Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/27/2018

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Fast auf den Tag genau vor 400 Jahren begann mit dem Bruch der Religionsfreiheit einer der schlimmsten Kriege in Deutschland, der Dreißigjährige Krieg, nämlich am 23. Mai 1618 mit dem sogenannten zweiten Prager Fenstersturz als Antwort darauf, dass die Katholiken aus Wien den protestantischen Landständen in Böhmen die Religionsfreiheit mehr oder weniger entzogen hatten. Es war der Auftakt zu einem grässlichen Krieg, der ein Drittel der Bevölkerung des Heiligen Römischen Reiches auslöschte. Ein Drittel! Dieser Krieg war geprägt durch die Unbedingtheit, die aus der religiösen Gegnerschaft entstanden war, und wurde dann unbeherrschbar. Herfried Münkler hat in seiner faszinierenden Beschreibung und Analyse des Dreißigjährigen Krieges genau erklärt, was damals passiert ist. Er formuliert: Dieser Dreißigjährige Krieg ist zugleich eine „Analysefolie“ für das, was in heutiger Zeit stattfindet. Auch heute entstehen aus der Unbedingtheit der religiösen Überzeugung wieder schreckliche Kriege, und es gibt sie auch schon, beispielsweise in der ganzen Region Syriens und des Irak. Aber nicht nur in diesen Regionen sehen wir eine Entwicklung, bei der man fast deprimiert sagen will: Hört das eigentlich gar nie auf? Wie auch im Dreißigjährigen Krieg kommen neben den religiösen Überzeugungen natürlich auch noch Interessen dazu. Diese Interessen werden aber nicht definitiv formuliert, sondern hinter den religiösen Überzeugungen versteckt. Ich denke beispielsweise an die Entwicklung in Indonesien, in einem Land, das von der Demokratie geprägt war und in dem die wenigen Christen – 3 Prozent – problemlos mit den Muslimen zusammenlebten, bis der arabische Islam in jüngster Zeit versuchte, die Strukturen dieser Gesellschaft mehr und mehr zu übernehmen – mit den entsprechenden Konsequenzen. Viele moderne Muslime in Indonesien erzählen mir, dass sie Sorge haben, dass durch diese Unbedingtheit, die auf der Hauptinsel Java schon die Scharia hervorgebracht hat, ihr schönes Land und ihre Gesellschaft zerstört werden könnten. Die ohnehin schon schlimme Situation in Pakistan wird mit keinem Tag besser. Bis zum heutigen Tag sitzt Asia Bibi im Gefängnis – auch kleine Kinder werden eingesperrt – und wird nicht freigelassen, obwohl die halbe Welt dafür wirbt. Auch in China gibt es eine neue Entwicklung, die von der chinesischen Regierung unter dem Stichwort „Sinisierung der Religion“ vorangetrieben wird. In einer großen Provinz kann man eine Entwicklung beobachten, von der man nicht weiß: War das vorauseilender Gehorsam, oder ist das die neue Strategie? Es wurde ein – so kann man sagen – Papier an alle Menschen in dieser Region herausgegeben, auf dem der Hinweis zu lesen war: Kinder unter 18 Jahren dürfen nicht mehr in religiöse Veranstaltungen mitgenommen werden; denn sie sind in diesem Alter noch nicht urteilsfähig. Die Eltern werden angehalten, die Kinder nicht in Liebe zur Religion, sondern in Liebe zum Land, zur Wissenschaft und zum Fortschritt zu erziehen. Den Eltern wird geraten: Wer es mit seinen Kindern gut meint, sollte keine Kirchen und keine religiöse Einrichtungen mehr besuchen. – Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Aus diesen Beispielen wird deutlich, dass Frieden in einer Gesellschaft nicht möglich ist, wenn Religionsfreiheit nicht gewährleistet wird, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Werfen wir noch einmal den Blick zurück. Münkler liefert nicht nur eine Analyse des Dreißigjährigen Krieges, sondern er weist auch darauf hin, wo die Lösung liegen könnte. Er führt den Westfälischen Frieden an, in dem die Religions-, Gewissens- und Überzeugungsfreiheit zumindest im Grundsatz formuliert wurden. Mit diesem Westfälischen Frieden wurde der Dreißigjährige Krieg beendet. Deswegen bleibt es dabei, auch wenn gesagt wird, dass sich in unserer Welt vieles wandelt: Ohne Religionsfreiheit werden die schweren Konflikte, die auch jetzt im Orient zu beobachten sind, nicht beendet werden können, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Es wird immer wieder gefragt: Was können wir zur Lösung dieser Konflikte beitragen? Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind aufgrund tragischer Erfahrungen, die wir gemacht haben, das Land der Religionsfreiheit. Wir können deshalb unseren Beitrag dadurch leisten, indem wir sagen: Ein zentrales Thema von Gesprächen in dieser Region, aber auch in anderen Teilen der Welt muss sein, Religionsfreiheit einzufordern und für ein Ende der Unbedingtheit einzutreten. Das heißt natürlich, dass die Religionsfreiheit in allen Ländern gewährleistet sein muss. Darauf müssen wir pochen und auf die guten Beispiele hinweisen. Es ist geradezu ein Jammer, dass in Regionen, die als Wiege des Christentums gelten, Christentum immer weniger gelebt wird. ({2}) Ein Beispiel ist die Türkei. In der Region Kappadokien in der Türkei, einer Wiege des Christentums, sind nur noch wenige Christen zu finden. Aber selbst diese wenigen haben kaum noch Chancen, religiöses Leben in der Türkei darzustellen. Deshalb muss, finde ich, gesagt werden – ausgehend von der Situation in unserem Land –: So wie wir ganz selbstverständlich Muslimen die Möglichkeit geben – und dafür treten wir auch ein –, als Teil der Religionsfreiheit ihre Moschee bauen und darin beten zu können, verlangen wir, dass die Christen ihre kleinen Kirchen in der Türkei auch bauen dürfen, meine sehr verehrten Damen und Herren, ({3}) Diese Forderung der Religionsfreiheit muss unbedingt sein, nicht die Unbedingtheit der einzelnen Religion. Das könnte unser Beitrag sein, indem wir dies immer wieder einfordern, wo wir auch sind. Die Religionsfreiheit ist das wohl bedeutendste Menschenrecht überhaupt, ({4}) weil es den Menschen über seine irdische Existenz hinaus verweist. Deswegen finde ich es gut, dass wir einen Bericht der Bundesregierung bekommen haben. Ich finde es großartig, dass wir uns in der Koalition darauf verständigen konnten, mit Markus Grübel einen Beauftragten für weltweite Religionsfreiheit zu installieren. Und ich finde es gut, dass wir die Zusage haben, nun regelmäßig Berichte zu bekommen, um einen Beitrag dazu zu leisten, dass der Friede in dieser Welt größer wird. Er wird nur dann größer, wenn die Religionsfreiheit mehr und mehr wieder zu einem wichtigen Thema und zu einem wichtigen Grundsatz wird. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Volker Münz, AfD. ({0})

Volker Münz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004835, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Um die Religionsfreiheit ist es weltweit schlecht bestellt. Der vor zwei Jahren von der Bundesregierung vorgelegte Bericht ist schon wieder veraltet. Die Situation hat sich seitdem weiter verschlechtert. Aus dem Bericht geht aber kaum hervor, dass die Christen die größte unterdrückte und verfolgte Religionsgruppe weltweit sind. Zur Ächtung und Sanktionierung der Christenverfolgung hat meine Fraktion in der letzten Woche einen Antrag eingebracht. Dafür sind wir von den anderen Fraktionen in der Debatte teilweise heftig beschimpft worden. ({0}) Das war beschämend, meine Damen und Herren. ({1}) Die Unterdrückung von Religionen und insbesondere von religiösen Minderheiten, nicht nur Christen, findet weltweit überwiegend in Staaten statt, in denen der Islam die vorherrschende Religion ist. Woran liegt das, meine Damen und Herren? Auch dies wird im Bericht kaum thematisiert. Das liegt daran, dass der Islam im Unterschied zum Christentum keine Trennung von Staat und Religion kennt. Aus diesem Grund haben die meisten islamisch geprägten Staaten die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wie auch den Zivilpakt der Vereinten Nationen entweder nur eingeschränkt anerkannt oder gar nicht ratifiziert. Der sogenannte politische Islam hat sich mittlerweile auch in Staaten ausgebreitet, die früher einmal als liberal galten, wie auch Volker Kauder schon gesagt hat: Indonesien, Malaysia, von der Türkei ganz zu schweigen. Auch die Vorstellung von einem liberalen „Euro-Islam“ ist an der harten Realität zerschellt. Der deutsche Politikwissenschaftler syrischer Herkunft Bassam Tibi spricht davon, dass der „Kopftuch-Islam“ den „Euro-Islam“ besiegt habe. Auch Mouhanad Khorchide, Seyran Ates aus Berlin und viele andere liberale Muslime sind mit ihren Bemühungen gescheitert und stehen in Deutschland teilweise unter Polizeischutz. Neben der staatlichen Verfolgung ist es vor allem die fehlende oder eingeschränkte Staatlichkeit, aufgrund derer die Religionsfreiheit nicht durchgesetzt werden kann. Nach der sogenannten Drei-Elemente-Lehre setzt Staatlichkeit drei Dinge voraus: erstens ein Staatsgebiet innerhalb von Grenzen, zweitens ein Staatsvolk und drittens die Staatsgewalt. Wir erleben einen Verlust an Staatlichkeit nicht nur, wenn wir in die weite Welt blicken, sondern auch bei uns, meine Damen und Herren. ({2}) Die Grenzen sind de facto abgeschafft. Die Staatsbürgerschaft wird letztlich auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt. Die Staatsgewalt zeigt Anzeichen des Versagens, wo zum Beispiel No-go-Areas entstanden sind, wie selbst die Kanzlerin zugegeben hat, wo zum Beispiel christliche Flüchtlinge in Asylheimen schikaniert werden, wo zum Beispiel Hetzjagden auf Juden stattfinden und wo es zu religiösem Mobbing gegen christliche und jüdische Kinder durch muslimische Mitschüler in unseren Schulen kommt. ({3}) Wir hatten 2015 und 2016 einen Zustand, in dem in Deutschland Recht und Ordnung nicht herrschten. Das sind die Worte des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten und heutigen Innenministers. ({4}) Gestern haben wir im Parlament die zunehmende importierte Judenfeindschaft in unserem Land beklagt. Die Bundesregierung, die Regierungen der Länder und die sie tragenden Parteien haben das jedoch durch ihre verantwortungslose Asyl- und Zuwanderungspolitik mitzuverantworten. ({5}) Der Bericht der Bundesregierung ist ein Anfang. Es ist auch sinnvoll, einen Beauftragten dafür zu ernennen. Ich wünsche Herrn Grübel dazu viel Erfolg. Aber ich vermisse konkrete Taten. Verhindern Sie, dass die Religionsfreiheit und andere Rechtsprinzipien in unserem Land durch vorgebliche Toleranz und falsch verstandene Humanität noch weiter ausgehöhlt und untergraben werden! ({6}) Verhindern Sie Waffengeschäfte mit Ländern, in denen Religionsfreiheit und andere Menschenrechte nicht gewährleistet sind! ({7}) Setzen Sie das Instrument wirtschaftlicher Sanktionen auch gegen Staaten ein, die die Rechte religiöser Minderheiten beschneiden, genauso wie Sie Sanktionen in anderen Zusammenhängen einsetzen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lars Castellucci, SPD. ({0})

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit. Das stammt aus der sozialdemokratischen Bibel. Es stammt von Willy Brandt. ({0}) Er hat das auf einem Parteitag gesagt, als er nach einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr für das Amt des Parteivorsitzenden kandidiert hat. Liebe Andrea, ich wünsche dir viel Erfolg. ({1}) Schauen wir einmal, wie lange das reicht und ob du an Willy mit seinen über 20 Jahren heranreichst. ({2}) Dieser Satz hat für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten weiter Gültigkeit. Was ist das denn für eine Freiheit, von der wir da reden? Es ist nicht die Freiheit des Stärkeren, der den Schwächeren unterdrückt. Es ist nicht die Freiheit, wo jeder machen kann, was er will. Aus lauter Egoisten entsteht keine freie Gesellschaft. Die Freiheit, die Willy Brandt meinte, ist ein guter Nachbar. Freiheit ist immer Freiheit von etwas und Freiheit zu etwas. Religions- und Weltanschauungsfreiheit bedeutet, dass es auch ohne Religion und Weltanschauung geht. Es geht darum, den Glauben anderer zu respektieren. Das wünsche ich mir von allen Mitgliedern dieses Hauses. ({3}) Herr Münz, da Sie die letzte Debatte angesprochen haben: Wenn Sie die Christenverfolgung benutzen, um gegen andere Religionen aufzustacheln, ({4}) dann vergreifen Sie sich an dem genannten Grundsatz. ({5}) Der vorliegende Bericht befasst sich mit der weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Ich glaube, wir sind an einem Punkt, wo wir wieder erläutern müssen, warum wir uns eigentlich weltweit um Religions- und Weltanschauungsfreiheit kümmern. Aus Amerika heißt es: America first! – Andere sagen, man solle sich erst einmal um das Volk kümmern. Dazu noch einmal Willy Brandt. Er hat gesagt: Wo immer schweres Leid über die Menschen gebracht wird, geht es uns alle an. ({6}) Vergesst nicht: Wer Unrecht lange geschehen lässt, bahnt dem nächsten den Weg. Ja, selbstverständlich, jeder Mensch muss sich erst mal um sich selbst kümmern und darf sich auch nicht überfordern – das gilt auch für Länder –; aber man darf doch nicht dabei stehen bleiben. Unsere Verantwortung reicht so weit, wie auch unsere Kräfte reichen. Verantwortung heißt, dass wir das tun, was wir können.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Castellucci, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bystron von der AfD?

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich gestatte keine Zwischenfrage. ({0}) Verantwortung heißt, dass wir tun können, was in unserer Macht steht. Deswegen begrüßt die SPD-Fraktion, dass es nun einen Beauftragten der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit gibt. Wir wünschen ihm von dieser Stelle aus auf jeden Fall alles Gute für seine Arbeit. ({1}) Wir begrüßen, dass der vorliegende Bericht regelmäßig fortgeschrieben werden soll. Der Einsatz der Bundesregierung zum Schutz der Religions- und Weltanschauungsfreiheit darf nicht nachlassen. Jetzt möchte ich ein paar Anmerkungen auch nach innen richten. Am Mittwoch hat Berlin Kippa getragen. Das war ein wichtiges Signal der Solidarität. In unserem Land sollen alle, egal welcher Religion, egal welcher Hautfarbe, egal welcher sexuellen Orientierung, frei und ohne Angst auf die Straße gehen können. Wir dürfen nicht nachlassen, daran zu arbeiten. ({2}) Der Bericht sagt klar: Die Freiheit der Religion und Weltanschauung schützt nicht Religionen und Weltanschauungen; sie schützt Menschen. Auch deshalb geht eine Debatte, ob eine Religion dazugehört oder nicht, völlig fehl. Die Menschen gehören immer dazu und mit ihnen ihr Glaube. Wir müssen diese ausgrenzenden Debatten beenden. ({3}) Menschen sind frei, sich zu ihrer Religion zu bekennen oder auch nicht. Der Staat eröffnet dafür Räume. Er sollte ihnen da nichts vorschreiben. Deswegen halte ich es auch als Christ für falsch, anzuordnen, in allen staatlichen Gebäuden in Bayern christliche Symbole aufzuhängen. ({4}) Leider geht es hier nicht um Religion, sondern es geht um Wahlkampf. Es zeigt, dass wir auch im Inneren nicht davor gefeit sind, dass Religion für andere Ziele vereinnahmt wird. Ich kann da nur sagen: Finger weg davon! ({5}) Ein letzter Punkt. Es werden immer wieder Vorkommnisse in Heimen für Geflüchtete angesprochen, und es werden Stimmen laut, wir müssten unterschiedliche Einrichtungen für Menschen unterschiedlicher Religionen, unterschiedlichen Geschlechts etc. haben. Dazu will ich sagen: Davon halte ich gar nichts. In Deutschland muss für alle und von Anfang an der Anspruch sein, dass wir über alles Trennende hinweg gut zusammenleben wollen. Das Wichtigste, was wir als Politikerinnen und Politiker dafür tun können, ist, diesen Anspruch selbst vorzuleben. Wir müssen anstecken – positiv, für die Freiheit. Dazu rufe ich uns alle auf. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dann erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Bystron für eine Zwischenbemerkung.

Petr Bystron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004692, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Herr Dr. Castellucci, Sie haben vorhin gesagt, wir missbrauchten die Christenverfolgung. Das ist ein sehr schwerwiegender Vorwurf, den Sie da machen. ({0}) – „Instrumentalisieren“, ja, danke, Herr Kollege. Ich möchte Ihnen etwas vorlesen, was sehr aktuell ist. Es ist ein Bericht eines Schülers hier aus Berlin: Ich gehe in die siebte Klasse auf ein Gymnasium in Schöneberg. Dort werde ich ausgegrenzt, weil ich Deutscher bin und Schweinefleisch esse. Es wird auf Türkisch und Arabisch über mich gelästert. Auf Deutsch werde ich als Hurensohn oder gefickte Hure beschimpft. Außerdem werde ich ab und zu geschlagen und getreten. Wenn ich anderen Jungen zu nahe komme ... Mädchen werden in meiner Klasse als Schlampen bezeichnet, wenn sie schulterfreie Shirts tragen. Ich versuche seit vielen Monaten, die Schule zu wechseln, finde aber keinen freien Schulplatz. Das ist der Erfahrungsbericht eines Mobbingopfers – „Tagesspiegel“, 11. April 2018 – hier aus Deutschland. Ich bitte Sie: Sie haben lange genug Regierungsverantwortung getragen. Die Zustände, die hier herrschen, gehen auf Ihr Konto zurück. Und versuchen Sie nicht, von Ihrem Versagen abzulenken, wenn Sie uns vorwerfen, irgendetwas zu instrumentalisieren. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Castellucci.

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das sagt jemand, der schon vom bayerischen Verfassungsschutz beobachtet worden ist. Ich glaube, wir brauchen von Ihnen keine Nachhilfe. ({0}) Es geht am Ende um den Zusammenhalt in diesem Land. Ihre Beiträge sind immer wieder dazu geeignet, Gruppen gegeneinander auszuspielen. ({1}) Dass Sie nun einen solchen Fall, den ich bedauere und der aufgeklärt werden muss, hervorziehen, ist einfach nur ein Beleg dafür, was ich in meiner Rede zum Ausdruck gebracht habe. ({2}) Sie instrumentalisieren solche Fälle, um Menschen in diesem Land gegeneinander aufzuhetzen, und dagegen verwehren wir uns. ({3}) Dagegen werden wir angehen, solange wir hier miteinander zu tun haben. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Ruppert, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich finde es erst einmal wunderbar, dass es zu einer frühen Stunde an prominenter Stelle eine solche Debatte gibt. Religionsfreiheit weltweit ist bedroht, und wir aus diesem Hause müssen uns an die Seite derer stellen, die wegen ihres Glaubens oder auch wegen ihres Nichtglaubens weltweit verfolgt werden. ({0}) Wir können nicht wegschauen, wenn in Saudi-Arabien etwa Dinge finanziert werden, in Malaysia, wo Menschen im Namen des Islam gegeneinander aufgestachelt werden. ({1}) Wir können nicht wegschauen, wenn Rohingya in Myanmar verfolgt werden. Wir können aber auch bewusst nicht wegschauen, wenn Christen weltweit verfolgt werden, nur weil sie etwas glauben. Demokratie gehört mit Religionsfreiheit untrennbar zusammen. Dort, wo man nicht beten kann, kann man in der Regel auch nicht wählen, und darauf müssen wir hinweisen. ({2}) Wir haben dieser Tage erlebt, dass auch die Religionsfreiheit in unserem Land bedroht ist. Volker Kauder und andere Kollegen haben bei „Berlin trägt Kippa“ demonstriert. Das ist für uns ein Akt der Solidarität – für uns leider nur ein Akt der Solidarität; – es ist für uns ungefährlich –; für die Menschen, die, wenn sie durch die Straßen laufen, mit dem alltäglichen Antisemitismus konfrontiert werden, ist es eine tägliche Sorge. Es kann nicht sein, dass auch in unserem Land die Religionsfreiheit nicht gelebt werden kann. Wir müssen uns für diese Menschen einsetzen. ({3}) Ich glaube, dass mein eigener Glaube nicht nur Privatsache ist. Das hört man dieser Tage häufig. Ich will meinen Glauben durchaus auch im öffentlichen Raum ausleben können. Ein Symbol dafür ist, dass man im öffentlichen Raum Kippa tragen kann und sich damit nicht sozusagen in das Hinterzimmer, den Gemeinderaum, die Synagoge zurückziehen muss. Es muss Möglichkeiten geben, seinen Glauben auch öffentlich und in aller Freiheit zu bekennen. ({4}) Bei uns sind die Konflikte übrigens auch nicht so alt. Wenn meine wunderbare tolerante 94-jährige Großmutter einem Menschen etwas misstraute, dann sagte sie häufig: Der guckt schon so katholisch. ({5}) Das ist kein Zeichen von Intoleranz gewesen, sondern ein Zeichen, dass auch in ihrer Jugend die Unterschiede der Konfessionen die Menschen getrennt haben und dass es – bis in den Sprachgebrauch hinein –, schwierig war, mit der jeweils anderen Konfession tolerant umzugehen. Deswegen sollten wir uns auch nicht über andere erheben, sondern sollten bei uns selbst immer darauf achten, ob wir diese Toleranz gegenüber anderen aufbringen. ({6}) Am Ende verlasse ich etwas die Perspektive des Freien Demokraten und spreche mal als sehr gläubiger oder, ich würde sagen, doch gläubiger Protestant. Es ist für mich schon bemerkenswert, dass ein bayerischer Ministerpräsident mir als gläubigem Protestanten sagt: Dieses Kreuz ist kein religiöses Symbol; dieses Kreuz ist ein Identitätssymbol. – Er sagt mir quasi, dass er meine Religion in Bayern in einer Form verstaatlicht, die meine Religionsfreiheit angreift. ({7}) Deswegen ist es schade, dass der Bericht nicht so aktuell ist, dass Herr Söder darin ebenfalls enthalten ist. Er betreibt – dabei haben die christlichen Kirchen richtige Worte gefunden – das Geschäft, das weltweit betrieben wird: Er stellt ein Symbol – bei ihm ist es noch nicht mal mehr ein religiöses Symbol, sondern ein identitäres Symbol – in den Dienst seiner politischen Agenda. Ich finde, er hat uns Christinnen und Christen damit einen Bärendienst erwiesen. Und am Ende wird das die Religionsfreiheit auch in unserem Land stärker machen. – Es war mir als engagiertem und gläubigem Protestanten wichtig, das mal zu sagen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Buchholz, Fraktion Die Linke. ({0})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute den Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Religionsfreiheit. Die Linke begrüßt diesen Bericht. Er enthält wichtige Grundlagen zum Verständnis der Religionsfreiheit als Menschenrecht und dokumentiert die erschreckende Entwicklung von Religionsfreiheit in der Welt, aber auch in Europa. Für Die Linke sind Gewissens-, Glaubens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit elementare Menschenrechte. ({0}) Sie gelten für alle: für Christinnen und Christen, für Jüdinnen und Juden, für Musliminnen und Muslime, für Alevitinnen und Aleviten, für Buddhistinnen und Buddhisten, für Anhänger aller anderen Religionen und auch für Atheistinnen und Atheisten. Dabei gibt es keine Rangfolge; alle Religionen sind schutzwürdig. ({1}) Alle Menschen haben das Recht, sich zu einer Religion zu bekennen, keiner Religion anzugehören und ihre Religion in der Öffentlichkeit zu leben. Wenn die AfD die Diskriminierung, Bedrängung und Verfolgung von Christen für ihren Hass auf den Islam nutzt, dann ist das einfach nur schäbig. ({2}) Die Achtung der Menschenrechte muss die Grundlage der Außenpolitik sein, ohne Wenn und Aber. Leider ist das nicht immer der Fall. 2011 erklärte der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière Saudi-Arabien zum Stabilitätsanker in der Region. Er sagte wörtlich – Zitat –: Menschenrechtsüberlegungen müssen eine Rolle spielen, doch überwiegen die internationalen Sicherheitsinteressen. Diese Devise leitet auch die aktuelle Bundesregierung. Die Linke sagt: Wer sich die weltweite Religionsfreiheit zu Recht auf die Fahnen schreibt und gleichzeitig Waffen an Saudi-Arabien liefert, macht sich absolut unglaubwürdig. ({3}) Gleiches gilt für die Innenpolitik. Der Bericht spricht von einer Zunahme islamfeindlicher Einstellungen in Europa und Deutschland. Islamfeindliche Gewalt nimmt zu, Konvertiten erleben Vorurteile, in einigen Ländern wird das individuelle Recht auf Bekenntnis in der Öffentlichkeit durch Bekleidungsverbote eingeschränkt. Studien belegen die Diskriminierung von Muslimen in der Privatwirtschaft. Eine zum Islam konvertierte Wissenschaftlerin aus Berlin-Grünau berichtete mir gestern, wie die Stimmung nach dem Einzug der AfD in das Berliner Abgeordnetenhaus gekippt ist. Die Leute auf der Straße lassen ihrem Hass viel ungehemmter als vorher freien Lauf. Statt der üblichen verächtlichen Blicke erlebt sie direkte Drohungen. Sie ist letztendlich aus Angst vor tätlichen Übergriffen weggezogen. Junge Frauen mit Kopftuch berichten, dass sie an Schulen nicht nur gegen die Vorurteile von Schülern ankämpfen müssen, sondern nicht selten auch Feindseligkeiten von Lehrkräften ausgesetzt sind. Das kommt in Ost und West vor. Muslime werden bei der Arbeits- und Wohnungssuche diskriminiert. ({4}) Das ist nicht hinnehmenbar. ({5}) Der Bericht verzeichnet einen Anstieg der Zahl antisemitischer Vorfälle und Straftaten. Wir verurteilen zutiefst jede Form des Antisemitismus. ({6}) Die Mehrzahl antisemitischer Straftaten kommt übrigens von rechts. ({7}) Wir verwahren uns dagegen, dass Muslime unter den Generalverdacht des Antisemitismus gestellt werden. Im Antisemitismusbericht des Unabhängigen Expertenkreises heißt es übrigens, Antisemitismus sei durch die seit Jahren aufgeheizte Debatte über Islam, Terrorismus und Zuwanderung begünstigt. Rechtspopulistische und verschwörungstheoretische Bewegungen und Parteien hätten ein politisches Klima der Polarisierung geschaffen. – ({8}) Wer das Holocaust-Mahnmal als Denkmal der Schande bezeichnet, der befeuert genau dieses politische Klima der Polarisierung. ({9}) Mit der AfD spricht erstmals eine im Bundestag vertretene Partei einer Religionsgemeinschaft ab, sich gleichberechtigt entfalten zu dürfen. Ihre islamfeindlichen Reden sind nichts anderes als ein Rückfall in düstere Zeiten. ({10}) Wenn Innenminister Seehofer nun auch noch die These verbreitet, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, stößt er genau in das gleiche Horn. Das ist mehr als fahrlässig, weil es letztendlich die Thesen der Hetzer von rechts bestätigt. ({11}) Wir wollen, dass jeder und jede überall in diesem Land Kippa, Kopftuch oder Kreuz tragen kann, ohne bedroht, gemobbt oder geschlagen zu werden. Wir möchten, dass vor keiner Synagoge, keiner Moschee oder Kirche Sicherheitskräfte stehen müssen. ({12}) Zur Religionsfreiheit gehört auch die staatliche Neu­tralität. Im Bericht heißt es: Der Staat muss einen Rahmen schaffen, in dem alle Religionsgemeinschaften gleichberechtigt leben können. Auf all das warten in Deutschland insbesondere noch Muslime. ({13}) Das muss sich ändern. ({14}) Staatliche Neutralität gebietet auch, dass an der Wand eines Amtsgebäudes das Kreuz nichts zu suchen hat. Der Raum gehört allen. ({15}) Wenn in Bayern einerseits in Ämtern das Kreuz angebracht wird und andererseits das Tragen des Kopftuchs weiter eingeschränkt wird, zeigt das, worum es der bayerischen Landesregierung eigentlich geht: um die Ausgrenzung der anderen. ({16}) Die Linke hingegen steht für staatliche Neutralität und individuelle Religionsfreiheit zugleich; denn beides gehört zusammen. ({17}) Wir fordern von der Regierung und dem zukünftigen Beauftragten Markus Grübel erstens, keine Waffen an Staaten zu liefern, die das Menschenrecht auf Religionsfreiheit einschränken, und zweitens, jegliche Formen von religionsbezogener und rassistischer Diskriminierung gleichermaßen zurückzuweisen und nachhaltige Maßnahmen zu ergreifen, damit diese Einstellungen in Schulen und in der gesamten Gesellschaft zurückgedrängt werden können. ({18}) Drittens fordern wir die Bundesregierung auf, einen Rahmen zu schaffen, in dem auch muslimische Religionsgemeinschaften gleichberechtigt in Deutschland leben können. Vielen Dank. ({19})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 2015 haben Union, SPD und wir Grüne den Bericht zur weltweiten Religions- und Weltanschauungsfreiheit auf den Weg gebracht. Heute debattieren wir die erste Ausgabe. Sie zeigt: Religiöse Verfolgung hat viele Formen, religiöse Minderheiten werden vielerorts unterdrückt, und Anhänger nahezu jeder Religion sind irgendwo auf der Welt sowohl Verfolgte als auch Verfolger. Für uns Grüne im Bundestag sage ich klar: Wir wenden uns gegen jede Diskriminierung und Verfolgung von Gläubigen, Glaubensgemeinschaften, religiösen Minderheiten und Konfessionslosen – egal von wem und egal wo. ({0}) Deutschland und die Weltgemeinschaft müssen überall dort einschreiten und helfen, wo Menschenrechte – dazu gehört elementar die Religionsfreiheit – verletzt werden. In vielen Ländern und Regionen ist Verfolgung aufgrund der Religionszugehörigkeit leider bitterer Alltag. Neben Christen und Juden sind die muslimischen Rohingya, die Ahmadiyya, die Bahai, die Jesiden, Schabak, Aleviten, Schiiten, Sunniten, Uiguren und Tibeter betroffen. Diese und andere gehören geschützt; ({1}) denn Religions- und Weltanschauungsfreiheit muss für alle gelten und nicht selektiv für eine Mehrheitsreligion. ({2}) Die Zahl der Anschläge auf jüdische und muslimische Gotteshäuser in Deutschland nimmt zu. Pegida und AfD hetzen gegen Muslime. Juden werden auf der Straße angegriffen. All dem müssen wir uns entgegenstellen. „Berlin trägt Kippa“ war gelebte Zivilcourage und ein starkes Signal gegen den ekelerregenden Antisemitismus. Wir brauchen mehr solcher Signale; ({3}) denn wir wissen aus unserer Geschichte, dass der Hass auf eine bestimmte Religion Ausdruck einer Denkweise ist, die Gewalt jedweder Minderheit zur Folge haben kann. Deshalb ist Grundkonsens aller Demokratinnen und Demokraten: Wehret den Anfängen. ({4}) Unser Grundgesetz schützt die Grund- und Freiheitsrechte aller. Das ist eine weltweit wichtige Botschaft. Deshalb sind wir Grüne Verfassungsschützer im allerbesten Sinne. ({5}) Ich bin Christ. Ich bin Jude, wenn jemand Juden diskriminiert. Ich bin Moslem, wenn jemand Muslime diskriminiert. Ich bin Atheist, wenn jemand Atheisten diskriminiert. Religionsfreiheit ist kein Gnadenbrot oder Exklusivrecht für wenige. Religion ist das Recht, seinen Glauben frei zu bekennen. Religionsfreiheit ist das Schutzrecht für Religion und vor Religion. Beide Rechte müssen gekannt und durchgesetzt werden. ({6}) Der vorliegende Bericht hat Defizite. Die Lage der Religionsfreiheit weltweit wird nicht systematisch genug analysiert. Die Lage hierzulande bleibt ausgeblendet. Diese Defizite sollten beim zweiten Bericht beseitigt werden. ({7}) Menschenrechtsbasierte Außenpolitik beginnt ganz klar vor der eigenen Haustür. Wir Deutschen können im Ausland am glaubwürdigsten für Religionsfreiheit eintreten, wenn wir sie auch im eigenen Land leben und an Verbesserungen arbeiten. Dies kann nicht allein durch staatliche Stellen erfolgen oder den jeweiligen Religionsgemeinschaften allein aufgebürdet werden. Das gelingt nur gemeinsam mit einer starken Zivilgesellschaft und im interreligiösen Dialog. ({8}) Religion ist sehr individuell, persönlich und emotional. Sie kann sehr, sehr segensreich wirken, aber auch politisch instrumentalisiert werden. Es ist offensichtlich, dass Bayerns Ministerpräsident Markus Söder mit seinem Kreuzzwang das christliche Symbol zum Gegenstand eines billigen Wahlkampfmanövers macht. ({9}) Zu Recht empört viele Christinnen und Christen die parteipolitische Vereinnahmung ihres wichtigsten religiösen Symbols. Söder missachtet die Neutralitätspflicht unseres Staates und sendet ein Signal der Ausgrenzung. Bei Söder und Seehofer ist unsere Verfassung offenbar in schlechten Händen. Ja Herrgott, ist die CSU von allen guten Geistern verlassen? ({10}) Wer hierzulande das Christentum überhöht, wird kaum glaubwürdig gegen Christendiskriminierung in anderen Ländern angehen können. Nur wenn wir das Recht auf Glaubensfreiheit aller Menschen ernsthaft wertschätzen, können wir Brücken bauen und den Dialog über Menschenrechte vertiefen. Als Menschenrechtspolitiker setze ich mich dafür ein, dass Moscheen in Deutschland gebaut werden dürfen. Genauso streite ich dafür, dass die Kopten ihre Kirchen in Ägypten bauen dürfen oder das Bibelverbot in Saudi-Arabien endlich aufgehoben wird. Es gibt verdammt viel zu tun. ({11}) Deutschland muss weltweit für Menschenwürde, Pluralismus und den Schutz vor Diskriminierung eintreten. Neben religiösen Rechten gehören die Rechte ethnischer, sozialer, geschlechtlicher und sexueller Minderheiten genauso dazu, und die Bundesregierung muss diese immer wieder verteidigen. ({12}) Eine Aufsplitterung des Menschenrechtsschutzes auf verschiedene Beauftragte sehen wir äußerst kritisch. Sie haben als Koalition einen Religionsfreiheitsbeauftragten ernannt. Wann, bitte schön, ernennen Sie zum Beispiel Beauftragte für Presse- und Meinungsfreiheit, für Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, für Wissenschafts- und Kunstfreiheit, ({13}) für Kinderrechte, für Frauenrechte, für LGBTI-Rechte? Jede Aufteilung des Menschenrechtsschutzes ist willkürlich. Mit neuen Doppelstrukturen zwischen der Menschenrechtsbeauftragten im Auswärtigen Amt und einem Religionsbeauftragten im BMZ drohen Reibungsverluste. Besser wäre eine umfassende Stärkung des Amtes der Menschenrechtsbeauftragten gewesen. In anderen Staaten haben Menschenrechte sogar Ministerrang. ({14}) Zum Schluss: Unsere Aufgabe im In- und Ausland ist es, uns jeder Form des religiösen Fundamentalismus zu widersetzen und die Werte der Aufklärung hochzuhalten. Genau dafür steht Europa. Europa ist kein exklusiver christlicher Klub, sondern ein multireligiöser Kontinent. Europa und Deutschland bedeuten Vielfalt. Ich weiß: Für Fundamentalisten und Nationalisten ist das schwer erträglich. Aber auch aus dieser Erkenntnis heraus streiten alle Demokratinnen und Demokraten gegen menschenfeindliche und religionsfeindliche Tendenzen und für Menschenrechte und Freiheit. Lassen Sie uns diesen Einsatz weiter verstärken. ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Aydan Özoğuz, SPD-Fraktion. ({0})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, nicht nur der Bericht, sondern auch diese Debatte zeigt, dass die Religions- und Weltanschauungsfreiheit ein wirklich immens hohes Gut ist, das es immer wieder zu schützen gilt. Sie ist Teil der UN-Menschenrechtscharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention und natürlich auch ein immens wichtiger Bestandteil unserer Außen- und Sicherheitspolitik. Einschränkungen dieser Freiheit sind nichts anderes als Menschenrechtsverletzungen. Diese müssen benannt und, wo immer möglich, natürlich beseitigt werden. In dieser Debatte ist deutlich geworden: Man steht nur dann wirklich glaubwürdig für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, wenn man Gruppen nicht gegeneinander ausspielt, sondern es damit wirklich für alle ernst meint. ({0}) Die benannten Konflikte haben leider eines gemeinsam: Es wird selten über religiöse Inhalte debattiert und gestritten. Es geht um Macht, es geht um Dominanz, ({1}) es geht um Unterdrückung, und es geht darum, wie das Verhältnis der jeweiligen Minderheit zur Mehrheit ist. Der Bericht beschreibt sehr treffend, wie oft Minderheiten unterdrückt werden. Deshalb muss uns das eben auch mahnen, dass wir helfen, diese Minderheitenrechte nicht nur bei uns, sondern natürlich auch in allen anderen Ländern immer wieder zu verteidigen. ({2}) Ich möchte noch einmal auf eines hinweisen: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte schützt nicht einzelne Religionen, ({3}) sondern sie schützt das Individuum. ({4}) Sie schützt jeden Einzelnen, ({5}) der sich in irgendeiner Gruppe bewegt, für sich zu entscheiden, ob er zu einer Religionsgemeinschaft gehören möchte, zu welcher er gehören möchte oder ob er zu gar keiner Religionsgemeinschaft gehören möchte. ({6}) Herr Grübel, ich möchte Ihnen gratulieren und sagen, dass ich mir sicher bin, dass Sie Ihre Sache gut machen werden. Aber ich möchte noch einen Punkt im Besonderen hervorheben, von dem ich glaube, dass er einen guten Ansatz, auch für Ihre zukünftige Arbeit, darstellt: der Religionsunterricht. Darüber debattieren wir viel in unserem Land, und zwar zu Recht. Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen hat sich dahin gehend geäußert, dass der Unterricht an öffentlichen Schulen neutral und objektiv sein muss. Wie ist das bei uns? Wir haben in 16 Bundesländern sehr unterschiedliche Modelle. Es macht daher grundsätzlich Sinn, immer wieder deutlich zu machen: Bei uns ist das Recht der Religionsgemeinschaften auf einen eigenen Unterricht geschützt. Manche Bundesländer gehen noch weiter und sagen: In der Schule sollten Kinder und Jugendliche eigentlich gerade lernen, dass Menschen unterschiedlich sind, dass sie an unterschiedliche Dinge glauben, dass man auch bei völlig unterschiedlicher Weltanschauung friedlich und gut zusammenleben kann. Das machen wir beispielsweise in Hamburg mit dem Religionsunterricht für alle. Ich würde mir wünschen, dass wir über das Thema Religionsunterricht nicht nur, wenn es um andere Länder geht, sondern auch, wenn es um die Situation bei uns geht, noch viel stärker debattieren. ({7}) Wir reden heute über alltägliche Aggression gegenüber religiösen Menschen. Da kann es nur einen Schluss geben – ich hoffe, dass das auch zu einem Schulterschluss führt –: Kein jüdisches Kind, kein christliches Kind, kein muslimisches Kind darf sich in der Schule oder auf der Straße unsicher fühlen. Wenn einem Jungen die Kippa vom Kopf gerissen wird, müssen wir alle vor ihm stehen, aber auch dann, wenn einem syrischen Mädchen das Kopftuch vom Kopf gerissen wird, müssen wir alle vor ihr stehen und ihr die Angst nehmen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Verena Hartmann, AfD, zu ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0})

