Rückzug. Sie haben gesagt, knapp 200 000 Männer seien 1995 in die Erwerbsminderungsrente gegangen, jetzt seien es doch nur noch 100 000 Männer. Das ist richtig, aber es gibt ja auch noch die Frauen, und unsere Kleine Anfrage hat eben auch ergeben, dass der Anteil der Frauen, die in Erwerbsminderungsrente gehen, aufgrund ihrer gestiegenen Erwerbstätigkeit in den letzten Jahren gestiegen ist, sodass wir im Jahr 2016 auch 180 000 Personen hatten, die in die Erwerbsminderungsrente gegangen sind. Das ist mitnichten ein absteigender, sondern relativ stabiler Trend und damit nicht nur ein relevantes rentenpolitisches, sondern auch gesellschaftspolitisches Problem.
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Auf diese Genauigkeit bei den Zahlen sollte man tatsächlich Wert legen. Wir wissen, dass es ganz rechts eine Fraktion gibt, die, wie eben gezeigt, überhaupt keine Zahlen vorzuweisen hat. Das lassen wir einmal dahingestellt sein.
Ich will noch auf unsere zweite Anfrage eingehen. Ich muss trotz vorgerückter Stunde hier noch zwei Zahlenbeispiele nennen, weil sie sehr instruktiv sind. Es geht nämlich darum, dass auch Die Linke in ihrem Antrag nicht berücksichtigt hat, wie man überhaupt den Bezug der Erwerbsminderungsrente vermeidet. Ein entscheidender Punkt ist die Rehabilitation. Diese umfasst Maßnahmen, die stärken, damit man wieder ins Berufsleben zurückkehren kann. Wenn eine sogenannte Rehamaßnahme über die Rentenversicherung durchgeführt wird, dann ist sie überaus erfolgreich.
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Unsere Kleine Anfrage hat ergeben, dass nach einer Rehamaßnahme nur noch 8 Prozent in die Erwerbsminderungsrente gehen und 92 Prozent den Sprung zurück ins Erwerbsleben schaffen. Da müsste man doch meinen: Eine tolle Investition, alle müssen das machen. Aber weniger als die Hälfte derer, die in die Erwerbsminderungsrente gehen, haben überhaupt eine Rehamaßnahme gemacht. Warum? Ein ganz entscheidender Punkt ist doch, dass wir an dieser Stelle offensichtlich eine Schwachstelle haben, dass wir die Prävention und Rehabilitation – dazu findet sich fast nichts in Ihrem Koalitionsvertrag – entscheidend ausbauen müssen. Das ist eine wichtige Stellschraube, und ich wünsche mir, dass wir darüber auch in Zukunft und im Zusammenhang mit Ihrem Gesetzesvorhaben diskutieren werden.
Danke schön.
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Herr Kollege Kurth, herzlichen Dank. – Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Peter Weiß.
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Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es wunderbar, nach Mitternacht im Parlament zu diskutieren. Ich finde, das ist ein wahrer Jungbrunnen für uns Abgeordnete, der uns hoffentlich psychisch wie physisch gesund erhält.
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Dass bei einem so ernstzunehmenden Thema wie der Erwerbsminderungsrente um diese Stunde so viele Kolleginnen und Kollegen hier im Parlament sind, finde ich auch ganz toll und hervorragend, weil es zeigt, wie ernst wir das Thema nehmen. Dass die antragstellende Fraktion mit nur vier Abgeordneten vertreten ist, zeigt aber, dass die Antragsteller das Thema offensichtlich nicht ganz so ernst nehmen.
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Jetzt sind schon viele Zahlen vorgetragen worden. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, um zu verstehen, was wir in der vergangenen Legislaturperiode gemacht haben und in dieser vorhaben, mache ich einfach einen kurzen Rückblick.
Früher sah das Erwerbsminderungsrentenrecht so aus: Es wurde berechnet, welchen Rentenanspruch ich hätte, wenn ich bis zum 55. Lebensjahr gearbeitet hätte. Auf dieser Basis wurde die Erwerbsminderungsrente berechnet. Das war nicht sehr viel.
Dann kam die Reform von Riester. Da hat man gesagt: Wir kalkulieren jetzt mit 10,8 Prozent Abschlägen – das ist ein Thema, das heute schon erörtert worden ist –, rechnen aber künftig bis zum 60. Lebensjahr. Was hätte ich an Rente erreicht, wenn ich bis 60 weitergearbeitet hätte? Mit dieser Erweiterung der Zurechnungszeit – so nennt man das – ist schon einmal ein Drittel dieser Abschläge kompensiert worden.
Letzte Legislaturperiode haben wir beschlossen: Wir verlängern diese Zurechnungszeit bis zum 62. Lebensjahr. Was hätte ich dann an Rentenanspruch erworben? Damit ist noch mal ein Teil dieser Abschläge kompensiert worden.
Aber das Allerentscheidendste – das hat noch keiner erwähnt – ist: Wir haben etwas gemacht, was von keiner anderen Fraktion beantragt worden ist. Wir haben gesagt: Wir schauen künftig, was in den letzten fünf Jahren vor der Erwerbsminderungsrente der beste Verdienst gewesen ist. Denn es ist ja so: An dem Tag, an dem man in Erwerbsminderungsrente geht, ist man meistens schon nicht mehr auf dem Höhepunkt der beruflichen Karriere und des Verdienstes oder schon lange krank, vielleicht auch schon aus dem Erwerbsleben ausgeschieden. Deswegen haben wir bei der Berechnungsmethode darauf geschaut, wie hoch der beste Verdienst in den letzten fünf Jahren war, um von dort aus hochzurechnen. Das war die entscheidende Verbesserung der letzten Legislaturperiode. Das hat uns massiv geholfen, die Erwerbsminderungsrente auch im Durchschnitt wieder zu verbessern.
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Jetzt machen wir in dieser Legislaturperiode mit dem Rentenpaket I, das die Bundesregierung demnächst vorlegen wird, einen weiteren Schritt. Künftig rechnen wir nicht nur bis 62 Jahre, sondern wir berechnen, welchen Rentenanspruch jemand, der beispielsweise schon mit 30 oder 40 Jahren in Erwerbsminderungsrente gehen musste, erworben hätte, wenn er tatsächlich bis 67 Jahre durchgearbeitet hätte. Das wird bei der Verbesserung der Erwerbsminderungsrente noch einmal einen großen Sprung nach vorne geben.
Deswegen, meine sehr geehrten Damen und Herren: Wenn Sie die Reform der letzten Legislaturperiode und das, was wir jetzt vorhaben, zusammennehmen, dann haben wir die Abschläge, die durch die Riester-Reform entstanden sind, deutlich überkompensiert. Ja, wir machen als Große Koalition deutlich: Erwerbsminderungsrentner, Menschen, die nicht mehr können, weil sie krank geworden sind oder einen Unfall hatten, verdienen unsere Solidarität. Wir wollen eine Erwerbsminderungsrente, die ihren Namen verdient und die diesen Menschen Sicherheit gibt. Das ist das Ziel der Politik der Großen Koalition.
