Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Staatsgründung Israels vor 70 Jahren war der Beginn einer beispiellosen Erfolgsgeschichte. Israel ist heute ein hochentwickeltes Industrieland mit einer quicklebendigen Gründerszene, und es hat den höchsten Lebensstandard im Nahen Osten. Nicht nur das: Es ist die einzige parlamentarische Demokratie in der Region mit freien Wahlen und einer funktionierenden Gewaltenteilung.
Die Dringlichkeit der Staatsgründung vor 70 Jahren war unmittelbar mit dem Holocaust verbunden. Für viele Menschen, die das Grauen der Konzentrationslager in Europa erlebt und überlebt hatten, wurde Israel zur Hoffnung, zur Zuflucht und schließlich auch zur Heimat. So fand mit der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung am 14. Mai 1948 nicht allein eine Staatsgründung statt. Diese Staatsgründung war die mutige Antwort auf die jahrhundertelange Geschichte des Antisemitismus und eben auch eine Antwort auf diesen furchtbaren Höhepunkt des Antisemitismus, den Holocaust.
Umso kostbarer – ja, kostbarer – sind die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern.
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Heute verbindet uns, Deutschland und Israel, die Erfahrung, den tiefen Graben der Vergangenheit überwunden zu haben, und das Staunen und die Dankbarkeit darüber, dass eine Versöhnung möglich war. Seit 22 Jahren besuche ich Israel regelmäßig und erlebe das in unzähligen Begegnungen mit unzähligen Menschen, mit denen ich auch freundschaftlich verbunden bin.
Vor allem eine Begegnung hat mir besonders deutlich gemacht, dass das noch immer eine sehr sensible Beziehung ist: Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus diesem Haus besuchte ich den Kibbuz Lochamej haGeta’ot, in dem auch Überlebende des Holocaust lebten. Mit einem dieser Überlebenden kamen wir ins Gespräch. Relativ witzig unterhielten wir uns. Man merkte, er freute sich, dass er sich mit uns auf Deutsch unterhalten konnte. Schließlich stellte sich heraus, er wünschte sich sehr, noch einmal nach Berlin zu kommen. Ein Kollege reichte ihm in bester Absicht eine Visitenkarte mit den Worten: Das können wir sicherlich möglich machen. Bitte melden Sie sich. – Dem Holocaustüberlebenden entglitten die Gesichtszüge. Das Wort „melden“ erinnerte ihn, und das waren die grausamsten Erinnerungen. Das war greifbar, und das Gespräch war an der Stelle irgendwie zu Ende.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns Deutsche, für diejenigen, die der zweiten, dritten und allen von nun an nachfolgenden Generationen angehören, gilt: Wir haben keine Schuld, aber Verantwortung, und diese Verantwortung kennt keinen Schlussstrich,
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weder für die Nachgeborenen noch für die, die zu uns gekommen sind. Das sage ich auch vor dem Hintergrund der antisemitischen Vorfälle in der letzten Zeit. Es ist unerträglich, wenn jüdisches Leben in Deutschland ohne Angst nicht möglich ist.
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Wir verurteilen diese Angriffe scharf, und wir müssen sie ahnden; denn Angriffe auf Jüdinnen und Juden sind Angriffe auf uns selbst, auf unsere Demokratie und unsere pluralistische Gesellschaft.
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Ich bin überzeugt: Unser tiefes Bekenntnis zu gemeinsamen Werten, unser Bekenntnis zur gemeinsamen Erinnerung wird uns, Israel und Deutschland, helfen, uns gemeinsam gegen Fundamentalismus, Extremismus und auch gegen Antisemitismus zu stellen.
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Ein jüdisches Sprichwort lautet: Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung. – Wir sorgen dafür, dass sich die gemeinsame Erinnerung an die zukünftige Generation weiterträgt. So hat sich zwischen Israel und Deutschland – in den Worten von Schimon Peres – „eine einzigartige Freundschaft“ entwickelt. Das Wunder dieser einzigartigen Freundschaft kann man nicht hoch genug schätzen.
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Wahre Hochschätzung zeigt sich aber auch in der Fähigkeit zum offenen Wort.
Die Existenz des Staates Israel war von Anfang an von vielen Staaten bedroht. Ich habe die größte Hochachtung dafür, wie Israel, die israelische Gesellschaft, aber auch die israelische Politik mit diesen existenziellen Bedrohungen umgegangen ist:
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wehrhaft, aber auf der Basis von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Das haben sie geschafft, gerade in den Anfängen.
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Aus dieser Beobachtung schöpfe ich auch die Hoffnung, dass dieser Weg nicht aufgegeben wird. Die Hoffnung auf eine Zweistaatenlösung klingt mittlerweile wie eine ferne Utopie. Die fortgesetzten Siedlungsaktivitäten sind mit unseren Vorstellungen einer friedlichen Beilegung des Konflikts schwer vereinbar. Trotzdem appelliere ich an die Beteiligten, diese Hoffnung nicht aufzugeben und Rechtsstaatlichkeit und Liberalität weiter zu verteidigen.
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Unabhängig von allen kritischen Fragen, die wir an die israelische Regierung richten, gilt für uns: Wir werden das Existenzrecht Israels immer und ohne Einschränkung verteidigen.
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Das ergibt sich nicht nur aus der historischen Verantwortung, sondern noch viel mehr auch aus der tiefen Freundschaft, die sich zwischen Deutschland und Israel entwickelt hat. Sie ist nämlich der eigentliche Glücksfall, der uns an diesem Tag Anlass zur Freude gibt.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Vorsitzende der AfD-Fraktion, Alexander Gauland.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist wohl ein einmaliger Vorgang, dass die Geburt eines fremden Staates in diesem Hohen Hause durch eine Debatte erinnert und, ja, auch gefeiert wird. Schon diese Tatsache allein belegt das so singuläre wie schwierige Verhältnis zwischen unseren beiden Staaten wie Völkern. An der Wiege Israels standen ein deutsch-österreichischer Jude, Theodor Herzl, und ein britischer Tory, Arthur James Balfour. Aber entstanden ist dieser Staat aus einem einmaligen Zivilisationsbruch, der für immer mit dem deutschen Namen verbunden bleiben wird: der Schoah. Gerade weil wir auf diese furchtbare Weise mit dem Existenzrecht Israels verbunden sind, war und ist es richtig, die Existenz Israels zu einem Teil unserer Staatsräson zu erklären.
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Das war und ist moralisch richtig, enthält aber eine über das bloße Bekenntnis hinausgehende Verpflichtung – ich habe das an dieser Stelle schon einmal betont –: im Ernstfall einer existenziellen Bedrohung Israels an dessen Seite zu kämpfen und zu sterben. Ich bin mir nicht sicher, ob das Ausmaß dieser Verpflichtung überall in Deutschland erkannt und verstanden worden ist. Aber allein dadurch wäre es mehr als bloßes Lippenbekenntnis und rituelle Symbolik.
Deutschland ist nach zwei Weltkriegen ein postheroisches, in gesicherten Grenzen lebendes Land. Israel aber muss jeden Tag neu um seine Existenz und Anerkennung in einer feindlichen Umwelt ringen. Dieser Tatsache wird auch eine Zweistaatenlösung Rechnung tragen müssen. Deshalb, meine Damen und Herren, muss Kritik an den Mitteln dieses Ringens immer unsere historische Verantwortung für den Staat Israel im Blick haben. Dieses Land ist für uns eben kein Staat wie jeder andere, dessen Führung und Methoden wir nach Herzenslust kritisieren dürfen. Es ist ein Land, in dem die Menschen Zuflucht gefunden haben, die in einem kurzzeitig von Deutschland beherrschten Europa kein Lebensrecht hatten. Israel, meine Damen und Herren, ist eben nicht nur deutsche Außenpolitik, sondern auch und hauptsächlich moralische Verantwortung.
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Deshalb ist es unsere Pflicht, genau hinzuschauen, wenn Kritik an diesem Staat die historischen Reflexe der Judenfeindschaft bedient.
Israel ist leider noch immer – die Kollegin Nahles hat darauf hingewiesen – die einzige Demokratie im Nahen Osten. Trotz aller Benachteiligungen arabischstämmiger Israelis ist ein Viertel der Einwohner Israels Araber, während im Gazastreifen kein Jude ungeschützt überleben könnte.
Das heißt für uns aber auch, dass die Existenzsicherung Israels am Brandenburger Tor beginnt.
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Wer den Davidstern verbrennt und Kippa-Träger angreift, hat das Gastrecht in diesem Lande missbraucht und damit eben auch verwirkt.
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Antisemitismus darf nicht zum Kollateralschaden einer falschen Flüchtlings- und Einwanderungspolitik werden.
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Wenn darüber in diesem Hause Einigkeit herrschen würde, wäre das ein großer Gewinn dieser Debatte.
Dem Antrag von CDU/CSU, SPD und FDP stimmen wir zu, bei dem Antrag von Grünen und Linken enthalten wir uns.
Ich bedanke mich.
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Nächster Redner ist der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Volker Kauder.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 70. Jahrestag der Gründung des Staates Israel ist zunächst einmal ein Tag großer Freude und bei uns in Deutschland zugleich auch ein Tag voller Sorgen.
Es besteht Freude darüber, dass es Israel gelungen ist, in diesen 70 Jahren einen demokratischen Rechtsstaat zu bauen und zu erhalten. Israel – so hat es die frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Frau Knobloch, formuliert – ist der einzige Staat der Welt, der jeden Tag um seine Existenz ringen und bangen muss, und dies prägt dieses Land natürlich auch. Dass wir uns darüber freuen, dass dieses wunderschöne kleine Land seit 70 Jahren existieren kann, ist auch eine Freude darüber, dass in dieser Region ein Zeichen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gesetzt worden ist.
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Wir betrachten das Existenzrecht Israels als Teil unserer Staatsräson, wie es die Bundeskanzlerin bei ihrem Besuch in Israel formuliert hat. Dies ist zugleich auch eine Bestätigung der Demokratie und des Rechtsstaats – nicht nur in dieser Region, sondern in der ganzen Welt. Mit dem Existenzrecht Israels verteidigen wir nicht nur dieses Land und diesen Staat, sondern auch die Demokratie und den Rechtsstaat.
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Natürlich ist Kritik an einer demokratisch gewählten Regierung nicht nur bei uns, sondern auch in Israel zulässig. Wir sehen aber, dass immer wieder und zunehmend Kritik an Maßnahmen der israelischen Regierung mit einer fundamentalen Kritik am und kritischen Äußerungen zum Judentum verbunden sind. Dies lehnen wir entschieden ab.
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Gerade wir in unserem Land haben allen Grund, auch Aktionen, die von einigen Bündnissen im linken Spektrum unseres Landes durchgeführt werden – „Kauft nicht bei Juden!“ –, zu unterbinden. Ein Boykott mit solchen Formulierungen ist in unserem Land unzulässig.
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So wünschen wir Israel, den Menschen, die dort leben, für die nächsten Jahre alles Gute. Sie sollen wissen: Wir stehen an ihrer Seite.
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Damit komme ich zum zweiten Teil: Einige von uns haben an der gestrigen Demonstration unter dem Motto „Berlin trägt Kippa“ in der Fasanenstraße vor dem Jüdischen Gemeindehaus teilgenommen. Es war beeindruckend, wie viele Menschen dort waren. Aber – das kann man sagen – wir hätten uns gewünscht, dass es noch mehr gewesen wären. Vor allem – das hat Cem Özdemir so formuliert – hätten wir uns gewünscht, dass wir zu der Veranstaltung aufgerufen hätten und dass es nicht notwendig gewesen wäre, dass dies die Jüdische Gemeinde tut.
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Dieses Bekenntnis war beeindruckend, aber es war zur gleichen Zeit auch bedrückend und beklemmend, dass in dem Augenblick, in dem wir gefordert haben, dass sich in dieser Stadt jüdisches Leben unbedrängt und in der Öffentlichkeit entfalten kann, am Hermannplatz Demonstranten, die eine vergleichbare Veranstaltung wie die in der Fasanenstraße durchgeführt haben, als Terroristen beschimpft wurden und ihnen die israelische Flagge aus der Hand genommen und zerrissen wurde. Das hat noch einmal deutlich gemacht, dass Antisemitismus bei uns vorhanden ist und dass wir ihm entschieden entgegentreten müssen.
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Der Präsident des Zentralrats der Juden hat in seiner Rede auf der Kundgebung formuliert, dass der Antisemitismus in unserer Gesellschaft klar benannt werden muss, dass es Antisemitismus gegeben hat, bevor in großer Zahl Flüchtlinge nach Deutschland kamen, und dass alle jüdischen Einrichtungen bis zum heutigen Tag durch die Polizei geschützt werden müssen. Aber er hat auch den Satz gesagt, dass all diejenigen – ganz egal, woher sie kommen –, die in diesem Land leben wollen, akzeptieren müssen, dass der Antisemitismus in dieser Gesellschaft keinen Platz hat.
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Vieles hat Platz in dieser Gesellschaft, aber nicht der Antisemitismus, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Nun war gestern auch klar, dass dieses Bekenntnis dazu beiträgt, den Jüdinnen und Juden etwas Mut zu machen und zu zeigen, dass sie nicht allein stehen. Aber das reicht nicht. Wir müssen natürlich auch dafür sorgen, dass sich in der Wirklichkeit einiges ändert. Es muss an unseren Schulen klar daran gearbeitet werden, dass „Jude“ auf dem Schulhof kein Schimpfwort sein darf, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Wir dürfen die Lehrerinnen und Lehrer nicht allein lassen. Wenn uns berichtet wird, dass Schulleiter und Lehrerinnen und Lehrer sich nicht so richtig trauen, am Elternabend diesen oder jenen Vorfall in der Klasse anzusprechen, dann müssen wir sie unterstützen.
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– Auf diesen Zwischenruf habe ich schon gewartet.
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Da kann ich Ihnen nur sagen: Von Ihnen wollen und brauchen wir, aber auch die Jüdinnen und Juden in diesem Land keine Belehrungen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Dieser Satz stammt nicht von mir; er stammt von der Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion, einer jungen Frau, die gestern unter dem tosenden Beifall der fast 3 000 Menschen gesagt hat: Die AfD wollen wir hier nicht! Stellen Sie sich woandershin! Für Sie haben wir bei unserer Demonstration keinen Platz.
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– Sie können es gerne im Internet auf YouTube anschauen. Dort ist es eingestellt. Es gibt einige Kolleginnen und Kollegen, die dabei waren und bestätigen können, dass es genau so formuliert worden ist. Dieser Satz stammt nicht von uns, sondern von einer jungen jüdischen Frau in Deutschland,
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und wir unterstützen ihn natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Es ist also ein Tag der Freude, aber auch der Sorgen, und wir alle sind verpflichtet, nicht nur zu reden, sondern zu handeln.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Alexander Graf Lambsdorff, FDP.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir feiern heute den 70. Jahrestag der Gründung des Staates Israel, und wir haben Grund, zu feiern, weil dort etwas gelungen ist, was in der Geschichte kaum möglich erschien. Theodor Herzl und Arthur Balfour sind hier zu Recht erwähnt worden. Aber ich will auch an die Tausende von jüdischen Siedlern und Pionieren erinnern, die in Palästina, im Land ihrer Vorfahren, noch lange vor dem Holocaust angefangen haben, jüdisches Leben wieder aufzubauen. Es war aber erst der Zivilisationsbruch der Schoah, der Holocaust, der möglich gemacht hat, dass die internationale Gemeinschaft der Gründung des Staates Israel zustimmen konnte. Am 29. November 1947 beschlossen die Vereinten Nationen die Errichtung des Staates Israel.
Nach der Unabhängigkeitserklärung am 14. Mai 1948, als David Ben-Gurion die Urkunde verlas, mit der der Staat auf Grundlage dieses Beschlusses der Vereinten Nationen errichtet wurde, erfolgten noch in derselben Nacht die Angriffe der arabischen Nachbarn auf den Staat Israel, der heute genauso bedroht ist, genauso verteidigt werden muss und genauso die Hilfe der internationalen Gemeinschaft braucht wie in der Nacht seiner Gründung.
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Und doch ist die Entwicklung des Staates Israel eine einzige Erfolgsgeschichte. Es ist ein Land der Freiheit, in dem Menschen ohne Furcht vor Antisemitismus leben können. Es ist ein hochentwickelter Industriestaat mit Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft, und es ist die einzige funktionierende Demokratie im Nahen Osten. Israel ist heute ein wichtiger wirtschaftlicher und politischer Partner Deutschlands und der Europäischen Union.
Aber angesichts der Spannungen in der Region, der Lage in Syrien, des Sich-Heran-Arbeitens des Iran an die israelische Grenze, angesichts gemeinsamer Bedrohung durch den Terrorismus, aber auch angesichts gemeinsamer wirtschaftlicher und politischer Interessen ist es das Gebot der Stunde, meine Damen und Herren, die Zusammenarbeit mit Israel noch viel stärker auszubauen.
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Meine Damen und Herren, ein solcher feierlicher Anlass wie dieser Jahrestag ist sicher ein guter Zeitpunkt, um sich an die wirklich großen Linien heranzuarbeiten und sie zu diskutieren. Aber ich bedauere wirklich, dass es nicht gelungen ist, mit den vier demokratischen Fraktionen der Mitte einen gemeinsamen Antrag vorzulegen, und ich kann nicht verstehen, dass die Grünen bei einem Antrag der Linken mitgegangen sind, einer Partei, die sich in der Vergangenheit durch Fraternisierung mit radikalen und gewalttätigen arabischen Gruppen hervorgetan hat
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und deren Anhänger viele Maßnahmen der sogenannten BDS-Boykott-Bewegung unterstützen. Ich habe das im Europäischen Parlament selber erleben müssen.
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– Lieber Kollege Nouripour, im Antrag steht, dass die deutsche BDS-Bewegung abgelehnt wird.
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Ich habe in Brüssel selbst erleben müssen, wie die GUE-Fraktion immer wieder antiisraelische Maßnahmen der Boykott-Bewegung unterstützt hat. Ich lade die Grünen ein, sich das noch einmal zu überlegen.
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In dem Antrag heißt es auch, ein Problem im Hinblick auf die Zweistaatenlösung sei die Uneinigkeit zwischen Hamas und PLO. Die Hamas schafft Probleme nicht nur wegen ihrer Uneinigkeit mit der PLO, mit der Fatah. Sie spricht dem Staat Israel bis heute jegliches Existenzrecht ab. Solange israelisches Territorium aus dem Gazastreifen, aber auch aus dem Libanon oder sogar aus Syrien beschossen wird, kann es aber keinen Frieden geben. Die Anerkennung Palästinas als Staat im Rahmen einer Zweistaatenlösung muss das Ergebnis erfolgreicher Friedensverhandlungen sein und kann keine Vorbedingung sein.
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Für uns als Freie Demokraten sind drei Dinge klar.
Erstens müssen Deutschland und Europa alles tun, damit Israel und die Palästinenser wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren. Hier hat die Genfer Initiative sinnvolle Vorschläge gemacht. Das Ziel bleibt ein jüdischer, demokratischer Staat Israel in anerkannten und dauerhaft sicheren Grenzen an der Seite eines unabhängigen, demokratischen und lebensfähigen palästinensischen Staates.
Zweitens müssen wir alles dafür tun, dass weder in Deutschland noch in Europa oder irgendwo sonst in der Welt antisemitische oder israelfeindliche Äußerungen toleriert werden.
Drittens wollen wir die Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern weiter vertiefen gerade im Hinblick auf die Jugend und die Zukunft. Wir wollen die Weiterentwicklung des regen Austausches hin zu einem deutsch-israelischen Jugendwerk, damit unsere Beziehungen auch in aller Zukunft eng und herzlich bleiben.
Herzlichen Dank.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Dietmar Bartsch, Vorsitzender der Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Lambsdorff, mir ist einigermaßen unklar, wie Sie ausgerechnet heute mit einer so kleinteiligen innenpolitischen Münze bezahlen können, und das angesichts der Geschichte Ihrer Partei.
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In Ihren Reihen saß einmal Herr Möllemann. Ich könnte darüber so lange reden. Lassen Sie uns aus diesem Anlass über diese Dinge wirklich schweigen.
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Am 14. Mai wird Israel den 70. Jahrestag seiner Gründung begehen. Das ist für uns richtigerweise ein Anlass, erneut über uns, unser Verhältnis zu Israel, zum jüdischen Volk und auch über unsere historische Verantwortung nachzudenken. In diesem Haus über Israel zu reden, ist mit besonderer Verantwortung verbunden und mit notwendiger Demut; denn die Geschichte Israels ist auch die Geschichte des Judentums, das von Verfolgung, Unterdrückung und Diskriminierung geprägt ist. Dass Antisemitismus immer auch ein Herrschaftsinstrument war, ein Mittel zur Rechtfertigung brutalster innenpolitischer Maßnahmen, auch das gehört zur bitteren Wahrheit.
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Aber die Geschichte Israels ist auch die Geschichte von Widerständigkeit, von Kampf um Selbstbestimmung und Emanzipation.
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Die Gründung Israels war und ist eine logische Konsequenz aus all diesen Teilen jüdischer und europäischer Geschichte. Deutschland hat in diesem Zusammenhang eine moralische Pflicht, dem Staat Israel solidarisch zur Seite zu stehen.
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Nach dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland wurde deutlich, dass es zur Gründung eines jüdischen Staates keine Alternative gibt. Dass Jüdinnen und Juden nur sicher und frei in einem eigenen Staat leben können, ließ sich nicht mehr ignorieren. Zudem war es vielen Überlebenden des Holocaust nicht zumutbar, nach Deutschland zurückzukehren oder in andere Länder, in denen zumindest ein Teil der Bevölkerung Mittäter war. Großbritannien, mit der Situation im Mandatsgebiet Palästina überfordert, sah die UNO als geeigneten Ort zur Lösung des Problems an. Heraus kam der Teilungsplan, und nach kriegerischen Auseinandersetzungen verlas bekanntermaßen Ben-Gurion am 14. Mai 1948 die Unabhängigkeitserklärung und verkündete den Staat Israel.
Ein palästinensischer Staat konnte bis heute nicht verkündet werden. Die Gründe dafür sind zweifelsfrei vielschichtig. Sie reichen von fehlender Empathie und fehlendem Mitgefühl auf allen Seiten über die Kontroverse um die Siedlungspolitik, innerisraelische Probleme bis hin zur strategischen Unfähigkeit der palästinensischen Führung. Auch wenn das nicht Gegenstand der heutigen Debatte ist, bleibt dieses Thema auf der Tagesordnung. Die Palästinenserinnen und Palästinenser brauchen einen eigenen Staat.
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Ich habe über die Kurzfassung der Geschichte Israels gesprochen, weil sie deutlich macht, worin die besondere Verantwortung Deutschlands für Israel besteht. Es ist kein „Schuldkult“, wie es aus der rechten Ecke heißt. Es ist die Einsicht in die moralische Pflicht, alles zu tun, dass Auschwitz sich nicht wiederholt.
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Für die Linke ist klar: Durch Auschwitz ist Israel zu einer Notwendigkeit geworden. Das Existenzrecht Israels ist selbstverständlich unverhandelbar.
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Israel ist auch gegründet worden, damit Jüdinnen und Juden überall auf der Welt in dem Fall, dass ihr Leben bedroht ist, einen sicheren Hafen haben. Wir sehen dieser Tage in Europa leider deutlich, dass dieser Hafen weiterhin benötigt wird, sei es in Polen oder in Frankreich, in Ungarn oder in Belgien oder eben leider auch im Prenzlauer Berg. Zu der Demonstration gestern, die sehr beeindruckend war, hat Volker Kauder das Notwendige gesagt. Überall machen sich antisemitische Parolen und Gewalttaten breit, werden Jüdinnen und Juden für ihre bloße Existenz bedroht. Mich macht das fassungslos, und es ist beschämend.
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Sehr viel ist neuerdings von einem importierten Antisemitismus, den es zweifelsfrei gibt, die Rede; aber die Reduktion darauf halte ich für groben Unfug und Ausdruck von Geschichtsvergessenheit.
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Antisemitismus in Deutschland gibt es nicht ausschließlich in migrantischen Milieus, sondern überall.
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Denken wir nur an die jüdischen Einrichtungen, die seit Jahrzehnten polizeilich geschützt werden müssen – 7 Tage, 24 Stunden. Dass Antisemitismus in Deutschland aber überhaupt noch da ist, ist schlicht und ergreifend eine Schande.
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An dieser Stelle lässt sich manches von der sogenannten Israel-Kritik kaum von hasserfülltem Antisemitismus unterscheiden. Auch ich habe schwerwiegende Kritik an politischen Entscheidungen in Israel. Natürlich wünsche ich mir als Linker, dass sich in Israel die säkularen und auch die sozialistischen Traditionen durchsetzen.
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Natürlich kritisieren wir die Beschränkungen bei NGOs. Natürlich wünsche ich mir, dass die Demokratie dort gestärkt wird, ausgebaut wird und dass nicht antidemokratische Kräfte an Boden gewinnen.
Aber als deutscher Staatsbürger und demokratischer und linker Politiker ist es nicht meine Aufgabe, Israel zu belehren. Israel ist eben seit seiner Gründung ein bedrohter Staat. Seine Sicherheitsinteressen müssen auch von uns ernst genommen werden; aber die Ansprüche an Rechtsstaat und Demokratie in Israel sind von uns genauso ernst zu nehmen. Deshalb ist auch von Israel das Völkerrecht zu akzeptieren.
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Rechtsstaatlichkeit zwischen den Staaten muss gewahrt bleiben, und zwar von allen Seiten.
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Eine Zweistaatenlösung kann und muss es auf völkerrechtlicher Grundlage geben. Alles andere wäre fatal.
Deswegen muss sich die Bundesregierung auch fragen, wie man einem erfolgreichen Friedensprozess am besten dient. Da ist für Die Linke ganz klar: durch kluge Diplomatie. Um es mit den Worten des ermordeten israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin zu sagen: „Der Weg des Friedens ist dem Weg des Krieges vorzuziehen.“
So oder so muss das Ziel sein, dass alle Menschen in der Region ein Leben in Freiheit und Würde führen können. Denn eins ist klar: Nur in einem sicheren Umfeld kann Israel sicher leben. In diesem Sinne alles Gute zum 70.!
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Nächste Rednerin ist die Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Katrin Göring-Eckardt.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Israel ist ein faszinierendes und zugleich ein widersprüchliches Land. Wir sehen seine jahrtausendealten Traditionen, seinen Willen zur Moderne und auch seine Ambivalenz und seine Widersprüche. Wir sehen die größte Bauhaussiedlung der ganzen Welt, und wir sehen den Tempelberg. Wir sehen den Terrorismus der Dschihadisten gegen das alltägliche Leben. Wir sehen eine große Tradition liberalen Denkens genauso wie starke konservative Kräfte. Wir sehen die Hedonisten am Strand von Tel Aviv und Orthodoxe in Jerusalem. Wir sehen die Brutalität der Besatzung, und wir sehen ein Volk, das älter ist als die Bibel, das seinen Staat aber erst vor 70 Jahren gegründet hat. Herzlichen Glückwunsch, Israel!
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Die zionistische Bewegung, die lange vor dem Nationalsozialismus begonnen hat, ist auf viel Skepsis gerade in Deutschland, gerade bei den deutschen Juden damals, gestoßen, weil sich keiner vorstellen konnte, dass das Unvorstellbare passieren würde. Aber es ist passiert. Es ist passiert, dass industriell Menschen vernichtet und ermordet wurden. Es ist passiert, dass durch dieses einzigartige Menschheitsverbrechen, das von diesem Land, von Deutschland, ausgegangen ist, versucht worden ist, das jüdische Volk auszurotten. Es ist passiert: die Schoah – grausam, einzigartig und noch immer unvorstellbar. Das bleibt Mahnung – immer. Das bleibt Verpflichtung – immer. Das darf es nie wieder geben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Und ja, die Sicherheit Israels – Israel als sicherer Hafen, als nationale Heimstätte, wie es damals hieß –, das ist, was wir schützen, was wir nie infrage stellen. Die Existenz Israels ist unmittelbar verbunden mit der Existenz unseres Landes als freie Demokratie und deswegen unsere Verantwortung. Wir müssen der Garant Israels als Staat sein, als Deutsche, meine Damen und Herren.
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Und natürlich waren die guten Beziehungen zwischen Israel und Deutschland anfangs keine Selbstverständlichkeit. Es gab die Naziverstrickungen in Westdeutschland und ein DDR-Regime, das Israel lange feindlich gegenüberstand. In Israel lebten viele Schoah-Überlebende, während bei uns große Teile der Gesellschaft eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust und der Schoah verweigerten.
Die tiefe Freundschaft zwischen Israel und Deutschland als Freundschaft auf Augenhöhe macht es selbstverständlich – das ist das Gute, das ist der Fortschritt –, dass wir auch über Schwierigkeiten und Spannungen in diesen Beziehungen aktuell und heute reden, dass wir sie aussprechen, wenn wir die unterschiedlichen Einschätzungen zum Nuklearabkommen mit dem Iran, die Siedlungspolitik und die Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts anschauen.
Etwas anderes aber sind diejenigen, die dem Staat Israel trotz oder wegen der Menschheitsverbrechen der Schoah ignorant, ablehnend oder gar feindlich gegenüberstehen. Denen sagen wir: Nein. Denen sagen wir: Das Existenzrecht Israels ist unser eigenes. Es gehört zu unserem Land. Egal woher man kommt, egal wie lange man hier lebt, ob man von ganz rechts kommt, woher auch immer – das Existenzrecht Israels muss jeder, der in diesem Land lebt, selbstverständlich anerkennen, meine Damen und Herren.
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Aber das heißt eben auch: Natürlich gibt es Israel als Heimstatt der Juden und Jüdinnen. Aber das heißt eben gerade nicht, dass in Deutschland, dass in Europa jüdisches Leben nicht mehr zu uns gehört. Im Gegenteil: Es ist mittlerweile wieder fester Bestandteil unserer Gesellschaft und aus unserer Kultur nicht wegzudenken. Und deswegen: Antisemitismus im Denken, Antisemitismus im Handeln oder gar Gewalt sind vollkommen inakzeptabel, meine Damen und Herren.
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Egal wo, egal von wem: Antisemitismus darf nie wieder zu Deutschland gehören.
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Herr Gauland, wenn Sie sich hierhinstellen und so tun, als ob, wenn Sie sich hierhinstellen und meinen, Sie könnten nicht nur belehren, sondern Sie könnten auftreten wie der Wolf im Schafspelz: Solange Sie sich nicht für Herrn Höcke, solange Sie sich nicht für die unfassbaren Äußerungen des Herrn Höcke aus Thüringen zum Holocaust-Mahnmal hier entschuldigt haben,
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so lange sage ich: Sie sind der Wolf im Schafspelz, und wir können nicht ernst nehmen, was Sie über das Existenzrecht Israels und den Antisemitismus in Deutschland sagen, meine Damen und Herren.
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Und gleichzeitig: Wir müssen natürlich auch eingestehen: Bis heute ist es unzureichend gelungen, zu erreichen, dass der Staat Israel ein sicherer Ort wäre. Der Träger des diesjährigen Israel-Preises für Literatur David Grossman hat in einer bewegenden Rede in der vergangenen Woche gesagt:
Solange die Palästinenser kein Zuhause haben, werden auch die Israelis keines haben. Das Gegenteil ist genauso wahr: Wenn Israel kein Zuhause wird, wird es auch Palästina nicht.
David Grossman hat recht. Wir sind in der Pflicht. Deswegen ist es auch unsere Sache.
Aber wir müssen noch mehr tun. Viel Gutes steht übrigens in Ihrem Antrag, Herr Lambsdorff. Wir werden dem Antrag zustimmen. Aber uns haben ein paar Sachen gefehlt; das gehört zur Wahrheit dazu. Deswegen hat Bündnis 90/Die Grünen einen eigenen Antrag geschrieben. Ich bin froh, dass Die Linke diesen – jetzt gemeinsamen – Antrag unterstützt.
Was ich vermisse, ist zum Beispiel eine sehr konkrete Zusage für eine doppelte Staatsbürgerschaft. Warum? Wir sollten die Identitäten der Menschen in unseren Staaten so ernst nehmen wie die Identitäten der Europäerinnen und Europäer. Die Schoah-Überlebende, die sich in Israel niedergelassen hat, ist doch das Sinnbild mehrfacher nationaler Identität. Bitte geben Sie sich einen Ruck. Die doppelte Staatsbürgerschaft für Israelis wäre ein wirkliches, ein gutes, ein angemessenes Geschenk, das wir als Deutscher Bundestag machen könnten, meine Damen und Herren.
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Israel, die Existenz des Staates, der Unterschiedlichkeiten, der Widersprüche, ist Heimat für ganz unterschiedliche Menschen geworden – zugleich klingt bei dem Wort „Israel“ immer auch die biblische Wanderung durch die Wüste mit –, Israel, dessen junge Menschen sich heute in Berlin treffen, die wir jeden Tag treffen können, egal, welcher religiösen Herkunft sie sind. Israel ist kein Land wie jedes andere; sowieso nicht und erst recht nicht für uns. Deswegen: Schalom chaverim! Schalom le hitraot! Schalom. Mazel tov, Israel!
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Jetzt hat das Wort der Kollege Christian Schmidt, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ephraim Kishon, der berühmte ungarischstämmige jüdische Satiriker, hat einmal geschrieben:
Die Solidarität der Welt ist etwas Schönes und Herzerquickendes. Auch unser junger Staat
– Israel –
wäre dieser Solidarität teilhaft geworden, wenn sich nicht … der hebräische Goliath auf den hilflosen arabischen David gestürzt hätte.
Gott sei Dank hat sich in der Zwischenzeit manches geändert, aber die Bedenken von Ephraim Kishon, in diese Satire gekleidet, sind immer noch ein Thema.
Wir müssen uns damit beschäftigen, dass nach der Unabhängigkeitserklärung von David Ben-Gurion – es ist bereits gesagt worden – die arabischen Nachbarstaaten dem neuen Israel noch in der Nacht den Krieg erklärt haben. Seit seiner Gründung vor 70 Jahren, zu der wir heute erneut alles Gute und viel Glück für die Zukunft wünschen, ist Israel einer permanenten militärischen und terroristischen Bedrohung ausgesetzt. Staaten aus der Region und terroristische Gruppierungen propagieren seine Vernichtung. Ja, auch eine atomare Bedrohung ist zu befürchten.
Angesichts dieser Erfahrungen ist es gut, dass das Existenzrecht Israels Teil der deutschen Staatsräson ist und dieses unverhandelbar ist.
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Diese Überzeugung schließt auch mit ein, dass die militärische Verteidigungsfähigkeit Israels gewährleistet sein muss. Ein Land ohne strategische Tiefe kann sich bei diesem Thema keine Verzögerung leisten. Das ist etwas, über das wir wenig in der Öffentlichkeit sprechen und es doch tun sollten.
Ich werde nie vergessen, wie ich als Student in den späten 70er-Jahren das damalige Yad Vashem vor dessen Neubau besuchte. Im Eingangsgebäude gab es ein großes Bild vom Lager Auschwitz-Birkenau, aufgenommen 1944 von alliierten Luftaufklärern. Es war so präzise, dass selbst die Kolonnen von Menschen zu erkennen waren, die Josef Mengele gleich in die Gaskammer schicken würde. Der aus Dresden stammende Oberst, der uns geführt hat und dessen Familienmitglieder genau diesen Weg gegangen waren, sagte: Wissen Sie, wer das sieht, der wird verstehen, dass wir uns nie mehr auf andere verlassen wollen, sondern selbst handlungsfähig sein wollen. – Ja, das ist nachvollziehbar, das ist verständlich, und das muss so sein.
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Es ist gut 60 Jahre her, dass der damalige Generaldirektor im israelischen Verteidigungsministerium Schimon Peres nachts den deutschen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß in Niederbayern in dessen Privathaus in Rott am Inn besucht hat. Dort wurde zum ersten Mal eine umfassende militärische Unterstützung für Israel vereinbart. Diesem Denken folgten alle Bundesregierungen bis heute, nicht nur mit der Lieferung von Material, Schiffen und anderem, sondern auch in Form eines guten bilateralen Austauschs.
Es ist richtig: Einen dauerhaften Frieden und eine Lösung des Grundkonflikts zwischen Israelis und Palästinensern kann es nach unserem Verständnis nur mit zwei stabilen Staaten geben. Das ist auch im Interesse Israels. Wir alle müssen unseren Beitrag dazu leisten. Deswegen kann man beim Militärischen nicht stehen bleiben; man kann es aber auch nicht ausklammern. Wir müssen einen sehr aktiven Beitrag leisten, um eine dauerhafte Regelung für beides zu schaffen. Der Oslo-Prozess ist leider verbraucht und auch durch die unzureichende Fähigkeit und Bereitschaft der palästinensischen Seite, einen verlässlichen Beitrag zu leisten, nicht vorangekommen. Er muss nun wieder aufgelegt werden, zum Beispiel in Genf oder jeder anderen Stadt der Welt, die ein Forum dafür bieten kann. Dies kann nur mit dem Verzicht auf regionale Hegemonievorstellungen von iranischer, russischer oder welcher Seite auch immer einhergehen.
Auf demselben Boden wächst übrigens auch die Boykottbewegung, über die wir heute schon gesprochen haben. Hier muss Die Linke noch einiges klarstellen; das sehe ich bis heute nicht. Wer Boykottbewegungen unterstützt, nimmt die Plakate des 1. April 1933 wieder auf, auf denen stand: „Kauft nicht bei Juden!“ – Das ist eine völlig inakzeptable, zu verwerfende und zutiefst antisemitische Verhaltensweise.
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Im Augenblick ist es besonders wichtig, zu verhindern, dass der Iran und andere regionale Mächte ein Atomwaffenarsenal bekommen. Deswegen müssen wir alles tun, dass das Nuklearabkommen mit dem Iran hält. Wir wünschen allen Europäern, insbesondere der Bundeskanzlerin, in den nächsten Tagen eine gute Resonanz in den Gesprächen mit denjenigen, die darüber mitentscheiden. Israel braucht auch eine starke konventionelle Verteidigungskraft. Der Frieden mit den alten Kriegsgegnern Ägypten und Jordanien war erst möglich, nachdem Friedensverträge – im Sinne von Yitzhak Rabin – abgeschlossen wurden.
Israel ist für uns heute Kooperationspartner in technologischer, ziviler und militärischer Hinsicht und Forschungsland Nummer eins. Eine gute Zusammenarbeit im militärischen und nachrichtendienstlichen Bereich dient sowohl den Interessen Israels als auch Deutschlands. So hat die Bundeswehr in Afghanistan auf sehr erfolgreiche Weise mit der Drohne Heron Aufklärungseinsätze durchgeführt. Die verbesserte israelische Drohne Heron TP wird bei europäischen Streitkräften ebenso gute Dienste leisten. Auch im Bereich der Cybersicherheit besteht eine enge Zusammenarbeit.
Ich bedanke mich, dass sich die Bundeswehr und die israelischen Streitkräfte darüber hinaus gemeinsam mit Werten wie Humanität, Geschichtsbewusstsein und Toleranz befassen und sich in diesem Bereich sehr, sehr stark engagieren, wie viele andere in der deutschen Zivilgesellschaft. Ich denke an die vielen Bemühungen, palästinensische und israelische Familien, die oft jahrelang nicht miteinander sprechen, zusammenzubringen. Ich kann mich an ein gutes Projekt der Hanns-Seidel-Stiftung erinnern, das vor vielen Jahren ins Leben gerufen wurde.
Herr Kollege Schmidt, darf ich Sie auf die abgelaufene Redezeit hinweisen?
Ja, Herr Präsident. – Herzlichen Dank den Israelis dafür, dass sie uns seit 70 Jahren ihre Freundschaft – nach schwierigem Beginn und mit schwerer historischer Last – anbieten und uns die Hand gereicht haben. Wir sollten sie nehmen, und wir haben sie genommen.
Dem Staat Israel wünsche ich alles Gute für die Zukunft.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Beatrix von Storch, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Verhältnis Deutschlands zu Israel wird immer ein besonderes sein. Mein Parteifreund Andreas Kalbitz, der Fraktionsvorsitzende der AfD in Brandenburg, hat es gestern so formuliert:
Der Holocaust als singuläres Verbrechen der deutschen Geschichte verpflichtet uns zu einer besonderen Verantwortung gegenüber Israel.
Deswegen, Herr Kauder, ist hier und heute kein Platz für parteipolitische Instrumentalisierung.
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Das zeigt, was Ihnen wichtig ist. Es ist nicht der geschlossene Kampf gegen den Antisemitismus, um sich geschlossen hinter Israel zu stellen.
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Das lehnen wir ab.
Wir teilen dieselbe jüdisch-christliche Zivilisation.
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Millionen von Christen sind froh und dankbar, dass der Zugang zu den heiligen Stätten in Israel, in Jerusalem in den Händen Israels und nicht in jenen der Hamas liegt. Wir begrüßen, dass sich die Bundesregierung in ihrem Antrag dem Existenzrecht Israels verpflichtet erklärt und dazu bekennt. Das allerdings wäre glaubwürdiger, wenn die Bundesregierung nicht gleichzeitig mit Millionen von Steuergeldern Judenhass und Israelfeindschaft im Nahen Osten mit deutschen Steuergeldern finanzierte.
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Die UNRWA, das umstrittene UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten, ist im Gazastreifen praktisch ein Teil der Infrastruktur der Hamas. In den UNRWA-Schulen wird das Existenzrecht Israels konsequent geleugnet. Auf Karten der UNRWA-Schulbücher existiert der Staat Israel nicht; Israel erscheint nur mit der Palästinenserflagge, und Städte wie Tel Aviv sind gar nicht verzeichnet. Märtyrer, also Terroristen und Selbstmordattentäter, werden als Helden verklärt. UNRWA-Lehrer aus dem Gazastreifen, aus Syrien und Libanon feiern die zehn besten Zitate von Adolf Hitler auf Facebook; sie leugnen den Holocaust und fordern öffentlich: Tötet die Siedler! – Das sind nur wenige von Dutzenden Beispielen, die UN Watch zusammengestellt hat.
Wer sich also fragt, woher der Hass gegen Juden und gegen Israel kommt, der hat hiermit die Antwort: Daher kommt er – mitfinanziert von deutschem Steuergeld.
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Während Donald Trump die Zahlungen deswegen eingefroren hat, hat die Bundesregierung die deutschen Zahlungen immer weiter aufgestockt. Seitdem die Bundeskanzlerin amtiert,
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sind die Zahlungen von 3 Millionen Euro auf 80 Millionen Euro gestiegen. Wir lehnen das ganz klar ab.
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Martin Klingst hat am 22. Januar 2018 in der „Zeit“ geschrieben:
UNRWA ist zu einer Krake geworden. Gegründet, um ein drängendes Problem zu lösen, ist das Hilfswerk inzwischen selber ein Problem.
Das Wegschauen der Bundesregierung hat gravierende Folgen. Die Radikalisierung durch die Indoktrinierung in den UNRWA-Schulen trägt traurige Früchte. Der Gründer der Bewegung „Marsch der Rückkehr“, Issam Hammad, hat angekündigt, dass Millionen von UNRWA-Flüchtlingen im Mai an die israelische Grenze marschieren werden. Falls Israel seine Grenzen schützt, droht Hammad mit einem – wörtlich – „Dritten Weltkrieg“. Die Zukunft Israels hängt von dem Schutz seiner Grenzen ab. Eine Welt offener Grenzen ist mit dem Existenzrecht Israels nicht vereinbar.
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Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, halten Sie nicht nur Sonntagsreden! Herr Kauder, Sie haben gesagt: Wir stehen an der Seite Israels. Schreiben Sie nicht nur Resolutionen auf Papier, sondern handeln Sie auch im Geiste dieser Resolution.
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Hier gilt das besonders. Sie können nicht einerseits mit großen Worten den Antisemitismus beklagen und andererseits gleichzeitig 80 Millionen Euro an diejenigen geben, die Israel von der Landkarte fegen wollen.
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Frau Bundeskanzlerin – leider ist sie nicht mehr da –, ich sage Ihnen trotzdem bei allem gebotenem Respekt: Das ist vollkommen verlogen. Folgen Sie Donald Trump, stellen Sie alle Zahlungen an die UNRWA so lange zurück, bis sichergestellt ist, dass kein Cent mehr für Judenhass ausgegeben wird oder an Hamas-Terroristen fließt! Das Existenzrecht Israels ist an dieser Stelle nicht abstrakt; es ist sehr konkret. Die Welt wird Sie daran messen und wir auch.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Martin Schulz, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Idee, dass die Juden, die über Jahrhunderte unter Pogromen und Verfolgung und Ausgrenzung zu leiden hatten, in dieser Welt eine Heimstatt haben und zurückkehren können sollten in das Land ihrer Väter, ist älter als der Staat Israel. Die zionistische Bewegung gab es vorher. Aber die Schoah, dieser Zivilisationsbruch ohnegleichen, machte die Verwirklichung dieser Idee zur zwingenden Notwendigkeit. Nie mehr sollte ein Jude, nie mehr sollte eine Jüdin in der Welt Angst haben, keine Zuflucht, keine Heimstatt zu finden. Und in der Tat: Der israelische Staat gibt den Juden in aller Welt die Garantie, dass sie einen Ort der Zuflucht, eine Heimstatt haben. Er ist also die sichere Burg für alle Juden, aber auch die Heimstatt der arabischen Israelis. Auch sie sind ein Teil des Staates Israel, dessen Geburtstag wir in diesen Tagen feiern.
Gerade Juden können wegen ihrer besonderen Verfolgungsgeschichte besser als andere nachvollziehen, was es heißt, verfolgt zu werden, was es heißt, keine Heimat zu haben, was es heißt, wenn dir entgegenschallt: Ihr gehört nicht zu uns. – Auch deshalb haben sich große Männer und Frauen dieses israelischen Staates immer wieder für den Frieden, für die Zweistaatenlösung, für das Gemeinsame eingesetzt. Yitzhak Rabin, meine Damen und Herren, hat für diese Idee nicht nur den Friedensnobelpreis bekommen, sondern er hat dafür auch mit seinem Leben bezahlt.
Aber jeder Jude und jede Jüdin und jeder Mann und jede Frau in der Welt wissen heute: Es gab einen Staat, der das Gegenteil wollte, der die Vernichtung der jüdischen Existenz zum Ziel seines staatlichen Handelns erhoben hatte. Die Rassengesetze von Nürnberg und der Vernichtungswille von Hitlers Mörderbanden luden eine unendliche Schuld auf die Schultern unserer Nation. Die Männer und Frauen, die nach dem Ende dieser Verbrechensgeschichte mit dieser Schuld umgehen mussten, fassten übrigens fast zeitgleich mit der Gründung des israelischen Staates bei dem Entstehen unserer Bundesrepublik Deutschland einen Entschluss, nämlich als Artikel 1 in die Verfassung hineinzuschreiben: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Damit, genau mit dieser Entscheidung im Parlamentarischen Rat, symbolisierten sie eine Abkehr von der Politik, die die Menschenwürde in nie gekannter Art und Weise zu zerstören versucht hatte. Sie symbolisierten eine Abkehr von dieser Vergangenheit. Wir, die wir heute die Bürgerinnen und Bürger eines modernen und aufgeklärten Deutschlands sind, und wir alle hier in diesem Raum, die wir die Repräsentanten unserer Nation sind, müssen uns über eines im Klaren sein: Es war ein definitiver Trennungsstrich, den die Verfassungsmütter und Verfassungsväter zogen, von einer anderen Geschichte unseres Landes. Und dieses Land, die Bundesrepublik Deutschland, die auf dieser Verfassungsgrundlage entstand, begann anfänglich zögerlich, aber später mit immer größerer Intensität, zu erklären, dass die Existenz Israels und die Sicherung der Existenz dieses Landes Staatsziel der Bundesrepublik Deutschland sein muss, des Landes, auf dessen Grund und Boden eine andere Regierung zuvor die Vernichtung der jüdischen Existenz zum Staatsziel erhoben hatte. Mit der Existenz Israels und der Anerkennung seiner Sicherheit symbolisiert unser Land die definitive Abkehr von den Verbrechen und von der Geisteshaltung der Verbrecher, die unser Land und die Welt ins Unglück gestürzt haben.
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Das, meine Damen und Herren, ist die eigentliche Verbindung zwischen dem Existenzrecht Israels, das wir als Deutsche garantieren, und unserer eigenen Entwicklung als Staat. Diese Staatsräson ist nicht nur deutscher, sondern auch europäischer Auftrag. Mehr noch: Die Juden, aber auch alle anderen Minderheiten zu schützen, ist gemäß globalem Völker- und Menschenrecht Auftrag aller friedlichen Nationen. Das ist die Verpflichtung, die sich aus der Schoah ergibt. Und deshalb – ja – ist es unerträglich, wenn Juden heute noch immer und insbesondere bei uns in Deutschland bedroht werden oder das Existenzrecht Israels infrage gestellt wird.
Meine Damen und Herren, indem wir Israel schützen, schützen wir uns selbst vor den Dämonen der Vergangenheit unseres eigenen Volkes.
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Deshalb gibt es allen Grund für uns, die Existenz Israels am 70. Jahrestag zu feiern.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Djir-Sarai, FDP.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die deutsch-israelischen Beziehungen sind von herausragender Bedeutung. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir heute auf exzellente deutsch-israelische Beziehungen zurückblicken können. Und wir können uns glücklich schätzen, dass wir in diesem Jahr den 70. Geburtstag des Staates Israel gemeinsam feiern können. Für die deutsche Außenpolitik sind die Sicherheit und das Existenzrecht des Staates Israel unverhandelbar, nicht nur wegen der historischen Verantwortung, sondern weil Israel die einzige Demokratie in einer gefährlichen und instabilen Region ist.
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Meine Damen und Herren, gerade in diesen Tagen und Wochen ist es wichtig, dass wir zusammenstehen und ein Zeichen setzen. Wir erleben in Deutschland zurzeit eine ernsthafte Debatte über Antisemitismus. Wir diskutieren wieder darüber, ob es gefährlich ist, in deutschen Großstädten eine Kippa zu tragen. Jüdische Einrichtungen stehen permanent unter Polizeischutz. Kinder werden in der Schule wegen ihrer jüdischen Herkunft beschimpft. Und bei den sogenannten Al-Quds-Demonstrationen hier in Berlin werden sogar Israel-Flaggen verbrannt. Ob Einzelfall oder nicht – diese Zustände sind inakzeptabel, unhaltbar und müssen deutlich beim Namen genannt werden.
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Es wird Zeit, meine Damen und Herren, dass man nicht nur davon redet, wie gut die Beziehungen zu Israel sind, wie wichtig der eigene jüdische Staat ist und wie groß unsere historische Verantwortung ist. Es wird Zeit, dass wir uns tatsächlich tatkräftig für unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger einsetzen: innenpolitisch in Deutschland und Europa und außenpolitisch in Israel. Das heißt zum einen, dass die Bundesregierung und wir alle aufgefordert sind, wirksame Maßnahmen gegen den aufkeimenden Antisemitismus in Deutschland und Europa zu ergreifen. Und das bedeutet zum anderen, dass wir uns mit außenpolitischem Blick noch stärker in die Lage Israels versetzen müssen. Ich habe gelegentlich den Eindruck, dass sich dem in den letzten Jahren viele zunehmend verweigert haben.
Ja, Israel ist militärisch und wirtschaftlich stark. Aber es ist auch ein kleines Land – so groß wie Hessen –, umgeben von Feinden, die sich nichts lieber als seine Vernichtung wünschen. Die Bürgerinnen und Bürger Israels stehen tagtäglich vor realen Bedrohungen. Was uns weit weg erscheint, ist für sie unmittelbare Realität. Deswegen ist es wichtig, dass Israels Argumente gehört werden. Wenn die Sicherheit Israels für Deutschland wirklich unverhandelbar ist, dann müssen die israelischen Interessen auch bei internationalen Abkommen, wie dem Atomabkommen mit dem Iran, oder bei außenpolitischen Debatten im Nahen und Mittleren Osten stets berücksichtigt werden.
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Hier darf auch in den nächsten 70 Jahren unsere Verantwortung nicht schwinden.
Meine Damen und Herren, dass wir heute den 70. Geburtstag des Staates Israel politisch gemeinsam feiern können, ist eine großartige Sache. Dazu sagen wir: Mazel tov, Israel!
Ich wünsche mir, dass die nächsten 70 Jahre vor allem Jahre des Friedens und der Sicherheit sein werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Jetzt hat das Wort die Kollegin Dr. Frauke Petry.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Nicht nur hinstellen und so tun, als ob, nicht nur reden, sondern handeln – das ist wichtig. Wir wollen sehen, was die Realität davon zeigt. Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass die Gründung Israels das Resultat einer Mehrheit der Vereinten Nationen war. Die Bemühungen, eine Heimstatt für die Juden zu schaffen, sind jedoch wesentlich älter und gehen auch – was viele nicht wissen – auf gemeinsame Bemühungen von Theodor Herzl und dem letzten deutschen Kaiser, Wilhelm II., zurück.
Deutschland hat in den vergangenen Jahrzehnten zweifelsohne viel getan, um der historischen Verantwortung Taten folgen zu lassen. Die Frage aber, die wir heute stellen müssen, ist: Was müssen wir heute und morgen tun? Anstatt an alle zu appellieren, was wir gestern bei der Demonstration in der Fasanenstraße getan haben, müssen wir ganz klar benennen, wo die Judenfeinde in Deutschland und außerhalb Deutschlands sind. An alle diesen Appel zu adressieren, heißt, Herr Kauder, ihn an niemanden zu adressieren.
Deswegen, sehr geehrte Bundeskanzlerin – in Abwesenheit –: Sorgen Sie dafür, dass die Finanzierung des arabischen und palästinensischen Terrorismus, auch durch Sie, beendet wird! Seien Sie ehrlich und nicht so verschwommen wie in Ihrem Antrag! Kritisieren Sie nicht nur mit lapidaren Worten die Boykottbewegung gegen Judäa und Samaria! 90 Prozent des Europäischen Parlamentes haben im Jahr 2013 für diesen Boykott gestimmt, also waren auch Abgeordnete der konservativen Parteien, der liberalen Parteien und auch der Sozialisten darunter. Protestieren Sie und erklären Sie öffentlich, dass der sogenannte Marsch der Rückkehr der Hamas am Ende nur ein Aufruf war, Frauen und Mädchen als blutigen Schutzschild gegen Israel zu benutzen.
Und: Ja, meine Damen und Herren, beharren Sie auch nicht politisch auf einer Zweistaatenlösung; denn Jahrzehnte des israelisch-palästinensischen Konfliktes zeigen, dass diese ganz offensichtlich nicht funktioniert. Lernen wir aus Israels Erfahrungen, dass Freiheit und Demokratie nur mit kontrollierten und gesicherten Grenzen existieren können. Wenn Sie all das beherzigen, dann sichern wir die Heimstatt des auserwählten Volkes Jahwe in Israel und auf der ganzen Welt.
Herzlichen Dank.
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Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Roderich Kiesewetter, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir erleben heute eine sehr beherzte und auch mutige Debatte. Zum Abschluss dieser Stunde der historischen Ermunterung und des Aufbruchs möchte ich zwei Gedanken in den Mittelpunkt stellen, die uns die nächsten Jahre bewegen sollen.
Wenn wir gemeinsam an der Seite Israels die Zukunft gestalten wollen, so müssen wir bei uns im eigenen Lande anfangen, uns sammeln und gemeinsam mit unseren Partnern für die Sicherheit um Israel herum sorgen.
Eines hat die heutige Debatte gezeigt: Wir dürfen niemals müde werden, uns für die deutsch-israelische Freundschaft einzusetzen. Wir dürfen niemals müde werden, uns gegen den Antisemitismus einzusetzen, und wir dürfen niemals die deutsch-israelische Freundschaft als selbstverständlich ansehen.
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Es gibt eine Organisation, die sich seit Jahrzehnten für die deutsch-israelische Aussöhnung einsetzt: die Deutsch-Israelische Gesellschaft. Ihr Präsident, Hellmut Königshaus, ist heute hier. Ich finde es gut, dass er hier ist.
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Die Gesellschaft, in der viele von uns Mitglied sind, ist aber nicht das Alibi für die deutsch-israelische Aussöhnung. Sie ist der Katalysator. So, wie wir uns gemeinsam für die deutsch-israelische Freundschaft einsetzen, müssen wir bei uns anfangen und Zivilcourage pflegen. Wir müssen junge Schülerinnen und Schüler ermutigen, einzuschreiten, wenn sie auf dem Schulhof Unrecht sehen. Wir müssen Lehrerinnen und Lehrer unterstützen, wenn sie sich alleine gelassen fühlen, sodass sie mutig Mängel benennen und Fehler ansprechen. Wir dürfen nicht in eine Lethargie verfallen und sagen: Das werden schon irgendwelche Medien richten, oder irgendjemand wird es tun. – Wir alle sind gefordert, es nicht hinzunehmen, wenn Antisemitismus um sich greift, wenn Israel zerstört und wenn die deutsch-israelische Freundschaft ausgehöhlt werden soll. Hier gehört es zur Zivilcourage, uns dagegen zu stemmen und nicht müde zu werden, die Dinge beim Namen zu nennen.
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Zur Zivilcourage gehört es aber auch, mitzuhelfen, dass Israel nicht immer isoliert betrachtet wird, indem wir zeigen, was Israel in der Region leistet: bei der Unterstützung Jordaniens, bei der versuchten Aussöhnung mit Saudi-Arabien, um gemeinsam auf die Palästinenser einzuwirken. Es ist auch Aufgabe der arabischen Staaten, die Palästinenser aus ihrer Geiselhaft zu lösen und mitzuhelfen, dass die Palästinenser sich einigen können. Wir stehen auf der Seite der Zweistaatenlösung. Dazu gehört aber auch, dass die arabischen Staaten die Palästinenser dazu befähigen und sie nicht weiterhin spalten.
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Dazu gehört aber auch, dass wir, wenn wir – wie im Titel unseres Antrags – von „zukunftsgerichteter Freundschaft“ sprechen, alles tun, um die Sicherheit in der Region zu verbessern. Ich will es anders ausdrücken: Zur Staatsräson Deutschlands gehört es, dass wir die Sicherheitsrisiken für Israel in der Region eindämmen, dass wir unser Engagement einer breiteren Öffentlichkeit verdeutlichen. Wir müssen zeigen, was die Bundesrepublik Deutschland gemeinsam mit Partnern in Jordanien, im Libanon und im Irak leistet, übrigens nicht nur militärisch, aber auch, übrigens nicht nur mit Nichtregierungsorganisationen und starker Entwicklungshilfe, sondern auch in der Zusammenarbeit mit Schulen, in der Zusammenarbeit mit Aussöhnungsprojekten und bei der Wiederherstellung stabiler Regierungsformen, letztlich auch bei der Unterstützung des Genfer Friedensprozesses für Syrien.
Ich möchte abschließend einen ganz persönlichen Punkt nennen. Es ist die Frage, wie wir unseren Kindern beibringen, was die deutsch-israelische Verantwortung bedeutet. Ich habe es selbst als Zwölfjähriger erlebt, als wir im Gemeinschaftskundeunterricht die Konzentrationslager auf dem Boden der damaligen Bundesrepublik Deutschland herausfinden sollten. Ich tat mich ungeheuer schwer, zu akzeptieren, dass Dachau vor den Toren der blühenden Stadt München liegt. Für mich war es als Zwölfjähriger nicht nachvollziehbar, dass es das Dachau war, wo Hunderttausende Menschen nicht nur ihre Würde, sondern auch ihr Leben und ihre Zukunft verloren haben. Für mich war das nicht nur das Schlüsselerlebnis, das mich dazu bewegte, nach Dachau zu fahren und später, als junger Leutnant an der Universität der Bundeswehr, mit Überlebenden in Dachau zu diskutieren, sondern es war für mich auch das Schlüsselerlebnis, das mir zeigte, dass das Grauen vor der eigenen Haustür, vor den blühenden Städten, in unserer unmittelbaren Nachbarschaft geschehen ist. Wir müssen alles tun, damit dieses Grauen nicht vergessen wird!
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Das Erinnern muss die Herzen der Menschen bewegen, und wir müssen mit kluger Ausbildung, mit Betroffenmachen, mit der Art und Weise, wie wir auf junge Menschen zugehen, deutlich machen: Hier ist etwas in unserer Geschichte, was wir anderen Ländern ersparen wollen, was wir unseren Kindern, unseren Enkeln, unserem eigenen Land in Zukunft ersparen wollen, was wir, um eine Wiederholung oder Verharmlosung zu verhindern, niemals vergessen dürfen.
Wenn uns das gelingt, dann ist die Freundschaft mit Israel, wie es vorhin sehr klar und schön gesagt wurde, der Ankerpunkt unserer eigenen Existenz. So wie Israel der Anker für Demokratie und Stabilität im Nahen Osten ist, brauchen wir aus unserer eigenen Geschichte heraus einen Ankerpunkt für Zivilcourage, damit wir unseren jungen Menschen Mut machen können, für Minderheiten, für die Freiheit, für das Recht und für die Selbstbestimmung auch unseres Landes einzustehen.
Herzlichen Dank.
({5})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 19/1823 mit dem Titel „70 Jahre Gründung des Staates Israel – In historischer Verantwortung unsere zukunftsgerichtete Freundschaft festigen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Das sind die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, AfD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Linke enthält sich. Dann ist der Antrag angenommen.
Wir stimmen über den Antrag der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke auf Drucksache 19/1850 mit dem Titel „70 Jahre Staat Israel“ ab. Wer stimmt für diesen Antrag? – Das sind die antragstellenden Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Wer stimmt dagegen? – CDU/CSU, SPD und FDP. Wer enthält sich? – AfD. Der Antrag ist damit abgelehnt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es soll um Gerechtigkeit gehen,
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aber nicht um die große, die ganze Welt umfassende, von der sehr häufig in diesem Hause die Rede ist. Iustitia fiat, pereat mundus. Die Erde, oder zumindest dieses Land, möge ruhig zugrunde gehen, die Hauptsache ist, es geschieht der Gerechtigkeit zuliebe.
Es soll um konkrete Gerechtigkeit gehen, die man in Zahlen ausdrücken kann. Wir stellen uns einen Steuerpflichtigen vor, der im Jahr 0 ein zu versteuerndes Einkommen von 40 000 Euro hat. In den anschließenden zwölf Jahren erhält er jährlich eine Lohnerhöhung von jeweils 2 Prozent. Dieser Vorgang soll begleitet sein von einer jährlichen Inflationsrate von ebenfalls 2 Prozent, das Ideal der EZB, was diese Preisstabilität nennt.
Im Jahr 12 erreicht der Pflichtige, wie das im Fachjargon heißt, dann ein Einkommen von gut 50 000 Euro. Ohne dass er sich dessen bewusst ist, hat er in der ganzen Zeit keinerlei realen Einkommenszuwachs erzielt; denn die Inflation hat seine jährlichen nominalen Einkommenszuwächse exakt neutralisiert. Sein Realeinkommen ist also genauso hoch wie zwölf Jahre zuvor; wenigstens, so glaubt er, wenn er die Wirkung der Inflation verstanden hat, habe er seinen Lebensstandard erhalten.
Jetzt kommt die Lohn- bzw. Einkommensteuer ins Spiel. Sie nimmt keinen Bezug auf die unveränderte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Pflichtigen. Die Einkommensteuer tut stattdessen so, als hätte der gutgläubige Mensch Jahr für Jahr tatsächliche Lohnzuwächse gehabt und würde nunmehr im Jahr 12 ein Einkommen erzielen, das 25 Prozent höher liege als im Jahr 0. Die 800 bis 1 000 Euro, die der Steuerbürger jährlich auf dem Papier zusätzlich verdiente, behandelt der Steuerfiskus wie reales zusätzliches Einkommen und besteuert sie mit etwa 40 Prozent. Das heißt, der arme Mann verliert jährlich etwa 300 Euro an Kaufkraft, über die zwölf Jahre also fast 4 000 Euro.
({1})
– Ganz praktisch. Kaufkraft ist so unheimlich praktisch; ich weiß gar nicht, ob Sie sich das vorstellen können.
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Das besonders Ungerechte daran ist, dass dieser Effekt nur die Menschen betrifft, die ein Einkommen bis 53 000 Euro erzielen; denn höheres Einkommen wird einheitlich linear mit circa 45 Prozent besteuert. Diese Population ist nicht betroffen.
Dies alles passiert, ohne dass der Gesetzgeber öffentlich sichtbar tätig wird. Die GroKo schreibt daher, diese weitverbreitete Unwissenheit gutgläubiger Menschen ausnutzend, in Zeile 2 437 ihres Vertrages:
Wir werden die Steuerbelastung der Bürger nicht erhöhen.
Sie tut dies, obwohl sich zwischen 2011 und 2016 durch heimliche Steuererhöhungen die Staatseinnahmen um 33,5 Milliarden Euro erhöht haben und von 2017 bis 2030 um 315 Milliarden Euro erhöhen werden.
({3})
Die Botschaft, ohne Steuererhöhungen die nächsten vier Jahre regieren zu wollen, ist ein Fake.
({4})
Im Netz müsste der „Wahrheitsminister“ diesen Fake löschen lassen.
Im Koalitionsvertrag steht:
Wir halten an der bewährten Übung fest, alle zwei Jahre einen Bericht zur Entwicklung der kalten Progression vorzulegen und den Einkommensteuertarif im Anschluss entsprechend zu bereinigen.
Hört! Hört! Von dieser Übung ist bisher nichts bekannt geworden,
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wenngleich CDU und FDP seit vielen Jahren dies in ihren Wahlprogrammen versprochen, aber niemals gehalten haben.
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– Wenn Sie am Kinderfreibetrag rumgefummelt haben oder sonst was, ist das eine völlig andere Geschichte.
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung schreibt in seinem Jahresgutachten 2017/2018 – ich zitiere –:
Mit einer Tarifreform der Einkommensteuer sollten Mehreinnahmen aus der Kalten Progression zurückgegeben werden.
Zumal „vor allem die Bezieher mittlerer Einkommen“ durch sie belastet werden.
Neben diesen heimlichen Steuererhöhungen durch gesetzgeberische Unterlassung plant die neue Regierung weitere Steuererhöhungen durch aktive Gesetzesänderungen. Sie will die Abgeltungsteuer auf Zinserträge abschaffen und damit die ohnehin unwirtschaftlichen Zinserlöse der Sparer einem individuell höheren Steuersatz unterwerfen. Den enteignenden Null- und Minizinsen der EZB für alle Formen der Geldanlagen will diese Regierung noch eine zusätzlich enteignende Besteuerung hinzufügen. Und dies alles mit der Behauptung: Wir werden keine Mauer bauen, Entschuldigung, wir werden die Steuerbelastung der Bürger nicht erhöhen.
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Und was sagt der Sachverständigenrat hierzu? Ich zitiere: „Der Sachverständigenrat spricht sich“ ausdrücklich „gegen die Abschaffung der Abgeltungsteuer … aus.“
Zusätzlich hält die neue GroKo „an dem bisherigen Ziel der Einführung einer Finanztransaktionsteuer … fest“, wie sie im Koalitionsvertrag schreibt. Das ist ein weiterer Plan zur Steuererhöhung durch Neuerfindung einer Steuer.
Wir werden also im unglücklichsten Falle vier Jahre massiver Steuererhöhungen erleben, statt Gerechtigkeit und finanzwirtschaftlicher Vernunft konfiskatorische Begehrlichkeit.
({8})
Dies alles läuft ab vor dem Hintergrund einer sprudelnden Einkommensteuer, der größten Einnahmequelle dieses Gesamtstaates, die nicht zuletzt wegen der kalten Progression sprudelt. Während das Wirtschaftswachstum von 2006 bis 2016 jährlich durchschnittlich nur 1,3 Prozent betrug – also ein Boom, wie wir seit Tagen, Wochen und Monaten hören –, stieg das Aufkommen der Einkommensteuer zwischen 2010 und 2016 jährlich um 5 bis 8 Prozent. Das führte dazu, dass das Aufkommen der Einkommensteuer in diesem kurzen Zeitraum um 50 Prozent angewachsen ist.
Die heimlichen Steuererhöhungen zur überproportionalen Staatsfinanzierung sind naturgemäß seit Jahrzehnten Thema in vielen Staaten. Gut funktionierende Demokratien haben seit langem Lösungen gefunden. Die klassische und angemessene Lösung ist die jährliche Indexierung der Tarife und der Freibeträge. Sie haben eine Überprüfung angesprochen; wir sind sehr gespannt, wie Sie das machen werden. In der Schweiz ist das bereits qua Bürgerentscheid in der Verfassung so geregelt. Aber auch die USA, Kanada, Schweden, Norwegen, Großbritannien, Frankreich und die Niederlande haben solche Lösungen. Wir befinden uns mit Italien und Griechenland im Klub der Etatisten – keine guten Vorbilder, meine Damen und Herren.
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Die AfD fordert daher: Schluss mit dieser Form schlechter Staatsführung. Heimliche Steuererhöhungen sind unmoralisch, also müssen sie unterbunden werden.
({10})
Wir bitten um Zustimmung zu unserem Antrag, gerne nach Beratung im Ausschuss.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans Michelbach, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion ist einer stabilen Finanzpolitik verpflichtet, einer Finanzpolitik, deren Eckpunkte lauten: Entlastung von Bürgern und Unternehmen, Stärkung der öffentlichen Investitionen und Augenmaß bei den Ausgaben. Diese Finanzpolitik hat zu mehr Wachstum, Arbeit und Beschäftigung in unserem Land beigetragen. Allein sie hat uns eine Haushaltslage beschert, bei der wir ohne immer neue Schulden auskommen. Diese Finanzpolitik ist eine Erfolgsgeschichte.
({0})
Die Bürgerinnen und Bürger haben von dieser verantwortungsbewussten Steuer-, Haushalts- und Finanzpolitik in vielfacher Weise profitiert. Seit 2015 haben wir die Tarifeckwerte der Einkommensteuer an die festgestellte bzw. erwartete Inflation angepasst. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren.
({1})
Damit haben wir die kalte Progression unterbunden. Zuletzt haben wir die Eckwerte für 2017 um 0,73 Prozent und für 2018 um 1,65 Prozent erhöht. Allein damit entlasten wir unsere Steuerzahler um rund 7 Milliarden Euro. Das ist die Wahrheit in diesem Lande, meine Damen und Herren.
({2})
Zusammen mit weiteren Maßnahmen ergibt sich ein Gesamtentlastungspaket von 25 Milliarden Euro für diese beiden Jahre. Das ist die Situation bei den Steuerzahlungen.
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Das sind 25 Milliarden Euro, die die Menschen in unserem Land mehr in der Tasche haben.
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Das kann sich sehen lassen, und es ist gerecht. Es ist auch für die Zukunft wichtig, dass wir die Bürger im Hinblick auf die Inflation nicht überfordern. Das haben wir im Koalitionsvertrag fest vereinbart – ich zitiere wörtlich –:
Wir werden die Steuerbelastung der Bürger nicht erhöhen. Wir halten an der bewährten Übung fest, alle zwei Jahre einen Bericht zur Entwicklung der kalten Progression vorzulegen und den Einkommensteuertarif im Anschluss entsprechend zu bereinigen.
So steht es im Koalitionsvertrag, meine Damen und Herren. Dazu stehen wir, und daran können uns die Bürger messen.
({5})
Dazu braucht es keiner Aufforderung vonseiten der AfD und schon gar keiner Märchenstunde von Ihnen, Herr Glaser. Wie Sie rechnen, hat die Stadt Frankfurt erlebt.
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Sie, meine Damen und Herren von der AfD, unternehmen hier den neuerlichen Versuch, sich mit fremden Federn zu schmücken, und Sie verbiegen einfach die Wahrheit in unserem Land. Das ist die Situation, die wir hier beschreiben müssen.
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Sie versuchen, sich an etwas dranzuhängen, was längst gängige Praxis ist, in der Hoffnung, die Bürger rechnen das künftig Ihnen zu.
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Dass Sie solche Tricks nötig haben, zeigt die ganze Inhaltsleere Ihrer Politik und Ihres Antrags.
({9})
Dieser Antrag ist das Papier nicht wert,
({10})
auf dem er geschrieben steht. Sie tun mal wieder so, als ob Sie tatsächlich etwas machen.
({11})
In Wirklichkeit tun Sie nur das, was Sie wirklich am besten können, nämlich gar nichts.
({12})
Meine Damen und Herren, die Verhinderung der kalten Progression im Steuerrecht und das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit bleiben unsere wichtigen Beiträge zur Herstellung von Leistungsgerechtigkeit in unserem Land.
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Es kann nicht sein, dass die Menschen in unserem Land mehr leisten, dadurch höhere Bruttoeinkommen erzielen und dann der Fiskus so viel davon wegsteuert, dass die Bürger unter dem Strich am Ende weniger in der Tasche haben. Nein, meine Damen und Herren, das wollen wir nicht, und das geht nicht. Leistung muss sich lohnen, nicht nur für den Fiskus, sondern vor allem auch für unsere Bürgerinnen und Bürger.
Ich sage hier allerdings auch ganz offen: Wir könnten uns weitere Entlastungen für die unteren und mittleren Einkommen in der Zukunft vorstellen. Dazu gehört insbesondere die Anhebung des Eckwertes für den Spitzensteuersatz von rund 54 000 Euro auf 60 000 Euro beim zu versteuernden Einkommen. Wir haben darüber in den Koalitionsverhandlungen konkret verhandelt. Wir halten diese Entlastung weiterhin für möglich und vielleicht auch für durchsetzbar und erforderlich; warten wir es ab.
Steuererhöhungen – ob nun offene oder heimliche – sind und bleiben für die CDU/CSU nicht vertretbar,
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vor allem nicht in einer Zeit, in der die Staatskassen durch den anhaltenden Erfolg bei Wachstum und Beschäftigung gut gefüllt sind. Zu einer erfolgreichen Politik für Mittelstand und Mittelschicht gehören Steuerentlastungen.
Wir müssen deutlich sehen, dass letzten Endes jede Analyse, die untersucht, wie sich die Steuerquote im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt entwickelt, zeigt, dass die Steuerquote von 2016 auf 2017 relativ stabil geblieben ist, sich nämlich nur um 0,1 Prozent erhöht hat. Das heißt, Ihr Argument „Diese Situation hat nichts mit Rekordbeschäftigung und Wachstum, sondern mit einer Überforderung der Bürgerinnen und Bürger zu tun“ ist widerlegt. Die Steuerquote ist, wie gesagt, nur um 0,1 Prozent gestiegen.
Natürlich können wir uns auch eine niedrigere Steuerquote vorstellen, aber Tatsache ist, dass Ihr Argument, dass unsere Finanzpolitik nicht die Ursache für die Rekordbeschäftigung und das Wachstum ist, dadurch einfach widerlegt ist. Das muss man hier noch einmal deutlich festhalten.
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Zu einer erfolgreichen Politik für Mittelstand und Mittelschicht gehören zweifellos steuerliche Anreize, Steuerentlastungen, Steuergerechtigkeit und Steuerentbürokratisierungen. Diese Themen bleiben in dieser Koalition auf der Tagesordnung.
Der Antrag der AfD ist deshalb überflüssig. Wir brauchen keinen Nachhilfeunterricht – von Ihnen schon gar nicht –, sondern wir werden unsere Aufgabe und Verantwortung gemeinsam, sachlich und inhaltlich orientiert wahrnehmen.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner ist der Kollege Markus Herbrand, FDP.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die AfD zeigt mit diesem Antrag aus meiner Sicht, was sie tatsächlich am besten kann, nämlich ganz knapp an den Fakten vorbeizugehen.
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Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie das machen, weil Sie es nicht besser wissen – das wäre schon schlimm genug – oder obwohl Sie es besser wissen. Das wäre aus meiner Sicht noch viel schlimmer.
({1})
Aber das gehört ja ein Stück weit zu Ihrem Geschäftsmodell.
Ich möchte an dieser Stelle aber auch mitteilen: Es ist wirklich schön, zu sehen, dass Sie es schaffen, einen Antrag zu stellen, der keinen Sachzusammenhang zwischen der Migration und der kalten Progression findet.
({2})
Das ist ein Fortschritt; das sollten wir zur Kenntnis nehmen.
Zu den Fakten bei der kalten Progression ist mitzuteilen, dass die kalte Progression bei geringer Inflation kaum eine Rolle spielt. In 2016 gab es kaum finanzielle Auswirkungen durch die kalte Progression. Es gibt also entweder keine Inflation und damit wenig kalte Progression oder eine höhere Inflation und damit kalte Progression. Dann besteht natürlich ein Problem im Tarif, und das müssen wir angehen. Das werden wir auch weiter verfolgen. Im Grundsatz aber gibt es dieses Problem im Augenblick nicht. Es ist eine theoretische Debatte.
({3})
Entgegen Ihren Darstellungen wurden in den vergangenen Jahren sehr wohl Maßnahmen ergriffen. Es ist keinesfalls so, dass wir alle das nur in unseren Wahlprogrammen stehen hätten.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat in den Jahren 2009 bis 2013 einen Gesetzentwurf eingebracht, der die kalte Progression verhindern sollte. Der Bundestag hat diesen Gesetzentwurf verabschiedet. Leider ist das Gesetz im Bundesrat an Rot, Grün und Links gescheitert.
({4})
Diesen Parteien fehlte schon damals der politische Wille zur Entlastung der Bürgerinnen und Bürger. Das ist leider bis heute so geblieben.
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In 2012 ist dann auf Bestreben der FDP die Vorlage eines Steuerprogressionsberichts durchgesetzt worden. Seitdem ist es dem Parlament vorbehalten, im Steuertarif darauf zu reagieren, wie die Inflation sich entwickelt.
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Daraufhin werden Freibeträge angepasst – das muss man der Ehrlichkeit halber sagen –, auch geringfügige Veränderungen im Tarif werden vorgenommen. Die negativen Wirkungen der kalten Progression werden zurzeit so gut wie ausgeglichen.
Nachwirkungen – das festzustellen, gehört auch zur Ehrlichkeit dazu – aus den Jahren 2010 bis 2012 gibt es bis heute. Damals gab es noch keinen Steuerprogressionsbericht. Damals hat der Gesetzgeber nicht reagiert. Da hat im Grunde genommen der Steuerbürger bis heute eine Steuergutschrift aus den Jahren 2010 bis 2012 ausstehen. Vor 2010 gab es keine kalte Progression. Im Augenblick ist es, wie gesagt, eher eine theoretische Debatte.
Was wir aber wirklich brauchen – Herr Michelbach hat es angesprochen –, ist eine Steuerreform, die diesen Namen verdient.
({7})
Die Bretter, die zu bohren sind, sind wesentlich dicker als all das, was hier angesprochen wird. Wer sich an veränderte Bedingungen in der Welt nicht anpasst, der wird auf Dauer Schwierigkeiten haben. Andere Volkswirtschaften – nehmen Sie die USA, nehmen Sie Frankreich, nehmen Sie Großbritannien oder China – reagieren und gehen voran. Wir müssen begreifen, dass Steuerpolitik auch Standortpolitik ist. Das ist bei uns noch gar nicht angekommen.
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Wir müssen die Rahmenbedingungen dafür setzen, dass Investitionen in Deutschland bleiben und nicht abzuwandern drohen. Es gefährdet unseren Wohlstand, wenn wir das nicht angehen.
Es geht dabei – das will ich ausdrücklich sagen – nicht nur um Steuersätze – das ist die geringste aller Debatten –, es geht um die Steuerstruktur, die wir verändern müssen. Wir müssen Abschreibungstatbestände und Abschreibungstabellen an aktuelle Anforderungen anpassen.
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Wir müssen die gewerbesteuerlichen Hinzurechnungstatbestände abschaffen. Wir müssen die unterschiedliche Behandlung von Personengesellschaften und Kapitalgesellschaften bei der Belastung angehen.
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Wir müssen unser Steuerrecht internationalisieren. Wir müssen steuerneutrale Umstrukturierungen ermöglichen.
Es gibt ganz viele Beispiele. Wir werben seit Jahren für einen Tarif auf Rädern, der auch hier angesprochen worden ist. Es gibt viele Beispiele, die Sie alle kennen. Falls Sie da Nachholbedarf haben, stehen wir als Ihre Serviceopposition selbstverständlich immer zur Verfügung.
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Ich weiß, dass viele in diesem Hause lieber heute als morgen eine solche Steuerreform angehen würden. Deshalb appelliere ich an die Kolleginnen und Kollegen: Lassen Sie uns das doch bitte gemeinsam machen. Dabei kann dann auch der Tarif angepasst werden, um die kalte Progression anzugehen. Dann können wir auch das endgültige Aus dieses Problems möglich machen.
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Wir stimmen der Überweisung zu. Der Antrag ist aber keine geeignete Grundlage für Strukturveränderungen im Steuerrecht. Herr Glaser, Sie haben einmal gesagt: Der Antrag ist dünn wie Kaffee. – Das stimmt.
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Jetzt hat das Wort die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer, SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich habe am Dienstag erfahren, dass dieser Antrag nicht, wie vorgesehen, Freitag behandelt wird, sondern heute.
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Gestern Morgen hatte ich ihn immer noch nicht vorliegen.
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Ich gehöre zu denen, die sagen, man sollte sich langfristig vorbereiten können, vor allen Dingen auf anscheinend wichtige Themen, die hier zur Hauptsendezeit debattiert werden sollen.
Ich habe dann den Antrag Mittwochmittag bekommen. Ich habe gedacht: Ich werde es schaffen, mich damit zu beschäftigen. – Er ist dürftige zwei Seiten lang und kam mir vom Inhalt her sehr bekannt vor. Er heißt zwar nicht „Steuermehrbelastung durch kalte Progression“, sondern „Abschaffung der kalten Progression als heimliche Steuererhöhung bei der Einkommensteuer“. Da habe ich mir gedacht: Diesen Titel kennst du irgendwo her. – Ja, ich kannte ihn – von einer Veröffentlichung des ifo-Instituts aus dem Jahr 2016. Leider sind die abgeschriebenen Sätze nicht gekennzeichnet.
({2})
Ich weiß nicht, welchen Grund das hat. Aber ich fand das Ganze doch sehr dünn und einfach. Vor allen Dingen: Sie haben die Untersuchung nicht grundsätzlich wiedergegeben, sondern nur Teile davon. Das verfälscht ein bisschen das, was der Urheber mitteilen wollte.
Aber gehen wir auf die Inhalte ein; denn es gibt immer wieder den Vorwurf, wir würden die AfD-Anträge nicht gezielt behandeln. Das möchte ich jetzt tun.
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Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, keine Zwischenfragen. – Vielleicht sollte ich aber, weil Sie vielleicht Fragen haben, vorher noch etwas erklären. Wir nehmen das Wort „Steuerprogression“ immer in den Mund, aber was bedeutet es eigentlich? Wir haben eine Steuerkurve, die im Prinzip bedeutet: Je mehr man verdient, desto höher ist der Steuersatz, den man zahlt. Das ist von uns so gewollt; es wurde irgendwann einmal so beschlossen. Man hätte es auch anders regeln können: Es gab Parteien hier im Bundestag, die gesagt haben, sie könnten sich vorstellen: 25 Prozent über alles. Auch da würde die Steuersumme mit zunehmendem Einkommen steigen. Aber wir von der SPD haben als Mantra „Starke Schultern sollen mehr tragen“.
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Deswegen finden wir es gut, wenn bei zunehmendem Einkommen auch der Steuersatz steigt.
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Problematisch wird es erst, wenn wir eine hohe Inflationsrate bekommen; denn dann wird das Geld weniger wert. Das heißt, wenn ich auf dem Papier mehr verdiene und mehr Steuern zahle, habe ich trotzdem weniger Kaufkraft. Das ist ein Effekt, der theoretisch eintreten kann. Das ist in den letzten Jahren aber nicht vorgekommen.
Ich habe Daten des Statistischen Bundesamtes mitgebracht – ich nenne immer meine Quellen –: Die Inflationsrate der letzten Jahre lag unter 2 Prozent. In Ihrem Antrag heißt es – das stimmt auch –, dass Draghi 2 Prozent anstrebt. Die wurden aber in den letzten Jahren nicht erreicht. Deswegen hatten wir auch nicht den Effekt der kalten Progression bei uns.
Was wir aber in den letzten Jahren gemacht haben: Wir haben beschlossen, die ganze Entwicklung im Blick zu behalten, und haben deswegen das BMF beauftragt, alle zwei Jahre einen Bericht zur Entwicklung der kalten Progression vorzulegen, was die auch regelmäßig tun. Der letzte Bericht – der zweite Steuerprogressionsbericht – ist vom November 2016. Darin heißt es sinngemäß: Durch die in der letzten Zeit gesetzlich beschlossenen steuerlichen Maßnahmen – ohne Berücksichtigung der kalten Progression der Vorjahre – gibt es zurzeit keine Effekte bei der kalten Progression. – Das habe ich frei wiedergegeben, um nicht zu viel vorzulesen. Das können Sie aber gerne nachlesen.
Das BMF hat uns also schriftlich gegeben: Die Effekte waren in den letzten Jahren nicht da. Wir haben trotzdem gesagt: Wir müssen etwas vorbeugend tun. – Meine Vorredner haben es schon gesagt: Wir haben den Grundfreibetrag angepasst.
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– Dazu komme ich gleich. – Wenn man den Grundfreibetrag anpasst, bedeutet das in unserem Fall: Wir haben ihn erhöht. 2016 betrug der Grundfreibetrag 8 652 Euro pro Steuerpflichtigem. Das ist der Betrag, den man verdienen kann, ohne Steuern zu zahlen. Erst oberhalb dieses Betrags fängt die Steuerpflicht an. 2017 betrug er 8 820 Euro, und 2018 wird er bei 9 000 Euro liegen.
Wir haben die Kurve leider nicht angepasst, sondern nur verschoben – nach rechts.
({3})
– Rechtsverschiebung ist manchmal gut, manchmal schlecht. Hier führt es dazu, dass man mit einem relativ normalen Einkommen – in Anführungszeichen – im Spitzensteuersatz liegt. Das ist vom Effekt her nicht optimal. Deswegen glaube ich, dass wir in Zukunft etwas an der Steuerkurve ändern müssen.
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Wenn man Ihren Antrag weiterliest, kommt man irgendwann zu Ihrem Vorwurf, wir hätten in den letzten Jahren gar nichts gemacht, wir hätten das Thema auch nicht politisch diskutiert, und die Steuererhöhungen, die sich vielleicht irgendwie ergeben haben, seien alle heimlich gewesen. Sie waren leider nicht dabei.
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Aber die, die dabei waren, können bestätigen: Es gab immer Parteien, die hier eingefordert haben: Es muss etwas passieren. Wir müssen etwas machen. Wir müssen auch etwas gegen die kalte Progression tun. – Die FDP hat in den vergangenen Jahren immer darauf hingewiesen. Als Sie selber regiert haben, waren Sie mit der Hotelsteuer leider so beschäftigt, dass Sie das andere nicht mehr anpacken konnten. Aber gut, wir haben es ja, wie gesagt, im Auge behalten.
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– Ja, das ist ein gutes Stichwort. Sie haben gesagt: Das ist im Bundesrat gescheitert. Das ist nämlich das nächste Problem: All das, was wir hier steuerpolitisch beschließen, muss durch den Bundesrat.
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– Nein, nein. Moment. Wir sind ja erst am Anfang der Legislatur. Warten Sie ab, was wir noch alles machen werden. Wir führen darüber regelmäßig grundsätzliche Diskussionen im Bundestag und im Bundesrat; denn wie jeder weiß, führen Einnahmeausfälle, die wir hier beschließen, zu Einnahmeausfällen auch bei den Ländern. Deswegen brauchen wir einen stetigen Dialog, und diesen werden wir auch führen.
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– Zum Soli komme ich noch.
Ich will auf den vorliegenden Antrag weiter eingehen. Sie fordern am Ende so etwas wie einen Tarif auf Rädern; das wurde schon einmal gefordert. Ein solcher Tarif führt allerdings dazu, dass wir eine Inflationsspirale nach unten bekommen; denn wir müssten dann an die Inflationsentwicklung nicht nur die Steuersätze anpassen, sondern auch alles andere wie Mieten, Pachten und Sozialleistungen. Das würde eine Spirale nach unten bedeuten. Das wollen wir nicht.
Was wir wollen: Wir wollen weiter einen Blick auf die Steuerkurve haben. Wir wollen die Bürger nicht zu sehr belasten; das war noch nie unser Ziel. Wir wollen aber diejenigen, die gut verdienen, zum Steuerzahlen bringen. Das werden wir weiterhin im Auge haben. Ansonsten wollen wir Entlastungen nicht bei den Steuern, sondern eher bei den Sozialbeiträgen und beim Soli. Das ist schon angekündigt, das werden wir umsetzen.
Ich hoffe, dass ich es gut erklärt habe. Aber nach mir sprechen noch Kollegen, die vielleicht bestehende Unklarheiten ausräumen werden.
Vielen Dank.
({9})
Jetzt erteile ich das Wort zu einer Zwischenbemerkung dem Kollegen Albrecht Glaser, AfD.