Verena Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004737, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit einem Bericht vom 9. Juni 2016 zur weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Die Daten­erhebung stammt vom Oktober 2015, ist also brandaktuell. In der ersten Debatte 2016 sprach sich Herr Kauder, CDU/CSU, gegen die weltweite Verfolgung von über 100 Millionen Christen aus ({0}) und erntete Beifall. In der letzten Woche sprach sich die AfD gegen die weltweite Verfolgung von nunmehr 200 Millionen Christen aus – und erntete hetzerische Beschimpfungen. Es war von Verschwörungstheorien die Rede und davon, dass sich Nazis und Rassisten nicht zu schade seien, verfolgte Christen zu instrumentalisieren und die Gesellschaft zu spalten. ({1}) Ihnen waren die Menschen so wichtig, dass diese Debatte erst einmal für die nächsten zwei Jahre auf Eis gelegt wurde. Auch das von Herrn Kauder angesprochene Schicksal von Asia Bibi, einer Christin, die nur aufgrund ihres Glaubens in Pakistan zum Tode verurteilt wurde und mit ihren Kindern im Gefängnis Tag für Tag, Jahr für Jahr die Vollstreckung fürchten muss, schien Ihnen ja ganz besonders am Herzen zu liegen. Haben Sie sich seit 2016 für sie eingesetzt? ({2}) Es war ja kaum Zeit. Und die Spielkarte „Du kommst aus dem Gefängnis frei“ ({3}) war schließlich schon für einen Herrn Deniz Yücel reserviert. Da ging es um das im Vergleich hochdramatische Schicksal eines deutsch-türkischen Journalisten, von Politik und Medien gleichermaßen geschätzt wegen seiner bis zur Ekstase ausgelebten Meinungsfreiheit, die sich süffisant in Sprechblasen ergoss, wie: Der baldige Abgang der Deutschen ist Völkersterben von seiner schönsten Seite. ({4}) Wahrscheinlich – wir können es nur vermuten – lösten diese Worte in den Ohren der Altparteien einen so süßen Schmerz aus, auf den sie nicht mehr verzichten wollten. ({5}) Nun ja, meine Damen und Herren, Asia Bibi ist keine Intellektuelle und schreibt keine so feinsinnigen Zeilen. Das sollte sie vielleicht einmal tun. Schauen wir nach Deutschland, ein Land, welches im Bericht nur stiefmütterlich behandelt wurde. Wie ist es um die Freiheit der Weltanschauung bestellt? Dazu habe ich schon seit langer Zeit ein Déjà-vu. Ich fühle mich wieder wie im tiefsten Osten. Es herrscht eine Meinungsdiktatur, in der Andersdenkende ausgegrenzt, geächtet und diffamiert werden. ({6}) Nicht einmal vor ihren Kindern wird haltgemacht. Dafür, werte Kollegen, können Sie sich gegenseitig auf die Schultern klopfen. Damals als Christin, heute als AfD-Politikerin stigmatisiert und des Menschseins abgesprochen ist alles erlaubt. Ich staune immer wieder über die Arroganz und die disziplinierte Eintracht unter den Parteien, wenn es um die AfD geht. Sonst spinnefeind verschmelzen Sie zu einer Einheitspartei. ({7}) Die Linke ist kein rotes Tuch mehr. Die Grünen werden von Frau Merkel getätschelt und legen sich genussvoll auf den Rücken. Die SPD ist aus der Schmollecke wieder zurückgekehrt. Und die FDP wäre ohne unser Programm und die Menschen, die sich nicht trauten, AfD zu wählen, gar nicht mehr im Bundestag. ({8}) Was wären Sie alle ohne uns? So viel Harmonie auf einen Haufen ist für das Volk unerträglich, da außer gegenseitiger Beweihräucherung und polemischen Lippenbekenntnissen nichts, ({9}) aber auch gar nichts übrig bleibt. ({10}) Und dieses Prinzip der Masse gegen eine Minderheit – von Le Bon richtig analysiert – funktioniert immer. Extreme Beispiele lassen sich zuhauf in der Vergangenheit finden und sind mir aus Zeiten der DDR-Diktatur wohlbekannt. ({11}) Sie alle hier haben sich diesem Korpsgeist unterworfen. Sie sind zu feige, für Ihre wirkliche Meinung, für Ihr eigenes Land und seine Menschen einzustehen. ({12}) Ich kann Ihnen versichern, werte Kollegen, Sie wären hervorragende sozialistische DDR-Bürger geworden. Ein Erich Honecker wäre entzückt. ({13}) Die Linke ist es. Und die ehemalige FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda in der DDR, Frau Merkel, kann stolz auf ihr Werk sein. Danke. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Markus Grübel, CDU/CSU. ({0})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Hartmann, ich glaube, Sie haben das Thema Freiheit nicht verstanden. ({0}) Ich möchte nicht, dass in jeder Rede auf die AfD eingegangen werden muss. Ich finde es gut, dass am letzten Mittwochabend so viele Menschen, auch politisch Verantwortliche – Volker Kauder, Annette Widmann-Mauz – bei der Veranstaltung „Berlin trägt Kippa“ waren. Es ist aber schlecht und besorgniserregend, dass das in Deutschland nötig ist. ({1}) Es ist gut, dass wir in den letzten zwei Sitzungswochen so häufig über Religionsfreiheit und Menschenrechte debattiert haben: über die Situation der Rohingya am Freitagmorgen zu bester Plenarzeit und über die Christenverfolgung am Donnerstagabend. Es ist aber besorgniserregend und schlecht, dass das nötig ist. Das Menschenrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit wird weltweit zunehmend eingeschränkt oder komplett infrage gestellt. Ungefähr drei Viertel der Weltbevölkerung leben in Ländern mit Einschränkungen der Religionsfreiheit. Christen und Muslime sind aufgrund ihrer Gesamtzahl am häufigsten davon betroffen. Christen wurden 2015 in 128 Ländern bedrängt, diskriminiert oder sogar verfolgt – 2007 waren es noch 108. Darum ist es gut und richtig, dass im Koalitionsvertrag das Thema aufgegriffen und die Stelle des Beauftragten für weltweite Religionsfreiheit geschaffen wurde, die beim BMZ angesiedelt ist. Zu meiner Aufgabe gehört künftig auch, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, den Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit im zweijährigen Rhythmus fortzuschreiben. Der vorliegende Bericht aus dem Jahr 2016, über den wir heute sprechen, verzichtet weitgehend auf Gesamtbetrachtungen zu Staaten und vermeidet Handlungsempfehlungen. Der nächste Bericht der Bundesregierung sollte meiner Meinung nach dokumentieren, berichten, hinweisen, aber auch werten und Empfehlungen geben. ({2}) Ich möchte diesen Bericht zusammen mit interessierten Abgeordneten, mit den Ressorts, mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften, mit engagierten Gruppen und Einzelpersonen sowie mit Wissenschaftlern erarbeiten. Beim Thema Religionsfreiheit fangen wir nicht bei null an. Schon 1999 hat die CDU/CSU-Fraktion eine Große Anfrage zur Christenverfolgung und zur Religionsfreiheit an die rot-grüne Bundesregierung gerichtet, und Volker Kauder macht regelmäßig Veranstaltungen und Termine und hält Reden zum Thema „Christenverfolgung und Religionsfreiheit“. Im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gibt es seit Anfang 2016 den Arbeitsbereich „Religion und Entwicklung“. Die Strategie, die Religionen als Partner in der Entwicklungszusammenarbeit, zeigt vielfältige Maßnahmen auf. Auch im Auswärtigen Amt gibt es seit Ende 2016 den Arbeitsstab „Friedensverantwortung der Religionen“. Sehr geehrte Damen und Herren, ganze Völker, ganze Religionsgemeinschaften sind sprichwörtlich vom Aussterben, von der Ausrottung bedroht. Unser Einsatz kommt gerade zur rechten Zeit und hoffentlich noch rechtzeitig. Nehmen wir eine Region, die im Brennglas zeigt, wie berechtigt unsere Sorge ist – ich habe sie gerade mit Minister Müller besucht –: den Nordirak. Ich erwähne etwa die Christen, die an der Wiege der Christenheit leben oder gelebt haben, die aramäischen, assyrischen, chaldäischen Christen, Urkirchen, die zum Teil die Muttersprache Jesu sprechen. Ich erinnere an die Religionsgruppe der Jesiden im Nordirak und in Syrien, die in besonderer Weise unter dem schrecklichen Wüten des IS gelitten hat. Die Jesiden leben heute in Flüchtlingslagern oder sind in viele Länder der Welt zerstreut; viele sind auch in Deutschland. Ich erinnere an die ebenfalls im Nordirak lebenden Mandäer und Schabak, an die Turkmenen. Diese religiöse Vielfalt, dieses Mosaik, erinnert an das reiche Erbe der Region. Es ist ein Erbe der Menschheit. All diese Religionsgruppen wurden angegriffen, weil sie sich nicht dem IS beugen wollten. Sie haben viele Opfer zu beklagen, sind als Binnenflüchtlinge entwurzelt und in ihrem Fortbestand bedroht. Die Angriffe sind religiös begründet und auch so zu verstehen: als Versuch, Andersgläubige zu vernichten. Ich könnte die Aufzählung noch fortführen; Kai Gehring hat ja viele betroffene Gruppen aufgezählt. Ganz konkret müssen wir uns aktuell die Frage stellen, wie es gelingen kann, dass in der Ninive-Ebene oder am Sindschar wieder Christen und Jesiden leben können. Wer garantiert ihre Sicherheit? Die irakische Regierung? Das wird den Christen und Jesiden aufgrund schlechter Erfahrungen nicht genügen. Die Weltgemeinschaft? Die Europäische Union? Was ist unser deutscher Beitrag? Wir müssen die Frage beantworten, wie ein Aussöhnungsprozess im Nordirak erfolgen kann. Die Benennung und Bestrafung der Haupttäter ist eine Voraussetzung für die Versöhnung. Wir müssen Lösungen finden, wie ein gutes Miteinander oder wenigstens friedliches Nebeneinander von Sunniten, Schiiten, Jesiden und Christen möglich ist. Wir müssen auch bereit sein, diese Maßnahmen zu bezahlen und dort zu investieren. Da reicht die aktuelle Mittelausstattung bei weitem nicht aus; das müssen wir bei der Haushaltsaufstellung bedenken. Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat bei der Vorstellung des Berichts gesagt, dass religiöser Fanatismus Brandbeschleuniger in den Konflikten ist. Daher sage ich: Der Einsatz für Religionsfreiheit und Menschenrechte schafft Frieden und mindert Fluchtursachen. Beim Propheten Jesaja lesen wir: Der Gerechte kommt um, doch niemand nimmt sich dies zu Herzen. Die Frommen werden dahingerafft, aber es kümmert sich niemand darum. – Kämpfen wir in allen Arbeitsbereichen dafür, dass Menschenrechte und Religions- und Gewissenfreiheit gestärkt werden und die Rufe der Verfolgten nicht ungehört bleiben wie zu Zeiten des Propheten Jesaja! ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Kollegin Gyde Jensen, FDP. ({0})

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Freien Demokraten werden sich bei der Abstimmung zum Entschließungsantrag enthalten. Warum? Alle zwei Jahre legt die Bundesregierung einen umfassenden Bericht über ihre Menschenrechtspolitik vor. ({0}) Der aktuelle Bericht thematisiert speziell die Religions- und Weltanschauungsfreiheit – und das auf gut jeder siebten Seite. In diesem Zusammenhang stellt sich schon die Frage, wie es dann dazu kommt, dass gerade zur Religions- und Weltanschauungsfreiheit ein Sonderbericht erstellt werden soll. Es gibt so viele bedeutsame Themen – wie Bildung, Teilhabe, Pressefreiheit –, die auch besondere Aufmerksamkeit deutscher Außenpolitik verdienen. Wir Freie Demokraten stehen für einen einfachen Staat, der klare Schwerpunkte seiner Aufgaben benennt und daran konkrete Lösungsvorschläge knüpft. Nehmen Sie doch den Gesamtbericht zur Menschenrechtspolitik, und benennen Sie darin politische Schwerpunkte, führen Sie konkrete Umsetzungsvorhaben aus, anstatt Sonderberichte zu produzieren, in denen keine klare außenpolitische Linie erkennbar ist. Warum kompliziert, wenn es da auch einfach geht? ({1}) Meine Damen und Herren, lassen Sie uns also darüber sprechen, was Deutschland konkret zum Schutz von Religionsfreiheit beitragen kann. Hierzu müssen wir zunächst einmal lernen, selbstbewusster mit unseren Grundfreiheiten umzugehen. Denn das Grundgesetz betont die verfassungsrechtlich, aber auch integrationspolitisch gebotene Gleichstellung aller Religionen. Dann wieder Kreuze in öffentliche Gebäude zu hängen, hat mit dieser aufgeklärten Staatsneutralität nichts zu tun. Das ist das Gegenteil von Selbstbewusstsein; das ist Ignoranz. Das ist auch keine richtige Prioritätensetzung; aber genau darauf kommt es da an. Statt eines Kruzifixes sollten Sie lieber in jedes Verwaltungsgebäude eine Fritzbox hängen. Das wäre mehr wert. ({2}) Statt Symbolpolitik muss das Ziel eines liberalen Rechtsstaates der mündige Bürger sein, der mündige Bürger, der selbstbewusst über seine persönliche Religionszugehörigkeit entscheidet und sich aufgeklärt mit anderen Religionen auseinandersetzt. Und eine Auseinandersetzung kann man nur durch die Vermittlung einer internationalen Perspektive erreichen. Wenn diese Perspektive und die Kenntnis über verschiedene Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften fehlen, dann werden wir es nicht hinbekommen, dass die Menschenrechte geschützt werden. ({3}) Für uns Freie Demokraten ist daher klar: Eine Chance bietet sich international vor allem darin, den Dialog von Religionen am Bildungsaustausch zu orientieren und stärker in die Entwicklungszusammenarbeit zu integrieren. Die von Ihnen explizit geforderte Strategie des BMZ zur Rolle von Religionen in der Entwicklungspolitik könnte hiermit deutlich aufgewertet und ausgebaut werden. ({4}) Zum Abschluss, meine Damen und Herren, möchte ich sagen: Wir sollten stolz auf unser Grundgesetz sein. Nur wenn wir uns der Stärke unserer eigenen Verfassung bewusst werden, werden wir es auch schaffen, dieses Selbstbewusstsein anderen zu vermitteln. Und gerade in einer Gesellschaft, die so sehr von Einwanderung abhängig und auch geprägt ist, muss der Umgang mit religiöser Pluralität selbstverständlich sein. Denn Religionsfreiheit ist immer auch – und das dürfen wir nie vergessen – Ausdruck gelebter Vielfalt unserer Gesellschaft. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Josephine Ortleb, SPD-Fraktion. ({0})

Josephine Ortleb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004844, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der vorliegende Bericht der Bundesregierung, der zum zweiten Mal eine Debatte hier im Haus erfahren darf, hat von seiner Aktualität nichts eingebüßt. Ich möchte mich beim Auswärtigen Amt noch einmal für diesen interessanten und durchdachten Bericht bedanken. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Religion ist etwas sehr Privates und gleichzeitig höchst politisch. Das erleben wir jeden Tag in den Debatten hier im Bundestag, in Deutschland und weltweit. Ich bin konfessionslos. Die Religionsfreiheit ermöglicht mir diese Entscheidung. Sich gegen eine Religion zu entscheiden, ist genauso Ausdruck der Religionsfreiheit, wie sich für eine Religion zu entscheiden. ({0}) Freiheit bedeutet auch, sich gegen etwas entscheiden zu dürfen und dafür die gleiche Akzeptanz zu erfahren. Religionsfreiheit wird jedoch nicht überall und nicht von allen akzeptiert. Die Verfolgung der muslimischen Minderheit der Rohingya in Myanmar, die unerträgliche humanitäre Situation von Christen und Jesiden in Syrien und der grassierende Antisemitismus in Deutschland und vielen Teilen der Welt sind nur drei Beispiele für den dringend notwendigen Einsatz für Religionsfreiheit. ({1}) Der Bericht zeigt, dass religiöse Verfolgung und Diskriminierung mal direkter und mal subtiler auftreten, ob beim Zugang zu Bildung, beim Zugang zu politischen Ämtern oder bei der Besetzung von Arbeitsstellen. Religionsfreiheit bedeutet nicht nur, frei von lebensbedrohlicher Verfolgung zu sein, sondern auch, immer und überall Gleicher oder Gleiche unter Gleichen zu sein. ({2}) Um dieses Recht nachhaltig zu stärken, brauchen wir einen Kulturwandel, weltweit und in unserer Gesellschaft. Wir müssen weg von einer Kultur des Unter-mir oder einer Kultur des Über-mir hin zu einer Kultur des Neben-mir, einer Kultur der Augenhöhe aller statt einer christlichen Leitkultur. ({3}) Statt religiöse Dominanz durch das Anbringen von Kreuzen in den medialen Fokus zu rücken, ist es unsere Aufgabe, die Kultur der Augenhöhe aller mit unseren Mitteln zu begleiten und zu fördern. ({4}) Wenn Religion zu einer politischen Kategorie der Ausgrenzung wird, müssen wir dem entschieden entgegenwirken; denn auch unser Grundgesetz ist, wie ich, nicht getauft. Als wehrhafte Demokratinnen und Demokraten müssen wir uns gegen den Versuch stemmen, dass Religion zur Spaltung genutzt wird. Das Gegenteil muss der Fall sein. Für mich ist klar: Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist ein verbindendes Element, eine Brücke des Miteinanders; denn das Miteinander ist immer stärker als das Gegeneinander. Es ist Aufgabe von Staaten, dieses Miteinander zu garantieren. Doch der Missbrauch von Religion durch staatliche und nichtstaatliche Akteure zur Durchsetzung von Macht geschieht weltweit täglich. Auch das zeigt uns der Bericht. Menschen vor diesem Missbrauch zu schützen und ihnen zur Seite zu stehen, muss dabei Selbstverständnis aller demokratischen Gesellschaften sein. ({5}) Für mich heißt das vor allen Dingen, die universellen Menschenrechte national wie international in den Mittelpunkt zu stellen, sie zu fördern und gerade dann an ihnen festzuhalten, wenn es unbequem wird. Deswegen ist das Engagement der Bundesregierung und der Abgeordneten in den multilateralen Dialogforen so wichtig; ich denke dabei an den Europarat, an die OSZE oder an die Vereinten Nationen. Auch wenn diese Zusammenarbeit kleinschrittig und mühevoll ist: Am Ende gilt es immer wieder, die Reihen zu schließen – für die Religionsfreiheit und für die Menschenrechte. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erhält das Wort der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der erste Bericht zur weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist ein Meilenstein, um mehr Aufmerksamkeit für ein so wichtiges Thema zu gewinnen. Für uns als CDU/CSU war schon immer klar: Das grundlegende Recht auf Religionsfreiheit ist das zentrale Element unseres Verständnisses von Menschenrechten. Nicht zuletzt zeigt die jahrzehntelange Arbeit des Stephanuskreises in der CDU/CSU-Fraktion, lieber Kollege Hirte, dass Religionsfreiheit im Mittelpunkt unserer Menschenrechtsarbeit steht. Uns ist bewusst: Der beste Schutz für verfolgte Christen ist die Förderung von Religionsfreiheit für alle Menschen, egal ob Christen, Muslime oder Buddhisten. Auch keiner Religion anzugehören, ist eine Ausprägung von Religionsfreiheit. ({0}) Ich denke, wir sind uns leider einig – und es zeigen auch viele Statistiken und Berichte –, dass mit weit über 100 Millionen Christen die größte Gruppe der Verfolgten sind. Diesen Zustand dürfen wir in einem christlich geprägten Land nicht zulassen. ({1}) Es ist unsere tiefste Überzeugung, dass Religionsfreiheit das zentrale Grund- und Menschenrecht ist, das die Würde des Menschen in den Mittelpunkt rückt und ganz besonders schützt. Aus diesem zentralen Grundrecht der Religionsfreiheit leiten wir alle weiteren Freiheiten ab. Wenn es keine Religionsfreiheit gibt, gibt es keine Pressefreiheit, keine Freiheit der Kunst, keine Meinungsfreiheit, und letztlich gibt es keine Freiheit für ein selbstbestimmtes Leben. Wir haben uns über viele Jahre für einen Religionsfreiheitsbericht eingesetzt, was leider viel zu lange am Widerstand anderer Fraktionen gescheitert ist. Deswegen war es ein ganz besonderes Zeichen, als wir im Jahr 2015 gemeinsam mit der SPD und Bündnis 90/Die Grünen die Erstellung des Religionsfreiheitsberichts beantragt haben. Herzlichen Dank dafür! ({2}) Wenn wir in die Welt blicken, dann stellen wir fest: Um die freie Religionsausübung und um den Schutz religiöser Gruppen – egal ob Minderheiten oder Mehrheiten in der Bevölkerung – ist es in großen Teilen schlecht bestellt. Ganz besonders gilt dies für Christen in islamisch geprägten Ländern. Aber ebenso leiden auch andere Gruppen: die Rohingya in Myanmar; der IS terrorisiert im Nordirak und in Syrien, und zwar vor allen Dingen Muslime; Christen und Muslime leiden in Nigeria unter dem Terror von Boko Haram. Ich könnte diese Liste leider fortsetzen. Freie Religionsausübung ist aber nur der eine Teil der Religionsfreiheit. Es gehört auch dazu, dass man seine Religion wechseln kann. In vielen Ländern der Erde gelten Blasphemiegesetze. Beim Wechsel der Religion droht die Todesstrafe. Dies ist ein unhaltbarer Zustand. Das muss im nächsten Religionsfreiheitsbericht mehr thematisiert werden. ({3}) Ein deutliches Zeichen unserer Haltung zum Thema Religionsfreiheit ist das neugeschaffene Amt des Beauftragten für weltweite Religionsfreiheit. Es freut mich daher sehr, dass unser Kollege Markus Grübel heute seine erste Rede in seiner neuen Funktion halten durfte. Ich bin davon überzeugt, dass seine Arbeit diesem wichtigen Thema den notwendigen Nachdruck verleihen wird. – Alles Gute hierfür! ({4}) Der nächste Religionsfreiheitsbericht muss mehr sein als eine Auswahl einzelner Themen und Beispiele aus ausgewählten Regionen. Wir brauchen einen systematisch aufgebauten Bericht. Nur so lassen sich die Entwicklungen in den Ländern nachvollziehen und vergleichen. Der jährliche Bericht von Open Doors oder der Religionsfreiheitsbericht der USA sind gute Beispiele für eine solche Systematik. Lassen Sie uns am Ende noch einen Blick in unser eigenes Land werfen: Unser Verständnis von Religionsfreiheit und die hier gelebte Religionsfreiheit sind weltweit eine positive Ausnahme. Und das lassen wir uns von Ihrem undifferenzierten Geschwurbel auch nicht kaputtmachen. ({5}) Ich möchte dennoch darauf hinweisen, dass die Lage in Deutschland in den nächsten Bericht aufgenommen werden muss, verstärkt behandelt werden muss; denn es gibt leider auch bei uns bedenkliche Entwicklungen, denen wir entschieden entgegentreten müssen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass antisemitische Beschimpfungen auf deutschen Schulhöfen und Spielplätzen wieder Platz finden. Wir dürfen es nicht akzeptieren, wenn das Tragen der Kippa in Deutschland zu tätlichen Angriffen und Beleidigungen führt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen es aber auch nicht zulassen, dass es zu einer Radikalisierung der Politik kommt; denn auch dadurch wird die Freiheit in unserem Land eingeschränkt. ({6}) Religionsfreiheit gilt es fortwährend zu verteidigen, und genau das werden wir als CDU/CSU mit aller Kraft tun. Ich danke herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 19/1894, in Kenntnis des Berichts der Bundesregierung auf der Drucksache 18/8740 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – CDU/CSU und SPD. Wer stimmt dagegen? – AfD. Wer enthält sich? – Bündnis 90/Die Grünen, FDP, Die Linke. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn gleich klarstellen, worum es geht: Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des § 130 StGB hat nicht das Ziel, den zurzeit geschützten Personenkreisen etwas wegzunehmen, den Anwendungsbereich zu verkleinern oder, wie ich in Kommentaren im Vorfeld lesen musste, das Hetzen und Pöbeln gegen Minderheiten freizugeben. ({0}) Wir wollen das Gegenteil. Das Gegenteil ist der Fall: Die AfD will nur eines, nämlich dass auch die Deutschen vor Hetze und Pöbeleien geschützt werden. ({1}) Durch unseren Gesetzentwurf soll eine Strafbarkeitslücke geschlossen werden.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Maier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grosse-Brömer?