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Der Kollege Kurth hat vorhin zu Recht darauf hingewiesen, dass das Entscheidende ist, den Menschen zu helfen, damit möglichst gar nicht die Situation entsteht, in Erwerbsminderungsrente gehen zu müssen. Also: Reha. Wir haben in der letzten Legislaturperiode den Rehadeckel angehoben, also die Ausgaben, die bei der Rentenversicherung für Reha zur Verfügung stehen, verstärkt. Wenn Sie die Rehaeinrichtungen der Rentenversicherung befragen, dann bekommen Sie überall die Antwort: Jawohl, das Rehageschäft läuft wieder. Wir bieten dem, der Reha braucht, Reha an, ausgezahlt aus den Mitteln der Rentenversicherung.
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Vor der Reha steht die Prävention, damit man nicht in Reha gehen muss. Auch das ist vollkommen richtig. Natürlich sind wir im Arbeitsschutz in der Prävention mittlerweile top, aber in Bezug auf psychische Erkrankungen noch nicht. Deshalb braucht unser betriebliches Gesundheitsmanagement eine Stärkung dieses Zweigs, um gerade auf psychische Belastungen im Arbeitsleben einzugehen. Ich glaube, das ist die große Herausforderung, vor der wir in den kommenden Jahren stehen. Ja, wir wollen auch die Prävention im Betrieb stärken, damit Menschen möglichst gesund durch das Arbeitsleben gehen können.
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Dieser Dreiklang – Prävention, Reha und eine gute Erwerbsminderungsrente, wenn es dann leider doch zum Erwerbsminderungsfall kommt – ist unser Programm. Ich glaube, damit können wir uns auch sehen lassen.
Vielen Dank und Ihnen allen, wenn die Debatte zum nächsten Tagesordnungspunkt vorbei ist, einen guten Schlaf heute Nacht.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege Weiß. – Als Nächste für die SPD-Fraktion die Kollegin Angelika Glöckner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vieles wurde schon gesagt. Ich möchte Ihnen aber dennoch meine Ausführungen zur Kenntnis geben. Ich wundere mich über die Äußerungen des Kollegen von der AfD, der so enthusiastisch über die Erwerbsminderungsrente gesprochen hat. In Ihrem Wahlprogramm steht dazu überhaupt nichts, noch nicht einmal das Wort „Erwerbsminderungsrente“.
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Erwerbsminderung oder der Verlust der Arbeitsfähigkeit gehören zu den Armutsrisiken in unserer Gesellschaft. Das gilt insbesondere für jene Menschen, die nicht zusätzlich vorgesorgt haben. Vielfach haben sie das deswegen nicht, weil sie es schlicht nicht konnten. Bezieher und Bezieherinnen von Erwerbsminderungsrenten sind häufig gezwungen – das wurde auch schon gesagt –, ihre mageren Einkünfte durch Grundsicherungsleistungen aufzustocken. Bis zu 500 000 Menschen sind betroffen. Das wissen wir. Und weil uns das bewusst ist, haben wir gehandelt, nämlich in der letzten Wahlperiode, bevor die Sondierungsgespräche waren. Mit dem sogenannten Leistungsverbesserungsgesetz haben wir die Anrechnungszeiten auf 62 Jahre und 3 Monate angehoben. Im Schnitt – das wurde auch schon gesagt – gehen die Menschen mit 52 Jahren in die Erwerbsminderungsrente. Wenn man das einmal hochrechnet, sind das im Schnitt noch einmal 10 Jahre Zurechnung. Sie sind also schon ein Stück weit bessergestellt; das muss man einfach auch sagen.
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Das bedeutet: Mehr als 320 000 Menschen haben von dieser Regelung bereits profitiert. Dieser Effekt wird sich in den nächsten Jahren natürlich erhöhen. Das ist vor allem – das muss man an dieser Stelle auch einmal sagen – ein Verdienst der damaligen Arbeitsministerin, Andrea Nahles, die diesen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht hat. Dafür noch einmal herzlichen Dank.
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Bei aller Freude ist für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten klar, dass weitere Schritte folgen müssen. Für uns heißt das konkret: Wir werden die Zurechnungszeiten für Erwerbsgeminderte weiter anheben. Es wurde vielfach gesagt – ich mache es kurz –: bis zum Jahr 2024 sogar bis 67 Jahre. Unabhängig davon werden wir für Menschen, die jahrzehntelang gearbeitet haben, ein regelmäßiges Alterseinkommen in Höhe von 10 Prozent oberhalb des Grundsicherungsbedarfs realisieren; auch das muss in diesem Zusammenhang angesprochen werden. Davon werden die Betroffenen profitieren. Gerade diejenigen, die Sie als Bestandsrentner bezeichnen, die also aufgrund der Stichtagsregelung zum 1. Juli 2014 nicht zum begünstigten Personenkreis gehören, werden davon profitieren.
Wir werden auch das bestehende Drei-Säulen-Modell weiterentwickeln. Das heißt, für künftige Generationen werden wir ein breit aufgestelltes Modell anbieten, sodass für sie vorgesorgt werden kann. Außerdem werden wir säulenübergreifend Renteninformationen einführen. Das ist wichtig; denn gerade jüngere Menschen müssen rechtzeitig wissen, ob sie im Alter ausreichend abgesichert sind oder ob für sie noch zusätzlicher Handlungsbedarf besteht.
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Sie haben beantragt, die Erwerbsminderungsrente auf alle heutigen Bestandsrentner auszudehnen. Ganz ehrlich: Das würde die SPD auch gerne. Aber man muss sich überlegen, was realisierbar ist. Ihre Forderungen würden jährlich 11 Milliarden Euro mehr kosten, und diese Mehrkosten sollten Sie benennen
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und einen funktionierenden Rechnungsvorschlag unterbreiten.
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Was mir aber auffällt, ist, dass in Ihrem Antrag der Präventionsgedanke überhaupt nicht vorgekommen ist. Es wurde vielfach darüber gesprochen – ich möchte es daher kurz machen –: Prävention ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir haben ein weiteres Programm, rehapro, vor wenigen Wochen eingeführt. Es wird von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen erprobt. In einem weiteren Schritt wollen wir das Programm flächendeckend umsetzen. Wir werden damit langfristig die Erwerbsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen und von Menschen, die von einer Behinderung bedroht sind, stärken und ihnen helfen, dass sie unterkommen, bevor sie in Rente gehen müssen.
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Frau Kollegin, kommen Sie zu Ihrem letzten Satz.
Denn das ist die beste Vorsorge gegen Armut.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/31 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Don’t be a maybe” oder „Do your thing” – das sind sehr attraktive Appelle, die die Tabakindustrie täglich an uns richtet. Dahinter stecken knallharte wirtschaftliche Interessen. Nicht umsonst gibt die Tabakindustrie jährlich 230 Millionen Euro in Deutschland für Werbung aus, 91 Millionen Euro davon allein für die Außenwerbung, also die Werbung auf den großformatigen Plakaten im öffentlichen Raum. Diese Werbung hat genau einen Sinn: Menschen zum Rauchen zu animieren.