Verehrte Frau Kollegin, da wir zwischen 2010 und 2016 jährlich einen Einkommensteuereinnahmenzuwachs zwischen 5 und 8 Prozent und ein Wirtschaftswachstum von 1,3 bis knapp unter 2 Prozent hatten, werden Sie mir zugeben, dass für die Differenz zwischen diesen zwei Kennlinien eine Erklärung erforderlich ist. Vielleicht können Sie diese noch geben.
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– Schreien Sie doch nicht so herum. Lautstärke ist kein gutes Argument.
Sie sagen, dass ich Zitate gebraucht habe und sie nicht kenntlich gemacht habe. Ich bestreite das und bitte Sie um Beweis für diese These. Ich habe zweimal das Sachverständigengutachten wörtlich zitiert und darauf Bezug genommen. In dem Sachverständigengutachten 2017/18 heißt es, man möge die Einnahmen zurückgeben, die man durch die heimliche Steuererhöhung erlangt hat. Das lässt sich in dem vorgestern veröffentlichten, noch druckfrischen Sachverständigengutachten nachlesen.
Ich habe von der Zinsabschlagsteuer gesprochen. Dazu haben Sie sinnigerweise gar nichts gesagt. Wieso sagen Sie nicht, dass Sie die Steuern dadurch erhöhen, dass Sie die Spareinnahmen in Zukunft dem individuellen Steuersatz und nicht mehr der Abschlagsteuer unterwerfen wollen. Das ist eine gesetzgeberische Steuererhöhung entgegen all dem, was Sie behaupten.
({1})
Sie wollen mit der Börsenumsatzsteuer eine neue Steuer in dieser Legislaturperiode erfinden. Auch dies ist eine Steuererhöhung entgegen Ihrer Aussage, dass Sie keine Steuererhöhungen machen.
Herr Kollege Glaser!
Letzter und abschließender Punkt. Verehrte Frau Kollegin, können Sie mir bitte sagen, was eine Spirale nach unten ist – ich bin sehr interessiert an Spiralen, welcher Art auch immer –, wenn man sowohl den Tarif als auch Freibeträge, Freigrenzen und andere Fixbeträge anpasst. Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie uns das erklärten. Ansonsten halte ich diese Aussage für falsch.
({0})
Frau Kollegin Arndt-Brauer, Sie können antworten.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich hatte Sie namentlich überhaupt nicht erwähnt. Ich hatte gesagt: Der Antrag Ihrer Fraktion ist mit Zitaten aus der ifo-Studie gespickt. Ich habe nicht gesagt, Sie hätten zitiert und die Quelle nicht genannt. Dieses Missverständnis wollte ich ausräumen.
Ich habe in meiner Rede leider keine Zeit mehr gehabt, über alles zu reden, was ich gerne angesprochen hätte. Aber Sie geben mir nun die Möglichkeit, etwas dazu zu sagen. Wenn wir im Moment eine Abgeltungsteuer auf Zinserträge einführen würden, würden wir – so glaube ich persönlich – bei den Zinsen, die im Moment auf Spareinlagen gezahlt werden – es gibt zudem einen Sparerfreibetrag –, die Steuern damit nicht erhöhen; das ist meine persönliche Prognose im Moment. Wenn die Zinsen wieder einmal steigen, mag das anders aussehen. Für uns ist es aber eine Gerechtigkeitsfrage, dass Kapitaleinkünfte genauso besteuert werden wie andere Einkünfte, beispielsweise wie Arbeitseinkünfte.
Was ich mit der Inflationsspirale nach unten gemeint habe, kann ich Ihnen gerne einmal erklären. Aber so viel Zeit wird mir der Präsident jetzt nicht geben. Das können wir im Ausschuss gerne einmal bilateral besprechen. Nur so viel: Diese Spirale gibt es wirklich. Dazu kann ich Ihnen ein paar Studien nennen.
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Ihre Vermutung war richtig, Frau Kollegin. Deswegen erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Michael Leutert von der Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich auf die Haushaltsberatungen, die wir dieses Jahr zweimal durchführen dürfen. Da haben Sie dann genügend Gelegenheit, zu erklären, wie Sie all das, was Sie hier vorschlagen, finanzieren wollen.
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Sie wissen ja: Zu einem Haushalt gehören nicht bloß Ausgaben, sondern auch Einnahmen. Beides sollte möglichst ausgeglichen sein. Sie beglücken uns hier eigentlich immer nur damit, wie Sie Einnahmen reduzieren wollen. Sie haben vorgeschlagen, den Solidaritätszuschlag komplett abzuschaffen. Dies würde minus 18 Milliarden Euro bedeuten. Sie wollen die Mehrwertsteuer drastisch senken. Dies würde mindestens minus 35 Milliarden Euro bedeuten. Ich will noch nicht über diejenigen Ländersteuern – Sie fordern die Abschaffung der Erbschaftsteuer usw. – sprechen, die Sie ebenfalls schleifen wollen.
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Im Übrigen würden Ihre Vorschläge Löcher in die Länder- und Kommunalhaushalte reißen. Das heißt, Sie müssten in Ihren Wahlkreisen erklären, dass kein Geld mehr für Schulen, Kitas, Sport- und Kultureinrichtungen da ist. Auch darauf wäre ich sehr gespannt.
Jetzt schlagen Sie etwas vor, was einen Finanzierungsbedarf von mindestens 5 Milliarden Euro, vielleicht sogar mehr, bedeutet. Ihre Vorschläge würden also ein Minus von ungefähr 60 Milliarden Euro bewirken.
Allerdings positionieren Sie sich bei einem Ausgabeposten bisher klar: Sie wollen bei der Bundeswehr drauflegen, mindestens 30 Milliarden Euro. Sie müssen also eine Finanzierungslücke von 90 Milliarden Euro erklären. Ich bin sehr auf Ihre Vorschläge in den Haushaltsberatungen gespannt.
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Viele Möglichkeiten haben Sie da nicht, außer vielleicht, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales aufzulösen.
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Heute, wie gesagt, legen Sie hier einen Antrag vor, mit dem Sie suggerieren, dass Sie die Einkommensteuer ändern, die damit verbundenen Ungerechtigkeiten ausräumen wollen. Ich will es hier noch einmal klarstellen: Das Prinzip des Einkommensteuersystems, das wir derzeit haben, ist erst einmal gerecht – ich glaube, da sind wir uns alle hier im Haus, wahrscheinlich bis auf Sie von der AfD, einig –, das Prinzip, dass diejenigen, die nicht viel haben, entlastet werden, also wenig oder gar nichts zahlen, und dass die, die mehr haben, auch mehr zahlen.
Streiten werden wir natürlich – das haben wir in der Vergangenheit auch schon gemacht – über die Belastung und die Entlastung der Ränder. Auch wir sagen ganz klar: Wir brauchen die Entlastung. Wir brauchen die Grundfreibeträge, und wir brauchen Maßnahmen wie Kindergeld und Kinderfreibeträge, um denen, die nicht so viel haben, zu helfen.
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Wir brauchen aber auch ganz klar auf der anderen Seite, um das zu finanzieren, die Belastungen. Wir streiten auch darüber: Wie hoch sollen denn die Steuersätze sein, wie hoch soll der Anstieg sein? Wo soll der Spitzensteuersatz verortet sein? Wir als Linke haben die ganz klare Position, dass die Spitzensteuersätze zurzeit zu niedrig sind, dass wir höhere Spitzensteuersätze brauchen.
({5})
Diese Systematik hat automatisch den Effekt – den werden auch Sie nicht ändern können –, dass sich durch geringe Einkommenszuwächse höhere Steuerbelastungen sind dadurch geringere Realeinkommen ergeben; man beschreibt diese Entwicklung mit dem Begriff „kalte Progression“.
Nun legen Sie hier einen butterweichen Antrag vor. Da möchte ich nur auf zwei, drei Probleme hinweisen.
Sie fordern die Bundesregierung auf, hier etwas zu tun. Ich verstehe das überhaupt nicht. Wenn Sie so klug sind und das alles wissen, warum legen Sie dann keinen eigenen Vorschlag vor? Sie können ja einen eigenen Gesetzentwurf schreiben; dann wüssten wir wenigstens, worüber wir diskutieren könnten.
({6})
Aber das machen Sie nicht; denn wenn Sie das machen würden, würden Ihnen die Wählerinnen und Wähler wegrennen.
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Ich kann mich noch daran erinnern, wie Sie im Wahlkampf aufgetreten sind: Sie sagten, Sie wollten hier in Berlin mal richtig aufräumen, und Sie klagten über die Altparteien. Und jetzt legen Sie hier einen Antrag vor, in dem steht, dass Sie die Bundesregierung bitten, „zeitnah“ Modelle einzubringen, „welche geeignet sind, ... möglichst zu vermeiden, mindestens jedoch einen ... äquivalenten Belastungsausgleich“ zu schaffen. Butterweicher kann man es überhaupt nicht mehr formulieren. Sagen Sie doch, was Sie wollen, und dann können wir darüber sprechen.
({8})
Wir müssen ja nur in Ihr Wahlprogramm schauen; dann wissen wir, was Sie wollen. Sie wollen hier nämlich keine Ungerechtigkeit beseitigen, sondern Sie wollen ein im Kern gerechtes Steuersystem durch ein unsolidarisches, ungerechtes Steuersystem ersetzen. Schauen Sie in Ihr Wahlprogramm: Sie wollen eine Flat Tax in drei Stufen. Und das ist ungerecht, wenn alle den gleichen Steuersatz zahlen müssen.
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Darum geht es.
Im Übrigen: Wer das Wort „Gerechtigkeit“ in den Mund nimmt und dabei Solidarität vergisst, der kann nicht über Gerechtigkeit sprechen. In Ihrem Wahlprogramm kommt „Solidarität“ an nur zwei Stellen vor. An einer Stelle sprechen Sie im Übrigen von „finanzieller Solidarität“. Da geht es darum, eine deutsche Volksgemeinschaft zu kreieren, von der Sie andere ausschließen wollen. Ansonsten kommt „Solidarität“ in Ihrem Wahlprogramm überhaupt nicht vor.
Wenn man das alles zusammennimmt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Klar, wir können uns in den Ausschüssen damit weiter beschäftigen, aber eigentlich könnten wir auch heute darüber abstimmen und das ablehnen; denn mir ist schleierhaft, welchen Erkenntnisgewinn wir in den Ausschüssen noch bekommen sollen.
({10})
Recht herzlichen Dank.
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Herzlichen Dank. – Als Nächste für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Lisa Paus.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Herren und vereinzelte Damen von der AfD!
({0})
Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber mit diesem Antrag haben Sie mir eine echte Freude bereitet; denn besser und schöner als mit Ihrem Antrag kann man gar nicht klarstellen, wie aufgeblasen die Debatte um die kalte Progression im Vergleich zur Realität ist. Die kalte Progression ist der Scheinriese in der deutschen Steuerdebatte.
({1})
Warum? Es wurde schon von den verschiedensten Abgeordneten erwähnt: Sie legen uns hier einen Antrag vor, der die kalte Progression zu dem steuerpolitischen Problem Deutschlands macht, und fordern deshalb ihre Abschaffung. So weit, so programmatisch identisch mit FDP und Union. Es scheint Ihnen wichtig zu sein, dass Sie sich steuerprogrammatisch nicht von FDP und Union unterscheiden.
({2})
Gleichzeitig behaupten Sie in Ihrem Antrag, in den letzten Jahren sei überhaupt nichts passiert, wenn, dann sei nur darüber geredet worden; vor Wahlen sei etwas versprochen worden, aber danach überhaupt nichts eingelöst worden. Sie wollen das nun ändern. Nur: Das ist leider völlig falsch. Das hat die Debatte heute auch schon gezeigt.
({3})
Es ist hier im Deutschen Bundestag noch unter Schwarz-Gelb zum einen das Gesetz zur kalten Progression 2012 eingebracht worden. Daraufhin ist 2015 der Erste Steuerprogressionsbericht vorgelegt worden, in dem genau berechnet worden ist, wie das Existenzminimum angehoben werden muss und wie man den Tarif verändern muss, wenn man die kalte Progression nicht möchte. Dazu gab es dann im Juli 2015 auch ein Gesetz zum Ausgleich der kalten Progression von 2014 und 2015. Da wurde berechnet: Ganze 1,4 Milliarden Euro war der Effekt der kalten Progression. Dann gab es 2016 den Zweiten Steuerprogressionsbericht für 2016/2017. Darin wurde für diesen Zeitraum der Progressionseffekt auf 2,3 Milliarden Euro geschätzt. Daraufhin wurde wieder ein Gesetz vorgelegt und beschlossen.
Dass Sie das alles in den letzten Jahren gar nicht mitbekommen haben, dass Sie nicht mitbekommen haben, dass Sie wie alle anderen Bürger in diesem Land ganz konkret entlastet worden sind, dass es also gar keine Progression in diesem Land gab, das zeigt besser, als ich es je hätte erklären können: Nicht die kalte Progression ist das Problem bei der Einkommensbesteuerung in Deutschland, sondern das Problem ist der Tarifverlauf. Den müssen wir ändern.
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In Deutschland zahlen die Bezieher unterer und mittlerer Einkommen zu viele Abgaben und Steuern und die Bezieher oberer Einkommen zu wenige. Dazu passt eine aktuelle Studie der EU-Kommission, die sagt: Die Deutschen sind insgesamt ein glückliches Volk – uns geht es gut –, aber 92 Prozent der Deutschen halten die Einkommensunterschiede für zu groß. – Ich auch, meine Damen und Herren.
({5})
Dagegen hilft nicht das Placebo „Abschaffung der kalten Progression“ – selbst Sie hatten in den letzten Jahren offenbar nicht das Gefühl, das habe Ihnen geholfen –, sondern dagegen helfen nur erstens die Eindämmung der stark gewachsenen Gehaltsunterschiede – unser Vorschlag, dass Unternehmen zukünftig Managergehälter nur noch bis 500 000 Euro pro Jahr von den Betriebskosten abziehen dürfen, liegt seit Jahren auf dem Tisch –
({6})
und zweitens eine Senkung der Abgaben für die unteren Einkommen und eine Reform des Einkommensteuertarifs.
Dass Ihnen nicht aufgefallen ist, dass Gesetze gegen die kalte Progression gemacht worden sind, das liegt schlicht daran – auch das wurde schon erwähnt –, dass die kalte Progression in Zeiten von Niedriginflation einfach per definitionem gar kein Thema ist; denn sie entsteht nur bei Inflation, nämlich dadurch, dass das Einkommen durch Inflation weniger wert wird, aber die zu zahlende Steuer höher ist, weil nominal, also von den Zahlen her, das Einkommen gestiegen ist. Da frage ich mich – Sie hatten es hier extra noch einmal vorgetragen –: Wo bleibt eigentlich der vermeintliche Anti-Euro-Sachverstand, werte AfD?
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Wenn wir uns trotz alledem mit dem Scheinriesen „kalte Progression“ beschäftigen sollen – im ersten Quartal 2018 lag die Inflationsrate übrigens bei 1,6 Prozent –, dann sollte die Anpassung zumindest in die richtige Richtung gehen, nämlich sich tatsächlich auf kleine und mittlere Einkommen konzentrieren, und nicht die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnen. Aber genau das macht eine reine Rechtsverschiebung des bestehenden schlechten Einkommensteuertarifs. So muss die Krankenschwester in diesem Jahr dank des Anpassungsgesetzes der Großen Koalition von 2016 zwar 98 Euro weniger Steuern zahlen, der Chefarzt hingegen spart viermal so viel; er muss 430 Euro weniger Steuern zahlen.
Wir sagen: Warum entlastet man mit dem gleichen Geld – es ging um 2,3 Milliarden Euro – nicht Krankenschwester und Chefarzt in gleicher Höhe?
({8})
Das ist technisch ganz einfach, indem wir den Grundfreibetrag stärker anheben als zur Steuerfreistellung des Existenzminimums notwendig gewesen wäre. Das wären dann 130 Euro weniger Steuern für die Krankenschwester und 130 Euro weniger Steuern für den Chefarzt gewesen.
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Die Krankenschwester hätte die zusätzlichen 32 Euro wirklich sehr gut gebrauchen können, und der Chefarzt hätte die 300 Euro geringere Steuerersparnis im Jahr verschmerzen können.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, die Fehler der Vergangenheit können wir jetzt nicht mehr korrigieren. Aber Sie haben dieses Thema im neuen Koalitionsvertrag noch einmal verankert. Deshalb fordere ich Sie hier auf: Lassen Sie uns die gleichen Fehler nicht noch einmal machen! Denken Sie noch einmal darüber nach!
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Herzlichen Dank. – Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Olav Gutting.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst will ich einmal festhalten, dass die AfD sich künftig nicht mehr beschweren darf, dass Anträge zu kurzfristig vor der Debatte vorgelegt werden.
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Seit gestern – gerade einmal seit 24 Stunden – liegt dieser Antrag vor. Ich muss sagen: Am Ende war es gar nicht so schlimm; denn auch inhaltlich ist dieser Antrag von gestern. Deswegen braucht man gar nicht so viel Zeit, um sich damit zu beschäftigen.
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Ich zitiere aus Ihrem Antrag: Die Bundesregierung soll
… gesetzgeberische Lösungsmodelle zur Beratung in den Bundestag einbringen, welche geeignete sind, die Effekte heimlicher Steuererhöhungen möglichst zu vermeiden, mindestens jedoch einen jeweils zeitnahen, äquivalenten Belastungsausgleich für alle Steuerbürger zu gewährleisten.
Das ist schön, deswegen machen wir das genau so, und zwar bereits seit Jahren.
Das Thema „kalte Progression“ ist im Übrigen auch kein „heimliches“ Thema, wie Sie hier zu suggerieren versuchen. Seit vielen Jahren sprechen wir in der Politik, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft über dieses Zusammenwirken zwischen Lohnerhöhung, Inflation, Tarif und Steuerlast. Dieses Thema ist inzwischen so breitgewalzt, dass es auch dem Letzten bekannt sein müsste. Deswegen eignet es sich gar nicht als Ausgangspunkt für irgendwelche – „heimlichen“ – Verschwörungstheorien.
Sie suggerieren mit Ihrem Antrag, dass die Steuermehreinnahmen bei der Einkommensteuer in den letzten Jahren mehr oder weniger alleine auf dem Effekt der kalten Progression beruhen. Das ist schlicht falsch.
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Wir haben in den letzten Jahren dank guter Politik ein Jobwunder in Deutschland geschaffen. Wir haben die Arbeitslosigkeit in diesem Land mehr als halbiert. Selbstverständlich: Wer arbeitet, verdient Geld, und wer Geld verdient, zahlt in der Regel Steuern. Deswegen haben wir hervorragende Einnahmen. Das ist die Hauptursache für den Aufwuchs bei der Einkommensteuer.
({3})
Wir sollten allerdings nicht so tun, als ob der Staat nicht auf Mehreinnahmen angewiesen wäre. Schauen Sie, wir haben Regierungsverantwortung. Natürlich sind die Ausgaben des Staates für Bildung, für Infrastruktur, für Forschung, für Sicherheit, für Soziales auch an die Inflation gebunden. Der Staat spürt die Inflation genauso wie der Private. Ich will zum Beispiel die aktuelle Lohnerhöhung im öffentlichen Dienst nennen: 7,5 Prozent über die Gesamtlaufzeit. Das ist richtig, das ist gut, weil die Beschäftigten im öffentlichen Dienst selbstverständlich leistungsgerecht bezahlt werden müssen, aber das hat steigende Ausgaben zur Folge. Steigende Ausgaben gehen eben nicht ohne steigende Einnahmen.
Es kann nicht sein, dass die Reallohnsteigerungen, die wir in den letzten Jahren hatten, völlig ohne Auswirkungen auf das Steueraufkommen bleiben. Richtig ist, dass man Reallohnsteigerungen trennen muss vom Inflationsausgleich, der lediglich die Preisentwicklung abbildet. Wenn man das trennt, dann kann man die Einkommensteuersätze der Preissteigerung anpassen. Genau das tun wir seit 2012, und zwar verantwortungsbewusst und vor allem zielgenau.
Um sicherzustellen, dass der Staat nicht von inflationsausgleichenden Lohnerhöhungen profitiert, haben wir in der unionsgeführten Koalition bereits 2012 gehandelt. Wir haben der Bundesregierung aufgegeben – das haben wir schon gehört –, dass sie jeweils in Zweijahresschritten den sogenannten Steuerprogressionsbericht vorlegen muss. Das hat geklappt. Ich wiederhole noch einmal: Wenn Sie 2012 mit einer rot-grünen Mehrheit im Bundesrat unser Vorhaben nicht blockiert hätten, hätten wir bereits zum damaligen Zeitpunkt die Bürgerinnen und Bürger um knapp 4 Milliarden Euro entlasten können und schon damals die kalte Progression wegnehmen können.
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Wir haben 2015 den ersten Bericht bekommen. Wir haben daraufhin gehandelt. Wir haben den Ausgleich, der in den Jahren 2014 und 2015 bei der kalten Progression entstanden ist, aufgehoben. Wir haben die kumulierte Inflationsrate aus diesen Jahren berücksichtigt und den Tarif nach rechts verschoben. Nach Vorlage des Zweiten Steuerprogressionsberichts haben wir ebenfalls die Tarifeckwerte für 2017 und 2018 erhöht. Allein mit diesen Anpassungen haben wir die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in diesem Land um knapp 7 Milliarden Euro entlastet. Diese Praxis hat sich bewährt. Deswegen haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir an dieser bewährten Übung festhalten. Selbstverständlich heißt das nicht, dass man nicht über weitere Entlastungen nachdenken kann. Selbstverständlich sehen auch wir Entlastungsbedarf bei den Einkommensteuerzahlern in der breiten Menge.
Wir werden, sobald der nächste Steuerprogressionsbericht und der Bericht über die Höhe des Existenzminimums vorliegen – das wird voraussichtlich Ende des Jahres der Fall sein –, die daraus resultierenden Ergebnisse entsprechend umsetzen, die Tarifeckwerte in dem erforderlichen Maß nach rechts verschieben und die notwendigen Entlastungen vornehmen, so wie wir das bereits in den letzten Jahren gemacht haben.
Der Antrag, den Sie heute eingebracht haben, ist schlicht obsolet. Deswegen werden wir ihn ablehnen.
({5})
Herzlichen Dank, Herr Kollege Gutting. – Als Nächstes für die sozialdemokratische Fraktion der Kollege Lothar Binding.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Parlamentspräsident, der die erste Rede zu diesem Tagesordnungspunkt hat anhören müssen, Dr. Schäuble, hat mir ein bisschen leidgetan; denn ihm wurde vorgeworfen, er habe die letzten Jahre nichts getan, es sei nichts passiert usw.
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Ich habe seine Gesichtszüge gesehen, und was ich gesehen habe, hat mich nicht gewundert. Es war völlig klar. Man kann ihm bestimmt viel vorwerfen, aber dass er nicht auf die kalte Progression geachtet hätte, das kann man ihm nicht vorwerfen.
({1})
Übrigens: Nicht alles, was die AfD nicht sieht, nicht alles, was die AfD nicht versteht, und nicht alles, was sie nicht gelesen hat, verdreht oder leugnet, ist geheim. Gesetze zum Beispiel kann man lesen. Man kann zu deren Auslegung und Anwendung lesen. Wer ein bisschen hinschaut, sieht alles. Noch einfacher: Tarifanpassungen stehen in der Zeitung. Wer gelegentlich Zeitung liest und nicht nur irgendwelche Fake-Meldungen twittert, weiß genau, was passiert ist.
({2})
Kalte Progression ist ja schon ein paarmal definiert worden. Ich will es auf meine Weise versuchen zu erläutern. Einmal angenommen, jemand verdient so viel in diesem Jahr.
({3})
Dann gibt es Lohnverhandlungen. Die Lohnverhandlungen sind ziemlich erfolgreich und führen dazu, dass jemand so viel mehr verdient. Er freut sich, dass er so viel mehr verdient, und wir freuen uns, dass dadurch der Steuersatz steigt. Er muss prozentual mehr Steuern zahlen. Die Leistungsfähigkeit ist ja erheblich gestiegen. Jetzt kommt die Inflation und nimmt die Kaufkraft dieser Lohnerhöhung wieder weg. Jetzt passiert etwas ganz Dummes: Er muss den Nominallohn versteuern, hat aber nur reale Kaufkraft. Dieser Unterschied macht die Ungerechtigkeit aus; das wurde übrigens in der ersten Rede korrekt erklärt.
({4})
Im Antrag wird aber aus einem Gutachten von Herrn Fuest zitiert, der kalte Progression anders definiert. Diese unterschiedliche Definition findet in diesem Antrag überhaupt keinen Niederschlag. Da sieht man, wie kleinkariert, engstirnig und falsch angelegt dieser gesamte Antrag ist.
({5})
Die kalte Progression entsteht durch zwei Bedingungen. Erstens durch eine, die wir wollen, nämlich Progression. Starke Schultern tragen mehr; wer viel verdient, soll einen höheren Steuersatz zahlen. Nicht nur mehr Euros: Wenn alle 10 Prozent zahlen würden, müssten Reiche auch mehr zahlen. Nein, wir sagen: Nicht nur mehr Euros, sondern auch mehr Prozente. Die zweite Bedingung ist Inflation. Gibt es keine Inflation, gibt es auch keine kalte Progression. Progression gibt es gleichwohl. Wer also von Abschaffung der kalten Progression spricht, muss sagen, er will per Gesetz die Inflation abschaffen.
({6})
Was man abschaffen kann, ist die Wirkung der kalten Progression. Kommt es zu Inflation, haben wir sie. Ich kann die Wirkung dann kompensieren, aber ich kann die kalte Progression nicht abschaffen. Wer diesen Denkfehler genauer verstehen will, liest den Gesetzentwurf des Bundes der Steuerzahler. Dieser verrät sich schon im ersten Satz und zeigt, dass er zwischen kalter Progression und Progression nicht seriös unterscheidet.
({7})
Abschaffen können wir die kalte Progression also nicht, ihre Wirkung können wir aber kompensieren.
In Ihrem Antrag schreiben Sie verschwurbelt verschiedene Dinge. Wir sollen die kalte Progression reflektieren. Das zeigt, wie sehr dieser Antrag an der Wirklichkeit vorbeigeht. Schöner kann man sich eigentlich nicht blamieren; denn das passiert schon lange. Ich finde, man kann die FDP, die CSU und auch einige Kollegen der CDU gar nicht schlimmer behandeln; denn sie haben sich seit Jahren – ich möchte sogar sagen: seit Jahrzehnten – immer darum gekümmert, dass das Thema „kalte Progression“ hier auf der Tagesordnung steht. Das wurde schon damals überflüssigerweise immer wieder zum Thema gemacht; denn seit 1991 – das zeigt eine Langfristbetrachtung – hat die kalte Progression gar keine Wirkung gehabt, weil sie immer kompensiert wurde.
({8})
Das kann man nachlesen. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung weist das schön nach und zeigt auch, wie wir das gemacht haben: Anpassung der Eckwerte und der Tarife, sogar drastische Senkung der Steuertarife unter Rot-Grün. Wir haben viele wunderbare Dinge gemacht. Jedenfalls war die Kompensation der Wirkung der kalten Progression immer gesichert.
In Ihrem Antrag steht auch noch:
Erstaunlicherweise wurde … dieser Effekt der Auszehrung der … Netto-Einkommen … nicht von den politischen Akteuren thematisiert …
Da muss sich doch bei den Kollegen der FDP und CDU/CSU der Magen herumdrehen, wenn sie das lesen; denn es wurde – ich weiß nicht, wie oft –bewiesen, dass man hier mit Fake News, mit falschen Informationen, eigentlich mit einer hinterhältigen Diktion unterwegs ist. Ich muss sagen, dass es mich total irritiert, dass man noch nicht einmal das aktuellste Papier, den Koalitionsvertrag, entsprechend würdigt; denn selbst dort ist das Thema – wie ich finde, überflüssigerweise – wieder enthalten. Es sichert wenigstens die gemeinsame Position ab.
Herr Kollege Binding, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Ich denke, das brauche ich nicht zu machen. Die Zwischenfragen haben andere Funktionen, als hier aufzuklären. Deshalb fahre ich jetzt fort.
Ich muss Sie trotzdem fragen.
({0})
Wir wollen alle zwei Jahre die Wirkung der kalten Progression definieren. Es gibt einen Steuerprogressionsbericht. Diesen werden wir beherzigen. Wer sich das noch einmal genauer anschaut – ich kann es nur bis in das Jahr 1998 zurück beurteilen –, stellt fest, dass die Wirkung der kalten Progression übrigens nicht nur kompensiert, sondern sogar überkompensiert wurde.
Jetzt müssten wir ein bisschen rechnen. Das ist vielleicht zu viel für die letzten 27 Sekunden Redezeit. Wer es aber genauer nachrechnen will, der kommt sehr schnell zu dem Ergebnis, dass die kalte Progression für uns im Grunde bedeutungslos ist. Genauso verhält es sich mit diesem Antrag. Deshalb halten wir an den bewährten Methoden fest.
Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen. Vorhin fiel das Stichwort „Steuermehreinnahmen infolge der kalten Progression“. Ich habe schon gezeigt, dass das Quatsch ist. Ich will aber daran erinnern und Sie fragen: Hatten wir einen Beschäftigungsaufwuchs? Gab es schon einmal 44 Millionen Beschäftigte? Haben wir Lohnzuwächse gehabt? Könnte es sein, dass die Einkommensteuermehreinnahmen auch auf solche Effekte zurückgehen?
Herr Kollege Binding, kommen Sie bitte zum Schluss.
Mehr möchte ich gar nicht sagen. Jeder hat gemerkt, worauf das hinausläuft. Ich glaube, es ist alles gesagt.
Schönen Dank und einen schönen Nachmittag.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Binding. Das haben Sie jetzt davon. Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Abgeordneten Dürr.
Herr Präsident! Meine lieben Kollegen! Herr Kollege Binding, ich wollte Sie eigentlich nur loben; denn Ihre Analyse war vollkommen richtig. Sie haben zwischen der kalten Progression im engeren Sinne und im weiteren Sinne unterschieden. Ich komme gleich noch zu der Frage, welche Antwort die Sozialdemokratie darauf gibt.
Ich will aber vorher sozusagen den Mantel lüften. Erstens. Die ifo-Studie ist hier des Öfteren angesprochen worden. Ich möchte kurz auf die Quelle hinweisen. Die AfD hat diesen Antrag zwar eingebracht. Sie hat die ifo-Studie zwar gelesen, aber diese offensichtlich nicht verstanden. Auftraggeber dieser ifo-Studie war 2016 die Fraktionsvorsitzendenkonferenz der FDP. Ich durfte damals deren Vorsitzender sein. Das heißt, die AfD versucht, bei der FDP zu klauen, aber versteht es nicht.
({0})
Das ist eigentlich das Hauptproblem der Debatte am heutigen Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Zweitens. Es geht darum, die Menschen in Deutschland an dieser Stelle dauerhaft zu entlasten.
({1})
– Serviceopposition, ganz genau, Herr Brinkhaus. Wir helfen immer gerne bei der Aufklärung darüber, von wem eine solche Studie kommt und wer der Ideengeber eigentlich ist. – Die Frage, die sich doch an dieser Stelle stellt, ist: Wie begegnen wir dieser Sache? Wer die Studie bis zum Ende gelesen hat, stellt fest, dass doch die einzige Lösung sein muss – die FDP hat sich diesen Vorschlag zu eigen gemacht –, in Deutschland einen Einkommensteuertarif auf Rädern einzuführen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Und wenn die Sozialdemokratie bei der Entlastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dabei ist
({2})
– Sie haben es nicht verstanden; klatschen Sie nicht, Herr Glaser, das ergibt an dieser Stelle keinen Sinn –, dann wären die Freien Demokraten mehr als glücklich.
Herzlichen Dank.
({3})
Herzlichen Dank, Herr Kollege Dürr. – Ich sehe, Herr Binding, Sie wollen antworten.
Der Tarif auf Rädern ist ja eine sehr beliebte Idee. Tarif auf Rädern würde heißen, dass ich einen Steuertarif an den Inflationsindex koppele.
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– Das habe ich verstanden, vielen Dank für die Zustimmung. – In einer Volkswirtschaft gibt es aber nicht nur Steuern und nicht nur die Inflation, sondern es gibt auch Löhne, Rohstoffpreise und noch viel mehr. Ich mache einmal die Parameterschar auf und schalte in einen wissenschaftlichen Modus um. Wenn Sie eine Parameterschar haben und in dieser Parameterschar – die Parameter sind nicht linear unabhängig voneinander – die Definition eines Parameters an den anderen koppeln, dann ist völlig klar: Um das Ziel der Indexierung zu erreichen, geht das auf Kosten aller – möglicherweise, nicht notwendigerweise – oder zumindest vieler anderer Parameter. Das heißt, die Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems sinkt. Um Ihrem Parameter sozusagen Folge zu leisten, verschlechtern Sie das Gesamtsystem, und das ist eine riesengroße Gefahr.
({1})
Ein gutes Beispiel dafür war die Koppelung der Löhne an die Inflation in Italien. Die Scala mobile, was ja übersetzt „Rolltreppe“ heißt – in diesem Fall nach unten –, war hochumstritten. Übrigens: Die Gewerkschaften wollten – verrückterweise – zunächst genauso wie Sie den Lohn indexieren. Dann ist das unter schwierigsten Debatten in Italien wieder abgeschafft worden, weil das Gesamtsystem kurz vor dem Zusammenbruch stand. Deshalb ist Ihre Idee richtig schlecht.
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Herzlichen Dank. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt der Kollege Dr. Carsten Brodesser mit seiner ersten Parlamentsrede.
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Weil es meine erste Rede in diesem Hohen Hause ist, erlauben Sie mir vorab vielleicht ein paar grundsätzliche Worte. Ich schließe mich da, glaube ich, dem einen oder anderen Vorredner an.
Seit Mitte letzter Woche ist uns bekannt, dass die AfD-Fraktion den Tagesordnungspunkt zur Abschaffung der kalten Progression in der heutigen Plenardebatte behandeln möchte und einen entsprechenden Antrag zur Abstimmung gestellt hat. Vor gerade einmal 24 Stunden erreichte uns nun dieser Antrag. Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass wir im Vorfeld mehr Zeit bekommen hätten, um uns mit Ihrem Antrag zu beschäftigen. Doch obwohl Sie mehr als eine ganze Woche Zeit zur Vorbereitung Ihres Antrags hatten, beschäftigen wir uns heute lediglich mit einem politischen Mythos.
Charakteristisch für einen politischen Mythos ist es, dass das Erzählte entgegen den empirisch nachprüfbaren Tatsachen interpretiert wird. Damit wir uns richtig verstehen: Die kalte Progression ist eine Realität in unserem Steuersystem. Jeder von uns weiß aus eigener Erfahrung, dass es bei steigenden Einkommen im Rahmen des progressiven Tarifs auch zu steigenden Steuersätzen kommen kann. Das betrifft gerade die Bezieher von kleinen und mittleren Einkommen. Insbesondere diese Einkommensgruppen haben den Eindruck, dass von einer Bruttolohnerhöhung nur wenig im Portemonnaie übrig bleibt.
Richtig ist auch, dass unser Steuersystem auf dem Leistungsfähigkeitsprinzip basiert. Bezieher höherer Einkommen sollen höhere Lasten tragen als jene, die weniger verdienen, sowohl absolut als auch relativ. Wenn aber eine Lohnerhöhung durch die allgemeine Preissteigerung aufgezehrt wird und es gleichzeitig aufgrund des progressiven Steuertarifs zu einer höheren Besteuerung kommt, dann spricht man von einer kalten Progression; das hat der eine oder andere Vorredner ja bereits ausgeführt. Damit wir uns auch an dieser Stelle richtig verstehen: Steigende Steuerbelastungen ohne realen Einkommenszuwachs sind ungerecht. Dieses Geld muss an den Steuerzahler zurückgegeben werden.
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Bei der Rolle des Gesetzgebers und der Rolle der Bundesregierung sind wir uns leider nicht einig, und da rutschen Sie leider auch auf ein finanzpolitisches Stammtischniveau ab. Sie zeichnen mit Ihren Ausführungen das Bild des gierigen Staates, der still und heimlich die Steuern erhöht und gerade dem Otto Normalverdiener das Geld aus der Tasche ziehen will.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, genau das Gegenteil ist der Fall.
Erstens. Entsprechend dem Beschluss des Deutschen Bundestages vom 2. Juni 1995 legt die Bundesregierung alle zwei Jahre einen Bericht über die Höhe des von der Einkommensteuer zu befreienden Existenzminimums vor.
Zweitens. Am 29. März 2012 hat der Deutsche Bundestag zudem die Bundesregierung beauftragt, alle zwei Jahre einen Bericht über die Wirkung der kalten Progression im Verlauf des Einkommensteuertarifes vorzulegen.
Beide Maßnahmen zusammen erlauben es dem Parlament – uns –, den notwendigen Umfang von Steuertarifänderungen und Änderungen bei den Freibeträgen zu bestimmen. Das ist gut so, und so steht es auch im Koalitionsvertrag.
Die Ergebnisse dieser Vorgehensweise sind eindeutig und für Sie vielleicht verblüffend. Doch ein lediger Durchschnittsverdiener mit Steuerklasse I hätte im Jahre 2015 gemäß der kalten Progression ohne Korrektur des Gesetzgebers eine steuerliche Mehrbelastung von lediglich 18,86 Euro im Jahr oder 1,57 Euro im Monat zu schultern gehabt. Die entsprechende Anpassung des Steuertarifes für 2015 – darüber ist auch schon gesprochen worden – sowie die Erhöhung des Grundfreibetrages und weiterer pauschaler Abzüge führten jedoch tatsächlich zu einer Minderbelastung dieses steuerpflichtigen Bürgers von rund 50 Euro. Dieses Ergebnis wurde im Übrigen nicht nur beim ledigen Durchschnittsverdiener, sondern bei allen anderen Einkommensklassen und Familienkonstellationen erzielt.
Der Bürger interessiert sich weniger für den gültigen Einkommensteuertarif und die jeweiligen Freibeträge, sondern viel mehr für das, was in sein Portemonnaie fließt. Sie als AfD-Fraktion sollten sich aber dafür interessieren, dass wir mit dem Alterseinkünftegesetz und dem Bürgerentlastungsgesetz die steuerliche Anerkennung von Renten- und Krankenversicherungsbeiträgen deutlich verbessert haben. Und: Sie sollten bei dieser Diskussion auch nicht vergessen, dass wir in den letzten Jahren kontinuierlich das Kindergeld angehoben haben.
({1})
Sie behaupten in Ihrem Antrag, dass es in der Vergangenheit lediglich zum teilweisen Ausgleich der kalten Progression gekommen sei. Das ist schlicht und einfach die Leugnung der Tatsachen. Die von mir beschriebenen umfangreichen Maßnahmen – Tarif- und Freibetragsanpassung, Erhöhung von Pauschalen sowie Kindergeld – haben nicht nur in den letzten Jahren, sondern bereits davor mindestens zu einem vollständigen Ausgleich der kalten Progression und sogar zur steuerlichen Ent lastung beigetragen. – So viel zum ersten Teil Ihres steuerpolitischen Mythos.
Die AfD-Fraktion führt in ihrem Antrag ferner aus, dass eine mehr oder minder automatische Anpassung des Steuertarifes erfolgen soll – Steuertarif auf Rädern. Ich interpretiere Ihren Antrag so, dass Sie die bisher bewährte Politik der Entlastung aller Bürgerinnen und Bürger durch Parlamentsentscheidungen ablehnen und für eine Indexierung der Steuertarife wie in anderen OECD-Ländern plädieren. Aber dieser von Ihnen geforderte automatische Abbau einer kalten Progression wurde in diesem Parlament bisher immer abgelehnt. Es gibt – wie bereits zum ersten Teil Ihres Mythos ausgeführt – gute Gründe, diesen Automatismus auch weiterhin abzulehnen. Wie bereits dargelegt, haben die wiederkehrenden parlamentarischen Verfahren zur stärkeren Entlastung der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes geführt. Hätten wir den von Ihnen geforderten Automatismus eingeführt, dann hätten tatsächlich 50 Millionen Einkommensteuerpflichtige weniger Geld in der Tasche.
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Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Auch künftig werden wir als Parlament aufgrund der tatsächlichen Entwicklung und unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren die Steuersätze und Freibeträge anpassen und die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes entlasten. Nicht ein anonymer Computeralgorithmus, sondern die gewählten Volksvertreter dieses Hauses sollten auch weiterhin darüber entscheiden, wer neben dem vollständigen Ausgleich der kalten Progression eine zusätzliche Entlastung erfahren sollte.
Sie als AfD erwecken mit Ihrem Antrag den Eindruck, es gäbe Freibier für alle. In Wahrheit müssten die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes ihren Deckel selbst bezahlen.
Vielen Dank.
({3})
Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1844 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es gibt nur wenige Länder weltweit, in denen Jugendliche so gute Zukunftschancen haben wie hier in Deutschland.
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Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei gut 6 Prozent. Das ist europaweit eine der niedrigsten Quoten. Ein wesentlicher Grund für diesen Erfolg ist unsere duale Berufsausbildung. Sie bietet jedes Jahr mehr als einer halben Million junger Menschen die Chance auf einen erfolgreichen Einstieg in die Berufswelt.
Ich will mit einigen konkreten Zahlen aus dem Berufsbildungsbericht beginnen. Für dieses Ausbildungsjahr hat die Wirtschaft über 556 000 Stellen angeboten. Das sind 10 000 mehr als im vergangenen Jahr. 523 000 Ausbildungsverträge wurden neu abgeschlossen. Damit haben wir endlich wieder mehr Auszubildende.
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Besonders stark war die Zunahme der betrieblich geschlossenen Ausbildungsverträge. Dort ist die Zahl um fast 5 000 gestiegen. 100 Bewerbern standen also zuletzt 105 Ausbildungsangebote gegenüber. Die Chancen auf einen Ausbildungsplatz sind so gut wie seit mehr als 20 Jahren nicht mehr. Das ist eine stolze Leistung, die wir hier gemeinsam erbracht haben. Ich persönlich bin froh über diese Art der Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Staat, die wir im Bereich der beruflichen Bildung leisten.
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In Europa und weltweit sind wir damit eine der führenden Berufsbildungsnationen; daran besteht kein Zweifel. Dennoch gibt sich diese Bundesregierung, gebe ich mich persönlich damit nicht zufrieden. Wir wollen noch besser werden. In den vergangenen Jahren haben wir sehr auf die Hochschulen geschaut. Dabei ist die berufliche Bildung im Verständnis der jungen Menschen ein wenig ins Hintertreffen geraten. Dabei sollen die sogenannten Abbrecherquoten für mich nicht das größte Problem sein; denn trotz vieler Falschmeldungen ist es tatsächlich so, dass die Zahl der Ausbildungsabbrüche sehr viel niedriger ist als im Hochschulbereich. Zudem – das möchte ich hier auch sagen –: Eine Vertragslösung mit Neubeginn ist eine freie, individuelle Entscheidung, die wir verteidigen und gerade nicht kritisieren sollten. Wichtig ist doch nur, dass den jungen Menschen die Tür geöffnet bleibt.
Ich sehe die Herausforderungen in der beruflichen Bildung vor allem in drei Bereichen: Erstens. Wir wollen wieder mehr Jugendliche für die berufliche Bildung begeistern. Zweitens. Wir wollen die berufliche Bildung fit machen für eine moderne digitalisierte Arbeitswelt. Drittens. Wir wollen wieder mehr Betriebe für die Ausbildung gewinnen.
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Zum ersten Punkt. Mir ist wichtig, dass alle jungen Menschen in unserem Land die Chance haben, ihre Talente zu entfalten und erfolgreich ins Berufsleben zu starten. Dafür gibt es viele Möglichkeiten. Je nach Neigung und Fähigkeiten müssen sich junge Menschen für ihren Weg entscheiden können. Ich möchte, dass ihnen dabei bewusst ist: Akademische Bildung und berufliche Bildungswege sind gleichwertige Bildungswege.
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Gerade in dieser Zeit der schnellen Entwicklungen ist die enge Verzahnung von Theorie und Praxis eine solide Basis für die eigene berufliche Karriere. Das möchte ich noch stärker im Bewusstsein der Menschen verankern – bei den jungen Menschen, aber auch bei den Eltern.
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Außerdem gilt: Unser Bildungssystem ist durchlässig. Wer eine Ausbildung macht, kann später studieren. Wer mit einem Studium beginnt, kann für die Weiterbildung die beruflichen Weiterbildungsstufen nutzen. Diese Karrierechancen in der beruflichen Bildung möchte ich noch weiter verbessern; denn gerade auch Leistungsträger sollen in der beruflichen Bildung gefördert werden.
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Wir werden klare und attraktive Fortbildungsstufen im Berufsbildungsgesetz etablieren, damit Personalabteilungen sofort erkennen können, welche Kompetenzen eine Kandidatin oder ein Kandidat mitbringt. Wir werden das Aufstiegs-BAföG mit einem attraktiven Angebot für jede Stufe ausbauen. Auch das sorgt für Gleichwertigkeit.
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Ich möchte an dieser Stelle auch die Mindestausbildungsvergütung ansprechen. Sie ist ein klares Signal der Wertschätzung für die duale Ausbildung. Es gilt, soziale Schieflagen zu adressieren.
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All das zeigt: Die Gleichwertigkeit der beruflichen Bildung steht für diese Bundesregierung ganz oben auf der bildungspolitischen Agenda, nicht nur abstrakt, sondern mit klaren Schritten und konkreten Verbesserungen.
Aber auch die jungen Menschen müssen sich bewegen. Insgesamt blieben zum 30. September 2017 fast 50 000 Ausbildungsstellen unbesetzt. Zur gleichen Zeit standen fast 25 000 Jugendliche ohne Ausbildungsplatz da. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen den jungen Menschen sagen, dass eine solide Ausbildung immer einen guten Start ins Leben bedeutet.
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Denn die höchste Arbeitslosigkeit haben wir dort, wo Menschen ohne Schulabschluss und ohne Berufsabschluss unterwegs sind. Hier gilt es anzusetzen, und dazu werde ich meinen Beitrag leisten.
Flexibilität und Mobilität gehören zur Arbeitswirklichkeit der deutschen Wirtschaft. Mit dieser Wirklichkeit müssen wir auch die jungen Menschen vertraut machen, auch wenn sie häufig jünger sind als Studierende und deshalb vielleicht etwas zurückhaltender. Wenn die Ausbildungsplätze nicht am Heimatort angeboten werden, gibt es zwei Möglichkeiten: entweder das Wohnen in der Nähe des Ausbildungsplatzes oder das tägliche Überwinden der Wegstrecke. Hier sehe ich dringenden Bedarf für neue Anreize und werde nach guten Lösungen suchen.
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Damit bin ich bei meinem zweiten Punkt. Wenn wir die Ausbildung zukunftssicher machen wollen, dann kommen wir um ein Thema nicht herum: die Digitalisierung. Die Anforderungen an Arbeitnehmer in den klassischen Berufen verändern sich, neue Berufe entstehen. Die Berufsausbildung muss junge Menschen darauf vorbereiten. Viele Ausbildungsordnungen sind schon angepasst, doch die Digitalisierung betrifft jeden Beruf. Deshalb werden wir die Modernisierung der Ausbildungsordnungen weiter gezielt vorantreiben.
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Auch die Aus- und Weiterbildung müssen wir an der Geschwindigkeit des modernen Lebens und Arbeitens ausrichten. Es geht dabei einerseits um die Ausstattung. Gute Berufsausbildung braucht entsprechende Ausstattung in der Berufsschule. Der Fortschritt der Unternehmen muss sich in den Berufsschulen abbilden. Andererseits geht es um gut ausgebildete Lehrkräfte, die fachlich und didaktisch anspruchsvollen Unterricht machen. Berufsschulen sind Orte, die in die moderne Arbeitswelt führen, und das muss jeder spüren, der sie betritt.
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Nun zum dritten Punkt. Die Ausbildungsbetriebsquote stagniert bzw. ist 2017 leicht gefallen. Gerade der Anteil der Kleinstbetriebe nimmt ab. Ich werde mit der Wirtschaft, den Sozialpartnern und den Ländern darüber reden, wie wir gerade auch wieder kleine und mittlere Betriebe für die Ausbildung begeistern können. Wir wollen ihnen gezielt helfen, sich für die Ausbildung junger Menschen zu entscheiden. Gerade in kleinen Betrieben können junge Menschen die komplexe, arbeitsteilige Wirtschaft häufig sehr gut kennenlernen. Kurzfristig wollen wir deshalb Möglichkeiten schaffen, damit 6 000 Mitarbeiter in kleineren Betrieben eine Ausbilderqualifizierung mit Unterstützung des Bundes erhalten.
({13})
Außerdem will ich den geplanten neuen Berufsbildungspakt und die Allianz für Aus- und Weiterbildung nutzen. Ich werde dafür werben, dass sich möglichst viele Betriebe ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stellen und gute, attraktive Ausbildungsplätze anbieten. Nur so werden wir zusammen den sich abzeichnenden massiven Fachkräftemangel meistern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir wollen die Berufsbildung neu denken. Berufliche Bildung ermöglicht es uns Menschen, uns zu entwickeln, zu zeigen, was in uns steckt, und erfolgreich unsere beruflichen Wege zu gehen. Berufliche Bildung hört nicht mit dem Ende der Erstausbildung im Jugendalter auf. Mir ist es sehr wichtig, dass alle Menschen lebenslang die Möglichkeit haben, zu lernen, und dass sie auch Freude daran haben: in der Schule, im Beruf, im Privaten und bis ins hohe Alter. Denn nur so eröffnen sich für jeden in einer sich rasant verändernden Welt Chancen für ein selbstbestimmtes Leben.
Herzlichen Dank.
({14})
Frau Ministerin, ganz herzlichen Dank an Sie. – Als Nächstes für die AfD-Fraktion die Kollegin Nicole Höchst.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Ministerin! Werte Kollegen! Die Vorhaben der Ministerin sowie alle vorliegenden Anträge eint der unbedingte Wille, jungen Menschen eine Perspektive zu eröffnen, niemanden zurückzulassen. Das ist gut, und das ist wichtig. Das gemeinsame Ziel aller Fraktionen ist unstrittig: eine möglichst große Zahl von Jugendlichen erfolgreich in Ausbildungen zu bringen und dort auch zu halten, damit sie Berufe lernen, die sie als Berufung leben können. Außerdem geht es darum, viele Betriebe und Unternehmen kurz-, mittel- und langfristig mit den dringend benötigten Fachkräften auszustatten.
Aber – und ja, es kommt ein Aber – insgesamt kommen alle diese Maßnahmen zu spät, und sie greifen zu kurz. Wir leisten uns eine große Vielzahl von Abiturienten, die zu einer Vielzahl von Studienabbrechern führt, weil die Hochschulreife unterm Strich keine mehr ist.
({0})
Wir von der AfD halten die herrschende, schlagseitig abiturbetonende Bildungspolitik für einen sehr teuren Umweg in Ausbildungen.
({1})
Das muss zum Wohle aller schleunigst umgesteuert werden. Die Ministerin hat es gesagt: Deutschland benötigt wieder mehr Meister statt Master.
({2})
Wir leisten uns außerdem eine Mittlere Reife, die mit dem Abschluss von vor 20 Jahren, außer dem Namen, rein gar nichts mehr gemein hat.
Unser derzeitiges ideologiebeseeltes Schulsystem mit dem „Eine Schule für alle“-Fimmel, der Inklusion um jeden Preis
({3})
und der zunehmend wissensfreien Kompetenzorientierung fährt unsere Bildungsnation laut krachend an die Wand.
({4})
Ich überzeichne jetzt vielleicht ein bisschen, aber nicht viel.
({5})
Die Ursache allen Übels beginnt bereits in der Grundschule, wo Schüler mancherorts flächendeckend frei von Deutschkenntnissen in „Schulen mit Courage“ im Kampf gegen rechts geschult werden und besser wissen, warum die Franzosen bloß nicht den Front National wählen dürfen, als dass sie später sinnerfassend lesen können. Und wenn Schüler eine der „glücklichen“ Schulen mit bereits implementierter Erziehung zur sogenannten „Sexualität der Vielfalt“ besuchen dürfen, dann ist sichergestellt, dass sie am Ende der vierten Klasse besser Kondome über Gummipenisse rollen können als das große und kleine Einmaleins. Schande!
({6})
Meine Damen und Herren, unser Bildungssystem war noch nie so ungerecht wie heute und noch nie so zukunftsuntauglich.
({7})
Motivation, Fleiß, Leistungsbereitschaft und Disziplin sind Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Wissensvermittlung.
({8})
Schleichendes und kultursensibles Dulden ständiger Extrawürste, Schulverweigerung, Null-Bock-Mentalität, Disziplinlosigkeit, Mobbing und Gewalt in der Schule hingegen sind Garanten für die Produktion von Schulabbrechern.
({9})
Beinahe jeder 17. Schüler verlässt die Schule ganz ohne Abschluss. Laut Chancenspiegel 2017 der Bertelsmann-Stiftung sind besonders Jugendliche aus benachteiligten Familien, sehr häufig mit ausländischem Pass oder Migrationshintergrund, betroffen. Mensch, da bringen dann auch die kostenaufwendigen Maßnahmen zur Integration, Ausbildungsplatzgarantien und Exzellenzinitiativen nichts mehr, und die Betroffenen leben auf Kosten der Allgemeinheit mit einem sehr viel höheren Risiko für Arbeitslosigkeit und Kriminalität.
({10})
Solange der schulische Unterbau nicht stimmt, sind Ihre Vorschläge mehrheitlich vor allem teuer und absehbar unwirksam.
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Lassen Sie uns also in einer gemeinsamen Kraftanstrengung aller Parteien im Bund und in den Ländern unser Schulsystem endlich wieder vom Kopf auf die Füße stellen
({12})
und somit den Grundstein legen für Ihre zum Teil grundsätzlich diskussionswürdigen Ideen zur beruflichen Bildung.
Vielen Dank.
({13})
Herzlichen Dank. – Als Nächstes für die SPD-Fraktion der Kollege Rainer Spiering.
({0})
Herr Präsident! Frau Ministerin! Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuhörerinnen und Zuhörer! Vorab: Kollegin von der AfD, wenn mir meine Redezeit dafür nicht zu schade wäre, würde ich mich tatsächlich Sequenz für Sequenz mit Ihrem unsäglichen Unsinn und Ihrer Unkenntnis zur Berufsbildung auseinandersetzen.
({0})
Aber das werde ich natürlich nicht tun. Nur eines: Dass Sie sich noch nie mit Berufsbildung auseinandergesetzt haben, macht Ihre Rede deutlich. Keine Kenntnisse! In der Schule würde man sagen: Sechs, setzen!
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Jetzt zur Sache. Das ist für mich ein bewegender Moment. Ich habe dankenswerterweise die Sprecherfunktion für die Arbeitsgruppe Ernährung und Landwirtschaft bekommen und werde den Bildungsausschuss verlassen.
({2})
Das tut mir wirklich weh,
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weil die Berufsbildung für mich eine Herzensangelegenheit ist.
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Die letzten Jahre mit Ihnen hier im Parlament habe ich trotz unterschiedlicher Meinungen genossen. Ich durfte auch durchaus Erkenntnisse gewinnen, die ich vorher nicht hatte. Herzlichen Dank an alle dafür!
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Ich bin mir aber sicher, dass ich in Yasmin Fahimi eine ganz tolle Nachfolgerin habe, die für die Sache brennt. Man muss sich für Berufsbildung Zeit nehmen und ein Herz dafür haben. Darauf kommt es an.
Die berufliche Bildung ist eines der zentralen Standbeine der Wirtschaft in Deutschland. Auf vielen Delegationsreisen und vor allen Dingen bei Besuchen ausländischer Delegationen in Deutschland wurde uns immer wieder signalisiert: Ja, auch wir können Akademiker gut ausbilden, auch wir können gute Ingenieure ausbilden, aber eines haben wir nicht, euer duales Berufsausbildungssystem. – Vertreter aus dem Ausland haben mir immer wieder ihren Eindruck gespiegelt: Ein Großteil des wirtschaftlichen Erfolges dieses Landes basiert auf der dualen Berufsausbildung mit all dem, was dazugehört.
({6})
Ich glaube, dass wir diesen erfolgreichen Weg weiterbeschreiten müssen, aber wir müssen unsere Bemühungen auch intensivieren. Wir müssen uns der beruflichen Bildung mit all dem, was dazugehört, noch viel intensiver widmen.
Uns liegen hier Anträge von der Linken, der FDP und den Grünen vor. Ich habe mir die Anträge sehr genau angeschaut und sage Ihnen: In jedem dieser Anträge stehen Wahrheiten.
({7})
Man sieht aber auch, dass die Stakeholder beteiligt waren. Das finde ich nicht weiter schlimm. Aber ich kann mit großem Selbstbewusstsein sagen: Die Sozialdemokratie kommt auch ohne diese Stakeholder aus. Sie hat sich eine eigene Meinung gebildet.
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Frau Ministerin, in Ihrer Rede – auch das sage ich mit großem Selbstbewusstsein – habe ich fast die SPD pur wiedergefunden. Dafür herzlichen Dank!
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– Ich komme gleich noch zur FDP, sogar sofort, Kollege.
Der Bundespräsident hat sich dankenswerterweise eine Woche seines sehr vollen Arbeitslebens der beruflichen Bildung zugewendet. Er hat gesagt: Wir brauchen mehr Wertschätzung für die berufliche Bildung. – Besser kann man es nicht zum Ausdruck bringen. Wenn man sich der Berufsbildung und den Chancen der Berufsbildung zuwendet, muss man aber auch sagen: Wertschätzung drückt sich in unserem Land immer auch materiell aus. Im Gegensatz zu der Kollegin von der AfD sage ich sehr deutlich: Die Berufsbildung hat eine Zukunftsperspektive, Berufe haben eine Perspektive; aber Wertschätzung muss sich auch in Entlohnung ausdrücken. Wenn akademische Bildung und berufliche Bildung gleichwertig sein sollen, dann müssen sie auch in materieller Hinsicht, in der Entlohnung, gleichgestellt werden.
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Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wir halten nicht nur Sonntagsreden. Sie waren die letzten vier Jahre hier nicht dabei; aber – das muss ich ehrlicherweise sagen – auch in den Jahren davor habe ich nicht bemerkt, dass Sie im Bereich der Berufsbildung viele Akzente gesetzt hätten. Sie können uns aber jetzt auf dem Weg, die Berufsbildung zu befeuern, gerne begleiten. Wir nehmen den Diskurs mit Freude auf.
Ich kann das Haus nur auffordern, die Berufsbildung nicht zum Zentrum parteilicher Auseinandersetzung zu machen, sondern die Berufsbildung in den Fokus unserer gemeinsamen Interessen zu nehmen. Der Wirtschaftsstandort Deutschland lebt von der dualen Berufsausbildung.
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Wertschätzung bedeutet auch – das hat die Ministerin angesprochen – eine Mindestausbildungsvergütung. Und ich sage Ihnen: In einem Land wie Deutschland, das so reich ist, muss der Stundenlohn des Facharbeiters diese Wertschätzung widerspiegeln. Das heißt: Wir reden von mindestens 15, 16 Euro pro Stunde.
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Jetzt habe ich meine Redezeit leider überschritten. Zum eigentlichen Kernpunkt meiner Rede, der Berufsschule, bin ich gar nicht gekommen.
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Dazu sage ich Ihnen: Die zweite Säule der Berufsausbildung, die schulische Berufsausbildung, müssen wir viel stärker in den Fokus nehmen. Wir müssen viel mehr in die Berufsschulen und die universitäre Berufsausbildung investieren. Wir müssen die Methoden- und Didaktikkompetenz wieder stärker an den Universitäten vermitteln – das wurde schon beschrieben –; denn dort gehört das hin. Im Gegensatz zu Ihrer Vorgängerin habe ich bei Ihnen den Eindruck, dass Sie das auch tun wollen.
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Ich hoffe, dass die CDU/CSU-Fraktion Ihnen auf diesem Wege folgen kann. Kollege Rupprecht, die Zukunft wird zeigen, ob Sie das können.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Spiering. – Sie haben zu Recht festgestellt, dass Sie die Redezeit überschritten haben. Aber da es in diesem Bereich, wie Sie sagten, Ihre wahrscheinlich letzte Rede gewesen ist, war ich sehr großzügig. Ich kann aber sicher sagen: Auch gesunde Ernährung hat eine große Bedeutung für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
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Als Nächstes spricht für die FDP der Kollege Dr. Jens Brandenburg zu uns.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Spiering, auf das Feuer können Sie sich natürlich verlassen. Ich glaube aber, dass die berufliche Bildung vor allen Dingen etwas weniger Prosa und mehr Machen gut vertragen könnte.
({0})
Das System der beruflichen Bildung hat Deutschland stark gemacht. Es ist aber inzwischen etwas in die Jahre gekommen. Der Trend geht zum Studium. Immer mehr Ausbildungsplätze bleiben offen. Das ist der Fachkräftemangel von morgen. Gleichzeitig stehen immer mehr junge Menschen ganz ohne Ausbildungsplatz da. Digitalisierung und Globalisierung verändern jeden Beruf. Die Arbeitswelt wird innovativer, individueller und internationaler. Erst Schule, dann Lehre, und dann hast du bis zur Rente ausgelernt – das ist ein Modell, das spätestens für meine Generation nicht mehr realistisch ist. Wir brauchen ein Update für die berufliche Bildung.
({1})
Als Serviceopposition, Frau Ministerin, bieten wir Ihnen heute natürlich konkrete Vorschläge; die habe ich in den bisherigen Wortmeldungen sehr vermisst.
Erstens: ein Update für mehr Innovation. Wir fordern eine Exzellenzinitiative berufliche Bildung, also einen Wettbewerb um die besten Ideen. Diese mehrjährige Förderung und Auszeichnung schafft Freiraum für kreative Macher und neues Denken. Was bei Hochschulen erfolgreich funktioniert, muss doch endlich auch in der beruflichen Aus- und Weiterbildung möglich sein.
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Die duale Ausbildung braucht mehr Engagement im Bereich der Digitalisierung. So machen wir sie auch attraktiver, gerade für junge Menschen. Ein Zentrum für digitale Berufsbildung soll Betriebe und Berufsschulen dabei unterstützen. Als Denkfabrik soll es vor allem digitale Ausbildungsangebote aktiv weiterentwickeln. Neue Berufsbilder müssen schneller in Ausbildungsordnungen übersetzt werden. Dazu braucht es schlankere Prozesse und ein aktives Monitoring. Wenn man ehrlich ist, muss man sagen: So manche Ausbildungsordnung erinnert heutzutage mehr an die Berufsbilder eines Mittelaltermarktes als an die Zukunft der Arbeit.
Zweitens: ein Update für mehr Individualisierung. Die Ziele, Wünsche und Talente junger Menschen sind so vielfältig wie die Berufsbilder der Zukunft. Geben wir ihnen also die nötige Wahlfreiheit! Wir fordern eine Stärkung der Berufsorientierung an allen weiterführenden Schulen. Wir werden doch die großen Herausforderungen der Zukunft nicht allein mit Hochschulabsolventen meistern können. Das bedeutet, dass wir auch an Gymnasien stärker für die berufliche Bildung als gleichwertige Alternative zum Studium werben wollen.
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Schaffen wir mehr Flexibilität in der Ausbildungsstruktur! Dazu gehören Teilzeitausbildungen. Dazu gehören auch die Anerkennung von Teilabschlüssen, Spezialisierungsmodule und eine bessere Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung.
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Lösen wir endlich das starre Korsett der Einheitsausbildung! Schaffen wir weltbeste Bildung für jeden, flexibel und ein Leben lang!
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Drittens: ein Update für mehr Internationalisierung. Auslandserfahrungen prägen junge Persönlichkeiten, und sie helfen auch im Berufsleben. Das wussten schon die ersten Wandergesellen im Handwerk. Deshalb wollen wir Erasmus+ ausbauen und vor allen Dingen bei Azubis, Berufsschulen und Betrieben stärker dafür werben. Eine Austauschagentur wie den DAAD im Hochschulbereich muss es endlich auch im Bereich der beruflichen Bildung geben.
({6})
Der kulturelle Blick über den eigenen Tellerrand hinaus darf schließlich nicht auf Akademiker beschränkt sein.
({7})
Wir Freie Demokraten machen die berufliche Bildung fit für die Zukunft. Ein konkretes Update haben wir Ihnen heute vorgeschlagen. Dafür müssen Sie nicht einmal herunterfahren. Stimmen Sie einfach zu!
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Dr. Brandenburg. – Als Nächstes für die Fraktion Die Linke die Kollegin Birke Bull-Bischoff.
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Sehr geehrte Damen und Herren! Die berufliche Bildung ist in der gesellschaftlichen Debatte wieder zum Thema geworden, und das ist auch gut und wichtig so. Es ist wirklich so, dass sie mitunter als so etwas wie die zweitbeste Lösung, – zum Beispiel auch für Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, – gehandelt wird – wie ich finde, zu Unrecht. Auf die internationale Bedeutung hat der Kollege Spiering bereits hingewiesen.
Der Satz des Tages der Bundesministerin am letzten Mittwoch lautete: „Alle ... Zahlen bewegen sich in die richtige Richtung …“ – Das darf und muss bezweifelt werden;
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denn der Berufsbildungsbericht offenbart eine ganze Reihe von Problemen.
({1})
Erstes Problem. Wir haben eine viel zu hohe Vertragsauflösungsquote, die sogenannte Abbrecherquote. Man kann natürlich sagen: Das ist ein selbstbestimmter Akt. – Selbstverständlich ist es ein selbstbestimmter Akt. Die Frage ist aber, welche Gründe dahinterliegen.
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Dann wird es ernst. Einer der wichtigen Gründe in den betroffenen Branchen ist in der Tat eine viel zu niedrige Ausbildungsvergütung.
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Generell haben junge Auszubildende oftmals keinen Bock mehr, bei Papa und Mama zu wohnen. Sie sind sehr viel selbstständiger und selbstbestimmter als früher. „Gott sei Dank“, kann man da nur sagen. Ganz davon abgesehen: Eine Ausbildungsvergütung von monatlich 153 Euro im ersten Ausbildungsjahr – jetzt sind es zugegebenermaßen 325 Euro monatlich für eine junge Friseurin – ist keine Ausbildungsvergütung, sondern eine Zumutung. Das geht gar nicht.
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Deshalb brauchen wir schnell eine armutsfeste Mindestausbildungsvergütung.
({5})
Eine solche Mindestausbildungsvergütung attackiert eben nicht die Tarifautonomie, wie jetzt schon vielfach kolportiert wird, sondern Armut und Abhängigkeit von jungen Menschen, und genau darum muss es gehen.
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Die Gewerkschaften haben einen gemeinsamen Vorschlag gemacht, und mir ist schon klar, dass die SPD hier jetzt vorsorglich behaupten muss, sie sei frei von Stakeholdern, weil die Wahrscheinlichkeit, dass sich genau dieser Vorschlag durchsetzt – ich unterstelle mal, Sie haben dafür auch Sympathien –, gegen null geht. Deshalb würde ich das an Ihrer Stelle auch behaupten. Wir würden die Ausbildungsvergütung der Friseurinnen verdoppeln und mindestens 160 000 Jugendlichen eine Verbesserung ihrer Lebenssituation bieten.
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Zweites Problem. Die Zahl der Unternehmen, die ausbilden, ist erstmals unter 20 Prozent gefallen. Das hat auch mit finanziellen Belastungen – gerade für kleine und Kleinstunternehmen – zu tun. Deshalb muss man darüber nachdenken, wie es uns gelingen kann, die Ausbildung und die berufliche Bildung künftig gemeinschaftlich zu finanzieren.
({8})
Die Linke fordert deshalb – das wird Sie nicht überraschen – eine solidarische Umlagefinanzierung der beruflichen Ausbildung.
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Ich will ein drittes Problem ansprechen, nämlich die Situation junger Menschen, die die Schule mit wenig Erfolg verlassen, also entweder mit keinem Abgangszeugnis oder mit einem Hauptschulabschluss. Immerhin sind 50 Prozent der Ausbildungsstellen, die zur Verfügung stehen, für Hauptschulabsolventen nicht zugänglich. Wir haben mittlerweile mehr als 2 Millionen Menschen im Alter von 20 bis 34 Jahren ohne Ausbildung. Ihnen drohen prekäre Beschäftigung und Arbeitslosigkeit, und uns droht, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt an dieser Stelle weiter ruiniert wird.
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Wir wissen aus den Erfahrungen mit dem produktiven Lernen in den neuen Ländern, dass Lernen besonders dann erfolgreich ist, wenn es praxisnah geschieht, wenn junge Menschen erleben, dass Wissen und Kulturtechniken tatsächlich nützliche Werkzeuge sind, und zwar nicht simuliert, sondern in Echtsituationen. Das ist das Prinzip der dualen Berufsausbildung. Es ist also grundsätzlich auch für Schülerinnen und Schüler mit schlechten Schulerfahrungen sehr geeignet. Deswegen müssen wir gemeinsam versuchen, nicht nur den Zugang, sondern auch den Erfolg im dualen System zu ermöglichen.
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Warteschleifen und Sackbahnhöfe, wie beispielsweise das Berufsgrundbildungsjahr oder das Berufsvorbereitungsjahr, sehen wir deshalb sehr kritisch. Wenigstens aber müssen wir über Anreize nachdenken. Eine Möglichkeit wäre, das Berufsgrundbildungsjahr in einer sich anschließenden Ausbildung anzuerkennen. Sehr viel attraktiver und erfolgreicher ist beispielsweise das Modell der Assistierten Ausbildung.
Meine Damen und Herren, wir haben viele Baustellen und auch viel Nachholebedarf in der beruflichen Bildung. Ich will nur einen kurzen Impuls meiner Vorredner und Vorrednerinnen aufnehmen. Das ist das große Schlagwort „Digitalisierung“. Hier darf es auch in der beruflichen Bildung nicht nur darum gehen, digitale Kompetenzen zu vermitteln. Hier geht es um Bildung in einer digitalen Gesellschaft. Das ist mehr, das ist sehr viel mehr. Wir werden das zu gegebener Zeit aufgreifen.
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Eine Aufwertung der beruflichen Bildung ist nötig. Trotzdem finde ich manche Überschrift, zumal wenn mit Untertönen versehen, merkwürdig: Wir haben zu viele Akademiker – Wir brauchen mehr Facharbeiter – Meister statt Master. Das hieße ja unterm Strich, dass all das, was auf dem Arbeitsmarkt gebraucht würde, das Maß der Dinge sei und für junge Leute brauchte es nicht mehr. Ich finde, Bildung ist nicht etwas, meine Damen und Herren, von dem man zu viel haben kann.
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Berufliche Bildung ist das Startkapital junger Menschen für ein gutes und selbstbestimmtes Leben. Deswegen brauchen wir ein Recht auf vollqualifizierende Ausbildung.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch. Auf die der Bundesregierung warten wir noch.
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Herzlichen Dank. – Als Nächstes für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Vor wenigen Wochen wurde in den Medien über Christian Sewing berichtet. Als neuer Chef der Deutschen Bank wird er künftig die Geschäfte des größten deutschen Kreditinstituts führen. Sewing, der als Azubi vor 30 Jahren angefangen hat, hat damit eine beispiellose Karriere hingelegt.
Vom Azubi zum Chef eines großen Unternehmens zu gelangen – diese Geschichte ist in Deutschland immer noch sehr selten. Das ist leider immer noch die Ausnahme. Das liegt ganz sicher nicht am fehlenden Engagement der jungen Menschen. Das liegt auch nicht daran, dass Auszubildende zu wenig Talent oder zu wenig Potenzial haben, um es bis ganz nach oben zu schaffen. Aufstieg durch Bildung – um nichts anderes geht es dabei ja – bleibt in Deutschland leider vor allem deshalb so vielen Menschen vorenthalten, weil zwar mittlerweile viel über berufliche Bildung gesprochen wird, aber noch zu wenig getan wird.
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Liebe Kollegen und Kolleginnen, das ist auch das Ergebnis von über zwölf Jahren CDU-geführter Berufsbildungspolitik. Und das, sehr geehrte Frau Ministerin Karliczek, ist das schwere Erbe, das Sie von Ihrer Vorgängerin übernehmen. Die Lage auf dem Ausbildungsmarkt ist bei weitem nicht so rosig, wie es uns die Presseerklärungen des Bildungsministeriums weismachen wollen. Nein, werfen Sie einmal einen Blick in den Berufsbildungsbericht. Dort lesen wir schwarz auf weiß – Sie haben es ja auch gesagt –:
Mehr als jeder vierte Ausbildungsvertrag wird vorzeitig aufgelöst. – Das haben wir heute schon oft gehört. Jahrelang hat die Große Koalition dieser Entwicklung relativ tatenlos zugesehen, obwohl sie sie erkannt hatte. Sorgen Sie endlich für gute Berufsorientierung und auch für klischeefreie Beratung in den Schulen, und zwar in jeder Schulform und auch an jeder Schule.
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Ich finde, junge Menschen haben es verdient, gut informiert ins Berufsleben zu starten. Berufsorientierung – das sagen alle Fachleute – muss früher beginnen, muss die Eltern mit einbeziehen. Ich bin überzeugt: Wer die Schule gut beraten verlässt, der schmeißt später auch nicht so schnell frustriert hin.
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Immer mehr Betriebe ziehen sich aus der Ausbildung zurück, und das seit Jahren. – Stoppen Sie diesen Sinkflug – Sie haben das Problem ja auch benannt und angekündigt, sich da einzubringen –, sodass die Ausbildungsbeteiligung wieder zunimmt! Wir müssen auch kleine Betriebe unterstützen, damit sie sich wieder mehr beteiligen können. Ich glaube, das ist dabei das Wichtigste.
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Die Integration von Geflüchteten läuft viel zu schleppend. – Auch das steht in Ihrem Bericht. Sorgen Sie dafür, dass kein Geflüchteter, der eine Ausbildung macht, sie abbrechen muss! Sagen Sie das vor allem bitte den bayerischen Kollegen und Kolleginnen von der CSU! Es ist doch total unverantwortlich und bildungspolitisch wirklich absurd, dass motivierte junge Menschen, die schon in der Ausbildung sind und sich anstrengen, rausgeworfen werden, nur weil sich ein paar – sage ich jetzt – konservative Scharfmacher am rechten Rand profilieren wollen.
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Aber auch in Ihrem eigenen Haus, dem Ministerium, sollten Sie künftig mehr tun, damit die geflüchteten Menschen auch zu Fachkräften werden. Hunderttausende junge Menschen im ausbildungsfähigen Alter sind hierhergekommen, und nur circa 10 000 haben den Weg in eine Ausbildung gefunden. Das ist zu wenig. Sorgen Sie für gute Sprachförderung! Öffnen Sie die Integrationsangebote endlich auch für Asylbewerberinnen und -bewerber und für Geduldete, damit jeder die Chance auf eine Ausbildung bekommt! Das kommt beiden Seiten zugute, auch unserem Land.
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Der Berufsbildungsbericht zeigt noch eine andere Entwicklung, die eigentlich jede verantwortungsvolle Bildungspolitik alarmieren muss. Immer mehr junge Menschen haben nämlich – auch das haben wir heute schon gehört – keinen Berufsabschluss. Mittlerweile sind über 2 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 34 ohne Abschluss und damit von prekärer Beschäftigung betroffen und von Arbeitslosigkeit bedroht, und das, obwohl viele Betriebe händeringend nach Auszubildenden suchen. Ich finde, für die selbsternannte Bildungsrepublik Deutschland ist das ein schlechtes Zeugnis. Deswegen: Schaffen Sie endlich eine Ausbildungsgarantie! Machen Sie Schluss mit den Warteschleifen im Übergangssystem! Und bauen Sie den jungen Menschen stabile Brücken in die Ausbildung!
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Die Bundesrepublik Deutschland braucht jedes junge Talent, und jedes Talent braucht eine Aufstiegsleiter. Irgendjemand von der SPD hat vorhin gesagt: Auch die ohne Talent brauchen das. Wir müssen uns also um alle jungen Menschen kümmern.
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– Die SPD weiß es fast so gut wie wir.
Wie Chancengerechtigkeit und Fachkräftesicherung zusammen gedacht werden können, haben wir in unserem grünen Antrag zu beschreiben versucht. Klar ist: In Zukunft muss deutlich mehr passieren, damit die berufliche Bildung – ich zitiere Sie, Frau Ministerin – wieder ein Pfund wird, mit dem das Land wuchern kann. Hier und da ein Programm – das wird nicht reichen, um die berufliche Bildung ins 21. Jahrhundert zu heben. Digitalisierung, Gleichwertigkeit der Bildungswege, Integration von Geflüchteten und nicht zu vergessen die gesamte Weiterbildung – das muss man tatkräftig gestalten, und da muss man, wie ich finde, klotzen, nicht kleckern.
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Ich bin überzeugt: Nur dann, wenn sich Bund, Länder und Kommunen zusammen mit Wirtschaft, Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft als Verantwortungsgemeinschaft verstehen und die jungen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft und vom Elternhaus sicher in die Ausbildung kommen, kann man alle Potenziale nutzen. Dafür brauchen wir einen Berufsbildungspakt für Fachkräfte, der die auslaufende Allianz für Aus- und Weiterbildung ablöst und das Ganze auf eine neue Stufe hebt.
Sorgen Sie jetzt dafür, dass am Übergang von der Schule zum Beruf kein Talent und auch kein anderer Mensch mehr verloren geht! Bringen Sie Berufsorientierung früher an die Schulen! Und investieren Sie endlich in die beruflichen Schulen, damit die Herausforderungen der Digitalisierung und der Einwanderungsgesellschaft gestemmt werden können!
Sehr geehrte Frau Ministerin, nutzen Sie Ihre Chance! Sie haben vorhin gesagt, dass Sie sich nicht mit dem zufriedengeben, wie es ist. Das finde ich sehr gut. Ich wünsche Ihnen für Ihre Arbeit ganz viel Erfolg, hoffe auf gute Zusammenarbeit und wünsche mir, dass es selbstverständlich wird, dass ein Azubi bei uns Vorstandsvorsitzender werden kann. Ich glaube, das ist in unser aller Sinn.
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Herzlichen Dank, Frau Kollegin Walter-Rosenheimer. – Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Stephan Albani.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer und vor allen Dingen – heute ist Zukunftstag! – auch liebe junge Menschen, darunter drei aus meinem Wahlkreis, die dieser Debatte entsprechend folgen. Hier geht es nämlich um eure Zukunft. Hier geht es um das, was wir machen wollen, damit die berufliche Bildung, die wir heute auf der Basis des Berufsbildungsberichtes debattieren, auch weiterhin kraftvoll ausgestattet ist. Viele bezeichnen sie als Exportschlager, und was wir an der beruflichen Bildung haben, sieht man mitunter, wenn man aus dem Ausland zurückschaut. Ich habe mich gerade letzte Woche in Serbien über die Einführung der beruflichen Bildung informiert, die es dort seit letztem Jahr gibt. Angesichts der Jugendarbeitslosigkeit, der Passungsprobleme und dergleichen mehr, mit denen außerhalb eines solchen Systems gekämpft wird, weiß man, was man an diesem System hat.
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Insofern zeigt der Berufsbildungsbericht auch die Qualitäten auf. Einiges wurde schon angesprochen. Das Angebot übersteigt die Nachfrage. 523 000 Ausbildungsverträge sind ein sehr positives Zeichen, dass dieses Produkt entsprechend am Markt ankommt. Die Zahl der Ausbildungsbetriebe bleibt konstant, und trotz des Rückgangs der Zahl der Schulabgänger wird die duale Ausbildung eher mehr als weniger nachgefragt. Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode dieses Produkt auch gepflegt. Wir haben die Berufsbildungsketten bis zum Abschluss gestärkt. Wir haben die Potenzialanalysen eingeführt bzw. gestärkt.
An dieser Stelle möchte ich anmerken: Bei aller Liebe, Rainer, es gibt keine Menschen ohne Talente. Wir müssen sie nur finden; das ist das Entscheidende.
({1})
Wir haben die überbetrieblichen Ausbildungsstätten gestärkt. Die Allianz für Aus- und Weiterbildung stand die letzten drei Jahre und steht auch in dieser Legislaturperiode auf der Agenda.
Es ist aber auch richtig: In diesem Bericht stehen auch einige Dinge, die nachdenklich stimmen und es notwendig machen, dass wir dieses Produkt, diesen Exportschlager, weiterentwickeln.
Ich nenne die Passungsprobleme. Es gibt 49 000 unbesetzte und 24 000 nicht vermittelte Kräfte.
Die Bezeichnung „Abbrecherquote“ ist nicht richtig; das möchte ich hier noch einmal wiederholen. Es handelt sich oft um aufgelöste Ausbildungsverhältnisse, die teilweise in anderen Zusammenhängen fortgeführt werden.
Eben fiel das Wort „klischeefrei“. Es geht, glaube ich, nicht darum, dass die Beratung klischeefrei stattfinden sollte. Wenn man sich die Top-Ten-Liste der Berufe mit Abbrüchen anschaut, dann stellt man fest, dass der Beruf des Kochs mit 48 Prozent bereits auf Platz zwei liegt. Der Beruf des Kochs, so schön und inspirierend er ist, hat nichts mit den Challenges von „The Taste“ oder vergleichbaren Sendungen zu tun. Das heißt, man sollte sich auch hier anschauen, inwieweit Klischees, die in anderen Bereichen, zum Beispiel in Fernsehserien, vermittelt werden, hinterher dazu führen, dass Auszubildende auf dem harten Boden der Realität aufschlagen.
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Ein weiterer Punkt, der schon angesprochen wurde, ist der Rückgang der Zahl ausbildender Kleinstbetriebe. Um eine Zahl zu nennen: Ihr Anteil ist um 0,2 Prozentpunkte zurückgegangen, zum ersten Mal auf unter 20 Prozent, aber nur um 0,2 Prozentpunkte. Dennoch ist das ein wichtiger Punkt. Warum? Stichwort „Digitalisierung“.
Wenn man nachfragt, warum sich Kleinstbetriebe aus der Ausbildung verabschieden – ich mag es sehr, wenn man mit den Leuten spricht, die sich auskennen –, dann hört man zum Beispiel: Wir haben zwei, drei Jahre ausgeschrieben, haben aber keine Bewerber bekommen. Deswegen hören wir jetzt auf. – Oder für einen Kleinstbetrieb mit Meister, Geselle und vielleicht einer Bürokraft ist unter Umständen Ausbildung nicht ohne Weiteres zu stemmen. Insofern müssen wir genau an dieser Stelle ansetzen.
Wenn man sich außerdem anschaut, warum sich junge Menschen nicht öfter um eine betriebliche Ausbildung in Kleinstbetrieben bewerben, kommt man zu dem Schluss: Nach 13 Jahren Kuscheln mit den Mitschülern ist es mitunter angenehmer, mit den Kommilitonen weiterzukuscheln, als in einem Betrieb auf einmal ganz alleine zu sein. Es gibt wunderbare Beispiele dafür, wie sich Kleinbetriebe zusammenschließen – in meinem Wahlkreis gibt es zum Beispiel im Bereich der Lagerlogistik ein solches Beispiel – und eine überbetriebliche Gruppe von Auszubildenden schaffen, die in den einzelnen Betrieben unterschiedliche Techniken kennenlernen. Gerade da müssen wir ansetzen.
({3})
– Sowieso!
Wir haben in der nächsten Legislaturperiode also einiges zur Weiterentwicklung auf dem Plan, angefangen mit der Novelle des Berufsbildungsgesetzes. Die Prüfungsordnungen müssen modernisiert werden. Das ist wichtig und muss geschehen; denn wenn ein Auszubildender in einen Kleinstbetrieb kommt und vielleicht aus der ÜBS Kenntnisse über moderne, digitale Verfahren mitbringt, dann ist das auch eine Methode zur Modernisierung eines kleinen Betriebes. Die Förderung von mehr Mobilität und der Digitalpakt werden das Ihre dafür tun.
An die drei aus meinem Wahlkampf gerichtet
({4})
– Wahlkreis natürlich! –, Tom, Lennart und Deik: Wir tun etwas für Euch. Schaut euch das an! Es ist ein gutes Produkt. Es ist die Basis eurer Zukunft. Wir werden das gemeinsam miteinander gestalten.
Noch etwas.
Nein, bitte kommen Sie zum Schluss, Herr Kollege.
Alles klar.
Wenn ich mir die vorliegenden drei Anträge anschaue, kann ich nur sagen: Man sollte darauf achten, nicht Altes in der Hoffnung aufzuwärmen, dass es neue Wirkung entfaltet. Das geschieht nämlich in der Regel nicht.
Danke schön.
({0})
Herr Albani, herzlichen Dank. – Als Nächstes für die AfD-Fraktion Dr. Heiko Heßenkemper.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass eine Regierung und die sie tragenden Parteien deren Politik schönreden, ist normal. Selten klaffte aber zwischen der Realität und der im Berufsbildungsbericht beschriebenen Situation eine solche Lücke. Zusammengefasst: Sie tanzen auf den Trümmern des dualen Bildungssystems.
({0})
Ich muss zunächst einen Umweg machen. Seit dem Machtantritt von Frau Merkel hat sich die Studienanfängerquote von 37,1 Prozent auf 56 Prozent fehlentwickelt, völlig am Bedarf vorbei, auch wenn aktuell in der durch Umsiedlungs- und Neuansiedlungspolitik boomenden Sozialindustrie – hoffentlich nur temporär – ein neues Jobwunder geschaffen wurde.
({1})
Einige Fakten zur Fehlallokation: 205 Professuren in Deutschland für Materialwissenschaft und Werkstofftechnik, 185 Genderprofessuren mit Schwerpunkten im rot-grün geprägten NRW und in Berlin, in den, wie wir alle wissen, führenden Wirtschaftsstandorten in Deutschland,
({2})
und schließlich 3 702 Professuren für Kunst und Kunstwissenschaften. Das ist sicherlich das, was Deutschland voranbringt.
({3})
Wenn dies keine Fehlallokation ist, was dann?
Immer mehr Menschen werden mit sinkendem Bildungsniveau zum Abitur geführt,
({4})
und die CDU hält in den Landesparlamenten nicht dagegen. Aus dem Rest kann der Personalbedarf für die Berufsausbildung qualitativ und quantitativ nicht mehr gedeckt werden.
({5})
Es findet, um Frau Höchst zu zitieren, ein Qualitätslimbo statt. Die Ausbildungsanfängerquote ist von 2011 bis 2015 bei Deutschen von 60,3 Prozent auf 56,7 Prozent gesunken, bei Ausländern gar von mageren 35,4 Prozent auf 26,2 Prozent.
Und nun kommt die Wunderwaffe zur Lösung all dieser Probleme: nein, nicht die arbeitsuchenden jungen Menschen aus der EU, sondern natürlich die Migration aus der Dritten Welt. Allen Informationen aus unterschiedlichsten Quellen zum Trotz, dass wir eine dominante Einwanderung in die Sozialsysteme haben: 2 Millionen von 6 Millionen Hartz-IV-Empfängern sind Ausländer. Ziehen wir noch die Menschen mit Migrationshintergrund, aber deutschem Pass hinzu, steigt die Zahl rapide. Interessant, dass nun gut 20 Prozent sogar nicht einmal aus der EU stammen, davon wiederum die Hälfte aus Syrien. Der deutsche Schichtarbeiter darf für den Rest der Welt arbeiten, aber eben nicht umgekehrt.
({6})
Zu diesem unsäglichen Skandal gehört, dass wiederum mit dem Geld des deutschen Steuerzahlers sogenannte Integrationsmaßnahmen finanziert werden.
({7})
Hier wird ein großes Rad gedreht. Allerdings muss man feststellen, dass im Dezember 2016 425 000 Menschen als arbeitsuchend im Kontext von Fluchtmigration registriert waren;
({8})
aber nur 8 100 konnten in Unterstützungsmaßnahmen der Berufswahl und Berufsorientierung eingebunden werden.
({9})
Da hilft wohl auch eine Offensive zur Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen nichts. Bei 74 Prozent der Verfahren sind die anerkannten Abschlüsse – Zitat – „den deutschen Referenzberufen vollständig gleichwertig“. Nur 2,6 Prozent wurden abgelehnt.
({10})
Unsere Frage, ob nun die Ausbildung in der Dritten Welt so gut wie bei uns geworden ist oder ob wir inzwischen in der Ausbildung auf dem Niveau der Dritten Welt angekommen sind, hat die Ministerin bis heute nicht beantworten können – ein Schelm, wer annimmt, dass diese Anerkennungspraxis das Resultat einer politischen Vorgabe ist.
({11})
Es wird Zeit, dass wir diesen Mummenschanz auf Bundes- und Länderebene endlich aufhören lassen und dass wir uns eingestehen, dass die verschiedenen ideologischen Ansätze und Experimente im Bildungsbereich kläglich gescheitert sind. Es wird Zeit für eine radikale Umkehr in der gesamten Bildungspolitik.
({12})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Herzlichen Dank. – Als Nächstes für die Fraktion der SPD die Kollegin Yasmin Fahimi.