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Bitte.

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Maier, schön, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Weil Sie ja die Deutschen vor Pöbeleien schützen wollen: Ich habe eine Rede von Ihnen gehört, die Sie bei Pegida gehalten haben. Da sagten Sie, hier im Bundestag säßen keine Eliten. Ich glaube, Ihre Fraktion wollten Sie wahrscheinlich außen vor lassen. ({0}) Alle anderen jedenfalls seien auf keinen Fall Eliten, sondern mehr so – ich zitiere – Funktionärseliten –

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Nein, Funktionseliten.

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– oder Funktionseliten – gut, dass Sie sich daran erinnern –, ({0}) die Sie aus dem Feld schlagen wollen.

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Richtig, das habe ich gesagt.

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr gut. – Ich frage mich, seitdem Sie diese Rede bei Pegida gehalten haben: Wie hat er das vor, bei mir jedenfalls?

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, Sie sind körperlich stärker als ich, oder worauf wollen Sie hinaus?

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin ja Deutscher, und Sie wollen Deutsche vor Pöbeleien schützen. Sagen Sie mir doch mal: Wie wollen Sie es schaffen, mich aus dem Feld zu schlagen? Oder ist es möglich, mich davor zu schützen? ({0})

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Darf ich darauf antworten?

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, Sie müssen es genau genommen sogar. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Wenn Sie antworten mögen, dürfen Sie jetzt antworten, und Herr Grosse-Brömer und wir hören uns Ihre Antwort an.

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Okay. – Sind Sie Schachspieler? ({0}) Beim Schach sagt man: „aus dem Feld schlagen“. Das ist ein Begriff, den man verwendet, wenn man Schachspieler ist. „Aus dem Feld schlagen“ bedeutet, dass wir uns strategisch und von der Kompetenz her so aufstellen, dass Sie hier bald nichts mehr zu sagen haben. ({1}): Antidemokrat! – Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]: Jetzt wird die deutsche Sprache wieder gebeugt! Ein Wolf im Schafspelz!) Jetzt können wir weitermachen. Noch einmal: Es soll hier eine Strafbarkeitslücke geschlossen werden. Das ist auch notwendig; denn mittlerweile greift in diesem Land Deutschenfeindlichkeit um sich. ({2}) Das ist etwas, was hier immer verschwiegen wird. Es wird immer nur die eine Seite gesehen; die andere Seite wird nicht gesehen. Vor zwei Jahren wurde in diesem Hohen Hause die Armenien-Resolution verabschiedet. Ein Mitglied im Vorstand des Türkischen Elternbundes in Hamburg sah sich daraufhin berechtigt, Folgendes bei Facebook zu posten – Zitat –: Erhofft sich Türkei noch immer etwas Gutes von diesem Hundeclan? Erwarte nichts Türkei, übe Macht aus! Sie haben nur Schweinereien im Sinn. Möge Gott ihren Lebensraum zerstören. ({3}) Fragen Sie die Kinder in westdeutschen Großstädten, ob gegen sie schon einmal in der Schule rassistisch gehetzt wurde, gerade weil sie Deutsche sind. Jährlich werden über 100 Millionen Euro für den Kampf gegen rechts ausgegeben. ({4}) Für den Schutz der eigenen Bevölkerung vor rassistischer Hetze und Gewalt wird nichts oder so gut wie nichts getan. Das ist ein Skandal! ({5}) Das Schlimme daran ist: Nicht einmal den gleichen strafrechtlichen Schutz wie den in unserem Land lebenden Gästen von Frau Merkel billigt man den Deutschen zu. ({6}) Man könnte den § 130 StGB in seiner jetzigen Fassung auch auf rassistische Äußerungen gegenüber Deutschen anwenden, wenn man es nur wollte. Man tut es aber nicht. In dem Fall in Hamburg, als die Deutschen als „Hundeclan“ bzw. – in anderer Übersetzung – als „Köterrasse“ bezeichnet wurden, kam es nicht einmal zu einer Anklage. Das Ermittlungsverfahren wurde von der zuständigen Staatsanwaltschaft eingestellt. ({7}) Warum aber wäre eine Verfolgung schon jetzt möglich? Dazu muss man zunächst einmal wissen, dass das Schutzgut des § 130 StGB der öffentliche Friede ist. ({8}) Das ist allgemeine Meinung. Das ist keine Vorschrift, die speziell Minderheiten zu schützen beabsichtigt. ({9}) Schon in der Fassung des § 130 StGB aus dem Jahr 1960 hat der Gesetzgeber entschieden, dass gerade nicht nur einzelne gesellschaftliche Minderheiten durch den Straftatbestand geschützt werden, sondern er hat auch Tathandlungen gegen Teile der Bevölkerung unter Strafe gestellt. Wenn man den Begriff „Bevölkerung“ als Oberbegriff sieht, dann sind doch auch die Deutschen nur ein Teil davon. Wo anders als hier in Berlin wird dieser Befund deutlich? Da braucht man nur einmal mit der U 7 zu fahren und am Hermannplatz in Neukölln auszusteigen. Dann merkt man das. ({10}) Doch wie argumentieren die Staatsanwaltschaften und Gerichte? Eine Strafbarkeit scheide aus, weil die Deutschen nicht einen Teil, sondern die Gesamtbevölkerung darstellten. Das deutsche Volk sei kein unterscheidbarer Teil der Bevölkerung, da ein festes oder inneres Unterscheidungsmerkmal fehle. ({11}) Das ist Unsinn! Eine Mindermeinung in der Literatur widerspricht dem ausdrücklich. Denn wenn Ausländer einen Teil der Gesamtbevölkerung darstellen, dann müssen auch Deutsche Teil der Bevölkerung sein. Alles andere ist unlogisch. ({12}) Auch ein großer Teil der Gesamtbevölkerung ist ein Teil der Gesamtbevölkerung. Wenn Angehörige einer Bevölkerungsmehrheit gegen Angehörige einer Bevölkerungsminderheit hetzen, ist der öffentliche Friede, das Schutzgut des § 130 StGB, gefährdet.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Maier, es gibt noch einmal den Wunsch zu einer Zwischenfrage aus der CDU/CSU-Fraktion.

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Von wem denn? Ich habe es jetzt nicht gesehen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Wollen Sie die Zwischenfrage zulassen oder nicht? Das ist meine Frage.

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das ist der Herr Müller; den schätze ich. Bitte. ({0}) – Ja, er sitzt im Rechtsausschuss.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die Frage ist beantwortet, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen.

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Maier, die Frage ist, ob das auch weiterhin der Fall bleibt. ({0}) Herr Kollege Maier, wie lange haben Sie denn in Ihrer bisherigen Tätigkeit Zivilrecht gemacht, und wie lange war Ihre Tätigkeit im Bereich des Strafrechts? Dieser Gesetzentwurf ist strafrechtlich nämlich dermaßen falsch und verquer, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass Sie ausreichende und fundierte Kenntnisse hatten, als Sie ihn formuliert haben. ({1})

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Aber das ist ja gar keine Frage. – Oder war das eine Frage? ({0})

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Frage lautet – das ist doch ganz einfach –: Wie lange haben Sie als Zivilrichter gearbeitet, und wie lange haben Sie als Strafrichter bzw. im strafrechtlichen Bereich gewirkt? Wenn man den Gesetzentwurf liest, dann hat man den Eindruck: nicht allzu lange.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Maier, Sie können die Frage beantworten. Sie müssen nicht, Sie können. ({0})

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja. – Ich bin Zivilrichter gewesen, und ich war Staatsanwalt. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit ist die Frage beantwortet. – Fahren Sie bitte fort. Denken Sie auch daran: Ihre Redezeit geht dem Ende entgegen. ({0})

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Da die Staatsanwaltschaften und Gerichte diese Schlussfolgerung nicht ziehen, bedarf es einer klarstellenden Gesetzesänderung, die vorsieht, dass auch das Hetzen gegen die Bevölkerungsmehrheit unter den Tatbestand der Volksverhetzung fällt. ({0}) Es geht um den Schutz der Deutschen im eigenen Land – nicht mehr und nicht weniger. Diese wollen genauso geschützt werden wie die Gäste von Frau Merkel. ({1}) Es muss Schluss sein damit, dass die Deutschen im eigenen Land zu Bürgern zweiter Klasse werden, wie wir es immer wieder erleben. Um dies zu verhindern und zu beenden, sind wir, die AfD-Fraktion, jetzt hier in diesem Parlament. Wir sind gekommen, um zu bleiben, und wir bleiben, bis wir uns hier durchgesetzt haben. ({2}) Vielen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Ingmar Jung, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ingmar Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer die AfD in den letzten Jahren ein bisschen beobachtet hat, musste ja damit rechnen, dass wir im ersten Jahr ihrer Parlamentszugehörigkeit hier mal über Volksverhetzung diskutieren. Ich habe es allerdings anders erwartet. In den letzten Jahren haben Sie immer erklärt, der Paragraf könne komplett abgeschafft werden; denn man brauche ihn nicht. ({0}) Plötzlich wollen Sie ihn ändern. Das hat mich ein wenig überrascht. Wir sollten uns vielleicht doch mal anschauen, worum es hier eigentlich geht: Schutzgut ist in der Tat – Herr Maier, Sie haben es zwischendurch ja mal vorgelesen – der öffentliche Friede, nicht eine bestimmte Bevölkerungsgruppe oder Ähnliches. Für Objekte, deren Angriff geeignet ist, am Ende den öffentlichen Frieden zu stören, wird unter anderem der Begriff „Teile der Bevölkerung“ genutzt. Das ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. ({1}) Dieser unbestimmte Rechtsbegriff wird von der Rechtsprechung ausgefüllt. So ist das bei uns im Rechtssystem. Sie haben in Ihrem Gesetzentwurf einige Gruppen genannt. Das will ich an dieser Stelle gar nicht wiederholen; vielleicht mache ich das gleich noch. Es kommt hinzu, dass ein Angriff gegen eine dieser Gruppen geeignet sein muss, den öffentlichen Frieden am Ende zu stören, und das ist das Merkmal, an dem es oft scheitert. Wir müssen uns jetzt mal darüber unterhalten, wer mit diesem Begriff erfasst ist. Eines vorweg: Wenn Sie in die Veröffentlichung 78/09 des Wissenschaftlichen Dienstes reinschauen, dann sehen Sie, dass genau unter diesem Punkt – „Angriffsobjekt: Teile der Bevölkerung“ – festgehalten wird: Unerheblich ist in diesem Rahmen ..., ob es sich um Deutsche oder Ausländer handelt ... Das ist, glaube ich, an dieser Stelle unstreitig. Sie wollen hier aber was vollkommen anderes suggerieren. ({2}) Für die Ausgestaltung dieses unbestimmten Rechtsbegriffes ist die Rechtsprechung zuständig; darin sind wir uns wohl einig. Sie haben sowohl in Ihrem Gesetzentwurf als auch in Ihrer Rede einfach mal behauptet, die deutsche Justiz möchte die Deutschen dort ausnehmen und schützt nur die Ausländer. ({3}) Dafür gibt es keinen einzigen Beleg. ({4}) Wenn Sie ein Urteil kennen, meine Damen und Herren, dann legen Sie es bitte vor. Sie haben in Ihrem Gesetzentwurf ein Urteil des Kammergerichts Berlin zitiert. Das ist Ihr großer Beweis. Wenn man hier als großen Beweis ein Urteil zitiert, meine Damen und Herren, sollte man es sich vielleicht einmal angeschaut haben. ({5}) – Ja, Herr Brandner, jetzt haben Sie „Staatsanwaltschaft“ dazwischengerufen. Den Unterschied zwischen den Gewalten sollten Sie vielleicht kennen. Sie sind Vorsitzender des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages. Das ist ja unglaublich, meine Damen und Herren. ({6}) Jetzt lassen Sie mich mal kurz auf Ihren großen Beweis eingehen: das Kammergericht Berlin. Das Kammergericht Berlin hat in dem Urteil, das Sie zitieren – es ist ein Revisionsurteil –, sich mit Strafzumessungsfragen und der Frage von Anrechnungen aus anderen Urteilen befasst. In diesem Rahmen hat es aus der Vorinstanz ein Urteil einbezogen, das übrigens schon rechtskräftig war und bei dem jemand wegen räuberischer Erpressung, mehrfachen gemeinschaftlichen Raubes und am Ende auch Beleidigung verurteilt wurde. In der Tatsachenfeststellung finden Sie dann einen Hinweis auf das, was Sie zitieren, nämlich den Satz: „scheiß deutsche Kartoffel“. Aber dann müssen Sie die Tatsachenfeststellung auch zu Ende lesen. Dort steht: Dabei bezeichnete der Angeklagte den Zeugen als „scheiß deutsche Kartoffel“, weil er ihn kränken wollte. Auch wenn dieses von Ihnen zitierte Revisionsurteil die Folgen gar nicht mehr bewertet: Sie wissen doch, dass genau dann, wenn nur intendiert ist, jemanden zu treffen, eben nicht die Geeignetheit zur Gefährdung des öffentlichen Friedens vorliegt. Das ist genau die Grenze zwischen Volksverhetzung und Beleidigung. Damit ist der objektive Tatbestand an dieser Stelle eben nicht erfüllt, völlig egal, ob er „scheiß deutsche Kartoffel“ oder „scheiß Türke“ sagt. Daran ändert sich im Ergebnis überhaupt nichts. Daran ändert auch Ihr Gesetzentwurf nichts; das wissen Sie ganz genau. ({7}) Das, meine Damen und Herren, soll jetzt Ihr großer Beweis dafür sein, dass die bundesrepublikanische Justiz Deutsche nicht schützen will? Wissen Sie was? Ihnen geht es doch gar nicht um die Änderung des Strafgesetzbuches oder Ähnliches. ({8}) Ihnen geht es doch darum, hier wieder Stimmung zu machen. Was zitieren Sie denn hier? Die „bundesrepublikanische Justiz“, die „Arbeiter“ schützt, die „Bauern“ schützt, die „Kommunisten“ schützt, die „dunkelhäutige Menschen“, die „Ausländer“ und die „Flüchtlinge“ schützt, aber nur die Deutschen nicht: Ja, das alles sind taugliche Angriffsobjekte, die Sie hier nennen. Ist Ihnen mal aufgefallen, dass auch sie alle nicht im Gesetz stehen? Das hat eben mit dem unbestimmten Rechtsbegriff zu tun, der ausgeformt werden muss. Dieser ist bewusst weit gefasst und wird über das Merkmal „Geeignetheit zur Störung des öffentlichen Friedens“ begrenzt. Das hat die letzten Jahre hervorragend funktioniert. ({9}) Das sollten wir genau so beibehalten. Ich sehe nicht, dass hier jemand ausgeschlossen wird. ({10}) Meine Damen und Herren, wenn Sie glauben, hier einfach Dinge suggerieren zu können, um ein Stück weit Hetze zu machen, dann vergreifen Sie sich nicht jedes Mal am Strafgesetzbuch, sondern lassen es so stehen. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Martens, FDP. ({0})

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch das Schwert des Strafrechts dient letztlich dem Rechtsfrieden. Aber bei Ihnen habe ich immer das Gefühl, ({0}) das Schwert des Strafrechts mutiert bei Ihnen zur Angriffswaffe in der politischen Auseinandersetzung. Um dies vorab klarzustellen: Niemand muss es in Deutschland hinnehmen, beleidigt oder, wie Sie sagen, „angepöbelt“ zu werden. ({1}) Das gilt für die Deutschen, die sich hier nicht als „blöde deutsche Kartoffel“ bezeichnen lassen müssen. Es muss sich aber auch niemand als – in Anführungszeichen – „Kümmelhändler“ beleidigen lassen. ({2}) Es muss sich auch niemand als „Halbneger“ beleidigen lassen. ({3}) Wenn diesen Grundsatz mehr Menschen in diesem Land begriffen hätten, dann wäre für die Kultur in diesem Land wesentlich mehr getan, als mit jeder Strafrechtsänderung möglich wäre. ({4}) Die Regelungen zum Schutz vor Beleidigungen unterscheiden nicht nach der Herkunft des Opfers. Sie unterscheiden auch nicht nach der Herkunft des Täters. Die Schutzlosstellung von Deutschen, wie es im Gesetzentwurf heißt, eine Privilegierung von Ausländern für Beleidigungen, gibt es schlicht nicht, meine Damen und Herren. ({5}) Das ist eine Schimäre, eine Erzählung, die Sie hier vorbringen, um den Anhängern Ihrer Partei einzureden, dass sie einmal wieder Opfer seien, nämlich diesmal von Volksverhetzung. Natürlich schützt § 130 Strafgesetzbuch auch Deutsche. Es geht im Übrigen – das ist auch dargelegt worden – gar nicht um den Ehrenschutz, sondern um den Schutz der öffentlichen Sicherheit. Dieser kann durch Angriff auf Personengruppen nur dann gefährdet sein, wenn diese hinreichend bestimmt sind. Um eine Störung herbeiführen zu können, braucht man eine Zielgerichtetheit. Ansonsten ist diese Störung überhaupt nicht zu bewirken. ({6}) Das wissen Sie; das hoffe ich jedenfalls. Dementsprechend unklar ist auch der Entwurf, meine Damen und Herren. Wer sich das durchliest, kommt auch nach fünfmaligem Lesen nicht hinter den Sinn der Regelung. ({7}) Darin heißt es: Teile der Bevölkerung sind unabhängig von ihrem Größenverhältnis … auch solche nicht unerheblichen Personenmehrheiten, die sich … abgrenzen lassen. Das ist wirklich nicht zu verstehen. Ihrem Wortlaut nach gibt es also eine Bevölkerung und eine Gesamtbevölkerung; denn Sie führen das gesondert auf. Das ist also etwas Unterschiedliches. In der Bevölkerung gibt es Personenmehrheiten. Es gibt nicht eine Mehrheit, sondern verschiedene Mehrheiten, und die sind auch noch erhebliche oder logischerweise unerhebliche Mehrheiten von Bevölkerungen in der Gesamtbevölkerung. Das ist sinnfrei, meine Damen und Herren. Das ist Wortgeklingel. ({8}) Aber dieser Gesetzentwurf ist nicht nur ungeschickt und kompliziert; er ist auch das Musterbeispiel für Ihre Methode, die Methode von Nationalpopulisten und ihrem Erzählmuster. ({9}) Das lautet: Wir sind alle Opfer, diesmal von Fremden, und die Fremden sind böse, und deswegen müssen wir sie ausgrenzen. Dafür gibt es besondere Strafregelungen, und deswegen basteln wir euch einen Teutonenschutzparagrafen. ({10}) Es gibt genügend Strafnormen, die auch die Öffentlichkeit schützen. Die Aufforderung zu Straftaten ist strafbar. Die Androhung von Straftaten ist strafbar. Belohnung und Billigung von Straftaten sind strafbar, und Volksverhetzung auch. Das gilt auch zum Schutz von Deutschen, meine Damen und Herren. ({11}) Was Sie im Übrigen an Beispielen für angebliche Volksverhetzung anführen, sind bei genauer Betrachtung nichts weiter als Beleidigungen, und das ist strafbar. Daraus wird auch keine Volksverhetzung, nur weil in einer Beleidigung das Wort „Deutscher“ auftaucht, meine Damen und Herren. Das lässt sich damit nicht bewirken. Meine Damen und Herren, mit dem Gesetzentwurf verbessern Sie weder den Tonfall auf unseren Straßen noch die Diskussionskultur in unserer Gesellschaft. Bei der Expertise, die die AfD in Sachen Volksverhetzung in sich hat, hätte ich eigentlich mehr von Ihnen erwartet. ({12}) Sie könnten hier Positives beitragen, aber das wollen oder können Sie nicht. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sarah Ryglewski, SPD-Fraktion. ({0})

Sarah Ryglewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Werter Herr Martens, vielen Dank. Auch ich hätte von der AfD, ehrlich gesagt, angesichts ihrer einschlägigen Expertise beim Thema Volksverhetzung etwas mehr erwartet. Ihr Fraktionsvorsitzender Alexander Gauland hat wegen seiner Äußerung über die frühere Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Aydan Özuğuz auch eine Anzeige erhalten, genauso wie der Verfasser dieses Gesetzentwurfes, Herr Maier. Er sollte sich eigentlich auch sehr gut mit diesem Paragrafen auskennen. Gegen Sie ist ja gleich mehrfach Strafanzeige erstattet worden. ({0}) – Frau Storch, gegen Sie auch. ({1}) – Oh, wunderbar; lassen Sie sich das einrahmen; es bleibt sicherlich nicht lange so. – Zuletzt wegen Ihrer widerlichen Äußerung gegenüber Noah Becker, der im Übrigen genau wie Frau Özuğuz deutscher Staatsbürger ist. Mit Deutschenfeindlichkeit haben Sie von der AfD offensichtlich nur dann ein Problem, wenn Menschen betroffen sind, die offensichtlich nach Ihrer Definition keine Deutschen sind.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Ryglewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Maier?

Sarah Ryglewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne, Herr Maier.

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sehr geehrte Frau Ryglewski, ist Ihnen der Unterschied zwischen einer Anzeige und einer Verurteilung bekannt?

Sarah Ryglewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Anzeigen kann man nämlich jeden. ({0}) Ich habe hier auch schon einige angezeigt. ({1}) Mal sehen, was dabei herauskommt. ({2}) Ich bin nicht verurteilt worden. Herr Dr. Gauland ist nicht verurteilt worden. Hier ist noch niemand verurteilt worden. Das sollten Sie vielleicht einmal zur Kenntnis nehmen. § 130 StGB ist ein Kampfmittel gegen uns, genauso wie damals im 19. Jahrhundert § 130 ein Kampfmittel gegen die Sozialdemokratie war. Das sollten Sie vielleicht auch wissen. – Danke. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Maier, jetzt antwortet Frau Ryglewski.

Sarah Ryglewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Maier, vielen Dank. – Die Aussage mit dem Kampfmittel gegen Sie wollte ich eigentlich hören. ({0}) Niemand hat behauptet, dass Sie wegen Volksverhetzung verurteilt worden sind. ({1}) – Ich möchte gerne dem Kollegen Maier antworten. Er hat mich etwas gefragt. Darauf antworte ich jetzt. ({2}) Der Kollege Martens hat genau die Trennschärfe und den Unterschied zwischen Beleidigung und Volksverhetzung dargelegt. Ich habe gesagt, Sie sind deswegen angezeigt worden und müssten sich aufgrund dessen mit diesem Paragrafen auskennen. Mehr habe ich nicht gesagt. Das beantwortet Ihre Frage. ({3}) Ihre Äußerung dahin gehend, dass es ein Kampfmittel ist, zeigt genau die Intention Ihres Antrags, nämlich hier alles in einen Sack zu packen, das Ganze zu einer Soße zu vermengen und damit dieses Schwert zu entschärfen. Das machen wir aber nicht mit. ({4}) Ich werde die angezeigten Äußerungen nicht wiederholen, weil sie es nicht wert sind. Die Damen und Herren von der AfD wissen, was sie und ihre Kollegen gesagt haben. Die meisten hier im Raum wissen es leider auch. Wir müssen uns das ja fast täglich anhören. Spätestens nach dieser Debatte können sich alle Anwesenden hier im Raum, die es bisher nicht wussten, denken, was Sie so von sich geben. Allen Äußerungen, die ich hier angesprochen habe, ist gemein, dass sie auf die Verächtlichmachung, die Herabsetzung und nicht zuletzt auf die Ausgrenzung eines Teils unserer Bevölkerung abzielen. ({5}) Genau für solche Äußerungen ist § 130 gedacht. Er soll nämlich Gruppen, die von der Mehrheit als Minderheit interpretiert werden, vor der Mehrheit schützen. Anders ausgedrückt: Er soll verhindern, dass eine Mehrheit darüber entscheidet, wer zu uns gehört und wer nicht; denn genau das zerstört den Frieden in unserem Land. ({6}) Wir wissen in Deutschland aus leidvoller Erfahrung, dass eine entsprechende Stimmung im schlimmsten Fall zu Gewalt und Pogromen führen kann. Das wollen wir alle nicht wieder erleben. ({7}) Ihr vorliegender Antrag zeigt – das haben schon mehrere Vorredner dargelegt –, dass Sie den Tatbestand der Volksverhetzung nicht verstanden haben. Auf Bevölkerungsmehrheiten, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern, ist der Paragraf einfach nicht ausgerichtet. ({8}) Hingegen offenbart Ihr Antrag etwas komplett anderes: Ihr völkisches Weltbild. ({9}) Wer Ihn genau durchliest, wird sehen: Er strotzt nur so von Formulierungen wie „die angestammte deutsche Bevölkerung“. Sehr spannend! Was ist denn die „angestammte deutsche Bevölkerung“? ({10}) Gehöre ich mit meinen Wurzeln in Polen dazu? Gehören die Kollegin Özoğuz, die Kollegin Fahimi oder die Kollegin Bayram auch dazu? Das können Sie gerne einmal erklären. Melden Sie sich ruhig zu Wort. Verräterisch sind auch Ihre Ausführungen in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs. Sie führen aus, die Deutschen gehörten zu diesem Zeitpunkt noch zur Mehrheit in Deutschland. „Fremd im eigenen Land“ ist bei Ihnen sozusagen ein Dauerschlager und verwundert mich auch nicht bei jemandem wie Ihnen, Herr Maier, der im Vorprogramm von Björn Höcke vor der Entstehung von Mischvölkern warnt. ({11}) Ich mache Ihnen einen guten Vorschlag. Stellen Sie sich doch einmal schützend an die Seite der Deutschen, für die § 130 StGB schon heute gilt, und schützen Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen, die aufgrund ihrer Religion, ihres Migrationshintergrundes oder ihrer sexuellen Orientierung von Ihren Kolleginnen und Kollegen diskriminiert werden, ({12}) statt sich dafür gegenseitig zu bejubeln und zu beklatschen. Damit würden Sie dem friedlichen Zusammenleben in unserem Land einen deutlich größeren Dienst erweisen als mit diesem Gesetzentwurf. Vielen Dank. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Martina Renner, Fraktion Die Linke. ({0})

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte zu Beginn anerkennen: Die Kompetenz der AfD in Sachen Volksverhetzung ist über jeden Zweifel erhaben. ({0}) Das beweisen Sie, wenn Sie Menschen rassistisch beleidigen. Das beweisen Sie, wenn Sie ganze Religionsgruppen verunglimpfen. Das beweisen Sie in Chatgruppen, in Ihren Reden und in Ihren Anträgen. Sie, Herr Maier, empfinden eine Anzeige wegen Volksverhetzung – auf die Beleidigung von Noah Becker ist schon Bezug genommen worden – nach eigenem Bekunden sogar als Auszeichnung. Herr Maier, hören Sie auf, zu lügen, indem Sie sagen: Es gab noch nie eine Verurteilung eines AfD-Politikers wegen Volksverhetzung. – Erst kürzlich wurde der Berlin-Lichtenberger AfD-Abgeordnete Kay Nerstheimer zu 7 000 Euro Strafe wegen Volksverhetzung verurteilt, weil er auf Facebook gegen Homosexuelle gehetzt hatte. Das ist die Wahrheit über Ihre Partei. ({1}) Heute wollen Sie eine der wenigen Institutionen angreifen, die Minderheiten gegen Ausgrenzung und Diffamierung schützt. Was hätten wir anderes von notorischen Rassisten erwarten können? ({2}) Sie wissen inzwischen ganz gut, dass die beste Position, aus der heraus Sie argumentieren, die Opferrolle ist. Sie behaupten, von Ausgrenzung betroffen zu sein, wenn nationalistischer Hetze kein Raum gegeben wird. Sie plärren über verletzte Meinungsfreiheit, wenn Sie nicht unwidersprochen rechte Propaganda verbreiten dürfen, und Sie entehren das Andenken an Millionen im Nationalsozialismus Ermordete. ({3}) Sie besitzen die Dreistigkeit, das Verweisen aus einer Kneipe mit dem mörderischen Antisemitismus der Nazis gleichzusetzen. ({4}) Was Sie wollen – dazu gehört auch der heute diskutierte Gesetzentwurf –, ist die Manipulation der Erinnerung in Vorbereitung einer autoritären Zukunft.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ich habe eben den Zwischenruf „Hetzerin“ gehört. Den rüge ich. Ich weiß nicht genau, wer es war. Das wird das Protokoll feststellen. ({0}) Ich rufe Sie damit zur Ordnung. ({1})

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir werden dies alles nicht zulassen. Wir werden immer daran erinnern, dass es seit eh und je zur Propaganda der Rechten gehört, sich selbst als Opfer zu inszenieren und die eigentlichen Opfer aus der Aufmerksamkeit zu verdrängen. ({0}) Diesen Opfern will die AfD nun den Schutz entziehen, indem der Fokus des Gesetzes verzerrt wird. Klar: Wenn es nach Ihnen ginge, gäbe es gar keine Gesetze gegen Volksverhetzung. Da haben wir dann auch schon die nächste Lüge von Herrn Maier. Er hat eben hier gesagt: Niemals wollten wir § 130 StGB gänzlich abschaffen. – Am 23. März dieses Jahres werden Sie bei „Tag24“ zitiert: Vor diesem Hintergrund wäre es an und für sich konsequent, den Paragrafen 130 zu streichen ... In einem anderen Interview fordern Sie erneut, man müsse § 130 StGB komplett streichen. Hören Sie auf, zu lügen. Wir wissen, dass Sie § 130 StGB abschaffen wollen und heute eben nur Kreide gefressen haben. ({1}) Warum wollen Sie § 130 StGB abschaffen, und warum greifen Sie ihn überhaupt an? Wenn er nicht bestehen würde, dann könnten Sie nämlich ganz ungehindert, wie es Ihnen beliebt, gegen Behinderte, Flüchtlinge, Juden, Moslems und Linke hetzen. ({2}) Das Unwort begleitet die Untat. Das zeigt auch die Geschichte dieses Paragrafen. Das Gesetz gegen Volksverhetzung wurde als Reaktion auf eine Welle antisemitischer Gewalt in der BRD der 1950er-Jahre, darunter die Schändung der Kölner Synagoge, verabschiedet. Eine interessante Parallele zu heute ist übrigens, dass sich die Deutsche Reichspartei, nachdem bekannt wurde, dass die Täter Parteimitglieder waren, eiligst distanzierte und sich gegen Antisemitismus aussprach. Auch heute distanziert sich die AfD öffentlich von Rassismus und Antisemitismus. Damals wie heute gilt: Wir glauben Ihnen kein Wort. ({3}) Wir glauben denen, die Angst vor Ihnen haben. Die AfD hält die Brandreden, und andere Leute werfen Brandsätze. ({4}) Solange Sie und Ihresgleichen Brandreden halten, brauchen wir ein Gesetz, das die Opfer dagegen verteidigt. ({5}) Sie lieben die Angst und können gar nicht genug davon kriegen. ({6}) Wir aber wollen eine Gesellschaft, in der alle ohne Angst verschieden sein können und in der es für alle Platz gibt – außer für die Hetzer und die Hetze. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Canan Bayram, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0}) – Versuchen Sie nicht, mit dem Sitzungspräsidenten zu diskutieren. Das ist völlig hoffnungslos, auch nach den Regeln nicht vorgesehen. ({1}) Das Wort hat die Kollegin Canan Bayram, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({2})