Nun wird gern eingeworfen: Wer rauchen will, der tut das nun mal. – Die Werbung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass jemand anfängt, zu rauchen, oder wieder anfängt, zu rauchen. Alle, die hier im Raum schon einmal geraucht haben, wissen, wie oft sie versucht haben, aufzuhören. Nikotin hat eben ein enorm hohes Suchtpotenzial, etwa so hoch wie das von Heroin.
Werbung wirkt. Es gibt eine klare Korrelation zwischen Tabakwerbung und der Häufigkeit, zu rauchen. Darum muss diese Werbung endlich unterbunden werden.
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Zum Glück rauchen Menschen zunehmend seltener, auch in Deutschland. In Ländern, in denen es keine Tabakwerbung gibt, sinkt der Anteil der Raucherinnen und Raucher aber deutlich stärker, als das bei uns der Fall ist, und das gerade bei Jugendlichen. Jede Werbung für das Rauchen konterkariert also alle Präventionsmaßnahmen. Es ist doch absurd, dass wir Präventionskampagnen mit Steuergeldern bezahlen; und nebenan wirbt die Tabakindustrie weiterhin für das Rauchen.
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Alle Länder der EU haben das verstanden und ihre Konsequenzen gezogen, alle bis auf eins. Deutschland ist das einzige Land in der EU, das die Tabakwerbung noch zulässt. Das muss sich endlich ändern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Es ist doch beschämend, dass die Interessen der Industrie über den Gesundheitsschutz in unserem Land gestellt werden.
Wie verträgt sich diese Werbung mit dem Jugendschutz? Rein gar nicht. Besonders auf Kinder und Jugendliche hat die Werbung mit diesen jungen, unternehmungslustigen Models einen starken Effekt. Hier kam ja gerade schon die Frage: Wie passt es zusammen, dass wir Grüne Cannabis kontrolliert freigeben und die Tabakwerbung verbieten wollen? Ganz hervorragend passt das zusammen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die Klammer ist der Gesundheits- und Jugendschutz.
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Beides ist mir als Ärztin und uns als Grüne ganz besonders wichtig. Mündige Bürgerinnen und Bürger sollen selbst entscheiden, was sie konsumieren, und sie müssen wissen, was sie konsumieren. Klar ist aber auch: Wir wollen, dass in unserem Land weder für Cannabis noch für Tabak geworben wird.
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In Deutschland – Sie alle kennen ja die Zahlen – sterben jährlich 120 000 Menschen an den Folgen des Rauchens. Also brauchen wir eine bessere Prävention. Endlich die Werbung für Tabakprodukte abzuschaffen, das ist wirksame Prävention. Das ist überfällig.
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Und ja, wir wollen auch keine Werbung für E-Zigaretten.
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Das Unbewusste – und vor allem darauf zielt ja die Werbung – sieht nur den Glimmstengel, und das triggert den Wunsch, zu rauchen. Jugendliche greifen schneller von Liquids zu klassischen Zigaretten, und ist das Inhalieren erst einmal eingeübt, ist dieser Schritt ganz schnell vollzogen. Und wenn starke Raucher auf E-Zigaretten umsteigen wollen, dann brauchen sie dafür keine Werbung, dann brauchen sie ein Gespräch mit ihrem Arzt.
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Ich kenne vernünftige Stimmen aus den Reihen der Koalition – hier wird ja auch schon mitgenickt –, die auch endlich das Tabakwerbeverbot wollen. Die Linke hat in ihrem Antrag auch schon Zustimmung signalisiert. In der letzten Legislaturperiode hatten Sie sogar schon ein Gesetz vorbereitet, das aber nie diesen Bundestag erreicht hat. Im Entwurf Ihres Koalitionsvertrags stand das zwischenzeitlich auch mal drin, ist dann aber sang- und klanglos verschwunden.
Frau Kollegin, kommen Sie zum letzten Satz.
Ich komme zum Schluss.
Letzter Satz.
Hier hat die Tabaklobby offensichtlich ganze Arbeit geleistet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt haben Sie die Gelegenheit, Farbe zu bekennen für den Gesundheitsschutz.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Hans-Jürgen Thies. Ich will bemerken, dass das seine erste Rede ist, am 8. Juni 2018 um 1.03 Uhr.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muss lange überlegen, wann ich das letzte Mal bewusst Tabakwerbung wahrgenommen habe.
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Das war früher durchaus anders. Tabakwerbung war allgegenwärtig, im Fernsehen, an der Litfaßsäule, an der Bushaltestelle. Hier hat sich zum Glück vieles verändert. Die Methoden der Werbebranche sind subtiler geworden. Die Produktwerbung wird mit Lifestylebotschaften verknüpft. Sie richtet sich insbesondere an die jungen Menschen, die dafür besonders empfänglich sind. Gefällt mir das? Nein, absolut nicht, besonders nicht als überzeugter Nichtraucher.
Aber was bedeutet das in der Konsequenz? Was bedeutet das für uns als politische Entscheidungsträger? Jegliche Werbung für Tabak verbieten?
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Na klar, liebe Kollegen von den Grünen, das würden Sie gerne. Das entspricht Ihrem Regelungsdrang, möglichst all das aus dem öffentlichen Raum, aus dem Straßenbild zu verbannen, was Ihnen nicht gefällt.
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Nein, ich bin der festen Auffassung, dass wir hier die Verhältnismäßigkeit wahren müssen.
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Heute wollen Sie jegliche Tabakwerbung verbieten. Und morgen den Zucker, übermorgen den Kaffee?
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Das frage ich Sie. Schon heute heißt es: Wir wollen Verkaufsbeschränkungen für Energydrinks. – Ich sage Ihnen eines: Wer den Konsum von Cannabis legalisieren und die Werbung für legale Schwangerschaftsabbrüche straffrei stellen will, der hat aus meiner Sicht jegliche moralische und politische Rechtfertigung verloren,
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ein Verbot für Tabakwerbung zu fordern. Das ist geradezu aberwitzig und paradox.
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Den Antrag der Linken kann man überhaupt nicht ernst nehmen.
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Er ist voll von reiner Polemik und richtet sich nur gegen die Tabakwarenindustrie.
Was würde passieren, wenn wir Ihren ständigen Verbietereien nicht entgegentreten würden? Wir würden die Büchse der Pandora öffnen, meine Damen und Herren.
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Jegliche Art der Werbung für Produkte, die auf die eine oder andere Art und Weise schädlich sein könnten, würde dann verboten.
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Wissen Sie, liebe Kollegen, wir wollen ja grundsätzlich das Gleiche. Was wollen wir denn? Wir wollen gesunde Bürger. Wir wollen ein Umfeld schaffen – das ist noch viel wichtiger –, in dem unsere Kinder und Jugendlichen gesund und ohne Sucht in ihr Leben starten können.
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Daher ist die Zielsetzung Ihres Vorstoßes durchaus auch in meinem Sinne. Nur: Der Weg dorthin ist ein falscher.
Herr Kollege, ich muss Sie kurz unterbrechen. Ich bitte den Besucher auf der Tribüne, das zu unterlassen, und ich bitte die Saaldiener, den Besucher zu entfernen.
Das möchte ich Ihnen gerne anhand von drei Argumenten verdeutlichen.