({0})
Puh, das war ja ganz schön viel Meinung für keine Ahnung.
({0})
Sehr geehrter Herr Bundestagsvizepräsident! Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Girls’ Day! Passenderweise reden wir in der Tat hier heute über den Berufsbildungsbericht 2018.
({1})
Wir freuen uns darüber, dass wir bundesweit ein kleines Plus neu abgeschlossener Ausbildungsverträge verzeichnen können. Es sind aber auch knapp 50 000 Ausbildungsplätze nach wie vor nicht besetzt, und manche glauben, das sei ein Problem. Ich sage sehr deutlich: Ich finde nicht, dass das ein Problem ist. Vielmehr ist ein Überangebot, wie manche es nennen, genau richtig; denn es geht um eine Auswahlmöglichkeit für die jungen Erwachsenen. Es geht eben nicht allein um die Frage, welcher Jugendliche zu welchem Ausbildungsplatz passt, sondern auch darum, welcher Ausbildungsplatz eigentlich zu welchem Jugendlichen passt.
Deswegen sind nicht die unbesetzten Plätze das eigentliche Problem, sondern mehr als 80 000 Jugendliche, die nach wie vor auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz sind.
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Diese Zahl der sogenannten unversorgten Jugendlichen legt den Finger in die Wunde; denn das Ausbildungsangebot erreicht sie offensichtlich nicht, es ist ihnen nicht möglich, es anzunehmen, oder sie sehen keine Perspektive darin. Das betrifft vor allem Hauptschulabsolventen, die es gerade mal zu 50 Prozent direkt in eine Ausbildung schaffen. Wir brauchen also noch viel mehr aktive und aufsuchende Berufsberatung und Ausbildungsbegleitung, um erfolgreiche Abschlüsse zu sichern.
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Die Abbrecher- und Wechselquoten zeigen auch eines, wie hier richtigerweise angemerkt worden ist, nämlich dass wir noch viel zu wenig gute Arbeit haben. 20 Prozent der Erwerbstätigen mit einer erfolgreich abgeschlossenen Berufsausbildung verdienen weniger als 10 Euro pro Stunde. Das ist unhaltbar. Ich verstehe im Übrigen auch nicht, warum es eigentlich immer wieder so zäh ist, wenn wir darüber verhandeln, dass wir daran etwas verbessern. Aber gut, wir haben einen Sozialtarifvertrag und eine Mindestausbildungsvergütung in den Koalitionsvertrag hineingebracht, und darauf sind wir verdammt stolz.
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Ich will an dieser Stelle aber auch ausdrücklich sagen: Es wird in den kommenden Jahren auch auf die Arbeitgeber ankommen. Sie haben eine Wahl. Sie können die selbstgewählte Tarifflucht stoppen und sich endlich wieder an unseren erfolgreichen Prinzipien der Marktwirtschaft beteiligen und damit verhindern, dass wir gezwungen sind, zukünftig noch mehr und deutlicher gesetzgeberisch einzugreifen, um gute Löhne und gute Ausbildungsbedingungen zu sichern.
Sehr geehrte Damen und Herren, der digitale Wandel ist – das will ich hier auch noch einmal deutlich sagen – nicht allein eine technische Lernaufgabe.
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Es geht vor allem auch um interdisziplinäres Arbeiten, soziale Kompetenzen, Sorgearbeit. Die erste Frage, die wir stellen müssen, ist daher nicht: Was müssen wir für morgen lernen? Die erste Frage ist: Wie und was wollen wir morgen arbeiten? Was ist die Rolle des Menschen in der zukünftigen Arbeitswelt?
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Und dann geht es eben nicht allein um Technik und Informationsverarbeitung, sondern es geht auch um soziale Arbeit und um das Miteinander. Wir müssen angesichts der Veränderung alle in ein neues digitales und soziales Zeitalter mitnehmen.
Jungen Auszubildenden mangelt es oft an den realen Voraussetzungen. Damit meine ich nicht ihre Ausbildungsfähigkeit, wie manche hier vielleicht reflexhaft glauben, sondern ich meine: gebührenfreie Mobilität, bezahlbares Wohnen, Mindestausbildungsvergütung und vieles mehr, was wir als Sozialdemokraten durchsetzen wollen. Darüber hinaus müssen wir uns meines Erachtens perspektivisch für eine bessere allgemeine, elternunabhängige Grundsicherung für die Erstausbildung einsetzen sowie eine Ausbildungsgarantie anstreben.
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Sehr geehrte Damen und Herren, unser Ideenvorrat ist mit dem, was im Koalitionsvertrag steht, noch lange nicht aufgebraucht. Das sozialdemokratische Berufsbildungscredo lautet: Nicht persönliche Netzwerke und Herkunft bestimmen deine Zukunft, sondern Fleiß und Talent. Wir verhelfen dir zum Durchbruch. – Das macht den Unterschied zwischen einer Regierung mit oder ohne Sozialdemokratie.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank. – Als Nächstes für die Freien Demokraten die Kollegin Nicola Beer.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Ziele, die Wünsche, auch die Talente junger Menschen sind vielfältig. Ein Bildungssystem sollte diese Vielfalt, diese Selbstbestimmung nicht ausbremsen, sondern unterstützen und fördern. Ein gutes Bildungssystem, gerade in der beruflichen Bildung, unterstützt die verschiedenen Möglichkeiten, nach jeder Art von Abschluss wieder einen neuen Anschluss zu finden. Man muss dies auch flexibel über modularisierte Teilabschlüsse über den gesamten Lebensweg ermöglichen, und zwar je nach individueller Lebenssituation und Fähigkeiten. Das, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, sichert Durchlässigkeit in unserem Bildungssystem, schafft Aufstiegschancen, und zwar jeden Tag neu, und macht Menschen stark, ihren Lebensweg in unserer Gesellschaft selbstbestimmt und mündig zu gehen.
({0})
Genau deswegen treibt es mich um und macht es mich besorgt, Frau Kollegin Fahimi, wenn wir immer mehr unversorgte Jugendliche haben, wenn über 2 Millionen junge Menschen ohne jeglichen Berufsabschluss dastehen; das sind 9 Prozent mehr als im Vorjahr, Frau Ministerin. Jeder von ihnen – jeder junge Mann, jede junge Frau – hat schon viele Frustrationserlebnisse gehabt und startet so, obwohl talentiert, mit wesentlich schlechteren Chancen in das Berufsleben. Von daher müssen wir uns sehr ernsthaft, nicht nur in Sonntagsreden fragen, was wir an dieser Stelle besser machen müssen.
Wir müssen bei der Ausbildungsfähigkeit besser werden. Frau Kollegin Fahimi, Sie müssen mal in die Ausbildungsunternehmen, in die Betriebe hineingehen
({1})
und schauen, welche Mängel dort gesehen werden. Wir müssen nicht nur im Bereich der Kenntnisse und Kompetenzen, sondern auch beim Leistungswillen ansetzen.
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Wir brauchen eine passgenauere Berufsvermittlung und Berufsorientierung, mehr modularisierte Angebote und begleitende Ausbildungshilfen. Aber der Schlüssel ist, wie ich glaube, die berufliche Bildung wieder attraktiver zu machen, damit wir mehr junge Menschen dafür interessieren und sie insbesondere auf dem anstrengenden Weg der beruflichen Bildung auch bei der Stange halten.
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Doppelt qualifizierende Abschlüsse – Berufsabschluss plus Schulabschluss, Berufsabschluss plus Studienabschluss – können ein Weg sein. Auch Hochbegabte dürfen hier nicht aus den Augen verloren werden.
Darüber hinaus müssen wir endlich die neuen Berufsbilder umsetzen und die Berufe an die veränderten Anforderungen anpassen. Der Tischler plant längst in 3D die komplette Wohnzimmerwand. Der Elektriker ist zum Smarthome-Manager geworden. Es kann nicht sein, dass wir in einer gesamten Legislaturperiode nur 48 von 327 Ausbildungsberufen neu ordnen und davon nicht einmal die Hälfte mit einem digitalen Bezug.
Nein, wir brauchen eine qualitätsvollere, eine spannendere Ausbildung. Das kann man überall im Ausland schon beobachten. Ich glaube, dass es uns guttäte, durch mehr Investitionen als bislang vorgesehen, gerade beim Digitalpakt, Frau Kollegin Karliczek, die Berufsschulen und die Ausbildungsunternehmen fitzumachen, damit wir die berufliche Bildung weiterhin als Zukunftsmodell exportieren können.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Beer. – Als Nächstes rufe ich den fraktionslosen Abgeordneten Mario Mieruch auf.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Berufsbildungsbericht legt viele Probleme offen, die uns bereits seit vielen Jahren begleiten. Zwei wesentliche sind heute schon genannt worden: die unbesetzten Ausbildungsplätze und die Auflösungsquote.
Der Bericht zitiert Ursachen aus der Sicht der Azubis wie auch aus der Sicht der Ausbilder. Hier gilt es, bei grundlegenden Themen anzusetzen. Ein Schlüssel liegt sicherlich in der Rückkehr zu bewährten Tugenden wie Fleiß, Pünktlichkeit, Ordnungssinn, Leistungswille und Respekt. Ein altes Sprichwort sagt nicht umsonst: Lehrjahre sind keine Herrenjahre!
({0})
Die Erwartungshaltung, mit immer weniger Aufwand immer mehr und schneller etwas zu erreichen, ist ein Trugschluss, dem unser Nachwuchs nicht aufsitzen darf. Das muss zurück in den Fokus der gesellschaftlichen Akzeptanz.
So kann ich mich nur wundern, dass es augenscheinlich bisher niemanden gab, der den Fakt aufgegriffen hat, dass die vermeintlich so wunderbaren und tollen Matheergebnisse der zehnten Klassen letztens hier in Berlin am Ende dem Niveau der siebten Klasse in Bayern entsprachen. Es hilft also nicht, die Anforderungen zu reduzieren und mehr zu erwarten.
Die Lehrer und die Ausbilder sind nicht die Prügelknaben des Systems und nicht ständig dafür verantwortlich, dass es teilweise so ist, wie es ist. Sie haben stattdessen Respekt für eine Aufgabe verdient, die immer komplexer und anspruchsvoller wird. Das Vermitteln – das ist heute noch gar nicht angesprochen worden – von Sozialkompetenzen und Empathie muss zum einen diesen Damen und Herren zugestanden werden, aber es muss zum anderen vor allem vom Elternhaus erwartet werden dürfen.
Genauso wichtig ist die gesellschaftliche Anerkennung von Facharbeitern, Gesellen und Meistern. Es muss nicht immer das Studium sein; denn Handwerk – noch einmal ein altes Sprichwort – hat auch heute noch goldene Hände.
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Die Rückkehr zur Meisterpflicht zum Erhalt von Qualifikation und Qualität sowie zur Sicherstellung gerechter Löhne ist daher längst überfällig. Wir haben ohne Not unsere weltweit anerkannten Ingenieurstudiengänge gegen den Bachelor eingetauscht, um hinterher festzustellen, dass ohne nachgeschobenen Master nichts läuft. Sich im Selbstfindungsprozess durchs Leben treiben zu lassen, hängt uns im globalen Wettbewerb nur weiter ab.
Wenn ständig dazwischengeredet wird, dann zeugt das vielleicht davon, dass man ohne Berufsabschluss nach 40 Semestern Sozialpädagogik oder dergleichen möglicherweise hier landet.
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Wir brauchen stattdessen klare Ziele, Stringenz und Ehrgeiz, und das Ganze in zwingender Verknüpfung mit unserem Status als Hochtechnologieland und in dem Bewusstsein, dass wir lebenslang lernen.
Vielen Dank.
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Herr Kollege Mieruch, herzlichen Dank. – Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Yvonne Magwas.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Berufsbildungsbericht enthält viele gute Nachrichten für die jungen Menschen in unserem Land. Die berufliche Bildung bringt einerseits hervorragend ausgebildete Fachkräfte hervor; diese sind Basis für unseren Wohlstand. Andererseits – das ist in Zeiten von sehr hoher Jugendarbeitslosigkeit in vielen europäischen Staaten wichtig – ist eine solide Ausbildung ein Türöffner für die spätere berufliche Laufbahn. Das zeigt, dass die duale Ausbildung auch im 21. Jahrhundert das Erfolgsmodell ist.
Aber, meine Damen und Herren, die berufliche Bildung muss auch ein lernendes System sein. Es bestehen zweifelsohne einige Baustellen, vor denen wir keinesfalls die Augen verschließen dürfen. Das ist uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion und als Bildungspolitiker Herausforderung und Ansporn zugleich. Am heutigen Girls’ Day macht mich beispielsweise die stetig sinkende Zahl von jungen Frauen, die eine duale Berufsausbildung beginnen, sehr nachdenklich. Dagegen nehmen immer mehr junge Frauen ein Studium auf. Mit diesem Trend müssen wir uns auseinandersetzen. Offenkundig liegt an dieser Stelle auch ein Attraktivitätsproblem der beruflichen Bildung vor.
Nicht selten äußern junge Menschen die Sorge, ohne Hochschulabschluss würden sie später nicht genug verdienen, außerdem sei die Bezahlung gerade in der Ausbildung gering. Diesen finanziellen Sorgen – die Ministerin hat es gesagt – wollen wir als Koalition auch mit der Verankerung einer Mindestausbildungsvergütung und Verbesserungen beim Aufstiegs-BAföG Rechnung tragen. Zudem gilt es, die Ausbildungsverordnungen für die Zukunft fit zu machen. Das heißt, wenn auf der Arbeit vieles digital abläuft, dann muss dies auch vorher in der Ausbildung verankert sein. Das setzt aber auch voraus, dass die Ausbilderinnen und Ausbilder in der Lage sind, diese Neuerungen zu vermitteln.
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Unsere digitale Ausstattungsoffensive für berufliche Schulen ist dabei ein erster – nur ein erster – richtiger Schritt.
Machen wir uns aber nichts vor, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das gesellschaftliche Ansehen des Bildungsabschlusses spielt eine gewichtige Rolle bei der Wahl des eigenen Bildungsweges. Deshalb ist es richtig, mit der höheren Berufsbildung eine neue Bildungsmarke zu etablieren. Wir müssen gerade für Leistungsstärkere neue Aufstiegschancen schaffen und auch aufzeigen.
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Dabei, glaube ich, müssen wir das Rad nicht neu erfinden. Es gibt in den Ländern bereits viele gute Pilotprojekte, auf die wir aufsetzen können.
Ein Wort noch zum Thema Berufsorientierung. Ich denke, auch diese muss systemisch ausgeweitet werden. Alle Schulen und alle Schularten sind gefragt. Gerade an den Gymnasien muss die Studien- und Berufsorientierung ausgewogen sein. Hier brauchen wir kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch.
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Berufsorientierung muss auch die vielfältigen Karriereperspektiven, die das duale Ausbildungssystem bietet, objektiv darstellen. Die Kooperationen vor Ort, zum Beispiel zwischen Wirtschaft und Schulen, gilt es natürlich zu intensivieren.
Warum ist eine attraktive berufliche Bildung über den Arbeitsmarkt hinaus so enorm wichtig? Ohne eine die jungen Menschen ansprechende berufliche Bildung ziehen diese aus den ländlichen Regionen weg. Wir können es nicht zulassen, dass die Jugend nur noch den Weg in die Stadt und weg vom Land kennt. Das schadet nicht nur dem demografischen Gefüge der ländlichen Regionen, sondern es zerstört auch den sozialen Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Gerade ländliche Regionen ohne Hochschulstandorte sind auf den Erfolg unseres beruflichen Bildungssystems angewiesen. Für sie ist unser System der beruflichen Ausbildung gleichzeitig Standortpolitik. Auch deshalb müssen wir unsere Reformschritte in der beruflichen Bildung zum Erfolg führen.
Abschließend, meine Damen und Herren: Wenn wir die Herausforderungen mit den richtigen Konzepten angehen – so wie wir sie auch in unserem Koalitionsvertrag angelegt haben –, dann wird unser duales Ausbildungssystem auch für die zukünftigen Generationen ein Erfolgsmodell sein. Lassen Sie uns alle gemeinsam daran arbeiten.
Danke.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun der Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Zum Abschluss dieser Debatte möchte ich auf drei Punkte eingehen. Der erste Punkt ist sehr politisch. Ich will es den Grünen, der FDP und der CDU/CSU nicht ersparen: Wer in die Ergebnisse Ihrer Tragikomödie der Jamaikaverhandlungen hineinguckt, findet dort zur Berufsbildung faktisch nichts.
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Er findet keine Novellierung des Berufsbildungsgesetzes. Vielmehr ist dieses Vorhaben von der Sozialdemokratie in die Diskussion gebracht worden.
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Er findet bei Jamaika keine Dotierung der Aufstiegsfortbildungsförderung mit 350 Millionen Euro zuzüglich der Erweiterungen, die die Ministerin eben zugesagt hat; das ist erst durch uns – das hat eine lange Kontinuität – auf den Weg gebracht worden. Er findet nichts zur Mindestausbildungsvergütung. Die Mindestausbildungsvergütung haben Sie nicht gewollt; aber sie kommt jetzt. Und wir freuen uns, dass sie einer so großen Gruppe zugutekommt. Über 10 Prozent der jugendlichen Auszubildenden werden davon profitieren können.
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Das Ergebnis der Jamaikaverhandlungen ist auch sehr zurückhaltend in Bezug auf einen Punkt, den der Kollege Spiering hier immer wieder kompetent eingebracht hat, nämlich die Stärkung der beruflichen Schulen.
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Die Große Koalition, die Fortschrittskoalition, möchte die beruflichen Schulen stärken. Einerseits werden die berufsbildenden Schulen eine bessere Investitionsausstattung erhalten. Das ist sehr gut. Andererseits soll die Lehrerausbildung mit der Qualitätsoffensive Lehrerbildung aufgewertet werden. Das ist notwendig.
Ich komme zum zweiten Punkt. Zumindest uns fällt auf, dass berufliche Bildung mehr ist als duale Berufsausbildung. Wir machen einen Fehler, wenn wir die duale Berufsausbildung mit beruflicher Bildung gleichsetzen; denn in der beruflichen Bildung ist die duale Berufsausbildung zwar ein ganz zentraler Punkt, aber auch die schulische Berufsausbildung und die akademische Berufsausbildung sind davon umfasst. Wir müssen alle Bereiche stärken; denn wir brauchen für die jungen Menschen in allen Bereichen mehr Qualifikationspotenziale.
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Der Bericht, den die Bundesregierung vorgelegt hat, zeigt zwei schwierige Punkte. Der eine – das haben die Kollegin von den Grünen und auch andere angesprochen – ist: Es gibt immer noch 2,3 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 34 Jahren, die ohne Berufsausbildung sind. Ich möchte darauf hinweisen: Wir Sozialdemokraten glauben, dass hier mehr Zeit, mehr Geld und eine stärkere Kombination von schulischen, betrieblichen und außerbetrieblichen Komponenten notwendig ist, um diese jungen Menschen mit einer zweiten oder auch dritten Chance an eine abgeschlossene Berufsausbildung heranzuführen. Das mag uns von anderen unterscheiden.
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Der andere Punkt, den wir nicht außer Acht lassen dürfen, ist: In dem 130-Seiten-Bericht der Bundesregierung wird in einer Zeile erwähnt, dass wir im Bereich der Gesundheits-, Pflege-, Erziehungs- und Sozialberufe einen Rückgang der Ausbildungszahlen haben. In Deutschland sind 70 Prozent der Auszubildenden in der dualen Ausbildung und 30 Prozent in der schulischen Ausbildung. Dass es aber in diesen für unsere Reformvorhaben wichtigen Ausbildungsbereichen einen kleinen Rückgang der Ausbildungszahlen gibt, ist ein Problem.
Wir hatten seit 2005 – aus dem Bericht geht das hervor – einen Zuwachs der Auszubildendenzahlen in den schulischen Ausbildungsbereichen von über 23 Prozent. In den letzten drei Jahren stagniert diese Zahl aber. Wenn sie weiter stagniert, werden wir nicht alles, was wir uns in Bezug auf die Ertüchtigung der Kindertagesstätten als Bildungseinrichtung vorgenommen haben, bewältigen können. Wir werden die Herausforderungen im Pflege- und Gesundheitsbereich nicht bewältigen können. Wir werden auch nicht umsetzen können, was wir uns mit dem Rechtsanspruch auf einen Ganztagsgrundschulplatz bis 2025 vorgenommen haben.
Wenn wir nicht mit den Ländern zusammenarbeiten und diese nicht ihre Kapazitäten und die Voraussetzungen für die schulischen Ausbildungen in den Sozial-, Pflege- und Gesundheitsberufen deutlich aufwerten, wenn wir das nicht zusammen hinbekommen, dann fahren diese drei wichtigen großen Reformprojekte gegen die Wand.
Meine Bitte ist, Frau Ministerin, dass Sie, die den kooperativen Ansatz ja sehr stark in die Diskussion zwischen Bund und Ländern einbringen wollen, dieses auch zum Gegenstand des nächsten Berufsbildungsberichtes machen. Die Länder haben das in den Kommentierungen im Hauptausschuss selbst angeboten und eingefordert.
Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Schluss.
Das soll meine dritte und abschließende Botschaft sein: Wenn wir die Berufsbildung tatsächlich so stark machen wollen, wie es notwendig ist, dann wird das nur in einer gemeinsamen Anstrengung gehen: von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie von Bund und Ländern.
Frau Ministerin, alles, was Sie in diese Richtung unternehmen, hat unsere vollste Unterstützung.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Rossmann. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/1740, 19/1835, 19/1830 und 19/1795 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
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Einen kleinen Moment bitte. – Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, auch in der ersten Reihe der CDU/CSU-Fraktion, die Diskussionen, während der Redner spricht, zu unterlassen und den Platzwechsel so schnell wie möglich vorzunehmen. – Herr Kollege Beeck, Sie haben jetzt das Wort.
Mit neuer Zeit. – Ich bin „schwer in Ordnung“: Dieses Zitat der damals 14-jährigen Hannah mit Downsyndrom hat mich und auch viele andere hier im Hause schwer beeindruckt. Es ist ein Zeichen, das selbstbewusst und überzeugt signalisiert: Mit mir ist alles okay. – Wir Freien Demokraten wollen ein Zeichen setzen und haben unseren Antrag formuliert, um dieses „schwer in Ordnung“ in echte Teilhabe zu übersetzen. Wir wollen ein sichtbares Zeichen setzen für 7,6 Millionen Menschen mit schweren Behinderungen in unserer Gesellschaft, für mehr als 10 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen verschiedenster Art. Alle diese Menschen leben mit uns zusammen, und das ist schwer in Ordnung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Daraus erwachsen Ansprüche an Staat und Gesellschaft; denn dort, wo Hilfen für das barrierefreie Miteinander notwendig sind, haben wir als Gesellschaft diese bereitzustellen. Der Ausweis hilft, diese in Anspruch zu nehmen. In vielen Gesprächen habe ich erlebt, dass für einige Menschen mit Behinderungen der Name des Ausweises kein Problem ist, für viele andere aber sehr wohl. Sie fühlen sich durch die Bezeichnung ausgegrenzt, abgestempelt.
Hannah hat die Debatte um den Namen des Ausweises erneut angestoßen. Die Anregung und auch die Eloquenz der mittlerweile 15-Jährigen haben bereits zu erfreulichen Entwicklungen auf der Ebene der Länder geführt. Mittlerweile fünf Bundesländer geben zu dem amtlichen Schwerbehindertenausweis Hüllen mit dem Aufdruck „Schwer-in-Ordnung-Ausweis“ heraus: Hamburg, Brandenburg, Rheinland-Pfalz, mein Heimatland Niedersachsen und seit dieser Woche auch Berlin. Das sind großartige Reaktionen.
Aber warum auf halber Strecke aufhören? Für den Ausweis selbst sind wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Hause zuständig. Heute, wo die Politik die Teilhabe als Ziel verkündet hat und mit dem Bundesteilhabegesetz bereits vieles auf den Weg gebracht worden ist, gilt es, weiter zu arbeiten. Es geht nicht um Symbole, sondern um die Taten, die jetzt folgen müssen, um über Teilhabemöglichkeiten unserem gemeinsamen Ziel einer möglichst umfassend barrierefreien Gesellschaft näher zu kommen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Bundesteilhabegesetz hat unbestritten hehre Absichten und ist in etlichen Punkten gut gelungen. Sicher gibt es noch genauso viele Baustellen, die wir gemeinsam begleiten werden und wo noch ein gutes Stück Arbeit vor uns liegt. Wir Freien Demokraten werden uns dafür einsetzen, den Menschen mit seinen Talenten, seinen Bedarfen und seinen Wünschen in den Mittelpunkt dieses weiteren Prozesses zu stellen, und wir wissen uns in diesem Hause fast ausnahmslos in guter Gesellschaft.
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Sprache, Namen und Bezeichnungen spielen hierbei eine große Rolle; denn Sprache und Wortwahl prägen die Gesellschaft, prägen das Bewusstsein. Daher spricht vieles für die Änderung des Namens in Teilhabeausweis, wodurch Sprache im Übrigen auch nicht gebogen, nicht verunglimpft wird, so wie es manche, zugegeben, noch empfinden. Vielmehr wird Sprache präziser, sie wird synchronisiert mit unserer heutigen Rechtsordnung und der Amtssprache, wie sie etwa im Bundesteilhabegesetz offiziell bereits Anwendung findet. Kurzum: Die Umbenennung des Schwerbehindertenausweises in Teilhabeausweis hätte problemlos auch Teil des Bundesteilhabegesetzes sein können, vielleicht auch sollen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sprache ist Ausdruck und Spiegel von Kultur und Anstand. Aber sie kann auch das genaue Gegenteil sein: Sie kann beleidigen, sie kann ausgrenzen, sie kann in die Irre führen, sie kann diffamieren. Was wir in den letzten Wochen in Deutschland an Unverschämtheiten und Entgleisungen gegenüber Menschen mit Behinderungen erlebt haben, ist für mich bis heute unfassbar.
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Die Provokationen von der rechten Seite dieses Hauses in der Kleinen Anfrage zu Schwerbehinderten sind scheinheilig. Sie geben sich den Deckmantel der Fürsorge; aber Sie verknüpfen in infamer Weise den Zusammenhang von Heiraten in der Familie mit einer Schuldfrage, wenn Kinder mit Behinderungen geboren werden. Sie schüren damit Ressentiments – unterschwellig, nicht ausdrücklich, aber mit voller Absicht. Sie suggerieren bösartig einen abwegigen Zusammenhang von Inzucht, behinderten Kindern und natürlich – einmal mehr – Migrantinnen und Migranten. Sie vermitteln die menschenfeindliche Grundhaltung, Behinderung sei ein zu vermeidendes Übel, vor dem die Gesellschaft bewahrt werden müsse.
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Wenn Sie mich fragen wollen, Herr Präsident: Ich möchte keine Zwischenfragen zulassen, bis die AfD die Gelegenheit dieser Debatte genutzt hat, sich für diese Anfrage zu entschuldigen.
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Die Einschätzung, die ich gerade wiedergegeben habe, ist nicht die Einschätzung von mir als Ihrem politischen Wettbewerber –
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interessengeleitet könnte man vielleicht unterstellen –, sondern entstammt der gemeinsamen Erklärung 19 großer Sozialverbände in Deutschland, abgedruckt am letzten Sonntag in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Weiter heißt es in deren Erklärung – ich zitiere –:
Die Anfrage der AfD-Fraktion erinnert damit an die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte, in denen Menschen mit Behinderung das Lebensrecht aberkannt wurde und sie zu Hunderttausenden Opfer des Nationalsozialismus wurden.
Sie wollen doch erinnern an Diskussionen über die Wertigkeit menschlichen Lebens. Natürlich fühlen Sie sich wieder missverstanden und in eine falsche Ecke gedrängt. Warum nur, frage ich Sie, verstehen so viele Menschen Sie immer wieder falsch, wenn Sie doch für sich in Anspruch nehmen, so nahe an den Menschen zu sein?
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden genau so verstanden, wie Sie es beabsichtigen. Sie bleiben sich treu, fahren in der immer gleichen Spur, suchen den Tabubruch, ertasten die Grenze bis zum Skandal und überwinden diese dann ganz bewusst. Sie versuchen, damit zu überdecken, dass Sie beispielsweise in der Sozialpolitik nicht die Spur einer ernstzunehmenden inhaltlichen Idee haben. Sie entkernen das Ideal des politischen Diskurses noch in diesem Haus, und Sie offenbaren ein beleidigend niedriges Niveau und das völlige Fehlen von Moral, Integrität und Anstand.
({9})
Ihr Fraktionsvorsitzender im saarländischen Landtag hat in der vergangenen Woche offen und unverhohlen Förderschüler und Schüler mit Downsyndrom direkt verglichen mit ansteckenden Patienten, vor denen die Gesellschaft zu schützen sei.
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Was brauchen wir da noch für einen Beleg für Ihre Haltung?
Die Ehrfurcht vor der Vergangenheit und die Verantwortung gegenüber der Zukunft geben fürs Leben die richtige Haltung.
Dietrich Bonhoeffer, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({11})
Ihnen fehlt beides. Sie können oder wollen aus der Vergangenheit nicht lernen, und für die Zukunft fehlt Ihnen jede Spur von Verantwortungsgefühl.
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Glücklicherweise unterscheidet sich die große Mehrheit im Hause von Ihnen. Menschlichkeit und Zusammenhalt in unserer Gesellschaft stehen nicht infrage. Alle Menschen sind wertvoll, und nichts und niemand hat das Recht, Menschen in Wertekategorien einzuordnen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({13})
Herr Kollege Beeck, kommen Sie zum Schluss.
Ich hätte nicht gedacht, dass man das in einem deutschen Parlament noch einmal sagen muss. Aber die Überschrift gilt: „Es geht uns alle an: Wachsam sein für die Menschlichkeit“. Das war am 22. April die Überschrift der Anzeige der Sozialverbände. Ausdrücklicher Dank dafür an die Kollegin Ulla Schmidt als Vorsitzende der Bundesvereinigung Lebenshilfe für dieses klare Zeichen.
Kolleginnen und Kollegen, wir verteidigen heute an dieser Stelle auch unsere offenen, toleranten Werte in einer solidarischen und humanistischen Gesellschaft, die hier angegriffen und mit Füßen getreten wird. Das lassen wir nicht zu.
Herr Kollege, bitte ein letzter Satz.
Ich komme zum Ende, Herr Präsident, herzlichen Dank. – Eine Umbenennung des Ausweises in Teilhabeausweis mag geringfügig wirken, hat aber Potenzial für barrierefreies Denken und Sprechen. In diesen Tagen – es ist traurig – ist es auch das unmissverständliche Zeichen dafür, dass unsere Gesellschaft in Ordnung ist und in Ordnung bleibt.
Herr Kollege, bitte jetzt ein letzter Satz.
Herr Kollege Witt, wenn Sie gleich sprechen, nutzen Sie die Gelegenheit zur Entschuldigung.
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Als Nächster für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Peter Weiß.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion durchaus bescheinigen, dass sie mit der Umbenennung des Schwerbehindertenausweises eine nette und interessante Idee aufgegriffen haben. Es ist ja so, dass die Bundesländer mit den Hüllen, die erwähnt worden sind, unterschiedlich reagieren. Auch in der Szene der Betroffenen gibt es dazu unterschiedliche Auffassungen. Aber selbstverständlich, meine sehr geehrten Damen und Herren, kann es uns nicht nur darum gehen, über Begriffe zu diskutieren, sondern es kommt auf den Inhalt an.
Hier liegt eine Aufgabe vor uns, die mit zwei wichtigen Ereignissen verbunden ist. Das erste ist die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention. Seither sprechen wir bewusst von Inklusion und nicht mehr von Integration, und Inklusion ist ein hoher Anspruch. Das zweite Ereignis ist die Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes. Wir sprechen zu Recht von Teilhabe. Deshalb haben wir in der letzten Legislaturperiode dieses Gesetz auf den Weg gebracht.
Die Aufgabe besteht darin, das Genannte in den kommenden Jahren endlich mit konkretem Inhalt zu füllen und konkret umzusetzen. Deswegen, glaube ich, sollten wir uns in dieser Debatte vor allen Dingen darauf konzentrieren. Nicht die Begriffe sind entscheidend, sondern die Inhalte; auf die wird es in den kommenden Wochen, Monaten und Jahren ankommen, wenn wir Inklusion, eine inklusive Gesellschaft und Teilhabe bei uns in Deutschland verwirklichen wollen, sodass es jeder spüren kann.
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Das Bundesteilhabegesetz hat, wie man es auf Fachchinesisch sagt, zu einem Paradigmenwechsel geführt, nämlich zur Einführung personenzentrierter Hilfen zur Teilhabe, die den individuellen Bedürfnissen und Bedarfen der Menschen mit Behinderungen besser entsprechen. Ich will ein paar wenige Punkte herauspicken.
Zurzeit erleben wir, dass eine wichtige Maßnahme, die wir beschlossen haben, nämlich die unabhängige Teilhabeberatung, tatsächlich umgesetzt wird. Monat für Monat gehen die Förderbescheide heraus, und in unseren Stadt- und Landkreisen werden neue Einrichtungen geschaffen, die diese unabhängige Teilhabeberatung künftig wahrnehmen. Mit einer Förderung aus Bundesmitteln in Höhe von 58 Millionen Euro pro Jahr bis zum Jahr 2022 wollen wir flächendeckend ein solches Beratungsangebot aufgebaut haben. Ich glaube, das ist eine wichtige Botschaft an alle Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Behinderungen und deren Angehörige: Nutzen Sie diese unabhängige Teilhabeberatung! Dieses neue Instrument, das wir geschaffen haben, wird eine segensreiche Wirkung im Hinblick auf Inklusion und Teilhabe in unserem Land entfalten können.
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Ich will einen zweiten Punkt ansprechen: das Budget für Arbeit. Ein Kummer, den eigentlich alle, die sich mit diesem Thema beschäftigen, haben, ist, dass es nach wie vor eine unsichtbare Mauer in unserem Land gibt: Entweder ist man im Bereich der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, oder man ist im ersten Arbeitsmarkt. Dazwischen geht trotz aller Reformen immer noch zu wenig.
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Unsere große Hoffnung und Erwartung ist daher, dass das Budget für Arbeit, das wir in das Bundesteilhabegesetz hineingeschrieben haben, nun auch praktisch angewandt wird.
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Menschen mit Behinderungen sollen durch dieses Budget die Chance bekommen, auch auf dem ersten Arbeitsmarkt eine angemessene Beschäftigung zu finden, weil es für die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber ein attraktives Angebot der Mitfinanzierung dieser Arbeit gibt. Die Umsetzung des Budgets für Arbeit ist also ein wichtiges Ziel, das wir in den kommenden Jahren in Deutschland realisieren sollten.
Um die Teilhabe an Arbeit zu verbessern, muss sich auch die Bundesagentur für Arbeit anstrengen, damit wir die Ursachen der überdurchschnittlichen Arbeitslosigkeit bei Menschen mit Behinderungen durch passgenaue Unterstützungsangebote weiter reduzieren können. Für alle Menschen mit Behinderungen wollen wir zudem den Zugang zu medizinisch-beruflicher Rehabilitation deutlich verbessern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Gott sei Dank haben sich in unserem Land die Einstellung zum Thema Behinderungen und auch der Umgang mit Behinderungen geändert und die Einsicht, dass es notwendig ist, Barrierefreiheit zu schaffen, in der Breite durchgesetzt. Trotzdem kann man beobachten, dass es in einigen Bereichen noch deutliche Defizite gibt. Das betrifft vor allen Dingen den Bereich der Menschen mit seelischen Behinderungen, sprich: mit psychischen Erkrankungen. Nach wie vor machen viel zu viele Mitbürgerinnen und Mitbürger einen großen Bogen um das Thema und trauen sich nicht so recht daran heran. Dies führt dazu, dass psychische Behinderungen bzw. Beeinträchtigungen von Dritten oft nicht ernst genommen werden. Zwar ist es in den letzten Jahren deutlich besser geworden; aber wir sehen auch, dass psychische Beeinträchtigungen eine vorrangige Ursache für das gesundheitsbedingte Ausscheiden aus dem Berufsleben sind und dass ein hoher Anteil der Arbeitsuchenden unter psychischen Störungen leidet.
Das Thema Barrierefreiheit, das jeder von uns kennt, buchstabiert sich bei Menschen mit seelischen Behinderungen und psychischen Erkrankungen etwas anders. Psychische Barrieren kann man selten durch bauliche Maßnahmen beseitigen. Angst, Depressionen, Desorientierung oder Verhaltensstörungen wirken sich stark in den zwischenmenschlichen Beziehungen aus. Deswegen, meine sehr geehrten Damen und Herren, möchte ich uns als besondere Aufgabe empfehlen, dass wir weitere und verstärkte Anstrengungen unternehmen, Menschen mit psychischen und mit anderen Behinderungen zu fördern, ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. Ich glaube, die Aufgabe, die in den kommenden Jahren vor uns liegt, ist, das Versprechen der Inklusion und Teilhabe, das wir den Menschen in unserem Land geben, tatsächlich mit Inhalten – nicht nur mit einer Überschrift – zu füllen. Das sollte unsere gemeinsame Anstrengung im Deutschen Bundestag sein.
Vielen Dank.
({4})
Herr Kollege Weiß, herzlichen Dank. – Als Nächstes für die AfD-Fraktion der Kollege Uwe Witt.
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Herr Bundespräsident!
Ich bin nur Präsident, nicht Bundespräsident, Herr Kollege. So weit ist es noch nicht.
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Aber es war nett gemeint.
Kann noch kommen.
Vielleicht!
Liebe Gäste des Hauses! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In meiner mehr als 15-jährigen Berufserfahrung als ehrenamtlicher Betreuer behinderter Menschen musste ich viele Beispiele von Ausgrenzung erleben, angefangen damit, dass ich, wenn ich mit einem behinderten Menschen, der am Downsyndrom gelitten hat, unterwegs war – –
({0})
– Bitte, was möchten Sie sagen?
({1})
– Wer hat gelitten?
({2})
– Was möchten Sie mir denn erzählen?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, darf ich darauf hinweisen, dass es vielleicht sinnvoll ist, kein Zwiegespräch zu führen, sondern eine Zwischenfrage zu stellen, die der Kollege beantworten kann?
({0})
Eben. Das würde ich außerordentlich begrüßen.
Ansonsten wird es schwierig. – Bitte.
Als ich mit einem Betreuten mit Downsyndrom unterwegs war, wechselten die Leute die Straßenseite. Wenn ich mit einer Gruppe behinderter Menschen ein Lokal betrat, kam es gar zu Beschimpfungen und zu der Bitte, das Lokal zu verlassen. Das ist nicht Teilhabe, liebe Kollegen.
Bereits Mitte der 90er-Jahre habe ich in einem Fertigungsunternehmen eine Betriebsabteilung installiert – –
({0})
– Ich weiß nicht, warum Sie mich dauernd unterbrechen.
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– Aber warum tun Sie das?
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Wir reden hier über ein wichtiges Thema, und es geht nicht um Ihren politischen Habitus, den Sie wahren wollen.
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Also, noch einmal: Ich habe bereits Mitte der 90er-Jahre in einem Industrieunternehmen eine Betriebsabteilung in den Fertigungsablauf integriert, in der ausschließlich behinderte Menschen beschäftigt waren.
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Das ist ein Weg gelebter Integration und Teilhabe behinderter Menschen.
Wir wollen, dass Teilhabe für Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft wirklich gelebt wird, und zwar so, dass Menschen mit Behinderung und Menschen ohne Behinderung gleichberechtigt miteinander leben können, unter bestmöglichen Bedingungen, ohne Ausgrenzungen und Diskriminierungen. Die Mauer im Kopf von uns allen muss fallen.
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Sie haben in der vergangenen Wahlperiode ein Bundesteilhabegesetz beschlossen, dessen erste beiden Reformstufen bereits in Kraft getreten sind. Darum will ich nicht sagen, dass Sie in dem wichtigen Bereich nichts getan haben. Lassen Sie uns gemeinsam in diese Richtung weitergehen! Wir unterstützen natürlich gerne den Antrag der Freien Demokraten auf Umbenennung des Schwerbehindertenausweises.
Lassen Sie uns für einen Moment den Bereich der behinderten Menschen verlassen, und widmen wir uns dem Begriff „Teilhabe“. Wenn wir im Sinne der ICF-Klassifikation der WHO von Teilhabe als einer Komponente von Gesundheit sprechen, dann bezieht sich das zunächst einmal auf alle Menschen, nicht nur auf Menschen mit Behinderung. Es bezieht sich auch auf alle Lebensbereiche. Wenn wir von Teilhabe sprechen, dann sprechen wir auch von einer Geisteshaltung, die eigentlich Voraussetzung dafür ist. Haben Sie die, liebe Kollegen?
({6})
Sollte es nicht für alle demokratischen Parteien und besonders für deren Vertreter in diesem Haus eine Selbstverständlichkeit sein, alle ebenso demokratisch gewählten Kollegen anderer Parteien teilhaben zu lassen an der politischen Willensbildung?
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Sie sollten sie gleichberechtigt teilhaben lassen, zumindest an seit Jahrzehnten selbstverständlichen parlamentarischen Abläufen. Wie können Sie denn glaubwürdig von Teilhabe sprechen, wenn Sie nicht einmal bereit sind, Ihre eigenen Kollegen teilhaben zu lassen?
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Sie haben sich uns nicht ausgesucht, sondern die Bürger unseres Landes haben uns ausgesucht. Das nennt man Demokratie.
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Die AfD-Fraktion hat in den hinter uns liegenden Wochen und Monaten dieser Wahlperiode immer wieder gezeigt, dass sie selbstverständlich bereit ist, mit Ihnen in den Ausschüssen über Ihre Anträge zu sprechen, und dass sie Ihren Anträgen auch zustimmt, wenn sie sie für vernünftig hält.
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Sie aber verweigern der AfD nach wie vor die Teilhabe an parlamentarisch und gesetzlich vorgesehenen Funktionen und Posten.
({11})
Damit stellen Sie, liebe Kollegen, Ihre subjektive ideologische Sichtweise über Recht und parlamentarische Gepflogenheiten.
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Wenn Sie hier sagen, die AfD sei keine demokratische Partei, und das durch Ungleichbehandlung der AfD hier in diesem Parlament und seinen Ausschüssen untermauern, dann liefern Sie denjenigen Rechtfertigung von allerhöchster Stelle, die unsere Mitglieder auf den Straßen anspucken, beschimpfen, ihre Autos anzünden, Häuser beschmieren und auch vor Körperverletzung nicht zurückschrecken.
({13})
Ihnen muss nicht alles gefallen, was die AfD sagt. Es muss Ihnen aber gefallen, was Demokratie bedeutet. Und uns allen muss klar sein, was wir hier für eine Vorbildfunktion haben.
({14})
Lassen Sie mich zum Ende meiner Rede
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über einen unglaublichen Vorgang sprechen. Meine sehr geschätzte Kollegin Frau Nicole Höchst, selber Mutter von vier Kindern, wovon eines behindert ist, hat in gutem Glauben eine Kleine Anfrage zur Entwicklung der Zahl schwerbehinderter Menschen in Deutschland gestellt.
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Sie sollte einzig und allein dazu dienen, Daten und Fakten abzufragen,
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um daraus einen möglichen Handlungsbedarf der Politik für die Betreuung von Behinderten und für die Beratung ihrer Angehörigen zu ermitteln sowie rechtzeitig personelle wie finanzielle Planung zu starten, damit Inklusion in der Bildung überhaupt eine Chance hat, zu funktionieren. – Wissen Sie, meine Kollegen, was sollen die Zwischenrufe? Sie glauben mir nicht? Schauen Sie mal, ich habe exemplarisch drei Zeitungsausschnitte mitgebracht, in denen es um genau diese Fragestellung geht. Allerdings ist das vier Jahre her. Da war das noch erlaubt, verstehen Sie?
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Daher hält die von den Sozialverbänden in der Erklärung aufgestellte Behauptung, dass ein Zusammenhang von Inzucht, behinderten Kindern und Migrantinnen und Migranten abwegig sei, keiner Überprüfung stand.
({19})
Ich weiß – und da sind wir alle einer Meinung –, es ist wirklich ein heikles Thema. Aber wir alle hier sind gewählt worden, um Probleme zu lösen, und nicht, um nach Vogel-Strauß-Methode den Kopf in den Sand zu stecken.
({20})
Wenn also im Zuge der Flüchtlingskrise vermehrt Menschen nach Deutschland kommen, sollte es für eine verantwortungsbewusste Politik eigentlich selbstverständlich sein, sich um eine entsprechende Datenbasis zu bemühen,
({21})
damit betroffene Eltern beraten und unterstützt werden können – denn es ist wichtig, Familien mit behinderten Kindern zu unterstützen und im Alltag zu entlasten –,
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und damit Eltern im Vorfeld über mögliche Risiken etwa der Verwandtenehe informiert werden. Wer Flüchtlingen diese Hilfe vorenthält, weil er über dieses unbequeme Thema lieber nicht reden möchte, der handelt in hohem Maße unverantwortlich.
({23})
Denn Probleme, vor denen man aus vermeintlich politischer Korrektheit die Augen verschließt, verschwinden nicht einfach.
Die AfD möchte Steuerungswissen generieren. Durch die fehlgeleitete Uninformiertheit der Sozialverbände ist nur eines passiert:
({24})
Es gibt Morddrohungen gegen Frau Höchst. Ich glaube nicht, dass das auch Ihre Absicht war.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich Mark Twain zitieren, der sinngemäß sagte: Wir schätzen die Menschen, die frisch und offen ihre Meinung sagen – vorausgesetzt, sie meinen dasselbe wie wir.
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Diese lächelnde Entlarvung des Romanciers beschreibt leider treffend das Verhältnis eines Großteils von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Meinungsfreiheit der AfD.
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Denken Sie an Ihre Redezeit, bitte. Sie sind schon drüber.
({0})
Nein, überhaupt nicht. – Gehen Sie in sich und prüfen Sie, ob das wirklich das ist, was Sie wollen, ob Sie wirklich eine andere Meinung nicht zulassen lassen wollen
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und Dinge bewusst falsch interpretieren wollen, um Ihre eigene Handlungsweise zu legitimieren.
Herr Witt, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. Sie sind schon eine Minute drüber.
Ach so. Ich dachte, das ist ein Minuszeichen. Entschuldigung.
Es blinkt schon.
({0})
Okay. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein letzter Satz: Wir müssen behinderte Menschen als vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft teilhaben lassen; denn sie sind ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Ich weise noch einmal darauf hin – Herr Witt hat es nicht gesehen oder nicht gewusst –: Wenn die Lampe am Rednerpult blinkt, ist das keine Lightshow zur Unterstützung Ihrer Rede, sondern eine Warnung, dass Ihnen demnächst etwas widerfährt, zum Beispiel das Abschalten des Mikros.
Ich begrüße als nächste Rednerin Verena Bentele, die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. – Frau Bentele, Sie haben das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete in diesem Parlament! Kommen wir zurück zum Thema. „Inklusion bewegt!“. Das war das Motto meiner Amtszeit als Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Übrigens bin ich die erste Beauftragte der Bundesregierung, die selbst eine Behinderung hat.
Die Definition, meine sehr geehrten Damen und Herren, des Begriffs „Inklusion“, das bewegt viele Menschen. Viele Menschen in Deutschland, ob mit oder ohne Behinderung, füllen den Begriff „Inklusion“ mit Leben, stecken ihre Kreativität, ihre Ideen und ihre Energie in diesen Begriff. Und so hat auch das heute 15-jährige Mädchen – so sage ich das am heutigen Girls’ Day einmal; die junge Frau, müsste man eigentlich sagen – mit Downsyndrom aus Schleswig-Holstein das Thema Inklusion auf ihre Art und Weise mit Leben gefüllt und eine Debatte angestoßen, die uns schon länger bewegt, nämlich die Debatte über die Umbenennung des sogenannten Schwerbehindertenausweises in „Voll-normal-Ausweis“ oder, wie wir hier heute sagen, „Teilhabeausweis“. Auch ich habe einen solchen Ausweis, und dieser Ausweis regelt in meinem Fall als Mensch, der beispielsweise blind ist mit dem Merkzeichen „B“, dass ich das Recht habe, eine Begleitperson mitzunehmen als ein Ausgleich eines Nachteils.
Über die Umbenennung des Ausweises zu diskutieren, ist gut. Vor allem ist es gut, das mit Menschen mit Behinderungen zu tun. Das ist das einzig Richtige und der heutigen Politik in Deutschland und einer modernen Sozialpolitik angemessen.
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Menschen mit Behinderungen von Anfang an einzubeziehen, wenn es darum geht, wie wir Inklusion leben wollen und was wir in den Vordergrund stellen wollen, ist wichtig. Wir wollen nämlich nicht das Defizit, das, was Menschen nicht können, in den Vordergrund stellen. Wir wollen nicht zum Ausdruck bringen, dass wir Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft nicht haben wollen, dass sie in unserer Gesellschaft keinen Platz haben. Darüber dürfen wir heute nicht diskutieren. Wir müssen heute darüber diskutieren, was wir tun können, um Chancengleichheit für alle Menschen in diesem Land herzustellen, egal ob mit oder ohne Behinderung, egal woher sie kommen, egal aus welchem Land sie kommen, egal welches Geschlecht sie haben, egal ob sie alt oder jung sind.
({1})
Eine auf Menschenrechten basierende Sozialpolitik in Deutschland, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete, bedeutet natürlich auch einen Paradigmenwechsel. Dieser zeigt sich auch in der Umbenennung eines Dokuments von „Schwerbehindertenausweis“ in „Teilhabeausweis“. Damit muss aber eine Diskussion darüber einhergehen, welche Nachteilsausgleiche mit diesem Ausweis verbunden sind. Dass diese Debatte in diesem Haus auch weiterhin geführt wird, das ist mein Wunsch für diese Legislaturperiode.
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Teilhabe heißt nämlich viel. Teilhabe heißt beispielsweise auch, dass eine Gesellschaft gewillt ist und alles daransetzt, Barrieren zu überwinden. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu zum Beispiel:
Wir stärken die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen: Investitionen in Ausbau von Barrierefreiheit im öffentlichen Raum ...
Das ist richtig und wichtig.
Deswegen wünsche ich mir, die Investitionen in den Abbau von Barrieren, meine sehr geehrten Damen und Herren, mögen alle Lebensbereiche umfassen; denn Barrieren haben wir in unserer Gesellschaft viele. Wenn Sie denken, wir leben bereits in einer Gesellschaft ohne Barrieren, dann kann ich Ihnen nur sagen: Da sind wir noch nicht. Wir haben Barrieren in unseren Straßen und in Häusern. Wir haben immer noch Barrieren in Behörden, und wir haben beispielsweise auch Barrieren, meine sehr geehrten Damen und Herren, in Wahllokalen, an wichtigen Orten der Demokratie. Um die Beseitigung genau dieser Barrieren muss es einem demokratischen Parlament wie diesem hier gehen, um die Teilhabe zu stärken und von Anfang an die Menschen, um die es geht, hier mit einzubeziehen.
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In dieser Wahlperiode gibt es viele Vorhaben der Parteien der Großen Koalition zur Stärkung der Teilhabe. So soll beispielsweise geprüft werden, inwieweit auch private Anbieter für Dienstleistungen, die der Allgemeinheit zugutekommen, angemessene Vorkehrungen zur Herstellung von Barrierefreiheit umsetzen können. Ja, meine sehr geehrten Damen und Herren, prüfen Sie. Ändern Sie dann aber auch! Denn das Leben von Menschen mit Behinderungen findet in unserem Alltag, in unserer Mitte und überall statt. Wenn ich beispielsweise im Kino sitze und mir meine Freunde neben Ihnen laut und deutlich erklären, was auf der Leinwand passiert, glaube ich, es wäre für Sie nicht so schön, wenn mir ein Freund ins Ohr schreit: Da knutschen gerade zwei.
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Ich glaube, Sie fänden es schöner, wenn es für mich eine Bildbeschreibung gibt und diese Bildbeschreibung mir per Kopfhörer leise ins Ohr gesprochen wird. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist Barrierefreiheit.
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Barrierefreiheit heißt aber auch, dass Kinder und Jugendliche von Anfang an gemeinsam lernen, dass Kinder und Jugendliche gemeinsam in die Schule gehen, in der Frühbetreuung sind, Ausbildungen machen, an Hochschulen lernen und studieren. Das heißt Inklusion. Dieses demokratische System von Anfang an in den Köpfen junger Menschen zu verankern, auch das ist ein wesentliches und wichtiges Thema, das sich die Koalitionäre auch für diese Legislaturperiode vorgenommen haben.
Bildung zu stärken durch Investitionen in inklusive Bildung und durch die Einbeziehung von mir bzw. meines Nachfolgers und der Landesbeauftragtenkollegen, darum geht es doch. Es geht darum, dass wir von Anfang an in den Köpfen aller Menschen verankern, dass Behinderungen und Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen zu unserer Gesellschaft gehören, genau wie große und kleine und alte und junge Menschen.
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Heute, am Girls’ and Boys’ Day, geht es aber auch darum, sich über das Thema Arbeit Gedanken zu machen. Heute schauen viele junge Mädchen und junge Männer in Betriebe hinein, lernen Berufszweige kennen und werden so die Möglichkeit bekommen, neue Felder für ihre berufliche Zukunft kennenzulernen. Es ist immer noch so, dass die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen deutlich höher ist als die der Menschen ohne Behinderungen und dass die Dauer ihrer Arbeitslosigkeit deutlich höher ist als die der Menschen ohne Behinderungen. Um hier Abhilfe zu schaffen, ist es in dieser Legislatur dringend nötig, dass die Vermittlung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit Behinderungen durch die Bundesagentur für Arbeit verbessert wird. Auch für dieses Vorhaben wünsche ich der Großen Koalition viel Erfolg. Ich hoffe, dass wir so mehr Betriebe davon überzeugen können, Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen. Denn ein Viertel der Betriebe in Deutschland beschäftigt immer noch keine Menschen mit Behinderungen. Das kann so nicht bleiben.
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Barrierefreiheit und Teilhabe heißen aber auch, alle Menschen an den wesentlichsten demokratischen Prozessen teilhaben zu lassen. Inklusion ist Demokratie, und Demokratie heißt Inklusion und Einbeziehung aller. Deswegen bitte ich Sie als Parlament heute eindringlich: Schaffen Sie endlich die Wahlrechtsausschlüsse für Menschen mit rechtlicher Betreuung in allen Angelegenheiten ab!
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Es ist wichtig und richtig, dass sich alle Menschen im demokratischen Prozess einbringen können. Egal ob sie eine Behinderung haben oder nicht, egal ob sie die Gebärdensprache oder die Leichte Sprache brauchen, egal ob sie die Brailleschrift benötigen, egal welche Behinderung sie haben: Alle Menschen haben das Recht und müssen die Möglichkeit haben, sich im demokratischen Prozess einzubringen, ihre Meinung zu äußern und Demokratie mitzugestalten.
Deswegen frage ich auch Sie: Wie viele Menschen mit Behinderungen, wie viele Menschen, die unterschiedliche Teile der vielfältigen Gesellschaft repräsentieren, sind in Ihren Parteien aktiv und tätig? Haben Sie beispielsweise Menschen, die nichts sehen, die Mobilitätseinschränkungen oder Hörbehinderungen haben, in Ihren Reihen? Ich finde, es ist auch eine Verpflichtung politischer Parteien, Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit zur Mitarbeit zu geben, ihnen also die Möglichkeit zu geben, sich einzubringen und genau hier, an diesem Rednerpult, zu stehen.
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Das ist für mich auch ein Ausdruck von Demokratie.
Ich wiederhole mich: Inklusion ist Demokratie, und Demokratie heißt, dass alle Menschen die gleichen Chancen, die gleichen Möglichkeiten und vor allem die gleichen Rechte in unserem Land haben. Diese sind nicht verhandelbar.
Danke schön.
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Vielen herzlichen Dank, Verena Bentele. – Ich möchte Ihnen – Sie hören es am Applaus – im Namen von vielen Kolleginnen und Kollegen hier im Haus und auch im Namen von vielen Menschen und vielen Familien in unserem Land für Ihr politisches Engagement und für Ihren leidenschaftlichen Einsatz für echte Inklusion, für Teilhabegerechtigkeit und für unseren moralischen Imperativ, den Artikel 1 des Grundgesetzes – die Menschenwürde –, von Herzen danken. Sie sind die allerbeste Botschafterin für die Würde des Menschen, und zwar für die Würde jedes Menschen. Vielen herzlichen Dank, Frau Bentele, für Ihre Arbeit in den letzten Jahren und natürlich alles, alles Gute für Ihre Zukunft.
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Nächster Redner in der Debatte: Sören Pellmann für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich schließe mich dem Dank an die Behindertenbeauftragte uneingeschränkt an. Herzlichen Dank, Frau Bentele, für das, was Sie in den letzten Jahren für Menschen mit Behinderungen und für unser Land geleistet haben.
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Leider ist es einigen Menschen draußen heute nicht möglich, genau diese Debatte zu verfolgen, weil der Gebärdensprachdolmetscher auf dem Livestream des Deutschen Bundestages nur bis 12 Uhr übertragen wird. Auch so viel gehört zur Wahrheit dazu. Von daher: Guten Tag.
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Es ist zunächst erfreulich, dass wir heute hier im Parlament über den Ausweis für Menschen mit Behinderungen sprechen. Dadurch rücken endlich, wenn auch nur kurzfristig, diejenigen in den Mittelpunkt, die in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe noch immer sehr eingeschränkt sind. Leider muss ich zugleich aber konstatieren, dass diese Debatte die tiefer gehenden Probleme von Menschen mit Behinderungen überdeckt und sogar von ihnen ablenkt.
Die Initiative der FDP-Fraktion ist faktisch ein Etikettenschwindel; denn, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, schauen wir doch mal in Ihr Wahlprogramm. Sie fordern „ein Wunsch- und Wahlrecht auf Leistungen zur Teilhabe, zum Beispiel freie Wahl von Wohnort und Wohnform kostenneutral innerhalb eines vorgegebenen Budgets“. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Die volle und wirksame Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ist nicht kostenneutral und schon gar nicht umsonst zu haben.
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Die UN-Behindertenrechtskonvention stellt Forderungen, und wir müssen sie nur noch umsetzen. Wir reden hier von Menschenrechten und nicht von Kosten, die eingespart werden können.
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Der Bundestag sollte sich mit der tatsächlichen Lebenssituation der Betroffenen auseinandersetzen und wirkliche Verbesserungen schaffen. Dabei sollte sich die Bundesregierung an ihrer eigenen Definition von Teilhabe orientieren. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales schreibt wie folgt:
Menschen mit Behinderungen wollen genauso leben wie nichtbehinderte Menschen auch.
Aber bewegen wir uns nur ein paar Schritte von hier entfernt im Bundestag – Sie müssen nicht einmal den Komplex verlassen; es ist egal, ob es nun das Paul-Löbe-Haus oder das Jakob-Kaiser-Haus ist: das reicht schon aus –, dann sollte sehr schnell klar werden, dass Barrierefreiheit auch dort nur ein frommer Wunsch ist. Das alleinige Einsetzen von Rampen und der Einbau von Fahrstühlen bedeuten noch lange nicht, dass die Räumlichkeiten für alle Menschen erreichbar und nutzbar sind.
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Frau Bentele sprach die Gruppe an: Menschen mit Sehbeeinträchtigungen haben kaum eine Chance, sich hier selbst zurechtzufinden und zu orientieren.
Aber es geht nicht nur um die Gestaltung von Gebäuden, sondern auch um die von Bahnhöfen und um die des Bahnverkehrs. Ich will heute an dieser Stelle gar nicht auf die unsägliche Diskussion des Bundesverkehrsministeriums eingehen, welches fordert, die unterschiedliche Höhe von Bahnsteigen zu vereinheitlichen. Mir ist es relativ egal, ob Bahnsteige in Deutschland überall die gleiche Höhe haben. Mir ist wichtig, dass alle barrierefrei und damit nutzbar für alle sind.
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Auch bei der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes – darauf sind die Vorredner schon eingegangen – ist noch Luft nach oben. Hier liegt noch einige Arbeit vor uns. Wenn ich an meinen Alltag als Lehrer zurückblicke, dann kann ich nur feststellen: In vielen Köpfen sind die Worte „Integration“ und „Inklusion“ noch gar nicht angekommen.
Leider riecht selbst das höchste parlamentarische Gremium in Deutschland, der Bundestag, liebe Kolleginnen und Kollegen, diesbezüglich in Teilen widerlich. Hier im Hause sitzt nach eigenen Aussagen ein „gäriger Haufen“. Dieser bringt in schlechter Regelmäßigkeit braun-blaue Sumpfblasen hervor. Die bisher nach unserer Auffassung stinkendste Blase stieg vor etwa einem Monat empor. Im Rahmen einer Kleinen Anfrage der AfD zeigt sich, was diese vermeintlichen Demokraten von Menschen mit Behinderungen halten.
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„Unerträgliche Menschen- und Lebensfeindlichkeit“ war in einer Zeitungsannonce der Sozialverbände in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ zu lesen. Denn in der Anfrage wurden vermeintliche Zusammenhänge zwischen Inzucht, Behinderung und Migration intendiert. Das ist widerlich.
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Auch wenn es der Bundesregierung in diesem Sumpf augenscheinlich recht unbehaglich wurde, möchte ich die geistigen Wurzeln dieser perfiden Anfrage klar benennen.
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Behinderungen als vermeidbares Übel darzustellen, ist völlig inakzeptabel.
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Herr Pellmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung?
Ja, natürlich.
Herr Witt, bitte.
Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Dafür danke ich Ihnen wirklich außerordentlich.
In meiner Rede gerade habe ich darauf hingewiesen, dass die gleichen Fragen, die von Frau Höchst in einer Kleinen Anfrage eingereicht wurden, bereits 2011 sowohl in der „taz“ wie auch in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und in der „Zeit“ gestellt wurden. Was meinen Sie, warum sie das gemacht haben? Aus rechter Hetze? Was konstruieren Sie da, lieber Kollege? Das, was Sie machen, ist Hetze.
({0})
Die Frau hat jetzt Morddrohungen bekommen. Schämen Sie sich! Schämen Sie sich wirklich, in diesem Hohen Hause eine derartige Hetze zu betreiben.
Danke.
({1})
Wissen Sie, die Frage, wer sich hier schämen muss, ist eindeutig zu beantworten. Ihre Kleine Anfrage erinnert mich ein bisschen an meine Zeit als Grundschullehrer. Es geht um ein bestimmtes Verhalten von kleinen Kindern. Das nennt man in der Pädagogik „Grenzen austesten“. Ich glaube, das haben Sie auf eine ganz perfide Art und Weise getan.
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Sie haben etwas angestoßen, um zu provozieren, und dann geschaut, wie dieses Hohe Haus darauf reagiert. Das ist die Wahrheit. Von daher: Hören Sie bitte damit auf!
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Hier liegen eugenische Denkmuster zugrunde. Von denen ist es bis zur faschistischen Rassenhygiene und den folgenden Euthanasieverbrechen bekanntlich nicht mehr weit.
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Die Abgeordneten Gminder, Hartmann, Höchst, Pohl, Weidel und Gauland sollten sich dringend bewusst werden, welche Verantwortung sie in diesem Hohen Hause tragen.
({3})
Wer Behinderung als vermeidbares Übel darstellt, beleidigt auch die Würde der Opfer des NS-Rassenwahns in unerträglicher Weise.
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In diesem Zusammenhang rufe ich das Jahr 1940 in Erinnerung, weil die Kenntnis von Historie und Geschichte manchmal hilfreich sein soll. Im Oktober des Jahres 1940 eröffnete in meinem heutigen Wahlkreis in Leipzig-Süd die erste Leipziger Kinderfachabteilung. Kinder wie Margot, 2 Jahre, Peter, 4 Jahre, Werner, 9 Jahre, Maria, 13 Jahre, Hannelore, 1 Jahr, und 500 weitere Kinder wurden dort, an anderen Stellen in Leipzig und an anderen Orten wegen ihrer körperlichen und/oder geistigen Behinderung ermordet. Die sogenannte Aktion T4, das NS-Euthanasieprogramm, forderte insgesamt mehr als 70 000 Menschenleben. Diese Ermordeten dürfen wir niemals vergessen.
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Wenn Sie als Abgeordneter aus der rechten Ecke hier weiterhin in derartig unerträglicher Weise geschichtsvergessen sind, sollte es uns anderen Abgeordneten umso mehr anspornen, an das damalige Leid zu erinnern
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und zudem alles dafür zu tun, dass die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der Gegenwart weiter befördert wird.
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– Frau Weidel, Sie sollten sich schämen, dass Sie diese Anfrage gestellt haben.
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Dafür sollten Sie sich schämen. Erklären Sie Ihren Wählerinnen und Wählern, was Sie von Menschen mit Behinderung halten!
Zum Schluss, Frau Präsidentin, möchte ich die letzte Strophe des berührenden Gedichtes „Die Wiese Zittergras“ der österreichischen Schriftstellerin Lavant vortragen – die Verse sind Grundmotiv und Eingangstext für den Gedenkort, den ich vorhin genannt hatte –:
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Der Mohnkopf schläfert alle ein, bloß nicht das Zittergras, das muss für alle ängstlich sein, auch für ein Herz aus Glas.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Pellmann. – Uns hier oben wurde gesagt, dass das Wort „Hetzer“ gegen Sie benutzt worden ist. Wir werden jetzt das Protokoll anfragen, um nachzuschauen, ob und wer mit diesem Wort agiert hat.
({0})
– Moment. Das ist ein ganz normaler Vorgang. Das haben wir so verabredet.
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– Ich habe Sie jetzt auch nicht verstanden. – Wir werden das im Protokoll nachlesen und dann entsprechend einordnen.
Die nächste Rednerin in dieser Debatte ist Corinna Rüffer für Bündnis 90/Die Grünen.
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Liebe Demokratinnen und Demokraten! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Verena Bentele, ich kann Ihnen jetzt leider nicht ausführlich für alles danken, was Sie in den letzten Jahren getan haben, in denen wir zusammengearbeitet haben, weil mir die Zeit dazu fehlt. Aber ich glaube, Sie wissen, wie groß unsere Wertschätzung ist, und damit spreche ich für meine gesamte Fraktion.
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Liebe FDP, Sie haben natürlich recht. Es ist nicht egal, welche Worte wir verwenden, um etwas zu sagen. Und natürlich bezeichnet Teilhabe etwas ganz anderes als Schwerbehinderungen. Das ist absolut richtig.
Ich wollte eigentlich mit dieser Rede überhaupt nicht auf den rechten Diskurs eingehen, aber es bleibt einem in diesem Hohen Hause in diesen Zeiten nichts anderes übrig, als dass man doch noch ein paar Hinweise gibt.
Herr Witt, ich finde es infam, dass Sie zu Beginn Ihrer Rede beschreiben, wie Sie ein Kind mit Downsyndrom, das Sie als leidend bezeichnet haben, begleitet haben. Das ist Beweis und Beleg dafür, dass Sie keine Ahnung von dem haben, über das Sie hier reden.
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Es gibt die Internetseite Leidmedien.de , auf der Sie sich darüber informieren können, was eine passende Haltung zu diesem Themenfeld ist.
Aber was ich viel schlimmer finde, ist, dass Sie Kollegen in Ihren Reihen haben wie namentlich Herrn Josef Dörr, den Vorsitzenden der AfD im Saarland, der Kinder mit Behinderungen vergleicht mit Menschen, die an schweransteckenden Krankheiten leiden. Das ist so unglaublich, dass mir die Worte fehlen. Sie sollten sich alle in Schamesröte ergehen und am besten nach Hause gehen.
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Allen, die die passenden Worte zum Thema AfD in formvollendeter Weise hören möchten, empfehle ich die Rede unseres Kollegen Matthias Zimmermann letzte Woche, der es auf den Punkt gebracht hat und der jetzt – so viel zum Thema – von Ihren Schergen bedroht wird. Dafür sollten Sie sich entschuldigen.
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Aber zurück zum Thema; denn es ist ein wichtiges Thema. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, von mir aus können wir gerne den Schwerbehindertenausweis in Teilhabeausweis umbenennen. Aber dabei dürfen wir es nicht belassen. Wir würden dem zustimmen, aber dahinter steckt natürlich eine große Erwartung. Denn wir alle wissen, dass Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in keiner Weise gleichberechtigt am Leben in diesem Land teilhaben können. Wer im Rollstuhl unterwegs ist, kann nicht in jedes Kino und in jede Eisdiele gehen. Verena Bentele hat es gerade gesagt. Wer im Rollstuhl unterwegs ist, kann nicht an dem teilhaben, was wir jeden Tag völlig selbstverständlich machen. Allein weil vielleicht zwei Stufen vor dem Eingang sind, ist der Zugang verhindert. Daran müssen wir etwas ändern.
Wer in Gebärdensprache kommuniziert, kann nicht ehrenamtlich tätig sein, weil die Kosten für die Gebärdensprachdolmetscher nicht übernommen werden. Ich habe in der letzten Woche die Antworten der Bundesregierung auf meine Kleine Anfrage dazu bekommen. Da sind riesige Probleme, die vor uns liegen. Diese Debatte wird nicht in Gebärdensprache übersetzt. Und dann reden wir über Teilhabe! Daran ändert ein Teilhabeausweis erst einmal gar nichts.
Ein extremes Beispiel für Exklusion ist, dass Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind und Assistenz brauchen, nach wie vor in Heime verfrachtet werden können, wenn die Behörde entscheidet, dass es zu teuer ist, ambulante Hilfen zur Verfügung zu stellen. Das hat mit Teilhabe nichts zu tun. Daran ändert auch das vielgelobte Bundesteilhabegesetz schlicht und ergreifend gar nichts.
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Das heißt, wir stehen ganz am Anfang der Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft. Da sind riesige Baustellen, die wir zu bearbeiten haben.
Wir haben gestern im Ausschuss – um das einmal zu konkretisieren, weil das Thema so abstrakt ist – den Bericht der Schlichtungsstelle besprochen; Verena Bentele war dabei. Ich möchte ein Beispiel aus den vielen Beispielen, die in diesem Bericht erwähnt werden, herausgreifen. Es geht um eine Frau, die mitten im Leben steht, Rollifahrerin ist und deren Rolli kaputtgegangen ist. Die Krankenkasse hat sich zwei Jahre geweigert, den Rolli zu ersetzen. Wissen Sie, wozu das führt, wenn man im Rollstuhl sitzt? Das heißt, Teilhabe ist nicht mehr. Man kann sich im öffentlichen Raum nicht mehr bewegen. Diese Frau musste ihren Beruf aufgeben, weil sich die Krankenkasse geweigert hat. Wenn solche Fälle in diesem Land massenhaft auftauchen – jeder, der sich auf diesem Feld auskennt, weiß, dass das kein Einzelfall ist –, dann müssen wir sagen: Die inklusive Gesellschaft ist weit entfernt. Wir müssen viel beharrlicher daran arbeiten, dass sich daran etwas verändert. Das gilt in einer alternden Gesellschaft natürlich in besonderer Weise.
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Wir wollen volle Teilhabe. Wir wollen eine inklusive Gesellschaft. Ich möchte Ihnen sagen, was das bedeutet. Wäre Teilhabe selbstverständlich, würden Unternehmen langzeitarbeitslose und behinderte Menschen einstellen. Das tun sie aber nicht. Wäre die inklusive Gesellschaft Realität, dann müssten behinderte Menschen nicht in Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten und am Ende des Monats mit einem Durchschnittslohn von 180 Euro für ihre Vollzeitarbeit nach Hause gehen. Das gäbe es dann nicht mehr. Lebten wir in einer inklusiven Gesellschaft, dann würden wir Kinder nicht weiter auf Förderschulen verweisen, auf denen zwei Drittel von ihnen keinen Schulabschluss machen. Da spreche ich Sie von der FDP noch einmal explizit an. Sie waren in den Ländern, wenn es um die Bildungschancen von Kindern ging – jedes Kind muss uns gleich viel wert sein, ob behindert oder nicht –, ein Bremsklotz, insbesondere bei der inklusiven Schule.
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– Natürlich sind sie das noch immer, Markus Kurth.
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Es ist an der Zeit, dass wir darüber sprechen, wie wir konsequent einen gemeinsamen Weg auf den unterschiedlichen Ebenen gehen können. Wir gehen jetzt mit Ihnen, was den vorliegenden Antrag anbelangt. Aber jetzt muss es Butter bei die Fische geben. Bei Ihnen, Herr Beeck, habe ich ein gutes Gefühl, dass das gelingen kann. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit. Ich möchte, dass wir zusammen eine inklusive Gesellschaft gestalten.
Das führen Sie jetzt aber bitte nicht mehr aus.
Ich bin am Ende.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Corinna Rüffer. – Weil es zweimal angesprochen wurde: Ja, es stimmt, diese Debatte wird nicht live in Gebärdensprache übertragen. Wir können einmal im Ältestenrat oder in anderen Gremien darüber reden, wie sich das erweitern lässt.
({0})
Aber diese Debatte wird vollständig in Gebärdensprache übersetzt und ist morgen, allerspätestens am Montag in der Mediathek zu verfolgen.
Nächster Redner in der Debatte: Wilfried Oellers für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren Zuhörer! Zunächst an Sie, sehr geehrte Frau Bentele, gerichtet: Auch im Namen der CDU/CSU-Fraktion bedanken wir uns sehr herzlich für Ihre gute Arbeit in den vergangenen Jahren und wünschen Ihnen für die Zukunft alles erdenklich Gute.
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Im Rahmen der heutigen Debatte zum Antrag der FDP auf Änderung der Begrifflichkeit „Schwerbehindertenausweis“ in „Teilhabeausweis“ kann der Name Hannah Kiesbye nicht oft genug genannt werden. Es wird wahrscheinlich wenige 15-Jährige geben, deren Name so häufig im Deutschen Bundestag genannt worden ist und mit deren Engagement eine politische Diskussion gestartet worden ist. Mit ihrer Idee und Initiative zeigt sie deutlich, dass es beim Umgang mit der Behindertenthematik insgesamt nicht nur um Rechte und rechtliche Feststellungen und Fragestellungen geht, sondern auch um die richtige sowie wohl und sorgfältig gewählte Begrifflichkeit.
Daran sieht man sehr deutlich, dass beim Umgang mit dieser Thematik das Finden der richtigen Worte und des richtigen Tons in der Debatte äußerst wichtig ist und eine äußerst hohe Sensibilität erfordert. Menschen mit Behinderungen haben ein Anrecht darauf, dass diese Sensibilität umfassend beachtet und gewahrt wird. Ich erwähne das deswegen so deutlich, weil dies auch für die Formulierung von Kleinen Anfragen gilt.
Um Sensibilität in Formulierungen insgesamt zu berücksichtigen, halte ich es deswegen für sachgerecht, dem Gedankengang, der hinter dem Antrag der FDP steckt, nachzugehen. Hierbei müssen wir allerdings auch berücksichtigen, dass einige Bundesländer in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich schon tätig geworden sind und die Bundesländer insgesamt seinerzeit keine einheitliche Formulierung gefunden haben bzw. sich nicht darauf verständigen konnten. Vor diesem Hintergrund halte ich es auch für geboten, dass man die Bundesländer sowie die Verbände in diese Thematik einbezieht. Da sind wir nämlich wieder beim Begriff der Sensibilität. Was wir vielleicht als richtig empfinden, mögen die Betroffenen nicht als richtig empfinden, und deswegen sollte man das Ganze auf breite Füße stellen.
({1})
Auch wenn der Bund für die Schwerbehindertenausweisverordnung formal zuständig ist, halte ich ein solches Vorgehen für geboten, weil das wichtiger ist, als einen gesetzgeberischen Schnellschuss zu wagen.
Die heutige Debatte zeigt, dass es eine ganze Reihe von Herausforderungen gibt, die wir schon angegangen sind bzw. die wir auch in dieser Legislaturperiode noch zu bewältigen haben. Ich erwähne hier die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes. Sie gilt es auch in dieser Wahlperiode sehr aufmerksam zu verfolgen. Nur das Gesetz zu verabschieden und dann darauf zu hoffen, dass die Umsetzung von alleine geschieht, darauf können wir uns als Gesetzgeber nicht zurückziehen. Wir müssen die Bundesländer daran erinnern, langsam die entsprechenden Umsetzungsregelungen zu verfassen, damit man da eine gewisse Planungssicherheit und Rechtssicherheit hat.
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Mit dem Bundesteilhabegesetz wurden auch viele positive Dinge umgesetzt. Ich will hier beispielhaft nur nennen: die Vereinfachung im Antragsverfahren bei Rehaleistungen, das bereits angesprochene „Netzwerk unabhängige Beratung“ und – das musste einmal deutlich gesagt werden – die Anhebung der Schongrenze bei Einkommen und bei Vermögen. Insbesondere die Tatsache, dass Einkommen und Vermögen von Ehegatten nicht mehr angerechnet werden, halte ich für einen ganz wichtigen Punkt. Das war unserer Fraktion damals sehr wichtig. Ich könnte an dieser Stelle noch viele andere Beispiele nennen, bis hin zur Ausweitung der Rechte der Schwerbehindertenvertretungen; aber ich möchte es aus Zeitgründen dabei belassen.
An dieser Stelle betone ich allerdings ausdrücklich – das ist schon im damaligen Gesetzgebungsverfahren angesprochen worden –, dass das Bundesteilhabegesetz zwar ein wichtiger Schritt war, aber nur ein wichtiger erster Schritt. Diese Feststellung hat Auswirkungen auf die Zukunft. Das heißt natürlich – ich habe es erwähnt –: Wir als Gesetzgeber müssen die Umsetzung beobachten, und zwar insbesondere wie damals im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens mit Blick auf eine weitestgehende und weitestmögliche Beteiligung. Es wird in dem Zusammenhang auch wichtig sein, gerade von den Betroffenen, von allen Beteiligten in diesem Verfahren zu hören: Wie kommt eigentlich das Gesetz letztlich an, und wie wird es umgesetzt? Da gilt es, aufmerksam zuzuhören.
Im Koalitionsvertrag haben wir viele Punkte angesprochen, die wir noch weiter verändern wollen, damit in dieser Legislaturperiode nicht der Anschein entsteht, dass wir nur beobachten und erst einmal die Evaluation abwarten wollen. Nein, wir wollen noch weitere Punkte ändern. In Anbetracht der Zeit erspare ich mir jetzt die Auflistung der hier bereits genannten Punkte.
Wichtig ist aber auch, dass wir sehen, dass mit den Änderungen in dieser Wahlperiode – Umsetzung BTHG – das wichtige Thema der Behindertenpolitik nicht von der Tagesordnung kommt, sondern auch für weitere Legislaturperioden auf der Tagesordnung bleibt.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Wilfried Oellers. – Nächster Redner: Dr. Matthias Bartke für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Bentele, Sie haben heute Ihre letzte Bundestagsrede als Behindertenbeauftragte der Bundesregierung gehalten. Ich füge hinzu: Was für eine wunderbare Rede!
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Zu Beginn möchte ich daher Ihnen, Frau Bentele, auch im Namen der gesamten SPD-Bundestagsfraktion ganz herzlich für Ihren großartigen Einsatz danken. Dass das Bundesteilhabegesetz ein so gutes Gesetz geworden ist, ist ganz maßgeblich auch Ihnen zu verdanken.
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Ich habe viel von Ihnen gelernt, und dafür sage ich auch ganz persönlich Danke.
Liebe Frau Präsidentin, auch Ihnen vielen Dank für die wertschätzenden Worte, die Sie gefunden haben.
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Meine Damen und Herren, es ging durch die Medien: Im letzten Jahr hat sich ein junges Mädchen vorgestellt, wie sie im Bus stolz ihren Schwer-in-Ordnung-Ausweis anstatt ihres Schwerbehindertenausweises vorzeigt. Sie hatte ihn sich selbst gebastelt und war überrascht, wie viel Trubel sie damit ausgelöst hat. Kurz darauf hat Hamburg die Hülle mit dem Aufdruck „Schwer-in-Ordnung-Ausweis“ auch offiziell ausgestellt. Inzwischen sind drei weitere Bundesländer gefolgt.
Das junge Mädchen ist nicht die Einzige, die den Begriff „Schwerbehindertenausweis“ als diskriminierend empfindet. Menschen mit Behinderung haben in den letzten Jahren immer wieder die Umbenennung des Ausweises gefordert. Meine Damen und Herren von der FDP, Sie geben aber nun paternalistisch das Ziel vor, dass der Schwerbehindertenausweis „Teilhabeausweis“ heißen soll.
({3})
Das ist aber längst nicht Konsens unter den Betroffenen. Gerade die Frage der Terminologie, des Wordings, hat in der Behindertenpolitik bekanntlich eine hohe Bedeutung. Liebe FDP, Sie haben das oberste Prinzip der Politik für Menschen mit Behinderung einfach nicht verstanden. Dieses Prinzip lautet: Nicht ohne uns über uns.
Um es klar zu sagen: Die SPD-Fraktion findet es richtig, dass die Debatte zur Umbenennung des Schwerbehindertenausweises neuen Schwung bekommen hat. In Deutschland leben über 7 Millionen mit einer Schwerbehinderung. Sie sollen diskutieren und mitentscheiden, welchen Namen der Ausweis zukünftig tragen soll – und nicht die FDP.
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Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung des Kollegen Beeck?
Des Kollegen Beeck immer.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Dr. Bartke, Ihnen ist bekannt, dass die Krankenkassen die entsprechenden Umfragen gemacht haben und dabei neben dem Schwer-in-Ordnung-Ausweis die Bezeichnung „Teilhabeausweis“ der präferierte Wunsch war?
Würden Sie bitte stehen bleiben.
Entschuldigung.
Ja, das ist mir durchaus bekannt, aber es ist mir auch bekannt, dass es viele Menschen gibt, auch viele Betroffene, die eine andere Begrifflichkeit haben wollen. Der entscheidende Punkt ist, dass wir Bewegung in die Diskussion bekommen wollen und dass Menschen mit Behinderung merken, dass hier nicht der Bundestag frei entscheidet, sondern unter Beteiligung der Behindertenverbände.
Meine Damen und Herren von der AfD, bei der Diskussion, die wir haben werden, darf man auf Sie nicht zählen. Das haben Sie erst kürzlich in Ihrer Anfrage in, wie ich finde, furchtbarer Art und Weise unter Beweis gestellt.
({0})
In Ihrer Anfrage zu schwerbehinderten Menschen in Deutschland haben Sie einen neuen, einen traurigen Tiefpunkt in Ihrer ausgrenzenden Politik erreicht. Sie stellen darin einen – angeblichen – Zusammenhang zwischen Inzucht, Flüchtling und Behinderung her. Ich habe nicht geglaubt, dass so etwas noch möglich ist, und ich frage mich: Geht es überhaupt noch schlimmer?
({1})
Das ist Ihre erste Anfrage, überhaupt Ihre erste Initiative im Deutschen Bundestag zum Thema Behinderung. Es wird deutlich, dass es Ihnen keineswegs um Menschen mit Behinderung geht. Es geht Ihnen nur um Diffamierung. Sie suggerieren eine Grundhaltung, die besagt, Behinderung sei ein zu vermeidendes Übel. Das erinnert an die dunkelsten Stunden unserer Geschichte.
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Es wird überdeutlich, und nicht nur hier: Sie nähern sich immer mehr der NPD an.
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Ich finde es großartig, dass alle bedeutenden Sozialverbände sich zu einer Großanzeige in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ zusammengeschlossen haben. Da heißt es: „Es geht uns alle an: Wachsam sein für Menschlichkeit.“ In dieser Anzeige ist zu Recht von bösartigen Unterstellungen in Ihrer Anfrage die Rede.
Meine Damen und Herren, es gibt kein Ideal des Menschen, aber es gibt ein Ideal einer Gesellschaft, in der wir leben wollen. Wir stehen ein für eine inklusive Gesellschaft, in der niemand auf seine etwaigen Defizite reduziert wird, eine Gesellschaft, in der jede und jeder wertvolles Mitglied ist und gleichberechtigt teilhaben kann und soll. Für eine solche Gesellschaft lohnt es sich, zu streiten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Matthias Bartke. – Nächster Redner in der Debatte: Uwe Schummer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Natürlich: Sprache prägt. Sprache zeigt immer den Geist, in dem eine Gesellschaft lebt und aus dem heraus sie handelt. Deshalb sind Begriffe so wichtig.
Die UN-Behindertenrechtskonvention, die vor mehr als neun Jahren von uns ratifiziert wurde, hat einen ganz massiven und wichtigen Paradigmenwechsel verursacht, der unsere Politik verändert hat, nämlich von der Defizitbeschreibung behinderter Menschen hin zur Teilhabe. Wir müssen die Potenziale, die in jedem Menschen vorhanden sind, entdecken und sie entwickeln, damit diese Menschen an der Gesellschaft teilhaben können.
Das Bundesteilhabegesetz war darauf eine konkrete Antwort, weil neben der Sprache natürlich auch die Taten entscheidend sind. In diesem Zusammenhang haben wir – wie mehrfach betont wurde, unter anderem von Peter Weiß – das Budget für Arbeit gestartet, das Lohnkostenzuschüsse vorsieht für den Übergang von Werkstätten in Unternehmen, in denen Teilhabe durch Arbeit ermöglicht wird. Vor allem geschieht dies durch Begleitung, durch Assistenz und Coaching sowie entsprechende Krisenintervention, wenn es im Handwerksbetrieb, in welchem Bereich der Wirtschaft auch immer, notwendig ist. Es ist eine sehr persönliche Begleitung, damit jeder Einzelne personenzentriert eine Chance auf Teilhabe auf dem ersten Arbeitsmarkt entwickeln kann.
Des Weiteren ist die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung zu nennen, die wir mit knapp 60 Millionen Euro aus Bundesmitteln finanzieren. Hier beraten auch Beteiligte darüber, wie Teilhabe gefördert werden kann. Die entsprechenden Zuwendungsbescheide werden an die derzeitigen Beratungsstellen verschickt und die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung wird aufgebaut. Das Beispiel von Corinna Rüffer hat die Notwendigkeit gezeigt. Wenn sich verschiedene Institutionen streiten, muss man nicht ein, zwei Jahre auf die Hilfeleistung warten, sondern es wird zügig beraten, begleitet und die Hilfe wie aus einer Hand organisiert. Lange Wartezeiten dürfte es von daher durch die neuen Beratungsstrukturen, die wir schaffen werden, zukünftig nicht mehr geben. Wir müssen dafür sorgen, dass das funktioniert.
Die Idee, den Schwerbehindertenausweis in „Schwer-in-Ordnung-Ausweis“ oder in „Teilhabeausweis“ umzufirmieren, finde ich spannend und sympathisch.
Wir haben mit dem Bundesteilhabegesetz beispielsweise einiges für die Schwerbehindertenvertretungen getan. Wir haben ihnen mehr Freistellungen eingeräumt, also mehr Zeit für ihre Beratungsaktivitäten gegeben, wir haben die Vertrauensleute aufgewertet, und wir haben ihre Rechte bei Kündigungen und entsprechenden Maßnahmen gestärkt.
Wir müssen mit den Schwerbehindertenvertretungen reden, ob sie demnächst „Teilhabebeauftragte“ werden. Ich bin offen für den Diskurs, aber ich denke, man muss die sehr konkrete Sprache auch in andere Bereiche der Inklusion transportieren. Wir müssen mit ihnen sprechen und schauen, wo die Gemeinsamkeiten liegen, wie wir das miteinander bewerkstelligen können.
Die Kleine Anfrage der AfD wirft auch Fragen zu Sprache und Denken auf. Was besonders spannend ist, ist der Bezug der Kleinen Anfrage zur Rede von Höcke. Wenn Höcke in seiner Rede in Dresden davon gesprochen hat, dass ein „Denkmal der Schande“ in Berlin geschaffen wurde, und damit die Naziopfer verhöhnte, wenn er den Kirchen, Gewerkschaften und Sozialverbänden vorwarf, sie betrieben die Auflösung des deutschen Volkes, und wenn Inklusion in dieser Rede als Irrweg bezeichnet wurde, dann muss man feststellen, dass der Weg von Höcke zur Kleinen Anfrage hier im Parlament sehr gerade ist und von der AfD offenkundig mitgegangen wird.
({0})
Herr Schummer, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Herrn Hilse?
Von wem?
Von Herrn Hilse.
Ich habe mitbekommen, dass ein führender Abgeordneter der AfD –
({0})
Moment! Jetzt antwortet er, ob er es zulässt.
– bei der Kanzlerwahl den Stimmzettel auf der Toilette beim Toilettenpapier auslegte und das über Twitter verbreitet hat.
({0})
Eine Fraktion, die solche Typen in ihren Reihen duldet und die bereit ist, solche Methoden zu akzeptieren,
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die ihr eigenes Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie nicht geregelt hat, sollte erst mal diese Aufgabe erfüllen. Dann können Sie sich gerne wieder bei uns melden, aber nicht heute.
({2})
Also, das war ein Nein zu Ihrer Frage. – Kommen Sie trotzdem zum Ende.