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute einen Gesetzentwurf der AfD, der überschrieben ist unter anderem mit „teilweisen Legaldefinition“. ({0}) Schon die Ausführungen, dass Teile der Bevölkerung auch die Mehrheit einer Gesamtbevölkerung sein können, ergeben keinen Sinn. Deswegen fragt man sich als interessierter Leser des Entwurfs: Worum geht es der AfD-Fraktion eigentlich? ({1}) Tatsächlich haben heute sowohl die Rede als auch die Frage des Kollegen Maier deutlich gemacht: Es geht ihr darum, ihre Anhängerschaft, die völkisch-national ist, davor zu schützen, dass sie vom Staat dafür belangt wird, ({2}) und dagegen sind wir, meine Damen und Herren. ({3}) Denn wir sind der Ansicht, dass dieses Völkisch-Nationale tatsächlich eine Bedrohung für Teile unserer Bevölkerung ist, und die wollen wir schützen, und zwar unabhängig davon, welche Nationalität sie haben. ({4}) Rein rechtlich ist es schon so, dass Ihr Entwurf verfassungsrechtlich bedenklich ist. Er ist nicht bestimmt und auch nicht bestimmbar. Schon das Wort „angestammter Deutscher“ lässt viele Fragen offen: Wer ist denn angestammt, und wer ist denn Deutscher? Dazu will ich einmal ein Beispiel geben: Noah Becker, der Sohn eines der besten Tennisspieler, Boris Becker, ist doch ein Deutscher. Oder gibt es Leute, die daran Zweifel haben? Wo ist der angestammt? Interessiert uns das überhaupt? Mich interessiert das nicht. ({5}) Er ist ein Deutscher, und er wird durch den § 130 StGB auch geschützt. Ehrlich gesagt, man fragt sich teilweise, ob der Herr Maier sich hier selbst schützen will. Uns allen ist bekannt, dass er ein großer Bewunderer von Bernd Höcke ist. ({6}) Da fragt man sich: Warum hat er denn Angst, seine Meinung so laut und deutlich zu sagen, wie der Bernd Höcke das immer macht? ({7}) Dann ist es tatsächlich auch so, dass man sich fragt: Warum legen Sie hier diesen verklausulierten Entwurf vor, in dem Sie vorgaukeln, dass Sie das Gesetz nicht abschaffen, sondern nur ergänzen wollen? Dass das eine Lüge ist, das haben Sie hier mit Ihrer Rede bewiesen, und das beweist jedes Ihrer Parteimitglieder, meine Damen und Herren. ({8}) Hier sind genug Juristen, die sich auch mit dem § 130 StGB auskennen. Glauben Sie denn wirklich, Sie könnten mit Ihrer Täuschungsnummer hier durchkommen? ({9}) Es gab Strafrechtler, die sich hier zu den Fragen schon so eindeutig, sage ich einmal, geäußert haben, dass Sie hier noch was dazulernen könnten, Herr Maier. ({10}) Aber der eigentliche Punkt ist doch: Wollen wir dieses Gesetz ändern? Ich freue mich, dass außer Ihnen alle Vertreter der anderen Fraktionen hier eindeutig gesagt haben: Dieses Gesetz hat sich bewährt. Das ist ein Gesetz, das auch mit unserer Geschichte zu tun hat. Wir wollen – das ist nämlich das Schutzziel dieses Gesetzes – den öffentlichen Frieden erhalten. ({11}) Wir wollen eine Gesellschaft des Zusammenhalts gestalten. Wer diese Gesellschaft nicht will und der Kanzlerin hier wieder lustig vorwirft, dass sie Gäste eingeladen hatte, ({12}) der hat überhaupt kein Herz für Geflüchtete, der hat kein Herz für Minderheiten. Ehrlich gesagt, Herr Maier, ich weiß nicht, ob bei Ihnen in der Herzgegend überhaupt etwas schlägt. ({13}) Jedenfalls ist es so, dass Ihre Rede, Ihr Entwurf und auch Ihre Fragen deutlicher gemacht haben als alles andere, dass wir dieses Gesetz gerade brauchen, um insbesondere vor Leuten aus Ihren Reihen zu schützen. ({14}) Deswegen behalten wir den § 130 StGB in seiner jetzigen Fassung, und daran – Herr Maier, Sie können weiter davon träumen – werden Sie nichts ändern. ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Patrick Sensburg, CDU/CSU. ({0})

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“ Ich glaube, das trifft ganz genau auf Ihren Antrag zu, meine Damen und Herren von der AfD. ({0}) – Sie wollen ja eine Gesetzesänderung; das ist natürlich auch ein Gesetz. Das sollten Sie als Vorsitzender des Rechtsausschusses wirklich wissen. ({1}) Wenn Sie sagen, Sie wollten nicht schon lange Hand an den § 130 StGB anlegen und die Volksverhetzung abschaffen, dann ist das falsch. Frau Kollegin Renner hat Sie eben zitiert, aber ich möchte das Zitat komplettieren, weil es so gut ist. Herr Kollege Maier, Sie haben im März dieses Jahres noch gesagt: Vor diesem Hintergrund wäre es an und für sich konsequent, den § 130 zu streichen, um nicht große Teile der Gesamtbevölkerung zu kriminalisieren. ({2}) Das ist völlig klar, in welche Richtung Sie gehen wollten. Ihr Zitat ist im „Handelsblatt“ am 23. März 2018 nachzulesen. Schon vor drei Jahren hat Höcke an vielen Stellen, selbst in internen Mails – darüber ist berichtet worden –, die Abschaffung der §§ 86 und 130 StGB gefordert. Also sagen Sie nicht, Sie wollten keine Hand an den § 130 legen. Doch, das ist genau Ihre Linie. ({3}) Sie sagen, man müsste im § 130 ein neues Tatobjekt aufnehmen, nämlich uns Deutsche. Dazu besteht kein Bedarf. Sie stützen Ihre Argumentation auf zwei Urteile. Auf das Revisionsurteil ist der Kollege Jung schon eingegangen. Außerdem stützen Sie Ihre Argumentation auf einen Aufsatz in der „Juristischen Rundschau“ vom Kollegen Nowrousian. Das ist übrigens ein Kollege von mir von der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Münster. Sie sollten den Aufsatz aber genau lesen. Darin steht gar nicht, dass man als Tatobjekt die Deutschen aufnehmen muss. Er besagt, dass der Paragraf, wie er jetzt besteht – das haben Sie in Ihrer Rede selbst erwähnt, Herr Maier –, im Grunde schon all das einschließt. Die Frage ist, ob der öffentliche Friede verletzt wird, wenn der ein oder andere mit welch schlimmen Worten auch immer etwas Böses sagt. Dafür haben wir den Tatbestand der Beleidigung. Es ist gut, dass er angewendet werden kann. ({4}) Selbst die Aufsätze, die Sie für Ihre Gesetzesinitiative zugrunde legen, decken Sie nicht. Lesen Sie den Aufsatz in der „Juristischen Rundschau“ von 2017 einmal ordentlich durch.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Sensburg, der Kollege Maier würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das kann er gerne machen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte, Herr Maier.

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Erst einmal, Herr Dr. Sensburg, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich muss noch einmal auf Ihre Bemerkung zur Abschaffung des § 130 StGB von vorhin zurückkommen; ich wurde hier nicht zur Kenntnis genommen. Das geht nicht, weil es eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2008 gibt, die dies verbietet. Insofern war das nur ein Fabulieren ins Blaue hinein, ({0}) insbesondere vor dem geschichtlichen Hintergrund, dass dieser Paragraf als Kampfmittel angewendet wurde, unter anderem im 19. Jahrhundert gegen die Sozialdemokratie. ({1}) Ich bin dagegen, dass über das Strafrecht die Meinungsfreiheit reguliert wird. Das ist nicht in Ordnung. Danke. ({2})

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank für die Anmerkung; ich denke noch darüber nach, wo die Frage war. Sie haben bestätigt, dass Sie die Abschaffung des § 130 StGB gefordert haben, auch wenn es nur ins Blaue hinein fabuliert war. Sie haben aber eben – auch wenn das, was Sie gemacht haben, nur ins Blaue hinein fabuliert war – dem Kollegen Jung unterstellt, er hätte gelogen, als er Sie zitiert hat. ({0}) Von daher: Wer lügt denn hier? Das ist das Traurige. ({1}) Ich gönne Ihnen, Herr Kollege Maier, jedes Fabulieren ins Blaue; Sie sind auch nur ein Mensch. Das ist völlig okay. Aber dann sagen Sie es von Anfang an, und werfen Sie nicht anderen Kollegen vor, sie hätten gelogen. Das ist schlechter Stil. Das wollte ich aufzeigen, und das ist auch deutlich geworden. ({2}) Wir haben nun in verschiedenen Reden festgestellt, dass der § 130 StGB in seiner jetzigen Form – bei aller Komplexität, die er auch hat, historisch gesehen, in seiner Entwicklungsgeschichte usw. – von der Rechtsprechung vollumfänglich gut erfasst wird. Dass es vielleicht Einzelentscheidungen, auch Einstellungen von Staatsanwaltschaften gibt, über die man diskutieren kann, ist richtig – schreiben Sie dazu einen Aufsatz! –; aber deswegen die Änderung des Gesetzes zu fordern, ist falsch. Ich erinnere noch einmal an meinen Eingangssatz: „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“ Hetze jedweder Art sollten wir nicht tolerieren. Eine klare Anwendung der Normen, die es gibt, sollten wir fordern. Aber Finger weg von Gesetzen, wenn es nur dazu dient, das eigene nationaldeutsche Antlitz anzustreichen und ins Licht zu rücken. ({3}) Das ist falsch. Es gibt keine gute oder schlechte Hetze. Daher sollten wir hier ganz deutlich sagen: Setzen gerade Sie sich dafür ein, dass Hetze nicht stattfindet. Ich glaube, damit wäre schon viel erreicht. Danke schön. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich diese Debatte und die letzten Zwischenfragen betrachte, dann ziehe ich aus dieser Debatte zwei Lehren: Erstens. Volksverhetzung muss strafbar sein. Das ist gut; das ist richtig; das ist verfassungsgemäß. Zweitens. Einer Änderung des § 130 StGB bedarf es nicht. ({0}) Wer diese Debatte verfolgt hat, kann nur zu diesem Schluss kommen. Es stellt sich aus dieser Debatte heraus aber die Frage: Warum überhaupt dieser Gesetzentwurf? Der Kollege Sensburg hat es angesprochen, und ich will es wiederholen und vertiefen. Zum einen, weil mit diesem Gesetzentwurf – Sie bezeichneten es zuvor in Ihrer Antwort auf die Zwischenfrage so schön als „fabulieren“ – eigentlich gewollt ist, § 130 StGB so lange zu verwässern, bis genau das herauskommt, was Sie wollen, nämlich das Schutzinteresse des § 130 StGB aufzuweichen und aus unserem Rechtsystem zu entfernen. ({1}) Deshalb, liebe Mitglieder dieses Hohen Hauses, verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, sollten wir über die Frage nachdenken: Für was haben wir den § 130 StGB? Wozu ist er gedacht? Zwei Gründe sind anzuführen. Dazu gehört nicht der Schutz der Sozialdemokratie; das mag vielleicht Ihrem Bismarck’schen Gedankengut entsprechen, aber nicht unserem bundesrepublikanischen Rechtsystem. Er ist erstens dazu da, den öffentlichen Frieden zu wahren. Und zweitens – das ist die wichtige Kernaussage – ist er dazu da, Minderheiten in diesem Land zu schützen, nicht die Mehrheitsgesellschaft, die auch polemische Angriffe aushalten muss. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Nationalsozialismus soll er verhindern, dass in Deutschland nie wieder der Mob loszieht, um ({2}) Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Schwule und Lesben, Farbige, Nichtfarbige, Deutsche, Nichtdeutsche zu jagen, zu verunglimpfen, zusammenzutreiben und dann … Wir kennen die Geschichte. Deshalb verbietet sich jede Relativierung. Deshalb ist § 130 StGB erforderlich. Deshalb dürfen wir nicht Hand an diese Vorschriften anlegen. ({3}) Dass § 130 StGB als Sondervorschrift auch im Sinne des Artikels 5 Grundgesetz verfassungswidrig ist, zeigt Ihr Gesetzentwurf ganz deutlich. Sie zitieren zwar das Revisionsurteil des Kammergerichts, aber die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom November 2009 lassen Sie tunlichst beiseite. In dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht noch einmal ausdrücklich gesagt, dass § 130 StGB eben kein allgemeines Gesetz ist, sondern ein Gesetz, das explizit auf die nationalsozialistische Unrechtsideologie abstellt. Daran müssen wir festhalten. Für alle anderen Tatbestände haben wir Regeln in diesem Land. In § 185 ff. StGB ist das Strafmaß bei Verletzung individueller Rechte durch Beleidigungen, üble Nachrede, Verleumdung – damit haben Sie alle miteinander gute Erfahrungen – geregelt. Wenn es um Gewalt gegen Deutsche geht, frage ich Sie: Welche Deutschen meinen Sie denn damit mehrheitlich und ethnisch? Den ganzen Deutschen? Den Halbdeutschen? Den Vierteldeutschen? Solche Begriffe hatten wir in diesem Land doch schon einmal. Ich möchte nicht, dass sie noch einmal üblich werden. ({4}) Die Störung des öffentlichen Friedens ist nach § 126 StGB strafbar. Meine Kernaussage zu Ihrem Gesetzentwurf lautet: Wir brauchen keine Änderung des § 130 StGB. In unserem Land darf niemand, egal ob deutsch oder nicht deutsch, farbig oder nicht farbig, christlich oder nicht christlich, krank oder gesund, behindert oder nicht behindert, schutzlos sein. ({5}) Deshalb ist es erforderlich, den § 130 StGB in der bestehenden Form zu erhalten und diesem unsinnigen Ansinnen eine Abfuhr zu erteilen. Vielen herzlichen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum Abschluss dieser Debatte möchte ich noch auf einen anderen Aspekt aufmerksam machen. Der § 130 des Strafgesetzbuches ist eine der wenigen Strafvorschriften, die explizit auf die Menschenwürde Bezug nimmt. Damit diese unantastbar bleibt, wie es in Artikel 1 des Grundgesetzes festgeschrieben ist, muss der Staat sie aktiv vor Herabsetzung, Entwürdigung und Entmenschlichung schützen. Das ist eines der wichtigsten Ordnungsprinzipien unseres staatlichen Gemeinwesens. ({0}) Damit der öffentliche Friede gewahrt bleibt, müssen wir uns die Frage stellen, wie das friedliche Zusammenleben in unserem Staat geschützt werden kann. Oder andersherum gefragt: Was gefährdet das friedliche Zusammenleben? Es ist – die bitteren historischen Erfahrungen zeigen es – der Hass und die Ausgrenzung gegenüber Andersdenkenden, gegenüber Schwachen, gegenüber anderen Religionen und gegenüber Minderheiten. Es gibt einen Zusammenhang, den ich deutlich benennen möchte: Herabwürdigungen und Verrohungen in der Sprache schüren Hass. Hass führt zu Gewalt, und Gewalt zersetzt ein Gemeinwesen. Deswegen brauchen wir den § 130 StGB, um die Würde des Menschen und den öffentlichen Frieden zu schützen. ({1}) Ja, es ist durchaus nicht ganz überraschend – und das ist in der Tat gesagt worden –, dass sich die Fraktion der AfD des Paragrafen zur Volksverhetzung annimmt. Daran wird deutlich: Wer Sachargumente hat, braucht keine Herabsetzung. Wer herabsetzt, dem geht es nicht um die Sache. Und wem es nicht um die Sache geht, dem geht es auch nicht um einen demokratischen Diskurs. Das ist der Zusammenhang, in dem Ihr Gesetzentwurf steht. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Ullrich, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Herrn Seitz?

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Kollege, vielen Dank für die Zulassung der Zwischenfrage. – Sie haben den Vorwurf erhoben, die Fraktion der AfD und unsere Partei verfüge nur über das Mittel, andere herabzusetzen. Ihnen ist doch sicherlich bekannt, dass ein früherer Ministerpräsident Ihrer Partei Bürger in Ostdeutschland, die zivilen Ungehorsam geübt haben und sich dabei möglicherweise im niedrigschwelligen Bereich strafbar gemacht haben, dadurch gekennzeichnet hat, dass er gesagt hat: Das sind keine Menschen … Das sind Verbrecher. Er hat diesen Menschen die Menschenwürde abgesprochen. Das ist der schlimmste Verstoß, den man in Deutschland gegen unser Grundgesetz begehen kann. Distanzieren Sie sich also von diesem hochrangigen ehemaligen Politiker und Mitglied der CDU, der nach meinem Kenntnisstand von Ihrer Partei und Fraktion niemals, zu keinem Zeitpunkt, für diese unglaubliche Äußerung gemaßregelt wurde, die im Übrigen auch keinerlei öffentliche Resonanz gefunden hat? ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich kenne das Zitat nicht. ({0}) Sie haben das Zitat weder wortwörtlich zitiert noch eine Quellenangabe genannt oder den Zusammenhang deutlich dargestellt. ({1}) Ich rate Ihnen: Es wäre für Sie vielleicht wesentlich zielführender, sich Ihre Twitter- und Facebook-Einträge anzusehen und die Kommentare, die Menschen darunter posten, zu lesen. Davon müssen Sie sich distanzieren. Das ist es, was Hass in der Gesellschaft schürt und das Gemeinwesen hier zersetzt. ({2}) Darüber müssen wir reden. Ja, wir müssen diesen Gesetzentwurf auch rechtspolitisch betrachten. In einem Umfeld, in dem wir wertausfüllungsbedürftige unbestimmte Rechtsbegriffe haben, wollen Sie eine Legaldefinition einführen. Der Punkt ist aber, dass das Strafrecht anders aufgebaut ist. Überall dort, wo wir unbestimmte Rechtsbegriffe haben, die dann der Beurteilung durch den Tatrichter obliegen, braucht es keine Legaldefinitionen. Wenn Sie aber eine Legaldefinition einführen, ändern Sie den Charakter der Vorschrift. Wenn Sie den Charakter der Vorschrift ändern, entwerten Sie den gesamten strafrechtlichen Schutzzweck dieser Norm. Es geht Ihnen also darum, dass der § 130 Strafgesetzbuch durch die Überladung wirkungslos wird. ({3}) Damit werden im Ergebnis Würde und öffentlicher Frieden nicht mehr in dem Umfang geschützt. Das steckt dahinter. ({4}) Ich möchte zum Abschluss dieser Woche darauf aufmerksam machen, dass der Kern dieser Vorschrift im Jahr 1960 geändert worden ist aufgrund bitterer historischer Erfahrungen der jungen Bundesrepublik Deutschland, antisemitischer Schmierereien an Synagogen und Hetzschriften, die die junge Bundesrepublik Deutschland vor eine schwere Bewährungsprobe gestellt haben. Das junge demokratische Deutschland hat diese Bewährungsprobe bestanden, indem es gesagt hat: Nie wieder! Das dulden wir nicht. Wir stellen das unter Strafe. Wir wollen durch die Strafvorschrift eindeutig zum Ausdruck bringen, dass wir es nicht zulassen, dass ein Klima der Verrohung, der Angst, der Hetze und der Intoleranz entsteht, auch mit Mitteln des Strafrechts. – Wir werden klar und deutlich zum Ausdruck bringen, dass wir an diesem Gedanken, der damals modern war, festhalten, und deswegen bleibt § 130 Strafgesetzbuch so, wie er ist. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/1842 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Dr. Christian Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004769, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich stelle mir ein modernes Deutschland folgendermaßen vor: keine Staus, mehr Menschen in Zügen, mehr Güter auf der Schiene, moderne Brücken und Straßen, durchdachte Fahrradwege, Wasserwege mit funktionstüchtigen Schleusen, eine sichere Ostseeautobahn A 20, einen funktionsfähigen neuen Flughafen in Berlin und einen fertigen Bahnhof in Stuttgart, über den man voller Freude mit der Bahn in alle Welt fahren kann. ({0}) Ein modernes Deutschland ist auf Notfälle vorbereitet. Eine Tunnelhavarie wie 2017 in Rastatt mit anschließender 51-tägiger Streckensperrung der Rheintalbahn darf es nie wieder geben. ({1}) Unzählige Unternehmen standen plötzlich vor Lieferschwierigkeiten und Engpässen. Dringend benötigte Teile kamen nicht in den Fabriken an. Viele Produkte waren im Supermarkt nicht mehr erhältlich. Baustellen standen still, weil Material nicht geliefert wurde. Pendler kamen nur unter widrigsten Umständen zur Arbeit. Viele Familien standen deshalb vor unlösbaren Problemen. Die gesamte europäische Volkswirtschaft nahm Schaden – nach einem gerade erst veröffentlichten Gutachten in Höhe von mindestens 2 Milliarden Euro. Rastatt ist nur ein weiteres Symptom für die Probleme und auch den Zerfall der deutschen Infrastruktur. Wir müssen daraus lernen und alles dafür tun, dass es keine Wiederholung gibt. ({2}) Deshalb haben wir Freie Demokraten diesen Antrag zur Aufarbeitung und umgehenden Entwicklung von Notfallplänen gestellt. Wir wollen genau wissen, wie es im August 2017 zur Tunnelhavarie bei Rastatt kommen konnte. Wir wollen genau wissen, was die Bundesregierung und die Verantwortlichen der Deutschen Bahn taten, um den Unfall aufzuklären und die Folgen der Streckensperrung zu managen. Ich finde es in diesem Zusammenhang ungeheuerlich, dass weder der damalige Bundesverkehrsminister noch der Konzernvorstand der Deutschen Bahn sofort nach dem Vorfall die Unfallstelle besuchten. ({3}) Es kann doch nicht sein, dass die Verantwortlichen erst sechs Wochen später – einige Tage nach der Bundestagswahl – in Rastatt aufkreuzten. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. ({4}) Fest steht für uns: Wir brauchen ein neues Krisenmanagement für die Deutsche Bahn und das gesamte deutsche Schienennetz. Vor einigen Tagen gab es wieder eine Absenkung in Rastatt. Wäre die Bahn auf einen zweiten und ähnlichen Unfall an der gleichen Stelle überhaupt vorbereitet? Wir brauchen einen Plan für betriebsbereite Ausweichstrecken für Güterzüge im gesamten Bundesgebiet und mehr Kooperation mit den europäischen Nachbarländern. ({5}) Und – ich selbst komme aus der Region Karlsruhe – wir brauchen Gespräche mit der französischen und der schweizerischen Regierung zum Thema Rheintalbahn. Wir brauchen ein besseres bundesweites Management von Ausweichstrecken mit dem Zugsicherungssystem ETCS und die Digitalisierung des Schienennetzes insgesamt. ({6}) Sehr geehrter Herr Bundesminister Scheuer – schade, dass Sie der wichtigen Debatte heute fernbleiben –, machen Sie die offene, lückenlose und transparente Aufarbeitung von Rastatt zur Chefsache. ({7}) Um in Ihren Worten zu bleiben, Herr Bundesminister: Ich akzeptiere es nicht, wenn es in diesem Falle keine Konsequenzen gibt. ({8}) Ich akzeptiere es nicht, wenn es kein ausreichendes Notfallmanagement mit geeigneten Ausweichstrecken gibt. Ich akzeptiere es nicht, wenn wir in Deutschland nicht auf Ernstfälle vorbereitet sind. ({9}) Wir benötigen wieder das Vertrauen der Menschen und der europäischen Wirtschaft in den deutschen Schienenverkehr. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Steffen Bilger. ({0})

Steffen Bilger (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004011

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Keine Frage: Die Tunnelhavarie in Rastatt im August vergangenen Jahres hat für große Turbulenzen gesorgt. Die Folgen sind immer noch spürbar, insbesondere für die Bahnkunden, die Anwohner der Strecke, aber auch bei den verkehrlichen Abläufen. Eine politische Folge ist dann auch der Antrag der FDP-Fraktion, den wir heute beraten. Ich werde versuchen, in meiner Rede Antworten zu geben auf die im Antrag gestellten Fragen, aber auch auf die in der Rede des Kollegen Christian Jung – herzlichen Glückwunsch zur ersten Rede – aufgeworfenen Fragen. Ich werde auch etwas zu aus unserer Sicht möglichen Konsequenzen sagen. Aber zunächst zu den Fakten. Am 12. August 2017 kam es bei Tunnelbaumaßnahmen an der Rheintalbahn bei Rastatt-Niederbühl zur Absenkung der Streckengleise. Was war passiert? Im Tunnelrohbau hatten sich Tübbinge – das sind Fertigteile der Tunnelauskleidung – verschoben, sodass Wasser und Material in den Bereich des sogenannten Nachläufers der Tunnelbohrmaschine eindringen konnten. Der Eisenbahnbetrieb und die Arbeit auf der Baustelle wurden eingestellt und die Rheintalbahn umgehend gesperrt. Immerhin kam durch diese schnell getroffene Entscheidung niemand auf der Baustelle zu Schaden, und für die Eisenbahn bestand zu keinem Zeitpunkt eine Betriebsgefahr. Allerdings war die gravierende Konsequenz die Sperrung der stark befahrenen Rheintalstrecke – mit allen Auswirkungen. Aber auch anschließend wurde schnell gehandelt. Zur Sicherung wurde ein circa 150 Meter langer Abschnitt des Tunnels verfüllt, ({0}) eine Betonplatte gebaut, und die Streckengleise wurden wiederhergestellt. Dadurch kann die Strecke seit dem 2. Oktober 2017 wieder befahren werden. ({1}) Der Tunnelbau wird seitdem im Schutz der Betonplatte fortgesetzt. Dennoch: Diese Sperrung der am stärksten befahrenen Magistrale des internationalen Schienengüterverkehrs in Europa traf den Eisenbahnsektor tief ins Mark. Insbesondere musste die Ursache der Havarie geklärt werden. Dazu wurde zwischen der DB Netz AG als Projektträger und den ausführenden Firmen ein Schlichtungsverfahren eingeleitet. Das Eisenbahn-Bundesamt als Aufsichtsbehörde nimmt daran als Beobachter teil. Neue Erkenntnisse erwarten wir im Mai und Juni dieses Jahres durch das Bohrprogramm im Havariebereich. Der Abschluss des Schlichtungsverfahrens wird Ende 2018 zum technischen Teil und Anfang 2019 zum juristischen Teil erwartet. Schnellstmöglich, aber eben auch mit der notwendigen Gründlichkeit soll somit die Ursachenforschung abgeschlossen werden. Zwischen allen Beteiligten besteht Einigkeit, dass erst nach Vorlage des technischen Endberichts sinnvoll die Haftungsfragen erörtert werden können. So weit zum Geschehen im und um den Tunnel. Nun komme ich zu den Auswirkungen auf die Eisenbahn. Es ist schon bemerkenswert, dass die Havarie ausgerechnet an der Stelle erfolgte, die den letzten Flaschenhals im ansonsten redundanten Eisenbahnkorridor im Oberrheintal darstellt. Ein grundsätzliches Problem war zweifellos, dass sich insbesondere kleine Eisenbahnverkehrsunternehmen bis zur Havarie sehr auf die Verfügbarkeit der Linie im Oberrheintal verlassen haben. Klar ist: Es liegt in der unternehmerischen Verantwortung der Verkehrsunternehmen, zu entscheiden, wie viel Reservekapazitäten sie vorhalten wollen oder eventuell anderweitig kompensieren können. Im Bundesverkehrsministerium – das auch noch zu den Konsequenzen, die wir gezogen haben – wurde in einem Gespräch am 10. Januar dieses Jahres unter Leitung des damaligen Staatssekretärs Michael Odenwald gemeinsam mit der DB AG und den Verbänden der Bahn die Tunnelhavarie nachbearbeitet. Dabei haben sich Lösungsvorschläge ergeben, die teils von den Bahnen selbst realisiert werden müssen, teils aber natürlich auch in die Aktivitäten des Bundes, etwa beim Bundesverkehrswegeplan, einzubeziehen sind. Verbesserung kann nur ein Bündel verschiedener lang-, mittel- und kurzfristiger Maßnahmen bringen. Aus unserer Sicht muss zum Ersten die Kommunikation auf allen Ebenen und in allen Schnittstellen dringend verbessert werden. Es sollte ein übergreifendes Korridormanagement eingerichtet werden, um schnell und großräumig auf vergleichbare Ereignisse reagieren zu können. Es sollte auch darüber nachgedacht werden, welchen Verkehren eventuell Priorität bei einem Störungsfall eingeräumt werden kann. Beim Baustellenmanagement sollte es möglich werden, Baumaßnahmen kurzfristig qualifiziert zu unterbrechen, sodass auch Umleiterverkehre hier abgewickelt werden können. Es gilt also: Längerfristige Sperrungen können auch an neuralgischen Punkten im Netz nie ausgeschlossen werden. Aber eine Verdopplung der Infrastruktur für jederzeitige Umleitungen ist unrealistisch. Daher müssen die Prozesse verbessert werden, sowohl kurzfristig im Störungsfall als auch langfristig proaktiv. Zudem ist es geboten, ein hochprioritäres Netz zu definieren. Ein solches Netz weist dann sowohl die im Regelfall genutzten Strecken und Knotenpunkte als auch für jeden Streckenabschnitt die jeweiligen durchgängigen Umleitungsmöglichkeiten aus. Um Trassen als mögliche Umleitungsstrecken zu ertüchtigen, ist zu erwägen, ob im Rahmen künftiger BVWP-Bewertungen ein zusätzliches Gewichtungskriterium „Alternativstrecke im Störungsfall“ eingeführt werden sollte. ({2}) Das hochprioritäre Netz sollte also derart gestaltet sein, dass sehr kurzfristig Umleitungen ohne Zugangsprobleme möglich sind. Vor allem sollte das Netz so ausgerüstet sein, dass es ohne Streckenkenntnis von allen Triebfahrzeugführern sicher befahren werden kann. Das bedeutet primär eine eindeutige und vollständige Signalisierung ohne Speziallösungen. Wir setzen sehr auf European Train Control Systems, ETCS, und zwar in ganz Europa, nicht nur in den Grenzbereichen. ({3}) Abschließend ist festzuhalten: Störungsfälle können passieren. Deswegen müssen wir es gemeinsam schaffen, die negativen Auswirkungen möglichst gering zu halten. Die Tunnelhavarie von Rastatt ist Anlass, die gebotenen Konsequenzen zu ziehen und auf allen Ebenen Lösungen anzubieten. ({4}) Als Bundesregierung und als Bundesverkehrsministerium werden wir das tun. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Wiehle für die AfD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Wiehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004933, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei einem volkswirtschaftlichen Schaden von rund 2 Milliarden Euro muss man von einer Katastrophe sprechen, die am 12. August des vergangenen Jahres in Rastatt-Niederbühl geschehen ist. An diesem Tag gab während der Tunnelarbeiten unterhalb der Rheintalbahn das Erdreich nach. Die Strecke war für 51 Tage komplett blockiert; der Kollege Dr. Jung hat das schon erwähnt. Die Auswirkungen auf Logistikunternehmen, deren Kunden, die Bahn selbst und Abertausende Fahrgäste waren gravierend. Außerdem sind einige Kunden wegen der wochenlangen Behinderungen dauerhaft von der Schiene auf andere Verkehrsträger abgewandert, hauptsächlich auf die Straße. Ich danke den Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dass sie mit diesem Antrag dafür sorgen, dass dieses Thema heute hier im Bundestag debattiert wird. Ihre Analyse und Ihre Forderungen greifen jedoch ein Stück zu kurz. Es ist ja richtig, dass wir beispielsweise mehr Ausweichstrecken im Güterverkehr brauchen. Es ist genauso richtig, dass Überholgleise, die in den vergangenen zwei oder drei Jahrzehnten abgebaut wurden, jetzt bitter fehlen. Doch es fehlen offensichtlich auch Lokführer, die Streckenkenntnisse haben, die über den täglichen Einsatzbedarf hinausgehen, und Fahrzeugbaureihen bedienen können, die sie nicht jeden Tag fahren. Wenn man hier Reserven haben will, die man im Falle großer Störungen einsetzen kann, darf man bei der Ausbildung nicht den Rotstift ansetzen. ({0}) Das Kernproblem ist bei allen diesen drei Punkten eine kurzsichtige Betrachtung eines Bahnbetriebs, der auf Kante genäht ist. Hier kommt schnell der Verdacht auf, dass kurzfristige Optimierungen einer langfristigen Sichtweise vorgezogen wurden, die sich an einem nachhaltigen und dauerhaft funktionsfähigen Bahnbetrieb orientieren muss. Mitverursacht wurde das durch eine Privatisierung ohne ausreichende Kontrolle. ({1}) Davon sprechen Sie aber wohl nicht, weil das an Ihrem politischen Leitbild einen kräftigen Kratzer hinterlassen könnte. Auch die Planung des Bauvorhabens selbst unterlag anscheinend einem ungesunden Sparzwang; denn sonst wäre man nicht unnötige Risiken eingegangen. Deshalb frage ich mich: Warum wurde auf eine bauliche Sicherung der oberirdischen Gleisanlagen verzichtet? Weshalb setzte man bei der Unterquerung der Rheintalbahn auf ein Vereisungsverfahren, das in einem Tunnelabschnitt dieser Länge vorher noch nicht angewendet worden war? Aus welchem Grund entschied man sich damit auch gegen die Bauweise, die der Ausschreibungstext noch vorsah? Dort war noch davon die Rede, dass man die Unterquerung der Bahnlinie von einem zweiten Schacht aus startet. ({2}) Die Infrastruktur, meine sehr verehrten Damen und Herren, dient der Daseinsvorsorge. Übertriebenes Sparen führt hier nicht zum Ziel, wie der Fall Rastatt zeigt. ({3}) Auch auf anderen Gebieten sollte uns das eine Warnung sein. Die Privatisierung der kommunalen Wasserversorgung, wie sie von der Europäischen Union betrieben wird, muss keineswegs eine Verbesserung der Verhältnisse bringen. ({4}) Auch bei der Überführung der Bundesfernstraßen in die geplante Infrastrukturgesellschaft ist große Vorsicht geboten. ({5}) Für Bauvorhaben im Schienennetz bedeutet diese Erkenntnis: Bei der Planung muss die Sicherheit der Bauausführung im Vordergrund stehen. Die Havarie von Rastatt zeigt deutlich, wie teuer es werden kann, wenn man auf wichtige Sicherungsmaßnahmen verzichtet. ({6}) Es müssen verstärkt allgemeine Notfallkonzepte entwickelt werden. Unfälle und Unglücke können schließlich an jedem Punkt des Schienennetzes passieren. Die Bahn muss ihre personellen Kapazitäten erweitern. Umfassende Ausbildung hätte die Suche nach strecken- und fahrzeugkundigen Lokführern nach der Streckensperrung erleichtert. Nutzen wir also die schlimme Erfahrung der Katastrophe von Rastatt ganz allgemein, um die richtigen Schlüsse zu ziehen: Infrastruktur ist Daseinsvorsorge. In notwendige Planungen, im wohlverstandenen langfristigen Sinn, müssen wir investieren. Aber auch: Die Privatisierung darf nicht zum Selbstzweck werden. ({7}) Die AfD-Fraktion sieht der Beratung im Ausschuss mit großem Interesse entgegen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Martin Burkert das Wort. ({0})