Erstens: zum Stichwort „Aufklärung und Prävention“. Seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der konsumierten Zigaretten um 50 Prozent gesunken. Dies belegen die Zahlen des Deutschen Krebsforschungszentrums. Zudem fangen viele Jugendliche – ich sage: gottlob – gar nicht erst an, zu rauchen. Nur noch knapp 8 Prozent der Jugendlichen in Deutschland greifen zur Zigarette. Im Jahre 2001 waren es immerhin noch 27,5 Prozent; so sagt es das Gesundheitsministerium. Die Erfolge der Präventionsarbeit und der zahlreichen Aufklärungskampagnen sind somit evident. Unser Credo lautet daher: Aufklärung ist ein viel effektiveres Mittel der Prävention als schlichte Verbote.
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Zweitens: zum Stichwort „Verhältnismäßigkeit“. Wir bewegen uns doch in die richtige Richtung. Der Tabakkonsum sinkt drastisch. Unsere Kinder und Jugendlichen werden viel vernünftiger, als wir es in unserer Generation einstweilen waren.
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Sie sagen vermehrt Nein zur Qualmerei. Das ist ein Erfolg unserer bisherigen Maßnahmen. Das ist sicherlich auch deshalb so, weil die Tabakbranche selbstverpflichtend aktiv geworden ist, nicht zuletzt allerdings durch den Druck der Politik.
An dieser Stelle muss allerdings eines gesagt werden, meine Damen und Herren: Tabak ist nun einmal ein legales Produkt. Ob es uns gefällt oder nicht, er ist frei verkäuflich. Ein legales Produkt, das frei verkäuflich ist, muss auch legal beworben werden dürfen.
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Immerhin haben wir den Handlungsspielraum für die Tabakindustrie in den letzten Jahren wirksam eingeschränkt. Die Liste der Maßnahmen ist lang: Wir haben ein vollständiges Werbeverbot für Fernsehen, Internet und Hörfunk eingeführt. Wir haben Gesundheitswarnungen auf die Produkte gesetzt. Wir haben ein Verbot der Produktplatzierung implementiert. Wir haben ein Werbeverbot in den Printmedien erlassen, und wir haben ein Werbeverbot im Kino bis 18 Uhr eingeführt. Insbesondere aber – das ist mir ganz wichtig – haben wir in den letzten Jahren den Nichtraucherschutz wesentlich verbessert. Wir haben die Raucher weitgehend aus öffentlichen Räumen ausgeschlossen. Ich meine, das ist auch gut so.
Ab einem gewissen Punkt müssen wir uns allerdings fragen, ob es bei den geforderten Werbeverboten, die hier in Rede stehen, nicht in Wahrheit sogar um ein Produktverbot durch die Hintertür geht. Dann machen Sie sich aber bitte so ehrlich und sagen auch, dass Sie ein komplettes Produktverbot wollen und Tabak zu einem illegalen Produkt machen wollen.
Wir müssen uns also die Frage stellen, ob es in Anbetracht der bereits erzielten Erfolge und der positiven Tendenzen wirklich erforderlich ist, weitere Maßnahmen zu ergreifen und Werbeverbote zu erlassen. Ich muss Sie darauf hinweisen, dass weitere Verschärfungen in den grundrechtlich geschützten Bereich der Berufsfreiheit eingreifen und deswegen auch an die Grenze der Verfassungsgemäßheit gehen, Stichwort „Übermaßverbot“.
Jedes Verbot muss sich auch an dem Kriterium der Erforderlichkeit messen lassen. Im Hinblick auf die gegenwärtige Situation sind da Zweifel angebracht.
Ein letztes Argument – ich will mich hier kurzfassen –: WHO. Das von Deutschland unterzeichnete WHO-Abkommen aus dem Jahre 2005 verpflichtet uns völkervertragsrechtlich nicht zur Verhängung eines flächendeckenden Tabakwerbeverbots.
Abschließend sei also gesagt: Unser gesundheitlicher Verbraucherschutz steht auf starken Füßen. Unsere Kinder und Jugendlichen sagen vermehrt Nein zum Tabak. Die Bundesregierung hat alle verhältnismäßigen Maßnahmen genutzt, um die Tabakwerbung wirksam einzuschränken – auch im Sinne internationaler und europäischer Richtlinien.
Ja, wir wollen einen starken gesundheitlichen Verbraucherschutz; ja, wir wollen unsere Kinder vollumfänglich über die Gefahren schädlicher Produkte aufklären; ja, wir wollen Prävention und Suchtbetreuung auch weiterhin im Auge behalten und stärken.
Diese unerträgliche Art der Volkspädagogik, liebe Kollegin von den Grünen, hat Ihnen in der Vergangenheit bereits zahlreiche Wahldesaster eingebracht. Haben Sie aus Ihren Fehlern denn überhaupt nichts gelernt?
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Ihren Antrag und den in der Begründung noch viel polemischeren Antrag der Linken werden wir deshalb ablehnen.
Vielen herzlichen Dank.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Thies. – Ich gehe davon aus, dass Sie sagen wollten, dass das Rauchen aus öffentlichen Gebäuden ausgeschlossen worden ist und nicht die Raucher.
Wenn ich mir die Stimmung hier im Saal anschaue, dann meine ich: Wir sollten vielleicht immer nachts tagen.
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Als Nächstes hat für die AfD-Fraktion der Kollege Wilhelm von Gottberg das Wort. Es ist auch seine erste Rede – am 8. Juni 2018, um 1.11 Uhr.
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Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Die Antragsteller begründen den hier in Rede stehenden Gesetzentwurf mit der Erwartung, dass ein totales Werbeverbot geeignet ist, den Konsum von Tabakerzeugnissen endgültig zu stoppen. Festzuhalten ist, dass es bereits jetzt ein rigides Werbeverbot für Tabakerzeugnisse gibt.
Die Tabakanbaufläche in Deutschland beträgt 4 600 Hektar. Aus ökologischen und ökonomischen Gründen ist es wünschenswert, dass die Tabakanbaufläche nicht weiter schrumpft.
Seit 2010 wird der Tabakanbau nicht mehr subventioniert. Die Einnahmen aus der Tabaksteuer betrugen im Jahr 2014 14,3 Milliarden Euro. 1970 waren es umgerechnet nur 6,5 Milliarden Euro. Eine Packung Zigaretten mit 19 Stück kostet mit Umsatzsteuer 5 Euro. Der Umsatzsteuer- und Tabaksteueranteil beträgt 3,75 Euro. Die Tabaksteuer ist die ertragreichste Steuer nach der Energiesteuer.
Die Tabaksteuer fließt uneingeschränkt in den Bundeshaushalt. Wir gehen sicherlich nicht fehl in der Annahme, dass der Bundesfinanzminister auch in Zukunft mit der Tabaksteuer in der genannten Höhe rechnen wird.
Es ist daran zu erinnern, dass die Tabaksteuer vor mehreren Jahren mit der Begründung angehoben wurde, wir müssten die Einnahmen des Bundes erhöhen. „Rauchen für die Rente“ wurde damals kolportiert. Trotz dieses horrenden Preises für eine Schachtel Zigaretten werden weiter Tabak und Tabakerzeugnisse konsumiert.