Klären Sie Ihr Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie, dann werden wir auf dieser Ebene miteinander reden können.
Was Höcke und die Kleine Anfrage verbindet, ist, dass die Bundesvereinigung Lebenshilfe, die von Tom Mutters, einem UN-Beauftragten, gegründet wurde, der die überlebenden Opfer der Euthanasie versammelte und dann eine Selbsthilfevereinigung gründete, nach der Höcke-Rede eine Unvereinbarkeit zwischen sich und der AfD beschlossen hat. Die Bundesvereinigung Lebenshilfe hat dies – nach Ihrer Kleinen Anfrage – zusammen mit einem Bündnis aus 19 Sozialverbänden entsprechend umgesetzt. Wir hier im Parlament sollten mit diesen Sozialverbänden ein Bündnis der anständigen Demokraten gegen solche Begriffe und Ihre Fraktion schmieden.
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Das zu tun, ist etwas, das uns im Sinne der Inklusion und der betroffenen Menschen eine große Freude sein wird.
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Vielen herzlichen Dank, Herr Schummer. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Hilse.
Vielen Dank, dass Sie die Kurzintervention zulassen. Ich beziehe mich noch einmal darauf, was Herr Witt in seiner Rede gesagt hat. Es gibt einen Zeitungsartikel, der in der „taz“, bei „Zeit online“ und in der „Frankfurter Allgemeinen“ – das sind ja nicht unbedingt rechte oder konservative Zeitungen; konservativ schon, aber nicht unbedingt rechts – veröffentlicht wurde. Ich möchte – mit Ihrer Erlaubnis – daraus zitieren. Die ehemalige CDU-Bundestagabgeordnete und Gesundheitsexpertin Stefanie Vogelsang wird in diesem Artikel zitiert:
„Wir müssen das Thema Verwandtenehe endlich offen, aber auch sensibel angehen“, fordert sie daher: „Wenn Cousin und Cousine heiraten, wissen sie oft nicht, worauf sie sich einlassen.“ Frau Vogelsang
– so steht es hier –
plädiert daher für mehr Aufklärung über Verwandtenehen.
Und jetzt:
Wüssten türkische, aber auch libanesische oder irakische Familien mehr über die gesundheitlichen Risiken, meint die CDU-Politikerin, würden sie vielleicht weniger darauf beharren, dass ihre Kinder Verwandte heiraten.
Ist das jetzt auch rechts? Ist das auch in der Nähe des Nationalsozialismus zu verorten? Das ist eine Ihrer Abgeordneten, die das gesagt hat. Bei unserer Anfrage ging es nur darum, zu verifizieren, wie die Faktenlage ist. Ihre Abgeordnete hat genau diese Fragen auch aufgeworfen. Steht sie auch in der Nähe des Nationalsozialismus?
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Herr Schummer, Sie haben jetzt das Wort zur Antwort.
Mir ist die Kollegin Vogelsang bestens bekannt. Sie sollten schon zwischen einem Artikel, der etwas umfassend darstellt, und einer parlamentarischen Anfrage unterscheiden,
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in der Sie die Begriffe „Flüchtlinge“, „Migration“, „Inzucht“ und „Behinderung“ zusammenwürfeln und damit eine bestimmte Denke produzieren und verbreiten wollen.
Die Linie, die ich gezeichnet habe, von der Höcke-Rede bis zur Kleinen Anfrage, kann ich mit einer weiteren Aktion fortsetzen: Wenn Ihr Abgeordneter der AfD in Krefeld eine Aktion unter dem Motto „Kauft nicht bei Türken!“ startet, dann hat das natürlich nichts mit der Geschichte zu tun.
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Vielen Dank, Herr Schummer. – Letzter Redner in der Debatte: Peter Aumer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der FDP, über den wir heute diskutieren, trägt die Überschrift „Zeichen setzen für Menschen mit Behinderungen“. Die Debatte hat heute gezeigt, dass das Thema manchmal auch negative Zeichen setzt.
Ich möchte als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt nun zum Antrag zurückzukommen. Ich glaube, dass Ihr Antrag einfach zu kurz greift. Wir brauchen bei diesem Thema keine Symbolpolitik, sondern wir brauchen ganz konkrete Antworten für die Menschen mit Behinderungen. Menschen mit Behinderungen haben einen Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe in allen Bereichen unserer Gesellschaft. Das muss in unserem Land selbstverständlich sein. Dort, wo es nicht so ist, ist es gesellschaftspolitischer Auftrag bzw. Auftrag von uns politisch Handelnden, das zu ändern und Zeichen zu setzen. Wir müssen aber, wie vorher gesagt, aufpassen, dass es nicht bei Symbolpolitik bleibt. Wir müssen Teilhabe möglich machen. Viele Beispiele dafür, wo politischer Handlungsbedarf besteht, sind von den Kolleginnen und Kollegen heute in der Debatte genannt worden.
Ich habe Ihren Antrag, liebe Kollegen von der FDP, einem Freund, der eine angeborene Behinderung hat, gezeigt. Seine Reaktion war deutlich. Ich zitiere: Wenn wir das Ganze einmal nüchtern betrachten, ist das Kernproblem nicht die Verpackung, sondern der Inhalt. Ich bin weder schwer behindert noch schwer in Ordnung. Ich bin ein Mensch mit Schwächen, für die ich persönlich nichts kann.
Diesen Freund, sehr geehrte Frau Bentele, habe ich durch meine politische Arbeit kennengelernt. Er ist in meiner Partei engagiert, war für mich im Wahlkampf unterwegs, hat mit seinem Rollstuhl meine Prospekte ausgeteilt, und zwar mehr und schneller als jeder andere. Es gibt also auch Menschen mit Behinderungen, die sich politisch engagieren. Ich finde das gut und richtig und unterstütze das von meiner Seite aus sehr stark. Und er hat recht: Wir müssen über die Inhalte diskutieren und dürfen nicht Symbolpolitik machen.
Unser Auftrag als Gesetzgeber ist es, dass Menschen mit Behinderungen ihre Rechte gegenüber dem Arbeitgeber, den Sozialträgern und den Behörden durch einen Ausweis in Anspruch nehmen können. Mit der Einführung des Scheckkartenformates des Schwerbehindertenausweises haben wir in der letzten Legislaturperiode Teilhabe gestärkt. Der Ausweis ist benutzerfreundlicher geworden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich war in den letzten Wochen Schirmherr einer Spendensammelaktion für die Lebenshilfe in meinem Wahlkreis. Dort hat mich jemand angesprochen und lobend erwähnt, dass das Scheckkartenformat es bequemer macht, den Schwerbehindertenausweis mit sich zu führen. Er hat aber auch darauf hingewiesen, dass das noch nicht reicht. Der Schwerbehindertenausweis sollte zum Beispiel in ganz Europa gelten. Er hat mir den Auftrag mitgegeben: Kümmere dich mal darum!
Wenn Ihr Antrag wirklich sinnvoll sein soll, meine Damen und Herren der FDP, dann dürfen wir, glaube ich, unser Augenmerk nicht allein auf das Label bzw. die Bezeichnung richten, sondern es kommt darauf an, welchen praktischen Nutzen der Ausweis hat. Ich glaube, darüber müssen wir diskutieren.
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– Bitte?
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– Es gibt ein Projekt, das jetzt angelaufen ist.
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Wir müssen das im europäischen Sinne lösen. Darüber können wir diskutieren und uns auseinandersetzen, und dann sollten wir Lösungen finden. Ich glaube, dann hat der Ausweis die Berechtigung, ein Teilhabeausweis zu sein und auch so zu heißen. Ich glaube, es kommt nicht auf den Namen an, sondern darauf, welche Möglichkeiten der Ausweis den Menschen mit Behinderungen bietet. Das ist der Auftrag, den wir haben. In diesem Sinne sollten wir darüber diskutieren und Lösungen anbieten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Aumer. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1836 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Wie sollen die Menschen in Deutschland eigentlich darauf vertrauen, dass wir die Flüchtlingskrise meistern werden, wenn die Schlüsselbehörde, der diese Aufgabe obliegt, offenbar in Tausenden von Fällen systematisch selbst Rechtsverstöße begangen hat? Die Bundesregierung – es wäre begrüßenswert, wenn der Minister selbst anwesend wäre – muss das Vertrauen wiederherstellen, indem sie schonungslos, rückhaltlos und vollumfänglich aufklärt.
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Im Innenausschuss gestern sind allerdings trotz umfangreicher Berichte noch zahlreiche Fragen und Ungereimtheiten aufgetreten und offengeblieben.
Erste Ungereimtheit ist: Es gab offensichtlich jahrelang Tausende von Fällen, in denen rechtswidrige Bescheide erteilt worden sind. Kann es denn wirklich sein, dass die Behördenleiterin allein oder nur mit wenigen anderen Mitarbeitern, die eingeweiht gewesen sind, gehandelt hat? Wenn ganze Busse von Asylbewerbern vorfahren: Muss da nicht der ganzen Behörde auffallen, dass hier irgendwelche seltsamen Dinge vor sich gehen? Am 25. Januar 2016 ist der erste Hinweis eingegangen, und erst am 21. Juli 2016, ein halbes Jahr später, ist die Behördenleiterin suspendiert worden. Das klingt nicht nach entschlossener behördeninterner Aufklärung.
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Zweite Ungereimtheit. Seit dem 25. Januar 2016 – das habe ich soeben gesagt – war bekannt, dass irgendetwas mit unrechten Dingen zugeht. Meine Frage gestern im Innenausschuss, wann denn die erste Meldung des BAMF an das BMI erfolgt ist, konnte oder wollte keiner beantworten.
Aber auffällig ist doch, dass am 6. April 2018 der neue Bundesinnenminister Seehofer das BAMF in Nürnberg besucht und die gute Arbeit gelobt hat: Alles super, alles toll. Entweder hat die Präsidentin des BAMF, Frau Jutta Cordt, den Innenminister nicht hinreichend und offen informiert, oder aber der neue Innenminister hielt es nicht für angezeigt und notwendig, die Öffentlichkeit über diese Vorgänge zu informieren.
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Wir müssen wieder einmal alles aus der Presse erfahren. Wie soll denn da Vertrauen in das BAMF und Vertrauen in die Bundesregierung entstehen?
Dritte Ungereimtheit. Meine Frage nach dem Motiv der Handelnden blieb gestern im Innenausschuss unbeantwortet. Seit über zwei Jahren ist beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bekannt, dass es hier Ungereimtheiten gibt. Man kann sich nicht vorstellen, dass die nächstliegende Frage, warum denn eigentlich solche Bescheide rechtswidrig erteilt worden sind, nicht gestellt worden ist. Das klingt alles nicht nach entschlossener Aufklärung.
Vierte Ungereimtheit, die aufgefallen ist. Auch die Frage nach der Zahl der Entscheide, die bislang als rechtswidrig erkannt worden sind, blieb gestern im Innenausschuss unbeantwortet. Noch einmal: Im Januar 2016 erfolgte der erste Hinweis auf Ungereimtheiten im Amt. Erst am 21. Dezember 2017 – 23 Monate später – gibt die Präsidentin des BAMF, Frau Cordt, die seit dem 1. Februar 2017 im Amt war, den Auftrag, die Bescheide nachzuprüfen.
Ich muss sagen: Bei dem Gedanken, dass Tausende von Asylbewerbern wissen, dass beim BAMF in der Außenstelle Bremen Asylbescheide mit lockerer Hand bewilligt werden, ist einem doch nicht wohl. Alle wissen das, Tausende von Menschen. Nur das BAMF in Nürnberg weiß es nicht und hält es nicht für angezeigt, schnellstens aufzuklären und nachzuprüfen, welche Bescheide hier erteilt worden sind. Mir wäre himmelangst bei dem Gedanken, dass sich eventuell auch Extremisten, Salafisten und Dschihadisten dieses Loch zunutze gemacht haben könnten.
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Fünfte Ungereimtheit – ich könnte noch weitere aufzählen, aber die Zeit läuft mir davon – ist: Liegt denn eigentlich zwei Jahre nach dem ersten Bekanntwerden der Vorgänge noch immer kein schriftlicher Bericht vor, den einzusehen dieses Parlament einen Anspruch, ein Recht hätte? Auch das ist in meinen Augen kein Zeichen für unbedingten Aufklärungswillen, meine Damen und Herren.
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Ich will abschließend sagen, dass wir durchaus differenzieren und unterscheiden können. Wir wollen nicht alle Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in einen Topf werfen und pauschal verurteilen. Aber gerade um den Ruf des BAMF jetzt wieder zu reparieren und das Vertrauen der Menschen zu stärken bzw. wiederherzustellen, dass dort rechtens entschieden wird, ist jetzt das Gebot der Stunde, dass Offenheit herrscht und nicht Dinge unter den Teppich gekehrt werden oder zumindest der Eindruck entstehen könnte, es sollen Dingen unter den Teppich gekehrt werden.
Bislang habe ich nicht das Gefühl, dass hier Offenheit und Aufklärungswille herrschen. Ich habe eher das Gefühl, dass hier Dinge unter der Decke gehalten werden sollen.
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Vielen Dank, Stephan Thomae. – Nächster Redner für die Bundesregierung: der Parlamentarische Staatssekretär Stephan Mayer. Herr Mayer, Sie haben das Wort.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Um eines zu Beginn klipp und klar zu sagen: Es gibt hier nichts zu beschönigen. Die Vorfälle in der BAMF-Außenstelle in Bremen sind in höchstem Maße ärgerlich und in höchstem Maße bedauernswert.
Um noch etwas in aller Deutlichkeit zu sagen: Diese skandalösen Vorgänge verlangen nach einer vollständigen und rückhaltlosen Aufklärung.
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Es muss festgestellt werden, wie es zu diesem inakzeptablen Fehlverhalten offenkundig einiger weniger Mitarbeiter kommen konnte. Ich bin deshalb sehr dankbar, dass die heutige Aktuelle Stunde beantragt wurde, weil sie mir Gelegenheit gibt, Sie über den jetzigen Kenntnisstand zu informieren und die jetzigen Kenntnisse mit Ihnen zu teilen.
Worüber sprechen wir? Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, der Vorwurf an eine mittlerweile suspendierte Mitarbeiterin der Bremer Außenstelle lautet, sie habe wiederholt in laufende Asylverfahren eingegriffen, obwohl hierfür keine fachliche Zuständigkeit bestand. Sie habe in großem Stil Verfahren aktiv an sich gezogen und Asyl- oder Flüchtlingsschutz gewährt, obwohl die Voraussetzungen hierfür nicht gegeben waren, und sie habe Identitätsprüfungsregelungen missachtet und beispielsweise darauf verzichtet, dass eine Anhörung stattfindet und dass notwendige Ausweisdokumente vorgelegt werden.
An diesen fehlerhaften Entscheidungen waren offenkundig weitere Personen beteiligt, die mit der BAMF-Mitarbeiterin kollusiv und – ich betone – offenkundig vorsätzlich zusammengearbeitet haben. Darunter befinden sich auch zwei Rechtsanwaltskanzleien aus Niedersachsen. Um auch dies ganz klar zu sagen: Dies ist absolut inakzeptabel und nicht hinnehmbar.
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Deshalb werden sämtliche Verfahren – ich betone: sämtliche – komplett auf den Prüfstand gestellt, in die diese Rechtsanwaltskanzleien involviert waren. Insgesamt handelt es sich dabei um exakt 4 568 Verfahren aus dem Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2013 und dem 16. November 2017, die auch in anderen BAMF-Außenstellen bearbeitet worden sind. Bestätigen sich die Vorwürfe in Bremen, wäre das ein massiver Rechtsbruch. Da gibt es, wie gesagt, nichts schönzureden.
Wie gehen wir im Bundesinnenministerium nun mit dieser Situation um, und was wird derzeit getan? Die entscheidende Frage muss aus meiner Sicht auch sein: Welche Lehren ziehen wir aus diesem Einzelfall in der BAMF-Außenstelle in Bremen für die Zukunft?
Drei Punkte sind aus meiner Sicht das Gebot der Stunde: erstens rückhaltlose, lückenlose, ehrliche und schonungslose Aufklärung. Wir werden im Bundesinnenministerium nichts tun, um irgendetwas unter den Teppich zu kehren. Wir sind für schonungslose Aufklärung.
Den Vorwurf, wir würden vertuschen oder den Eindruck erwecken, zu vertuschen, der teilweise erhoben wird, möchte ich auch im Namen der Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums und des BAMF in aller Deutlichkeit von uns weisen.
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Das BAMF hat die betreffende Mitarbeiterin bereits im Juli 2016 – genauer gesagt: am 21. Juli 2016 – nach ersten Vorwürfen von der Leitung der Außenstelle Bremen entbunden. Herr Kollege Thomae, Sie sagten, es habe so lange gedauert, da ja der erste Hinweis an die Ombudsstelle im Bundesinnenministerium schon am 25. Januar 2016 erfolgte. Das stimmt, nur: Diese ersten Hinweise haben sich in keiner Weise auf die betreffende Mitarbeiterin – damals die Leiterin – des BAMF bezogen. So kann man also nicht den Schluss ziehen: Hier ist sechs Monate zugewartet worden. Diese Vorwürfe haben sich erst wesentlich später auf die besagte Mitarbeiterin konkretisiert und spezifiziert.
Wegen weiterer Vorfälle hat das BAMF zudem bereits im Herbst 2017 Strafanzeige gestellt – ich betone: eigeninitiativ – und arbeitet seitdem eng mit der Staatsanwaltschaft Bremen zusammen. Um dies klar zu sagen: Wir unterstützen vollumfänglich die Ermittlungsarbeiten der Staatsanwaltschaft Bremen.
Die vollständige Suspendierung der besagten Mitarbeiterin erfolgte dann auf Wunsch der Staatsanwaltschaft – wohlgemerkt: auf Wunsch der Staatsanwaltschaft – erst vor wenigen Tagen, um die verdeckten Ermittlungen nicht zu gefährden. Auch hier lasse ich keinen Vorwurf konstruieren gegenüber dem Bundesinnenministerium bzw. dem BAMF. Dass so lange zugewartet wurde und die Suspendierung erst in der letzten Woche erfolgte, geschah auf ausdrücklichen Wunsch der Staatsanwaltschaft Bremen.
Aufzuklären ist zunächst das persönliche Fehlverhalten der Mitarbeiterin und möglicher weiterer Tatbeteiligter. Alle Verfahren, die unter Beteiligung der tatverdächtigen Rechtsanwälte durchgeführt wurden, werden nun komplett geprüft; ich habe dies bereits erwähnt. Es handelt sich um 4 568 Entscheidungen. In bisher 40 Prozent der Verfahren ist die Prüfung bereits erfolgt. Das erste Zwischenfazit auf Basis der Aktenlage lautet, dass in anderen BAMF-Außenstellen keine Manipulationen festgestellt werden konnten. Die manipulierten Anerkennungsbescheide werden – um dies klar zu sagen –, soweit rechtlich irgendwie möglich, aufgehoben. In diesem Zusammenhang möchte ich an den Auftrag aus dem Koalitionsvertrag erinnern, dafür zu sorgen, für die Prüfung aller positiven Asylentscheidungen verbindliche Mitwirkungspflichten der Betroffenen vorzusehen. Es ist heute leider nicht die Rechtslage, dass die Betroffenen in einem eventuellen Rücknahmeverfahren eine verbindliche Mitwirkungspflicht haben. Dies ist aus meiner Sicht gesetzlich schnell zu regeln. Hier brauchen wir dringend eine gesetzliche Klarstellung, um deren Unterstützung ich Sie bereits heute bitte. Das Bundesinnenministerium wird hier zeitnah einen Gesetzentwurf vorlegen.
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Der zweite Punkt betrifft die Abläufe im BAMF insgesamt. Wir werden sehr genau, intensiv und dezidiert der Frage nachgehen, ob es organisatorische Mängel im Bundesamt gab oder gibt, die ein drastisches Fehlverhalten Einzelner zulassen oder sogar begünstigen. Es wird auch die Frage zu klären sein: Wie konnten Sicherungssysteme umgangen werden, und wo bestehen mögliche Defizite in den Kontrollinstanzen? Ebenfalls eine wesentliche Rolle bei der Aufklärung muss die Frage spielen, ob die gegenwärtige Personaldecke ausreicht, um die Bescheidungspraxis, das Controlling und die Qualitätssicherung in guter Qualität sicherzustellen. Ich persönlich bin der Meinung: Nein, sie reicht nicht aus. Ich bin der festen Überzeugung: Wir müssen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge personell besser ausstatten und aufstocken. Das Bundesinnenministerium wird mit der Forderung in die Beratungen über den Haushalt 2018 gehen, dass wir 1 300 zusätzliche Stellen im BAMF benötigen.
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Ich bin aber sehr froh – um dies klar zu sagen –, dass der Bundesrechnungshof entschieden hat, eine ohnehin vorgesehene Überprüfung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vorzuziehen und insbesondere die Vorfälle in Bremen einer genauen Untersuchung zu unterziehen. Ich bin der Überzeugung, dass gerade der Bundesrechnungshof als neutrale und prüfungserfahrene Behörde dafür prädestiniert ist. Wie gesagt, es wird die Aufgabe des Bundesrechnungshofes sein, nicht nur die konkreten Einzelfälle in der BAMF-Außenstelle in Bremen zu beleuchten, sondern insgesamt auch zu prüfen, ob die vorhandenen Strukturen und Verfahren im BAMF verbesserungsbedürftig sind. Für diese wichtige Strukturuntersuchung bin ich dem Bundesrechnungshof sehr dankbar. Ich sage hier auch zu, dass wir die Empfehlungen des Bundesrechnungshofes sehr ernst nehmen werden.
Das führt mich nun zu meinem letzten Punkt. Es geht um die Frage, welche nötigen Konsequenzen zu ziehen sein werden. Ich möchte dem Prüfungsbericht des Bundesrechnungshofes in keiner Weise vorgreifen. Aber klar ist aus meiner Sicht schon jetzt, dass die bereits nach dem Fall Franco A. aufgelegte Qualitätsoffensive im BAMF weiter ausgebaut werden muss. Bereits zum 1. September letzten Jahres sind Verbesserungen in der Qualitätssicherung ins Werk gesetzt worden – ein dreistufiges Qualitätssicherungssystem –, um Missbrauch zu verhindern. Die erste Stufe ist, dass sämtliche Verfahren und Bescheide – nicht nur in der Außenstelle Bremen, sondern in allen Außenstellen – mittlerweile nach dem Vieraugenprinzip erarbeitet und erlassen werden. Die zweite Qualitätsstufe ist, dass dezentral in allen Außenstellen 10 Prozent aller Verfahren durch Stichproben überprüft werden. Die dritte Stufe im Qualitätssicherungssystem ist, dass in der Zentrale in Nürnberg noch einmal stichprobenartig einige Verfahren einer internen Revision unterzogen werden. Ich sage deutlich, dass auch die Verwendung neuer IT-Methoden wie beispielsweise die Sprachanalyse sowie Bild- und Sprachbiometrie weiter vorangetrieben werden muss.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, um dies noch einmal klar zu sagen: Diese Vorfälle in Bremen sind in höchstem Maße bedauerlich. Sie sind ärgerlich. Sie müssen auch dazu führen, dass die schon ins Werk gesetzte Qualitätsoffensive vorangetrieben wird. Niemand hat ein so großes Interesse daran wie das Bundesinnenministerium selbst. Ich sage dazu: Es muss in Zukunft so sein, dass, wenn erhebliche, signifikante Abweichungen bei der Schutzquote von einer Außenstelle zum Bundesdurchschnitt oder zu anderen Außenstellen vorhanden sind, dies nicht erst auf anonyme Hinweise hin überprüft werden darf, sondern dass dies aus meiner Sicht von Amts wegen erfolgen muss.
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Ich sage aber auch, dass die beste Sicherung nichts hilft bei einem massiven, kollusiven und vorsätzlichen Zusammenwirken der Beteiligten. Hier war offenbar hohe kriminelle Energie dabei.
Herr Mayer, denken bitte auch Sie an die Redezeit.
Ich darf abschließend, sehr verehrte Frau Präsidentin, eines noch mal deutlich machen: So schlimm und so bedauerlich diese Vorkommnisse in Bremen sind, sie dürfen aus meiner Sicht nicht dazu führen, dass wir eine Behörde insgesamt diskreditieren. Wenn ich dann von der AfD höre, dass sie das BAMF am liebsten abschaffen würde: Dies ist genau das falsche Signal.
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Es gibt 7 000 Mitarbeiter im BAMF, die eine gute Arbeit leisten, und es wäre vollkommen falsch, diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter Generalverdacht zu stellen. Ich sage hier noch mal volle Transparenz und nachdrückliche, vollumfängliche Aufklärung durch das Bundesinnenministerium zu.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Stephan Mayer. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Martin Hess.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über einen mutmaßlichen Fall der Korruption beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, der nach jetzigem Kenntnisstand dazu geführt hat, dass vermutlich Tausende von positiven Asylbescheiden gegen geltendes Recht verstoßen. Das genaue Ausmaß dieses Rechtsbruchs und auch die genaue Anzahl der daran beteiligten Mitarbeiter sind zum derzeitigen Zeitpunkt nicht abschließend zu bewerten. Deshalb ist es richtig und auch wichtig, dass sich das Parlament heute mit diesem Fall beschäftigt. Hier muss selbstverständlich schonungslos und vollumfänglich Aufklärung betrieben werden. Vor allem die Frage, warum ein solch massenhafter Rechtsbruch nicht im Rahmen der BAMF-internen Überprüfungen aufgefallen ist, sondern erst durch einen externen Hinweis zur Kenntnis genommen wurde, muss geklärt werden.
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Allerdings erweckt die Fokussierung auf diesen Vorfall den Eindruck, dass es sich hier nur um einen fast schon marginalen Einzelfall handele und dass ansonsten die Asylentscheidungen des BAMF weder unter rechtsstaatlichen noch unter sicherheitspolitischen Aspekten zu beanstanden seien. Aber genau das ist falsch. Die heutige Einzelbetrachtung geht am Kern des Problems vorbei.
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Die Bundesregierung hat sich entschlossen, die deutschen Grenzen zu öffnen und Hunderttausende Menschen illegal ins Land zu lassen. Mit dieser fatalen Entscheidung hat die Regierung dafür gesorgt, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aufgrund der schieren Masse an Menschen, die es plötzlich bearbeiten musste, total überfordert war. Die Tatsache, dass bis zu 80 Prozent der sogenannten Flüchtlinge ohne Papiere in unser Land kamen, hat dazu geführt, dass eine verlässliche Überprüfung der Identität und der Fluchtgeschichte für die BAMF-Mitarbeiter gar nicht möglich war.
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Bei Asylverfahren waren nicht mehr objektiv nachprüfbare Fakten die Grundlage der Entscheidung, sondern allein die mündliche Angabe des Asylbewerbers, und die war meist auch noch von eilig beauftragten Dolmetschern mit fragwürdiger Qualifikation abhängig.
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Trotz der mittlerweile umgesetzten effizienzverbessernden Maßnahmen hat sich an den Grundsätzen dieses Verfahrens nichts geändert. Dies lässt sich treffend mit dem Satz zusammenfassen: Für Asylentscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge galt und gilt: Märchenstunde statt Faktencheck.
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Denn noch immer kommt die Mehrzahl der Flüchtlinge ohne Identitätspapiere in unser Land, und noch immer sind unsere Grenzen für jeden Asylsuchenden sperrangelweit geöffnet. Das hat mit einem Asylverfahren, das rechtsstaatlichen Grundsätzen genügt, nichts zu tun.
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Dafür ist allein diese Regierung verantwortlich.
Auch unter Sicherheitsaspekten muss dieser Irrweg schnellstens korrigiert werden. Ich bitte die Regierung, Herr Mayer, inständig, zur Kenntnis zu nehmen, dass ohne Identitätspapiere eine verlässliche Sicherheitsüberprüfung einer Person schlicht nicht möglich ist; denn auch Plausibilitätsprüfungen und diesbezüglich ergänzende Maßnahmen belegen keineswegs die Identität einer Person, sondern sie lassen sie lediglich, wie der Name schon sagt, plausibel erscheinen. Auch das Erheben, Speichern, Abgleichen biometrischer Daten bringt keinen Sicherheitsgewinn, wenn Terroristen oder Gewalttäter in den polizeilichen Systemen noch gar nicht erfasst sind. Ich darf Sie daran erinnern, dass Anis Amri als Flüchtling in dieses Land eingereist ist.
Auch die neu geschaffene Norm zur Auswertung von Mobiltelefonen hilft nicht, die Sicherheitslage wirklich nachhaltig zu verbessern, weil Sie nämlich die Tatbestandsvoraussetzungen so eng gefasst haben, dass sie viel zu selten zur Anwendung kommt. Um wirklich etwas zu bewirken, müsste sie als Standardmaßnahme bei Asylsuchenden ohne Identitätspapiere angewandt werden.
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Im Ergebnis bedeutet dies: Sie halten mit dem derzeitigen Verfahren trotz aller Neuerungen keine Terroristen und Gewalttäter auf. Dies belegt eindeutig die ständig wachsende Zahl der islamistischen Gefährder und Salafisten. Ich rate dem Innenminister und vielleicht auch dem einen oder anderen Staatssekretär, zur Erkenntnisgewinnung nicht nur Gespräche mit Behördenleitungen zu führen, sondern auch einmal mit Polizeibeamten, die operativ in diesem Bereich tätig sind. Die werden Ihnen das, was ich hier ausgeführt habe, definitiv bestätigen.
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Deshalb bedarf es dringend einer politischen Kurskorrektur. Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, endlich effektiv unsere Grenzen zu schützen und Personen ohne Identitätspapiere konsequent zurückzuweisen.
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Es muss der Grundsatz gelten: Wer ohne Identitätspapiere einreisen will, betritt unser Land nicht.
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Damit reduzieren Sie die Flüchtlingszahlen erheblich und sorgen dafür, dass das BAMF seiner originären Aufgabe wieder nachkommen kann und auf der Grundlage fundierter Fakten seine Entscheidungen trifft. Vor allem aber ist effektiver Grenzschutz absolut notwendig, um die Sicherheitslage in unserem Land wirksam und nachhaltig zu verbessern. Genau das ist Ihr Auftrag, und genau darauf hat der Bürger Anspruch.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist Susanne Mittag für die Fraktion der SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Zuhörer! Wir hatten am Mittwoch eine Innenausschusssitzung und eine, so muss man sagen, stundenlange Debatte über dieses Thema. Trotzdem sind noch jede Menge Fragen offen geblieben – wir konnten die Debatte gar nicht abschließen –, besonders Fragen zum Umgang mit den Hinweisen, die vorlagen, zu Ermittlungsabläufen und grundsätzlich zu Strukturen des Bundesamts.
Es geht um 1 200 Vorgänge. Oder geht es um 2 000 Vorgänge? Da gab es noch ein paar Zahlen. Es ist also noch gar nicht klar, um wie viele Vorgänge es eigentlich geht. Es handelt sich um ganze Verwaltungsvorgänge, also nicht immer nur ein Blatt, das abgestempelt worden ist; es sind teilweise richtig dicke Akten. Da spielt ein Zeitfaktor eine Rolle. Es ging über zwei Jahre. Diese Menge ist selbst für einen Sachbearbeiter, der nur das macht, eine nicht unerhebliche Menge.
Was macht eine Leitung alles nebenbei? Diese Frage stellt sich. Das müssen doch Mitarbeiter vor Ort mitbekommen haben. Es gibt bei Beamten eine Remonstrationspflicht. Es kann nicht sein, dass Menschen, auch Tatzeugen, zur Dienststelle kommen und alles nur über die Leitung läuft. Man muss sich das einmal vorstellen: Bei einem Finanzamt oder einer Polizeidienstbehörde gehen bestimmte Leute nur zur Leitung, und nur die Leitung bearbeitet den ganzen Verwaltungsvorgang. – Jeder, der mit solchen Vorgängen auch nur ansatzweise zu tun hat, weiß: Das ist überhaupt nicht vorstellbar. Insofern fragt man sich, wieso das auf gar keiner Ebene irgendwer bemerkt hat, offensichtlich auch nicht auf der Führungsebene außerhalb von Bremen.
Wenn man sich das Organigramm ansieht, dann sieht man die Leitungsverantwortlichkeit der Abteilung 5; darin sind die betroffenen Länder Bremen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Gleichzeitig ist das übergeordnet die „Leitung operativer Bereich, Controlling, Statistik“ für alle. Da fragt man sich, ob der Controller für alle seinen eigenen organisatorischen Bereich mit überprüft. Das kann eigentlich nicht funktionieren.
Offensichtlich erst anderthalb Jahre später kam das Vieraugenprinzip. Da sind sogar einige Kommunalbehörden schon weiter. Und: Das Bremer Innenressort hat offensichtlich erst kürzlich Nachricht davon bekommen. Das kann eigentlich auch nicht angehen; denn ein Bundesamt arbeitet mit der Stadt bzw. dem Stadtstaat eng zusammen.
Anfang 2016 gab es eine Person – eine Frau, ein Mann; man weiß es nicht –, die ganz mutig war. Sie konnte offensichtlich diesen rechtswidrigen Zustand nicht mehr ertragen. Sie hat es sich bestimmt nicht leicht gemacht und hat dann einen Hinweis gegeben. Unbekannterweise möchte ich sagen: Herzlichen Dank. – Das war für diese Person wahrscheinlich keine Kleinigkeit.
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Auch der niedersächsische Innenminister hat noch einmal nachgefragt und gesagt: Was sind denn das für Zustände? Was läuft da ab? Das ist rechtlich und organisatorisch überhaupt nicht nachvollziehbar. – Ohne diese Anfragen wäre unter Umständen vermutlich bis heute nichts passiert.
Nun reicht die Prüfung zurück bis 2013. Das ist im ersten Moment ganz schlüssig. Das war – vielleicht für den einen oder anderen zur Erinnerung – vor jeglichem höheren Flüchtlingsaufkommen in Deutschland; nur zur Erinnerung. Also: Hier geht es um eine Organisationsdebatte der Bundesbehörde und nicht um eine Flüchtlingsdebatte.
Was waren die Gründe für dieses Handeln der Leitung? Und wer sagt eigentlich, dass ein persönlicher Ermessensspielraum und die Auslegung der Vorgaben nicht schon länger stattfanden, da das Verhalten angeblich – so wie wir das bislang mitbekommen haben – weniger mit Geld, sondern eher mit einer persönlichen Einstellung zu tun hatte? Die Leitungsfunktion wurde seit 1993 ausgeübt. An dieser Stelle wird hoffentlich richtigerweise weiterermittelt; denn das hat nicht zwingend nur etwas mit dem Zeitraum bis 2013 zu tun.
Die Freistellung vom Amt ist eine logische und erforderliche Folge. Aber wie kann man bei laufendem Straf- und Disziplinarverfahren eine Mitarbeit in der Qualitätssicherung begründen? Das widerspricht sich etwas. Wie sollen denn unter diesen Voraussetzungen Vorschläge erarbeitet und eigenes Verhalten als Problem dargestellt werden? Das passt doch gar nicht zueinander.
Das Bundesamt – es ist ein Bundes amt – für Migration und Flüchtlinge hat besonders in diesen Zeiten nicht nur eine verwaltungsrechtliche, sondern auch ganz massiv eine gesellschaftliche Aufgabe. Man merkt das ein bisschen an dieser Diskussion hier, die manchmal in eine Richtung läuft, die überhaupt nicht zur behördlichen Struktur passt. Es geht nicht nur um Faktenprüfung und um das Ergreifen von Maßnahmen oder dass sie eben nicht ergriffen werden, sondern es geht auch um die Glaubwürdigkeit des staatlichen Handelns und um das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit.
Das Versagen in diesem Falle belastet nicht nur das ganze Bundesamt – es hat nicht nur etwas mit Bremen zu tun –, sondern auch alle politischen Vertreter, die hier sind. Auch wenn das der eine oder andere gerne möchte, kann sich keiner aus der Verantwortung ziehen.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Als Nächstes spricht Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es schon bezeichnend, dass wir gestern im Innenausschuss stundenlang Informationen hinterfragen und natürlich keinerlei Informationen über die Ermittlungen bekommen haben; das ist auch völlig klar. Aber offensichtlich weiß hier insbesondere die rechte Seite schon viel mehr, als wir gestern erfahren haben, und spricht von „Korruption“ und „Asylmissbrauch“.
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Es geht um Ermittlungen. Es geht nicht um eine Anklage.
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Ich sage Ihnen ganz klar: Schon bevor überhaupt klar war, was hier wem vorgeworfen wird, haben die Medien einen Skandal hochgeschrieben mit Schlagzeilen wie „Korruptionsskandal“ und „unfassbarer Asyl-Betrug“. Ich halte das für eine unzulässige Vorverurteilung für die Betroffenen.
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Noch muss man abwarten, was bei den Ermittlungen herauskommt.
Meine Damen und Herren, Herr Staatssekretär Mayer, man muss hier nicht so tun, als wenn das Bundesinnenministerium nie Fehler gemacht hätte. Ich erinnere mich noch gut daran, dass das BAMF sehr viel früher gesagt hat: Wir brauchen mehr Stellen. Wir müssen qualifizierter arbeiten können. – Das wurde vom Innenministerium abgelehnt. Wir wissen inzwischen seit Jahren über große Qualitätsmängel im BAMF Bescheid. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: kurzfristige Neueinstellungen, unzureichend ausgebildetes Personal, die Trennung zwischen Anhörung und Entscheidung beim Asylverfahren – das muss man sich so vorstellen: ein Richter verhört einen Angeklagten, und ein anderer Richter urteilt darüber, ob er schuldig war oder nicht; das ist doch verrückt –,
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unqualifizierte Dolmetscher, hoher Zeitdruck. All das führte natürlich zu fehlerhaften Entscheidungen. Diese werden sich vor allen Dingen negativ auf die Flüchtlinge auswirken. Das ist doch der eigentliche Skandal. Darüber hat hier noch niemand geredet.
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Nehmen wir zum Beispiel die Klagen. Bedenklich ist aus unserer Sicht, wie viele Fehlentscheidungen des BAMF immer wieder von Gerichten berichtigt werden müssen. Allein im Jahre 2017 mussten 32 500 negativ für die Betroffenen ausgegangene Asylverfahren von den Gerichten zum Positiven für die Betroffenen korrigiert werden. Das waren 40 Prozent aller Asylentscheidungen, über die die Gerichte inhaltlich erneut entscheiden mussten. Es ist doch ein Riesenskandal, dass man hier massenhaft Schutz für die Betroffenen verweigert hat.
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Was heißt das denn für die Betroffenen? Es bedeutet: keine Integration, keine Arbeitsaufnahme, warten auf Familienzusammenführung. Die ganze Zermürbung kommt obendrauf.
Ebenfalls mit Sorge erfüllen uns die unterschiedlichen Anerkennungsquoten verschiedener Außenstellen des BAMF. Es stimmt: Die Schutzquote ist in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern seit längerem überdurchschnittlich hoch. Aber es gibt auch Länder, die bei der Schutzquote unter dem Bundesdurchschnitt liegen. Dazu gehören Bayern, Sachsen und Brandenburg. Ich bringe ein Beispiel: In Bayern lag die bereinigte Schutzquote bei afghanischen Flüchtlingen 2017 bei 38 Prozent, bundesweit waren es 48 Prozent. Bei iranischen Flüchtlingen lag die bereinigte Schutzquote bei 35 Prozent, der Bundesdurchschnitt dagegen bei 57 Prozent. Das heißt also: Wir haben tatsächlich Unterschiede. Wenn Innenminister Seehofer jetzt eine Untersuchungskommission einrichten will – es ist gut und richtig, dass Asylverfahren überprüft werden –, dann sollen bitte nicht nur die positiv entschiedenen, sondern auch diejenigen, die negativ entschieden wurden, geprüft werden.
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Warum soll die Anerkennungsquote nicht ebenfalls schlechter sein? Das kann so nicht hingenommen werden. Im Übrigen wäre das – ganz nebenbei gesagt – auch eine enorme Entlastung für die Gerichte.
Die erhobenen Vorwürfe werfen zweifellos viele Fragen auf. In den fraglichen Fällen soll es vor allem um jesidische Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak gegangen sein, die einen Schutzstatus benötigen. Ich möchte daran erinnern, dass bundesweit gerade in den Jahren 2014 bis 2016 die Anerkennungsquote bei nahezu 100 Prozent lag, und zwar sowohl für die Jesiden aus Syrien als auch Zeitweise für Jesiden aus dem Irak. Ich möchte daran erinnern – wir alle haben noch die Bilder vor Augen –, als 2014 der sogenannte „Islamische Staat“ die Jesiden in Shingal im Irak überfallen, ermordet und Frauen vergewaltigt hat. Diese Menschen brauchen Sicherheit, und sie werden durch diese Debatte – wie sie geführt wird und welche Schwerpunkte gesetzt werden – enorm verunsichert.
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Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum letzten Satz. Für uns ist das Wichtigste, dass das, was eine Behörde und ein Ministerium verursacht haben, nicht auf dem Rücken der Flüchtlinge ausgetragen wird.
Ich danke Ihnen.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Amtsberg von Bündnis 90/Die Grünen.
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Vielen Dank, Herr Präsident. –! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Ich bin der FDP dankbar, dass sie diesen Tagesordnungspunkt heute aufgesetzt hat; denn ich finde, dass wir uns hier in diesem Hause eigentlich viel häufiger über die Arbeitsweise des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, kurz BAMF, unterhalten sollten. Ich sage aber auch gleich zu Beginn für meine Fraktion: Wir halten es in der Auseinandersetzung um das BAMF für falsch, uns auf diesen einen Fall zu konzentrieren und die Debatte daran aufzuhängen; denn die Probleme beim BAMF reichen deutlich tiefer und sind schon deutlich länger bekannt.
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Dieser Fall ist einer – so sehen wir das –, der sich einreiht in eine ganze Kette von strukturellen Missständen und behördlichem Versagen. Für uns ist klar: Korruption, ob im BAMF oder bei anderen Behörden, ob durch die Leitungsebene oder einfache Mitarbeiter, muss lückenlos aufgeklärt werden. Jeder Vorwurf – gerade in Bezug auf das BAMF –, jede Unregelmäßigkeit beim Asylverfahren insgesamt schadet der Asylpolitik und den Schutzsuchenden selbst.
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Vor dem Hintergrund dessen, was wir gerade wieder vonseiten der AfD gehört haben, kann daran keiner ein Interesse haben. Deshalb sollten wir alle hier es uns zur Aufgabe machen, an der Verbesserung der Arbeitsweise des Bundesamtes zu arbeiten.
Ich muss schon sagen, dass der Umgang mit den Problemen des BAMF äußerst selektiv ist. Auch gestern in der Fachberatung im Ausschuss wurde im Prinzip nur ein Bruchteil des Problems angerissen. 2017 hat das BAMF zum Beispiel die Zusammenarbeit mit 30 Dolmetschern aufgrund von Verletzungen des Verhaltenskodex beendet. 2017 und 2018 sind insgesamt 2 100 Dolmetscher vor allem wegen fachlicher Mängel von weiteren Einsätzen für das BAMF ausgenommen worden. 2 100 Dolmetscher! Ich finde, das ist eine sehr, sehr hohe Zahl.
In diesem Zusammenhang redet aber niemand von einer erneuten Überprüfung aller Verfahren, an denen diese Dolmetscher beteiligt waren. Weder Amtsleitung noch BMI informieren den Innenausschuss über den Vorgang. Das haben sie im Übrigen bei den Vorfällen in Bremen auch nicht von selbst getan. So sieht doch kein problembewusster Umgang mit diesem Amt aus. Hier haben wir, vor allen Dingen aber auch das Innenministerium eine Pflicht, tätig zu werden.
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Wenn man es mit der vielbeschworenen Qualitätssicherung ernst meinen würde, wäre es ein erster Schritt, die Asylverfahren, an denen diese Dolmetscher beteiligt waren, ebenfalls zu überprüfen. Dies sage ich gerade mit Blick auf die bisherigen Vorfälle.
Es scheint noch immer nicht wirklich angekommen zu sein, dass das BAMF für andere, gerade repressive Staaten hochinteressant ist. Der Umstand, dass immer wieder hochsensible personenbezogene Daten von Asylsuchenden aus dem BAMF an autoritäre Staaten weitergegeben werden – ich erinnere dabei nur an den vietnamesischen Asylsuchenden, der hier in Berlin vom vietnamesischen Geheimdienst entführt wurde –, muss doch bei der Amtsleitung und auch beim BMI dazu führen, dass zumindest die Alarmglocken läuten und man dann irgendwie tätig wird. Aber auch dazu gibt es keine öffentliche Debatte.
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Das BMI schweigt diese Probleme weg und überlässt die Aufarbeitung der immer wieder bekanntwerdenden Mängel jedes Mal der überforderten Behördenleitung. Es brauchte zynischerweise einen deutschen Bundeswehrsoldaten, der sich als syrischer Flüchtling ausgegeben und einen Anschlag in Deutschland geplant hat, um überhaupt ein Problembewusstsein für die wirklich miserable Qualität der Anhörungsprotokolle und Asylbescheide im BAMF in dieser Zeit zu schaffen.
Was mich daran wirklich betrübt, ist, dass all diese Defizite immer zuerst auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BAMF zurückfallen. Auch ich selbst kenne viele Menschen, die in dieser Behörde arbeiten, und es ist wirklich schlimm, was ihnen zugemutet wurde und immer noch zugemutet wird. Zum einen sind das unzureichende Schulungen, krasser Zeitdruck und unmögliche Arbeitsverträge. Es gibt immer wieder auch Streit zwischen Gesamtpersonalrat und Leitung sowie Verfahren vor den Arbeitsgerichten.
Zum anderen hat das BMI die Mitarbeiter des BAMF in der letzten Legislatur mit Gesetzesänderungen im Minutentakt förmlich lahmgelegt. Das geht auf das Konto des BMI, das hier eine direkte Mitverantwortung trägt, wenn es um die Qualität von Asylverfahren geht.
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Wenn wir schon dabei sind: Wir haben einen neuen Innenminister. Das ist allen aufgefallen, glaube ich.
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Er sollte genau zuhören, wenn es in der Debatte um die bestehenden strukturellen Defizite bei den Asylverfahren und beim BAMF geht; denn er verrennt sich gerade in die Idee der sogenannten AnKER-Zentren und schafft wieder neue Strukturen, statt sich auf den Weg zu machen, das BAMF auf Vordermann zu bringen. Das wäre nämlich wirklich angezeigt.
Letzte Woche hat Minister Seehofer einen sehr sinnigen Vorschlag gemacht. Als diese Vorfälle bekannt geworden sind, hat er vorgeschlagen, eine „Unabhängige Kommission“ einzurichten, die sich mit diesen strukturellen Defiziten befasst. Ich verstehe nicht, warum er davon nun wieder abrückt und glaubt, dass es der Bundesrechnungshof, der bei seiner Prüfung einen ganz anderen Auftrag hat, jetzt richten wird. Unsere Bereitschaft zur Mitarbeit hätte er dafür gehabt; aber scheinbar nimmt auch er die Probleme, wenn sie ein paar Tage lang weniger zur Sprache kommen, nicht mehr ernst.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – das muss man noch einmal festhalten – ist sehr wichtig. Diese Behörde verteidigt mit ihrer täglichen Arbeit ein zentrales Grundrecht. Sie hat es verdient, gut ausgestattet zu werden. Sie hat unsere Konzentration auf die Verbesserung von Strukturen verdient; denn am Anfang eines jeden guten Asylverfahrens, das die Gerichte entlastet und fair und zügig vonstattengeht, stehen gut geschulte Mitarbeiter, aber auch gut informierte Asylsuchende. Deswegen setzen wir uns auch weiterhin für eine flächendeckende unabhängige Asylverfahrensberatung ein. Lassen Sie uns diesen Weg gehen. Dann brauchen wir auch diese Debatten hier nicht mehr.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist Dr. Mathias Middelberg für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich würde ganz gerne wieder zur Sache zurückkommen. Wir reden hier über die Vorgänge in Bremen, über die Korruptionsvorwürfe gegen Mitarbeiter einer konkreten Behörde, einer Außenstelle des Bundesamtes, und führen keine allgemeine Diskussion über sämtliche Fragen der Flüchtlingspolitik. Ich würde auch den Anlass für diese Diskussion für ausreichend erachten, um daraus konkrete und brauchbare Schlüsse zu ziehen.
Die Fragen, die die FDP hier ins Spiel gebracht hat, und die Punkte, die sie benannt hat, sind ja gar nicht so verkehrt. Da sind wir, was die Analyse des Sachverhalts angeht, durchaus der gleichen Auffassung. Auch Staatssekretär Mayer hat ja die Schwachpunkte, die schon deutlich geworden sind, durchaus offen und klar benannt. Unser Ziel muss – diese Auffassung teilen wir als CDU/CSU-Fraktion zu 100 Prozent – eine umfassende und restlose Aufklärung dieser Sachverhalte in Bremen sein. Das ist Ziel Nummer eins.
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Dann ist in dem Gespräch, das wir gestern im Innenausschuss geführt haben, deutlich geworden – es war ja sehr intensiv und ausführlich –, dass es über den Einzelfall bzw. über das Fehlverhalten konkreter einzelner Personen hinaus ganz offensichtlich auch strukturelle Mängel oder jedenfalls Indizien für strukturelle Mängel gibt, denen wir wirklich nachgehen müssen. Da ist es massenhaft zu Fällen gekommen, in denen Verfahren ohne erkennungsdienstliche Behandlung nicht nur durchgeführt, sondern auch abgeschlossen wurden. Wir haben offensichtlich massenhaft Fälle gehabt, in denen eine örtlich unzuständige Behörde Fälle an sich ziehen konnte. Das ist zunächst einmal wundersam, weil es in der Verwaltung nicht regelmäßig vorkommt, dass örtlich unzuständige Behörden Fälle an sich ziehen. Dann haben wir Verstöße gegen das Vieraugenprinzip gehabt, weil offensichtlich eine Leiterin für sich selbst agiert hat, und wir haben besondere Auffälligkeiten hinsichtlich der Schutzquote gehabt, die in Bremen deutlich über 90 Prozent lag, während sie im Bundesschnitt bei etwas über 60 Prozent liegt. Auch das hätten Indizien sein müssen, den Dingen früher nachzugehen.
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Deswegen ist es richtig, dass der Bundesinnenminister jetzt den Vorschlag eingebracht hat, dass der Bundesrechnungshof, der besonders auf solche Strukturüberprüfungen spezialisiert ist, als unabhängige Behörde diese Sachverhalte in Bremen überprüft. Diese Entscheidung begrüßen wir außerordentlich.
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Herr Staatssekretär Mayer hat hier völlig zu Recht in Aussicht gestellt, dass sich bestimmte Dinge im Verfahren ändern werden, dass es in Zukunft bei zu großem Auseinanderdriften der Schutzquote zur Prüfung von Amts wegen kommen muss und dass, was die Abgabe von Verfahren innerhalb der Behörde angeht, demnächst schärfere Kriterien gelten müssen.
Jetzt haben hier viele Redner betont, es ginge nicht darum, das BAMF allgemein zu kritisieren. Trotzdem ist wieder massenhaft Kritik am BAMF geäußert worden. Ich finde, es ist jetzt erforderlich, im Rückblick auf die letzten Jahre einmal deutlich darzulegen, was diese Behörde unterdessen geleistet hat und was da wirklich besser geworden ist. Das BAMF hat – das muss man einmal anerkennen – allein in den letzten drei Jahren 1,6 Millionen Asylentscheidungen getroffen. Die Zahl der Entscheider haben wir von Anfang 2015 – damals waren es 360 – bis heute auf 1 800 Personen aufgestockt. Das sind nur die Entscheider. Das ist eine Verfünffachung. Das zeigt: Das BAMF ist wesentlich leistungsfähiger geworden. Die Zahl der offenen Verfahren – zum Ende des vorletzten Jahres waren es noch über 300 000, jetzt sind es 50 000 – ist um mehr als 83 Prozent zurückgegangen. Das ist für alle Beteiligten, gerade auch die Betroffenen, ein Riesenvorteil.
Wer jetzt nach Deutschland kommt und Asyl begehrt, der hat einen Asylbescheid in weniger als drei Monaten. Ich finde, das ist eine hervorragende Leistung, angesichts derer man auch einmal sagen kann: Da arbeitet das BAMF gut.
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Auf die Schritte zur Qualitätsverbesserung nach dem Fall Franco A. hat Staatssekretär Mayer hinreichend hingewiesen.
Ich möchte noch den Punkt der Klagequote und der Erfolgsquote ansprechen, weil das hier falsch dargestellt wurde, Frau Jelpke; das sage ich Ihnen ganz ausdrücklich. Die Klagequote hat sich in den letzten Jahren überhaupt nicht verändert. Sie lag im Jahr 2013 bei 46 Prozent, sie liegt jetzt bei 49,8 Prozent. Das sind kaum merkliche Veränderungen. Die Erfolgsquote in den Verfahren beträgt 20 Prozent. Sie liegt in diesem Jahr bis dato sogar nur bei 18 Prozent. Es ist, glaube ich, wichtig, das einmal festzuhalten. Diese Quoten unterscheiden sich nicht wesentlich von anderen Quoten bei verwaltungsgerichtlichen Verfahren; das will ich Ihnen einmal sagen. Zwischenzeitlich mag die Quote etwas höher gewesen sein. Das war der besonderen Anforderungssituation geschuldet, als wir mehrere Hunderttausend Fälle pro Jahr zu bearbeiten und zu prüfen hatten. Da, glaube ich, muss man auch einmal konzedieren, dass das BAMF eine Zeit lang überlastet war. Jetzt ist es arbeitsfähig und im Wesentlichen vernünftig in Schuss.
Die Probleme, die jetzt noch aufzuarbeiten sind, müssen wir konsequent angehen. Wenn dazu – das hat Staatssekretär Mayer richtigerweise betont – weiteres Personal erforderlich ist, dann findet diese Entscheidung jedenfalls die volle Unterstützung unserer Fraktion. Wir werden das BAMF so lange strukturell und auch personell stärken, bis die Fehlerquote so weit wie irgend möglich gedrückt ist.
Herzlichen Dank.
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Jetzt spricht für die AfD Dr. Christian Wirth.
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Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Meine Damen und Herren! Normalerweise bin ich wie mein Kollege Gauland ein Freund von Bismarck-Zitaten. Aber ich habe ein altes deutsches Sprichwort gefunden, das die Situation beim BAMF besser beschreibt: Der Fisch stinkt vom Kopf her.
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Damit das Sprichwort der Schwere der Sache gerecht wird, nehmen wir auch ganz gerne einmal den Bismarckhering.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist schon oft in die Kritik gekommen, manchmal zu Recht, aber meistens zu Unrecht, da die Ursachen aller Fehlentscheidungen und Versäumnisse der BAMF-Behörde nicht nur in dieser Behörde, sondern in erster Linie bei einer Migrationspolitik liegen, die außer Rand und Band geriet und nicht korrigiert wird.
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Nun der neue Fall, ein Korruptionsfall durch die Leiterin der Außenbehörde Bremen. Man könnte vermuten, dass die Regierung aus diesem Korruptionsfall einen Einzelfall macht, der auf dem persönlichen, charakterlichen Versagen einer einzelnen Person beruht. Ist dem so? Noch ist nicht geklärt, welche Gegenleistungen diese Frau erhalten hat. Es ist jedoch schon klar, dass sie auf Facebook Pro Asyl und ähnliche Steuergeldstaubsauger gelikt hat.
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Seit 2015 sind durch Frau Merkel und die Große Koalition Artikel 16a des Grundgesetzes sowie das Aufenthaltsgesetz außer Kraft gesetzt worden. Es wäre so einfach, an der deutschen Grenze rechtmäßig diejenigen abzuweisen, die aus einem sicheren Drittland kommen. Ebenso können nach dem Aufenthaltsgesetz diejenigen an der Grenze abgewiesen werden, die keinen gültigen Pass haben, ihn oft vor der Grenze wegwerfen.
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Aber der Rechtsbruch durch die Regierung geht munter weiter. Dieser staatliche Rechtsbruch ist von den Parteien und darüber hinaus von den Medien moralisch überhöht worden, um ihn zu rechtfertigen. Wenn ein staatlicher Rechtsbruch jedoch moralisch überhöht gerechtfertigt wird und die Missachtung von Recht und Gesetz durch illegale Einwanderung belohnt wird, erfasst diese Gleichgültigkeit gegenüber den herrschenden Regeln und Gesetzen offenbar auch die, die sich von Amts wegen durchzusetzen haben. „Wenn Frau Merkel, warum ich nicht?“, könnte diese Frau gedacht haben.
Der Fall der Leiterin der Außenstelle dürfte nur die Spitze des Eisberges sein. Es gibt Indizien genug, dass vor allem auf dem Höhepunkt des Asylsturms Anträge wider besseres Wissen ohne genaue Prüfung und trotz offenkundiger Falschangaben und fehlender Sprachkenntnisse einfach durchgewunken wurden. Der Unterschied liegt eventuell in der verwerflichen Selbstbereicherung, die in diesem Fall noch dazukommen könnte.
Meine Damen und Herren, die Herrschaft des Rechts zu gewährleisten, ist vornehmste Aufgabe des Staates. Die Herrschaft des Unrechts, wie Herr Seehofer einst meinte, untergräbt mittlerweile Staat und Institutionen.
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Die Folgen sind Autoritätsverfall und der Verlust des Unrechtsbewusstseins. Dies hat zur Folge, dass in der deutschen Bevölkerung ein kompletter Vertrauensverlust gegenüber dem Asylverfahren in Deutschland als Ganzes entstanden ist. Die Bevölkerung ist zu Recht irritiert. Die Regierung kontrolliert nicht, wer in das Land kommt. Wer in das Land kommt, geht durch ein Verfahren, das korrupt ist und enorme fachliche Mängel aufweist. Trotz Ab- und Ausweisung im Asylverfahren bleiben die meisten Menschen im Land. Eine Abschiebung erfolgt kaum. Ist es Unfähigkeit oder Unwille? Es kann nur eines von beiden sein. Das Einzige, was ausgeschlossen ist, ist, dass die Regierung die Migrationslage, die Verfahren und ihre Behörden unter Kontrolle hat.
Allein von 2017 bis 2018 sind 2 100 Dolmetscher entlassen worden, weil sie nicht gut genug Deutsch konnten. Hinzu kamen noch 30 Entlassungen wegen eines Bruchs des Verhaltenskodex. In dem Zeitraum ab 2013 sind in ganz Deutschland knapp 1,8 Millionen Asylanträge bearbeitet worden. Wer soll Ihnen noch glauben, dass die Bundesregierung wirklich entscheiden kann, wer in unserem Land Asyl verdient und bekommt? Wer soll verstehen, dass Horst Seehofer die Flüge aus Griechenland nicht mehr kontrollieren will, obwohl gerade bekannt wurde, dass Flüchtlinge mit gekauften Papieren von dort einfliegen? Wer soll Ihnen noch glauben, dass Sie die Interessen der deutschen Bevölkerung im Auge haben,
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wenn mittlerweile bereits die Behauptung reicht, ein islamischer Gotteskrieger zu sein, um in unserem Land bleiben zu dürfen wie zum Beispiel der Leibwächter Bin Ladens?
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Letztendlich haben Sie mit dem Resettlement-Programm der EU, mit dem Sie 10 000 Afrikaner in Deutschland ansiedeln wollen, gezeigt, dass Sie die deutsche Souveränität in Fragen der Migration längst an die EU abgegeben haben.
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Meine Damen und Herren, die politische Verantwortung für die Zustände im BAMF liegen bei der Kanzlerin und beim Innenministerium. Dieser offenkundige Kontrollverlust, das Behördenversagen und der offensichtliche Vertuschungsversuch über zwei Jahre müssen als Staats- und Regierungsversagen bezeichnet werden.
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Hier sind wir wieder bei unserem Bismarckhering, der – wie die Kanzlerin – ebenfalls aus Mecklenburg-Vorpommern kommt:
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Wenn dieser Bismarckhering vom Kopf an zu stinken beginnt, wird er durch den Bürger entsorgt.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion der SPD spricht jetzt Dr. Lars Castellucci.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was die Nachrichten über das BAMF dominiert, und das, worüber wir hier sprechen, kann man nicht anders bezeichnen: Es ist erst einmal ein Rückschlag für uns, die wir versuchen, die Sicherheit in der Bevölkerung wiederherzustellen und zu gewährleisten, dass die Verfahren rechtsstaatlich einwandfrei durchgeführt werden und dass unsere Behörden funktionieren. Deswegen ist tatsächlich das Wichtigste – es wurde bereits gesagt –, dafür zu sorgen, dass es eine umfassende Aufklärung der Vorhaltungen gibt.
Es ist gut, dass wir heute diese Debatte führen; denn wir müssen dieses Vertrauen wiederherstellen. Aber, lieber Herr Thomae, wenn Sie diese Debatte hier beantragen als FDP, als Rechtsstaatspartei, sage ich jetzt einmal, die Sie eigentlich sein wollen,
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dann wäre ich froh gewesen, wenn Sie auch gesagt hätten, wo wir jetzt gerade stehen: Im Moment gibt es Vorwürfe, und es wird untersucht. Es gibt aber noch keine Anklage und auch noch keine Ergebnisse. Es ist daher nicht in Ordnung, wenn Sie jetzt sagen, wir müssen Vertrauen wiedergewinnen und wiederherstellen. Das ist auch eine Verantwortung der Opposition. Stellen Sie bitte die Sachen so dar, wie sie sind, und rühren Sie nicht noch Salafisten und Extremisten mit hinein!
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Wir sind noch bei den Untersuchungen und müssen deren Ergebnisse abwarten.
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Es ist völlig klar – das haben wir uns im Koalitionsvertrag auch zur Aufgabe gemacht –: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge braucht weiterhin unsere Unterstützung. Deswegen steht auch etwas von einer Qualitätsoffensive im Koalitionsvertrag.
Ich möchte jetzt aber über das hinausgehen, was hier vorgetragen wurde, weil ich glaube, dass wir uns ein Stück weit mehr vornehmen müssen. Lieber Herr Mayer, ich glaube nicht, dass es wieder eine Gesetzesänderung braucht. Die Leute sind doch eher durcheinander, weil es ständig Gesetzesänderungen gibt. Wir müssen daher dafür sorgen, dass das, was wir beschlossen haben, in der Realität auch umgesetzt werden kann.
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Es ist gut, wenn Sie von Personal sprechen. Wir haben immer gebohrt und gefragt, wie viel Personal das Bundesamt braucht. Wenn sie uns dann gesagt haben, wie viel, dann haben sie das eigentlich auch bekommen. Wir haben auch kritisiert, als der Peak von 10 000 Stellen wieder abgebaut wurde, obwohl die Probleme alle noch gar nicht gelöst waren. Das BAMF hat also die volle Unterstützung vonseiten der SPD-Fraktion, dass es das Personal zur Verfügung gestellt bekommt, das es für eine vernünftige Arbeit braucht.
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Wenn es um Qualität geht, möchte ich aber auch die Kommunikation ansprechen. Glückwunsch an dieses Recherche-Netzwerk! Das zeigt auch, dass wir nicht eine Lügenpresse haben, sondern eine Presse, die ihre Arbeit macht, recherchiert und zu Ergebnissen kommt.
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Das ist für eine Demokratie notwendig. Aber Spaß macht mir das jetzt nicht. Ich hätte es lieber gehabt, wenn der Herr Innenminister – ich weiß nicht, wo er jetzt ist, er ist nicht da; vielleicht hängt er irgendwo Kreuze auf –
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zum Beispiel gemeinsam mit Frau Cordt vor die Presse getreten wäre und gesagt hätte: Ich war jetzt da. Wir haben mitbekommen, dass es hier ein Problem gibt. Das kann so nicht bleiben. Wir tun alles, was getan werden muss, damit es nicht wieder vorkommt.
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Das wäre eine vernünftige Kommunikation, ein vernünftiger Auftritt gewesen. Nun sieht es so aus, als ob man uns erst auf die Schliche kommen musste, was sich da wieder tut. Deswegen sage ich: Wenn es um Qualität geht, dann geht es auch darum, dass die Kommunikation des Bundesamtes und der Bundesregierung an dieser Stelle besser werden muss.
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Wir brauchen, was die Qualität angeht, wirklich ehrgeizige Ziele. Ich bitte darum, dass wir jetzt nicht irgendwie im Klein-Klein schauen, wo die Stellschrauben sind.
Herr Middelberg, Sie haben angesprochen, wie viele Fälle vor den Gerichten landen und nicht gerichtsfest sind: 20 Prozent. Jetzt frage ich Sie mal: Welcher Mittelständler, der irgendwas ausliefert, oder welcher Kunde, der im Einzelhandel was einkauft, wäre denn damit zufrieden, dass es 20 Prozent Ausschuss gibt, eine Fehlerquote von 20 Prozent?
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Ich bin dafür, dass wir im Zusammenhang mit der Qualitätsoffensive, die wir jetzt machen wollen, vereinbaren, dass wir am Ende dieser Legislaturperiode beispielsweise bei nur noch 10 Prozent nicht gerichtsfesten Entscheidungen des BAMF sein wollen, und gemeinsam überlegen, wie wir dahin kommen. Das wäre ein ehrgeiziges Ziel, und dafür muss diese Koalition arbeiten.
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Schließlich gibt mir zu denken – das hat übrigens nicht nur etwas mit Bundesämtern zu tun, sondern es betrifft beispielsweise Volkswagen und die anderen, die damit zu tun haben, auch –: Was ist das eigentlich für eine Kultur in Unternehmen oder in Organisationen, die dazu führt, dass etwas auffällt, aber nicht ans Licht kommt? Im konkreten Fall seien Busse angemietet worden, steht in der Presse. Dann muss es Terminvereinbarungen geben. Das fiel doch alles nicht vom Himmel, sondern es gab Prozesse, an denen ganz viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beteiligt waren. Es sind also Leute involviert. Sie sind nicht alle schuldig, aber sie kriegen vielleicht etwas mit. Ich möchte, dass dieses Bundesamt an einer Kultur arbeitet, in der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, denen etwas auffällt, die Chance haben, das auch zu sagen, ohne dann persönlich in Bedrängnis zu kommen. Das könnte zu Aufklärungsverfahren führen, und die Aufklärung müsste dann nicht erst durch die Presse erledigt werden.
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Wir brauchen eine Kulturveränderung im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist eine Aufgabe für die Bundesregierung. Der Herr Innenminister ist nicht da. Er hat sich in den ersten Wochen über Gott und die Welt geäußert. Man kann jetzt sagen, es ist ärgerlich, was hier passiert. Man kann es aber auch so sehen: Das ist vielleicht ein Weckruf, damit der Herr Innenminister sieht, was die Kernaufgaben seines Arbeitsbereiches sind.
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Wir werden ihn dabei unterstützen, dass der in Ordnung kommt.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Abgeordnete Linda Teuteberg von der FDP.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vieles ist gerade schon gesagt worden – viel Richtiges, viel Notwendiges, eigentlich Selbstverständliches. Vieles davon wenigstens zwei Jahre zu spät. Wichtig ist, dass es jetzt nicht beim absehbaren Ablauf bleibt: eine Empörungsmaschine, mit großem Staunen; man spürt, dass sich was ändern muss, und dann passiert doch nichts. Die Bundesregierung ist hier gefragt. Dass die rechtsstaatlich gesteuerte Migration eine zentrale Herausforderung dieser Legislaturperiode ist, war klar. Umso verwunderlicher ist es dann, dass die Aufstockung von Personal beim BAMF und auch bei anderen wichtigen Bundesbehörden keine Priorität in Ihrem Koalitionsvertrag hat, obwohl die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung gesagt hat, dass bei diesem Thema wie durch ein Brennglas Probleme sichtbar geworden sind.
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Zugleich möchte ich deutlich machen, dass es nicht nur eine Frage von Quantität, sondern auch von Qualität ist. Ja, es braucht mehr Personal; aber die Probleme, die wir anhand dieses Einzelfalls erkennen, sind struktureller Natur. Ihnen können wir nicht nur mit mehr Personal begegnen. Jenseits des Fehlverhaltens Einzelner, um das es in diesem konkreten Fall geht, geht es eben um strukturelle, systemische Probleme, die das Ausmaß des Skandals, den wir noch aufzuklären haben, erst ermöglicht haben. Herr Kollege Middelberg, da kann ich Ihnen nicht ersparen, dass wir schon ein bisschen genereller werden und auf die Probleme eingehen. Denn der Einzelfall bringt erst die Aufmerksamkeit für diese Probleme.
Herr Castellucci, Sie haben gerade gesagt, wir dürften nicht sagen, dass hier ein Vertrauensproblem vorliegen könnte. Aber mein Kollege Thomae hat ganz recht: Dass zum Beispiel erkennungsdienstliche Behandlungen unterlassen wurden, wissen wir schon unabhängig von den konkreten Ermittlungen bezüglich der betroffenen Mitarbeiter. Und das ist ein Sicherheitsproblem.
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Bundesminister Seehofer hat angekündigt, sein Ziel sei flächendeckende Sicherheit in Deutschland und gesteuerte Migration. Die Vorgänge beim BAMF allerdings zeigen: weniger ankündigen und zügig aufräumen, das ist hier gefragt.
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Es muss uns darum gehen, dass wir Asylverfahren von hoher rechtsstaatlicher Qualität haben, die in angemessener Zeit bearbeitet werden. Uns muss es um Verfahren gehen, die den berechtigten Sicherheitsinteressen unseres Landes Rechnung tragen. Voraussetzung dafür sind eine zuverlässige Feststellung der Herkunft und der Identität der Geflüchteten und bei Bedarf und entsprechenden Hinweisen auch eine gründliche, zuverlässige Sicherheitsüberprüfung. Gerade hier hat es – das ist durch Recherchen einiger Medien und durch parlamentarische Anfragen erst zutage getreten – deutliche Lücken gegeben, und zwar bei der Namenserkennung, bei der Dialekterkennung, bei der Auslesung von Mobilfunkdaten – das alles sind notwendige Hilfsmittel für eine Plausibilitätsprüfung – und auch bei der Qualität und Unabhängigkeit der Dolmetscher.
Zum Thema „Sicherheitsüberprüfung beim BAMF“. Ich fand das sehr interessant. Dialektik ist ja eigentlich eine Spezialität der linken Seite, intellektuell ziemlich anspruchsvoll. Aber Herr Staatssekretär Mayer, auch Sie haben uns im Ausschuss verkaufen wollen, dass die tagesaktuelle Bearbeitung von Sicherheitshinweisen, zu der man beim Sicherheitsreferat des BAMF aufgrund von Überforderung überging – vorher wurden immer Einschätzungen an die Sicherheitsbehörden weitergegeben –, ein Mehr an Sicherheit ist. Natürlich: Wenn es darum geht, Informationen schneller weiterzugeben, dann ist das ein Mehr an Sicherheit. Wenn aber die eine Behörde in Hinweisen ertrinkt und deshalb die Informationen ohne Filterung und ohne vernünftige Rasterung einfach nur an andere Behörden weiterleitet, aber in den anderen Behörden auch nicht mehr Personal vorhanden ist, dann ertrinken die dortigen Mitarbeiter ebenso in den Hinweisen.
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Deshalb ist tagesaktuelle Bearbeitung nur dann sinnvoll, wenn vorher nach vernünftigen Rastern gefiltert wird, sodass die Mitarbeiter, etwa beim Bundesamt für Verfassungsschutz und bei anderen Bundesbehörden, damit gut weiterarbeiten können.
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Schließlich brauchen wir mehr und qualifiziertes Personal beim BAMF. Wir brauchen ein neues, wirksames Qualitätsmanagement. Wenn Sie dies konzentriert und rechtsstaatlich angehen, wenn Sie, statt Masterpläne anzukündigen, endlich die meisterhafte Umsetzung geltenden Rechts gewährleisten, dann haben Sie uns als konstruktive Serviceopposition an Ihrer Seite, dann können Sie auf uns zählen.
Danke.
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Nächster Redner ist Detlef Seif für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Demokratie lebt von streitbarer Auseinandersetzung, vom Für und Wider von Argumenten. Aber es gibt auch in diesem Hohen Hause rote Linien. Wenn man ein Mitglied der Bundesregierung, eine Kollegin, mit einem stinkenden Bismarckhering vergleicht, der entsorgt werden muss, dann sind die Regeln überschritten, die wir uns selbst gesetzt haben. Das geht nicht.
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Nun zur Sache. Die Ursachen für systemische Mängel beim BAMF liegen schon mehr als 25 Jahre zurück. 1993 wurde der Asylkompromiss beschlossen; in diesem Jahr gab es 438 000 Asylanträge zu bearbeiten. Die Antragszahlen gingen bis 2018 auf einen Tiefststand von 28 000 zurück. Man hatte sich seinerzeit entschieden, das Personal dieser Behörde nicht aktiv abzubauen, sondern nur keine Neueinstellungen vorzunehmen.
Trotz zusätzlicher Aufgaben wie die Führung des Ausländerzentralregisters und die Durchführung von Integrationsprojekten blieb die Behörde personell völlig aufgebläht. Es gibt eine Aussage des britischen Soziologen Parkinson zum Bürokratiezuwachs. Er sagt: Arbeit dehnt sich genau in dem Maße aus, wie Zeit zu ihrer Erledigung zur Verfügung steht. – Und das hat sich beim BAMF bemerkbar gemacht.
Wir müssen uns vorstellen: Vor zwei Jahren – und das im Zeitalter der EDV – wurden in einstweiligen Rechtsschutzverfahren auf Anfrage der Gerichte die Akten aus dem Computer händisch kopiert, sie wurden hin- und hergeschoben, und nach frühestens zwei, drei Wochen sind sie beim Verwaltungsgericht eingetroffen. Das ist der Behörde im Jahr 2015 auf die Füße gefallen, als ein exorbitant hoher Aufwuchs von Antragszahlen zu verzeichnen war. Zunächst stieg die Zahl der Anträge auf 476 000; absoluter Höhepunkt war das Jahr 2017 mit über 603 000 Entscheidungen.
Die Behörde war ineffektiv. Sie musste sich neu organisieren. Sie musste den Personalstand von rund 2 000 Mitarbeitern auf 10 000 erhöhen.
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Sie hatte 113 Außenstellen zu bilden. Es liegt doch auf der Hand: Bei der bestehenden Ineffizienz, dem Entscheidungsdruck und den vielen Mitarbeitern, die eingearbeitet werden mussten, konnte man angesichts dieser Antragsflut keine Qualitätssicherung betreiben. Bestes Beispiel: Franco A., Bundeswehrsoldat, spricht kein Arabisch, ist anerkannt worden als subsidiär Schutzberechtigter. Der Sachverhalt in Bremen setzt dem Ganzen jetzt die Krone auf.
Man muss aber sagen, es ist schon einiges auf den Weg gebracht worden. Die bisherigen Maßnahmen und die Überlegungen der Behörden, auch des BMI, gehen in genau die richtige Richtung: Ein Aktenmanager ist einzusetzen,
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der klare Zuständigkeitsregelungen vorgibt und sagt, wer welchen Fall bearbeitet. Die klassische Qualitätssicherung ist auszubauen, die Innenrevision. Vorgesehen ist die Überprüfung von 10 Prozent der Vorgänge im laufenden Geschäft.
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Ein verstärkter Einsatz der IT zur Qualitätssicherung ist vorgesehen, auch die Bündelung von Sachverhalten nach Herkunftsländern. Das steigert das Wissen der einzelnen Sachbearbeiter. So können sie schneller und fundierter entscheiden. Vorgesehen sind auch die Einführung einer Führungsebene „Fachaufsicht“ und eine regelmäßige Fachaufsicht durch den Teamleiter. Das Mehraugenprinzip ist natürlich umzusetzen. Das steht seit 2003 in einer Richtlinie der Bundesregierung zur Prävention gegen Korruption. Die Gründe, warum sie nicht angewandt wurde, habe ich geschildert.
Meines Erachtens ist es aber auch sinnvoll, in sensiblen Bereichen die Dauer des Einsatzes der Mitarbeiter zu begrenzen und eine Rotation vorzunehmen. Ganz wichtig ist: Über die IT sollte eine vollständige, verfahrensbegleitende Dokumentation erfolgen.
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Die Prüfung des Bundesrechnungshofs ist richtig. Sie wird weitere Maßnahmen und Vorschläge ergeben.
Jetzt gilt es, die Behörde zukunftsfest zu gestalten; das ist schon angesprochen worden. Das BAMF nimmt eine Schlüsselrolle im Asylverfahren ein. Es wird auch eine tragende Rolle bei den AnKER-Zentren spielen. Die Behörde muss deshalb effizient und bestmöglich arbeiten. Kritisieren können wir gerne; aber noch besser ist es, den Bundesinnenminister bei dieser Aufgabe zu unterstützen.
Vielen Dank.
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Als Nächster spricht für die Fraktion der SPD der Abgeordnete Helge Lindh.
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In diesem Moment schlagen – das muss ich gestehen – zwei Herzen in meiner Brust: Wir sind einerseits immer gehalten, nachhaltig zu denken und zu argumentieren. Andererseits ist es ungewöhnlich und auch ein wenig ungemütlich, wenn man auf sich selbst Bezug nimmt und sich selbst zitiert. Ich gehe das Risiko aber ein und erinnere an eine Debatte, die wir Ende letzter Woche hier geführt haben. Es ging um den Einzug einer Zweitinstanz bei Asylverfahren. Im Rahmen dieser Debatte wies ich sinngemäß darauf hin, dass nicht nur die Gerichte, sondern auch das BAMF nicht irgendetwas sind, dass sie nicht nur Produktionsstätten von Bescheiden sind, sondern auch – in Anführungszeichen – Produktionsstätten von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Humanität. Ich habe das durchaus ernst gemeint. Ich habe das gesagt, damit wir uns über die Gewichtigkeit dieser Behörde klar werden. Deshalb muss, wenn ich das sagen darf, die Auseinandersetzung mit dieser Frage stärker als die Auseinandersetzung mit dem Islam und anderen Religionsgemeinschaften im Zentrum der Arbeit des Innenministers stehen, so denke ich.
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Gerade weil das eine wichtige Frage ist, die, wie wir alle erleben, so viele in diesem Land beschäftigt, die gesamte Bevölkerung und auch uns hier – wir haben eine unglaubliche Dynamik bei den Gesetzesänderungen –, ist es bezeichnend, dass Herr Wirth und Herr Hess hier Sprachbilder vom stinkenden Fisch und einer schlechten Märchenstunde verwandt haben. Ich weise nur darauf hin, dass die Verwendung bestimmter Sprachbilder am meisten über denjenigen aussagt, der sie verwendet.
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Aber wir sprechen hier nicht über stinkende Fische und Märchenstunden; das wird auch den Betroffenen nicht gerecht. Es geht hier – ich erinnere daran – um menschliche Existenzen und um die Frage, ob Personen und Familien, die auf der Flucht sind, den Anspruch haben, hier zu bleiben, oder nicht. Es geht auch um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die die große Verantwortung tragen – diese Aufgabe möchte ich selber nicht übernehmen müssen –, solche Entscheidungen zu treffen und entsprechende Anhörungen durchzuführen. Deshalb ist es, glaube ich, höchst unangemessen, in diesem Zusammenhang den Ausdruck „Märchenstunde“ zu verwenden.
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Wichtig ist ein Blick auf die Situation vor Ort. In den Debatten über Asyl und Zuwanderung sind heutzutage eine extreme Untersättigung mit Realität und eine Übersättigung mit verquasten, allgemeinen Generaldebatten festzustellen. Daher sollten wir uns, wie gesagt, die Situation vor Ort anschauen.
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Es gibt im BAMF Anhörungsräume, entweder im Ankunftszentrum oder sonst wo, in denen Anhörer, Entscheider, Dolmetscher und Betroffene sitzen. Es sind oft nicht besonders exklusiv ausgestattete Räume. Dort bekommen die beteiligten Personen Geschichten zu hören, die wir alle nicht hören möchten. Auch deshalb erinnere ich an letzte Woche und daran, dass sich ein Anhörer auch damit auseinandersetzen muss, wenn eine Frau sehr präzise berichtet, dass vor ihr jemand aufgehängt wurde und ihm die Gliedmaßen abgeschlagen wurden. Um solche Erzählungen und Situationen geht es; davon sprechen wir.
Ich erinnere auch daran – im Zusammenhang mit dieser Debatte sprechen wir ja auch über die Jesiden –, dass nicht wenige jesidische Menschen erlebt haben, dass ihre Verwandten vergewaltigt oder ermordet wurden. Sie selbst sind nur mit dem nackten Leben hier angekommen. Das sind die Themen und Lebensschicksale – vorhin fiel der Ausdruck „Zumutung“ –, die wir den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des BAMF zumuten. Deshalb ist es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, dafür zu sorgen, dass sie die bestmöglichen Arbeitsbedingungen haben,
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dass diese Verfahren auf rechtsstaatlicher Grundlage durchgeführt werden, mit exzellenter IT-Ausstattung und mit kompetenten Dolmetscherinnen und Dolmetschern, um das zu illustrieren.
Das Gute an dieser sehr unangenehmen und sehr unerfreulichen Affäre ist, dass einmal sichtbar wird, worüber wir reden. Wie soll ein Dolmetscher, der zwar die Sprache einigermaßen beherrscht, sich aber nicht mit den religiösen Spezifitäten in Syrien und anderswo auskennt, entscheiden? Eine Qualitätsoffensive – wir alle sollten diesen Skandal nutzen, um diese zu forcieren – bedeutet, dafür zu sorgen, dass wir hinreichend viele qualifizierte Mitarbeiter haben, dass wir hochqualifizierte Dolmetscher haben, dass die Überprüfungsverfahren gut genug sind, dass das Vieraugenprinzip tatsächlich Realität ist, dass das BAMF eine Sicherheitsbehörde ist, aber eben nicht nur das, sondern auch ein Kern dieses Rechtsstaates. Politisches Asyl gehört ins Herz unserer Republik. Das ist eine Folge des NS-Staates, nicht weniger. Deshalb warne ich davor, mit diesem Thema so liederlich umzugehen, wie es eine gewisse Fraktion hier tut.
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Das Beunruhigendste an dem Ganzen ist – wir alle sollten allerdings mit vorschnellen Urteilen und Analysen vorsichtig sein –: Sollten in diesem Zusammenhang Einzelne oder alle – die Anwälte, die Beschuldigten, die betroffenen Personen, die Mitarbeiter – aus humanitären Gründen gehandelt haben, dann haben sie genau dem einen Bärendienst erwiesen. Sie haben die eigene Behörde in Misskredit gebracht, sie haben die Geflüchteten in Misskredit gebracht, und sie haben das ganze BAMF in Misskredit gebracht. Das ist das Schwerwiegendste. Jetzt ist es auch unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass dieses Amt die entsprechende Anerkennung erfährt und es gut genug arbeiten kann. Wir dürfen die Verantwortung nicht auf andere abwälzen. Das BAMF leistet die Arbeit, die wir ihm durch unsere Entscheidungen zugemutet haben. Jetzt ist es an uns und am Bundesinnenminister, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Abgeordnete Michael Kuffer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! „Quidquid agis, prudenter agas“
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– genau – „et respice finem“:
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Das stammt nicht von mir.
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– Gut. – Das geht auf Äsop und das 6. Jahrhundert vor Christus zurück, bleibt aber auch heute noch richtig.
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Was du auch tust, handle klug und bedenke das Ende!
Ich habe überhaupt keinen Zweifel, dass die Kolleginnen und Kollegen der FDP klug handeln. Ich habe auch fast nie Zweifel, dass Ihre Partei klug handelt.
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– „Fast“ habe ich gesagt. – So populistisch, wie Sie heute hier eingestiegen sind, und so unfair, wie Sie teilweise den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegenüber waren,
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habe ich aber Zweifel, dass Sie das Ende bedenken.
Es gibt überhaupt keinen Zweifel, dass wir es hier mit einem drastischen Fall zu tun haben; der Staatssekretär hat es ausführlich geschildert. Wir haben hier eine erhebliche kriminelle Energie und, so wie es aussieht, auch ein massives und strafrechtlich hochrelevantes Verhalten. Es gibt überhaupt keinen Zweifel, dass rückhaltlos aufgeklärt werden muss – auch nach strafrechtlichen Maßstäben. Niemand bestreitet das.
Alle Weichen in diese Richtung sind allerdings von der Behördenleitung des BAMF und auch vom Bundesinnenminister sofort nach Bekanntwerden gestellt worden. Es gibt keinen besseren Ort, den wir jetzt zur Aufklärung dessen, was wir noch nicht wissen, haben könnten, als den Bundesrechnungshof. Insofern, glaube ich, bedarf es hier keinerlei Nachhilfe und auch keinerlei Kritik daran, wie mit dem Fall bisher umgegangen worden ist.
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Zum anderen ist natürlich auch klar: Es muss der Frage nachgegangen werden, welche Sicherheitsstrukturen noch nachgesteuert werden müssen, damit künftig auch solch hochkriminelle Sabotage unmöglich gemacht wird. Auch dazu hat die Behördenleitung wichtige Maßnahmen ergriffen und uns gestern im Innenausschuss ein ganz umfangreiches Bündel weiterer konkreter Maßnahmen vorgestellt. Frau Cordt hat im Innenausschuss zwei Stunden lang dargestellt, welche Maßnahmen bereits ergriffen worden sind und was alles geplant ist. Das ist wirklich umfangreich,
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und ich glaube, das ist auch angemessen, um für die Zukunft vorzubeugen.
Ich will jetzt gar nicht alle diese Maßnahmen erwähnen; denn diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die es betrifft und die es auch interessiert, haben das im Innenausschuss aufmerksam verfolgt. Ich muss Ihnen aber ganz ehrlich sagen: Auf eines muss man aufpassen – damit komme ich auf meinen Eingangsappell zurück –, nämlich darauf, dass wir hier in Bezug auf das BAMF, das den Flaschenhals, den es durch die akuten Ereignisse des Jahres 2015 gab, beseitigt und sich zu einem effektiv arbeitenden Instrument entwickelt hat, nicht überziehen. Wir brauchen dieses Instrument effektiv und beschleunigt arbeitend, um die Asylkrise zu bewältigen und Notfälle auf der einen Seite sowie Zuwanderungsfälle auf der anderen Seite, die vom Asylrecht nicht gedeckt sind, voneinander zu trennen, und wir brauchen es für die Aufenthaltsbeendigung und Rückführung.
Ich darf hier nur an einige Zahlen erinnern: Binnen zwei Jahren hat diese Behörde ihre Entscheidungszahlen verfünffacht. Im Jahre 2017 haben wir gegenüber 2016 84 Prozent der Verfahren abgebaut. Wir haben 4 500 zusätzliche Planstellen in der Behörde geschaffen und die Mitarbeiteranzahl dieser Behörde zwischenzeitlich verfünffacht. Das waren massive Maßnahmen und Anstrengungen.
Wichtig ist, dass wir am Ende bei dieser Beschleunigung, die wir jetzt sehen, bleiben können. Das sage ich deshalb, weil ich vermeiden will, dass man hier unbewusst der Effektivität und der Leistungsfähigkeit dieser Behörde Steine in den Weg legt. Es ist völlig klar, dass jetzt nachgesteuert werden muss; aber ebenso klar ist, dass wir jetzt nicht durch Überschwang und gegenseitiges Überbieten dazu kommen dürfen, dass die Verfahren am Ende wieder verlängert werden. Deshalb bitte ich jetzt wirklich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP: Lasst die Kirche im Dorf! Vergesst dabei nicht: Es ist ein einzelner Fall von erheblicher krimineller Energie, und es sind wirklich umfangreiche Maßnahmen ergriffen worden. Wir reden sicherlich über das Versagen von Kontrollstrukturen an der einen oder anderen Stelle, aber nicht über strukturelle Defizite in den Bearbeitungsstrukturen. Diese sind nämlich gelöst.
Ich bitte zum Schluss darum, mit den vielen Tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern fair umzugehen und nicht wegen eines solchen Falls einer ganzen Behörde das Vertrauen zu entziehen und deren Arbeit in Misskredit zu bringen.
Ein letztes Wort zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und der Frage weiterer Maßnahmen. Es waren vor allem – das sage ich in Richtung der AfD – die Maßnahmen auf europäischer und auf internationaler Ebene, die dazu geführt haben, dass wir die Entwicklung bei der Zuwanderung so bremsen konnten, wie wir sie gebremst haben. Nicht Ihre Schaufenstervorstellungen wären da wirksam gewesen, sondern diese internationalen und europäischen Maßnahmen waren es. Jetzt lassen Sie uns bitte den Prozess im Juni dieses Jahres abwarten. Ich verspreche Ihnen eins: Die Union wird die Erste sein, die anfängt, nachzusteuern und in diese Richtung weiterzugehen, wenn das im Juni scheitert.
Vielen Dank.
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Letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist der Abgeordnete Alexander Throm für die CDU/CSU.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich richtig gezählt habe, bin ich jetzt der 14. Redner in dieser Debatte. Ich will aber dennoch den Versuch machen, zumindest den Damen und Herren von AfD und Linke das Thema zu verdeutlichen, nämlich Aktuelle Stunde zu den Korruptionsvorwürfen beim BAMF.