Martin Burkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003744, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Über die Tunnelhavarie in Rastatt haben wir bereits am 4. September 2017 ausführlich diskutiert. Ich will das betonen, damit nicht der Eindruck entsteht, dass wir nur darüber reden, weil die FDP das so wollte. Heute befassen wir uns alle noch einmal mit dem Geschehen in Rastatt. Wir haben schon von einigen Rednern gehört, was vorgefallen ist. Vor acht Monaten haben uns die Vorstände der DB Netz AG, Dr. Rompf und Dr. Schaffer, im Ausschuss erklärt, wie es am 12. August zu der Gleisabsenkung im Zuge der Tunnelarbeiten kam. Damals hat die Besatzung der Tunnelvortriebsmaschine eine Veränderung der Tunnellage erkannt – was gut ist – und umgehend den Fahrdienstleiter informiert. Die Strecke wurde sofort gesperrt. Das dauerte ganze drei Minuten. An der Strecke gab es eine viergliedrige Überwachung. Es gab innerhalb der Tunnelvortriebsmaschine, aber auch oberirdisch ein sensorisches und auch ein tachymetrisches Messsystem. Außerdem gab es eine Überwachung der Baustelle rund um die Uhr durch den technischen Berechtigten; ihn gab es durchaus. Eine erste optische Veränderung an der Streckenanlage wurde am Tag der Havarie nach circa eineinhalb Stunden festgestellt. Es lässt sich also zusammenfassend sagen: Das Schienenkonzept ging auf. Es bestand zu keinem Zeitpunkt – das hat der Herr Staatssekretär schon geschildert – Gefahr für Leib und Leben. Das ist die gute Nachricht. Ich will deshalb allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die besonnen und schnell gehandelt haben, herzlichen Dank sagen dafür, dass nichts passiert ist. ({0}) Für den Schienengüterverkehr standen dann nur drei Umleitungsstrecken zur Verfügung. Eine ging über Österreich, eine andere über die Gäubahn – allerdings nur auf einem nicht elektrifizierten Abschnitt, auf dem nur Dieselverkehr möglich ist – und wieder eine andere über eine grenznahe Strecke nach Frankreich, zusätzlich zum Rail Freight Corridor 2, der komplett über Frankreich geht. Man muss sagen: Grenzüberschreitende Ausweichstrecken sind schön und gut, doch müssen auch ausreichend Lokführer vorhanden sein. Und nicht nur das: Sie müssen auch Sprach- und Streckenkenntnisse haben. Das war leider nicht immer der Fall. Es gab auch innerdeutsche Ausweichstrecken, die aber nicht von allen Kunden des Güterschienenverkehrs benutzt werden konnten. Der Grund: Als Ausweichstrecken standen vor allem nicht elektrifizierte Trassen zur Verfügung, auf denen Diesellokomotiven benötigt werden. Die Nutzung der Umleitungen lag Anfang September dementsprechend nur zwischen 20 und 60 Prozent. Das eigentliche Problem war also weniger, kurzfristig Ausweichstrecken zur Verfügung zu stellen, sondern wie diese genutzt werden. Zurückblickend zeigt sich: Die Deutsche Bahn war auf einen Super-GAU auf einer Hauptschlagader des europäischen Güterverkehrs nicht ausreichend vorbereitet. ({1}) An Herrn Pofalla gerichtet – er ist der verantwortliche Netzvorstand – kann ich nur sagen: Aus Schaden wird man klug. Das sollte er sich besonders zu Herzen nehmen. Die Wiederinbetriebnahme der Strecke war für den 7. Oktober vorgesehen. Es ist erfreulich, dass die Strecke fünf Tage früher in Betrieb genommen werden konnte. Was bedeuten fünf Tage? Auf der Strecke im Korridor zwischen Karlsruhe und Basel – das muss man wissen – fahren täglich rund 200 Güterzüge. Durch die frühere Inbetriebnahme konnten also immerhin 1 000 Zugausfälle vermieden werden. Vor fünf Tagen wurde uns ein Gutachten vorgelegt, das im Auftrag des Netzwerkes Europäischer Eisenbahnen erstellt wurde und in dem die volkswirtschaftlichen Schäden dieser Havarie untersucht wurden. Man spricht davon, dass Schäden mit einem Volumen von mindestens 2 Milliarden Euro für die europäische Volkswirtschaft entstanden seien. Zwei Drittel der Güterzüge sind in der Tat ausgefallen, und ein Drittel wurde umgeleitet. Enorme Gütermengen sind so – leider – von der Schiene auf die Straße abgewandert, zum Teil auch auf die Wasserstraßen. Insgesamt – das müssen wir feststellen – waren von der vermutlich größten Streckensperrung im deutschen Netz seit dem Zweiten Weltkrieg über 8 000 Güterzüge betroffen. Ich sage in diesem Zusammenhang aber auch: Besonders schlimm finde ich es, dass jeden Tag, auch ohne Tunnelhavarie, zwischen 50 und 100 Güterzüge aus verschiedenen Gründen herumstehen. – Lieber Bahnvorstand, auch da gilt es zu handeln. ({2}) Ich bin der Ansicht, dass wir Unternehmen, die ihre Transportgüter von der Straße auf die Schiene bringen, nicht vollständig im Regen stehen lassen dürfen, wenn es um die finanziellen Risiken geht. In diesem Zusammenhang wird über einen Notfallfonds diskutiert. Ich halte dies für einen nachdenkenswerten Vorschlag, über den wir vielleicht auch im Ausschuss diskutieren können; denn richtig ist: Nach Rastatt ist vor Rastatt. Deswegen dürfen wir nicht zur Tagesordnung übergehen. Wir werden die Digitalisierung der Schiene vorantreiben. Wir werden den Ausbau der europäischen Leit- und Sicherungstechnik – das Schlagwort lautet ETCS – vorantreiben. Den Bau elektronischer Stellwerke und die Umrüstung von Lokomotiven werden wir seitens des Bundes unterstützen. Um im Fall der Fälle Ausweichstrecken nutzen zu können, ist die Elektrifizierung von besonderer Wichtigkeit. Das hat Rastatt ganz klar gezeigt. Ohne Elektrifizierung haben wir weniger Ausweichmöglichkeiten. Deshalb wollen wir bis 2025  70 Prozent des Schienennetzes in Deutschland elektrifizieren. Das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. ({3}) Herr Staatssekretär Bilger, ich sage: Das schaffen wir. Ich gehe davon aus, dass das Ministerium schon massiv daran arbeitet. Es gibt noch einen zweiten Bereich, in dem Handlungsbedarf besteht: Die internationale Koordination und Abstimmung müssen unbedingt verbessert werden; da gebe ich Ihnen recht, Herr Kollege Jung. Mein Dank gilt deswegen ausdrücklich der Schweizer Verkehrsministerin, Doris Leuthard, und der Schweizer Bahn, die viele abgestellte Züge auf der Schweizer Seite zu managen hatten. Deshalb begrüßen wir den von der DB Netz AG mit anderen europäischen Schienennetzbetreibern ausgearbeiteten besseren Notfallplan. Ein Notfallhandbuch ist in Arbeit; der Herr Staatssekretär hat darauf hingewiesen. Man kann nur sagen: Hoffentlich ist nach Rastatt nicht vor Rastatt. Vielleicht finden wir, Herr Kollege Jung, im Ausschuss auch noch einen gemeinsamen Nenner. Ich will Ihnen sagen: Der Antrag ist so schlecht nicht. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Sabine Leidig das Wort. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Guten Tag, Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wer es ernst meint mit den Klimazielen, der muss dafür sorgen, dass Gütertransporte von der Straße auf die Schiene verlagert werden. ({0}) Wir von der Linken haben dazu wirklich viele konkrete Vorschläge auf den Tisch gelegt. Es ist höchste Eisenbahn, dass auch der Verkehrsminister die Bahn mit voller Kraft unterstützt und nicht immer wieder eine Leerstelle hinterlässt. Im August 2017 bricht eine Tunnelbaustelle auf einer der meistbefahrenen Bahnstrecken Europas zusammen, bei Rastatt, im auf ihre Ingenieure so stolzen Baden-Württemberg – peinlich. Dann bricht das Chaos aus – wir haben es schon gehört –: Der Zugverkehr wird wochenlang praktisch eingestellt, Ausweichrouten existieren kaum oder sind gerade wegen Bauarbeiten gesperrt, Fahrgäste werden in Busse verfrachtet, und 8 200 Güterzüge bleiben stehen. Der damals Zuständige, Herr Pofalla, blieb in dieser Zeit weitgehend unsichtbar. Die Beschäftigten haben wirklich schwer gelitten, weil vom Beschwerdemanagement nur Serienbriefe verschickt wurden und die Beschäftigten den Frust der betroffenen Fahrgäste aushalten mussten. Ich finde, das ist völlig inakzeptabel. ({1}) Ein gutes Krisenmanagement sieht anders aus. Die Bundesregierung als Eigentümerin der Deutschen Bahn darf diese Angelegenheit nicht aussitzen. Deshalb ist es gut, dass die FDP diese Sache mit ihrem Antrag wieder auf die Tagesordnung gesetzt hat. Wir stimmen ihren Forderungen nach Aufklärung und Transparenz völlig zu. Selbstverständlich setzen auch wir uns dafür ein, dass das Bahnnetz zügig ausgebaut und modernisiert wird, damit es wieder Ausweichstrecken gibt. Aber der Unfall wirft natürlich noch ein weiteres Licht auf ein jahreslanges Versagen der Bundesregierung. Die Rheintalstrecke hätte nämlich schon längst fertig sein müssen. ({2}) Die Tatsache, dass dort überhaupt noch eine Baustelle war, ist ein Vertragsbruch und ein Wortbruch der Bundeskanzlerin. ({3}) Auch das darf das Parlament nicht einfach akzeptieren. Die Bundeskanzlerin hat bei diesem zentralen Projekt für den Schienenverkehr in Europa, das zur Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene vor allem im Alpenraum gebraucht wird, ihr Wort gebrochen und stattdessen Prestigeprojekte wie die Neubaustrecke Ulm–Wendlingen und vor allen Dingen Stuttgart 21 gepusht. Auch dazu ein ernstes Wort. Der Tunnel in Rastatt war ein vergleichsweise einfaches und überschaubares Tunnelbauprojekt. ({4}) Dort ist aus unerfindlichen Gründen plötzlich die Technik, die man angewendet hat, geändert worden. Kein Mensch weiß, wie es zu dieser Entscheidung gekommen ist. Tatsache ist, dass mit demselben Verfahren bereits bei vorhergehenden Tunnelprojekten vergleichbare Schwierigkeiten aufgetreten sind. Hinzu kommt, dass eine Verwirrtaktik im Hinblick auf die Unglücksursachen verbreitet wurde. ({5}) Erst hieß es, es sei eine innovative Neuerung, die dort verwendet wurde, und deshalb sei man in diese Schwierigkeiten geraten. Dann wurde davon geredet, dass man überhaupt keine Schuld trage, weil es sich um eine ganz bewährte Methode handele. Ich kann Ihnen sagen: Wenn schon beim Rastatter Tunnelunglück eine solche Verwirrtaktik, eine solche Intransparenz und ein solches Komplettversagen zu beobachten sind, ({6}) was erwartet uns bei Stuttgart 21? ({7}) Dies ist nämlich ein ungleich größeres Projekt. ({8}) Es ist aus meiner Sicht kein Zufall, dass das zentrale Gutachten – – ({9}) – Sie können jetzt herumschreien, aber Sie können mir auch zuhören und vielleicht etwas lernen. ({10}) Das zentrale Gutachten im Zusammenhang mit den Risiken der Tunnelbauwerke in Stuttgart wird wie ein Staatsgeheimnis gehütet. ({11}) Wir haben mehrfach versucht, dieses Gutachten öffentlich zu machen. Sie verweigern es. Der Minister droht mit einer Klage gegen die Bahn. Das ist wirklich inakzeptabel. ({12}) Sie verhöhnen damit die Öffentlichkeit. Ich finde, Stuttgart 21 muss endlich ein Umstiegsprojekt werden. ({13}) Die Linke fordert darüber hinaus, dass die Unternehmen entschädigt werden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit?

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zum Schluss. – Hunderte Millionen Euro werden für Elektroautos zur Verfügung gestellt. Dann müssen auch Hunderte Millionen Euro für die Unterstützung der Güterzugunternehmen in der Kasse sein. ({0}) Es müssen auch endlich faire Wettbewerbsbedingungen hergestellt werden. Es darf nicht immer zugunsten der Lkws entschieden werden. ({1}) Wir brauchen die Verkehrswende für den Klimaschutz und für mehr Lebensqualität. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Ankündigung des Redeendes ersetzt dieses nicht. – Das Wort hat der Kollege Matthias Gastel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Matthias Gastel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004278, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Stellen Sie sich einmal vor, ganz unvorbereitet muss eine Autobahn gesperrt werden. Im Verkehrsfunk heißt es: Eine Umleitungsempfehlung können wir leider nicht aussprechen. Autofahrer sollten besser zu Hause bleiben, damit wenigstens ein Teil der möglichen Umleitungsstrecken für einige Lkws frei bleibt. Die Sperrung der Autobahn wird 51 Tage dauern. – Sie meinen, das ist nicht vorstellbar? Ja, für die Straße bzw. die Autobahn ist das nicht vorstellbar, aber bei der Schiene – wir haben es nach dem Baustellenunfall von Rastatt gesehen – ist genau das Geschilderte passiert. Eine der wichtigsten Strecken für den Personen- und für den europäischen Güterverkehr musste gesperrt werden. Umleitungsstrecken waren entweder deswegen nicht verfügbar, weil sie ebenfalls wegen Bauarbeiten gesperrt waren oder weil sie eingleisig oder nicht elektrifiziert waren und damit nicht ausreichend leistungsfähig waren. Um wenigstens Teile des Schienengüterverkehrs fahren zu lassen, wurden einzelne Personenzüge gestrichen. Güterzüge vom Norden her stauten sich weit zurück. Was auf Lkws verladen werden konnte, wurde auf der Straße abgewickelt. ({0}) Der Schaden wird auf über 2 Milliarden Euro geschätzt. Teile des Schienengüterverkehrs wurden langfristig auf die Straße verlagert. Wir haben einen maximalen Vertrauensverlust in die Verlässlichkeit der Schiene zu beklagen. Das alles hat Gründe. ({1}) Seit 1992 wurde das Straßennetz in Deutschland um 40 Prozent ausgebaut. Im gleichen Zeitraum wurde das Schienennetz um 20 Prozent geschrumpft. Wenn man in den Bundesverkehrswegeplan schaut, dann stellt man fest: Die Straßenbauorgie in Deutschland geht weiter. ({2}) Eineinhalb Jahre nach Verabschiedung des Bundesverkehrswegeplans werden überall in Deutschland munter neue Straßen geplant. Von den 46 Schienenprojekten im Potenziellen Bedarf des Bundesverkehrswegeplanes sind bis heute, nach eineinhalb Jahren, gerade einmal fünf Schienenprojekte abschließend bewertet worden. ({3}) Baden-Württemberg ist ein gutes Beispiel für die Totalverweigerung der Bundesregierung in Sachen Ausbau der Schienenwege. ({4}) Von der Gäubahn abgesehen sind alle vom Land Baden-Württemberg beim Bund angemeldeten Schienenprojekte abgelehnt worden. Kein einziges weiteres Projekt ist in den Vordringlichen Bedarf aufgenommen worden. Selbst solche Ausbauprojekte, die für Umleitungen bei Sperrung der Rheintalbahn nützlich wären und angemeldet wurden, wurden abgelehnt. ({5}) Wenn in Deutschland in Sachen Ausbau der Schienenwege etwas vorangehen soll, dann geht es nur dann, wenn die Länder eigenes Geld in die Hand nehmen, um Bundesschienenwege auszubauen und zu ertüchtigen. Das nenne ich einen wirklichen Skandal. ({6}) Meine Damen und Herren, der Koalitionsvertrag enthält die eine oder andere positive Passage zum Thema Bahn.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Gastel, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der AfD-Fraktion?

Matthias Gastel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004278, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte schön. ({0}) – Schauen wir mal.

Dr. Dirk Spaniel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004899, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sie haben ja nun über Baden-Württemberg geredet. Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass in Baden-Württemberg momentan eine grüne Landesregierung die Geschäfte führt? ({0})

Matthias Gastel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004278, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Abgeordneter der AfD, wir reden hier über Bundesschienenwege. Das Land Baden-Württemberg hat beim Bund jede Menge Schienenwege zum Ausbau angemeldet, und der Bund hat diesen Ausbau abgelehnt. Baden-Württemberg gehört aber zu den Ländern, die eigenes Geld in die Hand nehmen, um Bundesschienenwege zu ertüchtigen und auszubauen. Genau das habe ich gerade ausgeführt, und ich habe es für Sie gerne wiederholt. ({0}) Die Große Koalition geht nicht an die Strukturen ran, und genau das ist das Problem. Das Motto der Großen Koalition lautet: Weiter so, mehr von allem! ({1}) Mehr Straßen, mehr Schienenwege und vor allem mehr Flugverkehr! So, meine Damen und Herren, kann die Verkehrswende nicht funktionieren. ({2}) So wird der Anteil des Schienengüterverkehrs in Deutschland auch weiter bei unter 20 Prozent vor sich hindümpeln. Österreich, die Schweiz und viele andere Länder zeigen, dass das auch deutlich anders erfolgreich funktionieren kann. Mit dieser Politik werden die Autobahnen immer voller mit immer mehr Lkws, die für Staus sorgen. Das gescheiterte Modell der Vergangenheit kann keine Lösung für die Zukunft bringen. ({3}) Nötig sind die Stärkung der Schiene, die Engpassbeseitigung, der Bau von 740-Meter-Netzen für längere und wirtschaftliche Güterzüge, der Deutschland-Takt für den Güter- und für den Personenverkehr und natürlich auch die Digitalisierung. ({4}) Das ETCS, das europäische Zugbeeinflussungssystem, kommt in Deutschland nicht voran. Es gibt bei der Bundesregierung und bei der Deutschen Bahn noch nicht mal ein entsprechendes Konzept. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege Gastel, diese Vorschläge müssen Sie jetzt bitte in die Ausschussberatungen verlagern.

Matthias Gastel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004278, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Stellen Sie das Signal für die Bahn endlich auf Vorfahrt für die Schiene! Das ist dringend notwendig. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Florian Oßner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Florian Oßner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004366, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gastel, Ihre Ausführungen verwundern mich schon ein Stück weit: ({0}) Sie selbst waren bei der Ausarbeitung des Bundesverkehrswegeplans dabei, den wir verabschiedet haben. ({1}) 42 Prozent von 72 Milliarden Euro bis 2030 gehen an die Bahn und in unsere Schienenstrecken. Das ist eine klare Botschaft für die Schienenwege in unserem Land. ({2}) Nun zum Antrag der FDP. Er scheint mir doch ein Stück weit mit sehr heißer Nadel gestrickt worden zu sein. Man könnte frei nach Christian Lindner sagen: Lieber schnell einen Antrag schreiben, als einen guten Antrag schreiben. ({3}) So steht in dem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dass der Deutsche Bundestag die Bundesregierung und die Deutsche Bahn dazu auffordern soll, das Parlament „zeitnah mündlich und schriftlich“ zu informieren, wie es „am 12. August 2017 zu der Tunnelhavarie bei Raststatt-Niederbühl kommen konnte“. Bereits am 5. September 2017 – das war allerdings noch vor dem Einzug der FDP in den Bundestag und ist deswegen vielleicht Ihrer Aufmerksamkeit entgangen – hatten wir hierzu eine Sitzung. Der vormalige Vorsitzende des Verkehrsausschusses, aber auch unser Staatssekretär Steffen Bilger sind darauf bereits eingegangen. ({4}) In dieser Sitzung haben die DB Netz AG und der Staatssekretär Michael Odenwald vom Bundesverkehrsministerium dem Ausschuss über die ersten Erkenntnisse und Ursachen des Unfalls berichtet. Diese ersten Erkenntnisse können Sie in dem Protokoll der 117. Sitzung nachlesen. ({5}) Liebe Liberale, ich kenne zwar nicht Ihre Definition des Wortes „zeitnah“, aber nach meinem Verständnis möchte ich behaupten, dass dieser kurze Zeitraum von knapp drei Wochen eindeutig hierunter fällt. Die Verantwortlichen haben eigentlich ein großes Dankeschön für die schnelle Reaktion verdient. ({6}) Der schriftliche Bericht zur Tunnelhavarie von Raststatt wurde uns seitens der Bundesregierung gestern vorgelegt, sodass es auch hierfür keiner weiteren Aufforderung der Bundesregierung seitens des Parlaments mehr bedarf ({7}) und Ihre Wünsche diesbezüglich – ich weiß gar nicht, warum Sie so unzufrieden sind – bereits erfüllt sind. ({8}) Weiter fordern Sie in Ihrem Antrag, dass „zum besseren Management von Ausweichstrecken das Zugsicherungssystem ... und die Digitalisierung des Schienennetzes“ vorangetrieben werden sollten. ({9}) Das ist absolut richtig. Auch hier kann ich als Berichterstatter für das Baustellenmanagement nur auf die eingangs erwähnte heiße Nadel verweisen. ({10}) Ich bin mir sicher, liebe Kollegen von der FDP, Sie haben unseren Koalitionsvertrag aufmerksam studiert. So finden Sie auf Seite 78 folgende Passagen: Wir wollen die Digitalisierung der Schiene, auch auf hochbelasteten S-Bahnstrecken, vorantreiben und den Ausbau der europäischen Leit- und Sicherungstechnik ETCS, – also das Zugbeeinflussungssystem, das heute schon mehrfach angesprochen worden ist – elektronischer Stellwerke und Umrüstung der Lokomotiven durch den Bund unterstützen. ({11}) Die Automatisierung des Güterverkehrs und das autonome Fahren auf der Schiene wollen wir durch Forschung und Förderung unterstützen. ({12}) Das ist doch, so finde ich, eine klare Aussage. Alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien sollten diese technologischen Verbesserungen in die Eisenbahntechnik für mehr Sicherheit und Mobilität unserer Bürger unterstützen. ({13}) Sie haben auch die Kategorie „Potenzieller Bedarf“ angesprochen. Auch in meiner Heimatregion gibt es ein wichtiges Projekt zwischen Landshut und Plattling. Da bin ich ganz bei Ihnen: Auch da werden wir mit großen Schritten vorangehen, um die entsprechenden Projekte zu einer Entscheidung zu führen. Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir uns bereits in vielen Forderungen einig sind, diese übernommen haben und Ihr Antrag überhaupt nicht notwendig gewesen wäre. ({14}) Positiv möchte ich zum Schluss noch das besonnene Krisenmanagement der Deutschen Bahn sowie des Bundesministers für Verkehr und digitale Infrastruktur unter der damaligen Leitung von Alexander Dobrindt, aber auch die heute sehr transparente Behandlung dieser Angelegenheit durch den neuen Bundesminister Andreas Scheuer ansprechen. Ein herzliches Vergelt’s Gott fürs Zuhören. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Michael Donth für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Unfall bei den Tunnelbauarbeiten an der Rheintalbahn und seine Folgen waren zweifelsohne ein großes Unglück von dramatischem Ausmaß, auch wenn es zum Glück – das möchte ich ausdrücklich anführen – keine Personenschäden gab oder es gar Menschenleben gekostet hat. Aber der Schaden für die Wirtschaft ist immens. Ein diese Woche vorgelegtes Gutachten spricht von 2 Milliarden Euro. Immens waren aber auch die Beeinträchtigungen im Personenverkehr, der über Ersatzbusse abgewickelt werden musste, was die Fahrgäste – viele von ihnen Pendler aus dem Raum Rastatt – eine ganze Stunde mehr Reisezeit gekostet hat. Auch hier ist volkswirtschaftlicher Schaden entstanden. Die heikelste Diskussion für die Bahn und alle Beteiligten wird sich aus der Frage ergeben, wer am Ende für die dann bezifferten Schäden aufkommen muss. Statt aber nur über vergossene Milch zu weinen, möchte ich den Blick darauf richten, welche positiven Effekte der Unfall bei all dem Schaden gebracht hat. Die enormen wirtschaftlichen Einbußen, die die sechswöchige Streckensperrung verursacht hat, haben nämlich der Öffentlichkeit deutlich gemacht, was für eine große Bedeutung der Schienengüterverkehr für ganz Europa hat ({0}) und wie wichtig es ist, dass wir Geld in die Hand nehmen, um das Netz zügig auszubauen, ({1}) um Ausweichstrecken durchgängig zu elektrifizieren und den Schienengüterverkehr so zu modernisieren, dass er effizienter wird. ({2}) Genau das haben wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen. Der Kollege Oßner hat es gerade wörtlich zitiert. ({3}) Der Unfall hat auch gezeigt, dass mehr Europa auf der Schiene dringend geboten ist. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Donth, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Leidig?

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Kollege Donth, dass Sie mir die Frage erlauben. – Sie haben gerade noch einmal deutlich gemacht, wie wichtig die Unterstützung des Schienengüterverkehrs ist. Eines der großen Versprechen kurz vor der Bundestagswahl, auch von Ihrer Partei, war, dass die Schienenmaut, also die Trassengebühren insbesondere für die Güterzüge, halbiert werden soll. Wir haben demnächst Haushaltsverhandlungen. So wie ich den Verkehrsminister am Mittwoch in der Verkehrsausschusssitzung verstanden habe, wollte er von diesem Versprechen nichts mehr wissen. Ich frage Sie jetzt, ob das ein Versprechen ist, auf das sich auch die Unternehmen verlassen können, und ob entsprechende Vorkehrungen im Haushalt getroffen werden. ({0})

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zum Haushalt sage ich gleich noch etwas. – Vielen Dank für die Frage, Frau Leidig. Sie haben völlig recht: Es ist ein wichtiges Anliegen nicht nur des Verkehrsministers, sondern auch unserer Fraktionen – ich nehme die SPD mit dazu –, dass wir den Schienenverkehr stärken. Deshalb steht das auch in unserem Koalitionsvertrag. Es wurde schon gesagt: 42 Prozent der Mittel im Bundesverkehrswegeplan sind für die Schienenstrecken vorgesehen, obwohl sie kilometermäßig weit hinter den Straßen zurückliegen. Und wir haben zusammen mit der Industrie den Aktionsplan zum Schienengüterverkehr vereinbart, der viele Elemente enthält, die wir alle angehen wollen, weil sie nämlich dazu beitragen, den Schienengüterverkehr nach vorne zu bringen. Dazu gehört auch die Halbierung der Schienenmaut für den Güterverkehr. Wir haben den Entwurf des Haushaltsplans noch nicht auf dem Tisch. Wir beklagen alle, dass er dieses Jahr erst so spät kommt. Wir werden dafür kämpfen, diese Zusage einzuhalten. ({0}) Wir gehen dafür auch auf unseren Bundesfinanzminister zu, der dabei ja ein gewichtiges Wort mitzureden hat. ({1}) Ich sehe das Nicken in der SPD-Fraktion. Sie wird uns dabei unterstützen. Wir halten also an diesem Plan fest und wollen das auch durchsetzen. ({2}) Der Unfall hat gezeigt, dass wir mehr Europa auf der Schiene dringend brauchen. Allein diese streckenmäßig relativ kurze Unterbrechung des Rhein-Alpen-Korridors hat den gesamten Güterverkehr in Europa herausgefordert. Es gab Ausweichstrecken. Aber diese konnten nicht voll ausgelastet werden – der Kollege Burkert ist darauf eingegangen –, nicht nur wegen technischer Probleme, sondern auch wegen sprachlicher Barrieren; denn während es im Luftverkehr normal und Standard ist, auf Englisch zu kommunizieren, muss man als Lokführer die jeweilige Landessprache beherrschen, in diesem Fall auf der linksrheinischen Strecke Französisch. Für die Lokführer ist es also nichts mit „Thank you for travelling with Deutsche Bahn“. Es gibt aber auch eine positive Entwicklung. Seit diesem Unfall hat sich nämlich im europäischen Verkehrsnetz, bei den europäischen Bahnen und im Schienengüterverkehr viel bewegt. Die Kollegen von der Deutschen Bahn sind im Austausch mit den Kollegen aus der Schweiz und Frankreich, um in Zukunft solche Großschadenslagen gemeinsam besser zu managen. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Donth, gestatten Sie eine weitere Frage oder Bemerkung des Kollegen Kühn?