Meine Damen und Herren, Jugendliche und junge Menschen werden doch nicht zu Rauchern, weil im Bundesgebiet auf einigen Zehntausend Litfaßsäulen und kommunalen Werbeflächen für den Tabakkonsum geworben wird. Junge Menschen werden zu Rauchern, weil sie täglich Vorbilder beim Rauchen sehen. Die Eltern rauchen, Vorgesetze rauchen, Kollegen rauchen, Politiker rauchen.
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Man kann es drehen und wenden, wie man will: Für viele Menschen ist das Rauchen ein Stück Lebensqualität. Ich erinnere an die früheren Bundeskanzler Schmidt, Brandt und Erhard.
({1})
Die Bevormundung der eigenverantwortlich handelnden Bürgerinnen und Bürger durch die Politik ist grundsätzlich auf ein Minimum zu beschränken. Die Erfahrung lehrt, dass in freier Willensentscheidung dies oder das getan wird, obwohl damit gegen Gesetzesauflagen verstoßen wird. Alkohol am Steuer ist dafür ein Beispiel. Ein prominentes Mitglied des früheren Bundestages, vernunftbegabt und eine ernstzunehmende Persönlichkeit, hatte trotz Verbot gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen. Groß geächtet wurde das damals nicht. Die Reaktion der Person: Ich hatte immer schon ein entspanntes Verhältnis zum Konsum weicher Drogen.
Zum Gesetzentwurf, der hier vorliegt, nehmen wir wie folgt Stellung.
Erstens. Uneingeschränkt richtig ist die Feststellung, dass jede wirksame Suchtprävention unterlaufen wird, solange die kostenlose Abgabe von Tabakerzeugnissen, elektronischen Zigaretten und Ähnlichem erlaubt ist. Hier hat der Gesetzgeber Regelungsbedarf.
Zweitens. Die Korrelation zwischen dem Verbot von Tabakwerbung und dem Rückgang des Rauchens in Singapur oder Kanada wird ohne nachprüfbare Beweise auf Deutschland übertragen. Dem stimmen wir nicht zu.
Drittens. Es wird suggeriert, dass durch Tabakwerbung in einem Wert von 232 Millionen Euro ein volkswirtschaftlicher Schaden in Höhe von 80 Milliarden Euro durch das Rauchen entsteht. Das hieße im Umkehrschluss: keine Werbung, kein volkswirtschaftlicher Schaden. Diese Behauptung wird wohl kaum haltbar sein.
({2})
Viertens. Es wird unterstellt, die Bundesrepublik unterlaufe internationales Recht – das wurde hier eben schon vorgetragen –, weil sie eine Vorgabe der WHO nicht umsetze. Diese Vorgabe der WHO ist eine Empfehlung, eine Richtlinie. Sie ist kein Gesetz und braucht deshalb auch nicht in nationales Recht umgesetzt zu werden.
({3})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Fünftens.
Nein, einen Satz bitte noch.
Einen Satz?
Einen Satz, ja.
Gut. – Aber der Herr Präsident lässt mit sich handeln.
Nicht Einsatz, sondern einen Satz.
Die Vergabe von kommunalen Werbeflächen regeln die Kommunen in eigener Zuständigkeit.
({0})
Der Bund muss nicht das letzte Dorf bevormunden. Die Kommunen sollen entscheiden, an wen sie ihre Werbeflächen vergeben.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss, oder ich entziehe Ihnen das Wort.
Das sichert auch Artikel 28 Grundgesetz den Kommunen zu.
Herzlichen Dank. Gute Nacht!
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Als Nächstes für die SPD-Fraktion der Kollege Rainer Spiering.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vorab: Die SPD-Fraktion hält sich an Verträge. Verträge sind einzuhalten. Wir werden folglich dem Gesetzentwurf der Grünen nicht zustimmen. Die Beratung ist jedoch sehr angebracht.
Die Tabakverordnung war auch Thema der Koalitionsverhandlungen. Auch hier war festzustellen, dass sich die SPD mit einer Neuregelung des Gesetzes über Tabakerzeugnisse nicht durchsetzen konnte. Die Anerkennung dieses Zustandes kann mich persönlich, aber auch die SPD-Fraktion nicht daran hindern, Kritik zu üben, vor allen Dingen weil wir wissen, lieber Herr Thies, dass wir aus den Reihen der CDU aus den Bereichen Ernährung, Landwirtschaft und Gesundheit tatkräftige Unterstützung gehabt haben. Wenn Sie sich die Pressemitteilungen der Kollegin Mortler der letzten Monate ansehen, dann werden Sie feststellen, dass das mit dem, was Sie hier vorgetragen haben, nichts bis gar nichts zu tun hat.
({0})
Ich glaube, es ist an diesem Zeitpunkt gar nicht schlecht, Rückschau zu halten. Wir haben die Gesetzgebung zur Tabakverordnung in der letzten Legislatur sehr intensiv betrieben. Auf Wunsch unseres Koalitionspartners ist die angedachte Verordnung in zwei Teile geteilt worden. Für mich ist das ein Lehrstück dafür gewesen, wie industrielle Interessen versuchen, Zugriff auf parlamentarische Entscheidungen zu nehmen; das habe ich hautnah erlebt.
({1})
Wir haben es mit drei Punkten zu tun gehabt. Ein Punkt war von der EU klar vorgeschrieben, nämlich dass die Verpackungen neu zu strukturieren seien. Das ist ein derartig beinhartes EU-Recht gewesen, dass ein Verstoß dagegen uns eine Klage eingehandelt hätte. Also ist gesagt worden: Wir trennen das Gesetzesvorhaben auf in zwei Partien: zum einen die Verpackungen und zum Zweiten die Außenwerbung. Dann gibt es auch noch die Zusatz- und Inhaltsstoffe. Auf die werde ich gleich kommen, und zwar ganz bewusst.
Bei der Verpackung ist argumentiert worden: Wir bekommen das nicht hin. – Dann stellte sich aber heraus, dass einer der Marktteilnehmer sehr wohl in der Lage war, das hinzubekommen. Ich will ihn auch gerne hier nennen: Das war Philip Morris. Philip Morris hat allen Beteiligten gesagt: Wenn ihr euch jetzt nicht an das EU-Recht haltet, dann klagen wir.
Die Folge davon ist gewesen, dass wir hier im Bundestag gesagt haben: Wir machen das mit den Verpackungen doch. – Die Lehre daraus ist gewesen: Es haben alle die Verpackungen rechtzeitig hinbekommen, der Verbraucher hat gewonnen, und, so würde ich sagen, im Kampf um Anteile auf dem Markt Philip Morris.
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Jetzt sind wir an der Stelle, wo nach Kabinettsbeschluss vom Juli 2016 eigentlich der zweite Gesetzentwurf hätte in Kraft treten sollen. Das Kabinett hatte es beschlossen. Jetzt ist aber dieses Gesetz im Bundestag nie zur Abstimmung gekommen.