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Es eint AfD auf der einen Seite und Linke auf der anderen Seite,
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dass sie diesen Fall in einer Außenstelle in Bremen nicht im Detail behandeln, sondern diesen zu einer asylpolitischen Generaldebatte missbrauchen, natürlich mit unterschiedlichen Vorzeichen.
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Für die einen ist jeder positiv erteilte Bescheid einer zu viel, und für die anderen ist, nun mit umgekehrten Vorzeichen, jeder negativ erteilte Bescheid einer zu viel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schon mehrfach gesagt worden: Der Fall in Bremen ist absolut bedauerlich, äußerst ärgerlich und inakzeptabel. Es ist aber das Verhalten von Einzelpersonen, die kollusiv zusammengewirkt haben und vermutlich mit krimineller Energie Rechtsvorschriften umgangen haben. Dies alles muss lückenlos aufgeklärt werden. Jeder Bescheid, der von diesen Personen erlassen wurde bzw. an dem die bekannten Rechtsanwaltskanzleien beteiligt waren, muss im Einzelfall überprüft werden.
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Herr Kollege Thomae, ich will jetzt der FDP nicht die gleichen Komplimente wie der Kollege Kuffer machen. Ganz so ist es bei mir nicht. Sie haben jedenfalls gesagt, Sie hätten das Gefühl, es solle vom Bundesinnenministerium etwas verheimlicht werden. Ich kann nur bei allem Respekt vor Ihren Gefühlen sagen: Es geht hier nicht um Gefühle, sondern es geht um Fakten. Und diese werden wir aufklären. Die Erläuterungen der Präsidentin am letzten Mittwoch im Innenausschuss haben durchaus Hand und Fuß gehabt. Die Fragen, die auch Sie von der FDP gestellt haben, wurden nach meiner Erinnerung vollumfänglich beantwortet.
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Wenn dann gesagt wird, Frau Kollegin Teuteberg, wir wären heute zwei Jahre zu spät dran, –
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– zwei Jahre zu spät, so habe ich das verstanden – dann mag das für den Zeitpunkt gelten, an dem die Rechtsverstöße begangen wurden, aber nicht für den Zeitpunkt, an dem die Erkenntnisse beim BAMF vorlagen. Sie wissen genauso wie alle anderen, zumindest die, die im Innenausschuss waren, dass die Führung des BAMF zugewartet hat – auch mit disziplinarrechtlichen Maßnahmen im zweiten Fall –, bis in diesem Monat die Staatsanwaltschaft gesagt hat: Jawohl, jetzt kann es losgehen. – Ansonsten wären die Ermittlungen erschwert worden.
Noch ein weiteres Wort zur FDP: Die Debatte ist völlig in Ordnung. Sie, Herr Thomae, haben aber, indem Sie gesagt haben, dass hier eine Bundesbehörde – nicht Einzelne, sondern eine Bundesbehörde – in Tausenden von Fällen – konkret sind es heute 1 200 Fälle – Rechtsverstöße begangen hat, diesen Einzelfall auf die komplette Behörde bezogen. Das dürfen wir nicht tun. Wir dürfen nicht alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter Generalverdacht stellen.
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Das haben sie in der Tat nicht verdient. Diese Bundesbehörde hatte, wenn wir uns an die Jahre 2015/2016 erinnern, als die Flüchtlingswelle kam und dieses Land – ja, das kann man sagen – unvorbereitet war, eine große Aufgabe und einen großen Druck, diese Bescheide möglichst schnell zu erteilen,
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und zwar Druck auch aus diesem Hohen Hause wie auch von der damaligen außerparlamentarischen Opposition, die dies ebenfalls gefordert hat.
Da ist viel gemacht worden. In Zahlen: 1,8 Millionen Entscheidungen insgesamt, 600 000 allein in 2017, Rückstände sind nahezu aufgearbeitet worden. Da ist viel gearbeitet worden, aber selbstverständlich nicht alles so, wie man es vielleicht unter normalen Bedingungen hätte erwarten können.
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– Ich komme jetzt zum Thema Larifari und möchte noch etwas zu Ihren Ausführungen sagen, Frau Jelpke. Larifari war es nämlich, was Sie uns mit falschen Zahlen bezüglich der Asylverfahren bei den Verwaltungsgerichten haben weismachen wollen.
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Es sind keine 40 Prozent. Auch Sie waren am Mittwoch im Innenausschuss und haben gehört, was die Präsidentin gesagt hat, nämlich dass es 18 Prozent sind.
Jetzt kommen wir noch einmal auf die Verfahren zurück. Sie wissen – das hoffe ich doch – genauso gut wie wir anderen, dass sich ein Verfahren von der Entscheidung in der Behörde hin zu einem Gerichtsverfahren auch entwickelt, und sei es, dass es sich so entwickelt, dass ein Sachverhalt sich entsprechend ändert, indem er entweder besser aufgeklärt wird – im besten Fall – oder sich die Sachverhaltsdarstellung der Betroffenen etwas ändert.
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Deswegen kann es auch zu anderen Entscheidungen kommen.
Ich warte auf die Rüge des Präsidenten. Herzlichen Dank, dass sie noch nicht gekommen ist.
Sie müssen trotzdem zum Schluss kommen.
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Ich will nur noch sagen: Wir müssen alles dafür tun, dass wir das Vertrauen in das BAMF erhalten oder wiederherstellen, und dürfen nicht alles, was dort passiert, negativ darstellen.
Herzlichen Dank.
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Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Danke schön, sehr geehrter Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Keine andere Blauhelmmission hatte in den ersten fünf Jahren so hohe Verluste zu beklagen wie MINUSMA. Über 160 Angehörige der UN-Friedensmission sind seit ihrem Beginn 2013 gefallen, darunter auch zwei Hubschrauberpiloten der Bundeswehr. Wir sind heute auch in Gedanken bei ihnen und ihren Angehörigen, wenn wir diesen Einsatz debattieren. Wir reden also heute über das gefährlichste Einsatzgebiet, in das wir – Sie und ich als Abgeordnete des Deutschen Bundestages – unsere Truppe zurzeit schicken. Dieser Tragweite sind wir uns bewusst, und wir haben den allerhöchsten Respekt vor dem persönlichen Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten.
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Ein Beispiel: Vor kurzem wurde ein Fahrzeug ägyptischer UN-Soldaten mitten in der Nacht angesprengt und beschossen. Es waren deutsche Hubschrauberpiloten, die die Ägypter aus dieser Lebensgefahr retten konnten – trotz des enormen Risikos, trotz des bis heute ungeklärten Absturzes eines Tiger-Kampfhubschraubers im vergangenen Sommer. Vielen Dank für diesen Mut und diesen Einsatz!
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Wir stehen in der Verantwortung, stets zu prüfen, wie wir die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz unterstützen können und was im Rahmen des Mandats verändert werden muss. Und wer könnte das besser einschätzen als die eingesetzten Kräfte vor Ort selbst? Aus diesem Grund habe ich im vergangenen Monat die Bundeswehrfeldlager Gao in Mali und Niamey in Niger besucht und einige Hausaufgaben für uns mitgebracht. Vier dieser Aufgaben will ich Ihnen noch einmal verdeutlichen.
Erstens. Der Transport zwischen dem Flughafen Bamako und dem Camp Midgard muss künftig in geschützten Fahrzeugen erfolgen. Es entspricht nicht der verschärften Sicherheitslage, unsere Soldatinnen und Soldaten wie bisher mit einfachen Reisebussen zu verlegen. Wir können und dürfen nicht warten, bis etwas passiert. Hier müssen wir unverzüglich handeln, Kolleginnen und Kollegen.
Zweitens. Wir müssen uns darum kümmern, die Verzögerungen bei den Hin- und Rückflügen zu minimieren. Herr Staatssekretär, prüfen Sie, ob Medikamente, Ausrüstungsgegenstände und vor allem Personal nicht auch mit kommerziellen Anbietern transportiert werden könnten. Es darf nicht wieder passieren, dass unsere Leute tagelang am Flughafen auf militärischen Transport warten müssen, während zivile Maschinen wie selbstverständlich fliegen. Soldatinnen und Soldaten haben kein Verständnis für Verzögerungen bei diesen wichtigen Transportfragen, und wir haben es auch nicht, Kolleginnen und Kollegen.
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Drittens. Die persönliche Ausstattung der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz muss modernisiert werden. Grundsätzlich ist die Zufriedenheit mit der Ausrüstung relativ hoch, vor allem im Einsatz. Aber zum Beispiel unsere Aufklärer müssen in der Bullenhitze von Mali extrem schweres Gepäck mitschleppen. Moderne, leichtere Ausrüstung wäre da wirklich eine große Hilfe. Die Koalition hat im Koalitionsvertrag geregelt, die persönliche Ausstattung der Soldatinnen und Soldaten grundlegend zu verbessern. Da wäre schnell bei geringen Ausgaben etwas mit relativ großem Erfolg zu erreichen. Wir müssen es nur machen, Kolleginnen und Kollegen.
Viertens. Die Neubauten für die Unterkünfte und das Lager in Niamey müssen zügig fertiggestellt werden. In Zelten und auf Feldbetten zu übernachten, ist Soldatinnen und Soldaten kurzfristig sicherlich zumutbar. Für Einsätze von mehreren Monaten müssen aber ordentliche Unterkünfte zur Verfügung stehen.
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Wenn wir diese Baumaßnahmen beschleunigen können, müssen wir das auch tun. An der guten Arbeit und dem Willen unserer Leute vor Ort liegt es nach meinem Eindruck nicht.
Das, Kolleginnen und Kollegen, sind vier ganz konkrete Anliegen, um die sich die Verteidigungsministerin schnellstmöglich kümmern muss, um den Einsatz für die Soldatinnen und Soldaten einfacher, aber vor allem sicherer zu machen; denn das schulden wir unserer Truppe.
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Darüber hinaus gibt es im Zusammenhang mit MINUSMA aber weitere Aufgaben, die ebenfalls angepackt werden müssen. Der deutsche Beitrag zu dieser Mission wird von unseren Bündnispartnern sehr geschätzt, auch von den Vereinten Nationen. Das wurde mir im Gespräch mit den Verantwortlichen vor Ort immer wieder verdeutlicht. Mit unserer Aufklärung und den Evakuierungseinsätzen unserer Hubschrauber tragen wir erheblich zum Schutz der Blauhelme bei. Der Einsatz unserer Hubschrauber läuft aber nun zum Halbjahresende aus. Die fristgerechte Ablösung durch Kanada und El Salvador ist für die Sicherheit der eingesetzten Kräfte elementar. Ich bin mir sicher, dass die Ministerin diesen Punkt besonders im Auge haben wird, Herr Staatssekretär.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Konflikte in Mali brauchen politische Lösungen. Probleme wie Hunger, Armut und Arbeitslosigkeit brauchen politische Lösungen. Grundlage für politische Lösungen ist aber Sicherheit. Das macht auch die Entführung eines deutschen Entwicklungshelfers im Grenzgebiet zu Mali vor zwei Wochen deutlich. In Gedanken sind wir auch bei ihm, bei seiner Familie, bei seinen Freunden und bei seinen Kollegen.
Ein afrikanisches Sprichwort sagt: Es ist besser, mit drei Sprüngen zum Ziel zu kommen, als sich mit einem Sprung das Bein zu brechen. – MINUSMA trägt dazu bei, dass es zumindest kleine Fortschritte gibt. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam weitergehen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist Jan Nolte für die AfD.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mali ist der gefährlichste Einsatz der Bundeswehr. Um ihn einzuschätzen, lohnt sich ein Blick nach Afghanistan, wo nach 17 Jahren des Einsatzes die Taliban an den Verhandlungstisch gebeten werden. Sie sind so mächtig wie seit ihrem Sturz 2001 nicht mehr. Man beginnt, einzusehen, dass hier der Krieg verloren ist. 57 Bundeswehrsoldaten ließen ihr Leben. Die Anzahl der PTBS-Betroffenen und geschiedenen Ehen werden wir nie erfahren. Dass die Regierung unsere Soldaten vor diesem Hintergrund erneut in einen Einsatz mit diffusen Missionszielen schicken will, ist verantwortungslos. Sie sollten es inzwischen besser wissen.
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Ein Blick in Ihren Antrag zeigt: Sie können gar nicht klar erklären, wofür unsere Soldaten ihr Leben riskieren sollen: Schutz von Zivilpersonen, Anbieten guter Dienste, Erhalt malischen Kulturgutes usw. Das steht in Ihrem Antrag. Ich frage mich: Wann sind denn solche Ziele eigentlich erfüllt? Eine internationale Militäroperation, in deren Rahmen wir mit Widerstand durch gut organisierte irreguläre Kräfte rechnen müssen, braucht klare Ziele und Meilensteine. Die Bundesregierung kann von verantwortungsvollen Bundestagsabgeordneten nicht erwarten, dass sie unsere Soldaten in eine solche Mission schicken, um dann abzuwarten, was passiert.
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Dieser Einsatz bringt alle Voraussetzungen mit sich, der nächste Endloseinsatz der Bundeswehr zu werden.
Werte Kollegen, es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen: Aber den Soldaten interessiert in der Hauptsache gar nicht, wie ausgiebig er hier von Ihnen immer gelobt wird; ihn interessiert vielmehr, gesund zu bleiben, über eine gute Ausrüstung zu verfügen und nicht in sinnlose Einsätze entsandt zu werden, die ihn von seiner Familie wegholen.
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Unsere Soldaten haben auch im Vertrauen auf dieses Parlament geschworen, das eigene Leben einzusetzen, wenn es sein muss. Wir tragen hier eine hohe Verantwortung.
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Ich denke, wir sind uns alle einig, dass unsere Soldaten mehr sind als ein zahlenmäßiges außenpolitisches Statement. Wir reden hier über Väter, Mütter, Söhne und Töchter. Wenn man sie in den Kampf schickt, dann erwarte ich ein klares Konzept und ein nationales Interesse, aber keine Phrasen.
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Sie schreiben in Ihrem eigenen Antrag, dass sich die Lage in Mali verschlechtert. Radikale Islamisten können in mehreren afrikanischen Staaten relativ ungestört agieren. Weder können wir sie in ihren Rückzugsgebieten bekämpfen, noch können wir ihre Ideologie besiegen. Und selbst wenn es anders wäre: Es gibt keinen guten Grund dafür, dass ein deutsches Kind in Mali seinen Vater verliert.
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Der fundamentalistische Islam wird in Afrika übrigens besonders von Saudi-Arabien verbreitet. Auf der einen Seite stärken Sie diesen Staat mit deutschen Rüstungsgütern; auf der anderen Seite sollen deutsche Soldaten ihr Leben riskieren, um den Schaden einzudämmen, den sie in Afrika anrichten. Das nennt man Doppelmoral.
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Wir können weiter in Ihrem Antrag lesen, dass alte Konflikte in Mali neu aufflammen. Mali ist ein sehr armes Land mit einem Altersdurchschnitt von 17. Wo viele junge Menschen ohne Perspektive leben, da kommt es zu Konflikten; aber daran kann auch die Bundeswehr nichts ändern.
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Die Lage in Mali hängt nicht an dieser oder jener Terrorgruppe; die Realität ist weitaus komplexer.
Hier fehlt ein Konzept; hier fehlt das nationale Interesse. Wer diesem Einsatz zustimmt, der hat aus Afghanistan nichts gelernt. Wir lehnen ihn ab. Da wir für eine konsequente Rückführung von Migranten stehen, lehnen wir den Entschließungsantrag der Linken ebenfalls ab.
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Danke.
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Nächster Redner ist Paul Ziemiak für die CDU/CSU.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Nolte, erlauben Sie mir, eine Vorbemerkung zu machen, bevor ich zu meiner eigentlichen Rede komme. Wir diskutieren hier über ein Mandat zur Entsendung von deutschen Streitkräften,
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und wir haben hier ganz unterschiedliche Positionen: von der der Linksfraktion über die Position der Grünen, die der SPD und die Position, die in der Union diskutiert wird, bis hin zu Ihrer Position. Deshalb debattieren wir das hier. Aber ich verbitte mir jegliche Äußerung, dass es sich irgendein Abgeordneter leicht mache, Soldaten irgendwohin zu schicken.
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Wir haben unterschiedliche Meinungen; aber keiner macht es sich leicht. Jeder diskutiert und streitet für seine Überzeugung, was gut und richtig ist, und auch darüber, was im deutschen Interesse liegt, meine Damen und Herren.
Sie haben hier wieder wunderbar vorgeführt, wie Ihre Art ist, Politik zu machen und auch die Bundeswehr zu missbrauchen. Sie vermischen die Einsätze,
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Sie mischen noch die Flüchtlingspolitik bei, und darauf kochen Sie Ihre Suppe, die dann andere auslöffeln müssen.
Liebe Freundinnen und Freunde – – Entschuldigen Sie, ich will jetzt nicht zu überschwänglich werden. – Meine Damen und Herren, ich will daran erinnern, dass diese Mission auf zwei UN-Resolutionen beruht. Es geht darum, drei Ziele zu erreichen: erstens das Friedensabkommen von 2015 – das wurde bisher nicht angesprochen – umzusetzen, zweitens den Schutz von Zivilisten zu gewährleisten und drittens auch ein sicheres Umfeld für humanitäre Hilfe zu schaffen. Die Grundvoraussetzung für Entwicklungshilfe ist immer Sicherheit.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, MINUSMA ist ein Instrument, das auch mit anderen zusammenwirkt. Die Mission EUTM Mali – wir haben das in der vergangenen Sitzungswoche debattiert – stellt die Ausbildung der malischen Streitkräfte sicher; denn langfristig können nur malische Streitkräfte für die Sicherheit im Land sorgen. Gleichzeitig unterstreicht diese Zusammenarbeit mit den G‑5-Sahelstaaten den grenzübergreifenden Ansatz, den wir hier mit den Vereinten Nationen verfolgen. Diese militärischen Bemühungen werden durch humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit flankiert. Wir leisten unseren Beitrag, und wir begleiten Mali auf dem Weg in eine friedliche Zukunft. Das ist unser Bestreben.
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An dieser Stelle danke ich allen, die ihren Dienst leisten, den Soldatinnen und Soldaten,
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und natürlich ihren Familien, an die wir heute ebenfalls denken; denn auch die haben die Belastung dieses Einsatzes zu schultern. Danke für Ihren Einsatz!
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Ich danke auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der zivilen Hilfen, der NGOs, die einem großem Risiko ausgesetzt sind. In beiden Fällen denken wir ebenfalls an die Angehörigen.
Ein starkes Signal, wie ich fand, war, dass weite Teile der Opposition dieses Mandat unterstützen. FDP und Grüne haben sich sehr konstruktiv und sachorientiert eingebracht. Sie haben das notwendige militärische Engagement nicht gegen die notwendige Entwicklungszusammenarbeit ausgespielt. Zivile Hilfe kann dort nur gelingen, wenn Sicherheit vorherrscht.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wie bei der Beratung eines jeden Mandats in diesem Hause darf man nicht nur über die Folgen einer Zustimmung, eines Ja, sprechen, sondern man muss auch über die Folgen eines Nein sprechen. Wer gegen die Beteiligung an MINUSMA stimmt, der verhindert, dass Entwicklungszusammenarbeit gelingen kann. Wer dagegenstimmt, der eröffnet islamistischem Terrorismus Rückzugsorte.
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Wer dagegenstimmt, der untergräbt den mühsamen Friedensprozess, der schon von vornherein so schwierig war. Wer dagegenstimmt, der riskiert weitere Instabilität in dieser Region.
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Wer dagegenstimmt, der nimmt den Menschen jegliche Perspektive auf ein besseres Leben in ihrem Heimatland. Wer dagegenstimmt, der soll sich später nicht beschweren, dass Menschen sich auf der Suche nach einer friedlichen Zukunft auf den Weg nach Europa machen. Das sollte man nicht tun, wenn man heute dagegenstimmt.
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Es war von Anfang an evident, dass dieser Konflikt komplex ist und es keine schnellen Lösungen geben wird. Der Weg zum Frieden in Mali ist kein Sprint, sondern ein langer Weg, ein Marathon. Derzeit ist der afrikanische Traum ein Traum, der in Europa stattfindet. Wir aber müssen daran arbeiten und dafür sorgen, dass jeder Mensch in Afrika auch eine Zukunft in Afrika hat und seine Träume dort verwirklichen kann. Ich weiß, das ist ein unheimlich langer Weg – Sie haben es gerade beschrieben –, aber MINUSMA ist der erste Schritt auf diesem Weg.
Heute Nein zu sagen, wäre verantwortungslos, nicht nur mit Blick auf die Interessen der Menschen in Mali, sondern auch mit Blick auf das deutsche Interesse. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
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Als Nächster spricht der Abgeordnete Ulrich Lechte für die Fraktion der FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe und sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Liebe Nora! Die Entscheidung über die Beteiligung an der UNO-Mission in Mali ist weiterhin keine leichte Entscheidung. In der Beratung in den Ausschüssen konnten wir zwar über einige Schwierigkeiten sprechen, aber nicht alle kritischen Punkte ausräumen. Die Sicherheitslage verschlechtert sich, seitdem sich die islamistische Terrorallianz JNIM gebildet hat. Sie verübt zunehmend professionelle Anschläge auf MINUSMA-Truppen. Erst am 14. April erfolgte ein Angriff auf einen Stützpunkt in Timbuktu, bei dem sich die Angreifer selbst als Blauhelmsoldaten getarnt hatten. Aber wie sollen wir jetzt darauf reagieren?
Linke und AfD wollen, dass wir abziehen. Aber das würde bedeuten, dass wir alles aufgeben, was wir in Mali bereits erreicht haben. Wir haben 2013 verhindert, dass die Islamisten das Land gänzlich ins Elend stürzen. Die malischen Konfliktparteien haben 2015 gar ein Friedensabkommen geschlossen. Die Mehrzahl der Binnenflüchtlinge konnte wieder in ihre Heimat zurückkehren.
Die ablehnende Haltung der AfD zu MINUSMA lässt einen glatt vermuten, dass Sie es geradezu bedauern, dass Ihnen weitere Flüchtlinge aus Afrika verwehrt bleiben.
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Die Linke hingegen hat einen Entschließungsantrag vorgelegt, in dem sie den Abzug der Truppen fordert. Sie möchte stattdessen das Budget „in die Schaffung wirtschaftlicher und sozialer Perspektiven“ stecken. Löblicher Ansatz, aber Sie können doch nicht das eine gegen das andere ausspielen.
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Sie haben zwar recht, wenn Sie sagen, dass es keine Sicherheit ohne wirtschaftliche Perspektiven gibt, aber das gilt doch auch umgekehrt: Es gibt keine wirtschaftlichen Perspektiven ohne Sicherheit.
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Wer soll denn in das Land investieren und neue Arbeitsplätze schaffen, wenn dort Islamisten ein Terrorregime etablierten, wie wir es beim IS in Syrien oder bei den Taliban in Afghanistan gesehen haben? Wie sollen denn zivile Helfer beim Aufbau des Landes beitragen, wenn es keine Soldaten und Polizisten gibt, die für ihren Schutz sorgen?
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Das eine geht nicht ohne das andere. Wir beraten zwar jetzt und hier über die Entsendung von Soldaten, aber es sind auch Polizisten und zivile Helfer in Mali. Das ist der vernetzte Ansatz, den wir als Freie Demokraten sehr gerne unterstützen.
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– Ja, das weiß ich, Gott sei Dank. Es gibt ja noch ein paar Vernünftige in diesem Hohen Haus.
Meine Damen und Herren, in Mali stehen im Juli Präsidentschafts- und im November Parlamentswahlen an. Dafür ist Sicherheit erforderlich, damit die Menschen ohne Angst ihre Stimme abgeben können. Aber auch mit der nötigen Sicherheit werden das keine perfekten Wahlen werden. Wir wissen sehr genau, dass Mali noch viele Herausforderungen auf dem Gebiet von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten vor sich hat. Aber wir dürfen das Land nicht abschreiben.
Es gibt leider einige Leute, die denken, dass Demokratie in Afrika keine Chance hat. Aber das stimmt nicht. Gerade in Westafrika gibt es viele positive Beispiele. Denken Sie an Ghana, wo es seit der Demokratisierung in den 90ern bereits den dritten demokratischen Machtwechsel gab. Denken Sie an Nigeria, wo der Präsident Goodluck Jonathan seine Niederlage in den Wahlen im April 2017 akzeptierte und damit eine friedliche Machtübergabe an den Wahlgewinner Muhammadu Buhari ermöglichte. Denken Sie an Benin, wo Präsident Boni Yayi nach seiner zweiten Amtszeit nicht wieder antrat und es 2016 zu einem demokratischen Machtwechsel kam. Denken Sie an Burkina Faso, wo 2015 Präsidentschaftswahlen stattfanden und damit die über 25‑jährige autoritäre Herrschaft in Ouagadougou beendet wurde. Senegal und Liberia sind weitere sehr positive Beispiele in Westafrika. All das sind Leuchttürme für die positive Zukunft Afrikas.
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Auch Mali soll seine Chance bekommen, sich weiterzuentwickeln, damit die Menschen dort Zukunftsperspektiven haben. Mali ist ein wichtiges Ankerland für die Sahelregion, aber auch darüber hinaus für West- und Nordafrika. Die Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft zur Stabilisierung Malis dürfen nicht nachlassen. Man verlässt sich zu Recht auf den deutschen Beitrag.
Die Freien Demokraten stimmen für MINUSMA und gegen den Entschließungsantrag der Linken.
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Buchholz von der Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem letzten großen Anschlag Anfang April auf UN-Soldaten bezeichnete der „Spiegel“ Mali als „Afghanistan in Afrika“.
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Auch wenn der Vergleich noch übertrieben ist: Tatsächlich erinnert die Dynamik des Konflikts in Mali fatal an die Logik des Einsatzes am Hindukusch. Wie in Afghanistan vor zehn Jahren gewinnen Aufständische an Unterstützung, und die Anwesenheit Tausender ausländischer Soldaten in Mali lässt diese Unterstützerschaft stetig wachsen. Das ist ein Grund dafür, warum bereits so viele Blauhelme in Mali getötet worden sind. Doch die Bundesregierung hat aus Afghanistan nichts gelernt. Wenn Herr Ziemiak jetzt von einem Marathon spricht, dann frage ich mich: Wie lange wollen Sie diesen Einsatz in Mali weiterführen? Die Linke meint: Holen Sie die Soldatinnen und Soldaten endlich aus Mali zurück!
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Im Januar gab die Heinrich-Böll-Stiftung eine neue Studie der Mali-Kennerin Charlotte Wiedemann heraus. Sie ist so lesenswert wie niederschmetternd. Ihr Befund – ich zitiere –:
Die UN-Mission wurde Mali 2013 aufgedrängt. Im Regierungsapparat wie in der Bevölkerung gab es von Beginn an einen Unwillen gegen die große Zahl ausländischer Soldaten auf dem eigenen Territorium.
Dieser Unwille ist seitdem nur noch gewachsen. Die UN-Militärmission wird heute von vielen Maliern wie eine Besatzungsmacht empfunden. Die bittere Wahrheit ist: Der UN-Einsatz ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.
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Die Bundeswehr ist Teil davon. Sie agiert abgeschnitten von der lokalen Bevölkerung. Drei Viertel der deutschen Soldaten kommen im nordmalischen Gao nie aus ihrem Camp heraus.
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Der Rest soll in Patrouillenfahrten herausbekommen, wer außerhalb des Camps eigentlich das Sagen hat. Dieses Unterfangen ist nicht besonders erfolgreich, wenn man einem Korrespondenten des Reservistenjournals „loyal“ glauben darf. In der jüngsten Ausgabe des Magazins berichtet er von einer Patrouillenfahrt deutscher Fernspäher. Er fasst zusammen – Zitat –:
Vier Stunden Fahrt durch die Wüste, um dann festzustellen, dass niemand mit ihnen reden will – für die Fernspäher ist das nicht ungewöhnlich.
Stopp mal eben: Warum ist das eigentlich nicht ungewöhnlich? Ich glaube, weil das Misstrauen auf Gegenseitigkeit beruht. Und auch das kennen wir aus Afghanistan. Deutsche Soldaten können nicht erkennen, ob aus einem Viehhirten nach Einbruch der Dunkelheit vielleicht ein Milizionär wird. Und für den Viehhirten ist der Soldat ein Fremder mit einer Waffe in der Hand, eine Art Besatzer. Das ist die Einsatzrealität in Mali. Darüber muss die Bundesregierung endlich Rechenschaft ablegen.
({4})
Frau Buchholz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von der FDP?
Ja.
Frau Kollegin Buchholz, ich möchte Sie fragen, ob Sie darüber Kenntnis haben, dass Gao ohne die deutsche Beteiligung letztens an genau die Kräfte, die ich in meiner Rede gerade beschrieben habe, nämlich an die Islamisten, gefallen wäre. Wenn sich der Oberst vor Ort nicht so beherzt eingesetzt und die Fahrzeuge in Bewegung gesetzt hätte, wäre Gao heute nicht mehr in den richtigen Händen. Das zeigt mir, dass wir mit unserem Ansinnen recht haben. Das müssten Sie eigentlich auch einsehen; denn wir verfolgen einen rein pragmatischen Ansatz, was den Zweck unserer Mission in Mali angeht, nämlich: Sicherheit für die Bürger vor Ort.
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Mit derselben Argumentation ist die Bundeswehr in Afghanistan immer tiefer in den Sumpf geraten. Eine Sache muss man zur Kenntnis nehmen: Je stärker der Schutz oder auch die militärische Antwort ist, desto stärker wird auch der Widerstand. Deswegen sind wir der Meinung, dass dieser Teufelskreis endlich durchbrochen werden muss, damit tatsächlich eine Grundlage für Frieden in Mali geschaffen werden kann.
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Im Übrigen bringt MINUSMA noch ganz andere Probleme mit sich. Die Gewerkschaft UNTM schätzt, dass in Gao 80 Prozent der Bevölkerung unter den Nebeneffekten des UN-Einsatzes leiden, vor allem die Ärmsten. Für sie ist der Wohnraum in der Stadt unbezahlbar geworden, weil MINUSMA die Preise hochtreibt. Auch darüber sollten Sie einmal nachdenken.
({1})
Mali hat so viele Probleme. Kein einziges wird von MINUSMA gelöst; aber viele werden dadurch verschärft. Erstens. Die UN-Mission stabilisiert eine korrupte Regierung. Zweitens. Der von MINUSMA begleitete Verhandlungsprozess schafft enorme Anreize, sich zu bewaffnen, weil Clanführer nur so an Posten und Geld kommen. Das ist übrigens auch – an den Kollegen von der FDP – der Grund dafür, dass es in Mali heute mehr und nicht weniger Milizen als vor fünf Jahren gibt.
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Kurzum: Der gesamte Einsatz deutscher Soldaten unterstützt einen Prozess, der die Konflikte in Mali weiter verschärft. Stoppen Sie den Einsatz jetzt, damit aus Mali am Ende eben kein neues Afghanistan wird!
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Als Nächstes spricht Agnieszka Brugger für Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Eingreifen Frankreichs und später dann auch der internationalen Gemeinschaft hat 2013 verhindert, dass Mali in die Hände der Islamisten gefallen ist.
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Unter Vermittlung und auch auf Druck der Vereinten Nationen kam anschließend ein politischer Prozess in Gang, der mit dem Friedensabkommen von 2015 geendet hat.
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Wenn wir hier ehrlich diskutieren wollen, dann gehört zu einer ehrlichen Bilanz also auch die Feststellung, dass ohne die Vereinten Nationen und ohne die VN-Friedensmission, die wir heute beraten, die Lage in Mali weitaus schlimmer wäre. Das wollen wir uns alle gar nicht vorstellen.
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Wir Grüne haben die Anträge der Bundesregierung zu diesen Mandaten, bei denen die Bundeswehr einen sehr relevanten Beitrag für das Engagement der Vereinten Nationen leistet, daher in der Vergangenheit immer mit großer Mehrheit mitgetragen. Wir haben das übrigens getan, ohne die Gefahren klein- und die Situation in Mali schönzureden.
Ja, der Einsatz ist hochgefährlich. Im letzten Jahr gab es über 140 Angriffe auf MINUSMA. Seit Beginn der Mission sind mehr als 160 Blauhelmsoldaten gestorben. Unter ihnen sind auch die zwei deutschen Hubschrauberpiloten, die letztes Jahr tragisch abgestürzt sind. Wir warten immer noch auf den dazugehörigen Abschlussbericht aus dem Ministerium. Wir gedenken ihrer heute und drücken noch einmal unsere Anteilnahme gegenüber ihren Familien und Freunden, die mit dem Verlust leben müssen, aus.
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Aber gerade weil dieser Einsatz so gefährlich ist, haben, glaube ich, viele Fraktionen, auch wir Grüne, im Verteidigungsausschuss besonders darauf gedrängt, dass wirklich sichergestellt ist, dass auch nach dem Abzug der deutschen Hubschrauber die Rettungskette steht. Ich verlasse mich da auf die Aussagen aus dem Verteidigungsministerium. Gerade weil dieser Einsatz so gefährlich ist, wollen wir allen Menschen danken, egal ob das die Soldatin, der Polizist oder der zivile Experte ist, die sich unter diesen schwierigen Bedingungen in Mali für eine bessere Zukunft engagieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Militäreinsätze lassen sich aber nicht allein durch die Vergangenheit begründen und rechtfertigen, sondern es braucht auch immer eine Erfolgsperspektive für die Zukunft. Zu einer ehrlichen Bilanz dieses Einsatzes gehört also auch die Feststellung, dass die vielen Punkte des Friedensabkommens, die man eigentlich innerhalb von zwei Jahren umsetzen wollte, von der Realisierung noch weit entfernt sind – egal ob es um den gesellschaftlichen Versöhnungsprozess, die Autonomie und Entwicklung in Malis Norden, die Reform des Sicherheitssektors oder die Entwaffnung und Integration von Rebellen geht.
Herr Kollege Nolte, das sind übrigens die Ziele, die Sie gerade hier eingefordert haben. Wir erinnern uns, glaube ich, alle daran, wie Sie hier schon einmal standen und EUNAVFOR MED und Sea Guardian durcheinandergebracht haben. Ihre kruden Afghanistan-Mali-Vergleiche passen da genau ins Bild.
Ich war sehr oft in Mali und habe mit vielen Soldatinnen und Soldaten auch über die Probleme dieses Einsatzes gesprochen. Aber dass Sie von der AfD sich hier hinstellen und sich anmaßen, für die Soldatinnen und Soldaten zu sprechen,
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finde nicht nur ich, nicht nur viele Soldatinnen und Soldaten, sondern finden auch ganz viele Kollegen und Kolleginnen hier in diesem Parlament einfach unerträglich.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, die Sicherheitslage in Mali hat sich verschlechtert; die Gewalt hat sich mittlerweile auch in Richtung Zentral- und Südmali ausgedehnt. Es kommt zu immer komplexeren Angriffen wie neulich erst in Timbuktu.
Wir Grüne werden das Mandat auch dieses Mal mittragen. Wir tun das aber mit einer deutlichen Kritik an der Bundesregierung. Man fragt sich schon, wie es sein kann, dass Sie hier immer wieder beschönigende Reden halten und die Verlängerung des Mandats dabei ein bloßes Weiter-so ist. Der Premierminister von Frankreich hat zum Beispiel sehr klar gemacht, dass, wenn die Konfliktparteien – er meint damit die malische Regierung ebenso wie die Rebellengruppen – ihre Blockadehaltung gegenüber dem Friedensprozess nicht endlich aufgeben, es ein Ende des Engagements geben wird.
Ich denke hierbei an die Rede von Ursula von der Leyen bei der Einbringung des Antrags auf Verlängerung des Mandats. Sie hat gesagt, bei der malischen Regierung sei noch Luft nach oben. Das wirkt doch reichlich hilflos. Die Bundesregierung braucht hier eine klare Haltung. Sie muss die entsprechenden Konsequenzen und Lehren ziehen und deutliche Worte gegenüber der malischen Regierung finden, damit der Friedensprozess nicht zum Erliegen kommt und nicht in einer Sackgasse landet, sondern eine Chance hat. Das erwarten wir von Ihnen, wenn Sie wollen, dass wir dem Mandat auch weiterhin zustimmen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist Thomas Erndl für die Fraktion CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Niemand hier macht es sich leicht mit der Entscheidung für die Verlängerung unserer Beteiligung an MINUSMA, besonders wenn uns Tag für Tag Meldungen über die Sicherheitslage in Mali erreichen, die zunehmend schlechter wird.
Der Friedensprozess kommt nicht voran, und in Mali ist man weit entfernt von einem stabilen Staatsgefüge. In dieser schwierigen Zeit haben wir über die Verlängerung des Einsatzes unserer Soldaten in der Mission MINUSMA zu entscheiden, an der wir seit fünf Jahren beteiligt sind.
Meine Damen und Herren, da hier immer Vergleiche zwischen Mali und Afghanistan angestellt werden, lassen Sie mich einmal Folgendes sagen: Ich denke, der größte Fehler in Afghanistan war, dass die Kräfte, die der Westen, die die Amerikaner, die wir vor Ort hatten, zu früh abgezogen, zu früh verringert worden sind. Das ist doch das Kernproblem, das wir in Afghanistan haben.
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Unsere Soldaten sind nicht in einem sinnlosen Einsatz. Vielmehr sorgen sie dafür, dass die Waffenruhe eingehalten wird, dass überhaupt ein sicheres Umfeld für humanitäre Hilfe entsteht, dass das Friedensabkommen weiter umgesetzt wird, so schwierig die Situation auch ist – das ist uns allen ja bekannt –, und dass zwischen den Konfliktparteien Vertrauen entsteht und Zivilpersonen geschützt werden.
Frau Buchholz, ich habe Ihrer Rede keinen einzigen konstruktiven Vorschlag entnehmen können, wie denn staatliche Strukturen ohne grundlegende Sicherheit zu schaffen sind.
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Grundlegende Sicherheit kann nur mit Unterstützung von außen, in diesem Fall mithilfe von MINUSMA, gewährleistet werden.
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Wir müssen festhalten, dass dies die gefährlichste Auslandsmission unserer Soldatinnen und Soldaten ist. Es ist bereits angesprochen worden: Der jüngste Angriff auf den UN-Stützpunkt in Timbuktu, bei dem sich die Angreifer als Blauhelmsoldaten verkleidet haben und letztendlich auch ein Blauhelmsoldat sein Leben lassen musste, war besonders perfide. Ich könnte weitere aufzählen. Die Unruhen Anfang März in Gao wurden angesprochen, wo es die Bundeswehr war, wo es unsere Soldaten waren, die maßgeblich zur Beruhigung der Situation beitrugen und maßgeblich dazu beitrugen, dass sich die Menschen in Gao heute nicht im Gebiet islamistischer Terroristen befinden. Das deutsche Kontingent hat hier einen hervorragenden Einsatz und Handlungsfähigkeit bewiesen.
Meine Kolleginnen und Kollegen, uns ist bewusst, wie gefährlich dieser Einsatz ist. Soldatinnen und Soldaten, Aufklärer aus meinem Wahlkreis waren im letzten Kontingent mit dabei und haben mir eindrucksvoll die Situation geschildert. Ich darf deshalb allen unseren Soldatinnen und Soldaten für die hervorragende Arbeit, die hier unter schwierigsten Bedingungen geleistet wird, danken
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und natürlich auch allen anderen, die im Rahmen unseres vernetzten Sicherheitsansatzes hier ihren Dienst tun.
Meine Kolleginnen und Kollegen, das Schicksal Malis, die Entwicklung Afrikas insgesamt betreffen uns. Wenn die jungen Menschen dort – das Durchschnittsalter in Mali liegt bei weit unter 20 Jahren – keine Perspektiven haben, dann werden wir in Europa nicht in Sicherheit und Freiheit leben können. Diesen Zusammenhang, Kolleginnen und Kollegen der AfD, müssen Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen.
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Mali spielt eine Schlüsselrolle für Stabilität und Entwicklung in der gesamten Sahelregion. Das können wir im Rahmen unserer verantwortlichen Außen- und Sicherheitspolitik nicht außer Acht lassen. Die Stabilisierung Malis ist deshalb ein Schwerpunkt unseres Engagements in der Sahelregion und ein wichtiges Ziel der Afrika-Politik unserer Bundesregierung. Wir sind ja nicht nur militärisch engagiert, sondern auch im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit im Rahmen unseres vernetzten Sicherheitsansatzes. Wir beteiligen uns an MINUSMA, weil es eine wichtige Mission in einer schwierigen Region ist. Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung zur Verlängerung.
Vielen Dank.
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Liebe Kollegen und Kolleginnen, ich bitte Sie, die Gespräche einzustellen oder sie, wenn sie notwendig sind, draußen vor der Tür zu führen.
Wir haben noch zwei Rednerinnen, die ich jetzt aufrufe, zunächst Dr. Bärbel Kofler für die SPD.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Verlängerung eines Mandates bietet immer auch die Gelegenheit, sich mit der politischen und der humanitären Situation in einem Land auseinanderzusetzen. Einige Vorrednerinnen und Vorredner haben das getan. Ich möchte auch noch einmal auf die konkrete Situation in Mali eingehen; denn MINUSMA hat eine zentrale Aufgabe: den Friedensprozess von Algier zu begleiten und mehr Sicherheit zu schaffen, um eine politische, humanitäre und zivile Entwicklung im Land möglich zu machen.
Das, was Kollegin Brugger gesagt hat, ist völlig richtig. Wir müssen genau hinschauen, wo wir in dieser politischen Debatte und bei der Umsetzung des Friedensprozesses stehen. Es ist auch richtig, deutlich zu machen, dass es dort noch sehr viel Schatten gibt und dass es wichtig ist, dass alle Akteure, die sich für Mali engagieren, in die Debatte einbezogen werden, um diesem Friedensprozess zum Durchbruch zu verhelfen. Es ist richtig, dass die Reformen im Sicherheitssektor in Mali zu wünschen übrig lassen, um es sehr diplomatisch und vorsichtig zu formulieren. Es ist richtig, dass insbesondere die Entwaffnung nicht vorankommt, eines der ganz zentralen Probleme und eine der ganz zentralen Fragestellungen für Mali. Und es ist leider richtig, dass das wichtige Thema der Dezentralisierung nur schleppend angegangen wird, gerade von der malischen Zentralregierung.
Vielleicht muss man manchmal auch positive Elemente oder positive Momente sehen, um eine Einordnung treffen zu können. Es gibt mit der Bildung der Versöhnungskommission erste positive Ansätze. Es gibt erste positive Ansätze mit der Einsetzung von Übergangsverwaltungen. Ja, auch die jetzt eingesetzten gemischten Patrouillen der Konfliktparteien in der Region Gao sind erste positive Ansätze. Aber ich betone noch einmal: Es sind erste Ansätze. Die Lösung der Probleme sind politische Fragen. Es wäre eine Überhöhung des Mandats, diese Fragen auf das Mandat zu projizieren. Das Mandat hat die Aufgabe, den Sicherheitsrahmen zu unterstützen. Politik hat die Aufgabe, auf die grundsätzlichen, weiter gehenden Probleme in Mali hinzuweisen. Die sind weiter gehend. Ich möchte auch diese Thematik ansprechen, weil ich glaube, dass wir hier in politischen Zusammenhängen mit Unterstützung, aber auch mit Gesprächen und mit Drängen an die malische Seite herantreten müssen, um die Probleme anzugehen.
Die Abwesenheit des Staates in weiten Teilen ist eines der zentralen Probleme in Mali: wenn Bürger nicht geschützt werden von ihrem Staat, wenn sie von ihrem Staat nicht erreicht werden. Wer im letzten Bericht von Amnesty International von 150 000 Kindern und Jugendlichen im Norden Malis liest, die seit Jahren aus Sicherheitsgründen und aus Strukturmangelgründen keine Schule besuchen können, weiß, dass hier eine zentrale Aufgabe besteht. Es geht um Dezentralisierung, es geht um Strukturen, die aufgebaut werden müssen, um Menschen zu erreichen.
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Es geht aber auch darum, ehrlich zu sein, was die schweren Menschenrechtsverletzungen in Mali anbelangt. Die werden sowohl von kriminellen Organisationen als auch von Rebellengruppen wie auch zum Teil von malischen Sicherheitskräften begangen. Auch das ist ein Teil der Wahrheit, den man ansprechen muss und der in der Diskussion über unsere Mandate mit den malischen Partnern natürlich eine Rolle spielen muss.
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Es geht um das Thema der Straflosigkeit. Das geht weit über MINUSMA hinaus. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat in der Bevölkerung von Mali eine Umfrage gemacht zum Thema Gewalt und wie im Staat damit umgegangen wird. Es kam heraus, dass 80 Prozent der Menschen meinen, dass Straflosigkeit häufig oder sehr häufig in Mali vorliegt. Das untergräbt natürlich das Vertrauen in den eigenen Staat. Diese Themen müssen angegangen werden. Das sind politische Prozesse.
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Ich glaube aber, dass es, um das tun zu können, einen Rahmen an Sicherheit braucht. Ich glaube, MINUSMA ist ein Teil dieses Rahmens, nicht die Lösung all dieser Probleme und auch nicht die Lösung aller Sicherheitsfragen in Mali, aber ein Teil dieses Rahmens.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Mein letzter Satz. – Wichtig ist auch, dass MINUSMA die Menschen schützt, die sich nicht selbst schützen oder helfen können. Humanitäre Hilfe, Helfer in diesen Regionen brauchen die Unterstützung des Mandates. In Mali sind über 4 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Damit sie sie erreichen kann, brauchen sie ein Mindestmaß an Sicherheit. Diese Unterstützung muss gewährt werden.
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Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, warte ich erst einmal, bis alle Kollegen und Kolleginnen ihre Gespräche zu Ende geführt haben.
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Herr Parlamentarischer Geschäftsführer! –
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Sie waren der Letzte, der sein Gespräch eingestellt hat. Jetzt können wir anfangen. – Frau Noll, Sie haben das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich zu dieser Debatte gekommen bin, war ich noch relativ ruhig. Dann musste ich leider die Rede von dem Kollegen aus der AfD hören, und ich muss Ihnen an dieser Stelle sagen: Das war unerträglich.
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Ich lasse mir nach 16 Jahren Parlamentszugehörigkeit nicht sagen, dass wir nicht verantwortungsvoll mit den Bundeswehrmandaten umgehen. Wir haben eine Parlamentsarmee, und wir beschäftigen uns hier über Wochen und Monate damit, warum wir unsere Soldaten in Auslandseinsätze schicken. Mein Sohn hat zwei Jahre freiwillig gedient, ich komme aus einer Soldatenfamilie. Also, lassen Sie das nicht so stehen. So geht es nicht!
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Ich hatte einen ganz anderen Eindruck. Unsere Soldaten werden im Ausland geschätzt: von den Partnern, von den Menschen vor Ort. Ich war in Einsatzgebieten. Wenn Sie mit den Menschen dort sprechen, wird erkennbar: Sie sind dankbar, dass unsere Soldaten da sind. Das hat der Kollege Hitschler von der SPD bereits erwähnt, und das stimmt auch so. Das meine ich natürlich auch in Bezug auf die Polizeibeamten, die ebenfalls eine Schlüsselrolle haben.
Jetzt kommen wir vielleicht zu einem Lernprozess für die AfD.
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Haben Sie schon einmal etwas von Globalisierung gehört?
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Ich erkläre es Ihnen einmal. Vor ein paar Tagen habe ich den australischen Premierminister Turnbull gehört, der Globalisierung wie folgt beschrieben hat: In unserer heutigen Zeit ist nichts mehr weit voneinander entfernt. – Damit hat er recht. Terrorismus ist ein globales Problem, Flucht und Migration sind globale Probleme. Und globale Probleme kann man nur global lösen.
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Aber das ist etwas, was Sie nicht verstehen.
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Das heißt auf gut Deutsch: Wenn wir mit den Vereinten Nationen nach Mali gehen, brauchen wir über Rückführungsabkommen nicht zu sprechen, weil wir nämlich versuchen, in der Region Stabilität zu erreichen. Das ist es, was den Leuten wirklich hilft; einige Kollegen haben es eben schon angesprochen.
Frau Brugger, ich möchte Sie kurz erwähnen – Sie haben es eben auch gesagt –: Bei den Vereinten Nationen läuft vielleicht nicht alles rund. Auch ich habe mir gewünscht, dass wir nach zwei Jahren in Mali weiter sind. Aber wir dürfen jetzt nicht aufgeben.
Wenn wir erreichen wollen, dass die Menschen nicht aus Mali fliehen müssen, dann müssen wir dort Perspektiven für sie schaffen. Dort leben 300 000 Kinder, die überhaupt nicht wissen, was Bildung heißt, weil sie nicht zur Schule gehen können. 673 Schulen mussten geschlossen werden. Das ist keine Perspektive. Das Durchschnittsalter in Mali ist 14 Jahre. Glauben Sie tatsächlich, dass die Menschen unter diesen Bedingungen in ihrer Heimat bleiben?
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Nein, viele werden sich auf den Weg nach Europa machen.
Ich möchte keine Toten im Mittelmeer haben, und ich möchte, dass wir Afrika stabilisieren. Wir haben eine Afrika-Strategie, und das ist eine gute Strategie.
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Unser Minister Gerd Müller hat es deutlich gemacht: Wir sind engagiert; wir haben viele entwicklungspolitische Projekte. – Deswegen muss ich ganz ehrlich sagen: Die AfD ist auf dem Holzweg, und das schon seit längerem.
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Jetzt ganz kurz zu dem Antrag der Linken. Florian Hahn hat in der letzten Debatte zu diesem Thema gesagt, dass von der Linken ja im Endeffekt keine Lösungsansätze kommen. Er hatte mal wieder recht: Der Entschließungsantrag der Linken bietet wieder keine Lösungsansätze.
Ich zitiere jetzt kurz einen Satz unserer Verteidigungsministerin, den sie auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2018 gesagt hat: Was hilft es, wenn wir dem Bauern in Mali eine Bewässerungsanlage installieren, er dann aber von al-Qaida abgeschlachtet wird? – Damit ist alles gesagt: ohne Sicherheit keine Stabilität, ohne Sicherheit kein Frieden, ohne Sicherheit keine Perspektiven. Und diese Sicherheit ist ohne militärischen Einsatz nicht zu haben. Deshalb bitte ich um Zustimmung zur Verlängerung des Mandats.
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Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Multidimensionalen Integrierten Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali (MINUSMA). Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/1742, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 19/1098 anzunehmen. Wir stimmen über die Beschlussempfehlung jetzt namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Bei der Regierungsbank fehlen noch Schriftführer. – Bei der Enthaltungstür fehlen noch Schriftführer. – Sind die Plätze jetzt besetzt? – Jetzt sind sie besetzt. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ich möchte darauf hinweisen, dass wir unmittelbar nach der Schließung dieser Abstimmung noch eine weitere Abstimmung haben.
Haben alle Mitglieder des Hauses jetzt ihre Stimmkarte abgegeben? – Das ist der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Auszählung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/1846. Ich bitte Sie, dazu die Plätze einzunehmen. Setzen Sie sich bitte hin, damit wir die Abstimmung durchführen können.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Linken? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Entschließungsantrag gegen die Stimmen der Linken mit den Stimmen des übrigen Hauses abgelehnt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland hat sich die Quote an Akademikerinnen und Akademikern in den vergangenen Jahren deutlich erhöht. Das ist eine gute Sache für die jungen Menschen, die gerne studieren möchten, aber auch deswegen, weil die Akademisierung vieler Berufe ungebrochen voranschreitet.
Aber leider muss man sagen: Die Entwicklung ging zulasten so ziemlich aller Beteiligten an den Hochschulen. Die Hörsäle und Seminare sind völlig überfüllt. Das Betreuungsverhältnis von Professoren zu Studierenden ist jedes Jahr ein bisschen schlechter geworden. Man muss sagen: Studieren ist mittlerweile für Lernende und Lehrende gleichermaßen zu einem ziemlich nervenzehrenden Kraftakt geworden, und das kann und darf so nicht bleiben.
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Besonders dramatisch ist, dass die soziale Spaltung sich wieder den historischen Höchstständen nähert; denn das BAföG, das eingeführt wurde, um das Bildungssystem in Deutschland durchlässiger zu machen, erfüllt seinen Zweck nicht mehr. Junge Menschen aus einkommensschwachen Familien und aus Arbeiterhaushalten überlegen es sich mittlerweile dreimal, ob sie das finanzielle Risiko eines Studiums eingehen, und zwar auch, weil sie mit einer BAföG-Förderung nach dem Studium mit Schulden ins Berufsleben starten müssen. So eine soziale Schieflage an den Hochschulen, so eine soziale Schieflage in der Bildung kann man doch nicht hinnehmen. Sie muss endlich beseitigt werden.
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Ich finde es schon krass, dass mittlerweile so viele Jahre ins Land gegangen sind, in denen über diese Missstände nur gesprochen wurde. Es ist ja nichts völlig Neues, was ich hier vortrage. Keine der letzten Regierungen, auch nicht die Große Koalition, hat hier gegengesteuert oder den Willen gezeigt, diesen Trend wirklich umzukehren. Deswegen sagen wir: Es ist höchste Zeit, das BAföG ganz grundlegend zu überarbeiten und anzupassen.
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Wir sagen: Das BAföG muss armutsfest werden. Studium und Ausbildung dürfen nicht mehr vom Geldbeutel der Eltern abhängen. Das ist doch wirklich das Mindeste, was man in einer demokratischen Gesellschaft erwarten kann.
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Kolleginnen und Kollegen, wer heute studiert, lebt in der Regel deutlich unterhalb der Armutsgrenze. Das ist die Situation. Fast 70 Prozent der Studierenden arbeiten neben dem Studium, um das Studium und den Lebensunterhalt abzusichern. Stress und psychische Erkrankungen haben enorm zugenommen. Studierende stehen heute unter einem gewaltigen Zeit- und Leistungsdruck, der noch dadurch verschärft wird, dass sie kaum wissen, wie sie Rechnungen und Miete bezahlen sollen. Das ist eine völlig widersinnige Situation, die sich im Übrigen auch durch hohe Abbruchquoten und lange Studienzeiten ausdrückt. Diese Situation ist auch für die Hochschulen völlig kontraproduktiv. In einem reichen Land wie Deutschland
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ist das einfach nur unwürdig und überflüssig.
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Ich will eines ganz deutlich sagen: Die momentane BAföG-Praxis ist alles andere als verfassungskonform. Sie verstößt gegen Artikel 1 des Grundgesetzes, der die Würde des Menschen schützt und aus dem sich das soziokulturelle Existenzminimum ableitet. Außerdem verstößt sie gegen Artikel 20 des Grundgesetzes, weil die Bundesrepublik als sozialer Rechtsstaat verpflichtet ist, jeder und jedem ein menschenwürdiges Existenzminimum zu garantieren. Das BAföG ist eine Sozialleistung, es erfüllt aber nicht einmal die Mindestanforderungen; denn die Fördersätze liegen noch unter denen von Hartz IV. Deswegen versagt das BAföG auch hinsichtlich Artikel 12 des Grundgesetzes, der das Recht auf freie Berufs- und Ausbildungswahl gewährleistet. Wir als Linke sagen daher: Es ist Zeit für eine Reform des BAföG, die es endlich in Einklang mit dem Grundgesetz bringt.
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Viele Verbände fordern seit Jahren ein BAföG, das die realen Lebenshaltungskosten der Studierenden abdeckt. Auch die Grünen haben vor kurzem begrüßenswerterweise eine Erhöhung des BAföG beantragt. Aber ein bedarfsdeckendes BAföG muss dann auch die tatsächlichen Kosten in den Blick nehmen. Die Mieten sind gerade in den Hochschulstädten in den letzten Jahren explodiert. Zeigen Sie mir doch den Studierenden, der von 250 Euro seine Miete bezahlen kann. Den gibt es doch gar nicht mehr. Und zeigen Sie mir einen Studi, der oder die von 399 Euro Grundbedarf leben und studieren kann, also davon Essen, Strom, Kleidung, Telefon, Beförderung, ein Notebook, Bücher, Semestergebühren und Kopierkosten bezahlen kann. Kolleginnen und Kollegen, diese Studierenden gibt es nicht. Das ist die Situation, und das wissen auch alle hier im Raum. Dieser Zustand ist wirklich völlig absurd. Also lassen Sie uns endlich etwas daran ändern.
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Wir sagen: 1 050 Euro netto garantieren das soziokulturelle Existenzminimum. So viel sollte jeder und jede haben, der oder die einer förderfähigen Ausbildung nachgeht. Wir wollen diese Summe aber nicht nach dem Gießkannenprinzip verteilen. Vielmehr sollen wohlhabende Eltern ihren Möglichkeiten entsprechend für die Ausbildung ihrer Kinder herangezogen werden. Konkret schlagen wir vor, die Unterhaltsansprüche nach BGB direkt auf den BAföG-Anspruch anzurechnen und dafür die Berücksichtigung des Elterneinkommens im BAföG abzuschaffen. Wir wollen die antragstellenden Studierenden von dem Druck entlasten, Unterhaltsansprüche gegenüber ihren Eltern notfalls gerichtlich durchsetzen zu müssen. Wir wollen diese Ansprüche – ähnlich wie beim Unterhaltsvorschuss – an das zuständige Amt übergehen lassen.
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Wir wollen, dass die Entscheidungen der jungen Menschen weder am Geldbeutel noch am Willen ihrer Eltern scheitern. So viel Freiheit und Selbstbestimmung stehen jedem jungen Menschen zu.
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Kolleginnen und Kollegen, es ist höchste Zeit für mehr soziale Gerechtigkeit in der Bildung. Also, machen Sie den Weg frei für bessere Perspektiven für junge Menschen. Erfüllen wir das BAföG endlich mit neuem Leben.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Katrin Staffler das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Das ist heute meine zweite Rede im Deutschen Bundestag, und zum zweiten Mal geht es um das Thema BAföG. Ich will mich nicht beschweren, um Gottes willen. Ich finde das eigentlich ganz positiv.
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Ich habe das einmal nachgezählt: In der vergangenen Legislaturperiode haben Sie von den Linken und von Bündnis 90/Die Grünen insgesamt vier Anträge zum Thema BAföG gestellt.
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Das bedeutet also für diese Legislaturperiode Halbzeit. – Scherz beiseite! Dafür ist das Thema zu wichtig.
Die Forderungen, die Sie aufstellen, werden durch bloßes Wiederholen – immer und immer wieder – nicht besser.
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Die Anträge, die Sie produzieren, sind bestenfalls parlamentarische Ladenhüter, und das aus gutem Grund. In Ihrem Antrag stützen Sie sich auf die 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks. In der Zeit der Befragung, im Sommersemester 2016, galt noch das BAföG in der alten Fassung, in der Fassung von 2011. Das heißt, die Ergebnisse dieser Befragung bilden die Veränderungen, die wir durch die BAföG-Novelle in 2015 vorgenommen haben, noch gar nicht ab. Was wir brauchen, sind neue Zahlen. Die liegen im Moment aber noch nicht vor.
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Vielleicht können wir uns heute wenigstens darauf einigen, dass es überhaupt nicht zielführend ist, wenn wir auf Basis von alten Zahlen diskutieren.
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Mir kommt es so vor, als würden Sie die letzte BAföG-Reform von 2015 komplett ignorieren. Das ist aber, ehrlich gesagt, auch kein Wunder. Denn wenn Sie akzeptieren würden, dass es durch die Novelle zu spürbaren Verbesserungen für unsere Studierenden gekommen ist, dann könnten wir uns heute vielleicht mit Anträgen beschäftigen, denen ein tatsächlicher Erkenntnisgewinn innewohnt, statt mit den alten Zöpfen, über die wir hier schon sehr lange diskutieren.
In Ihrem Antrag schreiben Sie, dass das BAföG seinem Zweck, nämlich soziale Zugangsbarrieren zu einem Hochschulstudium zu beseitigen, überhaupt nicht mehr gerecht werden würde.
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Wenn wir diesen Gedanken weiterführen, was bedeutet denn das? Das würde bedeuten, dass es deswegen heute weniger junge Menschen geben müsste, die studieren.
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Aber genau das Gegenteil ist der Fall: Zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat es so viele junge Menschen gegeben, die ein Studium begonnen haben.
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Im letzten Wintersemester gab es mehr als 2,8 Millionen Studierende. Ich glaube, das spricht eine sehr, sehr deutliche Sprache.
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Bevor Sie behaupten, dass die jungen Menschen, von denen ich spreche, vorrangig aus einkommensstarken Familien kommen, werfen wir doch einmal einen Blick in die 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, also in die Erhebung, auf der Ihr Antrag basiert. Darin steht deutlich geschrieben, dass eine soziale Öffnung in den Universitäten durchaus sichtbar ist. In Fachhochschulen stammt sogar die Mehrheit der Studierenden aus einem nichtakademischen Elternhaus. Außerdem kommt die Umfrage des Studentenwerks zu dem Ergebnis, dass das BAföG für die große Mehrheit der Geförderten sogar eine Grundvoraussetzung dafür ist, überhaupt studieren zu können. Das BAföG wird also seiner Aufgabe – ganz entgegen den Behauptungen, die Sie aufstellen – nach wie vor und immer noch durchaus gerecht.
Sie sprechen in Ihrem Antrag außerdem davon, dass die Erwerbstätigkeit neben dem Studium eine enorme Belastung darstellen würde. Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine kurze persönliche Bemerkung: Wie wahrscheinlich nicht wenige in diesem Hohen Hause habe auch ich während des Studiums gejobbt. Wir alle können uns die Frage stellen: War das eine unzumutbare Belastung? Nein. Ich habe dadurch zum Beispiel gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Ich habe gelernt, was es heißt, sich Dinge selbstständig erarbeiten zu müssen.
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Kollegin Staffler, Entschuldigung. Ich habe die Uhr gerade angehalten. Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Gohlke?
Nein.
Ich war außerdem ein bisschen überrascht, in Ihrem Antrag zu lesen, dass das Arbeiten während des Studiums die Zahl der Studienabbrüche erhöhen würde. Es gibt eine Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung aus dem vergangenen Jahr. Nach dieser Erhebung spielen finanzielle Engpässe und die schwierige Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Studium bei Studienabbrüchen nur eine nachranginge Rolle. Sie stellen in Ihrem Antrag also Behauptungen auf, die jeder nachweisbaren Grundlage komplett entbehren.
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Bertolt Brecht würde Ihnen an dieser Stelle wahrscheinlich raten: Wer A sagt, der muss nicht auch B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.
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Lassen Sie mich jetzt zu den Forderungen in Ihrem Antrag kommen. Sie sind aus meiner Sicht so realitätsfern, wie sie kaum realitätsferner sein könnten. Sie fordern, die Ausbildungsförderung als elternunabhängigen und rückzahlungsfreien Vollzuschuss zu gewähren. Ich gebe Ihnen gerne eine kleine Nachhilfestunde – ich habe das schon beim letzten Mal getan –: Das BAföG ist qua definitionem eine Sozialleistung, und zwar für all diejenigen, deren Eltern sich das Studium ihrer Kinder nicht vollständig oder gar nicht leisten können. Würde man das BAföG vom Einkommen der Eltern loslösen, würde es sein ursprüngliches Ziel doch endgültig verfehlen.
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Das BAföG darf kein bedingungsloses Grundeinkommen und kein Rundum-sorglos-Paket für die Studierenden werden. Das ist aber genau das, was Sie in Ihrem Antrag fordern.
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Gleiche Bildungschancen für alle – mit diesem Ziel wurde das Bundesausbildungsförderungsgesetz 1971 vom Bundestag verabschiedet. Ich frage Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Ist es denn sozial gerecht, wenn alle Studierenden eine staatliche Ausbildungsfinanzierung bekommen, wenn dadurch Steuererhöhungen notwendig werden oder das auf Kosten anderer wichtiger Bildungsprojekte geht? Helfen wir damit wirklich denjenigen, die tatsächlich auf die Ausbildungsförderung angewiesen sind? Glauben Sie das wirklich?
Frau Kollegin, ich habe noch einmal die Uhr angehalten. Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Kipping?
Nein, danke.
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Echte Gerechtigkeit ist aus meiner Sicht, dass wir die fördern, die es wirklich brauchen. Deshalb stehen wir zum BAföG, und wir tun das auch ganz klar im Koalitionsvertrag. Wir brauchen Anpassungen – ich glaube, das ist unbestritten –, aber sie müssen bedarfsgerecht sein und auf Fakten beruhen. Dazu brauchen wir entsprechende Analysen. Diese müssen wir bewerten, und dann können wir die notwendigen Schritte gehen. Die dynamischen Anpassungen, die Sie in Ihrem Antrag fordern, wird es aus diesem Grund mit uns nicht geben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bildung ist der Schlüssel für eine lebenswerte Zukunft. Das BAföG trägt maßgeblich zu mehr Bildungsgerechtigkeit in unserem Land bei. Deswegen lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass das BAföG auch weiterhin den Bedürfnissen der Studierenden gerecht wird, aber bitte schön auf eine sachliche, faktenbasierte und vernünftige Art und Weise.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Götz Frömming für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bildung, Bildung, immer wieder Bildung:
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Das Wort hat einen guten Klang, und es nimmt nicht Wunder, dass die Vertreter aller Parteien besonders gerne vor den Wahlen nach mehr Bildung rufen.
Gemeint ist dabei je nach Couleur aber etwas anderes. Die einen denken bei Bildung in Wahrheit an Ausbildung, die anderen glauben, dass mehr Geld automatisch zu mehr Bildung führen würde. So scheint es auch im vorliegenden Antrag der Linken zu sein.
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Dieser Antrag hat – ähnlich übrigens wie der Antrag der Grünen, den wir hier im Hohen Hause vor einiger Zeit diskutiert haben – wenig mit Bildung zu tun, aber viel mit Geld, genauer: mit einer massiven Erhöhung der Sozialleistungen für Studenten.
Es ist ja grundsätzlich richtig, dass das BAföG weiterentwickelt werden muss. Da sind wir bei Ihnen – und ich glaube, auch alle hier zusammen. Die Zuwendungssätze sollen steigen, wenn auch die Lebenshaltungskosten steigen. Die Linke schießt mit dem hier vorliegenden Antrag aber weit über das Ziel hinaus. Ich zitiere dazu aus dem BAföG-Bericht der Bundesregierung:
Die Anhebungen der Bedarfssätze durch das 22. und 23. BAföGÄndG erfolgten also in deutlich stärkerem Ausmaß, als die Entwicklung des Preisindexes es erfordert hätte.
Von einer angeblich drohenden Studentenarmut, wie Sie es nahelegen, kann also zumindest mit Verweis auf das BAföG nicht seriös gesprochen werden.
Wenn man die einzelnen Forderungen aus dem Antrag im Zusammenhang betrachtet, erkennt man, dass es Ihnen offensichtlich um mehr als um eine Weiterentwicklung der Bedarfssätze geht. Sie scheinen so etwas – das wurde vorhin schon angedeutet – wie ein bedingungsloses Grundeinkommen für Studenten anzustreben. Das aber ist mit der AfD-Fraktion nicht zu machen – und ich vermute, mit der Mehrheit in diesem Hause auch nicht.
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Sie begründen den Antrag mit der These, dass Studenten in Deutschland von Armut bedroht seien. Dabei beziehen Sie sich auch auf den sogenannten relativen Armutsbegriff, ohne dies freilich in Ihrem Antrag selbst zu sagen. Sie vergleichen also das Einkommen der Studenten, das im Durchschnitt – Sie schreiben es selbst – über 900 Euro liegt, mit dem aller übrigen Bürger und nicht, was näherliegen würde, mit dem anderer Auszubildenden. Mit Verlaub: Das nenne ich, Äpfel mit Birnen zu vergleichen.
Sie können doch nicht Studenten mit Arbeitnehmern vergleichen oder sie in Bezug zueinander setzen, die über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen und voll im Beruf stehen. Studenten sind junge Menschen, und junge Menschen befinden sich immer im unteren Bereich der Einkommensverteilung, weil sie jung sind bzw. sich in Ausbildung befinden oder eben am Anfang ihrer Karriere stehen.
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Dass Studenten relativ – nicht absolut – arm sind, ist daher völlig normal. Ihr Armutsbegriff ist purer Populismus.
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Nach den Punkten II 1. und 8. des Antrages wollen Sie das BAföG unabhängig vom Einkommen der Eltern oder des Ehegatten bzw. der Ehegattin als „rückzahlungsfreien Vollzuschuss“ gewähren. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.
({5})
Frau Gohlke, Sie haben in Ihrer Rede vorhin gesagt, dass das Ganze offensichtlich gar nicht so durchgeführt werden soll. Vielleicht sollten wir darüber einmal im Ausschuss reden. Jedenfalls haben Sie den Punkt, der im Antrag steht, relativiert. Ich hoffe, es ist Ihnen klar, dass das Geld, das beim BAföG verteilt wird, von der arbeitenden Bevölkerung erst einmal erwirtschaftet werden muss.
({6})
Der Zusammenhalt und die Verantwortung füreinander in einer Familie oder unter Eheleuten soll nach den Plänen der Linken bei der Berechnung des BAföG also keine Rolle mehr spielen. Familien und die klassische Ehe zwischen Mann und Frau sind seit jeher konservative Bollwerke gegen staatliche Menschheitsbeglückungen und Gleichmacherei aller Art. Sie finden das problematisch, wir finden das gut.
({7})
Aber nicht nur der Armutsbegriff, sondern auch der im Antrag unterstellte Bildungsbegriff ist falsch. Sie schreiben in der Begründung – ich zitiere –: „Der freie Zugang zu Bildung ist ein Menschenrecht.“ Das klingt ja so, als wäre der Zugang zu Bildung bei uns nicht frei und als würden die Menschenrechte verletzt, weil die BAföG-Sätze zu niedrig seien.
Bildung, meine Damen und Herren, ist nicht nur ein Recht und ein Anspruch an Dritte, sondern auch eine Verpflichtung; die Verpflichtung eines jeden Menschen an sich selbst. Der Zugang zu den Hochschulen steht bei uns jedem offen, der die dafür nötige Qualifikation erworben hat. Es gibt aber kein Menschenrecht auf einen Universitätsabschluss und auf staatliche Rundumversorgung.
({8})
Fazit: Der vorliegende Antrag ist ungerecht, weltfremd und geht an der eigentlichen Sache vorbei.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Vor inzwischen fast 50 Jahren haben wir Sozialdemokraten und unser damaliger Kanzler Willy Brandt das Bundesausbildungsförderungsgesetz eingeführt.
({0})
Dafür bin ich meiner Partei dankbar.
({1})
Aber es reicht selbstverständlich nicht aus, hier im Bundestag den Geist von Willy Brandt nur zu beschwören.
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Unser Handeln sollte diesem Geist stetig gerecht werden. Darum haben wir auch in der vergangenen Legislatur, Frau Gohlke, mit der 25. BAföG-Novelle die Leistungen für Studierende sowie Schülerinnen und Schüler deutlich ausgebaut und substanziell verbessert. Das waren wieder einmal entscheidende Schritte zu mehr Bildungsgerechtigkeit.
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Und – das wissen Sie hier alle auch – auf Vorschlag und Drängen der SPD-Fraktion und der SPD als Partei haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, dass es noch in dieser Legislaturperiode eine weitere BAföG-Reform geben wird. Darum freue ich mich ehrlich, dass wir die Debatte heute mit einem Antrag der Linken, also aus der Opposition heraus, schon einmal beginnen können.
Wir haben – das sage ich ganz ehrlich – Sympathien für einige Ihrer Vorschläge. Aber ich muss zunächst einmal meine Verwunderung über die Basis Ihres Antrags zum Ausdruck bringen. Ihre Empörung in allen Ehren, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken: Sie schlagen uns eine Reform der Ausbildungsförderung vor und stützen Ihre Argumente munter auf die Ergebnisse der 21. Sozialerhebung. Das passt nicht.
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Wieso nicht? Weil der Erhebungszeitraum des Deutschen Studentenwerks das Sommersemester 2016 war. Das 25. BAföG-Änderungsgesetz trat aber erst zum Wintersemester 2016/2017 in Kraft. Dementsprechend beschreiben die Befunde die Situation unmittelbar vor der letzten Novelle. Das lässt Ihren Antrag zwar gut gemeint wirken; er ist aber leider, ehrlich gesagt, schlecht gemacht.
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Meine Damen und Herren, wir werden das BAföG in der Großen Koalition reformieren. Wenn wir den noch in diesem Jahr erwarteten 22. Bericht der Bundesregierung zur Überprüfung der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge vorliegen haben, dann können wir erstmals die Wirkungen der 25. BAföG-Novelle und die damit verbundene Einkommens- und Lebenssituation der Studierenden analysieren.
Frau Kollegin.
Dann werden wir ein realistisches aktuelles Bild zur Beurteilung der Gesamtlage der Auszubildenden in Deutschland haben, und dann machen wir uns sofort an die Arbeit.
({0})
Kollegin Esdar, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Gohlke?
Nein. – Im Koalitionsvertrag haben wir gemeinsam mit der Union verabredet, das Ausbildungsförderungsgesetz des Bundes auszubauen und die Leistungen deutlich zu verbessern. Unser gemeinsames Ziel ist es, die Förderbedürftigen besser zu erreichen und bis zum Jahr 2021 eine Trendumkehr bei der Anzahl der Geförderten zu schaffen. Höhere Einkommensgrenzen, die Anhebung der Altersgrenzen sowie flexible Förderansprüche für Teilzeitstudien und Weiterbildungsmaster sind nur einige der sozialdemokratischen Antworten auf die Reform. Soziales und politisches Engagement wollen wir zudem stärker bei der Förderung berücksichtigen. Wir haben 1 Milliarde Euro zusätzlich für die BAföG-Reform im Koalitionsvertrag veranschlagt.
Um es deutlich zu sagen: Die nächste BAföG-Novelle, Kolleginnen und Kollegen, soll so rechtzeitig kommen, dass sie noch in der aktuellen Legislatur ihre Wirkung entfalten kann.
({0})
Dafür werden wir als Sozialdemokratie sorgen.
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Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir werden das BAföG weiter fit für die Zukunft machen, und wir werden als SPD-Fraktion in der Großen Koalition der Motor für die kommende BAföG-Reform sein. Darauf können auch Sie in der Opposition sich verlassen.
Herzlichen Dank.
({2})
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Nicole Gohlke das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich versuche es jetzt auf diesem Weg, nachdem leider alle meine Zwischenfragen abgewiesen wurden.
({0})
– Ja, genau. Ich weiß nicht, ob es hier Angst gibt. Aber ich tue mich tatsächlich ein bisschen schwer, die Euphorie über die letzte BAföG-Novelle, die Sie gerade in Ihrer Rede versprüht haben, zu teilen.
Sie haben mir vorgeworfen, ich hätte empört Zahlen vorgetragen. Diese Zahlen kommen nicht von uns. Das sind keine Zahlen, die sich Die Linke ausgedacht hat. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung zum Beispiel nennt Auszubildende und Studierende – Zitat – „arm, wenn sie nicht im elterlichen Haushalt wohnen“ können. Ob sie aber bei den Eltern wohnen können, entscheiden sie größtenteils nicht selbst, sondern es kommt darauf an, wo sie einen Ausbildungs- oder Studienplatz bekommen.
Die letzte BAföG-Novelle haben Sie zwar 2015 verabschiedet, aber im Grunde ist sie erst 2017 wirklich in Kraft getreten, also ganz kurz vor den Wahlen. Die BAföG-Anhebung kam viel zu spät und war viel zu gering. Man weiß jetzt, dass sie letztlich gerade einmal den Kaufkraftverlust durch Inflation seit der letzten Anpassung ausgeglichen hat.
Im gleichen Zeitraum sind aber die Mieten in den Hochschulstädten gestiegen, und zwar um bis zu 48 Prozent. Also kann man festhalten, dass Ihre BAföG-Novelle nicht einmal das ausgeglichen hat. Sogar schon vorher – das hat die SPD selber gesagt – war das BAföG eigentlich zu niedrig, und eine Novelle tat dringend not.
Herr Schulz, Sie haben auf dem Parteitag der SPD im Sommer das Wahlversprechen verkündet, das BAföG müsse endlich bedarfsdeckend sein.
({1})
Wir bringen jetzt den Entwurf eines bedarfsdeckenden BAföG ein, bei dem wir uns an den tatsächlichen Zahlungsverpflichtungen der Studierenden bzw. an den tatsächlichen Mieten orientieren statt an irgendwelchen Sachen, die man sich aussucht. Sie aber werfen uns vor, das sei eine große Empörungsnummer; die Zahlen seien sonst woher geholt und das sei eine utopische Forderung. Dann frage ich mich: Wie kommen Sie selber darauf, im Wahlkampf ein bedarfsdeckendes BAföG zu fordern?
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Danke, Kollegin Gohlke. – Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Frau Kollegin Gohlke, darauf gehe ich gerne ein. Zum einen: Lesen Sie Ihren Antrag! Sie beziehen sich auf Zahlen, die vor dem Inkrafttreten der letzten BAföG-Novelle erhoben wurden. Man muss, glaube ich, schon so ehrlich sein, die richtigen Zahlen zu nehmen. Das ist das Erste.
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Zweitens. Ich greife das studentische Wohnen als Beispiel auf. Dazu haben Sie in Ihrem Antrag einen konkreten Vorschlag gemacht. Sie wollen sich bei den Mietbedarfssätzen am Mietpreisspiegel orientieren. Ehrlich gesagt ist an dieser Stelle ein bisschen mehr Fingerspitzengefühl gefragt. Wenn wir ein Gesetzesvorhaben machen, dann müssen wir uns auch fragen, welche Auswirkungen es hat. Um konkret auf diesen Punkt einzugehen: Wenn Sie die Mietbedarfssätze an den Mietspiegel anpassen wollen, dann müssen wir zuerst berücksichtigen, dass niedrige Mieten für manche Hochschulstandorte durchaus ein Attraktivitätsfaktor sein können. Wir wollen die Bedarfssätze für das studentische Wohnen zugunsten aller Studierenden anheben; denn sonst ist zu befürchten, dass es zu Verwerfungen bei den Hochschulstandorten kommt, was die Attraktivität angeht.
Drittens. Sie würden mit Ihrem Vorschlag den BAföG-Ämtern unendlich viel mehr Bürokratie zumuten. Das führte als Erstes dazu, dass sich die Bewilligungszeiten wesentlich verlängerten. Wir möchten die BAföG-Reform so ausgestalten, dass das Geld nicht in der Bürokratie versickert, sondern direkt bei den Studierenden ankommt.
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Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Es ist einfach, in der Opposition ganz viele Sachen zu fordern. Wir werden uns, wenn die Situation durch aktuelle Zahlen belegt ist, alle Vorschläge anschauen und dahin gehend prüfen, ob sie zu Auswüchsen der Bürokratie und Verwerfungen zwischen den Hochschulstandorten führen. Wir sind sehr zuversichtlich, eine gute BAföG-Reform hinzubekommen. Wie ich vorhin erwähnt habe, haben wir 1 Milliarde Euro dafür eingestellt. Das ist kein Pappenstiel, sondern ein sehr guter Beitrag.
Danke schön.
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Der nächste Redner ist Dr. Jens Brandenburg für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon merkwürdig, dass wir Bildungspolitiker über diesen Antrag der Linksfraktion diskutieren; denn im Kern geht es Ihnen gar nicht um eine Verbesserung der Ausbildungsqualität oder bessere Aufstiegschancen.
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Nein, stattdessen fordern Sie ein bedingungsloses Grundeinkommen für angehende Akademiker. Es ist bemerkenswert, dass Sie Ihre Vision eines staatlich geförderten Rundum-sorglos-Pakets – das müssen natürlich andere bezahlen – als Erstes ausgerechnet denen zugutekommen lassen wollen, die im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen ohnehin ein deutlich höheres Lebenseinkommen vor sich haben. So verdient schon ein Fachhochschulabsolvent im Schnitt 1 100 Euro im Monat mehr als jemand ohne berufsqualifizierenden Abschluss.
Im Antragstitel kündigen Sie nun eine armutsfeste Ausbildungsförderung an. Dabei ist doch die härteste Form der Armut in Deutschland die Perspektivlosigkeit, wenn beispielsweise der Bezug von Hartz IV in manchen Familien von einer Generation zur nächsten vererbt wird, wenn sie sich nicht aus eigener Kraft aus dieser Lage herausarbeiten können, weil ihnen zum Beispiel die persönlichen Netzwerke fehlen, ein Umfeld, das regelmäßig anspornt und motiviert, wenn sie vor lauter Sorgen im Alltag vielleicht auch keinen Fuß fassen können. Indem Sie nun über die Hälfte der Studierenden in das Zentrum der Armutsdebatte rücken, also ausgerechnet diejenigen, die in aller Regel hervorragende Perspektiven haben, erweisen Sie den dringend hilfsbedürftigen Menschen ohne reale Aufstiegsperspektiven einen Bärendienst.
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Sie fordern hier gar kein Chancenprogramm zur gezielten Armutsbekämpfung, sondern eine finanzielle Rundumversorgung für künftige Gutverdiener: 100 Prozent rückzahlungsfrei, eine Entlastung also gerade dann, wenn das hohe Einkommen verfügbar wäre. Nicht einmal ein möglicherweise hohes Einkommen des Ehepartners würden Sie für eine Art Eigenbeteiligung heranziehen. Stehen Sie doch wenigstens einmal dazu!
Dann verspricht Ihr Antrag etwas Festes. Über 30 Milliarden Euro kostet Ihr Wunschzettel allein im Bereich der Studierenden. Das ist der zweifache Etat des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. So schnell kann Ihnen noch nicht einmal Sahra Wagenknecht das Geld aus der Tasche ziehen.
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Das System kollabiert doch spätestens dann, wenn Sie irgendwann feststellen, dass irgendwer diese Rechnung bezahlen muss. Was daran fest sein soll, das bleibt Ihr Geheimnis. Für den sozialen Frieden leisten Sie damit jedenfalls keinen Mehrwert.
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Dann erwähnen Sie eine Ausbildungsförderung. Der jüngste BAföG-Bericht macht sehr deutlich: Ja, es gibt Handlungsbedarf. Besonders stark ist die Förderquote ausgerechnet in bildungsfernen Familien gesunken. Zeitaufwendige Nebenjobs belasten übrigens vor allem diejenigen Studierenden, die bisher gar kein BAföG erhalten. Also nicht die uferlosen Bedarfssätze, sondern vor allen Dingen eine höhere Förderquote ist das, worauf es jetzt als oberstes Ziel ankommt.
Wir Freie Demokraten wollen junge Erwachsene als eigenständige Persönlichkeiten behandeln. Deshalb fordern wir ein elternunabhängiges BAföG, das – im Gegensatz zu Ihrem bedingungslosen Grundeinkommen – einerseits aus einem gegenfinanzierten Vollzuschuss und auf der anderen Seite auf Wunsch aus einem zinsgünstigen Darlehen besteht, das später einkommensabhängig zurückgezahlt wird. So schaffen wir effektiv einen Zugang zu guter Bildung, unabhängig von der finanziellen Unterstützungskraft und manchmal eben auch Unterstützungsbereitschaft der Eltern.
Weltbeste Bildung für jeden, unabhängig von der sozialen Herkunft,
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dafür werden wir Freie Demokraten weiterkämpfen. Ich freue mich sehr auf die Diskussion mit Ihnen im Ausschuss.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Kai Gehring das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Grüne im Bundestag haben wir unser BAföG-Paket im Februar dieses Jahres vorgelegt, um das BAföG wieder zum Bildungsgerechtigkeitsgesetz Nummer eins zu entwickeln. Jetzt zieht die Linksfraktion nach. Das ist wichtig und richtig; denn die Studienfinanzierung hängt ganz schön in den Seilen. Das belegt vor allem der BAföG-Bericht von Dezember 2017: dass die letzte Novelle voll verpufft ist. Das ist ein Armutszeugnis für die letzte GroKo.
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Wenn Union und SPD so lahm weitermachen wie bisher, droht das BAföG gänzlich abzustürzen. Darum wollen wir eine 180‑Grad-Wende. Das BAföG muss wieder fitgemacht werden, bedarfsdeckend und armutsfest sein und endlich deutlich mehr Studierende und Schüler erreichen. Es darf in unserem wohlhabenden Land und auch Sozialstaat einfach nicht mehr vorkommen, dass ein Studium an Geld scheitert oder dass junge Leute aus Sorge vor Verschuldung von vornherein auf ein Studium verzichten. Unser Land lebt von gut ausgebildeten Menschen. Deswegen wollen wir Vorfahrt für Bildungsaufstieg.
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Doch was macht die alte neue GroKo: Es gibt folgenlose Lippenbekenntnisse. „Leistung und Talent“ sollen „über die persönliche Zukunft entscheiden, nicht die soziale Herkunft“, so heißt es im Koalitionsvertrag.
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Das ist richtig. Mit der Umsetzung ist dann aber erst einmal wieder Pustekuchen. So schnell werde das nichts mit einer BAföG-Erhöhung, sagt Bildungsministerin Karliczek in Interviews.
Aber so leicht geben wir nicht nach. Das BAföG muss rauf, und zwar sofort.
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Wer aus einer Familie kommt, die einkommensarm ist oder in der noch nie zuvor jemand studiert hat, der braucht Ermutigung und Unterstützung, um sich für ein Studium zu entscheiden, ideell wie finanziell. In so einer Ausgangslage braucht man gute Beratung, beste Studienbedingungen und statt studienzeitverlängernder studentischer Nebenjobs ein BAföG, das zum Leben reicht.
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Wir müssen beim BAföG schneller handeln. Zuerst braucht es eine sofortige Reparaturnovelle, die zu diesem Wintersemester greift. Geht es nach uns Grünen, müssen die Fördersätze und Freibeträge vom Einkommen der Eltern sofort um mindestens 10 Prozent steigen.
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Auch wollen wir die BAföG-Sätze künftig regelmäßig automatisch und damit planbar für alle erhöhen. Diese Änderungen bringen einen schnellen Schub, damit wieder mehr als die kläglichen 18 Prozent der Studierenden vom BAföG profitieren.
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Nicht einmal ein Fünftel aller Studierenden bekommt noch BAföG,
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und darum brauchen wir nach der schnellen Reparaturnovelle ein grundlegendes Update der Studienfinanzierung, das klotzt statt kleckert. Mehr Elternunabhängigkeit ist uns da auch wichtig. Wir wollen, dass alle Studierenden eine Basissicherung unabhängig vom Elterneinkommen erhalten, indem Kindergeld und Kinderfreibeträge künftig direkt an die studierenden Kinder gehen.
Das andere Standbein unseres Zwei-Säulen-Modells ist der Bedarfszuschuss als starke soziale Komponente. Diesen Zuschuss können Studis aus ärmeren Familien beantragen, und beide Zuschüsse müssen nicht zurückgezahlt werden, sodass mit dem Zwei-Säulen-Modell die Angst vor Verschuldung der Vergangenheit angehören wird.
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Gleichzeitig sichert der Bedarfszuschuss, dass zielgenau diejenigen unterstützt werden, die es von zu Hause aus nicht so dicke haben. Das wäre gerecht, innovativ und ein großer Wurf für Bildungsteilhabe.
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Dem Vorschlag, den die Linken hier vorlegen, fehlt diese Zielgenauigkeit. Warum will die Linksfraktion einem Studenten, der von seinen Eltern ein Auto oder eine Eigentumswohnung geschenkt bekommt, genauso 1 200 Euro überweisen wie einer Studentin aus einem Hartz‑IV-Haushalt?
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Das leuchtet überhaupt nicht ein. Söhne und Töchter reicher Eltern brauchen das nicht. Studierende armer oder Mittelschichtseltern brauchen’s. Privilegierte mit Milliarden weiter zu privilegieren – das lehnen wir als Grüne im Bundestag ab.
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Diese krasse soziale Schieflage im deutschen Bildungssystem aufzulösen, hat für uns oberste Priorität, und es ist allerhöchste Zeit, für Studierende und Schüler eine Trendwende für Bildungsgerechtigkeit zu schaffen und potenzielle Bildungsaufsteigerinnen und Bildungsaufsteiger zu erreichen.
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Ich frage mich, wann wir endlich über die Novelle der Großen Koalition reden, die Sie heute schon wieder angekündigt haben. Union und SPD müssen zackig und deutlich liefern, statt folgenlose Bekenntnisse abzugeben. Hören Sie auf die Opposition als Wegweiser! Die Studierenden im Land müssen raus aus der Warteschleife.
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Ich verstehe sehr wohl das Fragebedürfnis, auch aus der antragstellenden Fraktion, aber wir nehmen die Ausschussberatung jetzt nicht vorweg. Im Ausschuss können Sie die Fragen des Kollegen Gehring sicherlich beantworten; die können dort einfließen.
Zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag hat nun die Kollegin Dr. Astrid Mannes für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Januar dieses Jahres hat die Bundesregierung die Fragen der Fraktion Die Linke, die in den vorliegenden Antrag eingeflossen sind, bereits ausführlich beantwortet. Im März dieses Jahres hat sich der Bundestag erneut intensiv mit dem Thema BAföG auseinandergesetzt. Die Regierungsparteien haben sich im Koalitionsvertrag bereits auf einen weiteren Ausbau im Bereich des BAföGs verständigt und werden zusätzliche Mittel bereitstellen – und dies, nachdem die Bundesregierung in drei Stufen das BAföG seit 2015 beispiellos reformiert hat und seitdem auch dauerhaft den Finanzierungsanteil der Länder übernommen hat.