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Ich glaube, das haben wir schon zuvor bilateral geklärt. Bei diesem Unglück ist auch deutlich geworden, dass einige Dinge sehr gut funktioniert haben. Die Baustellenüberwachung in Form der vier eingesetzten Messsysteme hat sofort reagiert, als die Gleisabsenkung kam, sodass keine Gefahr für Leib und Leben bestand. Das hat übrigens auch die Staatsanwaltschaft erst dieser Tage bestätigt. Die Deutsche Bahn und die Bundesregierung haben – das wurde schon gesagt – den Verkehrsausschuss am 5. September ausführlich und transparent informiert und standen auch in dieser Woche noch einmal zur Beantwortung von Fragen zur Verfügung. Daher, liebe Kollegen der FDP: Was Sie in Ihrem Antrag fordern, ist völlig unnötig; es ist aber auch nicht falsch. – Es ist deshalb unnötig, weil die Berichte schon gegeben wurden, weil die Untersuchungen bereits laufen und weil die Pläne für die Verhinderung einer solchen Störung in Zukunft bereits erarbeitet wurden. ({0}) Wenn aber der Antrag dazu geeignet war, Ihnen, Herr Dr. Jung, Ihre erste Rede hier im Haus zu ermöglichen, dann soll es recht sein. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1839 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Alle 14 Minuten stirbt ein Mensch auf dieser Welt durch eine deutsche Waffe. ({0}) Die Bundesregierung sorgt durch ihre Rüstungsexportpolitik dafür, dass Deutschland einer der größten Waffenexporteure der Welt ist. Der Koalitionsvertrag gibt der Bundesregierung auf, sich weltweit für Menschenrechte einzusetzen und Fluchtursachen zu bekämpfen. Aber diese Erklärungen sind doch das Papier nicht wert, auf dem sie stehen, wenn weltweit mit deutschen Waffen Menschenrechte verletzt werden und immer neue Fluchtursachen geschaffen werden. ({1}) Die Wahrheit ist daher: Ihre Rüstungsexportpolitik ist mörderisch, und deshalb brauchen wir dringend einen sofortigen Stopp aller Rüstungsexporte. ({2}) Sicher ist auch eins: In jedem Koalitionsvertrag erklären Union, SPD und FDP – früher auch die Grünen – stets neu, die Rüstungsexporte reduzieren zu wollen – so auch dieses Mal. ({3}) Sie sagen, Sie wollten keine Rüstungsexporte in Kriegsgebiete und Krisenregionen und überhaupt eine restriktive Rüstungsexportpolitik. Aber Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Maas müssten wissen, dass dies einfach eine dreiste Lüge gegenüber der Öffentlichkeit ist. Ich will Ihnen hier nur zwei von zahlreichen Beispielen mitgeben: Erstens. Während die Türkei gemeinsam mit islamistischen Terrorbanden der Freien Syrischen Armee im Norden Syriens einmarschiert ist und mit Leopard-2-Panzern aus deutscher Produktion die Kurden in Afrin zusammengeschossen hat, sind von der Bundesregierung neue Waffenlieferungen an die Türkei wie am Fließband genehmigt worden. ({4}) Zwischen dem 20. Januar, als die Offensive gegen Afrin begann, und dem 27. März dieses Jahres wurde laut Aussagen der Bundesregierung die Ausfuhr von Rüstungsgütern im Wert von knapp 4,4 Millionen Euro genehmigt, und das, während Bundeskanzlerin Merkel hier im Bundestag erklärt hatte: Bei allen berechtigten Sicherheitsinteressen der Türkei ist es inakzeptabel, was in Afrin passiert ... ({5}) Dasselbe miese Spiel mit Saudi-Arabien: Da versprechen und vereinbaren Union und SPD ganz groß – Zitat –: Wir werden ab sofort keine Ausfuhren an Länder genehmigen, solange diese unmittelbar am Jemen-Krieg beteiligt sind. ({6}) Und jetzt kommt raus, dass die Bundesregierung die Fürsten der Finsternis in Riad weiter mit Kriegsgerät versorgt. ({7}) In den ersten drei Monaten dieses Jahres haben Sie Rüstungsexporte an Saudi-Arabien im Umfang von 161,8 Millionen Euro genehmigt, dreimal so viel wie im Vorjahreszeitraum. Also, statt keine Rüstungsexporte, wie Sie versprochen haben, gibt es noch mehr Rüstungsexporte. Was, wenn nicht Heuchelei und Betrug an der Öffentlichkeit, ist das, bitte schön, was Sie hier veranstalten? ({8}) Die Wahrheit ist eben: Sie liefern auf Teufel komm raus auch in Spannungs- und Kriegsgebiete. Das hat zwei Gründe: Zum einen fühlen Sie sich eben nicht der Bevölkerung verpflichtet, die in ihrer übergroßen Mehrheit Rüstungsexporte ablehnt, sondern offensichtlich dem militärisch-industriellen Komplex in Deutschland, wo Milliardengewinne durch die Rüstungskonzerne erwirtschaftet werden. Ehemalige Minister wie Franz Josef Jung von der Union oder Dirk Niebel von der FDP lassen sich ihre frühere Politik jetzt bei Rüstungsschmieden wie Rheinmetall vergolden. Zum anderen wollen Sie durch Ihre Rüstungsexportpolitik geopolitisch Einfluss nehmen. ({9}) Länder wie die Türkei sollen in der NATO gehalten werden, auch wenn dabei die Kurden mit deutschen Waffen zugrunde gehen. Ich finde, das ist moralisch verkommen und auch politisch eine Irrfahrt ohnegleichen. ({10}) Die Grünen haben jetzt Vorschläge eingebracht, das bisher nicht funktionierende Kontrollsystem in Gesetzesform zu gießen. Ich finde, man muss da wirklich kein Prophet sein, um zu prophezeien, dass damit nicht eine einzige Waffe weniger geliefert wird. Ich finde, diese Dinge helfen nicht. Deshalb sagen wir: Wir brauchen jetzt sofort ein generelles Rüstungsexportverbot, um dieser mörderischen Politik der Bundesregierung endlich ein Ende zu setzen. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Klaus-Peter Willsch für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen! Meine Damen und Herren! Liebes Publikum! Frau Dağdelen, Sie sollten bei Ihrer Wortwahl ein bisschen sorgfältiger sein. Wir alle wissen, dass Sie keine Bundeswehr wollen; Sie wollen sie abschaffen. Das ist auch Ihr gutes Recht. Suchen Sie Mehrheiten dafür! Aber die Bemerkung mit der mörderischen Politik der Bundesregierung, die Sie hier eben gemacht haben, weise ich auf das Strikteste zurück. Es ist eine Frechheit, sich hier so einzulassen. ({0}) Jetzt wollen wir uns vor allen Dingen mit Blick auf die, die uns zuschauen und sich vielleicht Sorgen um das Thema machen, ein wenig grundsätzlich damit befassen. ({1}) Sie stellen das hier immer so dar, ({2}) als ob das alles im Geheimen und im Vertraulichen geschähe. Auch die Grünen, die an dem, was heute immer noch Grundlage für unsere Rüstungsexportpolitik ist, selbst mitgewirkt haben, tun immer so, als ob hier alles heimlich und im stillen Kämmerlein geschähe. ({3}) Genau das Gegenteil ist der Fall. Zählen Sie doch mal zusammen, wie oft wir in diesem Jahr schon wieder über Rüstungsexporte diskutiert haben! ({4}) Wir haben einen Bericht durch den Wirtschaftsminister, sobald der BSR getagt hat. Wir haben den Halbjahresbericht. Wir haben den Jahresbericht. Wir haben die Ex-post-Betrachtung. In diesem Haus wird doch inzwischen jede einzelne Patrone und jeder gepanzerte Unimog fünfmal debattiert. Es ist lächerlich, wie das hier gemacht wird. ({5}) Wir haben überhaupt keine Probleme mit Debatten über dieses Thema, weil wir zu unserer Bundeswehr stehen, und wir stehen auch zu unserer wehrtechnischen Industrie. ({6}) Wir halten es nämlich für unverantwortlich – da schaue ich mehr die Grünen an als die Linken; die Linken haben sich ja von dieser Debatte abgemeldet; Sie wollen keine Armee mehr in Deutschland –, wenn wir als Spitzentechnologieland nicht selbst an der Forschung in diesem Bereich beteiligt sind, nicht selbst vorne dabei sind. Sie alle wissen, dass das bisschen Abnahme, was wir durch die Bundeswehr garantieren können, nicht hinreicht, um überhaupt noch ernstzunehmender Partner für andere zu sein. Wir müssen natürlich auch Exportmärkte bedienen. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Willsch, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung –

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Von wem denn?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

– der Kollegin Vogler?

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. – Wer ist denn das? – ({0}) Ah ja.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Willsch, finden Sie nicht auch, dass es ein gewisser Widerspruch ist, wenn Sie im Koalitionsvertrag mit der SPD vereinbart haben, keine Rüstungsgüter mehr an Länder zu liefern, die unmittelbar am Krieg im Jemen beteiligt sind, und ich mir hier vom Außenminister in der Fragestunde anhören muss, dass Sie bisher noch keine Liste finalisiert haben, und weiterhin Exporte nach Saudi-Arabien gehen – auch Patrouillenboote für Saudi-Arabien werden genehmigt –, während im Jemen die Menschen wirklich vor Hunger verrecken, in Elend umkommen, weil Saudi-Arabien die Blockade weiter aufrechterhält? Sie haben gerade vorgetragen, welche wunderbaren Berichtsmodalitäten die Bundesregierung in Bezug auf die Rüstungsexporte hat. Das ist alles schön und gut, aber – wie man bei uns sagt – vom Wiegen wird die Sau nicht fett. Sie müssen doch irgendwann einmal anfangen, Rüstungsexporte in Kriegsgebiete tatsächlich zu begrenzen, wenn Sie zu einem humanitären Fortschritt kommen wollen. ({0})

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wie Sie richtig feststellen, ist im Koalitionsvertrag geregelt, dass wir im Bereich des Exports von Rüstungsgütern oder strategischen Gütern noch restriktiver werden wollen; ich fasse es jetzt mal mit meinen Worten zusammen. Das war nicht meine Forderung; das müssten auch Sie erkannt haben. ({0}) In der Koalition muss man sich eben auf irgendwas einigen. Wir sind schon gespannt auf die Vorschläge der SPD dazu, wie das nachher umgesetzt wird. Wir sind natürlich vertragstreu, aber für mich hätte es diese Regelung nicht gebraucht; da haben Sie recht. ({1}) Ich will Ihnen dazu noch ein bisschen Aufklärung geben. Unsere Güter sind weltweit gefragt, weil wir gute Güter produzieren. Dass wir in diesem Bereich zurückhaltend sind, sehen Sie daran, dass wir Außenhandelsweltmeister sind, bei der Rüstung aber immer nur ein magerer Platz vier oder fünf in der Welt herauskommt. ({2}) Das zeigt, wie zurückhaltend wir in dieser Frage sind. Schauen Sie sich mal an, was wir in der Welt gegenwärtig so alles erleben. Lieferung von Waffen und Rüstungsgeräten in Spannungs- oder Kriegsgebiete machen wir grundsätzlich nicht, also im Prinzip nicht, aber wir machen politisch begründete Ausnahmen. Wenn wir die Welt betrachten, stellen wir nämlich fest, dass es häufig so ist: Wenn ein Staat seine Grenzen nicht schützen kann, weil er nicht entsprechend vorbereitet ist, dann kriegen wir Schwierigkeiten. ({3}) Schauen Sie sich Konflikte in Afrika an! Dort entsteht vieles durch mangelnde Wehrhaftigkeit eines Landes, weil dann marodierende Banden über ungesicherte Grenzen ziehen. Wenn wir den Grundsatz, keine Rüstungsexporte an Nicht-EU- und Nicht-NATO-Staaten zu liefern, gelegentlich durchbrechen, tun wir das in wohlbegründeten politischen Ausnahmefällen. Auch das haben wir hier bereits diskutiert. Es ist natürlich wohlfeil, sich – wie gestern geschehen – hierhinzustellen, 70 Jahre Israel zu feiern und dann in einem Antrag zu kritisieren, dass Israel von uns mit Waffen unterstützt wird. Natürlich ist das ein spannungsreiches Gebiet, aber wollen Sie den Israelis verweigern, dass sie mit ihrer eigenen Marine ihr Land schützen? ({4}) Ich erinnere an den Fall des Kampfes gegen die barbarischen Steinzeit-Taliban des IS. Wir haben die kurdischen Peschmerga ausgerüstet und ausgebildet. ({5}) Dadurch ist den denen eine wirksame Truppe auf dem Boden entgegengetreten. Natürlich ist viel aus der Luft gemacht worden, aber ohne Boots on the Ground hätten wir es dort nicht geschafft, und die Jesiden wären abgemetzelt worden. ({6}) Ich unterstreiche noch einmal: Unsere Welt ist so, wie sie ist. ({7}) Die Waffe tötet nicht. Wenn es ums Töten geht, braucht die Waffe einen Bediener. Der Bediener tötet und nicht die Waffe. ({8}) Wenn wir uns anschauen, wie die Welt heute ist, dann müssen wir leider feststellen, dass wir nicht in einem Paradies leben, in dem alle um uns herum gut sind, sondern dass der alte Grundsatz, dass man sich auf den Krieg vorbereiten muss, wenn man den Frieden will, in dieser Welt nach wie vor gilt. ({9}) Nehmen Sie als Beispiel die Peschmerga, die ich eben genannt habe. Selbst Cem Özdemir hat gesagt, dass man dem IS nicht mit der Yogamatte unterm Arm entgegentreten könne. Bemerkenswerter Fortschritt in der Erkenntnis. ({10}) Schauen Sie sich Taiwan an, an die wir nicht liefern. Wenn Taiwan nicht von Amerikanern gestützt würde, hätte Taiwan das gleiche traurige Schicksal wie Tibet erfahren; das ist doch völlig sicher. Sie können noch ein Stück weiter in der Geschichte zurückgehen. Im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg sagt Ihnen vielleicht Lend-Lease Act etwas. Auf dieser Grundlage hat der amerikanische Präsident schon vor Kriegseintritt die Sowjetunion mit Material beliefert und dadurch überhaupt erst möglich gemacht, dass der Aggressionskrieg, den Adolf Hitler angeführt hat, gestoppt werden konnte; denn ansonsten wäre die Sowjetunion damals militärisch und ökonomisch kollabiert. Diese wenigen Beispiele reichen, meine ich, um aufzuzeigen, dass es keiner weiteren Formalismen bedarf, sondern einer klug abgewogenen Regierungsentscheidung, wie wir im jeweiligen Fall vorgehen. Die Entscheidung ist regelgebunden. Sie findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern wir haben dafür ein klares Regelwerk. Es ist wichtig für uns, dass wir unsere wehrtechnische Industrie weiterhin stützen, ({11}) damit wir auch mit Blick auf das, was wir uns europapolitisch alle wünschen, überhaupt bündnisfähig und kooperationsfähig bleiben. Zurzeit läuft die Internationale Luft- und Raumfahrt­ausstellung in Berlin. Das ist eine beeindruckende Heerschau unserer Fähigkeiten in ziviler Luftfahrt, in militärischer Luftfahrt und in der Raumfahrt. Eines der am häufigsten angesprochenen Themen bei den Rundgängen auf der Messe war: Helft uns, überhaupt noch fähig zu sein, mit unseren Partnern zu handeln. – Ich warne Neugierige davor, sich jetzt in das Thema „europäische Zusammenarbeit“ zu flüchten und sich davon die Lösung aller Probleme und die Linderung des Schmerzes zu erhoffen. Heute wird danach geschaut: Ist in den Produkten noch etwas aus Deutschland? Wenn etwas aus Deutschland darin enthalten ist, dann ist es in der Welt schlecht verkehrsfähig. „German free“ ist das Label, das gesucht wird. Wenn wir die Möglichkeit der Kooperation nachhaltig beeinträchtigen, schießen wir das, was wir an guter Technologie haben, ab. Was ich zur Gemeinsamkeit in Europa gesagt habe, gilt auch für Fragen des Einsatzes. Man wird sich nicht unbedingt darauf einlassen, zu sagen: Die Deutschen stellen – zum Beispiel – die Artilleriemunition für mehrere westeuropäische Staaten her, aber im Zweifelsfall dürfen wir sie nicht einsetzen, weil in Deutschland noch eine Debatte über die Frage läuft, ob das ein Einsatz deutscher Streitkräfte ist oder nicht. Also, Strich drunter: Sie können es so oft diskutieren, wie Sie wollen. Das können wir Ihnen nicht abspenstig machen. Manchmal ist es ein bisschen ermüdend, aber ich diskutiere immer wieder gerne mit Ihnen darüber. Wir als Union stehen ganz fest an der Seite unserer Spitzentechnologieunternehmen in dem Bereich und machen eine verantwortungsvolle, aber auch erfolgsorientierte Politik, die wir für richtig halten. Wir laden den Koalitionspartner herzlich ein, uns dabei allzeit zu folgen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Steffen Kotré für die AfD-Fraktion. ({0})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Landsleute! ({0}) Waffenexporte sind an Menschenrechte gebunden. Es gibt viele Bestimmungen, die dem Rechnung tragen, doch werden sie oft umgangen. Rüstungsexporte sind nicht immer transparent, und auch das Parlament als Kontrollorgan wird nicht immer eingebunden. Hier fordern wir vollständige Transparenz und die Einbindung des Parlamentes, dies natürlich auch vor dem Hintergrund der Waffenexporte in Krisen- und Kriegsgebiete. Aber Rüstung hat noch eine andere Komponente: die Wehrsouveränität, die Souveränität, sich selbst verteidigen zu können. Ja, Deutschland muss seine Wehrsouveränität behalten. ({1}) Das heißt, Deutschland muss seinen Technologievorsprung behalten und ausbauen. Gerade im Rüstungssektor ist dieser Vorsprung eine Säule der Verteidigungsfähigkeit, auch für unsere Bündnispartner. Ein Land der Hochtechnologie, wie es Deutschland ist, muss die eigene Stärke behalten und ausbauen, auch im Rüstungssektor. Damit unterstützen wir auch friedliche Länder, die sich bestmöglich verteidigen wollen, zum Beispiel gegen den IS und andere Terrororganisationen. Auszuschließen ist allerdings der Technologieexport ins Ausland. Deutsche Unternehmen gründen im Ausland Zusammenschlüsse, um Exportverbote zu umgehen. Rheinmetall möchte zum Beispiel in der Türkei – das kann man lesen – eine Panzerfabrik bauen und betreiben. Das ist ein weiterer Ausverkauf deutscher Technologie. Das ist ein Verrat an den Interessen Deutschlands. Hier fordern wir die Bundesregierung auf, dies nicht zuzulassen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um das zu verhindern. ({2}) Zum anderen würden wir in diesem Fall in einen die Menschenrechte verletzenden Staat liefern. Wer meint, die Türkei sei ein verlässlicher NATO-Partner, der irrt. Formal mag es vielleicht noch so sein, aber inhaltlich hat sie sich schon verabschiedet. Die Türkei ist völkerrechtswidrig in Syrien einmarschiert. Sie wird von einem autokratischen Präsidenten regiert. Die Situation der Menschenrechte, der Presse- und Meinungsfreiheit verschlechtert sich. Darüber hinaus strebt das Land eine Islamisierung an, auch bei uns. Deswegen fordern wir ein Waffenembargo gegen die Türkei. ({3}) Die ist die richtige Antwort. Keine Waffenlieferungen und erst recht kein Aufbau einer dauerhaften Möglichkeit zur Waffenproduktion. Dazu sagen wir Nein. Keine einzige Patrone in die Türkei. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Florian Post für die SPD-Fraktion. ({0})

Florian Post (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Dass es sich um ein hochsensibles Thema handelt, ist klar. Deswegen debattieren wir hier sehr leidenschaftlich. Das ist in Ordnung. Nicht in Ordnung ist allerdings, wenn man wenig differenziert. Ich verstehe es, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken: Differenzierung eignet sich ja auch nicht für Ihre Propagandazwecke. Deswegen sehe ich Ihnen das nach. Aber Fakt ist, dass Rüstungsexporten generell Einzelfallprüfungen zugrunde liegen. Jeder USB-Stick, auf dem sich Geschäftsunterlagen, Baupläne oder Sonstiges befindet, und jede Patrone – Kollege Willsch hat es schon gesagt – muss genehmigt werden. ({0}) Beide Anträge befassen sich damit, Rüstungsexporte zu beschränken. Allerdings haben die Anträge eine unterschiedliche Qualität; das möchte ich den Kolleginnen und Kollegen von den Grünen zugestehen. Aber in der Zielsetzung lehnen wir natürlich beide Anträge ab. ({1}) Die Linken wollen Rüstungsexporte komplett verbieten. Das ist wenig nachvollziehbar. Es aber ist ihr gutes Recht, diese Meinung so zu vertreten. Ich teile diese Meinung nicht. Sie müssen sich jedoch über die Konsequenzen im Klaren sein und hier über die Fragen diskutieren: Was passiert mit bestimmten Schlüsselindustrien in unserem Land? Wie gehen wir mit der dann eintretenden kompletten Abhängigkeit von NATO-Partnern, zum Beispiel den USA, um? Wie gewährleisten wir dann die Unterstützung von Ländern im Kampf gegen den internationalen Terrorismus? Da hilft eben kein Stuhlkreis; manchmal muss man auch zu anderen Mitteln greifen. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Post, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Liebich?

Florian Post (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, natürlich.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kollege Post, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie wollen mehr Differenzierung. Dann will ich Ihnen Gelegenheit dazu geben. Ihr früherer Parteivorsitzender und ehemaliger Wirtschaftsminister, der ja zuständig für die Genehmigungen von Rüstungsexporten war, hat am Anfang der letzten Wahlperiode gesagt, er wünsche sich eine restriktivere Rüstungsexportpolitik. Am Ende der Wahlperiode mussten wir feststellen, dass es die Wahlperiode war, in der die meisten Waffenexporte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs genehmigt wurden. ({0}) Wie bringen Sie das zusammen? ({1})

Florian Post (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ganz einfach: Dabei helfen Ihnen die Grundrechenarten. Wenn für das Jahr 2015 die Summe von 7,86 Milliarden Euro im Rüstungsexportbericht steht und für das Jahr 2017 die Summe von 6,24 Milliarden Euro im Rüstungsexportbericht angegeben wird, dann kapiert eigentlich jeder, der die Grundrechenarten beherrscht – für mich hat dafür der Besuch einer bayerischen Volksschulklasse ausgereicht, manch andere brauchen dazu den Deutschen Bundestag –, dass die Zahl kleiner geworden ist. ({0}) Im Übrigen: Wenn es heißt, dass die Kleinwaffenexporte um 50 Prozent reduziert worden sind, dann weiß jeder, dass 50 Prozent die Hälfte vom Ganzen sind – also weniger. ({1}) Die Genehmigungszahlen sagen für sich genommen sehr wenig aus. Wenn man sich die Summe von 7,86 Milliarden Euro aus dem Jahr 2015 anschaut, stellt man fest, dass damals die Kosten von vier Tankflugzeugen für Großbritannien, also unkompliziertes Rüstungsgut für einen NATO-Partner, und außerdem Panzer im Wert von 1,6 Milliarden Euro für Katar enthalten sind. Der Export der Panzer ist von der Vorgängerregierung, an der die SPD nicht beteiligt war, genehmigt worden. Wir hätten das nie genehmigt. Auch die Kosten eines U-Boots für Israel – der Kollege Willsch hat es bereits gesagt – sind in dieser Summe enthalten, dessen Export wir heute genauso wieder genehmigen und das wir wieder ausliefern würden. Das ist Tatsache. ({2}) Ich sage es noch einmal: In der letzten Wahlperiode sind die Kleinwaffenexporte um 50 Prozent reduziert worden. Im Koalitionsvertrag haben wir jetzt vereinbart, dass wir an Drittländer überhaupt keine Kleinwaffenexporte mehr genehmigen werden. Das nenne ich Reduzierung. ({3}) Sie sehen das scheinbar anders. Das ist Ihr gutes Recht. Ich kann das aber nicht nachvollziehen. ({4}) Ich will auch gerne auf die Türkei eingehen. Die Türkei ist und bleibt ein NATO-Partner, auch wenn wir bestimmte innenpolitische Vorgänge in der Türkei selbstverständlich mit Sorge betrachten. Allerdings haben wir ein Interesse daran, dass die Türkei NATO-Partner bleibt. ({5}) Es kann nicht in unserem Interesse liegen, dass die Türkei künftig von Russland beliefert wird. Was würde denn das in der Konsequenz für die NATO bedeuten? – Ja, ich weiß, Sie wollen die NATO abschaffen. Das hat hier jeder verstanden. ({6}) Uns sind aber NATO-Gemeinschaftsprojekte auch künftig wichtig. Wir müssen die Frage beantworten, was das für die deutsche Rüstungskooperationsfähigkeit bedeuten würde. Natürlich geht es uns auch darum, dass Deutschland in diesem Bündnis künftig als verlässlicher Partner wahrgenommen wird. ({7}) Der Antrag der Grünen ist etwas differenzierter; das möchte ich zugestehen. Die Zwischenfrage hat meine Bemerkung vorweggenommen, aber ich wiederhole diese gerne zur Klarheit noch einmal. Sie suggerieren, dass unsere Rüstungsexportkontrolle nicht effektiv wäre ({8}) und dass die Bemühungen um die Rüstungsexportreduzierung nicht erfolgreich wären. Hierzu möchte ich noch einmal auf die Zahlen verweisen: In der Summe von 7,68 Milliarden Euro aus dem Jahr 2015 sind die Kosten von vier Tankflugzeugen enthalten. Zum Vergleich: Die Summe von 6,24 Milliarden Euro im Jahr 2017 bedeutet eine deutliche Reduzierung. Man muss dabei vor allen Dingen auch sehen: Was verbirgt sich denn hinter den einzelnen Rüstungsgütern? Rüstungsgüter sind auch Splitterschutzwesten oder gepanzerte Autos für das Kinderhilfswerk; auch das zählt zu den Rüstungsexporten. Deshalb bitte ich auch hier um mehr Differenzierung in der Debatte.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Post, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Lechte aus der FDP-Fraktion?

Florian Post (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Natürlich.

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Post, Sie haben uns gerade eben zur Kenntnis gegeben, dass die böse Bundesregierung vor der letzten Großen Koalition, nämlich die schwarz-gelbe Bundesregierung, die Zahl der Rüstungsgüterexporte sehr nach oben getrieben habe. Ist Ihnen bekannt, dass die letzte Bundesregierung weitaus mehr exportiert hat, als das die schwarz-gelbe getan hat, ({0}) und dass die Zahlen zu Zeiten von Schwarz-Rot gestiegen sind?

Florian Post (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich erteile auch Ihnen gerne die diesbezügliche Nachhilfe: Es geht nicht um den Zeitpunkt dieser Exporte, sondern es geht um den Zeitpunkt der Genehmigung dieser Exporte. ({0}) In diesem Fall fällt der Genehmigungszeitpunkt in die Periode, in der Sie, also Schwarz-Gelb, regiert haben und nicht die SPD. Deutschland hat eines der restriktivsten Rüstungskontrollregime der Welt. Wir sorgen dafür, dass das auch so bleibt. ({1}) Wir werden – ich wiederhole mich zum zweiten oder dritten Male – keine Kleinwaffen mehr in Drittstaaten exportieren. Wir haben Post-Shipment-Kontrollen bei Kleinwaffen eingeführt, und wir werden mehr Mittel für den weiteren Aufbau des Personalbestandes beim zuständigen Bundesamt BAFA zur Verfügung stellen, um auch hier eine effektive Rüstungsexportkontrolle zu gewährleisten. Natürlich müssen wir auch die europäische Komponente berücksichtigen. Uns ist nicht geholfen, wenn wir nichts mehr exportieren, aber andere europäische Länder das gleiche Rüstungsgut sehr wohl. Hier müssen europäische Regelungen gefunden werden. ({2}) Das ist in unserem Interesse. Ich möchte noch einmal betonen, dass wir selbstverständlich zu unserer Bündnisverpflichtung stehen, dass wir ein verantwortungsvoller und zuverlässiger Partner sein wollen, ({3}) dass wir Rüstungsexporte so restriktiv handhaben wie kein anderes Land dieser Welt ({4}) und dass gleiche Standards für alle in Europa gelten müssen. Darauf wird die SPD ihre Bemühungen richten. ({5}) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Sandra Weeser das Wort. ({0})

Sandra Weeser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004929, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, es wäre schön, in einer Welt zu leben, in der wir durch einen Stopp von Rüstungsexporten die Gesamtlage allgemein verbessern könnten. ({0}) Die Welt wird aber nicht sozialer, sicherer und gerechter, indem wir deutsche Rüstungsexporte nach Dänemark oder nach Belgien verbieten, so wie Sie das in Ihrem Antrag fordern. ({1}) Die Grünen wissen das etwas besser. Sie haben in Regierungsverantwortung die Erfahrung gemacht, dass die Abwägung oft schwierig ist, und sie haben ja auch bei vielen Rüstungsexportentscheidungen zugestimmt. Für die FDP-Bundestagsfraktion gelten zwei Grundsätze: Zum einen wollen wir keine Rüstungsexporte in Krisengebiete, zum anderen gilt bei der Beurteilung von Einzelanträgen zu Rüstungsexporten der klare Vorrang der außen- und sicherheitspolitischen Interessen. ({2}) Wir teilen die Kritik an einzelnen Genehmigungen der Bundesregierung, die in beiden Anträgen geäußert wurde. Viel zu lange wurde zum Beispiel der Export von Rüstungsgütern in die Türkei genehmigt, obwohl die türkische Militäroffensive in Afrin eindeutig völkerrechtswidrig ist. ({3}) Auch wir wollen mehr Transparenz. Die bisher praktizierte Geheimhaltung von Begründungen für Rüstungsexportentscheidungen ist nicht mehr haltbar. ({4}) Das Argument, sicherheitspolitische Überlegungen könnten nicht öffentlich debattiert werden, führt letztlich zu einer permanenten Delegitimierung der deutschen Rüstungsexportpolitik. Auch die Unternehmen haben ein Anrecht darauf, dass Rüstungsexportentscheidungen verlässlich und planbar nach öffentlich diskutierten Kriterien erfolgen und nicht nach politischer Stimmungslage. ({5}) Aber die wichtigste Frage, was die zukünftige Gestaltung unserer Rüstungsexportkontrolle angeht, wird leider von beiden Anträgen äußerst stiefmütterlich behandelt, nämlich die Frage: Wie halten wir es mit der Europäisierung? Eines ist klar: Eine deutsche Verteidigungsindustrie wird es in Zukunft entweder im Rahmen einer europäischen Verteidigungsindustrie geben, oder es wird sie gar nicht geben. ({6}) Europäische Nationen werden sich zum Beispiel das Nebeneinander von drei verschiedenen Kampfflugzeugen schlichtweg nicht mehr leisten können. Damit werden europäische Regeln für Rüstungsexporte an Bedeutung gewinnen. Hier können wir nicht einfach sagen: Unsere Standards gelten, und alle anderen müssen sich uns anpassen. – So funktioniert europäische Zusammenarbeit nämlich nicht. Wir werden viel aktiver für unsere restriktiven Linien werben und auch entsprechend handeln müssen. ({7}) Dafür benötigen wir die erwähnte Transparenz. Nur wenn unsere europäischen Partner verstehen, warum und wie wir zu unseren Entscheidungen bei Rüstungsexporten kommen, können wir diese Debatte auch offensiv führen. Durch Wegducken werden wir in dieser Diskussion sicher nicht gewinnen. Beide Anträge sagen zu diesem entscheidenden Thema leider nichts. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, das ist die Ebene, auf der die Probleme angegangen werden müssen. Sie können das weder rein national noch rein juristisch regeln. Sie wollen Rüstungsunternehmen die Produktion im Ausland verbieten, auch innerhalb der EU, innerhalb des Binnenmarktes. Das kann doch nicht ernsthaft Ihr Lösungsvorschlag sein. ({8}) Dann wollen Sie ein Verbandsklagerecht für Nichtregierungsorganisationen gegen erteilte Genehmigungen einführen. Ich denke, wir sollten extrem zurückhaltend sein, die Kontrolle von Rüstungsexporten an nicht demokratisch legitimierte Verbände auszulagern. Diese Entscheidungen sind politisch und müssen auch politisch bleiben. ({9}) Die Öffentlichkeit hat das Recht auf hinreichende Informationen, um diese Politik bewerten und notfalls auch abwählen zu können. So funktioniert demokratische Kontrolle. Deshalb können wir beiden Anträgen leider nicht zustimmen. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Katja Keul das Wort. ({0})