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Die Kolleginnen und Kollegen – der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft war federführend – haben nach einer Vorlage von Bundesminister Schmidt einen wirklich tollen Gesetzentwurf vorgelegt,
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einen richtig guten. Er beinhaltete vor allem Außenwerbung. Und das, was die Grünen leider vergessen haben und was mir bitter leidtut, ist die Frage der Zusatz- und Inhaltsstoffe.
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Genau an der Stelle wird es megaspannend, was die Zigarettenproduktion in Deutschland angeht.
Wer sich ein bisschen sachlich damit auseinandersetzt und nicht aus dem Ordnungsrecht kommt, sondern von der Frage ausgeht, was da eigentlich passiert, wird feststellen, dass die Zusatz- und Inhaltsstoffe für Zigaretten von elementarer Bedeutung sind.
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Ich will jetzt keinen Vortrag darüber halten. Sie müssen zwischen Virginia Blend und American Blend unterscheiden, und den American Blend können Sie so überhaupt nicht konsumieren. Also brauchen Sie Zusatz- und Inhaltsstoffe, um die überhaupt konsumfähig zu machen, und Sie schaffen es nur dadurch, dass sich die Marlboro von der Camel und der Pall Mall unterscheidet.
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– Genau. – Jetzt hat Bundesminister Schmidt Folgendes gemacht – das war wirklich in dem Entwurf enthalten –: Er hat Zugriff auf die Zusatzstoffe und auf die Inhaltsstoffe genommen. Jetzt fing die Hütte für die Kollegen von der Zigarettenindustrie wirklich an zu brennen. Denn wenn sie diese Zusatz- und Inhaltsstoffe nicht mehr frei nach Bedarf hätten einsetzen können, dann hätten sie die Marlboro von der Pall Mall und von der Camel gar nicht mehr unterscheiden können. Und dann haben die ihren Apparat in Bewegung gesetzt, aber wirklich kräftig, und das ist ihnen ja auch leider gelungen.
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Jetzt setzen wir uns mal damit auseinander, mit welchen Stoffen wir es eigentlich zu tun haben und was Bundesminister Schmidt verändern wollte. Die Außenwerbung hat die Kollegin von den Grünen schon dargestellt. Ich finde es schon sehr fraglich, ob es richtig ist, Kinder und Jugendliche jeden Tag auf dem Schulweg an Produkten vorbeizuführen, von denen wir sicher wissen – das bestreitet doch heute keiner mehr –, dass sie krebserregend sind. Und auf jeder Zigarettenpackung steht – ich rauche ja –: Rauchen ist tödlich.
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Ob wir uns das wirklich leisten können, unsere Kinder jeden Tag an diesen Produkten vorbeizuführen, wage ich trefflich zu bezweifeln.
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Deswegen bin ich auch der Meinung, dass die Außenwerbung wegmuss.
Welche Bedeutung hat dieser ganze Bereich für die Wirtschaft? Die Werbung – das ist eben genannt worden – setzt circa 150 Millionen bis 200 Millionen Euro in dem Bereich um und die Zigarettenindustrie x Milliarden, und das mit einem Produkt, das so schnell in Rauch aufgeht und derartig verheerende Folgen hat. Die Frage stellt sich: Können wir das verantworten?
Lassen Sie mich noch Zugriff auf die Stoffe nehmen, die wir haben. Am bekanntesten ist Nikotin, ein bekanntes Nervengift. Wir haben uns übrigens im Ernährungsausschuss sehr trefflich damit auseinandergesetzt, und zwar mit den sogenannten Neoniks, den Neonikotinoiden. Was haben wir gemacht? Wir haben sie in der Schädlingsbekämpfung verboten, weil wir wissen: Es gibt ein großes Bienensterben. Aber hier finden wir: Dolle Sache, das lass uns mal weitermachen. Ich glaube, das können wir nicht allen Ernstes tun. Wir können nicht weiter Stoffe so ungehindert in den Markt lassen, die wir nicht einmal in der Schädlingsbekämpfung zulassen.
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Aber es ist im Moment so, wie es ist.
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– Wenn Sie sich damit genauso auseinandersetzen wollen wie ich, dann dürfen Sie das tun.
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Herr Präsident, will Herr Hocker eine Frage stellen?
Lieber Herr Spiering, wenn der Kollege Dr. Hocker eine Frage stellen wollte, würde er seine Hand heben. Das, was er gemacht hat, ist ein Zwischenruf.
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Ich würde eine Frage außerdem gar nicht zulassen.
Alles klar. Danke.
Ich kann für uns nur hoffen, dass wir gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU aus den Ausschüssen für Ernährung und Gesundheit dieses Thema weiterhin anpacken und begleiten. Wir werden das auf jeden Fall tun. Ich hoffe, dass die CDU/CSU im Ganzen zu der Einsicht kommt, dass es ein Thema ist, das für unsere Kinder und Jugendlichen wichtig ist. Ich bedaure sehr, dass ausgerechnet jemand wie Volker Kauder, den ich für sehr seriös halte, das im Alleingang aufgehalten hat. Ich würde mich freuen, wenn wir ihn dazu bringen könnten, da seine starre Haltung aufzugeben und für unsere Kinder und Jugendlichen etwas zu tun. Das wäre, glaube ich, etwas ganz Wichtiges für Deutschland und vor allen Dingen für die deutschen Kinder und Jugendlichen.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
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Vielen Dank, Herr Kollege Spiering. – Nun hat der Kollege Dr. Hocker für die Freien Demokraten das Wort und die Gelegenheit zur Stellungnahme.
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Danke schön. – Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon ein bisschen Ausdruck des mangelnden Tatendrangs eines Mitglieds einer Mehrheitsfraktion, Herr Kollege Spiering, wenn Sie Ihre Rede schließen mit den Worten: „Na ja, es ist halt, wie es ist.“ Weniger Gestaltungsanspruch an sich selber zu stellen, habe ich in diesem Hohen Haus bislang selten erlebt.
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Zur Sache. Es steht völlig außer Frage, dass Rauchen der Gesundheit nicht förderlich ist. Es gibt keine ernstzunehmende Studie in der ganzen Welt, die das in Abrede stellt. Es ist nicht nur frustrierend, sondern auch sehr traurig, wenn Menschen durch den Genuss von Zigaretten und Tabak viel früher sterben und Krankheiten wie zum Beispiel Lungenkrebs erleiden, durch die sie viel früher sterben, als es vielleicht vom lieben Gott eigentlich vorgesehen wäre.
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Aber vieles in unserer Gesellschaft kann unbestritten zu Erkrankungen führen. Alkohol kann Herzinfarkte befördern. Süßigkeiten können bei zu wenig Bewegung zu Fettleibigkeit und Diabetes führen.
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Keine andere Branche unterliegt schon jetzt derart strengen Vorgaben wie die Werbung für Tabak. Kein Autohersteller wird gezwungen, die Fotos von Unfallopfern auf seinen Produkten abzubilden.
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Spirituosenhersteller sind auch nicht gehalten, auf der Schnapsflasche das Foto eines Alkoholabhängigen abzudrucken. Für Tabak gelten genau solche Vorgaben bereits jetzt: keine Werbung im Fernsehen oder Radio. Auf jeder Zigarettenschachtel müssen Ekelfotos abgedruckt werden.