Zum Antrag. Zunächst einmal ist es nicht beklagenswert, sondern positiv, dass weniger Studenten BAföG beantragen, dass weniger die Antragskriterien erfüllen. Wären die Zahlen anders, nämlich steigend, dann würden Sie von der Linkspartei uns hier in eine Armutsdebatte verstricken. Sie sollten sich also freuen, dass es immer mehr Menschen in unserem Land wirtschaftlich so gut geht und weniger Studenten auf staatliche Unterstützung angewiesen sind.
({0})
Sie behaupten, dass die Studenten mit dem BAföG nicht auskommen können, weshalb sie nebenher arbeiten müssten; dies führe dann zu überlangen Studienzeiten und erhöhe die Zahl der Studienabbrüche. Sie beklagen, dass im derzeitigen BAföG-Satz nur 250 Euro für die Unterkunft angesetzt sind, was nicht auskömmlich sei, und fordern eine drastische Erhöhung.
Die durchschnittliche Bruttowarmmiete in den deutschen Studentenwohnheimen
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beträgt laut Deutschem Studentenwerk 241 Euro.
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Wenn ich als Student also bereit bin, mich mit einem Zimmer im Studentenwohnheim zu begnügen, wie das Zigtausende von Studenten über Generationen getan und gut überstanden haben, dann sollte ich mit dem Geld hinkommen.
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Es schadet niemandem, wenn er in jungen Jahren noch Luft nach oben hat und bescheidener startet. Die Studenten-WG oder das Zimmer im Wohnheim machen doch den Charme des Studentenlebens aus.
Daher ist es auch falsch, zu fordern, das BAföG müsse in der Höhe an die Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB II angepasst werden. Die Lebenssituationen von Studenten und Beziehern von Grundleistungen sind nicht vergleichbar. Finanzielle Einschränkungen für die wenigen Jahre des Studiums sind zumutbar, weil Studierende nach erfolgreicher Beendigung ihres Studiums eine gute Einkommensperspektive haben; der Kollege Dr. Brandenburg ist darauf ja schon eingegangen.
Ebenso ist schon immer ein großer Teil der Studenten in den Semesterferien einem Ferienjob nachgegangen oder hat dauerhaft nebenher ein paar Stunden gearbeitet. Etliche haben es getan, um mehr Geld zur Verfügung zu haben, viele aber auch, um Kontakte in Betriebe zu bekommen und um ihr theoretisches Studium um erste praktische Einblicke in das Berufsleben zu ergänzen.
Wer nebenher ein paar Stunden – meist handelt es sich um einen 450-Euro-Job – arbeitet, kann immer noch im vorgesehenen Rhythmus seine Scheine machen, zumindest haben das Generationen von Studenten unter Beweis gestellt. Auch die hohe Zahl der Studienabbrecher hängt sicherlich nicht damit zusammen, dass Studenten mit wenig Geld auskommen müssen. Die Ursache liegt oftmals darin, dass wir zwar mehr Abiturienten, aber nicht mehr Bildung haben
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und dass das Abitur in vielen Bundesländern nicht mehr die Studierfähigkeit garantiert. Ein großes Thema, das aber nicht in die Kompetenz des Bundestages fällt!
Sie stellen hier große Forderungen nach einem bedingungslosen, staatlich finanzierten Einkommen von Studenten auf. Die Antwort, wie diese Mehrkosten finanziert werden sollen, bleiben Sie schuldig. Und Sie problematisieren Bereiche, die in den letzten Jahren bereits engagiert angegangen wurden.
Mit der dritten Stufe der Reform, die zum Wintersemester 2016/2017 in Kraft trat, wurden die Bedarfssätze um immerhin 7 Prozent angehoben. Auch der Wohnzuschlag wurde überproportional angepasst, ebenso wurden die Einkommensfreibeträge angehoben. Die Vereinbarkeit von Familie und Ausbildung wurde verbessert. Im aktuellen Koalitionsvertrag wurden Mittel in Höhe von 1 Milliarde Euro für den weiteren Ausbau der BAföG-Sätze verankert. Die Ministerin wird weiterhin regelmäßig die Höhe des BAföG-Satzes überprüfen und gegebenenfalls Anpassungen und Weiterentwicklungen vornehmen.
Die Kollegin Staffler hat es vorhin schon ausgeführt: Durch immer weiteres Aufwärmen Ihrer Vorstellungen werden diese nicht besser. Das Thema ist längst in der Mache. Deshalb kann ich abschließend nur sagen: Man kann bekanntlich jeden Drops nur einmal lutschen – und der Drops ist bereits gelutscht.
Ich danke Ihnen.
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Gestatten Sie mir einen kurzen Hinweis, in diesem Fall in die Reihen der Fraktion Die Linke: Es gibt sicherlich großen Debattenbedarf und viele Kontroversen – das wird sich im Ausschuss erweisen –, aber wir haben hier eine Verabredung, dass wir die erste Rede von Kolleginnen und Kollegen nicht mit Zwischenrufen, Zwischenfragen und anderen Dingen stören. Ich denke, wir können dem Diskussionsbedarf auch anders nachkommen.
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Das Wort hat der Kollege Martin Rabanus für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Mannes, meinen herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede, auch wenn ich nicht verhehlen kann, dass ich das eine oder andere in Maßen anders sehe; aber das will ich jetzt nicht problematisieren.
Ich will betonen: Jawohl, wir haben uns als Koalition darauf verständigt, eine BAföG-Reform in dieser Wahlperiode anzugehen – eine, die Substanz haben wird, eine, die Fehlentwicklungen, die wir durchaus sehen, entgegenwirken wird und die sicherlich eine entsprechende Wirkung entfalten wird. Das ist, glaube ich, am heutigen Tag die wichtige Botschaft für Studierende beim Thema BAföG.
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Was ich ein bisschen schade finde, Frau Kollegin Gohlke, ist, dass Ihr Antrag – natürlich nicht Ihre Debattenbeiträge – so unambitioniert ist.
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Er ist erwartbar. Ich habe mir mal den Spaß gemacht, den Antrag auf Drucksache 18/479 – er stammt vom Beginn der letzten Wahlperiode – herauszusuchen, der überschrieben war mit „BAföG-Reform zügig umsetzen“. Ich habe die Forderungskataloge nebeneinandergelegt: wortgleich findet man den einen oder anderen Spiegelstrich wieder.
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Man kann das so machen. Man muss das nicht so machen. Mir jedenfalls fehlt bei dieser Antragslage ein bisschen die Ernsthaftigkeit, liebe Kollegin Gohlke.
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Dann habe ich mir die Titel angesehen. Der Antrag von vor vier Jahren war überschrieben mit: „BAföG-Reform zügig umsetzen“. Der jetzige ist überschrieben mit: „Armutsfeste Ausbildungsförderung einführen“. Da habe ich gedacht: Es ist ja schon mal ein Fortschritt, mit Ausbildungsförderung ein bisschen mehr in den Blick zu nehmen. Aber als ich dann den Antrag gelesen habe, musste ich feststellen, dass tatsächlich wieder – in Anführungsstrichen – „nur“ das Bundesausbildungsförderungsgesetz und „nur“ der Teil der Studierenden adressiert sind. Dabei haben wir gerade in den letzten vier Jahren über das Thema Ausbildungsförderung und die unterschiedlichen Facetten nicht nur diskutiert, sondern dies als Koalition auch vorangebracht. Darauf, dass es mehr gibt als die Ausbildungsförderung für Studierende, hätte man in dem Antrag wenigstens eingehen können.
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Als Beispiel nenne ich die Reform des Meister- bzw. Aufstiegs-BAföG. Auch das sind wir in den letzten vier Jahren angegangen. Wir haben das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz verabschiedet. Wir haben die dafür zur Verfügung stehenden Mittel im Haushalt um etwa 30 Prozent angehoben. Wir haben substanziell etwas gemacht, nicht nur was die Höhe der Förderung angeht, sondern auch strukturell. Wenn wir schauen, wie wir Ausbildungsförderung strukturell armutsfest und vernünftig aufstellen können, dann stellen wir fest, dass wir Durchlässigkeiten organisieren müssen. Wir müssen nicht nur über die Frage reden, ob man auf 1,5 Milliarden Euro für das Studierenden-BAföG noch einmal 1,5 Milliarden Euro drauflegt, um es sozusagen zu einem Vollzuschuss zu machen. Vielmehr muss man gezielt schauen, an welchen Stellen die Systeme miteinander verschränkt werden können und wie man Ausbildungsförderung aus einem Guss hinkriegt. Man darf nicht nur auf die Studierenden schauen – bei aller Wertschätzung für das Studium und die Studierenden in Deutschland –, sondern wir müssen den Blick weiten. Das hat sich die Koalition jedenfalls vorgenommen.
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Ich würde sehr gerne den einen oder anderen Punkt noch weiter ausführen, weil natürlich nicht nur das Meister-BAföG zur Ausbildungsförderung gehört, sondern auch viele andere Punkte, die zum Teil heute Morgen bei der Diskussion über den Berufsbildungsbericht eine Rolle gespielt haben. Dazu gehören Mindestausbildungsvergütungen, Aufstiegsstipendien und die Begabtenförderung, aber auch andere Instrumente, um junge Menschen auf unterschiedlichen Ebenen und Niveaus abzuholen und ihnen eine vernünftige Ausbildungsförderung anzubieten. Das werden wir als Große Koalition in den nächsten vier Jahren voranbringen.
Herzlichen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1748 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Für viele ist Somalia immer noch ein Inbegriff für einen gescheiterten Staat. Die Bilder aus Somalia, die wir über viele Jahre gesehen haben, haben sich tief eingeprägt. Trotzdem gibt es heute vorsichtigen Anlass zur Hoffnung. Ein Baustein auf diesem Weg ist das Mandat, über das wir heute diskutieren, die Operation Atalanta, an der die Bundeswehr beteiligt ist.
Bei dieser Operation geht es um den Schutz der Seewege vor Somalia. Das ist wichtig, um dort die internationale Schifffahrt zu schützen. Aber es geht auch darum – das ist mindestens genauso wichtig –, sichere Zugangswege für humanitäre Hilfe, zum Beispiel das Welternährungsprogramm mit Lebensmittelhilfen nicht nur für Somalia, sondern auch für den Jemen, für den Südsudan oder für Äthiopien, möglich zu machen.
({0})
Es ist mir wichtig, an dieser Stelle noch einmal zu betonen: Atalanta ist Teil eines sogenannten integrierten Ansatzes; denn Ziel dieser Operation ist nicht nur der Schutz der Seewege, sondern Ziel ist es auch, letztendlich wieder tragfähige staatliche Strukturen am Horn von Afrika zu schaffen.
Der Einsatz ist eng verbunden mit anderen Missionen und Projekten in der Region. Dabei geht es um die Hilfe beim Aufbau funktionierender föderaler staatlicher Strukturen in Somalia. Es geht um den Aufbau einer nationalen Sicherheitsarchitektur; Deutschland ist dabei insbesondere am Aufbau einer föderalen Polizeistruktur beteiligt. Es geht um Küstenkontrolle und die Sicherheit der Häfen; aber es geht zum Beispiel auch darum, die vielen Flüchtlinge, die immer noch in und um Somalia leben, zu versorgen. Es geht um entwicklungspolitische Ansätze, um die Region langfristig stabilisieren zu können, und sogar um den Aufbau von Strukturen in der Berufsausbildung. Die Operation Atalanta, über die wir heute zu entscheiden haben, ist so etwas wie die Rückversicherung auf See für die umfassenden Stabilisierungsbemühungen, die es an Land gibt. Dieser Zusammenhang ist wichtig.
Ich möchte noch einen anderen Gedanken ausführen. Die Operation Atalanta, die seit zehn Jahren läuft, und die vielen anderen Stabilisierungsbemühungen in Somalia zeigen, dass es in schwierigen Konflikten oft keine schnellen Lösungen gibt. Vielmehr braucht es in der Politik einen langen Atem. Man muss an den Entwicklungen dranbleiben, wenn man etwas verändern, etwas positiv bewegen will. Man darf sich auch nicht entmutigen lassen, wenn es immer wieder Rückschläge gibt, und diese gibt es in Somalia.
Mir sind die Nachrichten vom Herbst letzten Jahres noch sehr bewusst in Erinnerung, als ein furchtbarer Anschlag 500 Todesopfer gefordert hat. Das sind Rückschläge, die manche dazu bringen, zu sagen: Das hat doch alles keinen Sinn. – Ich will an dieser Stelle sagen: Doch, es hat Sinn. Der Aufbau staatlicher Strukturen geht Schritt für Schritt voran; die Sicherheitslage verbessert sich Schritt für Schritt. Gerade die Mission auf den Seewegen hat gezeigt, dass es möglich ist, die Piraterie dort weitgehend unter Kontrolle zu bringen.
Natürlich kommen auch neue Konflikte wie die Auseinandersetzung im Jemen oder der politische Konflikt in Katar hinzu, die auf diese Region ausstrahlen und die wir mit in den Blick nehmen müssen, wenn wir Lösungen suchen. Ich bin davon überzeugt, dass die Mission, über die wir heute entscheiden, weiterhin ein wichtiger Baustein dieser Bemühungen bleibt. Es zeigen sich deutliche Fortschritte. Deshalb wird die SPD-Fraktion die Fortsetzung des Mandats unterstützen.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete René Springer für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Fast 20 000 Schiffe passieren jährlich den Golf von Aden, eine Meerenge zwischen dem Bürgerkriegsland Jemen auf der einen Seite und dem – wir haben es gerade gehört – Failed State Somalia auf der anderen Seite.
90 Prozent des Handels zwischen Europa, Afrika und Asien werden über diesen Seeweg abgewickelt. Die Sicherheit im Seegebiet vor Somalia, die Sicherheit am Horn von Afrika ist von elementarer Bedeutung für unseren Wohlstand und daher im deutschen Interesse.
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Aus diesem Grund begrüßt die AfD-Fraktion die von der Bundesregierung beantragte Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie. Aber es geht bei der Operation – auch das haben wir gerade schon gehört – nicht nur um den Schutz kommerzieller Schiffe, sondern es geht zugleich auch um den Schutz der Nahrungsmitteltransporte des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen. Daher möchte ich kurz auf den Entschließungsantrag der Linksfraktion eingehen.
Sie, meine Damen und Herren, fordern den Abzug der Bundeswehr aus diesem Einsatz. Ihre Parteiideologie ist simpel: Militär hilft nicht gegen Hunger. Aber es war gerade das Militär, das in den vergangenen Jahren dafür sorgte, dass über 1 000 Schiffsladungen mit Nahrungsmitteln des Welternährungsprogramms sicher ihre Bestimmungshäfen erreichen konnten, nämlich die von Dürrekatastrophen und Konflikten geplagten Länder Somalia, Äthiopien, Südsudan und Jemen. Angesichts dieser Zusammenhänge ist der von Ihnen geforderte Abzug der Bundeswehr vielleicht eine ideologische Glanzleistung, aber leider keine intellektuelle.
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Nein, die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Operation Atalanta ist aus wirtschaftlichen und humanitären Gründen wichtig, und die bisherigen Erfolge sprechen für sich. Zwar gibt es noch immer vereinzelte Piratenangriffe – im letzten Jahr waren es neun –, aber Jahre wie 2011, in denen es 176 Angriffe auf Schiffe und 25 Schiffsentführungen gegeben hat, gehören Gott sei Dank der Geschichte an. Dafür danken wir unseren Soldaten, die dort unten im Einsatz waren und dort unten im Einsatz sind.
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Doch sosehr wir als AfD-Fraktion den Antrag der Bundesregierung zur Bekämpfung von Piraterie begrüßen, sosehr verurteilen wir aufs Schärfste das Versagen der Bundesregierung bei der Abschiebung von mehreren verurteilten und ausreisepflichtigen somalischen Piraten.
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Erinnern wir uns: 2010 kaperten Piraten vor Somalia einen deutschen Frachter. Niederländische Spezialkräfte überwältigten zehn Somalier, die später nach Deutschland ausgeliefert und in Hamburg wegen Piraterie zu Haftstrafen verurteilt wurden. Eine Kleine Anfrage der AfD deckte nun auf, dass inzwischen alle zehn Personen aus der Haft entlassen wurden. Fünf von ihnen sind bereits vor einiger Zeit freiwillig ausgereist. Die verbliebenen fünf somalischen Piraten leben weiter in Hamburg, obwohl sie ausreisepflichtig sind. Sie leben in Hamburg und beziehen Sozialleistungen auf Kosten der Steuerzahler. Das ist ein absoluter Skandal.
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Aber selbst ein solcher Skandal ist unter dieser Bundesregierung noch steigerungsfähig; denn alle fünf Piraten sind nicht im Besitz eines Passes, da die somalische Botschaft, nur 3 Kilometer von hier entfernt, keine Pässe ausstellt.
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Ja, Sie hören richtig: Somalia, das wir seit zehn Jahren im Kampf gegen Piraterie unterstützen, wo wir Polizeikräfte ausbilden, wo deutsche Soldaten und Entwicklungshelfer ihr Leben für Sicherheit, Stabilität und Wiederaufbau riskieren, wo die Bundesregierung 237 Millionen Euro für entwicklungspolitische Maßnahmen zugesagt hat, ist nicht willens oder in der Lage, fünf Pässe auszustellen. Meine Damen und Herren, ein Land – und damit meine ich Deutschland –, das sich von der Passbehörde eines Failed State derart an der Nase herumführen lässt, ist im Begriff, seine nationale Selbstachtung zu verlieren.
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Wir erwarten von der Bundesregierung nicht nur, dass sie deutsche Interessen vertritt – national und international, am Horn von Afrika und in Hamburg –, wir erwarten von der Bundesregierung auch die Bewahrung und Verteidigung unserer nationalen Selbstachtung.
Danke.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Abgeordnete Nikolas Löbel das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Springer, ich muss es ganz kurz sagen: Wenn Sie einen Trend zur nationalen Selbstverachtung entdecken, dann muss ich Ihnen aufgrund der Fülle der Äußerungen zu unserem Rechtsstaat, zu unserem Staatsverständnis und auch zur Bundeswehr – ich zitiere Ihren Kollegen Jan Nolte: „Ich beobachte bei der Bundeswehr einen Trend zur Verweichlichung“ –
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einfach nur sagen: Das Einzige, was ich bei der AfD beobachte, ist ein Trend zum Verlust von Anstand und Würde. Fertig.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Atalanta-Einsatz in Somalia dauert nun schon zehn Jahre an. Seit diesem Jahr konzentrieren wir uns nach dem Auslaufen der Ausbildungsmission in Somalia auf den Einsatz zur See. Die Voraussetzungen vor Ort haben sich in dieser Zeit gewandelt, unsere humanitären und militärischen Interventionen folglich auch.
Was sich in diesen zehn Jahren aber nicht verändert hat, ist die Sinnhaftigkeit dieses Einsatzes. Bei der Beurteilung dieses Einsatzes geht es nicht darum, ob ich Militäreinsätze grundsätzlich ablehne oder nicht, vielmehr zählen Fakten und Daten. 6 Millionen Menschen in Somalia sind unmittelbar auf Lebensmittellieferungen aus Übersee angewiesen. Durch den Atalanta-Einsatz konnten wir bis heute über 1 000 Schiffsladungen mit über 1,7 Millionen Tonnen Nahrungsmitteln nach Somalia bringen. Ohne Atalanta würden die Menschen dort verhungern.
Es gibt Vertreter in diesem Hause, die würden wieder argumentieren, dass wir endlich einmal die Ursachen dieser Krise bekämpfen sollten. Das tun wir auch. Wir leisten viel humanitäre Hilfe. Erst im letzten Jahr hat der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel vor Ort weitere 70 Millionen Euro für humanitäre Hilfe zugesagt. Die Ursachen kann man aber nur bekämpfen, wenn man vor Ort stabile Rahmenbedingungen für die Menschen und unsere Helferinnen und Helfer sicherstellen kann. Es gibt keine humanitäre Hilfe ohne die notwendige militärische Absicherung. Ob Sie das verstehen wollen oder nicht, ändert an dieser Tatsache nichts.
Im Mittelpunkt von Atalanta steht die Bekämpfung der Ursachen dieser humanitären Krise. Wir bekämpfen die Piraterie. Piraterie ist Ursache und Folge dieser Krise zugleich. Atalanta ist dabei ziemlich erfolgreich. Ich will kurz auf den Entschließungsantrag der Linken eingehen. Dort steht:
Die Schiffe der Mission ATALANTA haben in den 4 Jahren ihres Einsatzes nur sehr wenige Piratenschiffe vor der somalischen Küste aufgebracht.
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Stimmt. 2014 waren es 2, 2015 waren es 0, 2016 war es 1, 2017 waren es 6. Was Sie bei diesem Antrag weglassen, ist: 2010 waren es 174, 2011 waren es 176, 2012 waren es 35, 2013 waren es 7. Atalanta zeigt Wirkung und ist erfolgreich.
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Die Verlängerung von Atalanta unter neuen Rahmenbedingungen und seit 2016 auch mit reduzierter Truppenstärke ist auch aus Gründen der Sicherheit und der Stabilität vor Ort erforderlich, angemessen und geboten. Aber Atalanta ist nicht nur aus humanitären und sicherheitspolitischen Aspekten richtig, sondern auch aus geostrategischen Gründen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie im Zusammenhang mit einem anderen Militäreinsatz ein früherer Bundespräsident für seine Aussage kritisiert wurde, dass militärische Einsätze notwendig sein können, um beispielsweise auch freie Handelswege zu sichern. Ich finde, es gehört zur Aufrichtigkeit in dieser Debatte dazu, an dieser Stelle nicht zu verhehlen: Wir kümmern uns um die Sicherheitslage vor Ort. Wir wollen den Menschen vor Ort durch humanitäre und militärische Maßnahmen helfen, aber wir haben auch deutsche und europäische Wirtschaftsinteressen im Blick; denn nur sichere Handelswege sorgen für fairen und freien Welthandel. – Deshalb stand und steht auch im Weißbuch der Bundeswehr, dass Deutschland wie viele andere Länder in hohem Maße von einer gesicherten Rohstoffzufuhr und sicheren Transportwegen im globalen Maßstab abhängig ist. Der Golf von Aden ist einer der wichtigsten Handelswege überhaupt. Es handelt sich quasi um den Highway der europäischen und deutschen Wirtschaft nach Afrika und Asien. Über 20 000 Schiffe sind auf diese Seewegverbindung angewiesen. Das sind 90 Prozent des Handels zwischen Europa, Afrika und Asien. Deshalb haben wir als Deutschland auch ein wirtschaftliches, ein geostrategisches Interesse an sicheren Seewegen. Auch dazu dient Atalanta, und es ist nur ehrlich und transparent, das hier zu sagen.
Ein Letztes: Atalanta ist ein europäisches Projekt. 18 Mitgliedstaaten der Europäischen Union, darüber hinaus Partner wie Serbien und Montenegro beteiligen sich an dieser Mission. Wenn wir als Deutschland Teil eines erfolgreichen, global agierenden Europas sein wollen, dann sind wir in der Pflicht, diesen Einsatz fortzuführen. Wir als CDU/CSU-Fraktion unterstützen den Antrag der Bundesregierung.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Kollege Christian Sauter für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Gleich vorab: Meine Fraktion stimmt dem Einsatz der Bundeswehr am Horn von Afrika zu. Atalanta ist ein sinnvoller Einsatz mit einem vernünftigen Ziel und einer guten Bilanz. Es gibt Erfolge vorzuweisen. Die Seewege rund um das Horn von Afrika sind sicherer geworden. Es besteht zusätzlich eine erfolgreiche Kooperation mit europäischen und auch außereuropäischen Partnern, beispielsweise mit Indien. – So weit, so gut.
Dennoch möchte ich einige Anmerkungen machen. Die Operation werde mindestens so lange andauern, bis Somalia funktionierende staatliche Strukturen habe, so lautet ein Teil der Begründung, die die Bundesregierung für das Mandat abgibt. Es muss aber ein schlüssiges Gesamtkonzept geben, wie der Aufbau funktionierender staatlicher Strukturen gefördert werden kann. Die Bundesregierung und die europäischen Partner müssen klarmachen, wie die Probleme in Somalia überwunden werden können.
In diesem Zusammenhang halte ich es für erwähnenswert, dass in den vorangegangenen Mandatstexten von einer Neubewertung des Einsatzes und einer Exit-Strategie gesprochen wurde.
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Auf europäischer Ebene wird regelmäßig die Verlängerung des Mandates empfohlen. In der ganzheitlichen und koordinierten strategischen Überprüfung des Einsatzes, einem Dokument des Europäischen Auswärtigen Dienstes mit dem Ziel der Bewertung der Handlungsoptionen, wird ein Exit nicht empfohlen. Um den sinnvollen und nützlichen Einsatz Atalanta herum muss das Gerüst, das für staatliche Strukturen sorgen soll, stärker werden. Die Bundesregierung muss auf eine bessere Einbettung des Einsatzes hinarbeiten, wenn die Pirateriebekämpfung und der Schutz der Schiffe des World Food Programme nicht nur eine Bekämpfung der Symptome sein soll.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, einen weiteren wichtigen Aspekt dieses Einsatzes sollten wir im Blick behalten. Der Krieg im Jemen – das zeigt der Einsatzbericht der Operation Atalanta – birgt Gefahren für die internationale Seeschifffahrt. In dieser Hinsicht halte ich die Punkte Lagebilderstellung und Seeraumüberwachung in der Region für höchst wichtig, ein weiteres Argument für die Aufrechterhaltung unseres Einsatzes vor Ort.
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Im Übrigen muss ich leider an dieser Stelle wie auch in der letzten Woche noch einmal auf die mangelnde Einsatzbereitschaft unseres Beitrags zur Operation hinweisen. Der deutsche Beitrag besteht vor allem aus einem System der fähigen, aber auch in die Jahre gekommenen P-3C „Orion“, dem derzeit einzigen, der einsatzbereit ist.
Sehr geehrte Damen und Herren, Deutschland übernimmt Verantwortung in der Welt. Der Einsatz ist ein gutes Beispiel dafür. Atalanta ist, gemessen an der Zahl der eingesetzten Soldaten, eines der kleinen Mandate, aber dennoch wichtig. An dieser Stelle danke ich unseren Soldaten, die für unseren Einsatz vor Ort bereitstehen und diesen bestreiten.
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Ein Wort möchte ich noch zum Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke sagen. Diesem Antrag können wir nicht zustimmen. Sie sagen vielleicht ganz richtig, dass die komplexen Probleme Somalias nicht nur militärisch gelöst werden können. Zu behaupten aber, die Operation Atalanta habe nicht dazu beigetragen, die Sicherheit der Menschen in Somalia zu stärken, zeugt aus meiner Sicht von einer Realitätsverweigerung.
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Wer profitiert denn von Hilfslieferungen des Welternährungsprogramms?
Die Fraktion der Freien Demokraten wird der Verlängerung des Mandats trotz der von mir aufgeführten Punkte zustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Abgeordnete Tobias Pflüger für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stimmen gleich über den Einsatz EU NAVFOR Somalia Operation Atalanta ab. Dieser Einsatz findet im Rahmen der Europäischen Union statt. Die EU ist eines derjenigen Militärbündnisse, das Sie als Bundesregierung für den Einsatz der Bundeswehr nutzen. Auslandseinsätze der Bundeswehr finden im Rahmen der NATO, der EU, der UN und – entgegen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 – auch rein national statt, so wie der unsägliche Einsatz zur Bewaffnung der Peschmerga, der vor kurzem beendet wurde.
Ja, Sie haben richtig gehört: Die Europäische Union ist ein Militärbündnis; das ist rein völkerrechtlich so. Wir kritisieren das. Deshalb wollen wir auch keine Militäreinsätze im Rahmen der Europäischen Union, und wir wollen keinen Ausbau der militärischen Komponente der EU, wie er gerade mit der PESCO vorangetrieben wird. Wir wollen gar keine militärische Komponente der Europäischen Union.
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Um was geht es beim Einsatz EU NAVFOR Somalia Operation Atalanta? Die Bundesregierung schreibt es selbst in der Begründung ihres Antrags. Ich zitiere:
Aufgrund der Globalisierung und der Zunahme des internationalen Handels sowie der Funktion des Golfs von Aden als Haupthandelsroute zwischen Europa, der Arabischen Halbinsel und Asien ist die Sicherheit maritimer Transportwege für Deutschland und die Europäische Union von elementarer Bedeutung.
Franz Josef Jung hat es bei einer früheren Begründung für diesen Einsatz sehr viel offener formuliert: „Wir sind auf einen freien Seehandel angewiesen.“ Herr Löbel hat gerade deutlich und klar ergänzt, was Horst Köhler, ehemaliger Bundespräsident, gesagt hat: Offensichtlich geht es um die Sicherung von Handelswegen und den Zugang zu Rohstoffen. – Vielen Dank, dass Sie das in Ihrer Begründung offen sagen. Wir sagen als Linke dazu: Wir wollen nicht, dass die Bundeswehr zur Sicherung von Handelswegen und Rohstoffzugängen eingesetzt wird.
({1})
Offiziell geht es um Piratenangriffe, schreibt die Bundesregierung, aber – ich zitiere –:
Von Mitte 2014 bis Anfang 2017 wurde am Horn von Afrika lediglich ein erfolgloser Piratenangriff registriert. Seit dem Frühjahr 2017 kommt es wieder in unregelmäßigen Abständen zu vereinzelten Piratenangriffen, der letzte am 22. Februar 2018.
Der Somalia-Experte Rashid Abdi sagt:
… die Militäroperationen … haben das Problem nur verlagert. Die Piratengruppen sind nicht aufgelöst, sie existieren immer noch.
({2})
Und Jimcaale Maxamed aus Boosaaso sagt:
Die Piraterie hat wegen der illegalen Fischerei begonnen.
Und Rashid Abdi:
Wenn Europa sich nicht um die illegale Fischerei vor der somalischen Küste kümmert, bestätigt das nur das Vorurteil: Europa ist gleichgültig, solange keine Schiffe angegriffen werden.
Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Piraterie kann es wirklich nicht sein, warum die Bundeswehr heute dort ist. Sonst wäre der Einsatz sinnlos, was natürlich auch sein kann.
({3})
Ihre Begründung für einen Bundeswehreinsatz gegen Piraterie ist schlicht vorgeschoben.
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Ich lese in der Begründung:
Neben dem Rückgang der Piraterie zeigt der Jemen-Konflikt Auswirkungen auf die Sicherheit der Seewege, wie beispielsweise die Zunahme von organisierter Kriminalität in Form von Schmuggel sowie illegaler Migration …
Oha! Na, dann wäre doch mal eine Maßnahme, keine Waffen mehr zum Beispiel an Saudi-Arabien und die anderen Kriegskoalitionsstaaten zu liefern, die den Jemen und seine Bevölkerung barbarisch kaputtbomben.
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Wenn Menschen vor diesem Krieg fliehen wollen, werden sie als illegale Migranten diffamiert. Und was macht die GroKo? Sie liefert Patrouillenboote nach Saudi-Arabien, die auch zur Seeblockade genutzt werden können. Eine Schande!
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Die USA führen nach wie vor in Somalia einen Drohnenkrieg, der sich enorm auf die dortige Situation auswirkt. Die Mission EUTM Somalia ist beendet worden – es ist die Schwestermission –, und das ist gut so.
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Die Begründung sagt eigentlich, um was es geht: Die militärische Ausbildung der somalischen Armee hat nicht funktioniert, stattdessen sollte das politische Engagement in dem Bürgerkriegsland in den Mittelpunkt rücken.
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Wir als Linke sagen: Beenden Sie diesen Einsatz der Bundeswehr in Somalia. Er ist nicht hilfreich – im Gegenteil!
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Dr. Tobias Lindner das Wort.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das primäre Ziel der Operation Atalanta ist der Schutz der Schiffe des Welternährungsprogramms, der Schutz von Nahrungsmittellieferungen in eine der ärmsten Regionen dieser Welt. Somalia, das ist nicht nur ein Land, das sich leider immer noch in einer verheerenden politischen Situation befindet und auf das ich mit einer gewissen Ratlosigkeit blicke, sondern es ist auch ein Land, das regelmäßig von Dürren heimgesucht wird und in dem Millionen Menschen auf Nahrungsmittellieferungen angewiesen sind. Deshalb ist es vernünftig und notwendig, dass Schiffe des Welternährungsprogramms vor Piratenangriffen geschützt werden können.
Es war richtig, dass wir das Mandat im Jahr 2008 aufgesetzt haben. Meine Fraktion hat dieses Mandat über viele Jahre hinweg mit einer breiten Mehrheit mittragen können. Aber dieses Mandat enthält leider nach wie vor, wie ich finde, völlig unnötigerweise ein großes Risiko. Es ist weiterhin die Möglichkeit vorgesehen, auch bis zu 2 000 Meter an Land wirken zu können.
({0})
– Herr Kollege Gädechens, damit birgt dieses eigentlich sinnvolle Mandat das Risiko einer völlig unnötigen Eskalation.
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Das ist auch unnötig; denn seit Beginn der Operation ist nur ein einziges Mal davon Gebrauch gemacht worden ist.
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Wenn ich die Regierung frage: „Warum ist diese Option weiterhin im Mandat enthalten?“, dann lautet die Antwort: weil allein die Formulierung so abschreckend ist, dass Piraten nicht auf die Idee kommen, anzugreifen.
({3})
Angesichts der bereits erwähnten Tatsache, dass die Bundeswehr sich auch im kommenden Jahr mit einem Seefernaufklärer vom Typ P-3C „Orion“ beteiligen wird – ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man damit an Land wirken will –, ist es völlig unnötig, dieses Risiko weiterhin in den Mandatstext zu schreiben, liebe Bundesregierung.
({4})
Ich sage das ohne Häme, liebe Kollegen von der Sozialdemokratie. Auch Sie hat das Thema im Jahr 2012 umgetrieben. Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich 2012 entschieden, gegen das Mandat zu stimmen. Ich nehme mit Respekt zur Kenntnis, dass Sie das heute mehrheitlich anders sehen.
In meiner Fraktion ist für uns alle klar: Die im Mandat enthaltene Option ist ein Mangel und ein Risiko. Deswegen wird die Mehrheit meiner Fraktion auch heute diesem Mandat nicht zustimmen, sondern sich leider nur enthalten können. Ich gehöre, wie einige Kollegen in meiner Fraktion, zu denen, die trotz dieses Risikos dem Mandat ihre Zustimmung nicht versagen werden.
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Aber wir müssen uns eines klarmachen: Genauso wie Lebensmittellieferungen nur eine Symptombekämpfung gegen Hunger sind, ist Pirateriebekämpfung nur eine Symptombekämpfung und keine politische Ursachenbekämpfung. Auch wenn die Zahl der Piratenangriffe merklich zurückgegangen ist, müssen wir doch feststellen: In den letzten zwei Jahren gab es wieder Steigerungen. Das liegt auch daran, dass das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen trotz der Zahlungen Deutschlands nicht ausreichend Mittel zur Verfügung hat und eher kleinere Schiffe einsetzen muss, die ein leichteres Ziel für Piratenangriffe sind. Das heißt, wenn wir darüber sprechen, Piratenangriffe einschränken zu wollen, dann müssen wir auch darüber reden, wie die internationale Gemeinschaft ihrer Verantwortung an dieser Stelle gerecht wird.
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So sinnvoll die Fortsetzung des Mandats aus meiner persönlichen Sicht ist, so unzureichend ist sie, um die wahren Ursachen der politischen Situation in dieser Region wirklich beseitigen zu können. Dazu braucht es mehr Initiativen. Wir dürfen das Mandat nicht als Entschuldigung dafür nehmen, dass es in Somalia ist, wie es ist. Liebe Bundesregierung, wir erwarten von Ihnen in den kommenden zwölf Monaten mehr Initiativen als in der Vergangenheit.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Siemtje Möller für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ihnen geht es doch sicherlich auch so, oder? Fast täglich sehe ich mich Fragen zu den Bundeswehreinsätzen gegenüber, ob es in den sozialen Netzwerken ist oder bei den vielen Begegnungen im „echten“ Leben. Ich muss Ihnen sagen: Ich finde das richtig gut; denn so kann eine Auseinandersetzung um die Ausrichtung unserer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik gelingen.
({0})
Heute geht es um die Operation Atalanta, und natürlich bewegen die Menschen auch bei diesem Einsatz die Fragen: Warum machen wir das? Ist es sinnvoll, militärisch präsent zu sein? Wie lange bleibt die Bundeswehr noch im Einsatz? Was sind ihre konkreten Aufgaben? Kann die Bundeswehr das in Anbetracht ihrer Ausrüstungslage leisten?
Am Horn von Afrika sind die Lebensbedingungen für die Menschen mehr als schwierig. Es gibt schwache staatliche Strukturen und zwischenstaatliche Konflikte, häufig um den Zugang zu Rohstoffen. Das fragile Ökosystem und die Gefahr von Dürreperioden machen das Leben häufig unberechenbar. Aus dieser Gemengelage folgen große Armut, Nahrungsmittelknappheit, Krankheiten und logischerweise auch Flucht- und Migrationsbewegungen. Hinzu kommen organisierte Kriminalität und gewalttätiger Extremismus, die für die Menschen vor Ort oft der einzige Ausweg zu sein scheinen.
Es ist nicht immer einfach, diese verknüpften Probleme zu entzerren. Manchmal weiß man nicht, wo man ansetzen soll; aber wir hier müssen versuchen, Lösungen zu finden. Atalanta ist ein solcher Versuch, ein solch richtiger Ansatz.
({1})
Die Fakten zeigen es uns: Früher gab es Hunderte Überfälle auf Schiffe im Jahr, heute gibt es nur wenige, den letzten am 8. April dieses Jahres. Das zeigt: Atalanta ist erfolgreich.
Ein deutlicher Rückgang der Zahl der Angriffe eröffnet die Möglichkeit zur Verstärkung des zivilen Engagements. So ist es richtig, dass bei allen Rückschlägen die europäische Trainingsmission neu aufgelegt und die europäische Polizeimission fortgeführt wird. Ebenso erfreulich ist, dass bis 2020 eine sogenannte Exit-Strategie erarbeitet werden soll. Aus meiner Sicht stärkt das die positive Bewertung dieses Einsatzes: Er ist erfolgreich, und wir denken darüber nach, wie in Zukunft ohne militärische Abschreckung und Präsenz der internationalen Gemeinschaft Stabilität und Sicherheit gewährleistet werden können.
Der Golf von Aden ist eine der zentralen Haupthandelsrouten. Doch es geht nicht nur um Waren und Güter, die sicher nach Europa gelangen sollen, es geht auch um die Lieferungen des Welternährungsprogramms – wir haben es schon gehört – nach Somalia und in andere Länder in Ostafrika. Es geht ferner um die Sicherheit derjenigen, die das Leid lindern wollen, und um die Sicherung der so dringend benötigten Hilfsgüter, die diese Helfer bringen.
Auch unsere Soldatinnen und Soldaten leisten ihren Beitrag. 77 sind momentan vor Ort, fügen sich in Stäbe, Prozesse und Strukturen ein. Mithilfe eines Seefernaufklärers liefern wir Daten, damit Atalanta zielgerichtet operieren kann. Und ja, dieser fokussierte Beitrag kann im Rahmen der Möglichkeiten der Bundeswehr geleistet werden, wie ich in Gesprächen mit der Bundeswehrführung sowie Soldatinnen und Soldaten erfahre.
Aus der Truppe höre ich ebenso immer wieder, dass die Mission ein Beispiel für gelungene europäische Zusammenarbeit ist. Für ihren Einsatz möchte ich deswegen erst einmal unseren Soldatinnen und Soldaten danken, aber auch den Soldatinnen und Soldaten der anderen europäischen Länder und ihren Familien.
({2})
Unsere Soldatinnen und Soldaten tragen dazu bei, dass Atalanta ein Mindestmaß an Sicherheit schafft. Der Einsatz entzieht organisierter Kriminalität auf See die Grundlage. Atalanta kann dies auch weiterhin gewährleisten, nur müssen wir uns jetzt eben ergänzend tiefergehend der Frage widmen, wie für Somalia und seine Menschen eine tragfähige Zukunftsperspektive geschaffen werden kann.
Dank Atalanta haben die Piraten und die organisierte Kriminalität nicht die Herrschaft am Horn von Afrika übernommen, und bis 2020 soll es eine Exit-Strategie geben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde, wir sind auf dem richtigen Weg. Deshalb plädiere ich für die Zustimmung zu diesem Mandat.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Peter Beyer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Atalanta-Mission ist ein exzellentes Beispiel, dass Deutschland es eben nicht bei bloßen Worten belässt, sondern in der Tat zeigt, dass es gewillt und auch in der Lage ist, seiner internationalen Verantwortung gerecht zu werden – und dies nunmehr seit 2008. Seit zehn Jahren beteiligt sich Deutschland ohne Unterbrechung mit den unterschiedlichsten Einheiten – aktuell mit einem Seefernaufklärer – an dieser Mission.
Der Auftrag sieht vor, die Schiffe des Welternährungsprogramms und der Mission der Afrikanischen Union in Somalia, AMISOM, im Einsatzgebiet zu schützen. Wenn wir uns das Einsatzgebiet anschauen, stellen wir fest, dass es 3,7 Millionen Quadratkilometer groß ist. Das ist annähernd die Fläche der Europäischen Union. Es ist also flächenmäßig ein sehr großer Einsatz, und es ist ein sehr erfolgreicher Einsatz. Dieser Erfolg kommt nicht von ungefähr. Er basiert auch auf dem Einsatz unserer deutschen Soldatinnen und Soldaten. Deswegen danke ich an dieser Stelle den Menschen, die dort ihren Einsatz leisten, und auch ihren Familien von ganzem Herzen.
({0})
Meine Damen und Herren, der Blick auf die Zahlen belegt die Wirkung der Mission; wir haben das heute schon an der einen oder anderen Stelle in der Debatte gehört. Der Höhepunkt der Piratenübergriffe war im Jahre 2010 mit jährlich über 170 Piratenangriffen, viele davon aus Piratensicht erfolgreich. Zwischen 2014 und 2018 gab es nur noch vereinzelte bzw. einige wenige Angriffe, nach meiner Kenntnis übrigens keiner erfolgreich. Rund 500 Transporte für das Welternährungsprogramm und fast ebenso viele Transporte, nämlich gut 400, für AMISOM wurden so sicher durch die Gewässer eskortiert. Das ist ein ganz hervorragendes Beispiel für ein multilaterales Zusammenspiel unter Beteiligung der EU, von Kolumbien, Serbien, Montenegro, Neuseeland und von Einsatzkräften aus der Ukraine.
Wir hören immer die Frage: Steht die Mission denn völkerrechtlich auf solidem Grund? Das ist bei der Mission Atalanta wie bei vielen anderen auch der Fall. Es gibt ein Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, es gibt einen Beschluss des Rates der Europäischen Union und nicht zuletzt einen konstitutiven Beschluss des Bundestages, meine Damen und Herren. Übrigens handelt es sich bei Atalanta um die erste maritime EU-Mission überhaupt.
Was konkret leistet Deutschland mit seinen Soldatinnen und Soldaten dort? Hochauflösende Aufklärungsdaten werden gesammelt und zur Verfügung gestellt, Schlupflöcher und Unterschlüpfe von Piraten werden aufgespürt, die Fischerei vor der Küste Somalias wird überwacht. Letzteres ist ein weiterer wichtiger Beitrag zur Verbesserung der humanitären Lage in Somalia. Deswegen ist der Antrag der Linken zu dieser Mission umso unbegreiflicher. Die Zahlen sprechen nämlich für sich: 6 Millionen Menschen in Somalia sind direkt von den Hilfeleistungen des Welternährungsprogramms abhängig. Was im Antrag steht, ist fast so, als fordere man die Abschaffung der Feuerwehr, weil es einige Zeit nicht mehr gebrannt hat. Das ist irrsinnig, meine Damen und Herren.
({1})
Unser Interesse in Deutschland ist es, Somalia zu stabilisieren, auch und nicht zuletzt um Fluchtbewegungen zu verhindern. Unser Interesse in Deutschland ist es, dass das für die Exportnation Deutschland so wichtige Seegebiet am Horn von Afrika frei und befahrbar bleibt. Unser Interesse ist es, im Rahmen der Vereinten Nationen unserer Verantwortung als verlässlicher Partner gerecht zu werden. Langfristig muss das Ziel sein, dass Somalia in die Lage versetzt wird, für die eigene Sicherheit Sorge zu tragen und Recht und Gesetz durchzusetzen. Bis dahin macht es Sinn, dass wir uns weiterhin an der Mission Atalanta beteiligen und so unserer internationalen Verantwortung gerecht werden.
Herzlichen Dank.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, Platz zu nehmen und auch dem letzten Redner in dieser Debatte die entsprechende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Mission Atalanta wird dieses Jahr zehn Jahre alt, und sie ist erfolgreich. Wenn man sich die Daten ansieht, dann wird man feststellen, dass noch vor sieben oder acht Jahren von den etwa 20 000 Schiffen, die die Handelsroute um den Golf von Aden pro Jahr passiert haben, knapp 200 Schiffe angegriffen wurden. Das ist eine Rate von fast 1 Prozent. Damit waren die freie Schifffahrt, die freie Seefahrt und die Sicherheit der Handelswege in diesem Gebiet stark gefährdet. Diese Mission hat dazu beigetragen, die Handelswege wieder sicherer zu machen. Das ist gut, und das ist ein Erfolg, den wir nicht schlechtreden sollten.
({0})
Wenn Sie sagen, es liege gar keine Legitimation vor, um die Handelswege zu schützen, dann muss ich erwidern: Sie, Herr Kollege Pflüger von den Linken, haben das UN-Seerechtsübereinkommen nicht verstanden. Es ist nämlich völkerrechtlich allgemein anerkannt, dass Seefahrtswege sicher sein müssen und dass die UN auch Seefahrtswege schützen darf. Die sichere und freie Küstenfahrt gehört zum anerkannten Völkerrecht.
Sie stellen mit Ihrem Antrag also das Völkerrecht infrage.
({1})
Wir haben nichts anderes von Ihnen erwartet; aber durch diese Einlassung haben Sie sich blamiert.
({2})
Meine Damen und Herren, man darf nicht vergessen, dass es hier auch um humanitäre Aspekte geht, zum Beispiel um das Welternährungsprogramm; das ist bereits angesprochen worden. Es geht nicht nur darum, dass die Menschen in Somalia selbst unterstützt werden, sondern auch darum, dass wir die Menschen in Not im Südsudan, in Darfur, durch Lebensmittellieferungen schützen. Der Einsatz für humanitäre Hilfe im Südsudan, in Darfur, ist nur möglich, weil diese Küstengewässer geschützt werden. Wer also die Operation Atalanta infrage stellt, der legt auch die Axt an die humanitäre Hilfe in diesem Bereich an, die so dringend benötigt wird.
({3})
Ich bitte Sie abschließend, auch auf die Zahlen zu sehen. Wir nehmen diese Mission aus Verantwortung wahr. Wenn Sie sich die Kosten dieser Mission für den Bundeshaushalt ansehen, dann sehen Sie, dass dort Aufwendungen für unsere Bundeswehr in Höhe von nur 37,7 Millionen Euro stehen. Unser Staat, unser Land, hat allein im Jahr 2017 über 140 Millionen Euro humanitäre Hilfe zur Bewältigung der Hungerkrise in Somalia geleistet. Dazu kommen noch die Mittel aus der Entwicklungshilfe. Es kann also mit Recht gesagt werden, dass wir einen doppelten Ansatz haben, auf der einen Seite die notwendige Sicherung der Handelswege, auf der anderen Seite die humanitäre Hilfe, und das Ganze dient der Stabilisierung der Region, weil es uns auch im europäischen Kontext nicht egal sein kann, dass am Horn von Afrika ein Staat existiert, in dem Menschen leiden und der instabil ist.
Wir tun alles für diese Stabilität, und dem dient auch dieses Mandat. Deswegen darf ich Sie um Zustimmung bitten.
Herzlichen Dank.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind noch nicht am Schluss dieser Aussprache. Ich wiederhole mich: Ich bitte Sie, Platz zu nehmen.
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Tobias Pflüger das Wort.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erleben hier ja regelmäßig, dass das Völkerrecht in einer Art und Weise dargestellt wird, die schon hanebüchen ist.
({0})
Ich will einfach einmal darauf hinweisen, dass ein Teil dieser Mission ist, dass die Einsatzkräfte „bis zu einer Tiefe von maximal 2 000 Metern gegen logistische Einrichtungen von Piraten am Strand vorgehen“ können. Das ist ein Zitat aus dem Mandat. Das heißt konkret, dass in das Land hineingegangen werden kann. Der Kollege Tobias Lindner hat auf diesen Sachverhalt hingewiesen. Ich bin echt gespannt, wie Sie das als völkerrechtsgemäß bezeichnen wollen;
({1})
denn damit wird konkret in die Souveränität eines Staates eingegriffen.
Ich sage es klipp und klar: Sie bringen hier regelmäßig eine hanebüchene Begründung, wenn Sie sagen, wie das Völkerrecht angeblich aussieht. Ich weise das klar zurück. Selbstverständlich ist dieser Einsatz, wenn er sich quasi auch auf das Hoheitsgebiet eines anderen Landes erstreckt, nicht völkerrechtsgemäß.
({2})
Kollege Ullrich, Sie können erwidern.
Herr Kollege Pflüger, ich kenne kaum einen renommierten Völkerrechtler, der den Einsatz Atalanta grundsätzlich juristisch infrage stellt. Unabhängig davon möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass neben dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1982 mehrere Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates zu beachten sind, die diesen Einsatz eindeutig legitimieren.
Die UN-Charta besagt – das wissen Sie –, dass Streitkräfte bei Einsätzen, die durch den UN-Sicherheitsrat legimitiert sind, nicht nur zur Eigensicherung, sondern auch, wie in diesem Fall, zur Sicherung der Seewege ein Stück weit in das Territorium an Land vordringen dürfen. Dieser Sachverhalt ist völlig unproblematisch. Sie greifen einen Teil aus dem Mandat heraus, um etwas insgesamt abzulehnen, was Sie nicht ablehnen sollten.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Mir liegen mehrere Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor. Entsprechend unseren Regeln nehmen wir diese zu Protokoll.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der durch die Europäische Union geführten EU NAVFOR Somalia Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/1833, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 19/1596 anzunehmen.
Wir stimmen über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Ich bitte alle an der Abstimmung teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen um einen prüfenden Blick auf die Stimmkarte Ihrer Wahl, um sicher zu sein, dass der Aufdruck mit Ihrem tatsächlichen Namen und der Fraktionszugehörigkeit übereinstimmt. In der vorherigen Abstimmung haben einige Kolleginnen und Kollegen angeblich mehrfach abgestimmt. Das heißt, da sind falsche Karten gegriffen worden. Jeder hat hier eine Stimme.
Sind die Schriftführerinnen und Schriftführer an ihrem Platz? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung über die Beschlussempfehlung.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die schon abgestimmt haben, uns die Möglichkeit zu geben, bei der folgenden Abstimmung das Abstimmungsergebnis hier im Saal festzustellen; das heißt, sich entweder hinzusetzen, wenn sie an der folgenden Abstimmung und der anschließenden Debatte teilnehmen wollen, oder aber, wenn sie anderes vorhaben, den Saal zu verlassen.
Gibt es noch ein Mitglied des Hauses, welches seine Stimme nicht abgeben konnte? – Dann bitte ich, das jetzt zu tun. Hier vorne ist übrigens genügend Platz an den Urnen; man muss sich nicht an den Seiten drängeln.
Ich wiederhole meine Bitte – das betrifft alle Fraktionen des Hauses –, dass diejenigen, die abgestimmt haben, für sich entscheiden, ob sie jetzt weiter an unseren Verhandlungen teilnehmen und damit Platz nehmen oder ob sie uns leider verlassen müssen.
Gibt es noch ein Mitglied des Hauses, welches seine Stimme nicht abgegeben hat? – Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/1847. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der AfD-Fraktion, der FDP-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Jetzt werde ich letztmalig meine Bitte wiederholen, Platz zu nehmen, wenn Sie weiter an den Verhandlungen hier teilnehmen wollen. Ich werde die nächste Debatte nicht eröffnen, bevor nicht die Ordnung im Haus hergestellt ist.
({0})
Es betrübt mich, dass auch die Fraktion Die Linke mich nicht gehört hat.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie uns bei der Digitalisierung nicht immer und in erster Linie nur die Risiken und Probleme erörtern.
Dieser Satz stammt von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier; er ist aus seiner Antrittsrede im Deutschen Bundestag. Bei allem Respekt: Ehrlich gesagt, falscher hätte der Bundesminister nicht liegen können;
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falscher nicht nur wegen des Facebook-Skandals, über den ich gleich noch reden möchte, sondern auch deshalb, weil gerade Sie als Bundesregierung über eine gute Regulierung digitaler Märkte und die Risiken und Probleme, die es mit diesen geben kann, seit acht Jahren – seit mein Kollege von Notz und meine Fraktion die ersten Anträge zur Begrenzung der Marktmacht von Facebook in den Bundestag eingebracht haben – nicht gesprochen haben. Sie haben hier nicht gehandelt. Allein schon deshalb liegt Peter Altmaier falsch.
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Aber das Zweite ist – das finde ich eigentlich noch irritierender –, dass er immer noch zu glauben scheint – und sich damit in die Tradition der FDP stellt, die bei der Digitalisierung „Bedenken second“ plakatiert –, dass es einen Widerspruch zwischen einer guten Regulierung der digitalen Märkte und der Förderung von Chancen genau dieser Digitalisierung geben sollte. Das zu glauben, ist falsch. Genau das Gegenteil hätten Sie als Bundesregierung in den letzten Jahren eigentlich angehen müssen.
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Wie fatal diese Verweigerungshaltung ist, zeigt sich jetzt am Skandal von Facebook und Cambridge Analytica. Persönliche Informationen von 80 Millionen Facebook-Nutzerinnen und -Nutzern wurden in großen Mengen und ohne deren Wissen weiterverwendet. Psychologische Profile wurden über diese Nutzerinnen und Nutzer erstellt, Profile, die an Unternehmen verkauft wurden, die diese dann genutzt haben, um insbesondere Wahlen wie die amerikanische Präsidentschaftswahl zu beeinflussen. Das war ein erschreckender Eingriff in das Fundament unserer Demokratie, die freie Wahl. Angesichts des Falls von Facebook und Cambridge Analytica, der wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs ist, über den wir sprechen müssen, angesichts der Dimension dieses Skandals frage ich Sie als Bundesregierung: Was tun Sie, um die fundamentalsten Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu schützen?
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Bislang hört man von Ihnen hier wirklich wenig, nichts Konkretes. Heute gibt es eine Ankündigung der Bundesregierung: Vielleicht möchte man doch mal handeln. Ich sage Ihnen: Handeln ist ziemlich einfach. Allein im Datenschutzteil unseres Antrags haben wir Ihnen zwölf konkrete Vorschläge vorgelegt, was Sie tun können, um den Datenschutz zu verbessern, von der guten Umsetzung der EU-Datenschutz-Grundverordnung über Abkommen über die Datenübermittlung an Drittstaaten bis zur Stärkung der Medienkompetenz – wirklich eine breite Vielfalt an Vorschlägen.
Des Weiteren müssen wir über das Wettbewerbsrecht sprechen. Ich finde es gerade als Wirtschaftspolitikerin irritierend, dass immer noch behauptet wird, ein guter Datenschutz sei ein Wettbewerbshemmnis für die Unternehmen in Europa. Genau das ist nicht der Fall. Gute Datenschutzbedingungen sind gerade ein Potenzial, mit dem man Kundinnen und Kunden überzeugen kann. Gerade angesichts eines solchen Skandals wie bei Facebook sieht man doch, dass dort ein enormes Potenzial besteht.
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Das haben wir auch den entsprechenden Unternehmen gesagt. Das Problem, das diese mit Konzernen wie Facebook und Google haben, ist nicht die Datenschutz-Grundverordnung oder der Datenschutz der Bürgerinnen und Bürger, sondern die Marktmacht dieser Konzerne. Diese macht es vielen Unternehmen unmöglich, mit solchen Konzernen in Wettbewerb zu treten. Wir haben hier Märkte, die schon aus sich heraus zu Monopolisierungstendenzen neigen. Für die Nutzerinnen und Nutzer macht es keinen Sinn, zwei Plattformen zu nutzen. Sie haben keine ordentlichen Alternativangebote. Das Logischste für Verbraucherinnen und Verbraucher wäre eigentlich, dass sie, wenn sie so betrogen wurden wie im Facebook-Skandal, zu einem anderen Anbieter gehen und sagen: Facebook, wir zeigen dir die Rote Karte! – Das tut solchen Unternehmen dann wirklich weh. Das ist eigentlich das beste Instrument, um bei Unternehmen ein Nachdenken auszulösen und zu erwirken, dass sie ihr Verhalten ändern. Diese Möglichkeit haben Verbraucherinnen und Verbraucher in vielen Bereichen von Internetplattformen nicht, weil es diese Monopolisierungstendenzen gibt. Das Wettbewerbsrecht ist eine Antwort darauf und kann helfen, Datenschutz und fairen Wettbewerb herzustellen.
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Wir haben in unserem Antrag ganz konkrete Vorschläge gemacht, wie das gehen kann. Wir sehen unter anderem eine Verpflichtung zu Interoperabilität vor, die zum Beispiel dafür sorgt, dass man von WhatsApp aus mit Threema kommunizieren kann, genauso wie man eine E-Mail von Gmail an Web.de schicken kann, genauso wie man mit seinem Handy anbieterübergreifend telefonieren kann. Eine solche Verpflichtung zu Interoperabilität würde Wettbewerb ermöglichen. Wir verlangen von Ihnen als Bundesregierung, dass Sie eine solche Verpflichtung mit einer Nachweispflicht für die Anbieter einführen: Wenn das technisch oder unter Datenschutzaspekten nicht geht, muss das nachgewiesen werden. Ansonsten ist die Verpflichtung zu Interoperabilität einzuhalten. Das wäre ein wichtiger erster Schritt, um für Wettbewerb auf den digitalen Märkten zu sorgen.
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Ein weiteres Thema ist die Fusionskontrolle. Die Europäische Kommission hat die Fusion von Facebook und WhatsApp in der irrigen Annahme erlaubt, dass das Zusammenführen von Daten nicht der Hauptgrund für Facebook gewesen wäre, WhatsApp zu kaufen. Natürlich war das Gegenteil der Fall. Die Europäische Kommission musste schon ein Missbrauchsverfahren gegen Facebook einleiten. Wir fordern, dass das Zusammenführen von Daten endlich auch in der Fusionskontrolle eine Rolle spielt. Die Kommission muss sagen: Wir haben einen Fehler gemacht. Facebook missbraucht die Daten, die sie von WhatsApp bekommen haben, und deshalb muss diese Fusion rückgängig gemacht werden.
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Nun zum letzten Argument. Ich möchte mich bei der FDP bedanken, deren letzter Wirtschaftsminister einen Vorschlag zur missbrauchsunabhängigen Entflechtungsmöglichkeit eingebracht hat. Das war eine sehr gute Vorlage von Ihnen damals. Es gibt Märkte, die so vermachtet sind, dass es keine Möglichkeit gibt, fairen Wettbewerb herzustellen.
Wenn man sich anguckt, dass die Internetanbieter gerade über das gigantische Zusammentragen von Daten enorme Wettbewerbsvorteile haben, dann erkennt man, dass man darüber nachdenken muss, ob man als Ultima Ratio, als letzten Schritt, wenn wirklich nichts anderes mehr wirkt, eine missbrauchsunabhängige Entflechtungsmöglichkeit auch in diesen Märkten einführt – für fairen Wettbewerb, für Datenschutz, für die Verbraucherrechte. Das wäre unser Vorschlag.
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Das Wort hat der Kollege Axel Knoerig für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Grunde genommen werfen die Grünen der Bundesregierung vor, indirekt verantwortlich für den Facebook-Datenskandal zu sein. Ihrem Antrag zufolge scheuen wir uns vor einer umfassenden Ordnungspolitik für Onlineplattformen. Ich will ganz klar sagen: Das entspricht keinesfalls den Fakten; denn die Wettbewerbsentwicklung digitaler Plattformen haben wir seit langem im Blick, und Schritt für Schritt haben wir auch dieses Thema aufgearbeitet.
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Dafür kann man viele Beispiele nennen, Frau Dröge: zum Ersten das Sondergutachten der Monopolkommission von 2015 mit dem Titel „Wettbewerbspolitik: Herausforderung digitale Märkte“, zum Zweiten das Arbeitspapier des Bundeskartellamtes von 2016 mit dem Titel „Marktmacht von Plattformen und Netzwerken“, zum Dritten das Weißbuch „Digitale Plattformen“ des Bundeswirtschaftsministeriums von Mai 2017. Zu nennen ist insbesondere, ganz wichtig, die 9. Novelle zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, die Sie ja selber erwähnt haben. Diese ist erst im Juni 2017 in Kraft getreten. Darin haben wir klare ordnungspolitische Schranken für die Digitalwirtschaft eingeführt. Das ist überhaupt die Voraussetzung für weitere Schritte, Frau Dröge, wie die Grünen sie jetzt fordern.
Meine Damen und Herren, wir haben in den letzten Monaten insbesondere für Folgendes gesorgt: Erstens. Die Übernahme von Unternehmen mit niedrigem Umsatz, aber hohem Wert kann jetzt auch untersucht werden. Zweitens. Ein Markt kann kartellrechtlich nun auch relevant sein, wenn Leistungen kostenlos erfolgen und stattdessen Daten fließen. Drittens. Hinzu kommen neue Kriterien zur Prüfung der Marktmacht für digitale Märkte und Netzwerke. Speziell geprüft werden zum Beispiel erstens der Aufwand für Nutzer beim Wechsel zu anderen Plattformen – wir haben doch heute den Zukunftstag für Mädchen und Jungen, den Girls’ Day und Boys’ Day 2018; die jungen Leute haben mir erzählt, sie sind gar nicht mehr bei Facebook –, zweitens die Größenvorteile, drittens der Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten und viertens die sogenannten Netzwerkeffekte. Wir wissen doch genau: Je mehr Nutzer eine Plattform hat, desto attraktiver ist sie.
Meine Damen und Herren, bereits seit 2016, also lange vor den Enthüllungen um Cambridge Analytica, hat das Bundeskartellamt ein Verfahren gegen Facebook eingeleitet. Im Herbst dieses Jahres soll dieses Verfahren abgeschlossen werden. Hier geht es insbesondere um die Weitergabe von Nutzerdaten an Dritte. Gerade im Falle von Facebook ist ja die Marktmacht unbestritten. Dazu gehört auch der Datenaustausch mit WhatsApp. Facebook musste wegen dieser Übernahme schon Kartellstrafzahlungen in Höhe von 110 Millionen Euro an die EU leisten.
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Aber die Grünen fordern hier eine „missbrauchsunabhängige Entflechtungsmöglichkeit von Unternehmen“, und das ist wettbewerbsrechtlich gar nicht zulässig; denn vor einer möglichen Entflechtung ist ein missbräuchliches Verhalten erst einmal nachzuweisen. Dafür haben wir das Kartellamt als Bundesoberbehörde im Zuständigkeitsbereich des Wirtschaftsministeriums. Es hat drei Instrumente zur Hand – die nenne ich Ihnen gerne noch einmal –: erstens die Verfolgung von Kartellabsprachen, zweitens die Fusionskontrolle und drittens das Instrument der Missbrauchsaufsicht. Beim laufenden Verfahren geht das Kartellamt davon aus, dass Facebook den deutschen Markt für soziale Netzwerke beherrscht, und zwar mit einem Marktanteil von 90 Prozent und 30 Millionen Nutzern im Monat.
Erst nach Beweis des Marktmissbrauchs wird das Kartellamt der Bundesregierung Empfehlungen für das weitere Vorgehen geben. Das kann eine Modifizierung des Geschäftsmodells sein, zum Beispiel eine Entflechtung von Unternehmensteilen. Es ist dann erst Aufgabe der Bundesregierung, politisch über eine Regulierung zu entscheiden. Das Bundeskartellamt aber ist nicht für eine Zerschlagung eines Unternehmens zuständig. Es macht nur die rechtlichen Prüfungen.
Fazit: Wir müssen erst die bestehenden Mechanismen anwenden. Eine Entflechtung ist letztendlich nur aufgrund von wettbewerbsbehinderndem Verhalten möglich. Alles andere wäre staatlicher Interventionismus, und das ist mit der Union in Deutschland nicht zu machen.
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Meine Damen und Herren, die Grünen lassen in ihrem Antrag auch die europäische Ebene völlig außer Acht. Die digitalen Plattformen – das wissen wir doch alle – sind in allen Mitgliedstaaten der EU tätig. Da führen wir doch keine Inselexistenz in der Wettbewerbspolitik. Deshalb muss das auf europäischer Ebene abgestimmt sein, zumal die kartellrechtliche Prüfung oft auf deutscher sowie auf europäischer Ebene gleichzeitig stattfindet.
Was müssen wir also bei digitalen Plattformen genau ansehen?
Erstens. Wir müssen auf die Funktionen schauen. Plattformen mit begrenzten Funktionen wie Berufsnetzwerke oder einfache Nachrichtendienste neigen – das wissen wir – nicht zu Marktdominanz. Erst die Bandbreite an Funktionen und das strukturierte Zukaufen von Firmen wie bei Facebook können ein Unternehmen marktbeherrschend machen.
Zweitens: Netzwerkeffekte. Gerade kleine Digitalunternehmen können beim Markteintritt und dann, wenn sie nachher wachsen, kaum mit bekannten Diensten konkurrieren.
Drittens. Digitale Dienste – das halte ich für ganz wichtig – sollten bei Datenschutz, Sicherheit und Wettbewerb dieselben Pflichten erhalten wie klassische Telekommunikationsunternehmen.
Viertens: Stichwort „Datenschutz“. Liebe Grüne, Sie fordern in Ihrem Antrag auch die Zusammenarbeit des Kartellamts und der Datenschutzbehörden.
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Das machen doch die Behörden heute schon.
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Fünftens. Die Datensammlung und -verwertung müssen wir uns bei allen Diensten ganz genau ansehen, gerade auch bei den globalen Diensten.
Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Das Thema hat eine riesige Dynamik, und das Wettbewerbsrecht darf der Entwicklung bei den digitalen Plattformen nicht hinterherhinken. Deswegen müssen wir Schritt für Schritt und auch schnell genug vorgehen.
Wir haben doch auch Vergleiche mit anderen Märkten: Telekommunikation, Logistik, Post. Wie haben wir die Postreform gemacht? Wie haben wir denn im Bereich der Energiepolitik entflochten? Das war im Grunde genommen die gleiche Herangehensweise, die Sie gerade von mir in den fünf Punkten gehört haben. Die öffentlich-rechtlichen Institutionen untersuchen, schließen das Ende dieses Jahres ab. Dann kommen wir über die Bundesregierung womöglich zu dem Ergebnis, dass wir Kommissionen bilden, und dann können wir, wenn es denn nötig sein wird, entflechten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Der nächste Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Enrico Komning.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Liebe Besucher auf der Tribüne! Bei dem offensichtlich eilig zusammengeschusterten Antrag verfallen die Grünen wieder einmal in ihre alten Denkmuster: größtmögliche Überwachung und damit vollständige Kontrolle; denn ohne grüne Anleitung ist man schließlich nicht lebensfähig. Am grünen Wesen soll bekanntlich wenn schon nicht die ganze Welt, dann wenigstens Deutschland genesen.
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Sie wollen missbrauchsunabhängige Entflechtungsmöglichkeiten;
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Herr Knoerig hat gerade darauf hingewiesen. Aus unserer Sicht ist das die Möglichkeit willkürlicher Zerschlagung. Das ist nichts anderes als Enteignung – frei nach dem Motto: Wer erfolgreich ist, muss bestraft werden.
Sie wollen in den Geschäftsbetrieb digitaler Plattformen eingreifen und ihnen Interoperabilität oktroyieren. Diese Unternehmen sollen also staatlich verordnet zur Zusammenarbeit mit Konkurrenten verpflichtet werden. Wo ist das denn Marktwirtschaft, meine Damen und Herren?
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Ihre Forderungen sind sehr weit weg von Marktfreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Sie sollten sich zu Ihren Kollegen auf der ganz linken Seite setzen. Ganz nebenbei: Das beraubt Sie im Übrigen auch nicht Ihrer Machtoptionen; denn bekanntlich will ja die ach so konservative CDU neuerdings auch mit denen koalieren.
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Meine Damen und Herren, faire digitale Märkte müssen vor allem eines sein: Märkte. Auf Märkten herrschen idealerweise Wettbewerb und Konkurrenz zwischen verschiedenen Anbietern zum Wohl der verbrauchenden Kunden. Wirtschaft muss dem Menschen dienen. Dies und letztlich nur dies ist sozusagen die Ermächtigungsgrundlage des Staates, einen Markt überhaupt regulieren zu dürfen. Weder grün-sozialistische Planträume noch neoliberaler Marktdarwinismus sind für eine Gesellschaft akzeptabel.
Aber wann muss der Staat regulieren? Auch marktbeherrschende Stellungen von Unternehmen sind heute anders zu bewerten als früher; denn es herrscht heute ein erheblich größerer Innovationsdruck. Es gibt jede Menge Beispiele von Unternehmen, die marktbeherrschend waren und trotzdem Entwicklungen verschlafen haben und zurückfielen: zum Beispiel Microsoft, Apple oder auch MySpace und Yahoo. Das zeigt, dass der Markt sehr wohl in der Lage ist, Wettbewerb auch bei temporär dominierenden Unternehmen zu gewährleisten.
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Wenn Unternehmen regelrecht und auf Dauer andere vom Markt ausschließen, wenn sie in eine Position geraten, die Ideen, Innovationen oder Konkurrenzprodukte von vornherein verhindert, wenn also Markt verhindert wird, dann – und nur dann – muss der Staat eingreifen dürfen. Aber Ihre Vorschläge sind auf die Zerstörung dieser Unternehmen gerichtet und nicht auf die Wiederherstellung fairer Marktbedingungen.
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Bei den digitalen Märkten kommt neben den wettbewerbsrechtlichen Problemen das Problem des Datenschutzes hinzu. Wir können aber nicht so tun, als dürfe die digitale Revolution das Leben der Menschen nicht verändern. Es verändert das Leben der Menschen, und es muss das Leben verändern. Eine dieser Veränderungen, die wir begreifen müssen, ist, dass neben regulären Geldwährungen eine weitere Währung getreten ist, nämlich das Zahlungsmittel „Daten“.
Wir müssen digitale Angebote begreifen als das, was sie sind: Als invitatio ad offerendum,
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als Einladung zur Abgabe eines Angebotes: Du bekommst meine Daten, ich bekomme Zugang zu deiner Plattform. – Wer das nicht will, der muss das nicht tun. Der Staat ist kein Kindermädchen, auch wenn Sie von den Grünen das noch so schön fänden. Datenschutz liegt zuallererst und vornehmlich in der Verantwortung des Einzelnen.
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Der Einzelne muss sich aber auch dessen bewusst sein.
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Es muss sich ihm aufdrängen, dass eine Leistung etwas kostet, dass er seine Daten dafür hergibt.
Mit Ihrem Antrag, sehr geehrte Damen und Herren von den Grünen, würden die Anbieter digitaler Dienstleistungen in den Würgegriff des Staates geraten. Das können wir als AfD nicht unterstützen.
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Wir stimmen einer Überweisung zu – mit großen inhaltlichen Bedenken.
Vielen Dank.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Dröge, ich konnte Ihrem Antrag beim Lesen durchaus einiges abgewinnen. Ich habe bei Ihrer Rede leider das ein oder andere Fragezeichen hinzubekommen.
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Ich stehe nicht unbedingt in Verdacht, den Bundeswirtschaftsminister zu verteidigen, aber mich hat schon irritiert, dass Sie hier infrage stellen, dass man bei der Digitalisierung nicht „nur“ – das war das Zitat, das Sie richtig wiedergegeben haben – über die Risiken sprechen darf. Das ist ein schmaler Grat. In Ihrer Überschrift betonen Sie das doch eigentlich, dass es nämlich ebenso um einen fairen Wettbewerb geht – Wettbewerb als Grundlage dessen, wie unsere Wirtschaft aufgebaut ist – wie um Datenschutz und das Recht jedes Einzelnen auf informationelle Selbstbestimmung. Insofern wundert mich das schon ein bisschen.
Ich habe heute Morgen, nachdem ich die „FAZ“ lesen konnte, nachvollzogen, dass es Ihnen vielleicht mehr darum ging, mit Ihrem Antrag die Überschriften in dem Punkt zu dominieren, dass Facebook und WhatsApp getrennt werden müssen. Wenn das am Ende die Kernaussage Ihrer digitalpolitischen Agenda und dieses Antrags ist,
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dann ist das doch ein bisschen armselig.
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Ich gebe Ihnen an einer Stelle ausdrücklich recht: Facebook hat – das ist für mich überhaupt nicht nachvollziehbar – in der Anhörung die Marktmacht der eigenen Stellung verneint. Das ist aus unserer Sicht sehr, sehr fragwürdig, um nicht zu sagen: falsch. Ich mache das an einem Beispiel fest, das ab und zu bemüht wird. Stellen wir uns ein Café oder eine Kneipe vor. Wo gehen Sie hin? Sie gehen natürlich dahin, wo Ihre Freunde sind. Sie gehen ja nicht in die leere Kneipe eine Ecke weiter, nur weil Sie irgendwie aus Prinzip die Konkurrenz unterstützen wollen. Das alleine macht deutlich, welche faktische Macht dieses Unternehmen hat. Hinzu kommt, dass die Kneipe „Facebook“ 24 Stunden geöffnet hat, und das für täglich 23 Millionen Nutzer aus Deutschland.
Wir brauchen also mehr Auswahl; das ist richtig. Sie haben die Dateninteroperabilität – das ist ein tolles Wort – angesprochen. Das heißt – so wie es auf dem Telefonmarkt ist –, dass ich nicht nur innerhalb des Netzes meines Vertragsanbieters telefonieren kann. Das haben Sie richtig beschrieben. Das ist ein wichtiger Punkt; über den haben wir auch diskutiert. Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, dass auch die CDU, obwohl es in den Verhandlungen ein bisschen kritisch war, diesen Weg offensichtlich mitgeht. Wir haben in der letzten Bundesregierung auch die Datenmitnahme, also die Portabilität, geregelt. Insofern, glaube ich, ist es ein richtiger Weg, den wir dort beschreiten.
Ich möchte an dieser Stelle den Präsidenten des Bundeskartellamts zitieren – das ist nicht so selbstverständlich, dass er die Bundesregierung lobt, da er einen anderen parteipolitischen Hintergrund hat –, der klar gesagt hat, dass nach der letzten Novelle des Wettbewerbsrechts nach seiner Meinung das deutsche Wettbewerbsrecht das modernste weltweit ist. Das heißt übrigens nicht, dass wir dort schon alles geregelt haben. Das zeigt aber doch, dass die Kartellbehörde auch bisher in der Lage war, das Verfahren gegen Facebook anzustrengen und dass dort in den letzten Jahren schon sehr viel unternommen wurde. Ich will den Kollegen, der eben gesprochen hat, nicht wiederholen. Aber es zeigt eben auch, dass wir immer wieder unsere eigenen Rechtsgrundlagen anpassen müssen, wenn sich Veränderungen ergeben.
Wir müssen sagen, dass der Facebook-Skandal – das haben Sie aus meiner Sicht weder in Ihrem Antrag noch in Ihrer Rede erfasst – eine viel größere Dimension hat als das, was hier dargelegt wurde. Denn dort geht es um eine Sammelleidenschaft eines Unternehmens, nicht nur von Daten, die auf der eigenen Seite zur Verfügung gestellt werden – wissentlich oder unwissentlich; ich habe dazu eine etwas andere Meinung; viele wissen, in was sie da einwilligen –, sondern weit über die eigene Seite hinaus.
Insofern hat Ihr Antrag in der Überschrift und in vielen Bereichen eine wirklich gute Intention. Wir werden Sie in den Diskussionen im Ausschuss gerne dabei unterstützen, aus dieser Intention konkrete Politik zu machen. Darauf freue ich mich.
Herzlichen Dank.
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Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Reinhard Houben.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Angesichts der Marktkonzentrationen und Datenmissbrauchswelle ist eine Debatte über die Regulierung digitaler Märkte durchaus richtig; aber eben nicht nur für die Verbraucher, sondern auch für Unternehmer und digitale Start-ups. Liebe Frau Dröge, ich habe mir Ihren Antrag eben noch einmal angeschaut. Also, wenn das mit Facebook so schrecklich ist: Sie sind ja immer noch auf dieser Plattform.
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Und wenn es so schrecklich ist, dann hat man als mündiger Konsument durchaus die Möglichkeit, zu kündigen.
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Das hätten Sie machen können. Das hätten wir alle machen können. Deswegen ist die Glaubwürdigkeit an dieser Stelle nicht ganz so stark.
Wenn ich gewusst hätte, dass hinter der Überschrift im Grunde ein Facebook-Antrag steht – der Kollege Mohrs hat das eben ausgeführt –, dann hätten wir vielleicht auch anders auf diese Diskussion reagiert; denn im Grunde ist Ihre Initiative zwar zu begrüßen, aber sie ist nicht besonders neu. Wenn Sie Ihren Entschließungsantrag aus dem März 2017 danebenlegen, kann ich nur sagen: Sehr viel Copy-and-paste und sehr wenig Innovation.
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Die technische Entwicklung schreitet rasant voran.
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– Genau: Neuland. Danke für das Stichwort. – Es gibt schon Diskussionen in den entsprechenden Szenen, die besagen: Die Technologie der Plattformen ist schon wieder auf dem absteigenden Ast. Die Möglichkeiten der Blockchain-Technologie etablieren sich. Sie sind schon vorhanden auf dem Markt für Reisen und in der Mobilität. Deswegen sind digitale Plattformen nicht alternativlos. Es kann durchaus sein, dass Regelungen, die heute getroffen werden sollen, morgen der Realität gar nicht mehr standhalten.
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Das heißt nicht, dass wir grundsätzlich gegen Regulierungen sind. Es stellt sich nur die Frage, womit man anfängt. Unserer Meinung nach ist die Aufhebung der Marktmacht durch einen staatlichen Eingriff der letzte Schritt; bei Ihnen ist es die erste Forderung. Wir brauchen für die digitale Wirtschaft nämlich Freiraum, damit sie sich entfalten kann.
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Gerade wenn wir Start-ups fördern wollen, dürfen doch die Zugangsschranken nicht so hoch sein. Außerdem möchten wir in diesem Land doch eine digitale Transformation erreichen. Wenn wir nicht auf Innovation, sondern nur auf Regulierung setzen, werden wir dieses Ziel gemeinsam nicht erreichen können.
Ihr Vorschlag, dem Bundeskartellamt weitere Ermittlungs- und Sanktionsbefugnisse zu geben, ist aus unserer Sicht einfach verfrüht. Vor nicht einmal einem Jahr – das ist eben schon erwähnt worden – ist das überarbeitete Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in Kraft getreten. Seither hat das Kartellamt Prüfmöglichkeiten. Aber noch bevor das Kartellamt sein Verfahren wegen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung gegen Facebook abgeschlossen hat, fordern Sie weitere Kompetenzen.
Dazu möchte ich Kartellamtspräsidenten Mundt zitieren. Er hat gesagt: Lasst uns die Verfahren erst einmal machen und entscheiden, was erlaubt ist und was nicht.
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Die ersten Korsettstangen sind dann eingezogen, und wenn das dann alles nicht reicht, können wir immer noch über weiter gehende Maßnahmen diskutieren.
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Alles in allem, meine Damen und Herren: Dieser Antrag ist ein Schnellschuss. Ich hatte nicht gedacht, dass es sich um einen Facebook-Antrag handeln würde.
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Ich hatte eigentlich gehofft, dass wir etwas tiefer und ernsthafter über die Problematik der Regulierung im Ausschuss diskutieren könnten. Wir werden der Vertagung zustimmen.
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Ich bin im Moment pessimistisch, dass wir inhaltlich weiterkommen.
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Anke Domscheit-Berg für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Nachdem Facebook zuließ, dass ein Drittanbieter Daten von Millionen Facebook-Nutzern abzog, um Wahlmanipulationen vorzunehmen, ist der Aufschrei groß, und auf einmal sind digitale Monopole für alle Parteien ein Problem. Vielleicht ist dadurch aber endlich eine effektivere Regulierung möglich. Ich würde das sehr begrüßen; denn bisher haben die EU und auch die Bundesregierung eher dazu beigetragen, dass Konzerne von einer Größenordnung entstehen konnten, wie es sie vorher noch nie gegeben hat.
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Ein Viertel der Weltbevölkerung nutzt Facebook. Das Bundeskartellamt bescheinigte dem Unternehmen bereits eine marktbeherrschende Stellung. Ich lernte 1996 beim Studium der internationalen Betriebswirtschaft in England, dass Monopole dazu neigen, ihre Marktmacht zu missbrauchen, und aus diesem Grund gefährlich sind. Deshalb mischen sich das Bundeskartellamt oder die EU ja auch immer wieder ein, wenn Supermarktketten oder Fluglinien miteinander fusionieren wollen. Niemand verhinderte aber, dass Facebook Instagram und WhatsApp übernahm und damit noch mehr Zugriff auf Nutzerinnen und Nutzer und ihre Daten bekam.
Die obszönen Gewinne, auf die im Übrigen kaum Steuern gezahlt werden, entstanden eben auch auf Basis unfairer Wettbewerbsbedingungen; denn durch den Netzwerkeffekt werden kleine Diensteanbieter massiv benachteiligt. Ich will die Wirkung des Netzwerkeffekts einmal kurz erklären: Über 30 Millionen Menschen nutzen aktiv Facebook in Deutschland. Wer sich mit vielen Bekannten, Freunden und Verwandten austauschen will, hat gar keine Alternative, als dort zu sein. Deshalb übrigens, Herr Houben, ist wahrscheinlich auch Frau Dröge dort mit einer Präsenz vertreten. Das haben Sie wohl nicht verstanden.
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Die Konsequenz ist: Auch die schlimmsten AGB von Facebook werden ungelesen akzeptiert. Mit dieser Art Erpressung missbraucht Facebook aber seine marktbeherrschende Stellung. Hier hat nämlich auch das innovativste Start-up keine Chance. Der Markt ist völlig verzerrt. Das Kartellamt muss hier entsprechend entscheiden, und die Regierung muss handeln.
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Die Datenschutz-Grundverordnung der EU verbessert immerhin den Verbraucherschutz; denn sie verpflichtet zu einfacheren AGB, zu mehr Schutzmöglichkeiten für die Privatsphäre und zur Möglichkeit, die eigenen Daten von einem sozialen Netzwerk in ein anderes mitzunehmen. Aber das reicht nicht; denn wenn ich mit meinen Facebook-Daten zu irgendeinem anderen kleinen alternativen Netzwerk wechsele, bin ich dort immer noch fast allein und kann nicht mehr mit meinen Facebook-Freunden kommunizieren. Deshalb braucht es eine Pflicht zur Interoperabilität, also einheitlichen Standards, wie wir sie von ganz vielen anderen Bereichen längst kennen. Französische und spanische Eisenbahnen fahren ja auf unseren Gleisen auch ohne Probleme herum.
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Wir können uns E-Mails mit Anhängen aller Art schicken, egal bei welchem Anbieter wir ein E-Mail-Konto haben. Alle nutzen das gleiche Protokoll dafür, und deshalb funktioniert es auch.
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Aber wir können weder eine Nachricht noch ein Foto noch einen Link auf eine vergleichbare Art und Weise gleichzeitig an Freunde in unterschiedlichen Netzwerken schicken und anschließend ihre Kommentare oder Likes dazu sehen. Soziale Netzwerke sind heute wie Nationalstaaten mit Trump-Mauer drum herum, nur ohne Grenzübergang und ohne grenzüberschreitende Kommunikation. Es wird Zeit, dass wir das Gemeinwohl mutiger per Gesetz schützen und die Macht digitaler Konzerne begrenzen,
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auch durch das Einreißen künstlicher Mauern. Ich bin sicher: Viele Menschen würden die neue Freiheit nutzen und sich zu alternativen sozialen Netzwerken bewegen, wenn sie der Netzwerkeffekt nicht mehr dafür bestraft und sie gleichzeitig mit Hilde auf Facebook kommunizieren können, mit Charlotte auf Twitter, mit Max auf Snapchat und mit Michael vielleicht auf identi.ca . Wenn sich so Nutzerinnen und Nutzer breiter auf unterschiedliche Netzwerke verteilen, verringert sich automatisch die Marktmacht von Facebook. Es freut mich daher, dass der Antrag der Grünen auch die Interoperabilität enthält, neben vielen anderen sinnvollen Regulierungsvorschlägen für fairen Wettbewerb und besseren Datenschutz, deren Umsetzung es außerdem braucht. Die Linksfraktion wird daher diesen Antrag unterstützen.
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Im Übrigen bin ich der Überzeugung, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht ins Strafgesetzbuch gehören. § 219a StGB gehört endlich abgeschafft.
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Es spricht als Nächster der Kollege Hansjörg Durz für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Digitale Plattformen können ein großer Gewinn für Verbraucherinnen und Verbraucher sein. So beginnt der Antrag der Grünen, den wir hier heute debattieren. Zweifellos sind sehr viele Menschen der Überzeugung, dass digitale Plattformen ein großer Gewinn für sie sind. Das zeigen schlichtweg die Zahlen. Wir haben es bereits mehrfach gehört: Facebook hat weltweit 2,1 Milliarden Nutzer, davon 30 Millionen in Deutschland. Über WhatsApp, das zu Facebook gehört, werden jeden Tag 60 Milliarden Nachrichten verschickt. Eine andere Plattform, Google, hat bei Suchmaschinen auf mobilen Endgeräten in Deutschland einen Marktanteil von 98 Prozent. Da kann man zweifelsohne von einer marktbeherrschenden Stellung sprechen. Der Präsident des Bundeskartellamtes, Andreas Mundt, der schon mehrfach erwähnt wurde, kommt zum gleichen Ergebnis – Zitat –: „Nach unserer bisherigen Einschätzung ist Facebook marktbeherrschend.“
In seiner ersten Rede als Bundeswirtschaftsminister hat Peter Altmaier ein flammendes Plädoyer für die soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard gehalten. Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Dröge, fand ich, dass er genau die richtigen Worte gefunden hat.
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Und genau diese soziale Marktwirtschaft müssen wir auch auf die digitalen Märkte übertragen. Erhard sprach von Wohlstand für alle und von Wohlstand durch Wettbewerb. Beides gehört untrennbar zusammen. Das erste Postulat kennzeichnet das Ziel und das zweite den Weg. Wettbewerb ist in der sozialen Marktwirtschaft absolut zentral.
Der Schutz des Wettbewerbs ist eine wesentliche ordnungspolitische Aufgabe. Die Hüter des fairen Wettbewerbs haben auch die digitalen Plattformen im Blick; das wurde bereits mehrfach erwähnt. Beim Bundeskartellamt läuft aktuell ein Prüfverfahren gegen Facebook, und auf EU-Ebene wurde von der Wettbewerbskommissarin eine Rekordstrafe in Höhe von 2,4 Milliarden Euro gegen Google verhängt. Diese Verfahren wirken, aber diese Verfahren sind auch langwierig. Wettbewerbskontrolle ist eine Maßnahme, um für mehr Wettbewerb zu sorgen. Hier müssen wir – das ist übrigens auch im Koalitionsvertrag vereinbart – darüber reden, wo wir bei Missbrauchs- und Fusionskontrolle gesetzgeberisch nachschärfen müssen.
Bei den Maßnahmen zu digitalen Plattformen müssen wir aber berücksichtigen, dass einerseits mehr Wettbewerb geschaffen werden muss, der Kundennutzen aber andererseits nicht auf der Strecke bleiben darf. Das ist gerade das zentrale Versprechen des Wettbewerbs: ein Mehrwert für die Gesellschaft. Das macht aber Regulierung bei digitalen Plattformen schwierig; denn viele Plattformen – Facebook ist dafür ein gutes Beispiel – sind für Nutzer umso attraktiver, je mehr Nutzer auf der Plattform sind. Diese sogenannten Netzwerkeffekte unterscheiden digitale Plattformen ganz wesentlich von vielen traditionellen Monopolen.
Eine zentrale Herausforderung für die Regulierung besteht also darin, den Wettbewerb zu fördern, ohne den Kundennutzen einzuschränken oder gar zu zerstören. Zwei zentrale Ansatzpunkte werden dabei helfen.