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um die Irrungen und Wirrungen des Kollegen Willsch zu widerlegen, fehlt mir leider die Redezeit. ({0}) Aber ich empfehle einmal, sich mit den jesidischen Verbänden darüber zu unterhalten, wie sie das mit den Peschmerga sehen. Sie haben durchaus eine andere Sicht darauf, wer sie gerettet hat. ({1}) Zur SPD bzw. zum Kollegen Post. Ich bin durchaus differenziertere Reden von der SPD gewohnt. Das, was Sie hier abgeliefert haben, ist der SPD nicht würdig. Da hat sich selbst Gabriel in der letzten Legislatur mehr Mühe gegeben. ({2}) Aber jetzt zu den Anträgen. Beim Lesen des ersten Absatzes des Feststellungsteils im Antrag der Linken hatte ich einen ganz ungewöhnlichen Impuls, nämlich den Impuls, Gabriel an dieser Stelle in Schutz zu nehmen. Warum? Sie vergleichen die Zahl der Gesamtgenehmigungen unter Schwarz-Gelb mit der der letzten Legislatur und sagen dann: Sie sind um 20 Prozent gestiegen. Wenn man aber weiß, wie die Verfahren laufen, dann weiß man, dass das nicht ganz fair ist. ({3}) Was hat Schwarz-Gelb gemacht? Schwarz-Gelb hat die größten, heikelsten und sensibelsten Kriegswaffenexporte, die wir erlebt haben, kurz vor der Bundestagswahl 2013 nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz genehmigt. Diese Genehmigungen werden uns Parlamentariern nicht mitgeteilt; sie stehen nicht im Rüstungsexportbericht. Sie tauchen netterweise erst zwei Jahre später auf, nämlich dann, wenn die Genehmigungen nach dem Außenwirtschaftsgesetz erteilt werden. Im Mai 2013 hat Schwarz-Gelb die Lieferung von 62 funkelnagelneuen Leopard-Kampfpanzern an Katar genehmigt; das waren 1,8 Milliarden Euro. Im August 2013, unmittelbar vor der Bundestagswahl, wurden dann noch einmal 33 Patrouillenboote für Saudi-Arabien genehmigt. Wenn man allein diese beiden Deals zusammenzählt, dann ist das fast der Jahreswert dessen, was vorher exportiert worden ist. ({4}) Insofern muss man schon sagen, dass die Verfahren als solche ein Problem sind. Deswegen ist eine unserer Forderungen, dass zukünftig nicht nur die Ausfuhrgenehmigungen, sondern auch die Herstellungsgenehmigungen, also die Genehmigungen nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz, in den Berichten stehen, damit Transparenz entsteht. ({5}) Im Moment haben wir die kuriose Situation, dass wir nach den Sitzungen des Bundessicherheitsrates Auskünfte über die Kriegswaffenkontrollgenehmigungen bekommen. Im Jahresbericht aber sind sie nicht enthalten. Das muss sich doch auflösen lassen, sodass wir in Zukunft alles erfahren. ({6}) Wir Grüne haben mehrfach unsere Eckpunkte für ein Rüstungsexportkontrollgesetz vorgelegt. Es enttäuscht mich sehr, dass die SPD das jetzt schlichtweg ablehnt; denn in der Opposition hat sie dem noch zugestimmt. Wie auch immer, wir brauchen jedenfalls Veränderungen, weil die Rüstungsexporte an Drittstaaten inzwischen die Regel sind und nicht die Ausnahme. Das kann nicht so bleiben. Wir müssen das Verfahren ändern. ({7}) Der erste Vorschlag ist die Regelung der Zuständigkeit. Die Zuständigkeit für Rüstungsexportkontrolle – das sieht man sehr schön an der Diskussion in der Union – darf nicht beim Wirtschaftsressort bleiben, sondern muss zum Auswärtigen Amt. ({8}) Wer, wenn nicht das Auswärtige Amt, kann beurteilen, wie die Menschenrechtslage und die Sicherheitslage im Empfängerland sind? Wir müssen die Kriterien und Grundsätze in der freiwilligen Selbstverpflichtungserklärung, nämlich die Grundsätze der Bundesregierung, endlich gesetzlich verankern und vor allem justiziabel machen. Warum müssen wir das? Die Grundsätze sind nicht schlecht, sie sind aus der Zeit von Rot-Grün. Dort steht viel Gutes. Die Bundesregierung erklärt immer, dass sie sich daran hält; das tut sie aber nicht. In den Grundsätzen steht: An Drittstaaten darf nur im Ausnahmefall exportiert werden, nur wenn die sicherheitspolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland dies im Ausnahmefall nötig machen. In der Praxis erleben wir: Es ist der Regelfall. Mehr als 50 Prozent dieser Exporte gehen an Drittstaaten und weniger als die Hälfte an EU- und NATO-Partner. Wir brauchen also gesetzliche Kriterien. Wir brauchen eine gesetzliche Begründungspflicht; das ist von der FDP zutreffend angesprochen worden. Wir haben zwar keinen verfassungsrechtlichen Anspruch – darauf hat das Verfassungsgericht hingewiesen –, aber wir können als Parlament eine einfachgesetzliche Begründungspflicht auf den Weg bringen, und das müssen wir tun. ({9}) Um das Ganze justiziabel zu machen, brauchen wir die Möglichkeit einer Verbandsklage. ({10}) Der Präsident des BAFA hat vorgeschlagen, die Genehmigung auf ein Jahr zu befristen. Auch das finde ich sehr gut; das nehmen wir auf. Technische Unterstützung muss in Zukunft genehmigungspflichtig sein. Das können wir ganz einfach in § 49 der Außenwirtschaftsverordnung ändern. Wir wollen keinerlei Lizenzen zur Herstellung von Kriegswaffen an Drittstaaten vergeben. Das sind unsere Kernpunkte. Darüber sollten wir hier debattieren. Dann kriegen wir das auch hin. Die Forderung der Linken, einfach gar nichts an niemanden zu liefern, ist unterkomplex, um es einmal vorsichtig auszudrücken. Das ermöglicht uns leider nicht, Ihrem Antrag zuzustimmen. Wir werden uns enthalten, hoffen aber, dass irgendwann wieder eine konstruktive Debatte mit der SPD über unsere Forderungen möglich sein wird. In diesem Sinne vielen Dank und schönes Wochenende. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Bernhard Loos das Wort. ({0})

Bernhard Loos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004806, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei der Lektüre Ihrer beiden Schaufensteranträge ist man versucht, laut auszurufen: Willkommen in einer Friedenstraumwelt! – Diese Welt, betrachtet durch die rosaroten Brillen der Grünen und der Linken, ist eine Utopie. Wachen Sie auf! Einerseits ist die reale Welt ganz anders. Andererseits ist es bereits Mittagszeit. Wir leben in einer Welt der Unsicherheit, der Bedrohung und eines globalen kriegerischen Terrors. Worum geht es im Kern? Erstens: nationale Verteidigungsfähigkeit. Zentrale Aufgabe eines Staates ist die Gewährleistung der Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger, also eine unabhängige Wehr- und Abwehrfähigkeit. Wir brauchen Rüstungsgüter zur Verteidigung und Abschreckung. Zweitens: Erhalt einer eigenen wehrtechnischen Industrie. Wir brauchen eine deutsche Verteidigungs- und wehrtechnische Industrie. Oder wollen Sie deutsches Steuergeld in anderen Ländern investieren und damit Arbeitsplätze in unserem Land vernichten? Natürlich geht es in dieser Frage auch um Arbeitsplätze. Wir von der Union stehen zum Erhalt einer leistungsfähigen deutschen wehrtechnischen Industrie. ({0}) Drittens: Bündniszusammenhalt. Wir haben es hier schon in den unterschiedlichen Facetten gehört: Innerhalb der NATO und der EU arbeitet Deutschland eng mit seinen Partnern für Sicherheit, Frieden und Freiheit zusammen. Das bedeutet zweierlei: Wir planen gemeinsame Rüstungsprojekte und produzieren dementsprechend. Aber immer öfter macht das Schlagwort – wir haben es von Klaus-Peter Willsch schon gehört – „German free“ die Runde. Frei übersetzt heißt das: Man macht es lieber ohne die Deutschen, weil man Angst hat, mit uns gemeinsam entwickelte Rüstungsgüter nicht verkaufen zu können. Wollen Sie einen Ausstieg oder, besser gesagt, einen Ausschluss Deutschlands aus diesen Kooperationen? Wollen Sie eine Isolierung Deutschlands im Bündnis? Bündniszusammenhalt bedeutet auch, dass man sich als Verbündete gegenseitig Verteidigungstechnologie nutzbar macht. Um dies umzusetzen, sind Rüstungsexporte aus Deutschland an EU-, NATO- und an NATO-gleichgestellte Länder für uns selbstverständlich und notwendig. ({1}) Im Rüstungsexportbericht 2016 steht, dass Einzelausfuhrgenehmigungen in Höhe von 6,85 Milliarden Euro erteilt wurden. Dabei entfiel ein Anteil von 46,4 Prozent auf Verbündete. 3,67 Milliarden Euro entfielen auf Drittländer. – Die im ersten Drittel des Jahres 2017 erteilten Einzelausfuhrgenehmigungen betrugen 2,42 Milliarden Euro. Das ist im Vergleich zum Vorjahreszeitraum ein Absinken um fast 30 Prozent. Der Anteil für Drittländer lag – nahezu unverändert – bei rund 54 Prozent. Ich nenne hier diese konkreten Zahlen, weil die Vorredner an dieser Stelle nur herumgeschwurbelt haben. ({2}) Wir unterstützen im Rahmen der geltenden Bestimmungen die deutsche Rüstungsindustrie bei ihren Exportbemühungen, so wie das auch andere europäische Länder für ihre Rüstungsindustrie tun. Aber wir sind kein Kriegswaffenmonster. Meine Damen und Herren von der links-grünen Opposition, es kommt hier zu Wiederholungen; wir hatten vor wenigen Wochen ein ähnliches Thema in der Aktuellen Stunde. Statt einer emotional geführten Debatte ist eine sachliche, an Fakten orientierte Analyse angemessen und notwendig. Dazu gehören zwei Wahrheiten: Wir brauchen kein Rüstungsexportkontrollgesetz, und wir brauchen auch kein generelles Verbot des Exports von Rüstungsgütern. ({3}) Bei allen Ausfuhrgenehmigungen werden von der Bundesregierung die öffentlich bekannten außen-, sicherheits- und menschenrechtspolitischen Aspekte auf Grundlage des Kriegswaffenkontrollgesetzes, der Außenwirtschaftsverordnung, der Politischen Grundsätze der Bundesregierung und des Gemeinsamen Standpunktes des Rats der EU sorgfältig abgewogen. Wir alle wollen in einer friedlichen Welt leben. Ihre Anträge sind leider Ausdruck einer Realitätsverweigerung und stellen eine sicherheitspolitische Gefährdung dar, da sie zu einer Isolierung unseres Landes innerhalb der NATO führen würden. Wir werden diesen Weg nicht gehen. Wir werden Sicherheit im Bündnis für unsere Bürger garantieren. ({4}) Danke. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der nächste Redner ist der Abgeordnete Dr. Robby Schlund für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werte Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe Gäste auf den Rängen! Besonders begrüße ich meine zwei ausländischen Gäste aus der Russischen Föderation. ({0}) – Passt? Gut! Selbstverteidigung und -schutz sind essenzielle Aufgaben eines jeden souveränen Staates. Dieser Schutz der Menschen und Bürger vor Aggression und terroristischen Aktivitäten ist wichtiger denn je. Dazu benötigt der Staat eine effiziente Selbstverteidigung. ({1}) Er braucht eine Hightechverteidigungsindustrie, die vom Staat intensiv – auch finanziell – unterstützt werden sollte. Aber genau diese Möglichkeit haben viele Länder eben nicht; sie sehen sich von globalen Aggressoren und Terroristen bedroht. Sicher, wir stimmen zu, dass Waffenfabriken keinesfalls exportiert werden sollten. Nicht nur Know-how-Abfluss, sondern auch Regime Changes – heutzutage ja keine Seltenheit, meine Damen und Herren – könnten zur tickenden Zeitbombe werden. Dennoch: Ein Exportverbotsgesetz ist erstens aufgrund der bereits bestehenden Gesetzeslage nicht nötig; die Gesetze sollten nur strenger angewendet werden. Zweitens ist es vor allem unsozial. Ich werde Ihnen auch erklären, warum. In meinem Wahlkreis in Ostthüringen zum Beispiel – mit vielen kleinen Betrieben der Verteidigungsindustrie – würden mehr als 1 000 Arbeitsplätze vernichtet. Aufgrund dieser unsozialen Auswirkungen und der nicht abschätzbaren globalen Folgen – wie Fokussierung auf einige globale, rüstungspotente Akteure und Einmischung in innere Angelegenheiten fremder souveräner Staaten – lehnt die AfD diesen Antrag ab. ({2}) Wir lehnen ihn auch deshalb ab, weil unsere Rüstungsexporte nur einen Bruchteil dessen darstellen, was andere Akteure weltweit exportieren. Ein Verbot würde am Gesamtbild absolut nichts ändern, meine Damen und Herren. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner das Wort. ({0})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Manchmal sagt man ja spaßeshalber: Das Beste kommt zum Schluss. ({0}) Aber ich will die Überraschung trotzdem in Grenzen halten, indem ich zwei Aussagen wiederhole und gleich an den Anfang stelle: Erstens. Wir, die Sozialdemokratie, wollen ein Rüstungsexportgesetz. Zweitens. Wir werden trotzdem den beiden heute vorliegenden Anträgen nicht zustimmen. Die Antragsteller werden dies auch nicht erwartet haben. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, zuerst zum Antrag der Linken. Dieser Antrag ist aus mehreren Gründen nicht zustimmungsfähig, zum Beispiel, weil dies dazu führen würde, dass wir im europäischen Kontext auf eine eigenständige deutsche Rüstungsindustrie, auf eine eigenständige deutsche Rüstungstechnologie, auf eigenständige Forschung und Entwicklung und auf eine eigenständige Sicherheitsarchitektur verzichten. Sie mögen das vielleicht wollen, wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht. ({1}) Der Antrag der Grünen enthält naturgemäß viele Punkte, die nicht nur mir, sondern auch den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sympathisch sind, weil darauf abgezielt wird, die bisher restriktiven Regeln des Rüstungsexportes, die seit dem Jahr 2002 gelten – liebe Kollegin Keul, ich komme zu einer anderen Einschätzung als Sie; die restriktive Genehmigungspraxis ist nicht gescheitert, die vereinbarten Regeln sind gut –, in ein normiertes Verfahren zu überführen, wie es bei der Verordnung der Europäischen Union zu Dual-Use-Gütern bereits der Fall ist. Die gemeinsamen Standpunkte der Europäischen Union haben ebenfalls eine höhere Bindung. Das deutsche Parlament kann nur kontrollieren, was es durch seine Regeln vorgibt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich möchte nicht über jede einzelne Waffe, jede einzelne Munition, jedes einzelne Schräubchen und Dual-Use-Gut in diesem Hohen Hause diskutieren. Aber ich würde mir wünschen – ich glaube, das fände hier große Übereinstimmung –, dass der Deutsche Bundestag in seiner Gänze die Entscheidung darüber trifft, wer im Grundsatz Waffen erhält und wer nicht. ({2}) – Die Exekutive kann sich an dieser Stelle die Regeln nicht selbst geben. Rüstungskontrolle und Rüstungsexporte bedürfen einer ständigen Überwachung und Anpassung und letztlich auch kluger Diplomatie. Dass dies möglich ist, zeigen die jüngsten Ergebnisse des heutigen Tages in Korea, zeigen aber auch die guten Ergebnisse, die wir mit dem Koalitionsvertrag erzielt haben, nämlich die bestehenden Rüstungsexportrichtlinien noch 2018 zu schärfen. „Schärfen“ bedeutet übrigens nicht, dass das Parlament nicht kontrolliert, sondern bedeutet, die Kontrolle zu erhöhen. Ich bin mir sicher, dass wir in diesem Jahr noch öfter über das Thema Rüstungsexportpolitik sprechen werden – das ist auch gut so –; ({3}) denn es ist ein Thema, das neben der politischen und gesellschaftlichen Diskussion einer intensiven Diskussion in diesem Hohen Hause bedarf. Es ist wichtig, dass unser Rüstungsexport gemäß unserem Staatsverständnis werteorientiert, restriktiv und normiert vonstattengeht. Vielen Dank und ein schönes Wochenende. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1339 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Auswärtigen Ausschuss. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beim Auswärtigen Ausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der AfD-Fraktion und einiger Abgeordneter der FDP gegen die Stimmen der Linksfraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und wiederum einiger Abgeordneter der FDP abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der AfD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Linksfraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Die Vorlage auf Drucksache 19/1849 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Die Federführung ist wiederum strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Auswärtigen Ausschuss. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Federführung beim Auswärtigen Ausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist gegen die Stimmen der Linksfraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD abstimmen, Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Der Überweisungsvorschlag ist gegen die Stimmen der Linksfraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen.

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeder von uns, der Kinder hat, geht mit ihnen mal ins Kino, im Sommer ins Schwimmbad, kauft neue Winterstiefel, und die Kinder gehen auf Klassenfahrt. Das sind Selbstverständlichkeiten, denkt man als Mutter, denkt man als Kind. Aber das ist eben nicht selbstverständlich für alle Kinder in unserem Land. Jedes fünfte Kind lebt in Armut und geht eben nicht ins Kino, geht nicht mit auf Klassenfahrt und hat auch keine neuen Winterstiefel. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Den müssen wir angehen. ({0}) Es war gut, dass man vor 13 Jahren gesagt hat: Wir wollen den Eltern, die arbeiten und nur durch ihre Kinder in Armut rutschen, besonders unter die Arme greifen; denn es kann nicht sein, dass Kinder ein Armutsrisiko sind. Deswegen hat man den Kinderzuschlag eingeführt. Nach 13 Jahren müssen wir aber feststellen – das ist das große Problem –, dass das so bürokratisch ist, dass das Geld bei den Familien gar nicht ankommt. Nur ein Drittel der Berechtigten erhält überhaupt den Kinderzuschlag. Das ist ein Riesenproblem. ({1}) Das bedeutet, dass Frieda eben nicht zum Kindergeburtstag gehen kann, weil ihre Mutter sich am Ende des Monats das Geschenk nicht leisten kann. Das bedeutet, dass Yazan im Winter immer wieder Wasser in den Stiefeln hat, weil die Stiefel seiner Schwester, die er aufträgt, nicht mehr wasser- und matschfest sind. Deswegen müssen wir an diesen Kinderzuschlag unbedingt heran. ({2}) Es gibt ein weiteres Problem: Wenn die Mutter von Frieda oder von Yazan zusätzlich einen Minijob annimmt, weil sie es einfach nicht ertragen kann, dass ihre Tochter oder ihr Sohn immer wieder außen vor ist, dann arbeitet sie zwar mehr, erreicht dadurch aber die Höchstgrenze. Am Ende hat sie, weil sie dann nicht mehr den kompletten Kinderzuschlag bekommt, sogar weniger, obwohl sie mehr gearbeitet hat. Es kann nicht sein, dass Arbeit auch noch bestraft wird. ({3}) Es wird schon gerufen: „Das ändern wir!“ Das habe ich auch gedacht. Wir Grüne haben uns nämlich richtig gefreut, als wir den Koalitionsvertrag gelesen haben, weil gleich im ersten Kapitel die Familien erwähnt wurden. Doch wenn man sich ihn genau ansieht, stellt man fest: Man darf nicht nur die Prosa im Familienkapitel lesen, sondern muss sich auch Seite 67 des Koalitionsvertrages anschauen. Dort ist aufgelistet, wie viel Geld in die Familienförderung fließt. Da steht, dass für die Kindergelderhöhung 3,5 Milliarden Euro bereitgestellt werden. Außerdem steht da, dass für die Bekämpfung der Kinderarmut durch den Kinderzuschlag 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt wird. Liebe Union, liebe SPD, das ist der Status quo. Das heißt, Sie wollen an der Situation dieser Kinder nichts ändern. Sie wollen nicht, dass Frieda, Yazan und all die 520 000 Kinder, die der Kinderzuschlag derzeit nicht erreicht, aus der Armut geholt werden. Ich sage Ihnen eines: Das ist nicht mein Land, in dem Kinder gut und gerne leben können. ({4}) Wenn Sie von der SPD jetzt sagen: „Das ist uns irgendwie durchgerutscht“, kann ich das verstehen. Auch wir haben verhandelt, und das war ziemlich stressig. ({5}) Die Ministerin sagt: Ich habe das auf dem Schirm; ich werde das angehen. – Die gute Nachricht ist: Wir bringen heute mit unserem Antrag genau diese Punkte ein. Wir wollen die automatische Auszahlung des Kinderzuschlages. Es muss verhindert werden, dass man sofort wieder in die Armut driftet, wenn man 1 Euro dazuverdient. Wir wollen dafür sorgen, dass der Kinderzuschlag existenzsichernd ist. Vor allem wollen wir, dass die Alleinerziehenden genauso unterstützt werden wie Familien mit zwei Partnern. Wenn auch Sie das wollen, dann stimmen Sie unserem Antrag heute zu. ({6}) Auch wir haben schon regiert. Wir wissen, dass man Rücksicht auf den Koalitionsvertrag nehmen muss. Das Gute ist: Wir hatten all das schon mit der Union ausverhandelt. All das, worüber wir heute abstimmen, hat die Union schon einmal zugesagt. Damit können Sie sich am Ende also nicht herausreden. ({7}) Wenn jetzt das Argument kommt, der Kinderzuschlag allein hole Kinder nicht aus der Armut, muss ich sagen: Das stimmt. Er ist nur ein erster Schritt. Wir brauchen eine Kindergrundsicherung, und wir brauchen soziale Teilhabe. ({8}) Aber ich sage Ihnen eines: Winterschuhe, Kindergeburtstag, Klassenfahrten und kostenloses Mittagessen – im Bundesrat haben Sie es gerade „gekillt“ – sind keine Kleinigkeiten. Für Kinder ist das die Welt. Es geht darum: Gehören diese Kinder dazu, oder gehören sie nicht dazu: beim Kindergeburtstag, bei der Klassenfahrt, beim Mittagessen und als Teil unserer Gesellschaft? Wenn sie 18 Jahre alt sind, ist es zu spät. Deswegen: Wir müssen hier und heute handeln. „Macht“ kommt von „machen“. Machen Sie also etwas dafür, dass die Kinder aus der Armut kommen! Herzlichen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Marcus Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Baerbock, Sie haben ja zumindest eine Seite des Koalitionsvertrages gelesen. Ich gehe davon aus, Sie haben alle Seiten des Koalitionsvertrages gelesen. Weil Sie das getan haben, wissen Sie, dass wir das Thema Kinderarmut so ernst nehmen, dass wir als Koalition nicht nur eine einzige Maßnahme debattieren, sondern auch einen Maßnahmenmix entwickeln wollen. ({0}) Das ist etwas mehr, als sich – richtigerweise – nur um den Kinderzuschlag zu kümmern. Dazu gleich mehr. Erstens. Für die Union sage ich ganz deutlich – das haben wir auch in der Koalitionsvereinbarung klar definiert –: Es ist für uns nicht hinnehmbar, dass über 2 Millionen Kinder in Deutschland unter Armut leiden. Kinderarmut hat übrigens auch zur Folge, dass sie unter kultureller und unter Bildungsarmut leiden. Wir als Große Koalition haben gesagt: Das wird ein Schwerpunktthema der nächsten Jahre sein. Wir brauchen nicht darüber zu diskutieren, wie man das berechnet, und wir brauchen auch nicht über eine einzelne Maßnahme zu diskutieren, sondern wir müssen insgesamt schauen, welchen Mix wir hinbekommen. Zweitens: zum Kinderzuschlag. Tatsächlich ist es so, dass der Kinderzuschlag bei der finanziellen Sicherung von Familien eine zentrale Rolle spielt. Um der Kinderarmut entgegenzuwirken, brauchen wir viele Maßnahmen. Im Übrigen – das haben Sie nicht erwähnt; deswegen tue ich das – haben wir in den letzten Jahren schon damit angefangen, das Thema Kinderarmut in den Fokus zu nehmen. Nun arbeiten wir an den Veränderungen der letzten Jahre weiter. Ich nenne das Unterhaltsvorschussgesetz, den Ausbau der Kindertagesbetreuung und des gesamten Kitasystems, das Stichwort „Entlastungsbetrag für Alleinerziehende“, Kinderzuschlag, Unterstützung von Eltern mit niedrigem Einkommen und die Kombination mit Erwerbsanreizen für die Eltern. Herr Präsident, hier ist alles ausgegangen. ({1}) – „Ich habe Redezeit, bis mein Zug fährt“, hätte ich fast gesagt. Weil wir die familienpolitischen Leistungen immer sehr kritisch betrachten, will ich einmal aus der Gesamtevaluation der ehe- und familienpolitischen Maßnahmen und Leistungen in Deutschland zitieren. Auf Seite 189 steht: Der Kinderzuschlag trägt in hohem Maße zur Vermeidung von Armutsrisiken bei ... Die Armutsrisikoquote der Empfängerhaushalte sinkt durch die Leistung um „16,5 Prozentpunkte“. Jetzt sage ich Ihnen: Sie haben in Ihrem Antrag und in Ihrer Rede viel Richtiges gesagt. Wir haben tatsächlich ein kompliziertes Antragsverfahren, und der Kinderzuschlag ist in der Bevölkerung kaum bekannt. Die Folge ist, dass die Leistungen tatsächlich nur bei 30 Prozent der Leistungsberechtigten ankommen. Jede Familie, die einen Anspruch darauf hat, muss wissen, dass sie diesen Anspruch hat, und sie muss diesen Kinderzuschlag vor allen Dingen auch relativ leicht beantragen können. Deswegen haben wir in der Großen Koalition gesagt – da stimme ich Ihnen auch zu –: Es gibt Reformbedarf. Wir brauchen Entbürokratisierung, Vereinfachung, Klarheit und Transparenz. – Mit Ihrem Ansatz springen Sie aber zu kurz. Ich will nur daran erinnern: Die Zusammenlegung von Unterhaltsvorschuss und Kinderzuschlag wäre fatal; Kollege Beermann wird nachher auch noch mal darauf eingehen. ({2}) Deshalb will ich ganz gerne noch mal einige Punkte aus der Koalitionsvereinbarung ansprechen. Bei der Kinderarmut müssen sehr viele einzelne Facetten betrachtet werden. Bei aller Kritik an der großen Anzahl an familienpolitischen Maßnahmen sind sie teilweise sehr zielgenau. Deswegen ist es uns wichtig, dass wir die Leistungen effizienter gestalten. Das betrifft gerade den Kinderzuschlag, der zielgenauer und leichter zugänglich sein muss. Daneben müssen wir die Leistungsbereitschaft fördern und eine Verstetigung des Transferbezugs vermeiden. Für uns heißt das, dass wir den Kinderzuschlag erhöhen. Wir haben uns darauf verständigt, dass der Kinderzuschlag und das Kindergeld zusammen 399 Euro ergeben sollen, also den Mindestbedarf des sächlichen Existenzminimums. ({3}) Das heißt für uns auch, dass wir einen Freibetrag für die Familien hinsichtlich des Einkommens des Kindes aus Erwerbstätigkeit oder Ausbildung festsetzen und diese einzelnen Leistungen entbürokratisieren. Zentral bei der Bekämpfung der Kinderarmut ist, die Eltern in die Situation zu versetzen, wieder selbst für das Einkommen der Familie zu sorgen. Deshalb ist der weitere Ausbau der Kindertagesbetreuung mit einem Rechtsanspruch auf Betreuung auch im Grundschulbereich, glaube ich, eine der großen Maßnahmen der Großen Koalition. Sie werden in dem Finanztableau sicherlich erkannt haben, dass wir viel Geld dafür ausgeben, nämlich allein für die Kitaqualität und Ähnliches 3,5 Milliarden Euro und darüber hinaus weitere Mittel zur Erfüllung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung im Schulbereich. ({4}) Hinzukommen müssen – auch das ist, glaube ich, wichtig – eine Verbesserung des Teilhabe- und Bildungsangebotes insgesamt, eine Investitionsoffensive für Schulen und ein Schulsanierungsprogramm. Vieles wäre aufzulisten. Ziel der Koalition ist, dass erkannt wird, dass das Thema Kinderarmut ein vielschichtiges Problem ist. Das Ergebnis muss sein, dass wir viele einzelne Maßnahmen entwickeln, die hier wirken. Ich sage es noch einmal: Ich stimme Ihnen beim Kinderzuschlag in weiten Teilen zu. Sie werden erleben, dass wir in der Großen Koalition diese Reform schnell umsetzen, und zwar so, dass sie passgenau ist. Mit Ihrem Gedankengang springen Sie nicht zu kurz, aber falsch. Deswegen werden wir ihn nicht mittragen können. Ich will an dieser Stelle noch eine Bemerkung zum Thema Kinderarmut machen, weil wir immer nur über materielle Leistungen und die Frage sprechen, was der Staat finanziell noch wie zu entwickeln und zusammenzuführen hat. Ich zitiere Herrn Gauck, der anlässlich der Feier zum 60. Jubiläum des Deutschen Kinderschutzbundes gesagt hat – damit will ich ganz gerne noch mal auf einen anderen Punkt eingehen –: Ich würde mir sehr wünschen, dass wir Kinderarmut noch öfter als bisher nicht nur als Armut an Geld definieren, sondern auch als Armut an Möglichkeiten. Kinderlobby und Politiker debattieren dann vielleicht nicht mehr öfter als nötig über Summen, sondern stattdessen über Teilhabegerechtigkeit, über die Möglichkeit, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen ... Ich sage auch ganz klar für uns: Natürlich werden wir uns die finanziellen Rahmenbedingungen anschauen, aber Ziel muss es sein, Kindern Teilhabe zu ermöglichen und soziale, kulturelle und Bildungsarmut zu verhindern. Das werden wir als Große Koalition angehen. Deswegen werden wir in den nächsten Monaten eine sehr intensive Debatte über die Reform des Kinderzuschlags als ein Element führen. Aber es gibt viele Elemente. ({5}) In dieser Breite sind wir, glaube ich, gut aufgestellt. Insoweit werden wir Ihren Antrag ablehnen. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Weinberg. Die Ihnen geschenkte eine Minute haben Sie nicht ausgeschöpft. – Als Nächster für die AfD der Kollege Martin Reichardt. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Wichtigste gleich zu Anfang: Wir als AfD-Fraktion unterstützen den Antrag der Grünen in vollem Umfang. ({0}) – Ja. Im Gegensatz zu den Grünen und Linken entscheiden wir ja in Sachfragen pragmatisch und nicht nach ideologischen oder parteipolitischen Steuerungen. ({1}) – Es zeigt sich, dass Sie selbst bei diesem Thema Ihre Zwischenrufe nicht lassen können, dass Ihnen offensichtlich die sittliche Reife fehlt. ({2}) Wir werden uns keinem Antrag verschließen, mit dem die skandalöse Kinderarmut in Deutschland bekämpft wird. Meine Damen und Herren von den Grünen, hätten Sie uns gefragt, hätten wir den Antrag auch mit Ihnen gemeinsam eingereicht. ({3}) Wie ideologisch das Verhalten bei Linken und Grünen – das sehen wir hier gerade – ist, zeigt Ihr Abstimmungsverhalten bei vorherigen Anträgen, in denen es nämlich um die überfällige Reform genau dieses Kinderzuschlags ging und bei der Sie sich wechselseitig blockiert bzw. nicht unterstützt haben. So viel zum Thema Schaufensteranträge, die Sie anderen Fraktionen mit wachsender Begeisterung vorschmeißen. ({4}) Auch in der letzten Legislaturperiode war die Bekämpfung der Kinderarmut kein Anliegen der Großen Koalition. Aber ich hoffe, dass sich Frau Giffey kein Vorbild an ihren Amtsvorgängerinnen nimmt, die im Bereich der Bekämpfung der Kinderarmut über Lippenbekenntnisse allesamt nicht hinausgekommen sind. Meine Damen und Herren, Kinder sind eben nicht links oder rechts. Sie sind nicht rot, grün oder gelb. Sie sind eben einfach Kinder. ({5}) Kinder haben ein Recht auf eine unbeschwerte Kindheit, frei von den Geldsorgen ihrer Eltern. ({6}) Wir hier in diesem Hause haben eben nicht das Recht, über die Zukunft von Millionen Kindern in der Form zu entscheiden, dass wir ihnen ihre Zukunft verbauen. ({7}) Armut bedingt nachweislich schlechtere Bildungschancen und damit schlechtere Perspektiven fürs Leben. Arme Kinder in Deutschland brauchen keine ideologisch gefärbten Schaufensterdebatten und unqualifizierte Zwischenrufe, wie ich sie leider auch bei dieser ernsten Sache wieder ertragen muss. ({8}) Wir brauchen eine Allianz aller ordentlichen und mutigen im Bundestag vertretenen Parteien; eine Allianz mit dem Willen und dem Mut, über Parteigrenzen hinweg Kinderarmut in Deutschland zu bekämpfen. ({9}) Arme Kinder haben selbst keine politische Kraft. Sie können ihre Lebenssituation nicht selber ändern. ({10}) Lassen Sie uns den Mut und den politischen Willen aufbringen, für eine bessere Zukunft unserer Kinder in Deutschland zu kämpfen und damit auch ein besseres Deutschland zu schaffen; denn Deutschland hat nicht nur viele arme Kinder, Deutschland ist generell arm an Kindern. Das ist ein sehr schlechtes Zeichen. ({11}) – Ja, genau. – Wir brauchen eine Willkommenskultur für deutsche Kinder ({12}) und ein „Wir schaffen das“ gegen Kinderarmut und für mehr Kinder in Deutschland. ({13}) Kinder- und Familienpolitik war in den letzten Jahren immer nur ein Randthema der Politik. Gerade die SPD sollte sich hier ganz weit zurücknehmen. Für Ihren Altkanzler, Herrn Schröder, war ja Familienpolitik immer nur „Gedöns“. Ich glaube, das ist es für Ihre Partei bis heute geblieben. ({14}) 2013 schaffte es das Thema Familienpolitik nicht einmal in das sogenannte Regierungsprogramm. Aber eine aktive Familienpolitik, die die Zahl der einheimischen Kinder wieder steigen lässt, ist für unser Land und für unsere Gesellschaft lebenswichtig. ({15}) Die geringe Kinderzahl in Deutschland gefährdet den sozialen Frieden, auch wenn Sie von der SPD das regelmäßig leugnen und in die Ecke diskutieren wollen. ({16}) Unser Renten-, Sozial- und Gesundheitssystem beruht auch auf einer ausgeglichenen Bevölkerungsbilanz. Gute Kinder, gute Ausbildung: Das ist die Zukunft Deutschlands. Das sichert hier Wohlstand, und das sichert letzten Endes auch Wettbewerbsfähigkeit für Deutschland, meine Damen und Herren. ({17})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schön?