Ich sage Ihnen eines: Dass Rauchen ungesund ist, weiß in Deutschland jedes Kind. Aber wenn eine Gefahr hinreichend bekannt ist, wie zum Beispiel das Trinken von Rotwein, der Verzehr von Süßigkeiten und auch das Rauchen, dann ist es irgendwann Aufgabe des Verbrauchers, selber für sich zu entscheiden,
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ob er einen individuellen Gewinn, ein Mehr an Lebensqualität haben will, indem er seiner Sucht frönt, und ob er bereit ist, statistisch gesehen auf eine gewisse Zeit Leben zu verzichten. Das ist eine Frage, die jeder Verbraucher und jeder mündige Bürger für sich selber entscheiden muss.
Deswegen appelliere ich an die Grünen und die Linken – gerne auch an den Kollegen Spiering –, die die Vorlagen eingebracht haben: Hören Sie endlich auf, zu glauben, Sie könnten die Menschen erziehen zu der Haltung und Lebenseinstellung, die Sie gerne haben möchten, die Sie ihnen abverlangen!
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Hören Sie auf, die Übermutter oder den Übervater zu spielen, die bzw. der mit Strafsteuern, Verboten und dem immer wieder erhobenen moralisierenden Zeigefinger 80 Millionen Menschen in Deutschland zu einer bestimmten Lebensweise erziehen will, die die Betreffenden vielleicht gar nicht anstreben.
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Ich sage Ihnen ganz ausdrücklich: Niemand auf dieser Welt weiß besser, was mich glücklich macht, als ich selber. Nach dieser Maxime sollten Sie künftig auch Ihre Politik gestalten.
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Ich darf mit der freundlichen Erlaubnis des Präsidenten sagen: Wolfgang Kubicki ist bekennender Schokoladenesser und Rotweintrinker. Der Leiter meines Wahlkreisbüros raucht viel zu viel, und ich selber habe in den vergangenen Wochen bei dem guten Wetter viele Hundert Kilometer mit meinem Motorrad auf den norddeutschen Landstraßen zurückgelegt. Wir alle wissen, dass all diese Aktivitäten gefährlich sind und sofort, früher, später, mittelbar oder unmittelbar zu Verletzungen führen können, vielleicht sogar zum Tod. Wir wissen dies, und 80 Millionen Menschen in Deutschland wissen das auch.
Deswegen appelliere ich an Sie: Überlassen Sie uns die Entscheidung, ob wir ein längeres Leben führen wollen, liebe Grüne, mit Rhabarbertee, Batik-T-Shirt, Stuhlkreis und grüner Political Correctness oder ob wir ein nach unserer Vorstellung freudvolles, dafür vielleicht aber statistisch mit kürzerer Lebenszeit versehenes Leben führen wollen, ohne etwas auszulassen, was Freude macht. Wenn Raucher gerne rauchen, meine sehr verehrten Damen und Herren, dann sollen sie dies tun. Es ist nicht Ihre Aufgabe, diese Menschen zu erziehen.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Mein letzter Satz.
Ja, das ist dann auch der letzte Satz.
Mein letzter Satz: Wenn Sie von den Grünen und den Linken mir einen Gefallen tun möchten, dann lassen Sie mich wissen, wie Sie den Zwiespalt überbrücken, dass Sie auf der einen Seite die Legalisierung von Cannabis und Marihuana fordern – wie wir übrigens auch –, auf der anderen Seite aber Zigarettenrauchen verbieten wollen. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir das erklären könnten, auch heute Abend, gerne beim Bier an der Theke.
Vielen Dank.
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Herr Kollege Dr. Hocker, wenn Sie schon Ihren letzten Satz ankündigen, dann muss es auch der letzte Satz sein. Ich kann das Mikrofon leider nicht ausschalten.
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Das werde ich noch ändern. Aber dass Sie in Ihrer Rede auf meine Figur angespielt haben, wird noch Konsequenzen haben.
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Als Nächstes für die Fraktion Die Linke der Kollege Niema Movassat.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Thies, Herr Hocker, ich muss sagen: Als Nichtraucher bräuchte ich nach Ihren Reden jetzt eigentlich eine Zigarette, um mich zu beruhigen.
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Was Sie hier streckenweise gebracht haben, das war einfach peinlich. Sie haben Sachen durcheinandergeworfen, die nichts miteinander zu tun haben. Ich will hier ganz klar betonen: Wir reden heute nicht darüber, den Tabakkonsum zu verbieten. Wir reden über ein Werbeverbot, ein Werbeverbot für Tabakprodukte.
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Sie alle in diesem Haus wissen, dass Deutschland schon vor 14 Jahren das Tabakrahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation unterzeichnet hat. Damit geht die Pflicht einher, umfassend Werbung für Tabak zu verbieten. Das dient dem Gesundheits- und Jugendschutz. Dass Deutschland bisher als einziges Land in der EU die Tabakrahmenkonvention nicht umgesetzt hat – damit ist es trauriges Schlusslicht –, ist ein Völkerrechtsbruch, und das geht gar nicht.
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In der letzten Legislaturperiode gab es einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, um Außenwerbung für Tabak zu verbieten. Aber Leute wie der CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder, ein guter Freund der Tabakindustrie, verhinderten die Abstimmung hier im Haus – auch gegen die eigenen Leute.
Die Zögerlichkeit beim Tabakwerbeverbot lässt sich sicherlich damit erklären, dass die Tabakindustrie die Politik umgarnt. CDU, CSU, SPD und FDP lassen ihre Parteiveranstaltungen von der Tabakindustrie sponsern. Zwischen 2010 und 2015 hat allein der Tabakkonzern Philip Morris über eine halbe Million Euro für Events Ihrer Parteien und parteinahen Organisationen gezahlt. Ich muss sagen: Einige Reden heute wirkten wie ein Tribut an die Tabakindustrie.
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Wenn man Lobbyinteressen über Gesundheits- und Jugendschutz stellt, dann ist das nicht gut.
Aber warum wollen wir eigentlich ein Tabakwerbeverbot? Ich will Ihnen heute ein paar Argumente nennen.
Erstens. Es sterben jedes Jahr 120 000 Menschen in Deutschland an den Folgen des Tabakrauchens. Mehr als die Hälfte aller Raucher stirbt vorzeitig an Lungenkrebs, einer Herz-Kreislauf- oder Atemwegserkrankung. Auch die Risiken für andere Krebsarten sowie Diabetes steigen, wenn man raucht. Dafür kann man doch nicht ernsthaft Werbung zulassen.
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Zweitens. Das politische Ziel muss doch sein, die Zahl der Raucherinnen und Raucher zu senken. Die Zahl geht zwar zurück. Allerdings hat die WHO in ihrem Bericht zum Weltnichtrauchertag beklagt, dass der Rückgang nicht schnell genug geht. Jede fünfte Person über 15 Jahren greift in Deutschland täglich zur Zigarette. Und besonders das Nikotin ist ein Suchtmittel mit hohem Abhängigkeitspotenzial. Das ist übrigens ein Grund, warum zwei Drittel aller Raucher schon versucht haben, mit dem Rauchen aufzuhören, es aber nicht geschafft haben. Ein Werbeverbot ist tatsächlich ein realer Beitrag, die Zahl der Raucherinnen und Raucher zu senken.