Erstens brauchen wir mehr Transparenz auf digitalen Plattformen. Die Nutzerinnen und Nutzer müssen wissen, was mit ihren Daten passiert. Hierzu bietet die europäische Datenschutz-Grundverordnung, die am 25. Mai in Kraft tritt, die richtigen Mittel. Die Bundesregierung hat im Übrigen sehr aktiv daran mitgearbeitet. Mit Inkrafttreten werden die Datenschutzregeln in allen Staaten der EU vereinheitlicht. Plattformen müssen dann offenlegen, wie sie mit den Daten der User umgehen. Nutzer können Unternehmen fragen, was über sie gespeichert ist, die Herausgabe bestimmter Daten verlangen, auch um sie, wie die Handynummer, zu anderen Anbietern mitzunehmen. Das schafft Transparenz, erhöht den Kundennutzen und schafft gleiche Regeln für alle Wettbewerber.
Die EU-Kommission setzt in ihren heute veröffentlichten Vorschlägen zur Regulierung von Plattformen ebenfalls auf Transparenz. So sollen Plattformbetreiber wie Google oder Bing von Microsoft zukünftig offenlegen, nach welchen Kriterien sie Suchergebnisse priorisieren. Zugleich müssen sie transparent machen, wenn sie konzerneigene Dienste bevorzugen. Mit den neuen Regeln sollen jene oft kleinen Wettbewerber vor dem Missbrauch der Marktmacht der marktbeherrschenden Unternehmen geschützt werden. Ein weiterer Ansatz, um fairen Wettbewerb auf und zwischen Plattformen herzustellen.
Der zweite große zentrale Ansatzpunkt steht auch im Koalitionsvertrag und wurde damals von der Union favorisiert; es gab dazu keine großen Diskussionen. Das ist die Verpflichtung zur Interoperabilität. Eine Schnittstellenverpflichtung gibt es bereits in vielen anderen Bereichen. Die Telekommunikation ist beispielsweise erwähnt worden. Als Kunde der Telekom kann ich selbstverständlich auch mit Kunden von Vodafone telefonieren. Wenn ich allerdings WhatsApp nutze, kann ich mit keinem einzigen anderen Messengerdienst Nachrichten austauschen. Es liegt also auf der Hand: Gäbe es Schnittstellen zwischen den unterschiedlichen Messengerdiensten, gäbe es Wettbewerb ohne Einschränkung des Kundennutzens. Ganz im Gegenteil: Die Nutzer würden vom Wettbewerb der Anbieter profitieren.
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Der vorliegende Antrag der Grünen beschäftigt sich unter anderem mit diesem Thema. Leider enthält er auch Vorschläge – das ist bereits kritisch angemerkt worden –, insbesondere die Einführung von Gruppenverfahren und die Entflechtungsmöglichkeiten für Unternehmen, die wir so nicht mittragen können und die keinen Beitrag zu mehr Wettbewerb leisten. Unabhängig davon müssen wir uns bei all den Vorschlägen darüber klar werden, welche Themen sinnvollerweise national und welche zumindest auf europäischer Ebene angegangen werden müssen. Diese und weitere Punkte werden wir im Ausschuss debattieren. Für uns gilt aber immer das Ziel, die soziale Marktwirtschaft in der digitalen Welt zu gestalten.
Vielen Dank.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Jens Zimmermann von der SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich fand, es war eine sehr gute Debatte, die wir hier geführt haben. Die Notwendigkeit des Themas ist natürlich durch die aktuellen Diskussionen rund um Facebook klar. Wir hatten am vergangenen Freitag eine gemeinsame Anhörung mit dem Ausschuss für Digitale Agenda und dem Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Auch dort ist das noch einmal deutlich geworden.
Aber es ist eben nicht nur das Thema Facebook, das uns hier umtreiben sollte. Der Ausschuss Digitale Agenda hat gestern seine Sitzung auf der Hannover Messe abgehalten. Dort haben wir eben auch über das Thema Plattformen und die Frage gesprochen, wie dort die Entwicklungen laufen werden. Das ist für die deutsche Wirtschaft, für die deutsche Industrie eine Frage, die ebenso bedeutsam ist. Ich empfand es als ein bisschen schade, dass keine Vertreterin und kein Vertreter der Grünen bei der Sitzung und dem Messerundgang dabei waren, weil dies für die Debatte hier mit Sicherheit auch gut gewesen wäre.
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– Ja, Sie waren auf der Luftfahrtmesse, das ist klar. Aber man kann sich ja im Zweifel auch aufteilen.
Ohne Zweifel aber – das ist in dieser Debatte auch klar geworden – gilt es, Monopole zu bekämpfen, weil am Ende die Nutzerinnen und Nutzer dadurch Nachteile haben werden. Aber wir haben im Koalitionsvertrag ein ganzes Bündel an Maßnahmen niedergeschrieben, um diese Themen anzugehen.
Wenn wir uns aber noch einmal Facebook anschauen, dann sehen wir, dass der Markt dort nicht richtig funktioniert; denn trotz des aktuellen Skandals, trotz des Vertrauensverlustes und trotz der mangelnden Bereitschaft von Facebook, Abhilfe zu schaffen, haben wir keinen Exodus der Nutzerinnen und Nutzer. Das hat eben auch etwas damit zu tun, dass es diesen Netzwerkeffekt und dass es einen Mangel an Alternativen gibt.
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Deswegen müssen wir an dieser Stelle tätig werden.
Die Konkurrenz muss belebt werden, weil – das ist auch wichtig, Herr Kollege – Folgendes vollkommen richtig ist: Ich glaube, wir werden technische Innovationen auch im Bereich der Plattformen sehen. Das Thema Blockchain-Technologie ist angesprochen worden. Aber ein großes Problem, das wir mit Monopolisten immer haben, besteht darin, dass sie natürlich auch über die nötigen Ressourcen und Mittel verfügen, um Forschung und Entwicklung voranzutreiben. Das ist bei Facebook ausweislich der aktuellen Zahlen genauso der Fall wie im Übrigen bei Google. Angesichts dessen, wie diese beiden Unternehmen mittlerweile die Forschungslandschaft dominieren, müssen wir uns darüber Sorgen machen, dass auch die nächste und übernächste Technologie wieder ähnlich vermachtet wird, meine Damen und Herren.
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Mir ist aber wichtig, weil es in dieser Debatte mehrfach angesprochen worden ist, auch noch einmal auf das Thema zu sprechen zu kommen, wie wir eigentlich dafür sorgen können, dass diese Plattformen nicht solch abgezäunte Bereiche sind, sodass man nicht von einer Plattform zur anderen kommunizieren kann. Da gibt es das Wort „Interoperabilität“; das ist schon wieder etwas, wo die meisten Zuhörerinnen und Zuhörer aussteigen. Aber die Frage ist ja einfach: Warum kann ich nicht vom Facebook-Messenger zum Beispiel auf meinen Freemail-Account eine Nachricht schicken? Dies ist so, weil man natürlich versucht, die Nutzerinnen und Nutzer zu halten. Ich freue mich sehr, dass wir in der Koalition neben den gesamten Maßnahmen zur Modernisierung des Kartellrechtes jetzt auch auf dem richtigen Weg sind, den Weg für eine gesetzliche Regelung zur Interoperabilität freizumachen.
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In diesem Sinne glaube ich, dass wir eine gute weitere Diskussion zu Ihrem Antrag haben werden. Darin sind viele richtige Punkte enthalten; sie kommen mir aus dem Koalitionsvertrag sehr bekannt vor. Ich freue mich, dass die Grünen in jeder Sitzungswoche einen digitalpolitischen Antrag einbringen. Das gibt uns als Mitgliedern des Ausschusses die Möglichkeit, diese wichtigen Themen hier zu diskutieren.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Ich habe keine weitere Wortmeldung zu diesem Tagesordnungspunkt. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1852 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns mit dem Mandat EUTM Mali zum letzten Mal im Jahr 2013 befasst. Heute geht es darum, ob wir dieses befristete Mandat erneut um ein Jahr verlängern.
Ich darf auch mit Blick auf die Diskussion von heute Nachmittag zum MINUSMA-Mandat sagen: Jedes Mal, wenn wir uns mit der Verlängerung von Mandaten befassen, tun wir dies im vollen Verantwortungsgefühl.
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Mit Blick auf unsere deutschen Soldaten fragen wir uns nämlich: Ist dieser Einsatz tatsächlich notwendig? Insofern lassen Sie mich, bevor ich auf das Mandat eingehe, die Gelegenheit nutzen, den Soldatinnen und Soldaten, den Sicherheitskräften, aber auch den zivilen Aufbauhelferinnen und Aufbauhelfern zu danken.
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Ihnen gebührt unsere Anerkennung für jedes, aber auch jedes riskante Mandat, für jeden Einsatz, der leider notwendig ist.
Lassen Sie mich zu Mali kommen. Richtig, die Geschichte Malis ist von regionalen Konflikten nur so geprägt, sei es die koloniale Geschichte unter der französischen Herrschaft, seien es die nationalen Putsche, die Aufstände der Tuareg oder jüngst der Einfall islamistischer Kämpfer.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie kennen Mali nicht? Dann habe ich einen Filmtipp für Sie. Ich lege Ihnen den Film „Mali Blues“ und vor allem den Gesang von Fatoumata Diawara ans Herz. Wenn Sie sich diesen Film anschauen, dann lernen Sie, dass Mali die Wiege des Blues und Jazz ist, den die afrikanischen Sklaven später auf die Baumwollfelder Amerikas exportiert haben. Warum erwähne ich dies? Die traditionelle Musik hält in Mali schon seit Jahrhunderten die Gesellschaft zusammen, doch auch die Musikszene in Mali ist von dschihadistischen Attacken bedroht. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns bemühen, mit dem Einsatz auch die Zivilgesellschaft zu stärken.
Was muss man zu diesem Einsatz wissen? Ich mache dies an vier Eckdaten deutlich: Erstens geht es um die Entsendung von maximal 350 Soldatinnen und Soldaten, und es geht, zweitens, um ein Jahr Verlängerung. Drittens geht es um eine Ausbildungsmission und, viertens, um unsere gute und weiterzuführende europäische Kooperation. Ziel ist es schließlich, die Entwicklung hin zu einer belastbaren Sicherheitsarchitektur weiter voranzutreiben. Und ja, wir leisten dort Hilfe zur Selbsthilfe, liebe Kolleginnen und Kollegen, und die ist absolut notwendig. Es geht schließlich um Leben und Unversehrtheit der dortigen Bevölkerung.
Richtig ist – das zeigen auch die Zahlen des UNHCR –: Es sind in Mali immer noch viel zu viele Flüchtlinge unterwegs, seien es Binnenflüchtlinge oder Flüchtlinge an den Grenzen zu den Nachbarländern. Frau Kofler hat das vorhin schon einmal deutlich gemacht.
Ich will nicht unerwähnt lassen, dass ich bei der Lektüre einer Studie der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit ein hochinteressantes Zitat lesen konnte. Bei dieser Studie ging es um das Image Deutschlands in der Welt. Ich will Ihnen – mit Verlaub, Herr Präsident – ein Zitat eines Interviewpartners aus Mali bekannt geben. Dort heißt es:
Afrikaner müssen mehr Verantwortung übernehmen. Sie brauchen aber die internationale Unterstützung und vor allem Deutschlands Unterstützung.
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So ist es in der Tat. Es geht um stabile Verhältnisse, und schließlich ist unsere Mission auch ein Versprechen an die Flüchtenden, die in ihr Land, in ihre Heimat zurückkehren wollen, weil sie dort in Frieden leben wollen. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass die AfD dies nicht akzeptiert.
Es geht um die Zustimmung zu diesem Mandat, und sie zu verweigern, hielte ich für fatal, ja, sogar für fahrlässig. Warum? Wir sind in der Tat noch weit von der Zielvorstellung einer funktionierenden und stabilen Zivilgesellschaft entfernt. Dennoch gilt es, dieses Mandat weiterzuführen; denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir retten tatsächlich Leben. Darum geht es doch.
Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Zeit?
Ja. – Deshalb bitte ich Sie ganz ausdrücklich, dieses Mandat zu unterstützen. Lassen Sie uns ein verlässlicher Partner in der Weltgemeinschaft sein. Unterstützen Sie dieses Mandat, trotz, mit oder ohne Mali-Blues.
Vielen Dank.
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Für die AfD-Fraktion spricht der Kollege Jens Kestner.
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Herr Präsident! Werte Damen und Herren und Besucher der heutigen Sitzung! Mali ist 1,24 Millionen Quadratkilometer groß und mit rund 18 Millionen Menschen bevölkert. Die alte Regierung war bis ins Mark korrupt. Die neue Regierung hat von den Vorgängerinnen bestimmt viel gelernt.
Die Bundesregierung will den Einsatz EUTM Mali ausweiten und verlängern. 350 deutsche Soldatinnen und Soldaten sollen nun bei dieser Ausbildungs- und Beratungsmission die malischen Streitkräfte ausbilden und beraten. Wenn man den bisherigen Zahlen der Regierung glauben darf, so sollen schon über 10 000 Sicherheitskräfte ausgebildet worden sein. Ich stelle mir die Frage: Wie stellt man in fünf Jahren mit diesem Ansatz der Kräfte eine fachlich fundierte Ausbildung in der Größenordnung einer Division auf die Beine?
Wenn man sich die Daten auf der offiziellen Seite eutmmali.eu anschaut und sich dort genauer mit dem Zahlenwerk beschäftigt, so gelangt man zu der Erkenntnis, dass hier eine maximale Ausbildungsdauer von vier Monaten angesetzt wird.
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– Ja, hören Sie zu: Die Dauer der Einsatzausbildung pro Soldat in Deutschland beträgt zwölf Monate, sie beträgt also das Dreifache – das für all diejenigen, die nicht gedient haben, und davon gibt es hier ja eine Menge.
Die Ausbildung der malischen Soldaten beinhaltet auch einen hohen Anteil an politischer Bildung. Militärfachlich erhalten die malischen Soldaten somit nur ein Viertel der Ausbildung wie unsere deutschen Soldaten. So wollen wir sie in malische Einsätze schicken? Ich vermute, in der Realität ist es meist noch viel schlimmer.
Die Nettoausbildungszeit beträgt in der Praxis eher nur acht Wochen, da es Reibungsverluste durch die Sprachbarriere und durch andere Friktionen gibt. Das ist immer noch unter dem Niveau der allgemeinen Grundausbildung. Und wir entlassen diese von uns ausgebildeten Soldaten auf das Schlachtfeld in Mali und wissen, dass ihre Überlebensfähigkeit sehr gering ist? Da kann ich es diesen Soldaten nicht verübeln, wenn sie bei der nächstbesten Gelegenheit die Beine in die Hand nehmen.
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– Hören Sie zu.
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– Ganz bestimmt. Sie sollten sich das einmal durchlesen.
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– Ja, ja. Sie sind doch mit dabei im Ausschuss. Sie sollten es doch viel besser wissen.
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– Dann können Sie ja gleich etwas dazu sagen. – Und wer trägt die Verantwortung dafür? Das ist die hier nicht anwesende Ministerin. Wenn wir über eine Mandatsverlängerung entscheiden, erwarte ich von ihr, dass sie wenigsten anwesend ist.
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Sie ist für mich maßgeblich mit dafür verantwortlich, was ich hier eben angesprochen habe.
Vor allen Dingen: Wie wird überprüft, dass die gerade Ausgebildeten nicht die Seite wechseln und ihre neu erworbenen Fähigkeiten in den Dienst eines gut zahlenden Tuareg-Rebellenführers stellen? Sprechen Sie doch einfach einmal mit ihren, unseren Soldaten. Als im Rahmen der EUTM die Mörserausbildung abgeschlossen war, gab es kritische Nachfragen, warum denn auf einmal, quasi über Nacht, die Angriffe der Rebellen wesentlich präziser waren als vorher. Diese Frage müssen Sie sich auch einmal stellen.
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An die Frau Ministerin gerichtet, sage ich: Es kann nicht der richtige Ansatz sein, hier alles so schön verkaufen zu wollen.
Parallel muss man auch die Bemühungen des Außenministeriums prüfen. Mit welchen Regierungsvertretern spricht man? Wie korrupt oder verlässlich sind diese Leute wirklich? Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung muss sich die Frage gefallen lassen, was nach über 50 Jahren Unterstützung und Präsenz in diesem Land an Erfolgen vorliegt. Es ist nicht gelungen, die Kriminalität, die Korruption und die Vetternwirtschaft auf allen Ebenen einzudämmen sowie die Wirtschaft zu beleben. Es ist alles eher noch viel schlimmer geworden.
Wie schon in Afghanistan und beim MINUSMA-Einsatz als solches: Auch bei EUTM Mali verschließen Sie die Augen vor der Wirklichkeit. Sie wollen gar keinen robusten Einsatz auf allen Ebenen. Die Bekämpfung von Terror, Kriminalität und irregulärer Migration würde eine feste Zielvorgabe voraussetzen. Die deutschen Interessen wären klar definiert. Vor allem würde es einen viel höheren Ansatz der Kräfte geben.
Was Sie hier betreiben, ist kosmetische Politik zulasten unserer Soldaten und vor allen Dingen zulasten unseres Volkes. Bedeuten Ihnen die Männer und Frauen in unseren Streitkräften wirklich so wenig?
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Besinnen Sie sich – damit meine ich auch die hier nicht anwesende Ministerin –: Sie sind für unsere Soldaten da und nicht unsere Soldaten für Sie und Ihre unfähige Art, Politik zu betreiben. Richten Sie ihr das bitte auch aus.
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Hören Sie mit dieser Politik auf! Entfernen Sie die Jasager und die Abnicker aus Ihrem Umfeld! Finden Sie zurück auf einen Weg, der Deutschland dient.
Die AfD wird diesen Einsatz ablehnen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Markus Koob.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns am heutigen Tag schon zum zweiten Mal mit der Republik Mali, die mit ihren 18,7 Millionen Einwohnern, ihrer historischen Entwicklung und ihren aktuellen Problemen und Herausforderungen stellvertretend für viele afrikanische Länder steht. Die Perspektivlosigkeit der jungen Bevölkerung und vor allem die nationale Sicherheitslage hemmen die Entwicklung des Landes.
Es lohnt aber, einen Blick auf das Mali von vor fünf oder sechs Jahren zu werfen: ein Staat, der sich im Zerfall befand, ein Staat, in dem der islamistische Terrorismus auf dem Vormarsch war, ein Staat, in dem die Menschen unter den Kämpfen rivalisierender Gruppen litten – bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen –, ein Staat, in dem religiöse Monumente zerstört worden sind, ein Staat, dessen Präsident schließlich angesichts der Umstände um externe Hilfe bat. Frankreich, ein EU- und NATO-Partner, übernahm als Erster Verantwortung. Erst danach folgten internationale Missionen der Vereinten Nationen, der Europäischen Union und der Afrikanischen Union, um die Lage in Mali zu stabilisieren.
Heute stehen wir vor der Entscheidung über die Fortsetzung der Ausbildungsmission in Mali, zu der auch die Bundeswehr Streitkräfte entsendet. Es ist zwar richtig – auch das ist in der ersten Debatte heute über Mali schon angeklungen –, dass sich die Ausgangslage nicht in dem Maße verbessert hat, wie wir alle uns das erhofft und gewünscht haben. Es hat einen Stabilitätsgewinn gegeben, es hat Fortschritte im Befriedungsprozess gegeben, aber in einigen Regionen hat es leider auch Rückschritte und eine Zunahme der Auseinandersetzungen der Konfliktparteien gegeben. Insofern zeichnet der Status quo Licht und Schatten. Es gehört zu einer ehrlichen Betrachtung, zu sagen, dass wir Regionen in Mali haben, in denen sich die Sicherheitslage verschlechtert hat.
Dennoch glaubt unsere Fraktion, dass Marschrichtung und Zielsetzung dieses Einsatzes richtig bleiben. Ziel dieser Mission ist die Ausbildung malischer Streitkräfte. Wir sollten die Ausbildungserfolge unserer Soldatinnen und Soldaten nicht kleinreden, wie die AfD das hier tut. Natürlich ist es nicht so, dass wir dort irgendwelche Bauern ausbilden, die keinerlei Vorkenntnisse haben – Ihre Vorstellung entspricht insofern nicht der Realität –, sondern viele haben eine Vorbildung. Die Ausbildung durch die deutschen Bundeswehreinheiten wird aufgesetzt und ist sehr wohl ein wichtiger Beitrag, um die Sicherheitslage vor Ort zu verbessern.
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Mali soll und muss weiterhin ertüchtigt werden, um in Zukunft in der Lage zu sein, die Sicherheit eigenständig zu gewährleisten. Die Bundeswehr leistet aktuell durch Ausbildung, Beratung, Sicherung, Schutz und sanitätsdienstliche Versorgung einen erheblichen Beitrag zur Wiederherstellung und zur Wahrung staatlicher Strukturen in Mali. Ohne diese Beteiligung stünde Mali heute wesentlich schlechter da. Weil es nicht schlechter gekommen ist, gebührt unseren Soldatinnen und Soldaten Dank für ihren Einsatz.
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Wir bekennen uns zur Fortsetzung dieses Engagements, um die Sicherheitslage in Mali nachhaltig zu verbessern. Wir entwickeln die Grundlagen unseres Engagements weiter, damit grenzüberschreitende organisierte Kriminalität und transnational operierender Terrorismus effektiver bekämpft werden können. Deshalb halten wir auch die Beratung der sogenannten G-5-Sahelstaaten, die mit diesem Antrag ausgeweitet wird, für richtig. Der Ansatz ist richtig. Wir haben im Ausschuss lange darüber diskutiert, zum Beispiel darüber, wie die Rolle des Tschad in diesem Zusammenhang zu sehen ist. Ich glaube, auch hier kann die Bundeswehr einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung der Lage vor Ort leisten.
Wir begrüßen es außerdem, dass die Bundeswehr die Absicht hat, die Führung dieser Mission zu übernehmen, und die Zahl der maximal eingesetzten Soldatinnen und Soldaten von jetzt 300 auf 350 angehoben werden soll.
Es gibt in diesem Hause unterschiedliche Bewertungen dieses Antrags. Es gibt durchaus Gründe, aus denen man diesen Antrag ablehnen kann. Es ist schön, dass die AfD wenigstens hier sprechfähig ist und uns sagen konnte, warum sie den Antrag ablehnt. Im Ausschuss war das leider nicht der Fall. Es wäre schön, wenn die stellvertretenden Ausschussmitglieder künftig nicht nur hinsichtlich des Konsums von Kaffee und Schnittchen den eigentlichen Ausschussmitgliedern ebenbürtig wären, sondern auch inhaltlich in der Lage wären, Argumente zu liefern.
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Auch wenn man dieses Ziel vielleicht nicht unterstützen mag: Die Voraussetzungen für eine florierende Wirtschaft, für Frieden, Zukunftsperspektiven und eine erfolgreiche Entwicklungshilfe zu schaffen, ist ein Ziel, das unsere Fraktion auf jeden Fall für unterstützenswert hält. Deshalb halten wir an diesem Einsatz fest.
Wir haben als Europäerinnen und Europäer nicht nur ein humanitäres Interesse, sondern in der Tat auch ein geostrategisches Interesse daran, dass diese Region stabilisiert wird. Genauso wie es bei der Mission UNAMID in Darfur der Fall ist, ist diese Mission ebenfalls ein aktiver Beitrag, um Fluchtursachen zu bekämpfen und Perspektiven zu schaffen. Zu diesem Einsatz, zu diesem Mandat bekennen wir uns. Deshalb stimmen wir der Verlängerung des Mandates heute zu.
Herzlichen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Dr. Agnes Strack-Zimmermann das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir heute die Verlängerung des Einsatzes in Mali im Rahmen von MINUSMA beschlossen haben, geht es nun um weitere 350 Menschen, die wir zur Ausbildung der dortigen Streitkräfte in die Sahelzone entsenden. Damit werden in Zukunft bis zu 1 450 Soldatinnen und Soldaten in einem Land im Einsatz sein, in dem sich die Sicherheitslage – das gehört zur Ehrlichkeit dazu – zuletzt eher verschlechtert hat. Da stellen sich natürlich viele Bürgerinnen und Bürger, die uns beobachten und diese Debatte verfolgen, die Frage – das ist auch nachvollziehbar –: Warum machen wir das eigentlich? Warum schicken wir unsere Soldaten in diese Region, 4 500 Kilometer von Deutschland entfernt, und was hat Deutschland damit zu tun?
Die Antwort ist nicht so einfach. Aber wir sollten uns bemühen, diese Frage korrekt zu beantworten. Der Einsatz soll nämlich dabei helfen, Mali und die ganze umliegende Region zu stabilisieren. In dieser Region, in der es leider eine Vielzahl von politisch fragilen Staaten gibt, nimmt der Konflikt in Mali eine Schlüsselrolle ein. Kippt Mali, meine Damen und Herren, hätte das verheerende Auswirkungen auf die Menschen in Mali, aber auch auf die umliegenden Staaten.
Zur sofortigen Stabilisierung ist die UN im Rahmen von MINUSMA seit fünf Jahren auch mit deutschen Soldaten vor Ort. EUTM soll die langfristige Stabilisierung sichern, indem die Mission die malischen Sicherheitsbehörden dazu befähigt, wieder selbst für Sicherheit zu sorgen. Darüber hinaus ist es wichtig, auch die Sicherheitskräfte der G‑5-Sahelstaaten auszubilden. Es ist nämlich auch in unserem Interesse, dass die Staaten Mali, Tschad, Niger, Mauretanien und Burkina Faso in der Lage sind, lokale und regionale Krisen selbst zu bewältigen. Die Präsenz der Regierungen dieser Länder bei der Sicherheitskonferenz in München hat übrigens verdeutlicht, wie wichtig diesen Ländern unsere Unterstützung ist.
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Meine Damen und Herren, dass Mali unsere Unterstützung bekommt, ist auch in unserem Interesse. Eine Ausbreitung radikaler Islamisten in dieser Region würden auch wir in Deutschland zu spüren bekommen. Mali grenzt im Norden an Algerien; Niger und Tschad grenzen an Libyen. Algerien und Libyen liegen direkt am Mittelmeer und damit an der Außengrenze der Europäischen Union. Wie schnell vermeintlich weit entfernte Konflikte auch unser Leben beeinflussen können, mussten wir erfahren.
Es gibt Terrororganisationen, die auf der einen Seite in ihren Ursprungsländern morden, vergewaltigen und Millionen Menschen zur Flucht zwingen und auf der anderen Seite auch nicht davor zurückschrecken, im Herzen Europas Anschläge zu verüben. Das ist keine Spinnerei und keine übersteigerte Angstmacherei, sondern es ist – den Sicherheitskräften sei Dank – selten, aber doch Teil unserer Realität geworden. Dies beeinflusst das Sicherheitsgefühl aller Menschen in Deutschland und stellt auch die Kommunen vor große sicherheitstechnische Herausforderungen.
Diese geopolitischen Zusammenhänge müssen wir erklären. Nur so können wir in der deutschen Bevölkerung die nötige Akzeptanz erreichen und deutlich machen, warum wir dieses Mandat verlängern wollen. Diese Mission, die sich übrigens auch damit beschäftigt, vor Ort über Menschenrechte zu sprechen, ist ein wichtiger Beitrag, den wir dazu leisten können.
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Meine Damen und Herren, Deutschland übernimmt Verantwortung innerhalb der UN und innerhalb der EU. Deutschland übernimmt Verantwortung in Mali und für die G‑5-Sahelstaaten. Letztlich aber übernimmt Deutschland auch Verantwortung für die eigenen internationalen Interessen auf internationalem Parkett. Darum ist dieser Einsatz sinnvoll, und darum stimmen wir Freie Demokraten dem Antrag der Bundesregierung heute zu.
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Für die Fraktion Die Linke spricht die Kollegin Kathrin Vogler.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste auf den Tribünen!
Mein Mann ist seit 6 Tagen in dem gefährlichen Einsatz in Mali, und ich habe das Gefühl, dass es mir den Boden unter den Füßen wegreißt. Ich habe 5 Tage lang durchgeweint und kann einfach nicht zu Hause sein, allein. ... Wann fängt man sich, wann hört man auf, so zu trauern ...?
So schreibt die 28-jährige Sarah in einem Forum für Soldatenfrauen, und sie ist nicht die Einzige, der es so geht; denn in Mali befinden sich derzeit etwa 1 200 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Einsatz. Sie alle haben Angehörige und Freunde hier, die sie vermissen und die sich um sie sorgen. Denen müssten Frau von der Leyen und Herr Maas, die ich hier im Übrigen vermisse, einmal erklären, welchen Sinn ihre Einsamkeit und ihre Angst haben.
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Wir sprechen hier heute über den kleineren der beiden Einsätze, an denen die Bundeswehr in Mali beteiligt ist, nämlich die europäische Trainingsmission EUTM Mali zur Ausbildung der malischen Streitkräfte. Dabei hat die Bundeswehr in den letzten Jahren bereits 11 000 sogenannte Sicherheitskräfte in Mali ausgebildet, und inzwischen tut sie das auch in Burkina Faso, in Niger, in Mauretanien und im Tschad.
Warum sage ich „sogenannte Sicherheitskräfte“? Schauen wir uns doch einmal an, was Armee, Polizei und Geheimdienste in diesen Ländern tun, um die Sicherheit der Bevölkerung zu verbessern. Ich sage Ihnen: Da müssen Sie lange suchen.
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Zum Tschad etwa schreibt die evangelische Entwicklungshilfeorganisation Brot für die Welt Folgendes:
Im westafrikanischen Tschad veruntreut Präsident Idriss Déby Itno die Milliarden aus dem Ölgeschäft. Teile des Geldes investiert er in die Sicherheitskräfte, mit denen er die Zivilgesellschaft unterdrückt.
Und bei der Ausbildung dieser Unsicherheitskräfte helfen ihm jetzt freundlicherweise die EU und leider auch die Bundeswehr. Erklären Sie das mal der jungen Soldatenfrau, die deswegen um ihren Liebsten weinen muss.
Zu Mauretanien. Etwa 43 000 Menschen in Mauretanien leben in Sklaverei. Im Jahr 2018! Wer diese illegale Ausbeutung kritisiert, wird von den sogenannten Sicherheitskräften inhaftiert und gefoltert.
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Diese menschenunwürdigen Zustände hindern die EU aber nicht daran, Mauretanien im Rahmen dieses Mandats aufzurüsten, indem sie seine Streitkräfte ertüchtigen, wie es so schön heißt.
Dabei geht es doch gar nicht um die Menschen vor Ort und um die Schaffung eines Rechtsstaates, sondern einzig und allein darum, Flüchtlinge aus den Ländern südlich der Sahara schon in Mauretanien aufzuhalten. Dafür hat allein Spanien in den letzten Jahren Hunderte von Millionen Euro aufgebracht, und dazu dient leider auch die Ausbildung durch die Bundeswehr.
Schauen wir nach Niger. Dort ist die Zahl der Proteste und Demonstrationen in den letzten Jahren stark angestiegen.
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– Zu Mali komme ich schon noch. – Die „Washington Post“ meint dazu, das liege an den privilegierten Positionen des nigrischen Präsidenten Issoufou, dem der Westen den Rücken freihält. Die Journalisten schreiben dazu: Es ist unwahrscheinlich, dass die westlichen Geberländer Issoufous Verwaltung für die Verletzung der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit verantwortlich machen, solange er eine Operationsbasis für fremdes Militär zur Verfügung stellt.
Und auch in Mali selbst wächst der Widerstand der Bevölkerung gegen die ausländischen Truppen, und mit ihm wachsen auch die Proteste gegen die eigene Regierung, die die ausländischen Streitkräfte im Land duldet und trotzdem keine Sicherheit für die eigenen Leute garantieren kann.
Die Bundesregierung schreibt es doch selbst:
Tiefgreifende Reformen des Sicherheitssektors sind ausgeblieben.
Die Sicherheitslage habe sich nicht verbessert, insgesamt sogar verschlechtert. Die Umsetzung des Friedensabkommens komme nicht voran.
Das Verteidigungsministerium konnte mir im Auswärtigen Ausschuss nicht einmal genau darlegen, wie konkret verhindert werden soll, dass die ausgebildeten Soldaten zu bewaffneten Milizen wechseln oder selbst welche gründen.
Nein, meine Damen und Herren, an der Ausbildung von solchen Unsicherheitskräften sollte sich die Bundeswehr nicht mehr beteiligen, und deshalb sagt die Linke Nein zu diesem Mandat.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Dr. Frithjof Schmidt.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ausbildungsmission EUTM Mali ist inzwischen eigentlich eine Art Ergänzungsmandat der Europäischen Union zum eigentlichen Mali-Mandat für MINUSMA, der Mission der Vereinten Nationen, geworden. Über dieses Mandat für MINUSMA haben wir heute und auch vor wenigen Wochen schon intensiv diskutiert, und deswegen will ich nicht alles wiederholen, was wir in der Debatte vor zwei Stunden schon einmal gesagt haben. Aber ich glaube, für alle ist deutlich geworden, dass die politische Lage in Mali inzwischen nicht nur im Norden, sondern zunehmend auch im Zentrum und im Süden des Landes deutlich schlechter geworden ist. Deswegen ist es wichtig, zu sagen, dass Sicherheit und Stabilität in erster Linie politisch erreicht werden müssen und dass es jetzt in Mali zentral um eine Stärkung der Zivilgesellschaft im Kampf gegen die Korruption in der alten Führungselite des Landes geht. Hier müssen die internationale Gemeinschaft sowie wir als Europäische Union und auch als Bundesrepublik Deutschland unsere Anstrengungen energisch verstärken.
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Das fehlt mir in dieser Debatte. Ich glaube, dass wir über diese politische Komponente nicht ausreichend sprechen.
Wir müssen in diesem Zusammenhang übrigens auch unsere französischen Freunde davon überzeugen, dass sie zu einer Korrektur ihrer Politik des Françafrique, des Festhaltens an der alten Elite in diesem Land kommen müssen.
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Nur dann wird sich eine demokratische Entwicklung wirklich verstärken lassen. Nur dann wird man grundlegende Veränderungen herbeiführen können.
Die Antwort muss also in erster Linie politisch sein. Aber es kann auch keinen Zweifel daran geben, dass in dieser schwierigen politischen Lage die Ausbildung der malischen Armee durch die Europäische Union ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung des Landes ist. Nur so können dort die Grundlagen für den Aufbau des Staatsapparates gelegt werden. Deshalb haben wir Grüne es von Beginn an unterstützt, dass die Europäische Union gesagt hat: Okay, wir machen eine solche Ausbildungsmission. – Als Grüne bleiben wir auch in dieser schwieriger gewordenen Situation dabei. Deswegen werden wir diesem Mandat auch heute wieder zustimmen.
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Nachdem ich das gesagt habe, komme ich jetzt zu einer wichtigen Kritik an der Art, wie Sie dieses Mandat fortschreiben. Was wir nicht in Ordnung finden, ist die schleichende Ausdehnung dieses Mandates zur Ausbildung in unterschiedlichen Nachbarländern. Mit dem neuen Mandat dürfen deutsche Soldaten nämlich jetzt auch in Niger, in Mauretanien und im Tschad die G-5-Antiterroreingreiftruppe ausbilden und beraten. Das ist eine faktische Vermischung dieses Einsatzes in Mali mit dem Einsatz in den anderen Ländern. Das unterläuft nach meiner Meinung den Grundsatz der Mandatsklarheit.
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Deswegen sage ich an die Adresse der Bundesregierung: Wenn Sie ein Mandat für eine militärische Ausbildungsmission im ganzen Sahelgebiet wollen, ohne Ansehen der Frage, ob es sich bei beteiligten Regierungen um diktatorische, autoritäre Regime handelt, dann sollten Sie das erstens klar sagen und zweitens dafür ein eigenständiges Mandat vorlegen.
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Das, was Sie bei EUTM Mali machen, ist ja kein Einzelfall. Das ist jetzt in kurzer Zeit das dritte Mandat, in dem eine schleichende Entgrenzung des Einsatzgebietes enthalten ist. Das gilt für das kürzlich verabschiedete Anti-IS-Mandat für Syrien und den Irak. Diesen Punkt hat damals die FDP zu Recht kritisiert. Ich verstehe nicht, dass Sie das bei diesem Mandat nicht erkennen. Aber auch für das entgrenzte Mandat der Operation Sea Guardian, das faktisch eine Ausbildungsmission in allen Mittelmeeranrainerstaaten zugleich erlaubt, gilt das.
Wir fordern Sie deshalb auf, sich im Mandat für den Einsatz in Mali auf die Aufgaben in Mali zu beschränken.
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Sonst untergraben Sie die Akzeptanz für diesen richtigen Einsatz. Wer den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von EU und UN in Mali unterstützt, der muss deshalb noch lange nicht die Unterstützung und Aufrüstung eines Diktators wie Herrn Déby im Tschad billigen.
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Deswegen sind Mandatsklarheit und Mandatswahrheit so wichtige Grundsätze für unsere Parlamentsarmee. Das sollte die Bundesregierung nicht missachten.
Danke für die Aufmerksamkeit.
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Nächste Rednerin die Kollegin Gabi Weber, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Nachmittag haben wir das Mandat für MINUSMA verlängert. Nun blicken wir auf die Grundlagenausbildung der malischen Streitkräfte und der sogenannten G-5-Antiterroreingreiftruppe. Mit der Ausbildung der Ausbilder, die hier drinsteckt, befähigen wir die malischen Streitkräfte, die Ausbildung zukünftig selbst zu übernehmen und ihre Soldaten auszubilden. Wichtig ist dabei, dass die malische Armee selbst in die Lage versetzt wird, langfristig die Aufgaben der Franzosen und der internationalen Allianz im Rahmen von MINUSMA zu übernehmen, also selbst effektiv im umkämpften Norden tätig zu werden, um dadurch den Menschen zu zeigen: Schaut, wir kümmern uns selbst um unser Land, und zwar um das ganze Land.
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Die territoriale Integrität des Landes muss gewahrt bleiben. Die Malier brauchen einen handlungsfähigen Staat, der sichtbar ist und im Interesse der Gesamtbevölkerung agiert. Das sage nicht nur ich; es gibt auch Organisationen, die dort noch tätig sind – eine davon ist EIRENE –, die genau das bestätigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Jahr stehen in Mali Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an. Die sichere Durchführung hat derzeit für die malische Regierung Priorität. Das heißt, alle anderen Projekte wie die Sicherheitssektorreform, das vor drei Jahren erlassene Streitkräfteplanungsgesetz und die weitere Umsetzung des Friedensvertrages stehen leider dahinter zurück. Doch spätestens mit Abschluss der Wahlen muss die dann neugewählte malische Regierung aktiv werden und selbst Verantwortung übernehmen: für den Norden und den Süden des Landes, für ein sicheres Umfeld, für die Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit und für einen verantwortungsvollen Umgang mit den Rohstoffen.
Territoriale Integrität heißt aber auch, dass Mali nicht in unzusammenhängende Einzelteile zerfallen darf; es heißt nicht, sich einer Dezentralisierung zu verweigern. Denn Verantwortung muss zugleich dorthin gegeben werden, wo die Menschen leben, wo Entscheidungen für Schulen, für Straßen und für den Ausbau der Wasserversorgung getroffen werden und wo das Lebensumfeld direkt verändert wird. Doch dazu ist Vertrauen notwendig – Vertrauen, das erst wieder aufgebaut werden muss, Vertrauen zwischen Bevölkerungsgruppen, zwischen Bürgern und Bürgerinnen und der Verwaltung, den Bürgermeistern vor Ort und der Regierung in Bamako.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das erreichen wir nicht allein durch militärische Ausbildung und Missionen. Das wird nur erreicht durch zielgerichtete, punktgenaue Entwicklungszusammenarbeit und kommunale und regionale Versorgungsgespräche in geschützten Räumen bzw. – noch konkreter – durch geschulte Schulungspersonen vor Ort, die kommunal und regional Friedensarbeit leisten und moderierend Versöhnungsgespräche führen. Allerdings sind die politischen Institutionen Malis seit Jahrzehnten sehr schwach. Wir müssen also, wie ich eingangs sagte, entsprechende Maßnahmen fördern, die eine grundsätzliche Stärkung und ein Grundvertrauen in den malischen Staat erreichen. Der Konflikt und seine Auswirkungen sind allein mit Militär niemals zu lösen.
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Entwicklungspolitik und Diplomatie haben mindestens gleiche Anteile an diesem Prozess.
Zurzeit sind allerdings weiterhin über 4 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Versorgung mit Wasser, Nahrung und Gesundheitsleistungen ist weiterhin schlecht. Vernachlässigt wird dies zusätzlich durch die Konzentration auf die Wahlen. Wir setzen hier durch die GIZ auf finanziell hinterlegte Schwerpunkte, die es weiter zu unterstützen gilt, nämlich gute Regierungsführung, nachhaltige und produktive Landwirtschaft sowie Wasser- und Sanitärversorgung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist, was ich unter vernetztem Ansatz verstehe. Dies ist das gleichberechtigte Zusammenwirken verschiedener Bereiche, ausgerichtet auf das gleiche Ziel, nämlich Mali zu stabilisieren, Vertrauen zu schaffen, friedliches Zusammenleben zu ermöglichen, Chancen für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu schaffen. Dazu leistet dieser Einsatz einen guten Beitrag.
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Der nächste Redner ist der Kollege Thorsten Frei für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat so, dass wir in Mali mit einer ganz schwierigen Situation konfrontiert sind. Insbesondere im Norden des Landes gibt es dschihadistische Gruppen und terroristische Strukturen wie al-Qaida, IS und Tuareg – auch wenn man das vielleicht nicht in unmittelbare Verbindung bringen kann –, aber auch regionale terroristische Gruppen sind dort im Einsatz.
Es ist vielfach beschrieben worden, dass nach dem Einsatz der Franzosen 2012 auch wir uns in vielerlei Mandaten in Mali engagiert haben. Ich glaube, dass Mali ein Musterbeispiel für den vernetzten Ansatz ist. Wir haben heute Mittag über MINUSMA gesprochen. Im Rahmen dieser Mission sind 14 000 UN-Peacekeeper im Einsatz. Wir sprechen nun über EUTM Mali, wo es um die Ertüchtigung des Militärs, des Sicherheitssektors geht. Außerdem ist Deutschland sehr stark engagiert im Bereich von EUCAP Sahel Mali; das ist sozusagen die zivile Komponente der EU-Mission. Hier geht es darum, dass wir Polizisten ausbilden und damit das staatliche Gewaltmonopol verbessern.
Gerade wenn man das berücksichtigt, liebe Frau Vogler, ist es natürlich eine Verkehrung der Tatsachen, wenn man von Militarisierung spricht, egal ob in Mali, in Mauretanien oder sonst irgendwo in der Sahelzone. Nein, das ist unmittelbar Voraussetzung dafür, dass man eine Verbesserung erreichen kann, dass man einen politischen Prozess initiieren kann, dass man das umsetzen kann, was man im Friedensabkommen von Algier 2015 vereinbart hat. Daraus wird ein Schuh. Deshalb ist es richtig, dass wir uns auch im Rahmen dieses Mandats engagieren.
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Es sind diese drei UN- und EU-Missionen, an denen wir uns beteiligen. Aber der vernetzte Ansatz geht natürlich noch sehr viel weiter. Schauen wir uns nur an, was allein Deutschland jenseits der militärischen Zusammenarbeit macht. Für die Jahre 2017 bis 2021 setzen wir dort etwa 1 Milliarde Euro ein, insbesondere in den so wichtigen Bereichen Dezentralisierung, gute Regierungsführung, produktive Landwirtschaft sowie Wasserversorgung und -entsorgung. Das sind Bereiche, wo wir im Rahmen des vernetzten Ansatzes echt etwas erreichen und stabilisieren können. Das sollte man nicht diskreditieren, insbesondere dann nicht, wenn man keine besseren Vorschläge parat hat.
Es verhält sich ja im Grunde genommen so, dass Mali ein Epizentrum der regionalen Krisen und Herausforderungen ist. Wir sehen gerade, was es bedeutet, wenn das auf die umliegenden Länder übergreift. Wir sind konfrontiert mit vielen Problemen, die ihre innenpolitischen Auswirkungen bei uns haben. Deswegen ist es richtig, dass wir uns dort umfassend engagieren. Wenn wir Lehren aus der Vergangenheit ziehen, dann doch die, dass wir dafür Ownership brauchen, dass wir diejenigen einbeziehen müssen, die vor Ort Verantwortung tragen. Das bedeutet im Klartext, dass wir gerade die gemeinsame Truppe der G-5-Sahelstaaten stärken müssen. Über 400 Millionen Euro sind dafür gesammelt worden. 5 000 Mann aus der Region sollen Terrorismus und Dschihadismus bekämpfen. Im November letzten Jahres haben sie ihre erste Operation durchgeführt; genau das ist der richtige Weg. Dafür brauchen wir genauso wie für die Ertüchtigung des malischen Militärs EUTM Mali. Genau deshalb werden wir diesem Antrag der Bundesregierung heute zustimmen.
Worum geht es in der Zukunft? Es geht darum, dass wir das Friedensabkommen tatsächlich umsetzen, dass wir die Bevölkerung entwaffnen, dass wir darüber hinaus Rebellengruppen einbeziehen und dass wir diesen ganzheitlichen Ansatz auch in Zukunft fortführen. In Mali ist nicht alles gut; das ist vollkommen richtig. Aber wir sind jetzt am Ende der Debatte, und ich habe keinen einzigen Alternativvorschlag gehört, wie man mit dieser Herausforderung besser zurechtkommen könnte. Deshalb bitten wir um Zustimmung zum Antrag der Bundesregierung.
Vielen Dank.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es spricht jetzt noch ein Redner vier Minuten. Wenn ich Sie bitten dürfte, sich hinzusetzen, die Stehrunden aufzulösen und dem Redner zuzuhören!
Es spricht jetzt als Nächster der Kollege Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn etwas zu dem Vortrag der Kollegin Vogler von der Fraktion Die Linke sagen. Frau Vogler, Sie haben in Ihrer Rede die Situation von Soldatenfrauen, von den Partnern unserer Soldaten mit großer Empathie beschrieben. Ich sage Ihnen ganz offen: Diese Empathie würde ich mir wünschen, wenn wir beispielsweise in den Ausschüssen oder hier im Hohen Haus darüber diskutieren, wie wir unsere Soldatinnen und Soldaten noch besser ausrüsten können, wenn sie in die Einsätze gehen.
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Was Sie hier gemacht haben, ist Heuchelei. Wenn Sie tatsächlich an die betroffenen Familien denken, dann stimmen Sie mit uns – Gott sei Dank haben wir eine Mehrheit – für eine noch bessere Ausrüstung und Ausstattung unserer Soldatinnen und Soldaten.
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Die Lage in Mali ist weiterhin sehr beunruhigend. Wir wollen heute dieses Mandat verlängern, um die malischen Streitkräfte in die Lage zu versetzen, langfristig selbst für Stabilität und für Sicherheit in ihrem Land zu sorgen. Wir wollen dieses Mandat erweitern. Nur so ist es möglich, die gemeinsame Einsatzgruppe der G-5-Staaten so zu unterstützen, dass sie tatsächlich einsatzfähig wird, nur so können wir dazu beizutragen, dass das Erfolg haben wird. EUTM Mali ist ein sinnvoller Baustein im Rahmen eines gemeinsamen europäischen Handelns, das wir zukünftig noch weiter ausbauen wollen. In Mali zeigt Europa mit seinem Engagement, dass es gemeinschaftlich Verantwortung für seinen Nachbarkontinent übernimmt.
Ja, es stimmt natürlich: Die Zustände in Mali sind nicht zufriedenstellend. Aber es muss auch gesagt werden, dass sich die Lage durch unser Eingreifen in den letzten Jahren verbessert hat. Die territoriale Integrität des Landes und die verfassungsmäßige Ordnung konnten wiederhergestellt werden. Problematisch sind das Ausbleiben echter Reformen und die verschlechterte Sicherheitslage insgesamt. Daher bleibt es unerlässlich, auf bestmöglichem Schutz für die deutschen Soldaten zu bestehen. Deshalb ist es auch folgerichtig, dass wir unser Mandat verstärken. Mali ist das Kernland der Sahelzone und hat eine Schlüsselrolle für die Stabilität und Entwicklung der ganzen Region inne.
Angesichts der Situation in Mali und in der gesamten Region finde ich es dann doch verblüffend, dass die AfD nun lieber den Kopf in den Sand steckt und keinerlei Lösungen anbietet. Sie müsste doch wissen, dass gerade Mali eine wichtige Transitregion für Flüchtlinge in Afrika ist. Von Verarmung sowie dem Verlust staatlicher Autorität und Kontrolle in diesem Gebiet profitieren kriminelle und terroristische Gruppen. Nicht zuletzt profitieren vor allem Schleuserbanden von dem herrschenden Elend. Es haben sich bereits viele Malier auf den Weg gemacht, weil diese Situation immer unerträglicher wird. Meine Damen und Herren, wir können in dieser Situation nicht einfach unsere Zelte abbrechen und gehen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen in Mali eine Zukunft haben; sonst suchen sie ihre Zukunft in Europa.
Herr Kollege Kestner, eine zweite Sache habe ich bei Ihrer Rede nicht verstanden. Sie haben die zu geringe Ausbildungszeit und das zu geringe Ausbildungsniveau der malischen Kräfte beklagt, und Sie haben dann gesagt, es sei völlig unverantwortlich, dass wir diese Kräfte so schlecht ausgebildet in den Krieg, so haben Sie es gesagt, schicken. Da kann ich nur sagen: Für mich wäre es logisch, dass die AfD dann dafür eintritt, diesen Einsatz auszuweiten, noch mehr Engagement an den Tag zu legen, um diese Soldaten tatsächlich noch besser auszubilden. Das wäre die einzig sinnvolle Logik, der Sie hätten folgen müssen.
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Meine Damen und Herren, wir dürfen die Region nicht im Chaos versinken lassen, sondern müssen uns als Europäer weiter engagieren – für die Menschen vor Ort und letztlich für unsere Sicherheit hier in Deutschland und in Europa. Das ist unser ureigenes Interesse. Deswegen: Bitte stimmen Sie diesem Mandat zu.
Danke.
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Das war der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Militärmission der Europäischen Union als Beitrag zur Ausbildung der malischen Streitkräfte. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/1834, den Antrag auf Drucksache 19/1597 anzunehmen.
Wir stimmen über diese Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen besetzt? – Gut, das ist der Fall. Ich eröffne die namentliche Abstimmung über die Beschlussempfehlung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat?
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– Dann bitte zügig.
Haben jetzt alle ihre Stimme abgegeben? – Alle haben ihre Stimme abgegeben. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Antrag auf Ausschluss der NPD von der staatlichen Parteienfinanzierung ziehen wir heute eine ganz wichtige Konsequenz aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Januar 2017.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Januar des vergangenen Jahres festgestellt, dass die NPD klar verfassungsfeindliche Ziele verfolgt: Sie will die bestehende Verfassungsordnung beseitigen. Sie will die bestehende Verfassungsordnung durch einen an der ethnisch definierten Volksgemeinschaft ausgerichteten autoritären Nationalstaat ersetzen. Die NPD möchte ein politisches Konzept umsetzen, das die Menschenwürde missachtet und das mit dem Demokratieprinzip unvereinbar ist.
Einzig aufgrund ihrer fehlenden Wirkmächtigkeit hat das Bundesverfassungsgericht die NPD nicht verboten. Es hat in dem damaligen Urteil aber den Weg aufgezeigt, dass der Gesetzgeber gegenüber Parteien, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgen, gestufte Sanktionsmöglichkeiten schaffen kann. Von dieser Möglichkeit haben wir im vergangenen Sommer durch eine entsprechende Änderung des Grundgesetzes und durch das Gesetz zum Ausschluss verfassungsfeindlicher Parteien von der Parteienfinanzierung Gebrauch gemacht. Deswegen ist es auch logisch und konsequent, dass wir heute mit unserem Antrag die Möglichkeiten, die wir als Gesetzgeber selbst geschaffen haben, auch zur Anwendung bringen.
Nach dem Bundesrat und nach der Bundesregierung stellt nun auch der Deutsche Bundestag einen entsprechenden Antrag. Alle antragsberechtigten Verfassungsorgane demonstrieren damit Geschlossenheit bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus. Das ist ein gutes Signal, das heute von diesem Beschluss des Deutschen Bundestages ausgehen wird.
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Als wir in der vergangenen Legislaturperiode beschlossen haben, das Gesetz auf den Weg zu bringen, das es ermöglicht, verfassungsfeindliche Parteien von der staatlichen Parteienfinanzierung auszuschließen, habe ich bereits an dieser Stelle dafür geworben, einen Ausschlussantrag mit Blick auf die NPD auch unter Beteiligung des Deutschen Bundestages zu stellen. Ich wünsche mir, dass der entsprechende Antrag heute in diesem Haus eine möglichst breite Unterstützung findet, um ein möglichst klares Signal in dieses Land und auch nach Karlsruhe auszusenden.
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Denjenigen, die der Meinung sind, ein solches Verfahren sei unnötig, weil der NPD keine große Bedeutung mehr zukomme, möchte ich zu bedenken geben, dass es sich dabei um eine Momentaufnahme handelt. Wir müssen alles daransetzen, dass sich dies nicht noch einmal ändert und dass die NPD ohnmächtig bleibt.
Denjenigen, die der Meinung sind, ein solches Verfahren sei unnötig, weil zugunsten der NPD im Jahr 2017 nur noch ein Betrag in Höhe von knapp 1 Million Euro festgesetzt worden sei, möchte ich sagen: Mit Blick auf eine verfassungsfeindliche Partei kann es für uns als wehrhafte Demokratie nicht hinnehmbar sein, dass wir sie auch nur mit einem einzigen Euro oder einem einzigen Cent in ihrem Kampf gegen unseren Staat unterstützen. Für die NPD ist jeder Cent ein Cent zu viel.
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Ich möchte insbesondere an die Fraktion der Grünen, die den Antrag nicht gemeinsam mit uns eingebracht hat, appellieren, heute diesem Antrag zuzustimmen, um ein Signal der Geschlossenheit auszusenden.
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Alle Landesregierungen, an denen die Grünen beteiligt sind, haben im Bundesrat für den entsprechenden Antrag gestimmt. Wir haben im Bundesrat ein hohes Maß an Geschlossenheit, wir haben eine Phalanx der Demokraten etabliert. Deshalb ist es wichtig, dass wir heute ein entsprechendes Signal aussenden.
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Lassen Sie mich einen letzten Gesichtspunkt ansprechen. Wir haben uns in diesem Parlament in den vergangenen Monaten viel mit der Bekämpfung des Antisemitismus befasst. In unserem Land existiert nach wie vor ein beschämendes Maß an Antisemitismus. Dieser Antisemitismus findet neue Nahrung durch verstärkte Zuwanderung, aber der größte Teil antisemitischer Delikte ist weiterhin rechtsextrem motiviert. Wir können nicht einerseits einen wachsenden Antisemitismus beklagen und ihn mit allen Mitteln bekämpfen wollen und andererseits eine Partei mit rund 1 Million Euro im Jahr aus staatlichen Mitteln unterstützen, die nach der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts wesensverwandt mit dem Nationalsozialismus und damit eine parteipolitische Personifikation des Antisemitismus ist.
Herr Kollege.
Deshalb wollen wir heute mit dem Ausschlussantrag auch ein klares Signal an die jüdische Gemeinde senden.
Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung und danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Für die AfD spricht der Kollege Stephan Brandner.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu später Stunde ein sehr wichtiges Thema, dessen Ernsthaftigkeit allerdings durch den unsäglichen Grünenantrag verwässert wird, den wir als Vorabfassung vorgelegt bekommen haben.
Zunächst kurz dazu. Offenbar ist den Grünen gestern eingefallen, schon lange nicht mehr gegen alles Bürgerliche und Vernünftige ihren „Krampf gegen rechts“ geführt zu haben. Man stellte wohl fest: Huch! Morgen ist ja Plenarsitzung, und wir haben noch nicht genug! – Was also tun die Grünen? Wieder einmal alles, was an grünem Hass und roter Hetze jemals gegen Bürgerliches und Vernünftiges abgesondert wurde, zusammenquirlen.
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Interessant dabei ist, dass Rot und Grün zusammen Braun ergeben, jedenfalls nach der Farbenlehre.
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Also schnell ins Sekretariat, irgendwas kopieren und zusammenstückeln – schwups war die Vorabfassung gestern fertig,
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die nun polemisch gegen Rechtspopulisten – damit sind wahrscheinlich wir gemeint und die CDU/CSU, die FDP, Teile der SPD und das rechte Lager, was wohl zusätzlich Frau Wagenknecht und Herrn Lafontaine umfasst – agitiert.
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Im grünen hysterischen Übereifer werden in dem Antrag Schulen unter rechten Generalverdacht gestellt, die gesamte Jugendarbeit wird unter rechten Generalverdacht gestellt, und schließlich werden die Feuerwehren unter rechten Generalverdacht gestellt.
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Einzig vergessen haben die Grünen tatsächlich die Reichsbürgerinnen; die findet man in Ihrem Antrag gar nicht.
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Meine Damen und Herren von den Grünen, das gibt zu denken.
Nicht zu denken gibt die Frage, wie man mit diesem peinlichen Grünenantrag verfahren sollte. Auch in der Endfassung ist das peinlicher, klassischer grüner Murks: Ab damit in die blaue Tonne!
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Völlig anders ist der Antrag von CDU/CSU, SPD und FDP. Da ist tatsächlich ein ernsthafter Ansatz zu erkennen, und wir werden diesem Antrag – ich sage das ganz deutlich von hier vorne –, wenn er denn gut und gründlich vorbereitet ist, zustimmen. Ich wiederhole das gerne auch noch einmal, um einer linksmedialen und staatsmedialen Legendenbildung vorzubeugen. Liebe Links- und Staatsmedien, wenn die Voraussetzungen des Artikel 21 Absatz 3 Grundgesetz vorliegen, muss ein solcher Antrag beim Bundesverfassungsgericht gestellt werden. Das ist ganz klar und eindeutig die Auffassung der AfD-Fraktion.
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Der Bundestag, also wir, soll heute beschließen, die NPD von der Parteienfinanzierung auszuschließen, weil diese Partei die freiheitlich-demokratische Grundordnung – ich zitiere – „missachtet und verfassungsfeindliche Ziele verfolgt“.
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So findet man es im ersten Satz der Begründung in der Vorabfassung Ihres Antrags; die Endfassung kennen wir ja noch nicht. Der geneigte Leser – vor allem, wenn er Jurist ist – liest weiter und begibt sich auf die Suche nach einem tatsachenbestückten Sachverhalt, der diese Aussage unterstützt.
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Der geneigte Leser findet aber dazu – nichts. Er findet lediglich einen Hinweis auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von Anfang 2017, in der vom Missachten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung als einer Voraussetzung für den Ausschluss von der Finanzierung gar nicht die Rede ist. Das Wort „missachten“ findet man in dem Urteil überhaupt nicht. Liebe Großkoalitionäre: gut gedacht, schlecht gemacht. Wir helfen dem Ausschuss gerne, den Antrag vernünftig zu formulieren.
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Man findet in dem Antrag auch keine einzige Tatsache, wobei freilich gefühlt – da gebe ich Ihnen recht – viel für diesen Antrag spricht und die NPD eine zutiefst widerliche Partei ist. Das muss auch mal ganz klar von hier vorne gesagt werden.
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Aber es geht hier nicht um Gefühle oder um Gefühlsduselei, sondern es geht um einen Antrag zum Bundesverfassungsgericht, der den Kernbereich der Demokratie, nämlich das Parteienrecht, betrifft. Ein solcher Antrag muss gründlich vorbereitet werden. Dabei helfen wir, wie gesagt, gerne, liebe Altparteien.
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Grundlage für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2017 war ein Antrag aus dem März 2013, der im März 2016 verhandelt wurde. Wenn man also auf die Tatsachenfeststellung im Urteil abstellt – das ist dann die mündliche Verhandlung –, waren die Tatsachen bei der Urteilsverkündung schon zwei Jahre alt. Wenn man darauf abstellt, wann der Antrag eingereicht wurde, waren die Tatsachen bereits fünf Jahre alt.
Wenn der vorliegende Antrag erfolgreich sein soll, bedarf dieser nach unserer Auffassung der Aktualisierung und Ergänzung. Er muss – wie wir Juristen sagen – substanziiert und viel gründlicher vorbereitet werden. Es kann nämlich nicht riskiert werden, dass Sie sich vor dem Bundesverfassungsgericht zum dritten Mal in der gleichen Konstellation blamieren und zum dritten Mal mit Ihren Altparteienköpfen gegen die gleiche Wand rennen. Der Antrag muss am Ende erfolgreich sein, sonst machen Sie sich weiterhin lächerlich.
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Gründlichkeit vor Schnelligkeit ist hier die Ansage. Es ist auch gar kein Problem, den Antrag gründlich zu behandeln. Wir könnten ihn am 14. Mai 2018 auf die Tagesordnung des Rechtsausschusses setzen; da haben wir eine Sondersitzung. Am 4. Juni 2018 könnte die Anhörung mit den Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz und der Landesämter für Verfassungsschutz erfolgen. Wir könnten ihn dann heute in sechs Wochen abschließend hier im Plenum behandeln. Was sind sechs Wochen, meine Damen und Herren? Sie quälen sich inzwischen seit über 15 Jahren mit dem Verbot der NPD herum. Da sollte es auf sechs Wochen nicht ankommen.
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Deshalb sage ich noch einmal: Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Ich bitte Sie dringend, unserem Antrag zuzustimmen und diese Angelegenheit heute in den Rechtsausschuss zu überweisen, um in sechs Wochen dann auf völlig neuer, klarer Tatsachengrundlage eine Endentscheidung zu treffen. Wir werden zustimmen, wenn es tatsachenbegründet ist, meine Damen und Herren.
Die AfD wird der Überweisung in den Rechtsausschuss, die ich hiermit noch einmal extra beantrage, ganz klar zustimmen. Wenn Sie sich dem verweigern, haben wir leider keine andere Möglichkeit, als uns der Stimme zu enthalten.
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Herr Kollege, denken Sie an Ihre Zeit.
Wir werden einen so murksigen, kurzen, kleinen, ganz schmal begründeten Antrag, der den Kernbereich der Demokratie betrifft, in diesem Zustand nicht mittragen können.
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Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Für die Fraktion der SPD spricht die Kollegin Dr. Eva Högl.
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Einen schönen guten Abend, sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen über unseren Antrag heute abstimmen, und wir werden darüber heute auch abstimmen, weil wir dazu beschlussfähig sind.
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Rassismus, Rechtsextremismus, Antisemitismus, Diskriminierung jeglicher Art und antidemokratische Hetze dürfen in unserem Land an keiner Stelle in unserer Gesellschaft einen Platz haben.
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Menschenfeindlichkeit und rechte Hetze sind aber leider trotzdem traurige, bittere und erschreckende Realität – seit der letzten Wahl leider auch in diesem Parlament.
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Wir sehen dem, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber nicht tatenlos zu.
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Das haben wir heute Morgen bereits in der Debatte zum 70-jährigen Jubiläum des Staates Israel gesagt. Wir sehen bei Antisemitismus nicht tatenlos zu, und wir sehen bei rechtsextremer Hetze nicht tatenlos zu.
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Wir haben aus unserer Geschichte gelernt, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir eine wehrhafte Demokratie brauchen.
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Demokratie und Rechtsstaat, der Schutz der Menschenwürde – das sehen wir in vielen Ländern Europas und in anderen Teilen der Welt – sind leider nicht selbstverständlich, sondern müssen immer wieder und ganz konsequent von allen Demokratinnen und Demokraten verteidigt werden.
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Ich sage allen, die skeptisch bei der Frage des Parteienverbots oder der Beschränkung von Rechten der Parteien sind: Selbstverständlich gehören demokratische Parteien zu einer guten Demokratie und einem Rechtsstaat, ja, sie sind Voraussetzung für Parlamentarismus und für ganz gezielte und geordnete Interessenvertretung. Deswegen gibt es zu Recht den Artikel 21 in unserem Grundgesetz. Deswegen gibt es zu Recht hohe Hürden für ein Parteiverbot. Für die SPD sage ich aber ganz deutlich, dass wir nach wie vor ein Verbot der NPD für richtig halten.
({7})
Es war gut, dass der Bundesrat den Antrag beim Bundesverfassungsgericht gestellt hat. Das Bundesverfassungsgericht hat am 17. Januar 2017 ganz klar festgestellt, dass die NPD verfassungsfeindliche Ziele verfolgt. Die NPD wurde leider nur mangels Gefährlichkeit nicht verboten. Man kann viel darüber diskutieren, wie gefährlich eine Partei ist und wann der richtige Zeitpunkt für ein Verbot ist. Aber unabhängig davon hat uns, dem Gesetzgeber, das Bundesverfassungsgericht einen ganz wichtigen Hinweis gegeben, nämlich dass wir gleichwohl jenseits eines Verbots, unterhalb eines Verbots, Sanktionen vornehmen können. Wir haben diese Sanktionsmöglichkeiten eröffnet; denn es ist absolut unverständlich – darauf haben wir uns hier im Bundestag verständigt –, dass verfassungsfeindliche Parteien staatliches Geld bekommen. Herr Harbarth hat zu Recht gesagt: Dabei kommt es gar nicht auf die Höhe an; denn jeder Cent für eine verfassungsfeindliche Partei aus staatlichen Mitteln ist einer zu viel.
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Wir haben hier im Juli 2017 den Artikel 21 Grundgesetz entsprechend geändert, und wir haben das Parteiengesetz angepasst. Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung können jetzt einen Antrag stellen, dass die staatliche Parteienfinanzierung ausgeschlossen wird. Der Bundesrat hat das am 2. Februar 2018 getan. Die Bundesregierung ist ihm am 18. April gefolgt, und wir werden, liebe Kolleginnen und Kollegen, das heute hier im Deutschen Bundestag beschließen und einen entsprechenden Antrag beim Bundesverfassungsgericht stellen. Ich bitte wirklich um Zustimmung zu diesem wichtigen Antrag als ein deutliches Signal aus dem Deutschen Bundestag und freue mich, wenn dieser Antrag hier eine breite Mehrheit bekommt.
Herzlichen Dank.
({9})
Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Stefan Ruppert.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die NPD ist ohne jeden Zweifel eine widerliche, rassistische, verfassungsfeindliche Partei. Es ist gut, dass das Bundesverfassungsgericht dies auch ausdrücklich festgestellt hat.
({0})
Wir müssen uns aber – die repräsentative Demokratie steht unter Druck; wir merken das – sehr gut überlegen, wie wir mit diesem Tatbestand umgehen. Wir Freien Demokraten haben uns immer gegen das Instrument des Parteiverbotsverfahrens entschieden, weil wir gesagt haben: Gedanken, seien sie auch noch so widerlich, sind nun einmal frei und können nicht verboten werden. Man kuriert nur das Symptom, ohne die Wurzel wirklich auszureißen und das Problem im Kern zu beseitigen. Leider lässt sich noch so widerliches Denken eben nicht verbieten.
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Deswegen stehen wir natürlich vor der Frage – wir haben das in der Fraktion auch ausführlich diskutiert –: Wie gehen wir jetzt damit um, nachdem das Grundgesetz geändert worden ist und es möglich geworden ist, die Finanzierung einer Partei zu unterbinden, die nachweislich, wie vom Gericht festgestellt, verfassungsfeindlich ist?
Ich glaube, es ist richtig, zu sagen: Einer Partei, die nachweislich verfassungsfeindliche Ziele verfolgt und deren Finanzierung man unterbinden kann, sollte man nicht sehenden Auges Geld hinterherwerfen, wissend, dass sie verfassungsfeindlich ist.
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Es sind ja nicht wir, die über diese Frage befinden. Vielmehr stellen wir einen Antrag beim Bundesverfassungsgericht. Es ist also nicht so, dass sich andere Parteien sozusagen eines missliebigen Wettbewerbers entledigen, sondern am Ende ist es ein Antrag, über den auch wieder in Karlsruhe entschieden wird. Ich bin mir sicher, dass diejenigen, die das vortragen werden, dies sachgerecht tun werden, sodass wir heute die prinzipielle Grundsatzentscheidung dazu treffen können.
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Was nicht in Ordnung ist, ist so eine Art moralische Erhebung, wie sie bisweilen zu beobachten war. Ich will jetzt einmal den Fall in Wetzlar nennen, wo trotz der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts der örtliche Oberbürgermeister der Auffassung ist, er müsse der NPD keine Räumlichkeiten zur Verfügung stellen. Die Partei ist nicht verboten; sie ist widerlich. Nicht auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu hören, weil man glaubt, sich aus der Warte einer höheren Moral dagegen wehren zu können, ist der Anfang vom Ende einer rechtsstaatlichen Gewaltenteilung. Deswegen sind solche Entwicklungen nicht sinnvoll, auch wenn man sich dabei auf Versicherungsfragen und organisatorische Probleme zurückzieht. Eine solche Begründung trägt im Ergebnis nicht.
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Jetzt war ja interessant, wen Sie alles für bürgerlich halten, Herr Brandner.
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Als jemand, der das Wort Bildungsbürgertum auch mit einem gewissen Komment, einem gewissen Verhalten, einer gewissen Erziehung verbindet – meine Großmutter sagte immer, wenn man nicht bürgerlich sei, dann hätte man keine Kinderstube, sondern allenfalls eine Kinderecke gehabt –, sage ich offen: Die Art und Weise, wie Sie hier auftreten, ist für mich zutiefst unbürgerlich; um diesen wunderbaren Begriff gegen Menschen mit Ihrem Verhalten zu verteidigen.
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Die Art, wie Sie provozieren, wie Sie bewusst darauf setzen, die repräsentative Demokratie eher zu diskreditieren, als sie zu stärken, macht mich nachdenklich. Deswegen: Der heutige Beschluss ist nur ein ganz kleiner, eher technischer Beitrag zur Überwindung der Krise unserer repräsentativen Demokratie. Das viel größere Problem – da müssen wir selbst als Demokraten alle besser werden – ist, dass Sie hier mit 12 Prozent in diesem Hause sitzen.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Ulla Jelpke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten hier über den Antrag, die neofaschistische NPD vorerst für sechs Jahre von der staatlichen Parteienfinanzierung auszuschließen. Die NPD will die bestehende Verfassungsordnung abschaffen. Ihr politisches Konzept missachtet die Menschenwürde und ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar.
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Das hat das Bundesverfassungsgericht zweifelsfrei festgestellt und von einem Verbot nur abgesehen, weil es der NPD derzeit am Potenzial zur Umsetzung ihrer verfassungsfeindlichen Ziele fehlt. Die Linke hat das NPD-Verbotsverfahren immer unterstützt. Von daher trägt sie mehrheitlich auch die abgemilderte Variante des Entzugs der Parteienfinanzierung mit.
Dass Nazis bzw. Rechtsextremisten bekämpft werden müssen, steht für alle Linke außer Frage. Doch ein Teil meiner Fraktion wird sich bei der heutigen Abstimmung enthalten.
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Es gibt bürgerrechtliche Bedenken, den Kampf gegen rechts durch Parteienverbote – die FDP oder auch Teile von den Grünen haben es früher auch vertreten – oder Ausschluss von der Parteienfinanzierung zu führen. Ich kann diese Bedenken durchaus nachvollziehen. Denn natürlich handelt es sich hier um eine Einschränkung der Demokratie, auch wenn sie sich gegen Feinde der Demokratie richtet.
Meine persönliche Auffassung ist aber: Es gibt keine gesellschaftliche Pflicht zur Finanzierung von Parteien, die ebendieser Gesellschaft die elementaren Grundrechte absprechen.
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Zentral erscheint mir, dass die Entscheidung zum Ausschluss von der Parteienfinanzierung beim Bundesverfassungsgericht liegt. Noch einmal an die AfD: Wir wollen nämlich – das war die einzige Bedingung, warum wir dem zugestimmt haben –, dass das Bundesverfassungsgericht die Aufgabe hat, zu begründen, warum die NPD keine staatlichen Gelder mehr bekommt. Das, denke ich, ist ganz entscheidend, damit es keine Willkürmaßnahmen gibt und irgendwelche Parteien formulieren, warum man der NPD kein Geld mehr geben will.
Meine Damen und Herren, längst schicken sich noch radikalere neofaschistische Parteien wie Die Rechte und Der dritte Weg an, die vor sich hin faulende NPD zu beerben. Doch totgesagt wurde die NPD in ihrer 50-jährigen Geschichte schon oft – und leider zu Unrecht. Gerade erst hat Thorsten Heise, ein wichtiger NPD-Kader, ein großes Festival im sächsischen Ostritz organisiert. Die Partei zumindest von der Parteienfinanzierung abzuschneiden, macht also weiterhin Sinn. Lieber spät als nie.
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Meine Damen und Herren, die neofaschistische Rechte ist Teil des rechten Aufschwungs in Deutschland und Europa. Selbst der Weg von der inzwischen verbotenen Heimattreuen Deutschen Jugend ins Vorzimmer von Bundestagsabgeordneten scheint kurz zu sein. Und mancher NPD-Kader müsste sich anstrengen, um etwa einem Poggenburg von der AfD in puncto rassistischer Hetze das Wasser zu reichen.
Was wir heute beschließen, darf daher kein Ersatz für umfassende antifaschistische Politik und Aufklärung sein.
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Deswegen wollen wir den Grünenantrag auch nicht in die Tonne hauen, sondern ihn unterstützen, weil wir ihn richtig und wichtig finden. Ich würde mich freuen, wenn dieser Antrag hier eine große Mehrheit fände.
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Rassismus, Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit gilt es entschlossen entgegenzutreten, egal unter welchem Parteinamen die Hetze daherkommt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Renate Künast.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ja, manchmal muss man Zeichen setzen, und heute setzen wir ein Zeichen. Wir werden dem Antrag mit sehr großer Mehrheit zustimmen, die FD– – die NPD von der Finanzierung auszuschließen.
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– Sorry, das tut mir sehr leid; ich habe in einem anderen Kontext an die FPD gedacht. Darauf komme ich vielleicht später zurück. Sorry! Das ist ja kein Grund für Spaß.
Wir werden diesem Antrag mit großer Mehrheit zustimmen, meine Damen und Herren, weil wir auch sagen, dass jeder Euro ein Euro zu viel ist für eine Partei, die vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft wurde, wenn es das Werkzeug der Streichung der Finanzierung in unserer Verfassung gibt.
Ich füge hinzu, dass eines ja klar ist: Die Verfassung kennt das Parteienprivileg; aber selbst dieses Parteienprivileg als Bestandteil der Demokratie findet eben irgendwann sein Ende, wenn es massiv missbraucht wird.
Ich will an dieser Stelle auf den Redner der AfD eingehen
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und ihm kurz sagen: Ja, Sie haben recht, das muss substanziiert vorgetragen werden. Aber wenn ich einen sachdienlichen Hinweis geben darf: Das macht dann der oder die Prozessbevollmächtigte des Deutschen Bundestages,
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und es wird organisiert vom Vorsitzenden des Rechtsausschusses.
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So viel sollten Sie wissen.
Meine Damen und Herren, aber eines muss ich auch sagen: Wir haben in der Fraktion seit letztem Donnerstag tagelang noch einmal sehr intensiv darüber diskutiert, weil wir bei den Vorschlägen auch ein Problem gesehen haben. Wir sehen nämlich das Problem, dass dieser Antrag und dieser Beschluss heute, so wie er singulär dasteht, auch ein Stück weit reine Symbolhandlung ist.
Worüber reden wir denn, meine Damen und Herren? Wir reden über die Finanzierung der NPD, die im letzten Jahr 850 000 Euro bekommen hat und deren Wahlergebnis sich bei der letzten Bundestagswahl von 1,5 auf 0,4 Prozent reduziert hat, und es wird so weitergehen. Wahrscheinlich wird sie, wenn das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung über die staatliche Finanzierung trifft, ohnehin schon nicht mehr die Kriterien für eine Finanzierung erfüllen. Man könnte also sagen, wir treten damit irgendwie gerade auf einen politischen Zwerg oder auf eine tote Leiche. Wir lösen das Problem mit dem heutigen Beschluss nicht auf. Das ist der Punkt.
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Unser zentrales Problem ist ja gar nicht die NPD, die gefährlich, widerlich, eine Zumutung ist. Die Dimension ist ja, meine Damen und Herren, noch viel größer: Rechtsradikale, antisemitische, homophobe Einstellungen gibt es bei bis zu 20 Prozent der Menschen in dieser Gesellschaft. So um das Jahr 2000 herum hat die Rechte angefangen, zu einer Neuen Rechten zu werden, sich neu zu organisieren. Sie sind in Jugendzentren hineingegangen, haben demokratische Jugendliche verdrängt, Druck auf Engagierte gemacht, sodass Geschäfte Fluchtwege eröffnen mussten. Sie sind mit CDs auf Schulhöfe gegangen, um Kinder einzufangen, und sie haben sich eine Zeitung gegründet.
Und sie hat sich noch weiter strukturiert. Heute gibt es Stiftungen, Thinktanks, eine eigene Nachrichtenwelt aus Geldern, die wahrscheinlich der Bundesrechnungshof demnächst prüfen wird. Sie machen gezielt Propaganda mit modernen Kommunikationsmitteln. Sie wollen die demokratischen Strukturen dieses Landes abschaffen, die Prinzipien abschaffen, meine Damen und Herren. Sie schaffen sich ein eigenes digitales Volk. Sie fangen richtig an mit einer Ideologie, als wären sie die einzig wahre Stimme eines wahren Volkes, das sie sich aber selber zusammenbauen und worüber sie bestimmen.
Das ist ein Absolutismus, meine Damen und Herren, der weit über die NPD-Frage hinausgeht,
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und deswegen reicht uns Ihr Antrag nicht. Er reicht nicht aus. Wir brauchen eine Offensive gegen alle Formen gruppenbezogener Gewalt, gegen Rechtsextremismus und Radikale. Dies sind wir den Opfern schuldig, gerade in diesen Tagen, da beim NSU-Prozess die Plädoyers gehalten werden.
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Rechtsextremismus und die Neue Rechte haben ein neues Gesicht, meine Damen und Herren. Wir sehen es montagabends, sieben Tage die Woche hier, und die Partei sitzt auch schon hier. Sie ist nämlich zum Auffangbecken geworden.
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70 Prozent der Wähler der NPD – das kann man nachverfolgen – sind wahrscheinlich bei der AfD gelandet. In den Wahlkreisen, in denen vorher die NPD stark war, ist jetzt die AfD stark, meine Damen und Herren,
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und wir wissen und haben gelesen, welches Personal sie übernommen hat.
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Das Personal ist dort gelandet. In dem Antrag, den Monika Lazar für uns geschrieben hat, steht das Wort „Reichsbürger“ unter Ziffer 6 der Forderungen.
Ich will Sie zum Schluss inständig bitten: Lassen Sie uns heute nicht nur den Antrag zum Ausschluss der NPD von der staatlichen Parteienfinanzierung beschließen, sondern stimmen Sie auch dem Antrag zu, ein ganzes Maßnahmenpaket gegen rechts zu schnüren.
Frau Künast.
Letzter Satz. – Dazu gehören: verlässliche Förderung zivilgesellschaftlicher Arbeit, Prävention, mehr Personal bei den Sicherheitsbehörden und für den Kampf gegen Hetze im Netz sowie ein strengeres Waffenrecht.
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Frau Kollegin.
Meine Damen und Herren, mit dem einen Antrag ist unsere Arbeit nicht erledigt. Es liegt an uns, jetzt da, wo es nötig ist, Prävention zu betreiben. Deshalb bitte ich Sie alle um Ihre Stimme.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Grundgesetz ist eine Verfassung, die Position bezieht, die dazu auffordert, den Feinden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung entschlossen entgegenzutreten. Wir in Deutschland haben eine Demokratie, die sich wehrt. Nach Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes haben alle Deutschen gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Nach Artikel 9 Absatz 2 des Grundgesetzes sind Vereinigungen verboten, „die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung … richten“. Und nach Artikel 18 des Grundgesetzes gilt: Wer die Grundrechte „zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte“.
Aus den Erfahrungen der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes den Schluss gezogen, dass eine starke parlamentarisch-demokratische Bundesrepublik selbstverständlich wider diejenigen vorgehen muss, die diese demokratische Ordnung zerstören wollen.
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Ich für meinen Teil bin der Meinung, daß es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, daß sie selber die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft.
Man müsse
… auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.
({1})
So hat es Carlo Schmid 1948 im Parlamentarischen Rat formuliert.
({2})
Dieses Grundverständnis von einer wehrhaften, streitbaren Demokratie hat das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen zu Parteiverboten schon sehr früh weiter konturiert und weiterentwickelt. Bis heute ist es die gemeinsame Grundlage unseres Verfassungsverständnisses.
Ist aber das Verständnis über die Jahrzehnte der Bundesrepublik gleich geblieben, so müssen sich die Instrumente doch weiterentwickeln. Aus der Überzeugung, dass wir Feinden unserer gemeinsamen Ordnung niemals das Feld überlassen werden, haben wir im letzten Jahr den Artikel 21 Absatz 3 in das Grundgesetz eingefügt.
Die NPD zu verbieten, ist trotz aller Anstrengungen vor dem Bundesverfassungsgericht nicht gelungen. Denn zur Wehrhaftigkeit unserer Demokratie gehört auch, dass sie ihre Instrumente unter strenger Kontrolle und Begrenzung – bei uns durch das Bundesverfassungsgericht – zur Anwendung bringt.
({3})
Und so ist es nicht deshalb nicht gelungen, die NPD zu verbieten, weil sie nicht verfassungsfeindlich wäre, sondern deshalb, weil sie im Moment nicht genügend Anhängerinnen und Anhänger findet – zum Glück! Aber das könnte sich ja ändern, und deswegen müssen wir jetzt handeln.
Damit es dazu gar nicht erst kommt, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom Januar 2017 eine Möglichkeit aufgezeigt, sich anders zu wehren. Das Stichwort heißt: Parteienfinanzierung. In Deutschland unterstützen wir die Parteien mit staatlichem Geld, weil sie für unsere demokratische Willensbildung elementar wichtig sind. Parteien sollen nicht von großen Geldgebern alleine abhängig sein, sondern sie sollen mit der Sicherheit eines gewissen finanziellen Grundstocks ihre politischen Überzeugungen vertreten, und zwar das ganze Spektrum ihrer Überzeugung. Aber Geld von der Allgemeinheit für anerkannt verfassungsfeindliche Ziele, das darf es nicht mehr geben.
({4})
Denn es gibt keinen Grund, warum wir als Bundesrepublik Parteien finanziell unterstützen sollten, die auf die Abschaffung unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung hinarbeiten.
Der Ausschluss der NPD von der Parteienfinanzierung ist im Übrigen kein faktisches Verbot der NPD; es ist lediglich eine Sanktionsmöglichkeit, notwendig als Zeichen, dass sie zwar weiter Politik machen können, aber nicht mithilfe finanzieller Unterstützung durch die Bundesrepublik Deutschland, durch unsere Steuergelder.
({5})
Wir können nicht zulassen, dass die NPD mit unserer Hilfe die Chance bekommt, wieder groß zu werden, und damit die Möglichkeit gewinnen könnte, irgendwann doch wieder gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorzugehen.
Wir beantragen einen Ausschluss für die Dauer von sechs Jahren, um die weitere Entwicklung der NPD zu beobachten. Wir beschließen dazu heute einen entsprechenden Antrag an das Bundesverfassungsgericht.
Lieber Herr Kollege Brandner, ich sage es noch einmal: Wir können darüber heute beschließen; denn wir beschließen einen Antrag und keinen Schriftsatz. Wir beschließen heute, den Weg über das Bundesverfassungsgericht zu gehen. Alles Weitere ist dann Aufgabe der Ausschüsse. Deswegen können wir heute den Antrag zur Abstimmung stellen. Ich bitte um Ihre Unterstützung.
Vielen Dank.
({6})
Nächste Rednerin ist Susann Rüthrich für die SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ganze Straßenzüge in unserem Land sind regelmäßig behängt mit Plakaten, auf denen Menschen pauschal verunglimpft werden. So wird versucht, Wählerstimmen zu gewinnen auf dem Rücken von Menschen, die zu „anderen“ gemacht werden. Ich meine NPD-Wahlwerbung. Ich bekomme da jedes Mal Beklemmungen. Wie fühlen sich eigentlich diejenigen, die dort diffamiert werden? Diese Plakate werden dann noch flankiert mit Hasspost in den Briefkästen, mit demagogischen Mails von örtlichen Funktionsträgern der NPD und mit Hass in den sozialen Medien. Demos und Wahlkampfstände werden bei uns darauf angelegt, mutwillig Angst und Schrecken zu verbreiten.
Bei uns in Riesa feiern Gäste aus der rechtsextremen Szene auf dem Gelände des Parteiverlags ihre Feste. Das alles gehört zu einer Parteiarbeit, die auch durch unser aller Geld ermöglicht wird, Geld aus der Parteienfinanzierung für eine – das ist höchstrichterlich beschieden – verfassungsfeindliche Partei. Gleichzeitig können diejenigen immer nur in befristeten Projekten tätig sein, die sich etwa im „Riesaer Appell“ dafür engagieren, dass das Zusammenleben gelingt und niemand ausgegrenzt wird. Deswegen haben wir aus meiner Sicht drei Dinge zu tun.
Erstens. Von uns bekommt die NPD kein Geld mehr für ihre hetzerischen und verfassungsfeindlichen Aktivitäten.
({0})
Wir leben in einer wehrhaften Demokratie. Diese lebt von Kritik und unterschiedlichen Positionen. Sie stellt aber auch klar, dass die Menschenwürde für alle gleichermaßen gilt. Minderheiten können sich auf unseren Schutz und unseren Beistand verlassen.
({1})
Heute bringen wir also auf den Weg, der NPD den Geldhahn zuzudrehen. Damit stellen wir uns an die Seite derer, die von deren Hetze und Hass betroffen sind. Denn wenn irgendwer in unserer Mitte angegriffen wird, dann werden wir alle angegriffen. Wir verteidigen unsere im Grundgesetz festgeschriebenen Werte gegen deren Feinde.
({2})
Zweitens. Wir senden heute mit dem Beschluss quasi auch eine Einladung aus, und zwar, ja, an die NPD; denn – mein Vorredner hat es bereits gesagt – wir beantragen zunächst für sechs Jahre, die Gelder nicht mehr zur Verfügung zu stellen. Diese Partei sollte die Zeit dafür nutzen, in sich zu gehen und für sich zu entscheiden: Wollen wir auf dem Boden des Grundgesetzes Politik machen oder nicht? Wenn die NPD sich unmissverständlich auf den Boden unseres Grundgesetzes stellt, dann hat sie auch wieder einen legitimen Anspruch auf finanzielle Unterstützung, sonst nicht. Es liegt bei denen.
({3})
Drittens, und das liegt mir heute besonders am Herzen. Wir alle wissen, Frau Künast: Auch wenn die NPD kein Geld mehr bekommt und selbst wenn das Verbot erfolgreich gewesen wäre, ändert sich dadurch noch gar nichts an den zugrunde liegenden Einstellungen. Dessen sind wir uns total bewusst. Hass verschwindet nicht, nur weil er weniger offenkundig ist. Diese Einstellungen bleiben, wenn wir nichts dagegen tun. Wir haben es in der Hand, diejenigen zu unterstützen, die sich für unsere offene, demokratische Gesellschaft Tag für Tag einsetzen. Unsere Unterstützung muss nicht nur ausreichend sein, sie muss vor allem auch verlässlich und stabil sein. Wir als SPD halten eine gesetzliche Lösung für die Demokratieinitiativen im Land weiterhin für richtig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Haushaltsverhandlungen stehen vor der Tür. Darin ist es uns als SPD ein Herzensanliegen, dafür zu sorgen, dass die Initiativen stabil weiterarbeiten können, und zwar im Programm „Demokratie leben!“, im Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“, in den von der Bundeszentrale für politische Bildung unterstützten Projekten, in der Jugendverbandsarbeit, in der Antidiskriminierungsstelle etc. Wir tun so viel, um genau diejenigen zu unterstützen. Wir müssen ihnen jetzt Verlässlichkeit geben.
({4})
Ich freue mich, wenn Sie das in den nächsten Wochen in den Haushaltsverhandlungen und später in der gemeinsamen Arbeit mit voller Kraft unterstützen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Vielen Dank dafür.
({5})
Vielen Dank. – Letzte Rednerin in der Debatte ist Andrea Lindholz für die CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute einen Antrag von CDU/CSU, SPD und FDP, die Nationaldemokratische Partei Deutschlands von der staatlichen Parteienfinanzierung auszuschließen. Über diesen Antrag wird dann das Bundesverfassungsgericht entscheiden.
Das Bundesverfassungsgericht hat im letzten Jahr im sogenannten NPD-Verbotsverfahren festgestellt, dass die NPD eindeutig verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, aber aufgrund ihrer Größe und ihres Potenzials diese nicht mehr erreichen kann. Damit wurde im Urteil vom letzten Jahr auf die aktuelle Situation der NPD abgestellt. Die aktuelle Situation spiegelt sich im Urteil wider, zum Beispiel, indem das Gericht – Randnummer 206 – auf einen Vorfall in meiner Heimatgemeinde aus dem Jahr 2015 eingegangen ist, als die NPD dort mit Mitgliedern aus dem Bundesgebiet versucht hat, eine Veranstaltung zu stören, und zwar verhältnismäßig massiv zu stören, bei der es um die Einrichtung einer Asylbewerberunterkunft ging.