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Gern.

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, Sie haben jetzt mehrmals betont, dass Sie sich eine Willkommenskultur für deutsche Kinder wünschen, dass deutsche Kinder in unserem Land gut leben und aufwachsen sollen. Das unterstreichen wir natürlich. ({0}) Meine Frage ist: Unterscheiden Sie hierbei zwischen deutschen Kindern und Kindern, die keine deutsche Herkunft haben, oder würden Sie diese Sätze für alle Kinder in unserem Land gleichermaßen gelten lassen? ({1})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja. Darauf können Sie auch eine sehr gute Antwort von mir bekommen. – Wir unterscheiden insofern nicht. Das gilt für die Kinder, die hier einen regulären Bleiberechtsanspruch haben. ({0}) Da gilt es für alle. Und natürlich gilt es auch für die, die hier vielleicht unter dem Titel „Asyl“ leben, solange sie hier bleiben müssen. ({1}) Das ist richtig. Ja. Insofern habe ich, denke ich, Ihre Frage angemessen beantwortet. Ich denke, dass ich vor diesem Hohen Hause eben festgestellt habe, dass mit dieser billigen Propaganda, die in dieser Hinsicht immer gegen uns betrieben wird, endgültig aufgeräumt werden konnte. ({2}) Jetzt aber wieder zur Sache. Meine Damen und Herren der anderen Fraktionen, schauen wir gemeinsam ins Wahlprogramm der AfD, und nehmen wir auch dies als Grundlage für eine bessere Zukunft für Kinder in Deutschland: Wir fordern Ehestartkredite mit Teilerlassen für Ehepaare, die dann Kinder bekommen, damit sie so eher in die Familienplanung eintreten können. Wir fordern, dass das Arbeitslosengeld I für Eltern länger bezahlt wird und dass Arbeitgeber eine Wiedereingliederungshilfe für Eltern erhalten, sodass ihre Inarbeitbringung wieder besser möglich wird. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wir fordern, dass Studenten und Auszubildenden, die in oder kurz nach Ausbildung oder Studium Kinder bekommen, die Rückzahlung des BAföG erlassen wird.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, bitte ein letzter Satz. Sie sind schon 35 Sekunden über Ihre Redezeit.

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Jawohl, letzter Satz. Kein Problem. – Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam endlich jenseits aller Ideologien den Kampf gegen Kinderarmut aufnehmen, damit Deutschland, die Heimat unserer Kinder, nicht ein Armenhaus für Kinder, sondern eine glückliche Heimat wird. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als Nächstes der Kollege Sönke Rix für die SPD-Fraktion. ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Nach der Rede von AfD-Kollegen denkt man immer, man müsste jetzt eigentlich reagieren. Aber der Redebeitrag spricht für sich. Gerade wenn Sie uns auffordern, jenseits von ideologischen Grenzen für die Bekämpfung von Kinderarmut und die Belange von Kindern einzutreten, dann wissen wir, dass wir Sie bestimmt nicht an unserer Seite haben und auch nicht haben wollen. ({0}) – Ich bin eine Schande? Das ist ja interessant zu hören. Meine sehr geehrten Damen und Herren, gestern war Girls’ Day. Viele von uns auch hier im Parlament haben den Anlass genutzt, um mit jungen Frauen oder Mädchen insbesondere über ihre beruflichen Perspektiven ins Gespräch zu kommen. Wir machen beim Girls’ Day – einige machen auch einen Girls’ und Boys’ Day daraus – mit, um Wege aufzuzeigen, die nicht unbedingt in die Berufe führen, die man als typische Männerberufe oder als typische Frauenberufe bezeichnet. Aber in den Gesprächen gestern und auch in den vergangenen Jahren ist mir sehr deutlich geworden: Es ist tatsächlich immer noch sehr weit verbreitet – ich bin gelernter Erzieher und habe also einen sogenannten typischen Frauenberuf ergriffen –, in diesen Kategorien zu bleiben. Gestern wurde auch darüber diskutiert, warum das so ist, und vor allen Dingen, was man dagegen machen kann. Was man dagegen machen kann, ist, dass man insbesondere die sozialen Berufe aufwertet ({1}) und dafür sorgt, dass wir als Gesellschaft bereit sind, in den typischen Frauen- und Mädchenberufen – das sind die sozialen Berufe – so zu zahlen, wie wir es auch bei den Handwerker- und Facharbeiterberufen erwarten und auch tun. ({2}) Wir müssen die damit verbundene Verbesserung der Bezahlung nicht damit begründen, mehr Jungs oder Männer in diese Berufe zu bekommen, sondern damit, dass es für uns eine gesellschaftlich wichtige Aufgabe ist. ({3}) Warum sage ich das an dieser Stelle? Ich sage es deshalb, weil Kinderarmut auch immer Familienarmut ist. ({4}) Wir stellen auch fest, gerade wenn wir die Gruppierungen und die Situation genauer betrachten, dass Kinder häufig dann in Armut leben, wenn sie in Haushalten von Alleinerziehenden aufwachsen. Darauf ist ein ganz besonderer Fokus zu richten. Hinzu kommt, dass Frauen oft in Teilzeit ohne Rückkehrrecht auf Vollzeit arbeiten und insbesondere in sozialen Berufen schlecht bezahlt werden. Deshalb ist das immer in Gänze zu betrachten. Vor diesem Hintergrund ist es richtig, dass wir das nicht nur als Maßnahme, den Kinderzuschlag auszuweiten und zu reformieren, sondern auch als Gesamtpaket sehen, das dazu dient, Kinderarmut zu bekämpfen. Dazu gehören auch der Mindestlohn – den haben wir schon erreicht –, das Recht, von Teilzeit auf Vollzeit zurückzukehren – über die entsprechende Vorlage beraten wir gerade –, die Aufwertung sozialer Berufe, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, eine gute Kitaqualität, eine gute Bildung und Ganztagsbetreuung. All das muss ebenfalls in das Paket aufgenommen werden, weil es präventiv gegen Familienarmut und damit auch gegen Kinderarmut wirkt. ({5}) Wir haben uns zudem im sozialen Bereich vorgenommen, das Bildungs- und Teilhabepaket auszuweiten. So sollen die Kosten der Nachhilfe und des Mittagessens in das Paket aufgenommen werden. Das ist ein kleiner, aber wesentlicher Schritt. ({6}) Mir wird immer wieder geschildert, dass die Nachhilfe nur dann finanziert wird, wenn das Kind gerade schlecht in der Schule ist. Aber kaum dass das Kind nach ein paar Wochen wieder besser in der Schule ist, wird die Unterstützung wieder eingestellt. Da brauchen wir weitreichende Maßnahmen. ({7}) Zum Kinderzuschlag. Ich erinnere daran, dass das ein gemeinsames Projekt von Rot-Grün war. ({8}) – Doch, wir haben das gemeinsam beschlossen, liebe Kollegin. – Vor 13 Jahren hat Rot-Grün den Kinderzuschlag eingeführt. Er ist nach wie vor ein richtig gutes und vernünftiges Instrument. Es lohnt sich, den Kinderzuschlag weiterzuentwickeln. Das sehen wir auch im Koalitionsvertrag vor; Herr Weinberg ist darauf eingegangen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, zu einer Lösung zu kommen, die eine automatische Auszahlung des Kinderzuschlags vorsieht. ({9}) – Gelder kann man noch einstellen. – Wir sehen auf jeden Fall 1 Milliarde Euro zusätzlich für diesen Bereich vor. Es ist wichtig, sich für eine Lösung zu engagieren, die es uns ermöglicht, Bürokratie abzubauen. Für meine Fraktion kann ich sagen, dass wir über den vorgeschlagenen Weg der Grünen, den Kinderzuschlag automatisch auszuzahlen, diskutieren wollen. Wir überweisen heute den Antrag erst einmal an die Ausschüsse und schauen dann, welche Lösungsvorschläge die anderen Fraktionen zur Reform des Kinderzuschlags präsentieren. Die Koalition wird sich auf jeden Fall an der Diskussion beteiligen und Lösungsvorschläge einbringen, damit wir am Ende effektiv etwas gegen Kinderarmut tun. Herzlichen Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Rix. – Ich bin gebeten worden, zu dem Zuruf „Sie sind eine Schande!“ des Kollegen Reichardt kurz Stellung zu nehmen. Das mag möglicherweise eine unzutreffende Bemerkung gewesen sein. Sie ist aber zulässig. Ob sie im Zusammenhang des Umgangs miteinander so sinnvoll ist, obliegt nicht der Bewertung des Präsidiums. Als Nächstes hat der Kollege Matthias Seestern-Pauly das Wort. ({0})

Matthias Seestern-Pauly (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004890, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir alle sind uns einig, dass Kinderarmut effektiv bekämpft werden muss. Das gilt für alle Kinder. Wenn man regelmäßig vermeintlich falsch verstanden wird, sollte man es vielleicht bei dem Begriff „alle“ belassen. Das impliziert sowohl deutsche als auch nicht deutsche Kinder. ({0}) Außerdem scheinen wir uns grundsätzlich darüber einig zu sein, dass die derzeitige Regelung des Kinderzuschlags das genannte Ziel viel zu selten erreicht. Der Kinderzuschlag kommt nicht dort an, wohin er gehört. Die Regelungen und Berechnungen sind kompliziert, bürokratisch und ineffizient. Ohne alles wiederholen zu wollen, was wir im Laufe dieser Debatte schon gehört haben, möchte ich unterstreichen, dass lediglich 30 Prozent aller Antragsberechtigten den Kinderzuschlag beantragen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass bis zu 380 000 Berechtigte gar keinen Antrag stellen. Das bedeutet wiederum, dass die betroffenen Kinder und Familien nachweislich unterhalb des Existenzminimums leben. Das ist für mich ein absolutes Unding. ({1}) Vor diesem Hintergrund halte ich die im Antrag vorgenommene Problembeschreibung für zutreffend. Auch ist der vorgelegte Antrag, wie Sie selber schreiben, liebe Kollegin Baerbock, ein erster richtiger Schritt. Ähnliches findet sich im Übrigen aber auch im Koalitionsvertrag. Deswegen hoffe ich, dass die Koalitionäre nun tatsächlich Taten folgen lassen und sich nicht im Klein-Klein oder im Herumdoktern an Symptomen verlieren. Ich befürchte nämlich, dass wir sonst in einem oder in zwei Jahren wieder an gleicher Stelle zusammenkommen müssen, um dann über unerwünschte Wechselwirkungen durch Neuregelungen reden zu müssen. Somit wäre schlussendlich nichts gewonnen. Ganz im Gegenteil: Die guten Vorsätze hätten das Ganze nur weiter verkompliziert. ({2}) Wenn wir gemeinsam die Missstände erkannt haben – das ist in vielen Reden gerade schon angeklungen – und uns offensichtlich auch einig sind, dass die Regelungen zum Kinderzuschlag grundlegend reformiert werden müssen, warum stellen wir dann nicht endlich wieder das Wohl der Kinder selbst in den Mittelpunkt? Es geht doch in dieser gesamten Debatte nicht darum, einen Verwaltungsakt oder ein Antragsverfahren nachzubessern; es geht doch vielmehr darum, den Kindern die Hilfe zu geben, die sie tatsächlich brauchen, und zwar schnell, direkt und unkompliziert. ({3}) An dieser Stelle bieten wir Freien Demokraten eine klare Lösung an. Wir haben den Mut, umzudenken und auch noch einen Schritt weiterzugehen: ein einkommensunabhängiger Sockelbetrag für jedes Kind, den wir mit Komponenten kombinieren, die die wirtschaftliche Situation der Eltern unbürokratisch berücksichtigen, als eine Leistung aus einer Hand, die wir „Kindergeld 2.0“ nennen. Wir Freien Demokraten streben an, bestehende Leistungen noch mehr zu bündeln, als es im heutigen Antrag vorgesehen ist, so wie es im Übrigen auch viele Verbände berechtigterweise vorschlagen und auch einfordern. Zu nennen sind hier beispielsweise das Sozialgeld, das Wohngeld und auch eine umfassende Einbeziehung der Bildungs- und Teilhabemittel. Wenn wir es wirklich ernst meinen, dass wir das Kind ins Zentrum unserer Betrachtungen stellen wollen, warum sprechen wir den Kindern dann nicht einen eigenen konkreten Rechtsanspruch auf ihre Leistungen zu? ({4}) Dies wäre meiner Meinung nach ein echter Schritt in Richtung Chancen und Teilhabe; es wäre ein echter Schritt zur effektiven Bekämpfung von Kinderarmut. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich lade Sie herzlich ein, in den kommenden Beratungen mit uns zusammen an einem solchen Umdenken zu arbeiten. Nur so kommen wir zu einer effizienten, zielgerichteten und unbürokratischen Lösung im Sinne unserer Kinder und Jugendlichen; denn es geht um nicht weniger als darum, allen Kindern, und zwar unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, Chancen für die Zukunft zu ermöglichen; das ist unsere Aufgabe. Herzlichen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Seestern-Pauly. – Als vorletzter Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Seestern-Pauly, verstehe ich Sie da richtig, dass Sie eine Kindergrundsicherung fordern? ({0}) Das würde ich gerne mit Ihnen im Ausschuss diskutieren. ({1}) Wenn wir über den Kinderzuschlag sprechen, dann sprechen wir auch über Kinderarmut; das haben heute schon mehrere Vorrednerinnen und -redner hier getan. Die Kinderarmut betrifft immer mehr Kinder in Deutschland. Jedes fünfte Kind ist inzwischen von Armut betroffen; die Tendenz ist steigend. Jedes siebente Kind ist auf Hartz IV angewiesen. In einem reichen Land wie Deutschland darf es so etwas nicht geben. ({2}) Dagegen müssen wir alle etwas tun. Wir alle wissen, dass Armut Kinder am härtesten trifft. Kinder, die von Armut betroffen sind, machen früh die Erfahrung von gesellschaftlicher Ausgrenzung; denn wer sich nicht leisten kann, was für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nötig ist, gehört nicht dazu. Gerade Kinder leiden darunter sehr. Ich finde, wenn sie nicht mitmachen können, wenn sie nicht mithalten können, wenn kein Geld für den Urlaub da ist, wenn sie auf die Kleiderkammer angewiesen sind, um sich dort Wintersachen zu holen, wenn das Jobcenter die Unterstützung bei Schulausflügen ablehnt, wenn später kein Geld für Kino oder Theater oder dafür da ist, einfach nur mal mit Freunden wegzugehen, dann ist das gesellschaftliche Ausgrenzung. Hier beginnt Armut, und hier müssen wir etwas dagegen tun. ({3}) Wir reden also von einem Mangel an Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand. Das ist für Kinder und Jugendliche oft schlimmer als andere Armutsaspekte. Deshalb lassen wir nicht zu, dass, wie zum Beispiel bei der Union, die Armen in Deutschland gegeneinander ausgespielt werden. ({4}) Ich verweise nur auf Herrn Spahn, der Kinderarmut und Altersarmut gegeneinander ausspielt. Das darf es nicht geben. Wir Linken werden uns niemals mit der Armut in diesem Land abfinden, ganz besonders nicht bei Kindern. ({5}) Gegen Armut kann man etwas tun. Aber Sie werden die Armut nie wirksam bekämpfen, wenn Sie nicht den Reichtum antasten. Doch genau das wollen Sie um jeden Preis verhindern; der Koalitionsvertrag macht es auch ganz deutlich. Sie belassen es bei Stückwerk und bei schönen Sonntagsreden. Das, meine Damen und Herren, ist weder christlich noch sozial. ({6}) Kleine Lösungen reichen nicht aus – das haben wir heute in vielen Reden gehört –, auch beim Kinderzuschlag nicht. Es ist gut, dass die Grünen diesen Antrag vorgelegt haben. Aber das ist noch nicht genug. Wir müssen mehr tun; denn nur ein Bruchteil der Berechtigten nimmt den Kinderzuschlag in Anspruch. Ich glaube, es ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, und deshalb unterstützen wir ihn auch. Die Leistungen für Kinder sind bei uns in Deutschland grundlegend falsch konzipiert. Am einen Ende der Skala steht eine unzureichende und willkürlich berechnete Leistung; das ist der Kinderregelsatz bei Hartz IV. Etwas bessere Leistungen erhalten Familien, die Anspruch auf Kinderzuschlag und auf Kindergeld haben. Am anderen Ende der Skala stehen die Kinder aus wohlhabenden Familien, die vom Kinderfreibetrag profitieren – und das ganz ohne kompliziertes Antragsverfahren. Dieses System, meine Damen und Herren, ist ungerecht, und das muss verändert werden. ({7}) Deshalb kann man damit aus unserer Sicht auch keine Armut bekämpfen. Wer wirklich etwas gegen Kinderarmut tun will, muss die Leistungen für Kinder von Grund auf reformieren. Die zentralen Bedürfnisse für gesellschaftliche Teilhabe müssen bei jedem Kind gleich gut abgesichert sein, und zwar auf einem Niveau, das vor allen Dingen der Realität entspricht.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zum Schluss. – Wir fordern eine Kindergrundsicherung, weil uns jedes Kind gleich viel wert ist.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin.

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Meine Damen und Herren, wir stehen vor dem 1. Mai, dem Tag der Arbeit. Ich wünsche Ihnen allen einen schönen 1. Mai. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank für die guten Wünsche, Frau Kollegin. – Als letztem Redner des heutigen Tages erteile ich dem Abgeordneten Maik Beermann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kinderarmut in einer Gesellschaft wie der unseren, das passt nicht zusammen; ich glaube, da sind wir uns hier im Hohen Hause auch einig. Wenn ich jetzt auf einige Dinge eingehe, die hier gesagt worden sind, wird mir die Zeit für meine eigentliche Rede fehlen – das weiß ich –, aber das ist mir egal, weil ich gern mit dem aufräumen möchte, was vorhin dargestellt wurde. Frau Zimmermann, Sie haben gesagt: Gesellschaftliche Teilhabe ist nicht möglich. – Ja, das stimmt. Wir sollten aber bitte auch nicht vergessen, dass wir von 2005 bis heute einen gewissen Fortschritt herbeigeführt haben, beispielsweise bei den Arbeitslosenzahlen. ({0}) – Moment! – Wir haben 2,384 Millionen Arbeitslose und hatten 5 Millionen Arbeitslose. Das heißt: Dadurch, dass wir Leute in Arbeit gebracht haben, haben wir schon dafür gesorgt, dass für Kinder deutlich mehr gesellschaftliche Teilhabe möglich ist. ({1}) Ich will damit das Problem der Kinderarmut gar nicht kleinreden. Ich möchte nur nicht, dass der Eindruck bleibt, als ob alles so schlecht ist, wie Sie es manchmal darstellen. Frau Baerbock, man kann mit dem Thema natürlich auch Emotionen schüren; es ist ein emotionales Thema. Gerade wenn man sich mit Eltern unterhält, die von den Dingen betroffen sind, die Sie angesprochen haben, ist es schwierig. Man hat manchmal keine richtige Antwort, aber man weiß, dass man handeln muss. Klassenfahrten – das wissen Sie, glaube ich, genauso gut wie ich – gehören heute schon zum Bildungs- und Teilhabepaket. ({2}) Das Geld wird auch ausgezahlt, auch dann ausgezahlt, wenn Eltern den Kinderzuschlag erhalten. Das gehört zur Wahrheit dazu. ({3}) 1 Milliarde Euro – das haben Sie auch angesprochen – haben wir zusätzlich eingestellt. ({4}) – Ja, ich würde das zulassen. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich wollte Sie in Ihrem Redefluss nicht unterbrechen. – Zunächst gibt es eine Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann.

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch noch? – Okay.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Danach gibt es eine weitere Zwischenfrage.

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, denn man zu!

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Wenn ich auch die noch zulasse, dann deshalb, weil es so ein schöner Nachmittag ist.

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Na denn man zu! – Das werde ich tun. Danke schön, Herr Kollege Beermann. Ich will Sie fragen: Sind Sie mit mir einer Meinung und erkennen, dass wir in Deutschland durch die Agenda 2010 seit 2005 den größten Niedriglohnsektor in Europa entwickelt haben? Sind Sie mit mir einer Meinung, dass durch den Niedriglohnsektor viele Menschen nicht mehr viel Geld verdienen, einfach nichts mehr von dem Kuchen abbekommen, dass dadurch auch bei uns in Deutschland Armut entstanden ist und sich vor allen Dingen die Kinderarmut so stark entwickelt hat?

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Kollegin Zimmermann, für die Frage. – Sie haben das Thema Kinderarmut angesprochen. Ich habe vorhin schon gesagt, dass das ein akutes Thema ist. 21 Prozent der Fünfjährigen befinden sich dauerhaft oder wiederkehrend in einer Armutslage. Das ist die Realität; die will ich gar nicht kleinreden. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass wir in den vergangenen Jahren etwas gegen Armut getan haben, indem wir Menschen in Arbeit gebracht und den Mindestlohn eingeführt haben. Die Kollegen Rix und Weinberg sind bereits darauf eingegangen. Wir haben erkannt, dass bei den von Ihnen angesprochenen Themen gehandelt werden musste, deshalb haben wir es auch getan. Zudem dürfen wir aktuell, Gott sei Dank, steigende Löhne feststellen. Unsere Tarifparteien tragen dazu bei, dass sich die Löhne in die richtige Richtung entwickeln. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Beermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der geschätzten Kollegin Baerbock?

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber natürlich.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Baerbock.

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Das Gute daran, dass wir alle ernsthaft in der Sache diskutieren wollen, ist, dass wir uns gut austauschen können. Sie haben die Klassenfahrt angesprochen. Sie fällt in das Bildungs- und Teilhabepaket, weshalb wir dieses Thema angehen müssen. Ich habe in meiner Rede explizit – Ihr Kollege hat das noch einmal bestätigt und wiederholt –, das Problem beim Kinderzuschlag und beim Bildungs- und Teilhabepaket hervorgehoben: Die Regelungen der Beantragung sind so komplex und kompliziert, dass zwei Drittel derjenigen, die einen Anspruch auf einen Kinderzuschlag haben, diese Leistung nicht beantragen und daher auch nicht erhalten. Weil aber die Folgeantragstellung beim BuT daran geknüpft ist, fahren die betroffenen Kinder nicht mit auf Klassenfahrt, obwohl sie die Leistung eigentlich bekommen müssten. Wir plädieren für eine automatische Auszahlung, die wir, wie gesagt, schon gemeinsam mit Ihnen diskutiert hatten. Es ist eine absolute Ungerechtigkeit, dass zum Beispiel vom Finanzamt bei uns allen hier automatisch geprüft wird: Bekommen wir das Kindergeld, oder ist der Kinderfreibetrag das Bessere? Wir werden dann aufgewertet, und dann bekomme ich zum Beispiel 294 Euro. Bei denjenigen, die am meisten darauf angewiesen sind, bei denjenigen, die den Kinderzuschlag oder das Bildungs- und Teilhabepaket bekommen, ist das kein Automatismus. Die müssen sich durch die Regelungen hangeln und Querverbindungen zum Wohngeld herstellen, die dort mit reinspielen. In der Realität heißt das, dass diese Kinder nicht teilhaben können. Das wollen wir gemeinsam ändern und den Kinderzuschlag an dieser Stelle reformieren, was für das Bildungs- und Teilhabepaket entsprechende Konsequenzen hat, wie zum Beispiel die automatische Auszahlung. ({0})

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das war zwar keine Frage, aber Sie dürfen ja auch Statements abgeben. ({0}) Im Laufe meiner Rede wäre ich noch darauf gekommen, jetzt mache ich die Ausführungen vorweg. Sie haben mit dem, was Sie sagen, recht: Wir müssen entbürokratisieren. Genau das haben wir in den Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD geschrieben. Sie sagten vorhin aber auch: Ja, dann macht mal! Liebe Kollegin Baerbock, die Bundesregierung ist gerade seit sechs Wochen im Amt. Wir sollten ihr schon die Möglichkeit geben, die Gesetzentwürfe, die sie in den Deutschen Bundestag einbringen will, gründlich zu erarbeiten. ({1}) Wir werden noch vor der Sommerpause – der Staatssekretär Zierke aus dem Bundesministerium ist heute hier – unter anderem einen Entwurf für ein verbessertes Kitagesetz einbringen. Das trägt dazu bei, dass wir Eltern in Arbeit bringen und eine vernünftige Betreuung gewährleisten können. Ich gehe noch auf eine Sache ein, die Sie angesprochen haben: das Mittagessen. Ja, das Thema „Mittagessen für Kinder“ ist aktuell von der Tagesordnung des Bundesrats genommen. Wir haben es aber in den Koalitionsvertrag aufgenommen, weil es – so wie der Kollege Weinberg und der Kollege Rix es dargestellt haben – zum Gesamtpaket gehört. Wir sind weitsichtig und beschränken das Thema Kinderarmut nicht ausschließlich auf den Bereich Kinderzuschlag. ({2}) Jetzt mache ich in meinem Skript weiter; die Uhr läuft. Wir haben vorab sehr intensiv über das Thema Armut diskutiert. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass arm zu sein bei uns in Deutschland nicht einen Mangel an der Grundversorgung bedeutet. Das ist eine der Errungenschaften unseres Sozialstaates, auf die wir an dieser Stelle einfach einmal stolz sein sollten und auf die wir hinweisen dürfen. ({3}) Armut lässt sich eben nicht immer nur in Geld messen. Armut kann auch Bildungsarmut bedeuten. Aber Bildung und Teilhabe sind eben für die Persönlichkeitsentwicklung jedes einzelnen Kindes von grundlegender Bedeutung. Dazu bedarf es nicht immer nur mehr Geld – nach dem Motto: Geldpflaster drauf, und gut ist –; vielmehr müssen wir dafür sorgen, dass unsere Kinder eine gute Bildung bekommen und dass Eltern einer Erwerbstätigkeit nachgehen können. Den Umstand, dass Armut nicht am nachhaltigsten durch Sozial- und Transferleistungen, sondern durch Erwerbstätigkeit der Eltern verhindert wird, lassen Sie in Ihrem Antrag, liebe Frau Kollegin Baerbock, völlig außer Acht. Eine Berufstätigkeit der Eltern ist nicht nur ein Ausweg aus der Armut, sondern – und das ist das Wichtigste für mich – erfüllt eine Vorbildfunktion für die Kinder, die nachfolgende Generation. Dieses kann ein leistungsunabhängiges Bezuschussen niemals leisten. ({4}) Die Kollegen Weinberg und Rix sind schon darauf eingegangen, was wir schon alles gemacht haben. Wenn man solche Anträge liest, dann hört es sich ja immer so an, als würden die Verantwortlichen in der Politik und in der Bundesregierung das gar nicht im Blick haben und berücksichtigen. Wir haben in der letzten Legislaturperiode das Kindergeld erhöht, den Kinderzuschlag erhöht, und wir haben den Entlastungsbeitrag für Alleinerziehende erhöht. Wir haben den Unterhaltsvorschuss erweitert. Wir haben den Ausbau der Kinderbetreuung entschieden vorangetrieben. Wir haben dafür erst im April letzten Jahres Mittel in Höhe von 1,26 Milliarden Euro beschlossen, die wir den Ländern zur Verfügung gestellt haben. Wir haben dafür gesorgt, dass die Kindertagesbetreuungseinrichtungen personell gut ausgestattet werden. Auf das gute Kitagesetz, das wir noch vor der Sommerpause in den Bundestag einbringen werden, habe ich hingewiesen. Wir haben – ich habe es gesagt – den Mindestlohn eingeführt. Wir haben Maßnahmen getroffen, um Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf zu fördern und so Familien im Gesamten zu unterstützen. Dass wir in der Großen Koalition all diese Maßnahmen auf den Weg gebracht haben, bedeutet nicht, dass wir nicht noch Weiteres zu tun haben. Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, lohnt sich der Blick in den Koalitionsvertrag; denn genau die Dinge, die Sie angesprochen haben, stehen da drin, erweitert um weitere Schwerpunkte, wie zum Beispiel der qualitative und quantitative Ausbau der Kinderbetreuung, Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule, die Erhöhung des Kindergelds um 25 Euro und die damit verbundene entsprechende Erhöhung des Kinderzuschlags. In Ihrem Wahlprogramm steht, dass Sie das Bildungs- und Teilhabepaket mehr oder weniger abschaffen und die Kindergrundsicherung einführen wollen. Das geht nicht. Das mag vielleicht unbürokratisch sein, ist aber eigentlich das, was Sie der Bundesregierung immer vorwerfen: das Geld per Gießkannenprinzip und nicht zielorientiert auszuschütten. ({5}) – Doch! – Wenn wir überhaupt keine Kontrolle mehr darüber haben, ob das Geld, das wir aufwenden, auch tatsächlich bei den Kindern ankommt, dann finde ich persönlich das etwas schwierig. Genauso schwierig erscheint es mir auch, wenn man das machte, was Sie wollen, nämlich Kindergeld und Kinderzuschlag miteinander zu verbinden. Der Kinderzuschlag ist nun einmal abhängig vom Einkommen der Eltern. Das Kindergeld bekommt jeder. Weil wir diese Differenzierung haben, wäre es absurd, das zusammenzuführen. Warum? Weil wir damit ein Riesenbürokratiemonster für alle Kindergeldberechtigten schaffen würden. ({6}) Das ist nicht Sinn der Sache. Bei den von Ihnen aufgestellten Forderungen fehlt mir der Weitblick. Sie lassen das Umfeld des Kindes komplett außer Acht. Aber nur wenn sich Familien als Gesamtes im Gleichgewicht befinden, geht es auch den Kindern gut. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege.

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Wir haben schon einiges gemacht und auch viel erreicht. Genauso viel liegt auch noch vor uns, dessen sind wir uns bewusst. Wir haben viele Dinge in unseren Koalitionsvertrag aufgenommen, die es umzusetzen gilt. Daran müssen wir uns messen lassen. Eines steht fest – das ist das Ziel, an dem mitzuarbeiten ich alle einlade –: Wir wollen Kinderarmut in Deutschland ausrotten. Wir werden gemeinsam einen Masterplan gegen Kinderarmut entwickeln. Ich bin dazu bereit. Ich hoffe, Sie auch. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Einen schönen 1. Mai und ein schönes Wochenende. Danke. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Beermann. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1854 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Bevor der 1. Mai stattfindet – der letzte Redner hat darauf hingewiesen –, haben wir noch ein Wochenende. Ich wünsche Ihnen ein besonders erholsames und sonniges Wochenende. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 15. Mai 2018, 10 Uhr, ein. Die Sitzung ist damit geschlossen. Herzlichen Dank. (Schluss der Sitzung: 13.39 Uhr)