Drittens. Tabakwerbung spricht vor allem junge Menschen an. Mode, Musik, Fröhlichkeit und Humor werden eingesetzt, um zu suggerieren, dass man ein positives Lebensgefühl hat, wenn man raucht. Man möchte Kunden gewinnen, am besten ein Leben lang. Wissenschaftliche Studien zeigen sehr deutlich, dass es einen Zusammenhang zwischen Tabakwerbung und dem Rauchbeginn bei Jugendlichen gibt. Wer Jugendschutz ernst nimmt, kann keine Tabakwerbung zulassen.
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Meine Damen und Herren, wer rauchen will, soll rauchen, wer ein Bier trinken will, soll ein Bier trinken. Ich finde auch, wer einen Joint rauchen will, soll einen Joint rauchen.
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Aber ich finde, es sollte niemals für Drogen geworben werden dürfen.
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Mit unserem Antrag fordern wir heute die Bundesregierung auf, endlich das Tabakrahmenübereinkommen umzusetzen.
Herr Kollege.
Ich kann nur sagen, insbesondere auch an die Reihen der Union – letzter Satz –:Hören Sie doch bitte auf Ihre Drogenbeauftragte Marlene Mortler. Die vertritt da, finde ich, eine sehr gute Position.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege Movassat. – Als letzter Redner spricht nun zu uns der Kollege Carsten Müller von der CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren! Also, ehrlich gesagt: Bei einer Vierer-Präsenz – Entschuldigung, ich übertreibe ein bisschen; sie nimmt gerade um 50 Prozent ab –,
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bei einer Zweier-Präsenz sollten Sie Ihre Ausführungen zum eigenen Antrag vielleicht eine Nummer kleiner wählen.
Weil nun eine Fraktion praktisch nicht mehr an der Beratung ihres Antrages teilnimmt,
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konzentriere ich mich im Folgenden auf den Vorschlag, den die Grünen eingebracht haben. Es fallen einige Dinge bei diesem Vorschlag zur Gesetzgebung auf, unter anderem, dass Sie auf geradezu atemberaubende Art und Weise Ihrer Tradition als Verbotspartei nachkommen. Wir haben es mal durchgezählt: Auf neun Seiten – Entwurf und Begründung – bringen Sie 53-mal das Wort „Verbot“.
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Das spricht, ehrlich gesagt, für sich und gegen Sie.
Wir brauchen die Folgen des Rauchens nicht kleinzureden, erst recht nicht ich als sehr engagierter Nichtraucher. Aber wir müssen eines festhalten – ich will gleich auf einige Zahlen des Kollegen Thies eingehen –: Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit eine Reihe von besonders erfolgreichen Aufklärungs- und Präventionskampagnen durchgeführt. Wir haben den Jugendschutz enorm verbessert. Wir haben das Tabakerzeugnisgesetz und die Tabakerzeugnisverordnung wirkungsvoll umgesetzt, und das wirkt sich ganz konkret aus.
Ich möchte Ihnen die Zahlen noch mal nennen: Gerade bei den jungen Menschen, also bei Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren, ist die Raucherquote seit 2001 von damals 27,5 Prozent auf 7,4 Prozent in 2016 zurückgegangen. Bei den 18- bis 25-Jährigen, also denjenigen, die schon über ein bisschen Geld, vielleicht aus Nebenjobs, verfügen, haben wir einen ebenfalls sehr bemerkenswerten Rückgang von 43,1 Prozent – abenteuerlich hoch – auf nunmehr 26,1 Prozent . Über alle Altersgruppen hinweg gab es einen Rückgang um 10 Prozentpunkte, von 34 Prozent auf nunmehr 24 Prozent der Bevölkerung, die noch rauchen. Das zeigt den Erfolg; das wollen wir nicht kleinreden.
Ich bin der Auffassung, dass wir Eigentums- und Freiheitsrechte wahren müssen. Ehrlich gesagt, bin ich da sehr an der Seite von Volker Kauder;
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denn der Punkt ist – da werden Sie ordnungspolitisch kaum gegenhalten können –: Für legale Konsumprodukte muss geworben werden. – Es gehört eben auch zur Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger – das sagte die Eröffnungsrednerin –, dass man sich mit Werbung auseinandersetzt und dazu durchaus auch ein kritisches Verhältnis aufbaut. Wir wollen niemanden bevormunden. Wir wollen Lebensentwürfe nicht vorschreiben. Wir wollen verantwortliche, selbstorganisierte Bürger haben,
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und deswegen spricht alles gegen ein Außenwerbeverbot. Im Übrigen ginge Ihr Vorschlag, jedenfalls was die Außen- und Kinowerbung angeht, deutlich über die Vorgaben der europäischen Richtlinie 2014/40 hinaus. Wir wollen das alles nicht.
Ich will es zur späten Stunde relativ kurzhalten: Der Deutsche Werberat hat Kinderregeln aufgestellt und hat auch testiert, dass die Selbstbeschränkung der Tabakindustrie gut funktioniert. Die Zahlen dazu habe ich Ihnen geliefert.
Es ist ja nicht so, dass in diesem Land für Dinge, die den Menschen nicht guttun, nicht geworben werden dürfte. Wenn etwas anderes durchgesetzt werden würde – die etwas spitze Bemerkung gestatten Sie mir –, stünden Linke, Grüne und wahrscheinlich auch andere bei der nächsten Bundestagswahl ohne jede Wahlwerbung da, weil ihre Politik den Menschen nicht guttut.
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Meine Damen und Herren, ich will mit einer schlichten und ergreifenden Feststellung schließen. Kluge Menschen sagen regelmäßig: Wenn es nicht nötig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es nötig, kein Gesetz zu machen. – So handhaben wir es mit Ihren Anträgen. Sie finden keine Zustimmung.
Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Morgen.
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Herr Kollege Müller, ich bedanke mich bei Ihnen und möchte feststellen, dass sich Ihre Bemerkung zur Präsenz, da wir zwei Antragsteller haben, auf die Fraktion Die Linke bezogen haben muss.
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– Ja, aber wir haben zwei Antragsteller. Wir haben auch Bündnis 90/Die Grünen, und die sind deutlich präsenter im Saal vertreten als die Fraktion Die Linke.
Ich schließe damit die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 19 a. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/1878 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, die über die Mehrheit im Haus verfügen, wünschen Federführung beim Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Gesundheit.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Federführung beim Ausschuss für Gesundheit. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist dieser Überweisungsvorschlag gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, FDP und AfD abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Federführung beim Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Das ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis entschieden worden. Der Überweisungsvorschlag ist somit angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 b. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/2539 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Ausschuss für Gesundheit.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke, Federführung beim Ausschuss für Gesundheit. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Überweisungsvorschlag gegen die Stimmen von Linken und Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der restlichen Fraktionen dieses Hauses abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Federführung beim Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist dieser Überweisungsvorschlag mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, AfD und FDP gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer gestrigen und heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf heute, Freitag, den 8. Juni 2018, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch eine gute Nacht.
(Schluss: 1.43 Uhr)