Im Jahr 2017 ist festgestellt worden, dass die NPD nicht mehr über eine verhältnismäßige Größe verfügt und daher nicht verboten werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat uns aber abgestufte Sanktionsmöglichkeiten aufgezeigt und gesagt, dass wir in diesen Fällen Parteien von der staatlichen Parteienfinanzierung ausschließen können. Hierfür haben wir die rechtlichen Grundlagen geschaffen.
An die Vertreter der AfD gerichtet mag ich nur einen Satz sagen: Sie können, aber Sie wollen dem Antrag nicht zustimmen.
({0})
Alles andere, was Sie gesagt haben, Herr Brandner, ist schlicht und ergreifend falsch.
Die NPD ist heute in keinem Landtag mehr vertreten, und sie hat bei der Bundestagswahl nur noch 0,4 Prozent erreicht, Gott sei Dank. Sie mag am Rand der Bedeutungslosigkeit stehen, aber ihre verfassungsfeindliche, hasserfüllte und demokratieverachtende Ideologie ist bis heute so präsent wie eh und je. Daher müssen wir alle Mittel, die uns zur Verfügung stehen, nutzen, um uns zu behaupten. Dazu gehört auch der Entzug staatlicher Gelder. Ich möchte an das, was Herr Harbarth gesagt hat, anknüpfen: Jeder Euro, den wir hier investieren würden, wäre ein Euro zu viel.
({1})
Nachdem sich bereits der Bundesrat und auch die Bundesregierung entschlossen haben, entsprechende Anträge zu stellen, liegt doch nichts näher, als dass sich auch der Bundestag, die Herzkammer der deutschen Demokratie und das dritte antragsberechtigte Verfassungsorgan, mit aller Kraft hinter diesem Anliegen versammelt. Ich bin froh, dass sich neben CDU/CSU, SPD und FDP auch die Grünen entschlossen haben, unserem Antrag heute zuzustimmen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich freue mich darüber sehr.
Das langwierige NPD-Verbotsverfahren hat auch an unseren Nerven gezehrt. Es ist oft schwerfällig und manchmal nicht verständlich. Aber das Bundesverfassungsgericht hat sich auf 263 Seiten bemüht, einen differenzierten Weg aufzuzeigen. Unser Rechtsstaat ist, auch wenn er nicht immer einfach ist, eine unserer größten zivilisatorischen Errungenschaften.
({2})
Der ehemalige Justizminister und Rechtsphilosoph Gustav Radbruch sagte: Rechtsstaat ist wie das tägliche Brot, wie das Wasser zum Trinken und die Luft zum Atmen, und das Beste an der Demokratie ist, dass nur sie geeignet ist, den Rechtsstaat zu sichern.
Deshalb: Lassen Sie uns heute auch ein gemeinsames Zeichen für einen wehrhaften Rechtsstaat und eine rechtsstaatlich kontrollierte Demokratie in Deutschland setzen. Extremismus darf bei uns keinen Platz haben, egal ob es um rechtsextreme Parteien, um Organisationen von linksradikalen Gewalttätern oder um islamistische Fundamentalisten geht. Unser Rechtsstaat muss nach allen Seiten wehrhaft bleiben. Wer nicht mit beiden Beinen auf dem Boden unseres Grundgesetzes steht, der hat auch keinen Anspruch auf Förderung durch unseren Staat. Ich bitte Sie daher um Unterstützung für unseren Antrag.
Danke schön.
({3})
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen jetzt zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 19/1824 mit dem Titel „Ausschluss der NPD von der staatlichen Parteienfinanzierung“. Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD wünschen namentliche Abstimmung in der Sache. Die Fraktion der AfD wünscht Überweisung an den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz.
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage Sie deshalb: Wer stimmt für die beantragte Ausschussüberweisung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Antrag gegen die Stimmen der AfD von der Mehrheit des Hauses abgelehnt.
Bevor wir zur namentlichen Abstimmung kommen, möchte ich Ihnen noch mitteilen, dass eine persönliche Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung des Bundestages schriftlich abgegeben worden ist.
Wir kommen jetzt zur namentlichen Abstimmung über den Antrag auf Drucksache 19/1824 in der Sache. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Dann eröffne ich die Abstimmung.
Gibt es jemanden, der seine Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 7 auf. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Dann ist der Antrag mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU, der AfD und der FDP gegen die Stimmen der Grünen und einzelne Stimmen der Linken mit deutlicher Mehrheit abgelehnt.
({0})
– Zugestimmt? – Ja, aber er ist abgelehnt worden.
({1})
– Ja, aber ich habe das schon richtig gesagt: Der Antrag ist mit der großen Mehrheit des Hauses gegen die Stimmen der Grünen und einzelner linker Mitglieder abgelehnt worden.
({2})
– Ihr habt mit den Grünen gestimmt, ja.
({3})
– Ich habe einige gesehen, die nicht mit abgestimmt haben.
({4})
– Auf den Plätzen, auf denen Sie sitzen, sind keine SPD-Kollegen.
({5})
– Wir wiederholen die Abstimmung nicht. – Die Linken haben überwiegend für den Antrag der Grünen gestimmt.
({6})
– Dann müssen Sie den Arm in der Situation heben, in der abgestimmt wird, und nicht erst hinterher.
Meine Damen und Herren! Noch etwas später kommt jetzt noch ein wichtiger Antrag, nämlich ein Geschäftsordnungsantrag.
({0})
Ich bitte Sie alle an den Bildschirmen: Schalten Sie nicht aus. Das ist ein spannender Antrag, der es in sich hat; denn dieser Antrag beinhaltet, dass wir den Bundestag auffordern, mehr und ehrlicher zu arbeiten.
({1})
Sie werden an den Reaktionen der Altparteien und dem zu erwartenden Geschrei feststellen, was die davon halten, nämlich gar nichts.
({2})
Das wird sich im Laufe der Debatte zeigen.
({3})
Meine Damen und Herren, man hat sich bei den Altparteien gemütlich eingerichtet und verbringt nur 21 von 52 Jahreswochen in Berlin. Das muss reichen.
({4})
In 21 Wochen schaut man dann gelegentlich im Bundestag vorbei und tut so, als wäre man ein Abgeordneter.
({5})
Wir sagen: Das reicht nicht! Die Würde dieses Hauses und die Stellung dieses Bundestages verlangen nach Präsenz. Wir sind kein Gremium von Spartenpolitikern. Wir sind die Vertretung des deutschen Volkes, und zwar des gesamten deutschen Volkes. Dieses Volk hat einen Anspruch darauf, dass wir in Gesamtheit zusammensitzen und debattieren.
({6})
Die AfD, meine Damen und Herren, schwächelt auch ab und zu.
({7})
Das liegt aber ganz wesentlich daran, dass es die Geschäftsordnung des Bundestages zulässt, dass parallel – hören Sie das Geschrei? alle von den Altparteien wollen hier weniger arbeiten, nur die AfD nicht –
({8})
zu Plenarveranstaltungen auch Ausschüsse tagen. Allein in dieser Woche tagten parallel zum Plenum der Sportausschuss, der Haushaltsausschuss,
({9})
der Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union, der Ausschuss für Gesundheit,
({10})
der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, der Ausschuss für Tourismus, der Ausschuss für Kultur und Medien, der Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen sowie der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung.
({11})
Heute fand noch eine Sitzung des Ältestenrates, des Wahlprüfungsausschusses und eines Untersuchungsausschusses statt, und zwar alles parallel zu Bundestagssitzungen.
({12})
Das hat zur Folge, dass in die Rechte des Abgeordneten, da man nicht an zwei Orten gleichzeitig sein kann, massiv eingegriffen wird, weil er sich entscheiden muss: Mache ich Ausschussarbeit, oder gehe ich ins Plenum? Das ist aus meiner Sicht verfassungswidrig. Das geht nicht, und deshalb wollen wir das abschaffen.
({13})
– Ich höre hier: Wir sind ein Arbeitsparlament! – Wie hochnäsig und arrogant ist das denn!
({14})
Meinen Sie, andere Parlamente auf der Welt wären keine Arbeitsparlamente? Natürlich gibt es nur Arbeitsparlamente auf dieser Welt.
({15})
Was setzen Sie sich damit für eine Krone auf! Ich finde es unsäglich, dass Sie sich über andere Parlamente in Europa und auf der Welt erheben.
({16})
Meine Damen und Herren, die Lösung wäre so einfach. Wir fangen einfach am Montag etwas eher an, oder wir machen Freitag etwas länger, oder – oh Schreck für die Altparteien – wir kommen einfach häufiger nach Berlin und machen unsere Ausschusssitzungen außerhalb der Sitzungswochen.
({17})
So einfach ist die Lösung, meine Damen und Herren.
({18})
Deshalb bitte ich Sie ganz dringend, im Interesse des Bundestages, der Würde dieses Hauses und im Interesse unseres Ansehens außerhalb des Parlaments unserem Antrag zuzustimmen
({19})
und ab sofort zu vermeiden, dass dieser Plenarsaal deshalb leer ist, weil parallel Dutzende andere Veranstaltungen stattfinden.
Vielen Dank.
({20})
Nächster Redner für die CDU/CSU ist der Abgeordnete Patrick Schnieder.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Das ist heute eine gute Gelegenheit, dem kompletten Haus beizubringen, wie Parlamentsarbeit in Deutschland funktioniert. Das, was wir eben gehört haben, und das, was wir in dem Antrag lesen können, zeichnet allenfalls ein Zerrbild der Wirklichkeit und passt in das Muster, das hier offensichtlich vertreten wird. Das Plenum wird zu einer Showveranstaltung genutzt. Hier wird provoziert, aber es wird von ganz rechts keine Sacharbeit geleistet.
({0})
Sehr geehrter Herr Kollege Brandner, es gab in Deutschland zwei Parlamente, die immer komplett getagt haben. Das eine Parlament hat in der Kroll-Oper getagt und das andere in Erichs Lampenladen. In diese Zeiten wollen wir nicht zurück.
({1})
Auch wenn Sie es nicht hören wollen, sage ich Ihnen in aller Deutlichkeit: Der Deutsche Bundestag ist ein Rede- und Arbeitsparlament. Wenn Sie nicht verstanden haben, was Arbeitsparlament in Abgrenzung zu Redeparlament bedeutet, dann ist das Ihr Problem.
({2})
Wir sind ein Redeparlament, weil wir hier im Plenum Meinungen austauschen, der Öffentlichkeit darstellen, warum wir ein Gesetz einbringen, warum wir dafürstimmen oder warum wir anderer Meinung sind. Wir reden und diskutieren hier, um einen Antrag zu begründen oder um zu begründen, warum wir ihn ablehnen. Das sind wir der Öffentlichkeit schuldig, weil wir transparent darstellen müssen, worüber wir streiten. Denn Parlamentsarbeit ist immer auch Streit in der Sache.
Aber wir sind eben auch ein Arbeitsparlament, weil wir die Grundlagen dafür erarbeiten müssen, dass wir hier streiten.
({3})
Da gibt es eine Fülle von vorbereitenden Gremiensitzungen – allein diese Woche sind es über den Daumen gepeilt 70 Stunden Ausschussarbeit –, die wir in einer solchen Sitzungswoche unterbringen müssen. Vorbereitende Gremien, Anhörungen, Gespräche mit Experten, Verbänden, Kollegen und Berichterstattergespräche: All das dient der Vorbereitung der Auseinandersetzung im Plenum und ist mindestens genauso wichtig wie das, was wir als Redeparlament abliefern.
Es kommt noch etwas dazu, was bei Ihnen offenbar überhaupt keine Rolle spielt. In meinem Wahlkreis habe ich noch nie jemanden von der AfD gesehen. Wahlkreisarbeit findet bei Ihnen einfach nicht statt.
({4})
Wir halten Kontakt zum Bürger und erklären ihm unsere Politik.
({5})
All diese Elemente, die ich beschrieben habe, sind mindestens genauso wichtig wie das, was wir in aller Ruhe und Gelassenheit und auch in aller Sachlichkeit dann der Öffentlichkeit präsentieren und darstellen.
In ganz wenigen Fällen tagen Ausschüsse parallel zum Plenum. Das sind vor allem der 1. Untersuchungsausschuss, der donnerstags um 11 Uhr beginnt und oft bis Mitternacht dauert und deshalb nicht montags oder freitags tagen kann – dann würde er mit seiner Arbeit nicht über die Runden kommen und die Zeugen nicht komplett vernehmen können –, und der 1. Ausschuss, der sich mit Immunitätsangelegenheiten befasst, die auch relativ schnell behandelt werden müssen. Deshalb ist es gar nicht möglich, nicht auch Gremiensitzungen parallel zum Plenum zu haben.
Aber Sie haben damit aus zweierlei Gründen ein Problem, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD. Der erste Grund ist, dass die Ausschüsse nichtöffentlich tagen. Da hat man eben keine Bühne, um Provokationen zu machen, eine Show abzuhalten und Videos zu drehen, mit denen man sich seine Wahrheit zusammenbastelt.
({6})
Der zweite Grund ist, dass wir in den Ausschüssen natürlich hart in der Sache arbeiten müssen.
({7})
Das kann man nicht, wenn man hier stundenlang die Sessel warmhält.
({8})
Deshalb sage ich ganz klar: Wir stehen zu dem Konzept, das wir im Bundestag seit vielen, vielen Jahren praktizieren, indem wir unserem Anspruch gerecht werden, ein Redeparlament und gleichzeitig ein Arbeitsparlament zu sein.
({9})
Das, was wir in § 60 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages geregelt haben, ist vollkommen ausreichend. Darin steht nämlich, unter welchen Voraussetzungen neben dem Plenum auch Ausschüsse und andere Gremien tagen können: sehr eng umrissen, in Ausnahmefällen. Jeder Abgeordnete bzw. jedes Ausschussmitglied hat grundsätzlich die Möglichkeit, sowohl im Plenum als auch in den Ausschüssen tätig zu sein. Das ist jedenfalls das, was wir alle praktizieren können. Wer das nicht kann, muss sich überlegen, ob er hier an der richtigen Stelle ist.
({10})
Weil wir in der Politik auch die Komplexität der Welt abbilden bzw. abbilden müssen und entscheiden müssen, sind wir auf Arbeitsteilung angewiesen, und wer auf Arbeitsteilung angewiesen ist, kann natürlich auch in seiner Fraktion die Rollen entsprechend verteilen, ohne dass ein Abgeordneter, ohne dass Mitglieder einer Fraktion in ihren Möglichkeiten im Plenum oder bei der Ausschussarbeit beschnitten werden.
Deshalb mein Fazit: Wir bleiben mit Sicherheit bei der bestehenden Regelung, weil sie sinnvoll ist und weil es uns um das Ergebnis und die Sacharbeit geht statt um billigen Applaus, weil es uns um die Arbeit geht,
({11})
weil wir in den Wahlkreisen präsent sein wollen –
({12})
und diese Arbeit ist mindestens genauso wichtig wie die Berliner Sitzungswochen –
({13})
und weil wir es schaffen, in den Wahlkreisen unsere Sach- und Facharbeit, die wir auch in Berlin leisten, weiterlaufen zu lassen. Wenn Ihnen das alles nicht möglich ist, dann müssen Sie noch ein bisschen lernen.
({14})
Wir lassen uns jedenfalls von dem guten Konzept, das wir seit Jahr und Tag im Deutschen Bundestag praktizieren, nicht abbringen. Insofern wird Ihr Antrag keine Aussicht auf Erfolg haben.
Vielen Dank.
({15})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Machen wir es kurz: Die Freien Demokraten lehnen diesen Antrag ab. Dafür gibt es viele Gründe. Ich will hier nur drei nennen. Der Gegenstand des Antrags ist, die Gestaltungsspielräume des Ältestenrats für die Zeitplanung von Ausschüssen zu beschränken. Das finde ich einigermaßen bemerkenswert. Wir haben einschließlich heute bereits neun Sitzungen des Ältestenrates gehabt. In keiner einzigen Sitzung haben die Vertreter der AfD auch nur einen Änderungsvorschlag gemacht.
({0})
Das finde ich wirklich bemerkenswert.
({1})
Denn dieser Umstand lässt nur zwei Schlüsse zu. Der erste Schluss ist: Es geht Ihnen gar nicht um die Sache – sonst wären Sie im Ältestenrat einmal aktiv geworden –, sondern nur darum, Show zu machen.
({2})
Oder aber Ihre Fraktion misstraut den Vertretern im Ältestenrat.
({3})
Was wir hier auf offener Bühne sehen, ist also ein Misstrauensantrag gegen die eigenen Vertreter im Ältestenrat. Vielleicht ist das der Grund, warum Ihre Namen nicht auf dem Rubrum des Antrags stehen; das kann ja sein.
({4})
Ich muss Ihnen allerdings sagen: Weder für interne Misstrauensanträge und Machtkämpfe in der AfD noch für Schauanträge ist dieses Plenum der richtige Ort. Für Schauanträge ist die Zeit des Plenums zu schade.
({5})
Herr Brandner, eine solch peinliche Begründung des Antrags muss man als Vorsitzender des Rechtsausschusses erst einmal liefern. Sie schreiben tatsächlich in der Begründung, dass die Eintragung in die Anwesenheitsliste des Deutschen Bundestags im Widerspruch zur Anwesenheit in einem Ausschuss des Deutschen Bundestags stehe;
({6})
das widerspreche dem Geist der Regelung.
Lesen Sie bitte einmal das Abgeordnetengesetz!
({7})
In § 14 Absatz 1 steht ausdrücklich, dass die Eintragung in eine Anwesenheitsliste des Ausschusses die Eintragung in eine Anwesenheitsliste des Bundestages ersetzt. Das Gegenteil von dem, was Sie behaupten, steht also im Gesetz.
({8})
Ich muss Ihnen eines sagen: Das Plenum des Deutschen Bundestages ist für viel zuständig. Aber für Nachhilfe im Parlamentsrecht für den Vorsitzenden des Rechtsausschusses sind wir hier wirklich nicht zuständig.
({9})
Weder dass Sie zur Sache nichts beitragen noch dass Ihre Begründung frei von jeder Sachkenntnis ist, ist aber das Schlimmste an diesem Antrag. Das Perfideste an diesem Antrag ist, dass Sie letztendlich das Vertrauen in die demokratischen Institutionen unterhöhlen wollen.
({10})
Sie wollen den Menschen erzählen, dass nur der Abgeordnete ein guter Abgeordneter ist, der den ganzen Tag hier sitzt.
({11})
Ich sage: Der Abgeordnete ist ein guter Abgeordneter, der sich kundig macht, um diese Regierung mit ihren Tausenden Fachbeamten wirksam und effektiv zu kontrollieren. Das geht nur durch Spezialisierung und Arbeitsteilung.
({12})
Deshalb ist die Wirklichkeit des Parlamentarismus auf der ganzen Welt die, dass die Parlamente, die verfassungsrechtlich viel Einfluss haben, genauso arbeiten wie wir hier, nämlich mit Arbeitsteilung und Vertrauen der Kollegen innerhalb der Fraktionen untereinander. Die Parlamente, deren Abgeordnete sich von morgens bis abends den Hintern im Plenum plattsitzen,
({13})
sind in der Regel die Parlamente, die wenig Einfluss haben.
Wenn Sie mir das nicht glauben, Herr Gauland – ich habe mir sagen lassen, dass Sie nicht nur ein großer Freund der britischen Mode, sondern auch der britischen Politik sind –: Es gibt ein Bonmot von Winston Churchill, der gesagt hat: Nur faule Parlamente sitzen den ganzen Tag im Parlament.
Herzlichen Dank.
({14})
Damit hat sich die Zwischenfrage erledigt. Aber der Kollege Baumann hat eine Kurzintervention beantragt.
({0})
Liebe Kollegen, Sie haben hier viel Spaß; ich merke das ja. Aber es geht um eine ganz ernste Angelegenheit.
Wofür die AfD plädiert hat, ist etwas anderes. Sie sollten bei der Wahrheit bleiben, Herr Buschmann. Warum erzählen Sie Dinge aus der EPGF-Runde und aus dem Ältestenrat? Ich habe heute zuletzt gesagt, dass die AfD-Fraktion dafür plädiert, dass wir mehr Sitzungswochen haben.
({0})
– Heute zuletzt im Ältestenrat, vorher in der EPGF-Runde. Sie behaupten hier das Gegenteil.
Wir brauchen nicht neun Sommerwochen Urlaub. Das gibt es noch nicht einmal bei den Schulferien.
({1})
– Sie machen das.
Die gleiche Diskussion hatten wir heute im Ältestenrat.
({2})
Ich bitte um etwas Ruhe, damit der Redner sich Gehör verschaffen kann.
Dort hat Ihr PGF das selber gesagt: dass wir dafür keine neun Wochen brauchen.
({0})
Wenn Sie schon aus diesen Gremien berichten, dann berichten Sie wahrheitsgemäß, und hören Sie auf mit diesen Unterstellungen und Unwahrheiten. Sie sagen etwas, was einfach nicht stimmt. Wir haben dauernd gesagt, dass 21 Sitzungswochen zu wenig sind.
({1})
Darauf sind Sie mit keinem Wort eingegangen. Darum geht es hier im Kern.
Wir können zusätzliche Sitzungswochen haben, und wir können zusätzliche Tage haben, an denen unsere Ausschüsse tagen. Mit keinem Wort ist eine Fraktion darauf eingegangen. Hoffentlich haben die Leute draußen an den Bildschirmen gesehen, was hier mit den Altparteien abläuft und welcher neue Zug hier einkehren muss.
({2})
Herr Baumann, Sie mögen bitte stehen bleiben.
({0})
Der Kollege Buschmann hat die Möglichkeit, zu entgegnen.
Ich möchte, Herr Kollege Baumann, auf Ihre Kurzintervention mit zwei Anmerkungen erwidern.
Erstens scheint mein Verdacht eines Misstrauensvotums ins Schwarze getroffen zu haben; sonst würden Sie nicht wie von der Tarantel gestochen reagieren.
({0})
Zweitens bleibe ich dabei: Sie haben mit keinem Wort die Zeitpläne des Ältestenrats für Ausschusssitzungen ändern wollen. Sie haben hier einfach über ein ganz anderes Thema geredet. Deshalb war vollkommen korrekt, was ich hier vorgetragen habe: In keiner einzigen der neun Sitzungen des Ältestenrats des Deutschen Bundestages hat die AfD eine Änderung der Zeitpläne oder der Regelung über Zeitpläne für Ausschusssitzungen beantragt. Das ist die Wahrheit.
({1})
Wir fahren fort mit der Debatte. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Matthias Bartke für die SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Interessanteste an der Einlassung von Herrn Baumann fand ich eben, dass er sitzungsfreie Wochen als Urlaub bezeichnet hat.
({0})
Ich glaube, ehrlicherweise gesagt, das stimmt auch; denn Herr Baumann ist Abgeordneter meines Wahlkreises, und ich sehe ihn da eigentlich nie aktiv,
({1})
weil er halt ziemlich viel Urlaub hat.
({2})
Nach geltender Geschäftsordnung sind Ausschusssitzungen grundsätzlich am Mittwoch sowie am Donnerstag und am Freitag möglich, vor und nach den Plenarsitzungen. Auch am Mittwoch gilt eine Einschränkung: Zur Zeit der Regierungsbefragung finden keine Ausschusssitzungen statt. Das ist richtig so. Wir brauchen die Regierungsbefragung für eine wirksame parlamentarische Kontrolle. Daran sollten möglichst alle Mitglieder des Bundestages teilnehmen können.
Auch wir haben ein Interesse an einem gut besetzten, lebhaften Plenum. Deswegen ist es schon bisher so geregelt, dass Ausschusssitzungen parallel zum Plenum nur mit Genehmigung des Präsidenten möglich sind.
({3})
Regelmäßig gibt es keine Zustimmung zu Sitzungen parallel zur Kernzeit. Es stimmt aber, dass für bestimmte Ausschüsse Dauergenehmigungen für Sitzungen zur Plenumszeit gelten.
({4})
Für die betroffenen Ausschussmitglieder kann das im Einzelfall ärgerlich sein.
Aber, meine Damen und Herren von der AfD, was ist denn Ihre Lösung? Auf Wahlkreiswochen verzichten? Auf Urlaub verzichten, Herr Baumann?
({5})
Eine Vielzahl von Ausschusssitzungen überschneidet sich doch jetzt schon. Wenn wir auch noch die parallel zum Plenum tagenden Ausschüsse auf diese Zeit schieben, haben wir ein noch viel größeres Problem. Viele Abgeordnete sind in mehreren Ausschüssen Mitglied. Ich kann da aus eigener Erfahrung berichten. In der letzten Wahlperiode war ich Mitglied im A-und-S-Ausschuss, im Rechtsausschuss und im 1. Ausschuss. Wenn die alle drei immer zur gleichen Zeit getagt hätten, hätte ich meine Zeit wirklich nur noch damit verbracht, zwischen den einzelnen Sitzungen hin und her zu springen.
({6})
Meine Damen und Herren von der AfD, Sie erwecken gern den Eindruck, ein schwach besetzter Plenarsaal sei ein Zeichen für faule Volksvertreter. Das ist mitnichten so. Herr Schnieder hat es gesagt: Wir sind ein Arbeitsparlament. Die Arbeit und die Bilanz unserer Arbeit sind wahrhaft eindrucksvoll.
({7})
In der letzten Wahlperiode gab es 13 705 Drucksachen, mit denen wir uns befasst haben.
({8})
Dazu zählen Gesetzentwürfe, Anträge, Beschlussempfehlungen, Ausschussberichte, Unterrichtungen und Anfragen. Dabei sind all die Stellungnahmen, die wir beispielsweise zu Anhörungen erhalten, nicht mitgerechnet. Es fehlen in dieser Bilanz auch die zahlreichen E-Mails und Briefe, die wir tagtäglich beantworten, und all die Gespräche, die wir jede Woche führen.
({9})
Sie verkennen das parlamentarische Geschäft, wenn Sie denken, es reiche, sich auf den blauen Stühlen niederzulassen und Zwischenrufe zu machen.
({10}) – Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]: AfD – Elbchaussee!)
Die harte Kärrnerarbeit findet in den Ausschüssen statt.
({11})
Hier braucht es unermüdliche und kenntnisreiche Sacharbeit an Gesetzentwürfen und Anträgen. Das ist zugegebenermaßen nicht Ihre Stärke. Gesetzgebung findet bei uns zentral in den Ausschüssen statt. Deswegen ist es so wichtig, dass dort möglichst alle Mitglieder anwesend sind. Das Plenum funktioniert dagegen auch mit nur einem Teil der Abgeordneten.
Herr Bartke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner?
({0})
Nein, bestimmt nicht.
({0})
Für Sie, meine Damen und Herren von der AfD, ist es natürlich attraktiver, im Plenum mit gefüllten Reihen Ihrer Fraktion das nächste Video für Facebook zu drehen. Ich gebe Ihnen ein Rat: Konzentrieren Sie sich auf die Arbeit in den Ausschüssen! Ihre Reihen hier mögen dann nicht mehr bis zum letzten Platz gefüllt sein, aber Sie ersparen sich Blamagen wie die im Zusammenhang mit der Diätenerhöhung. Sie wollten das Thema hier im Plenum für sich ausschlachten. Die Kollegin Haßelmann von den Grünen war es, die Ihnen dann ordentlich den Kopf gewaschen hat.
({1})
Sie hat klargemacht, dass Sie Ihre Kritik schon im Ausschuss anbringen müssen, wenn Sie Änderungen wollen. Das ist ganz offenkundig nicht Ihre Stärke.
Herr Bartke, ich nehme an, dass Sie auch eine Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung der Kollegin von Storch nicht gestatten wollen.
Welcher Kollegin?
Von Storch.
Nein.
Auch nicht.
Nein. – Meine Damen und Herren von der AfD, das Plenum ist Mittel zum Zweck und nicht Zweck an sich. Ich gebe Ihnen einen Rat: Nutzen Sie die guten Ausschüsse, um gute Oppositionsarbeit zu machen,
({0})
und verlassen Sie sich nicht auf das Plenum als Showbühne.
Ich danke Ihnen.
({1})
Nächster Redner ist der Abgeordnete Friedrich Straetmanns für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Zur Beratung steht heute der Antrag der AfD, die Geschäftsordnung des Bundestages zu ändern. Inhaltlich geht es der AfD darum, Doppeltermine von Plenum und Ausschuss zu vermeiden. Darauf wirkt auch meine Fraktion, Die Linke, seit langem hin.
Sie, Herr Brandner, haben in Ihrer Rede forsch unterstellt, dass absichtsvoll alle anderen Fraktionen inhaltliche Arbeit missachten und dass allein Sie das Fähnlein der Sacharbeit hochhalten. Das stimmt so nicht. Im Ausschuss wird von der AfD konsequent auf Verzögerungstaktik gesetzt, und die Anwesenheit im Plenum nutzen Sie, um populistische Parolen zu verbreiten – je deftiger und bierzelttauglicher, umso besser.
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Sachliche Auseinandersetzungen mit den hier zu beratenden Themen sehen aber anders aus.
Viel Energie verwenden Sie von der AfD darauf, dass Sie Schaufensteranträge wie diesen stellen, die möglichst spät vorgelegt werden, um eine sachliche Auseinandersetzung zu verhindern. Sie testen aber auch bewusst Grenzen im sprachlichen Bereich aus. Ihre Argumentation und Ihre Begründung der bisherigen Anträge zielten oft genug darauf ab, nationalistische und rassistische Vorurteile zu bedienen.
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Sie nutzen diese Ausfälle, um auf YouTube oder anderswo im Internet Stimmung zu machen. Das lehnen wir ab; wir bekämpfen dies mit aller Kraft.
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Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin von Storch?
Nein, danke.
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In den Ausschüssen und Berichterstattergesprächen verweigern Sie die Sacharbeit. Gezeigt hat sich das bei den Berichterstattergesprächen zum EU-Patentgericht. Ich hatte darauf in einigen Reden schon verwiesen.
Ihr Antrag nimmt Bezug auf den Haushaltsausschuss und den Ausschuss für Tourismus. Allerdings stellen Sie in beiden Ausschüssen den Ausschussvorsitzenden. Ich habe mich einmal umgehört: Weder Herr Boehringer noch Herr Münzenmaier haben sich in ihren Ausschüssen um eine Terminänderung bemüht.
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Auch das beweist: Dieser Antrag ist reine Show.
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Inhaltliche Arbeit heißt aber auch, dass Anträge nicht schlampig zusammengeschustert werden. Außerdem müssen Anträge rechtzeitig vorgelegt werden. Den heute vorliegenden Antrag hatte ich wieder erst am Mittwochmorgen auf dem Schreibtisch, kurz bevor ich mich auf den Weg zum Ausschuss machen musste, der um 9 Uhr tagte – übrigens weit vor dem Beginn des Plenums. Bisher habe ich Ihnen Taktik unterstellt, aber vielleicht können Sie es auch nicht besser.
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Ich frage mich, ob es eine Verbesserung wäre, wenn man dem Ältestenrat auferlegte, sich mit Sondergenehmigungen für jede parallel zum Plenum stattfindende Ausschusssitzung zu befassen. Der Ältestenrat hat durch Sie ohnehin schon genug zu tun, da er sich häufig mit Ihren sprachlichen Ausfällen befassen muss.
Die Debatten hier sind wichtig, die Debatten in den Ausschüssen aber auch; denn in diesen Maschinenräumen des Parlaments wird die Grundlage für die inhaltliche Debatte gelegt. Ihnen geht es nicht um konstruktiven Streit für die Sache. Sie wollen Wut und Hass schüren.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner?
Nein, immer noch nicht. – Man hat bei Ihnen oft den Eindruck, dass zielführende Diskussionen gar nicht gewünscht sind, weil Sie dann sachlich fundierte Entscheidungen treffen müssten, die sich auf Pegida-Versammlungen nicht so einfach vermarkten lassen.
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Wir zielen mit unseren Anträgen zur Geschäftsordnung, die wir am Anfang der Legislaturperiode eingebracht haben, eher darauf ab, dass keine Dauerberatung von Anträgen erfolgt, sondern nach einer bestimmten Zeit eine Befassung im Parlament erfolgen muss. Ich glaube, das ist ein sinnvoller Antrag, über den man zumindest diskutieren kann.
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Das ist effektiv, das ist aus unserer Sicht demokratisch.
Ihren Antrag, in dem es nur um das Herumschieben von Verantwortlichkeiten und einmal mehr nicht um Inhalte geht, lehnen wir ab.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Haßelmann vom Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich drei Vorbemerkungen machen.
Erste Vorbemerkung. Die AfD hat fünf Monate gebraucht, um da anzukommen, wo sie heute ist, nämlich bei der Feststellung, dass der Deutsche Bundestag mehr ist als eine Plenarsitzung
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und dass das heißt, dass man ganz schön unter Dampf sein kann und im Dauerlauf und ziemlich gut organisiert sein muss, wenn man als Abgeordneter seinen vielfältigen Aufgaben, die man hat, nachkommen will.
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Immerhin fünf Monate! Vor fünf Monaten haben wir die Ausschüsse eingesetzt. Ab da sickerte so langsam durch, dass der Deutsche Bundestag ein Arbeitsparlament ist.
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Zweite Vorbemerkung. Ich lasse mir von einem Abgeordneten – ich glaube, das sehen die meisten von Ihnen so –, der den Abstimmungszettel zur geheimen Wahl der Kanzlerin auf dem Herrenklo fotografiert
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und sich damit bei Twitter brüstet, zum Thema „Würde des Hauses“ gar nichts sagen.
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Dritte kurze Vorbemerkung. Ein Rechtsausschussvorsitzender sollte eigentlich wissen, dass der Antrag, den wir gerade beraten, kein Geschäftsordnungsantrag ist,
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sondern ein Antrag an den Deutschen Bundestag zur Änderung der Geschäftsordnung.
So weit meine Vorbemerkungen. Da ist noch Luft nach oben,
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das ist für mich an diesem Abend wieder einmal klar geworden.
Jetzt zur Sache. Wir haben 24 ordentliche Ausschüsse, 17 davon tagen vormittags, 7 tagen am Nachmittag und dürfen laut Geschäftsordnung nicht parallel zur Regierungsbefragung stattfinden, da alle Abgeordneten die Möglichkeit haben sollen, an der Regierungsbefragung teilzunehmen. Wir haben einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Wir haben elf Unterausschüsse des Deutschen Bundestages. Wir haben eine Reihe von Kommissionen und Beiräten.
Nun zum sehr inhaltslosen Antrag, der uns vorliegt. Als Ergänzung zu § 20 der Geschäftsordnung schlägt die AfD vor, dass sich die Sitzungen des Bundestages nicht zeitlich mit Ausschusssitzungen überschneiden dürfen.
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In § 60 der Geschäftsordnung soll geändert werden, dass Ausschusssitzungen nicht gleichzeitig mit Plenarsitzungen stattfinden dürfen.
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Wer sich nun mit der Frage beschäftigt: „Was sollen wir denn dann tun?“ – Sie verstehen: Ausschusssitzungen sollen nicht parallel zum Plenum und Plenum nicht parallel zu Ausschusssitzungen stattfinden –, und erwartet, dass eine Fraktion dieses Hauses zu diesem komplexen Vorgang einen Vorschlag macht, hat sich geirrt.
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Das einzig Substanzielle ist, diese beiden Paragrafen der Geschäftsordnung aufzuführen und zu sagen: Das muss geändert werden.
Jetzt zum Ernst der Sache: Meine Damen und Herren, Sie können sich demnächst ein flotteres Tempo angewöhnen, dann schaffen Sie es vielleicht auch, Ausschussarbeit, Kommissionsarbeit, Beiratsarbeit, Plenararbeit, Fragestunde und Kontrolle der Regierung unter einen Hut zu kriegen. Ich würde mich auch fragen: Wollen Sie eigentlich auch Wahlkreisarbeit machen?
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Denn Wahlkreisarbeit umfasst die Fragen: Wie gehen wir eigentlich mit der Vermittlung unserer Arbeit nach außen um? Wie stehen wir Rede und Antwort in unseren Wahlkreisen für das, was wir tun? Machen wir Bürgersprechstunden? – Wer von Ihnen hat eigentlich ein Wahlkreisbüro?
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Oder konzentrieren Sie sich voll auf den Laden hier?
Wenn eine Fraktion versucht, das Parlament und die Arbeit des Parlaments verächtlich zu machen – das ist im Kern das, was der Kollege vorhin versucht hat –, dann sage ich: Dafür gibt es keinen Anlass. Wir versuchen, die Arbeit hier im Plenum und die Arbeit im Wahlkreis unter einen Hut zu kriegen. Das ist verdammt schwer. Man muss immer wieder neu nachdenken und reflektieren, wie man das schafft.
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Das ist eine Herausforderung für jede und jeden von uns. Ich bin froh, dass wir gemeinsam – bei aller Unterschiedlichkeit in den Positionen – diese Art, die Arbeit der Abgeordneten lächerlich machen zu wollen, nicht zulassen.
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Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Jürgen Braun für die AfD.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Tja, Sie, die Altparteien, sind toll. Die Ausreden der Redner der anderen Fraktionen sind wieder einmal beschämend,
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Ausreden über Ausreden, nichts mehr. Da gibt es den Komiker Schnieder, den arroganten Märchenerzähler Buschmann und wie immer unsere hysterische Oberlehrerin Frau Haßelmann.
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Die Arroganz der Altparteien ist auch bei diesem Thema grenzenlos.
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Endlich hat dieser Bundestag wieder eine echte Opposition – das wurde auch Zeit –: uns, die AfD.
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Und die Deutschen spüren, dass die AfD gegen die leeren Stuhlreihen der Altparteien kämpft; und das häufig erfolgreich.
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Die Kollegen Kauder, Oppermann und Kubicki haben das in den letzten Monaten immer wieder öffentlich anerkannt.
Frau Haßelmann, Sie sollten ab und zu einmal Zeitung lesen.
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Was habe ich nicht alles an Unsinn gehört, wenn es um die Ausreden der anderen Fraktionen ging. Ich habe das monatelang in meinem Ausschuss, in nahezu jeder Sitzung erlebt, wenn ich die Termine verlegen wollte. Was für ein Schwachsinn wurde da erzählt! Die Geschäftsordnung erlaube keine Abendsitzungen des Ausschusses. Das steht zwar nirgendwo, aber frech behaupten können Sie das immer. Das ist ja toll. Es gebe nicht genügend Sitzungsräume, um zu tagen. Nicht genug Räume – auch so eine tolle Ausrede.
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Außerdem brauche man den Abend dringend für andere Termine. Für NGOs oder andere Lobbygruppen? Nicht für den Bürger, nicht fürs Plenum – dafür haben Sie keine Zeit.
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Die großen Themen, die großen Probleme unseres Landes, müssen öffentlich in diesem Plenum diskutiert werden. Das kann nicht in irgendwelchen Hinterzimmern oder Kungelrunden, die noch nicht einmal in der Geschäftsordnung erwähnt werden, passieren.
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Deswegen müssen wir alles tun, um jedem Abgeordneten die Anwesenheit im Plenum zu ermöglichen. Das sorgt endlich wieder für Respekt beim deutschen Wähler.
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Nächster Redner ist der Abgeordneter Michael Frieser für die CDU/CSU.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Frau Kollegin Haßelmann, fünf Monate waren nicht genug, um nach dem pädagogischen Prinzip der Wiederholung auch in einem Parlamentsbetrieb zu lernen.
Ich will normalerweise nicht auf solche Äußerungen eines Vorredners eingehen, aber ich möchte Sie fragen: Haben Sie irgendetwas anderes als persönliche Diffamierungen, persönliche Herabwürdigungen an Inhalt vorgetragen? Das kann doch nicht Sinn von Parlamentsarbeit sein.
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Sie merken nach den fünf Monaten langsam: Die Luft wird dünn.
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Die Zeit der Ineffizienz und Ineffektivität, in der Sie sich nur in diesen Plenarsaal gesetzt und auf die sogenannten Altparteien geschimpft haben, ist vorbei. Sitzen alleine ist keine Arbeit.
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Es wäre durchaus interessant, einmal eine inhaltliche Debatte zu führen. Ist das Gesetzgebungsverfahren noch zeitgemäß? Ist die Art und Weise, wie wir damit umgehen, noch zeitgemäß? Kommt das, was beim Bürger ankommen soll, dort auch wirklich an?
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Nehmen wir den Bürger bei den Gesetzgebungsverfahren mit? Das Einzige, was Sie interessiert, ist die Tatsache, dass ein YouTube-Video möglichst viele Klickzahlen bekommen soll. Das entspricht nicht der Würde dieses Hauses.
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Es wurde jetzt oft genug betont: Wir versuchen, die Plenartage von allen möglichen anderen Verpflichtungen freizuhalten. Wir versuchen, wirklich alles zu unternehmen, damit es den Kollegen auf der einen Seite möglich ist, an den Plenarsitzungen entsprechend ihrer Bedeutung teilzunehmen, sie auf der anderen Seite aber auch die anderen Aufgaben der Parlamentsarbeit, die die Kollegen schon allesamt aufgeführt haben, erfüllen können.
Um es einmal deutlich zu sagen: Wenn die Sitzungswochen des Deutschen Bundestages die einzige Zeit ist, in der Sie Ihrer Abgeordnetentätigkeit nachgehen, dann, muss ich ehrlich sagen, wissen Sie nicht, dass das Jahr 365 Tage hat.
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Für mich findet Parlamentsarbeit auch außerhalb der Sitzungswochen statt.
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Für mich bedeutet Parlamentsarbeit auch, den Betrieb am Laufen zu halten. Das betrifft einerseits die Wahlkreisarbeit, das betrifft aber auch die Arbeit an – ich werfe einfach einmal ein paar Zahlen bezogen auf die letzte Legislatur in den Raum – 4 000 Anfragen, 1 000 Anträgen, 500 Entschließungsanträgen, 1 000 Gesetzgebungsvorhaben. Glauben Sie, dass diese Arbeit nur in Plenarsitzungswochen stattfindet? Dafür muss das ganze Jahr über organisiert und gearbeitet werden. Dabei kommen keine YouTube-Videos heraus, keine Frage.
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Diese Gespräche und Telefonate sind nicht dafür geeignet, die Bevölkerung vom Sitz zu reißen.
Lassen Sie sich von einem stellvertretenden Untersuchungsausschussvorsitzenden der letzten Legislaturperiode sagen: Beweisaufnahmen, die zehn Stunden und bis in die Morgenstunden hinein dauern – wenn schon keine Plenarsitzungen mit der AfD mehr stattfinden; das ist aber eine andere Frage –, müssen selbstverständlich aus organisatorischen Gründen auch während einer Plenarsitzungswoche laufen. Oder glauben Sie allen Ernstes, Sie könnten mit diesem Auftritt die Wahrheitsfindung in irgendeiner Weise aufhalten? Das kann ja auch eine Intention des Antrages sein. Auf jeden Fall würden Sie die Suche nach der Wahrheit verschleppen, wenn dieser Antrag Erfolg hätte.
Aber das muss die AfD gar nicht interessieren. Denn wenn man monothematisch aufgestellt ist, wenn man es, egal an welcher Stelle, immer wieder schafft, nach spätestens eineinhalb bis zwei Minuten Redezeit zum Lieblingsthema zurückzukommen, wenn man tatsächlich nicht in der Lage ist, zu den meisten Themen und zu allen Politikfeldern dieser Republik, die die Menschen angehen, inhaltlich etwas beizutragen, dann tut man natürlich gut daran, wenn man das alles hier im Plenum machen will. Das scheint mir eindeutig zu sein.
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Ich kann nur sagen: Wenn es Ihnen wirklich um die Wirkungsweise des Parlaments geht, wenn es Ihnen wirklich um die Frage geht, inwieweit dieses Parlament auf die Menschen eingehen kann, Menschen in diesem Land mitnimmt, dann müssen Sie erstens den Tonfall ändern, der hier herrscht,
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dann müssen Sie aufhören, mit dieser Art von Vokabular rumzuhacken und einzudreschen, und dann müssen Sie zweitens meines Erachtens auch aufpassen, dass Sie in der Lage sind, sich thematisch so aufzustellen, so vorzubereiten, dass Sie am Ende des Tages sowohl im Ausschuss als auch in den Plenarsitzungen diese Debatte wirklich führen können. Das bedeutet Arbeit – nicht in Hinterzimmern, sondern am Schreibtisch. Das bedeutet Absprache, das bedeutet Rücksprache mit Fachleuten. Das bedeutet selbstverständlich auch, zum Beispiel im Fall der koalitionstragenden Fraktionen, dass sie diese Fragen miteinander klären und sich absprechen. Das sollte tunlichst alles nicht hier im Parlament passieren. Das ist die Definition von Arbeitsparlament. Ich befürchte, es dauert doch noch ein paar Jahre länger, Frau Kollegin Haßelmann, bis die Botschaft ankommt. Deshalb kann ich nur sagen: Wenn es Ihnen um das Parlament geht, müssen Sie gegen Ihren eigenen Antrag stimmen.
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Letzte Rednerin in der Debatte ist die Abgeordnete Sonja Steffen für die SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Wir beschäftigen uns in dieser Woche wieder einmal mit einem AfD-Antrag zur Änderung der Geschäftsordnung. Diesmal geht es darum, dass Sie die Überschneidungen von Bundestags- und Ausschusssitzungen beklagen. Ich sage das gleich am Anfang: Allein mit Ihrem überflüssigen Antrag behindern Sie einmal mehr die produktive Parlamentsarbeit.
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Allerdings greift Ihr Antrag eine Frage auf, die mir von fast jeder Besuchergruppe gestellt wird: Warum sind bei den Bundestagsdebatten so viele Stühle frei? Ich bin immer sehr dankbar, wenn diese Frage gestellt wird, weil ich dann die Gelegenheit habe, meinen Besucherinnen und Besuchern zu erklären, wie der Arbeitstag einer Bundestagsabgeordneten hier in Berlin so aussieht. Ich kann ihnen erklären, dass die Abgeordneten, die gerade nicht im Plenum sind, nicht etwa in der Sauna oder im Biergarten sitzen,
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sondern in Ausschüssen und Fachgesprächen, weil sie dort ihre Facharbeit leisten.
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Ich kann ihnen auch erklären, dass der Arbeitstag einer Abgeordneten in den Sitzungswochen nicht selten 15 bis 16 Stunden täglich dauern kann, manchmal auch länger. Es ist schlicht nicht möglich, jede Sitzungswoche 20 bis 40 Stunden im Plenum zu sitzen und gleichzeitig gute Facharbeit zu leisten.
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Frau Steffen, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD?
Nein.
In Ihrem Antrag bemängeln Sie die Überschneidung von Sitzungen des Deutschen Bundestages mit Sitzungen der Ausschüsse. Aber leider bieten Sie keinen Lösungsansatz für dieses Problem an.
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Ich frage mich ernsthaft, warum ein so inhaltsleerer Antrag gestellt wird, übrigens wieder mit einer extrem kurzen Vorlaufzeit. Er wurde uns am Dienstagabend um 22 Uhr zugestellt.
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Das Plenum startet mittwochs um 13 Uhr. Vorher finden die Ausschusssitzungen statt. Wann, wenn nicht während der Plenarsitzungszeiten, sollen wir uns mit Ihrem Antrag beschäftigen? Hier wäre etwas mehr Kollegialität Ihrerseits sehr wünschenswert.
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Aber vielleicht hat der Kollege Straetmanns recht: Vielleicht können Sie es auch nicht besser.
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In Ihrem heute vorliegenden Antrag steht kein Wort davon, wie es anders gehen soll. Welche praktischen Vorschläge haben Sie? Möchten Sie mehr Sitzungswochen im Jahr? Möchten Sie kürzere Plenar- und Ausschusssitzungen? Möchten Sie zusätzliche Sitzungstage, vielleicht noch am Samstag oder am Sonntag?
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In Ihrem Antrag ist dazu nichts zu finden, übrigens auch nicht in Ihrer Brandrede, Herr Brandner, und auch nicht in der Büttenrede von Herrn Braun.
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Wie Sie wissen müssten, ist das Zustandekommen von Plenar- und Sitzungsterminen weder Zufall noch unüberlegt.
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– Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage.
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Ganz im Gegenteil, der vereinbarte Ablauf einer Sitzungswoche ist das Ergebnis ausführlicher Beratungen im Ältestenrat. Wenn Sie sich den Sitzungsplan einmal genauer angeschaut hätten, dann wäre Ihnen aufgefallen, dass die Ausschüsse in der Regel gerade nicht parallel zum Plenum tagen. Davon gibt es Ausnahmen. Eine dieser Ausnahmen haben Sie in Ihrem Antrag genannt. Das ist der Haushaltsausschuss. Wie Sie aber vielleicht auch wissen sollten, nimmt der Haushaltsausschuss wieder eine besondere Rolle im Parlament ein. Hier sind der Zeitdruck und die Arbeitsbelastung noch größer.
Meine Damen und Herren, wir haben in diesem Jahr zwei Haushalte zu beschließen: den für 2018 und den für 2019. Im Rahmen der Beratungen müssen wir die Haushaltspläne aller Ministerien prüfen und auch die zuständigen Minister anhören. Insgesamt müssen 22 Einzelpläne bearbeitet werden. Allein für die Befragungen kommen 100 Stunden zusammen.
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Wie, bitte schön, stellen Sie sich das vor? Soll der Haushaltsausschuss schon montags und dienstags tagen, parallel zu den Fraktionssitzungen und zu den Fachausschüssen? Wann sollen die Haushälterinnen und Haushälter sich mit unseren Fachpolitikern rückkoppeln?
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All das wird in Ihrem Antrag nicht beantwortet. Anscheinend möchten Sie zukünftig 40 Sitzungswochen statt 21 im Jahr, allerdings fände dann de facto keine Wahlkreisarbeit mehr statt.
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Aber das ist vielleicht Sinn und Zweck Ihres Antrages.
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Vielleicht ist das übrigens auch der Grund, weshalb einige – das sind nicht wenige – Kollegen der AfD bis heute kein Wahlkreisbüro haben.
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Interessant war übrigens, wie hysterisch Sie reagiert haben, als die Kollegin Haßelmann das erwähnte.
Ja, es ist richtig, die Taktung der Sitzungstermine hier im Bundestag ist eng. Über Verbesserungen können wir konstruktiv nachdenken, aber nicht aufgrund Ihres Antrages. Jedenfalls wäre, wie schon eingangs gesagt, vielen geholfen, wenn Sie von der AfD die Arbeit des Parlaments nicht noch mit solch unnötigen Anträgen aufhalten würden.
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Der Kollege Brandner hat eine Kurzintervention beantragt.
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Vielen Dank für die Worterteilung. – Viele Vorredner und auch die letzte Rednerin haben als Hauptargument für mangelnde Präsenz hier im Bundestag angeführt, dass parallel sehr viel Ausschussarbeit zu leisten wäre. Eine Frage an meine Vorrednerin: Frau Steffens, welche Ausschüsse tagen zurzeit, die begründen könnten, dass lediglich 20 Prozent der Abgeordneten der Altparteien hier anwesend sind?
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Also welche Ausschüsse tagen heute um 22.10 Uhr, die es rechtfertigten, dass kaum einer von Ihnen da ist?
Dann haben Sie mir unterstellt, ich hätte in meiner Rede keine Lösungsvorschläge gemacht, Frau Steffens. Vielleicht sind Sie auch erst später von der Ausschussarbeit zu uns gestoßen. Ich habe sehr wohl Lösungsvorschläge gemacht. Ich habe gesagt: Wir könnten montags eher anfangen, wir könnten freitags länger machen. Letztendlich könnten wir auch in den über 30 sitzungsfreien Wochen den einen oder anderen Tag nach Berlin reisen und Ausschusssitzungen durchführen.
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Mitnichten ging es mir darum, Ausschusssitzungen einzuschränken; es ging viel mehr darum, Ausschusssitzungen geschickter und anders zu verteilen, sodass Sie und wir alle unseren Verpflichtungen als Volksvertreter nachkommen können und hier – verdammt noch mal! – im Plenum Anwesenheit zeigen.
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Frau Steffen.
Herr Brandner, wir sind Kollegen im Rechtsausschuss, daher sollten Sie sich merken: Mein Name ist Steffen und nicht Steffens. Das sei vorweg gesagt.
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Außerdem sehe ich hier im Parlament sehr viele Abgeordnete sitzen.
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Die meisten von uns sind wahrscheinlich seit spätestens heute Morgen 8 Uhr hier unterwegs, manche noch früher.
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Insofern finde ich es ganz toll, dass wir hier noch sitzen und miteinander debattieren. Ich habe auch in meiner Rede gesagt, dass ich es in Ordnung finde, dass man darüber spricht. Jedenfalls habe ich in Ihrem Antrag und in Ihren beiden Reden keinen konstruktiven Ansatz gefunden;
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es gab lediglich den Ansatz, dass mehr Sitzungswochen stattfinden sollen.
Wissen Sie was? Ich weiß nicht, wie Sie Ihre Zeit verbringen, wenn keine Sitzungswoche ist.
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– Ja. Sie haben es vorhin selber erklärt. Genau, das sind für sie Urlaubswochen. – Ich weiß nicht, ob es irgendjemanden in diesem Parlament gibt, der es sich in den neun Wochen Sommerpause, die Sie vorhin erwähnt haben, leisten kann, die Füße hochzulegen.
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Das kann mit Sicherheit niemand, außer vielleicht Sie. Mir geht es genauso wie meinem Kollegen Bartke. Ich habe meinen Wahlkreiskollegen aus Ihrer Fraktion bei meinen Tätigkeiten im Wahlkreis bislang nicht ein einziges Mal vor Ort getroffen.
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Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb schließe ich jetzt die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1843 an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vorgeschlagen. Ich nehme an, damit sind Sie einverstanden. – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Zu später Stunde behandeln wir einen doch sehr wichtigen Antrag zur Entlastung der deutschen Unternehmerschaft, insbesondere des kleinen Mittelstandes, vom Bürokratieaufwand. Der Bürokratieaufwand der deutschen Unternehmen für Berichtspflichten an den deutschen Staat beträgt nahezu 50 Milliarden Euro pro Jahr. Alle wollen hier Erleichterungen – die Parteien leider oftmals nur in ihren Sonntagsreden, die Verbände in ihren Wahlprüfsteinen, alle, die dadurch belastet sind, die von ihrer eigentlichen Arbeit abgehalten werden. Dieser Antrag ist ein Schritt in diese Richtung.
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Gerhard Schröder hat mit seiner Agenda 2010 einen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung, einen Beitrag zum seit langem tragenden Aufschwung in dieser Republik geleistet. Allerdings hat er mit der sogenannten Vorfälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge dem deutschen Mittelstand, den deutschen Unternehmen einen Bärendienst erwiesen.
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Nicht nur, dass diese Aktion im Jahr 2006 20 Milliarden Euro Kosten für die Unternehmerschaft verursacht hat, die geschultert worden sind – deshalb noch einmal meinen ausdrücklichen Dank an die Unternehmen, die das geleistet und ertragen haben –, nein, heute haben wir immer noch eine immense Bürokratie zu schultern; denn die Unternehmer sind gefordert, am sechstletzten Tag des Monats eine Schätzung vorzunehmen, wie denn der Monat ausläuft. Jedes Unternehmen, das mit variablen Kosten arbeitet, mit Stückkosten, Stundenlöhnen oder Akkordlöhnen, muss einschätzen, wie der Monat ausgeht. Es gibt eine kleine bürokratische Erleichterung insofern, als man inzwischen auf Basis des Vormonats schätzen darf. Aber es bleibt dabei, dass man nach dieser Schätzung natürlich eine vernünftige, eine auf den tatsächlichen Ergebnissen basierende Abrechnung im Folgemonat nachreichen muss.
Der kleine Handwerksmeister, der wenige Angestellte hat, der Gewerbetreibende mit wenigen Angestellten muss 24 statt 12 Abrechnungen im Jahr machen. Wann macht er sie? Meist am Wochenende unter Aufgabe seiner Freizeit, seiner Familienzeit und der Zeit, die allen anderen in diesem Land zugestanden wird, um sich auch einmal zu erholen oder mit anderen Dingen zu befassen. Der Mittelstand ächzt da unter bürokratischer Last.
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Der Normenkontrollrat schätzt in seinem Abschlussbericht allein den Aufwand für diese 24 statt 12 Meldungen auf circa 1,5 Milliarden Euro, eine Regelung, die die Absurdität der deutschen Bürokratie widerspiegelt, ebenso wie viele andere: die Mindestdokumentationspflichten, das Lohngleichheitsgesetz sowie die Dokumentation flexibler Arbeitszeiten. Allein seit dem Jahr 2011 ist der bürokratische Aufwand in diesem Land um fast 10 Milliarden Euro gestiegen. Damit muss Schluss sein. Der Normenkontrollrat fordert einen KMU-Test, eine Überprüfung genau dieser Fälligkeiten und bürokratischen Lasten.
Meine Damen und Herren, mit diesem Antrag fordern wir einen Systemwechsel. Es gibt das umsatzsteuerrechtliche Instrument der sogenannten Sondervorauszahlung. Sie versetzt die Unternehmen in die Lage, die bürokratische Last durch eine jährliche Sondervorauszahlung abzubauen und die Meldungs- und Zahlungspflicht in den Folgemonat zu verschieben, wenn man exakt weiß, wie der Monat gelaufen ist, wie viele Stunden die Arbeitnehmer geleistet haben und wie viel Ertrag in der Firma angekommen ist. Hiermit beseitigen wir das langjährige Ärgernis, 24 statt 12 Abrechnungen pro Jahr machen zu müssen. Ich denke, das wäre ein großer Schritt. Damit entlasten wir gerade die kleinen und mittelständischen Unternehmen spürbar,
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und es kostet die Sozialversicherungsträger und uns alle keinen Cent.
Meine Damen und Herren, wir schlagen eine Lichtung in den deutschen Bürokratiedschungel. Lassen Sie uns damit anfangen. Es gibt keinen parteipolitischen Grund, diesen Antrag abzulehnen.
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Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger, CDU/CSU.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute einen Antrag der FDP zur angeblichen Bürokratie
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und zur Bürokratieentlastung für Unternehmen. Ja, das muss ich so sagen; denn die Koalition der letzten Legislaturperiode und vorhergehende Koalitionen haben dieses Problem bereits gelöst. Deshalb muss ich sagen: Es fehlt bei der FDP ein bisschen an der Frische, sich vielleicht auch um die aktuelle Gesetzeslage zu kümmern.
Ich darf vielleicht zuerst in die Historie gehen. 2005 – das müssen wir feststellen – gab es eine schwierige Situation für die Sozialversicherungsträger. Die sogenannte Schwankungsreserve der Rentenversicherung war auf null abgeschmolzen, die Defizite in der gesetzlichen Krankenversicherung waren spürbar angestiegen, und dasselbe galt für die Arbeitslosenversicherung. Das hat letztendlich dazu geführt, dass ein Gesetzgebungsverfahren in Gang gesetzt wurde, um die Sozialversicherungsbeiträge in dem Monat abführen zu lassen, in dem sie erarbeitet werden.
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Das bedeutet eben, dass die Beiträge fünf Tage vor Monatsende abgerechnet werden müssen und dann auch abzuführen sind. Dies haben wir seinerzeit mitgetragen; denn angesichts der Alternative, Beitragserhöhungen zu akzeptieren – damals ging es um eine Erhöhung des Beitrags zur Rentenversicherung um 0,5 Prozentpunkte –, war dies bei den schwierigen Entscheidungen, die wir zu treffen hatten, damit die Rentnerinnen und Rentner im Dezember 2005 ihre Rente fristgerecht ausbezahlt bekamen, das kleinere Übel. – Dies zur Historie, warum man die Vorfälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge beschlossen hat.
Ich gebe zu: Das hat uns viel Kritik eingebracht, auch berechtigte Kritik;
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denn dieses Gesetz wurde meines Erachtens von den damit befassten Verantwortlichen bei den Sozialversicherungsträgern sehr hart umgesetzt. Die exakte Spitzabrechnung, die Schätzung und dergleichen mehr stießen in den Betrieben auf kein Verständnis und riefen dementsprechend Schwierigkeiten hervor. Es wurden auch Strafen angedroht, mit denen die Unternehmer, die das nicht richtig gemacht haben, belegt werden sollten.
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Das hat uns in der nachfolgenden Koalition, mit Bundeswirtschaftsminister Michael Glos an der Spitze, zum ersten Bürokratieentlastungsgesetz geführt, das eine Entlastung bei der Beitragsabführung für die kleinen und mittleren Betriebe vorsah, insbesondere für die Betriebe im Handwerk, die unstete Löhne zahlen, weil sie entweder auf Stundenbasis oder im Akkord abrechnen und dementsprechend nicht fünf Tage vor Monatsende die Stundenzahlen feststellen können. Dass die Umsetzung der Vorgaben für sie schwierig war, ist völlig klar; das geben wir auch zu. Das hat uns auch dazu veranlasst, entsprechende Schritte einzuleiten. Wir haben diese Problematik seinerzeit bereits zum Teil abgebaut, aber – das sage ich ganz bewusst – nicht vollends. Die Zielmarke hatten wir mit dem ersten Bürokratieentlastungsgesetz, das unser damaliger Bundesminister Michael Glos hier in den Deutschen Bundestag mit eingebracht hat und das wir dann umgesetzt haben, noch nicht erreicht. Eine Folge war, dass wir den Normenkontrollrat gebeten haben, dies in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt zu untersuchen.
Herr Kemmerich, wir sollten in der Darstellung schon bei der Wahrheit bleiben; denn es sind nicht 1,4 Milliarden Euro Kosten ob der vorgezogenen Beitragsabführung verursacht worden.
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Die 1,4 Milliarden Euro bezogen sich auf die gesamte Lohnabrechnung und nicht auf die vorgezogene Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge.
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– Doch, doch, lesen Sie es nach.
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Das macht nämlich 80 Millionen Euro aus. Das ist auch so niedergelegt. Man muss schon bei den Tatsachen bleiben.
Die Vorschläge des Normenkontrollrats haben wir umgesetzt. Seit 1. Januar 2017 können die Betriebe wählen, ob sie die Spitzabrechnung bevorzugen oder ob sie die vereinfachte Abrechnung der Löhne und der Arbeitgeberbeiträge tätigen wollen. Die Spitzabrechnung machen weiterhin die Unternehmen, die die Löhne in der Mitte des Monats auszahlen, wie Banken, Versicherungen und andere Unternehmen, während sich die Betriebe, die Stundenlöhne bezahlen, für das vereinfachte Verfahren entscheiden werden bzw. mittlerweile schon entschieden haben.
Die Lohnabrechnung beinhaltet also gleichzeitig die Vorauszahlung für die Sozialversicherungsbeiträge. Bei der Erstellung der nächsten Lohnabrechnung werden dann die entsprechenden Korrekturen vorgenommen, um die Angaben der letzten Lohnabrechnung auszugleichen. Somit sind nicht 24 Lohnabrechnungen zu tätigen, sondern weiterhin für jeden Monat eine, also 12 im Jahr. Damit ist das angebliche Problem gelöst. Von den Betrieben kamen auch keine Klagen.
Zu der Alternative, die Sie aufzeigen – Sie haben sich ja nicht wirklich festgelegt –, kann ich nur sagen: Mit einer freiwilligen Vorauszahlung von 28 Milliarden Euro wird wohl nicht so schnell zu rechnen sein. Sie geben ja zu: Wenn wir das Verfahren wieder umstellen würden, dann würde ein Monatsbeitrag an Sozialversicherungsbeiträgen fehlen. Wir hätten dann in einem Jahr wohlgemerkt nur elf Sozialversicherungsbeiträge.
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– Ja, natürlich, das würde die Umsetzung Ihres Vorschlags bedeuten. Das hätte einen massiven Liquiditätsentzug in den Sozialversicherungssystemen zur Folge. Das kann nicht Ihr Ziel sein. Das unterstelle ich Ihnen auch nicht. Deshalb wollen wir den vorliegenden Antrag im Ausschuss beraten.
Herr Straubinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kemmerich?
Mein letzter Satz. – Über eines wundere ich mich schon: Bei den Jamaika-Verhandlungen, an denen die FDP beteiligt war, hat das Thema keine Rolle gespielt,
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es wurde von der FDP nicht in die Verhandlungen eingebracht. Ich bin wirklich überrascht, dass dieser Antrag jetzt eingebracht wird.
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Herr Präsident, die Zwischenfrage lasse ich übrigens zu.
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Herr Kemmerich.
Sehr verehrter Kollege, Ihre Ausführungen machen deutlich, dass Sie den Antrag nicht genau gelesen haben.
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Das Instrument der Sondervorauszahlung bedeutet, dass ich statt des monatlichen Beitrags eine Sondervorauszahlung in Höhe eines Elftels des Vorjahres leiste. Insofern kommt es bei den Sozialversicherungskassen zu keinem Liquiditätsengpass, kein einziger Cent fehlt. Das, was Sie ermittelt haben, bedeutet für diejenigen, die nach wie vor schätzen: zwölf Abrechnungen plus zwölf Schätzungen.
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Das ist ein doppelter Aufwand. In einem kleinen Unternehmen mit wenigen Angestellten, das keine großartige Buchhaltung hat, macht der Chef oder die Chefin die Abrechnungen am Wochenende selber, und das kostet viel Zeit. Diesen Irrsinn wollen wir beenden.
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Herr Kollege Kemmerich, Sie haben es offensichtlich nicht verstanden.
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– Nein, Sie haben es nicht verstanden. Die getätigte Lohnabrechnung des Monats Januar ist gleichzeitig die Vorauszahlung für den Monat Februar, und in der Lohnabrechnung des Monats Februar ist wieder eine entsprechende Vorauszahlung enthalten. In dieser Abrechnung wird dann der Korrekturbedarf, der aufgrund der Januarabrechnung möglicherweise entstanden ist, berücksichtigt. Das wird verrechnet. Das ist im Prinzip wie im Umsatzsteuerverfahren, wo Sie die Vorsteuer gegenrechnen. Herr Kemmerich, dieses Problem ist wirklich gelöst. Wenn Sie das nicht verstanden haben, tut mir das leid.
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In den Jamaika-Verhandlungen war das für Sie kein Problem; denn Sie haben das damals nicht in die Verhandlungen eingebracht.
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Weitere Zwischenfragen lasse ich nicht zu. Das sind strittige Details. Die müssen im Ausschuss geklärt werden.
Das ist aber schade!
Die Redezeit des Kollegen Straubinger war sowieso zu Ende.
Damit kommen wir zum nächsten Redner: Martin Sichert für die AfD.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Woche sind über 3 000 bayerische Wirte in München gegen die Bürokratieflut auf die Straße gegangen. So mancher Gastwirt muss sich in Vollzeit mit Dokumentationen beschäftigen. Diese Zeit fehlt, um sich um die Gäste zu kümmern. Auch die Situation im Gesundheitsbereich, insbesondere bei Pflegern und Hebammen, wäre viel besser, wenn sie sich nicht während eines Großteils ihrer Arbeitszeit mit Bürokratie beschäftigen müssten, sondern sich um das kümmern könnten, weswegen sie diesen Beruf ergriffen haben, nämlich das Wohlergehen der Patienten.
({0})
Ja, selbst Menschen, die hauptberuflich im Vertrieb tätig sind, zum Beispiel im Bankensektor oder in der Versicherungsbranche, wenden mehr Zeit für Bürokratie als für Vertrieb auf. Was wird von Unternehmensgründern immer wieder als größtes Hemmnis in Deutschland genannt?
({1})
Was ist der Hauptgrund dafür, dass Firmen lieber im Ausland als in Deutschland investieren? Es ist die Bürokratie. Die Abwanderung von deutschen Unternehmen ins Ausland, die Abwanderung von Hunderttausenden gut ausgebildeten Fachkräften könnten wir verhindern, wenn sich der Wirt ums Kochen, der Pfleger ums Betreuen und der Vertriebler ums Verkaufen kümmern könnte anstatt ums Dokumentieren.
Wer ist schuld an dieser überbordenden Bürokratie?
({2})
Sie alle hier. Sie leben Ihren Kontrollwahn auf Kosten der Bürger aus.
({3})
Vollkommen egal, ob die Regierung schwarz-rot, schwarz-gelb oder rot-grün war, am Ende jeder Legislaturperiode gab es mehr Bürokratie als zu Beginn.
({4})
Sie von der Linksfraktion kommen jetzt wieder daher und sagen: Wir sind nicht schuld, wir waren noch nicht an der Regierung beteiligt. Dazu kann ich nur sagen: Gott sei Dank.
({5})
Auch wenn es so manche Entwicklung in diesem Land gibt, die einen am Glauben zweifeln lässt, doch dass er Sie nicht an die Regierung gelassen hat, das ist ein echter Grund, dem Herrgott zu danken; denn das, was Sie in Ihren Anträgen immer wieder an Bürokratie planen, um Arbeitgeber, Vermieter und andere Leistungsträger unserer Gesellschaft zu gängeln, das würde den Ruin unseres Landes massiv beschleunigen.
({6})
In Sachen Kontrollwahn werden Sie von der Linkspartei nur von der CSU übertroffen. Das muss man auch hier im Bundestag einmal ganz klar benennen. Die Überwachung, die wir in Bayern mit der Polizeigesetzgebung bekommen und die wir beim Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz gerade noch so verhindern konnten, erinnert an einen Polizeistaat Orwell’scher Diktion, mit dem die Bürger unter Generalverdacht gestellt werden.
({7})
Man kann jedem Bürger in Bayern nur zurufen: Lesen Sie sich den Entwurf des Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes durch. Diesen Entwurf hat die CSU nur deswegen geändert, weil sie im aufkommenden Wahlkampf nicht dem massiven Druck aller Oppositionsparteien, inklusive der AfD, und zahlloser namhafter parteiloser Kritiker ausgesetzt sein wollte.
({8})
Überlegen Sie sich gut, ob man einer Partei mit einem solchen Kontrollwahn, mit einem solchen Hang zum Überwachungsstaat wirklich die Regierung des schönen Bayern anvertrauen sollte.
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Solch aktionistische Schaumschlägerei, wie sie die CSU betreibt, ist nicht geeignet, die Probleme zu lösen. An die Bekämpfung der Ursachen der Probleme, die die CSU hier in Berlin aktiv mit geschaffen hat, traut sie sich nicht heran.
({10})
Lieber macht man aus dem Freistaat einen Überwachungsstaat, anstatt sich gegen die Politik von Angela Merkel zu stellen. – Liebe CSU, die Bürger in Bayern wissen, dass Sie hier in Berlin tagtäglich nicht mehr Rückgrat als eine Nacktschnecke beweisen, und Sie werden im kommenden Herbst die Quittung dafür bekommen.
({11})
Die Bürger werden immer mehr überwacht. Die Bürokratie ist überbordend, und nun will die FDP mit ihrem Antrag an einer kleinen Stellschraube drehen und damit Bürokratie abbauen. Bürokratie reduzieren auch wir gerne; aber leider ist Ihr Antrag handwerklich furchtbar schlecht.
({12})
Sie fordern im Gegensatz zur Halbierung der Zahl der Abrechnungen der Sozialversicherungsbeiträge, dass Unternehmen jedes Jahr den Sozialversicherungen einen Kredit gewähren – man halte sich fest –, der ein Elftel des Vorjahresumsatzes beträgt.
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– Ein Elftel des Vorjahresumsatzes, das steht so in Ihrem Antrag. Das haben Sie so geschrieben.
({14})
Das ist weit mehr, als die meisten Unternehmen im gesamten Jahr an Sozialabgaben zahlen.
({15})
Was Sie hier fordern, ist ein massiver Vorschuss der Unternehmen an die Sozialkassen, der für viele Unternehmen eine noch größere Belastung bedeutet als die Bürokratie, die Sie damit abbauen. Daher müssen wir den Antrag leider als ungeeignet ablehnen.
({16})
Der Antrag zeigt aber auch ein weiteres Problem auf, nämlich dass wir Abgeordneten viel zu sehr im Gedankenmuster dessen gefangen sind, was wir kennen, und man deswegen immer nur kleine Stellschrauben im bestehenden System dreht. Wenn wir wirklich die Bürokratie in diesem Land abbauen möchten, dann brauchen wir nicht lauter neue Gesetze, die kleine Stellschrauben drehen. Viel besser wäre, ganze Systeme auf den Prüfstand zu stellen.
Zum Beispiel sollten gerade Sie von der FDP sich fragen, ob Sie die EU, zu der Sie sich immer lauthals bekennen, wirklich so toll finden, da uns diese doch ständig neue Bürokratie in diesem Land beschert. Ich rufe Sie auf: Lassen Sie uns Bürokratie verhindern, indem wir uns gemeinsam kritisch gegen jede neue Verordnung aus Brüssel stellen, und lassen Sie uns gemeinsam überprüfen, ob bestehende Regelungen und Systeme wirklich im Interesse Deutschlands sind.
Vielen Dank.
({17})
Nächste Rednerin ist Gabriele Hiller-Ohm für die SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bürokratieabbau ist eine Daueraufgabe. Sie ist richtig und wichtig, um Unternehmen und uns alle von unnötigen Regeln und Vorgaben zu entlasten und finanzielle und personelle Ressourcen freizusetzen. Das – da bin ich mir ganz sicher – können wir alle unterschreiben. SPD und CDU/CSU haben sich deshalb im Koalitionsvertrag darauf verständigt, das Bürokratiemonster auch in dieser Wahlperiode fest an die Kandare zu nehmen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie waren in den letzten Jahren nicht im Bundestag vertreten und konnten deshalb unser Bürokratieentlastungsgesetz II, das wir 2016 mit der CDU/CSU auf den Weg gebracht haben, nicht unterstützen.
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Das ist schade für Sie; denn mit diesem Gesetz haben wir, auch ohne Ihre Hilfe, deutliche Erleichterungen gerade für kleine – oft Handwerksbetriebe – und mittlere Betriebe beschlossen. Das bringt für die Unternehmen Einsparungen beim Verwaltungsaufwand von bis zu 360 Millionen Euro im Jahr.
({2})
Wir haben den Unternehmen gerade auch bei den Abrechnungen der Sozialversicherungsbeiträge das Leben erleichtert.
({3})
Es ist erfreulich, dass Sie dies in Ihrem Antrag anerkennen. Sie verweisen auf eine Befragung von 400 Steuerberatern, Einzugsstellen und Softwareherstellern, die 2016 im Auftrag des Nationalen Normenkontrollrates durch das Statistische Bundesamt durchgeführt wurde. Es kam dabei heraus, dass unser Gesetz beim Einzug der Sozialabgaben einen Entlastungseffekt in Höhe von 64 Millionen Euro zur Folge hat. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine beachtliche Summe, und das ist eine wirkungsvolle Kampfansage an das Bürokratiemonster.
({4})
In meinem Büro jedenfalls sind im letzten Jahr Dankesschreiben aus Personalabteilungen von Unternehmen eingetroffen.
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Wir sollten das Kind deshalb jetzt nicht mit dem Bade ausschütten.
Das Bürokratieentlastungsgesetz II ist gerade erst, seit 2017, in Kraft, ein Jahr also. Viele Unternehmen und Steuerbüros haben ihre Softwareprogramme entsprechend umgestellt, was natürlich auch mit Kosten verbunden war. Leider schreiben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, in Ihrem Antrag nicht, welche weiteren finanziellen Entlastungen über die 64 Millionen Euro hinaus Sie für die 210 000 betroffenen Unternehmen durch Ihre Vorschläge erwarten. Sie sagen auch nichts über die Kosten, die für die Sozialversicherungsträger entstehen könnten.
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Ich fürchte, dass die Sozialversicherungsträger, allen voran die Rentenversicherung, angesichts Ihrer Anregungen nicht in Jubel ausbrechen werden. Sie schlagen zwar eine Sondervorauszahlung von Sozialbeiträgen vor, damit es bei den Sozialversicherungen durch Ihr Gesetz nicht zu unzumutbaren finanziellen Engpässen kommt. Ob diese Sondervorauszahlung jedoch ausreicht, um die Liquidität der Rentenversicherung zu sichern, ist zweifelhaft. Die Rentenversicherung fürchtet jedenfalls starke Einbußen, die zu einer Erhöhung der Beiträge führen könnten. Das wollen wir nicht; das wollen wir vermeiden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten Bürokratieabbau mit Augenmaß betreiben, damit wir nicht das, was wir gerade an Erfolgen aufgebaut haben, mit dem Hinterteil wieder einreißen. Und, liebe FDP, keine Sorge: Die SPD bleibt an dem Thema dran.
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In den Koalitionsvertrag haben wir auf Seite 63 zahlreiche ganz konkrete Entlastungsvorschläge aufgenommen, die wir in dieser Wahlperiode umsetzen werden. Wir schauen dabei nicht nur auf unser Bürokratiemonster im Bund, sondern auch auf die vielen Monster in den Bundesländern.
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Wir werden dafür eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einsetzen, um weitere wirksame Entlastungsvorschläge zu erarbeiten, die wir dann auch zur Freude der Wirtschaft und aller Betroffenen kraftvoll umsetzen werden.
({10})
Wir machen weiter mit Thomas Lutze, Die Linke.
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Werter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Als eine der letzten Amtshandlungen der rot-grünen Koalition wurde 2005 die heute noch im Wesentlichen bestehende Regelung zur Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge beschlossen. Statt am 15. des Folgemonats wurden die Beiträge zur Sozialversicherung nun noch vor Ablauf des laufenden Monats fällig. Dies verschaffte den Sozialkassen damals ein kurzfristiges Liquiditätsplus von rund 20 Milliarden Euro.
Allerdings hatten die Sozialkassen damit nicht 20 Milliarden Euro mehr, sondern sie hatten diese 20 Milliarden Euro lediglich zwei bis zweieinhalb Wochen früher. Dies wurde schon damals von uns kritisiert und als üble Flickschusterei bezeichnet.
({0})
Hinzu kommt, dass diese zusätzliche Liquidität der Kassen auf Kosten der Liquidität von beitragszahlenden Unternehmen ging. Damit nicht genug, mutet diese Regelung der Wirtschaft bis heute einen unfassbar hohen Erfüllungsaufwand zu. Statt einer Spitzabrechnung der tatsächlich entstandenen Arbeitsstunden und -entgelte müssen die Unternehmen ihre Abschläge schätzen und de facto 24 statt 12 Abrechnungen durchführen. Das kostet die deutsche Wirtschaft – und hier zitiert der FDP-Antrag den Nationalen Normenkontrollrat vollkommen korrekt – fast 1,5 Milliarden Euro pro Jahr.
({1})
Es ist also kein Wunder, dass sich die derzeitige Fälligkeit aufgrund der tatsächlichen Kosten und des realen Arbeitsaufwands keiner großen Beliebtheit bei den deutschen Unternehmen erfreut. Auch hier hat die FDP den Bericht des Normenkontrollrats richtig gelesen.
Die Linke steht für eine Stärkung der Sozialversicherung in Deutschland. Dafür haben wir in den letzten Jahren immer wieder Vorschläge gemacht. Für eine solide und zukunftsfeste Finanzierung der Sozialkassen halten wir statt immer neuer Leistungskürzungen vor allem die Stärkung der Einnahmeseite für notwendig.
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Bürgerversicherung, die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenzen und die Einbeziehung aller Einkommen sind hier nur einige ganz grundsätzliche Stichworte unserer Vorschläge.
Was die Sozialversicherung jedoch nicht stärkt, ist bloßes Jonglieren mit der Liquidität – und schon gar nicht zu den derzeit entstehenden Bürokratiekosten. Deshalb sagen wir als Linke: Wir haben an vielen Punkten deutliche Differenzen zur FDP, aber an dieser Stelle – der Normenkontrollrat wurde gerade zitiert, und die Sachen sollten entsprechend abgearbeitet werden – unterstützen wir den Vorschlag, den die FDP dem Deutschen Bundestag vorgelegt hat.
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– Kleinen Moment noch. – Ob die Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge deshalb gleich auf den drittletzten Bankarbeitstag des Folgemonats verlegt werden muss, wie es die FDP vorschlägt, oder ob auch die Rückkehr zum 15. des Folgemonats ausreicht, ist eine Detailfrage, die wir sehr gerne im Ausschuss diskutieren können.
Nun ein Wunsch an die FDP für die Zukunft: Entwickeln Sie doch auch für andere gesellschaftliche Gruppen eine ähnliche Empathie wie für die von Bürokratiekosten geplagten Unternehmer. Hartz IV zum Beispiel ist ein wahres Bürokratiemonster,
({4})
das die Betroffenen nicht nur Zeit und Nerven kostet, sondern vielen Betroffenen auch ihre Würde raubt.
({5})
In diesem Sinne: Danke für Ihre Aufmerksamkeit und ein herzliches Glückauf.
({6})
Als Nächstes spricht Claudia Müller, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Anfang eine Vorbemerkung machen. Als relativ neues Mitglied dieses Hohen Hauses irritiert mich eine Sache immer sehr: Ich denke, wenn es einen Tagesordnungspunkt gibt, dann redet man zum Thema und nicht über das, worüber man gerade reden möchte.
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Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, theoretisch sind wir hier alle direkt Betroffene; denn als Abgeordnete sind wir Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Ich zum Beispiel habe momentan neun Mitarbeitende hier in Berlin und in meinen Wahlkreisbüros. Im Gegensatz aber zu den Unternehmerinnen und Unternehmern haben wir einen wahnsinnig großen Vorteil: Die Bundestagsverwaltung übernimmt den gesamten Teil der administrativen Personalverwaltung für uns. Das ist ein echter Luxus, den ich sehr zu schätzen weiß und für den ich sehr dankbar bin.
Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie aufwendig das alles ist, wenn man es selber machen muss, wie es ist, wenn man doppelte Abrechnungen machen muss, wenn man mehrfach die gleichen Daten eingeben muss, wenn das alles sinnlos und teilweise unnötig kompliziert erscheint. Das führt zu extrem großem Frust und Ärger.
Ich war gestern zusammen mit Herrn Kemmerich bei einem Treffen mit Unternehmerinnen und Unternehmern aus Ostdeutschland. Ich kann, ehrlich gesagt, nicht verstehen, wie es sein kann, dass Sie Dankesschreiben bekommen. Als dieses Thema gestern angesprochen wurde, gab es große Zustimmung dafür, dass es hier Erleichterungen geben soll. Bürokratieabbau ist wichtig, insbesondere für kleine und Kleinstunternehmen, die keine eigene Personalabteilung haben, in denen der Chef oder die Chefin die Abrechnung selber macht. Aber Bürokratieabbau sehen viele Unternehmerinnen und Unternehmer inzwischen nur noch als leere Worthülse an, die wir Politikerinnen und Politiker gerne benutzen, aber in ihren Augen niemals realisieren. Ganz ehrlich: Das hat mich gestern durchaus betroffen gemacht; denn wir bemühen uns. Aber ich glaube, da müssen wir noch besser werden.
({1})
Ich gestehe: Auch mir war der Antrag der FDP zu Anfang nicht hundertprozentig klar. Ich habe diese Unklarheiten gestern Abend im Gespräch mit Herrn Kemmerich ausräumen können. So verstehe ich übrigens konstruktive Parlamentsarbeit: miteinander reden, sachlich diskutieren und dann zu einer Lösung kommen.
({2})
Ich freue mich, dass die FDP einen konstruktiven Vorschlag macht, mit dem das Problem des bestehenden Mehraufwands gelöst werden soll, mit dem aber gleichzeitig die Sozialkassen nicht zu sehr belastet werden sollen. Wir Grüne haben übrigens bereits 2015 – damals noch unter der Federführung meines Kollegen Herrn Gambke – einen entsprechenden Vorschlag gemacht, in dem eine monatliche Abschlagszahlung in Höhe des Zwölftels der gesamten Summe des Vorjahres zu dem momentan bestehenden Termin vorgesehen war. Die Abrechnung sollte dann zum 15. des Folgemonats erfolgen, also so, wie es auch die vorherige Regelung vorsah, aber es sollte eben nur zwölf Abrechnungen geben.
Der Normenkontrollrat hat ein Jahr später – das wurde hier schon mehrfach angesprochen – eine ähnliche Regelung vorgeschlagen, nämlich die Ausnahmen für einige Wirtschaftszweige, die es schon gibt, auf alle auszuweiten. Wenn man ganz ehrlich ist, wäre diese Lösung wahrscheinlich die einfachste; denn die Software dafür existiert bereits und könnte relativ leicht überführt werden.
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Es liegen also mehrere Varianten vor, um dieses Problem anzugehen. Sie ähneln sich alle im Kern. Das heißt, es sollte der Regierung jetzt nicht mehr so schwerfallen, hier eine wirklich tragfähige Lösung für alle zu finden.
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Es ist mir sehr wohl bewusst, dass bei Fragen der Sozialkassen der Teufel oft im Detail steckt. Darüber müssen wir reden, da gibt es noch ein paar Punkte. Aber dafür haben wir ja die Ausschüsse, in denen wir dann arbeiten – möglicherweise auch unter Heranziehung von Expertinnen und Experten –, um die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Varianten zu prüfen und zu einer echten Lösung zu kommen und dann mit dem Bürokratieabbau wirklich Ernst zu machen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Torbjörn Kartes für die CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bürokratieabbau und Mittelstandsförderung sind auch für die Unionsfraktion und für mich persönlich ganz wichtige Themen. Deshalb habe ich den Antrag der FDP mit großem Interesse erwartet und dann – das muss man so deutlich sagen – auch mit Enttäuschung gelesen. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Zum Bürokratieabbau hätte ich von Ihnen durchaus etwas anderes erwartet.
({0})
Ich bin viel in meinem Wahlkreis unterwegs und rede mit Handwerksmeistern und Geschäftsführern kleinerer und auch mittelgroßer Betriebe. Sie lassen mich oft sehr direkt wissen, was sie eigentlich umtreibt. Da geht es um Themen wie Fachkräfte, Investitionen in Infrastruktur, bezahlbare Energie, Breitbandausbau und Ähnliches mehr. Aber in der ganzen Zeit hat noch nie einer zu mir gesagt: Eine Reform der Beitragsfälligkeit für die Sozialabgaben würde unserer Leistungsfähigkeit, unserer Innovationskraft und unserem Investitionsvermögen den entscheidenden Schub verpassen.
({1})
Stattdessen hat die Wirtschaft im Gegensatz zu Ihnen zur Kenntnis genommen, welche Erleichterungen wir schon erreichen konnten. Im August 2016 sagte dazu der BDA-Hauptgeschäftsführer Kampeter anlässlich der Verabschiedung des zweiten Bürokratieentlastungsgesetzes – ich zitiere –:
Die Erleichterung bei der Berechnung des Sozialversicherungsbeitrags ist zu begrüßen. Dadurch entfällt für Arbeitgeber die Notwendigkeit, das voraussichtliche beitragspflichtige Entgelt vorab schätzen zu müssen.
Da hat er etwas verstanden, was offensichtlich noch nicht alle verstanden haben. In Ihrem Antrag steht nämlich, es müssten alle Sozialbeitragsberechnungen doppelt erfolgen, aber das ist nur bei wenigen Unternehmen tatsächlich der Fall. Das Unternehmen rechnet vielmehr mit den Abgaben des Vormonats und gleicht etwaige Differenzen – wir haben es ja auch schon gehört – in der Abrechnung im Folgemonat aus. Daraus ergeben sich im Regelfall mittlerweile auch 12 Abrechnungen und eben nicht mehr 24.
Ich weiß durchaus, dass das noch nicht in allen Unternehmen der Fall ist und funktioniert, aber bei den meisten unserer durchaus innovativen Mittelständler erledigt die IT heute vollautomatisch die Lohnabrechnung. Das sind Standardverfahren, die einen Bruchteil des Arbeitsaufwandes mit sich bringen, den nicht informatisierte Betriebe im Jahr 2005 hatten.
Ich habe mir dann den Abschlussbericht „Fälligkeit von Sozialversicherungsbeiträgen“ des Statistischen Bundesamts angesehen, den Sie in der Begründung zitieren. Das ist sozusagen Ihr Kronzeugendokument dafür, dass es eine Notwendigkeit zu politischem Handeln geben soll. Darin heißt es – das haben Sie nicht zitiert –:
Die „Dauerbaustelle“ Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge konnte nun geschlossen werden.
Übersetzt heißt das: Das ist eigentlich gar kein Thema mehr.
Wenn Sie aus der Untersuchung zitieren, dann sollten Sie schon etwas mehr zitieren. Darin steht, dass das gesamte Verfahren – das haben Sie bereits gesagt – zum Beitragseinzug aufseiten der Arbeitgeber jährlich mit 1,5 Milliarden Euro zu Buche schlägt. Im nächsten Satz steht aber:
Die Einsparungen, die sich durch die möglichen Änderungen der Fälligkeitsregelung von Sozialversicherungsbeiträgen beim Erfüllungsaufwand ergeben, sind dazu im Vergleich marginal.
Weiter heißt es sogar, durch die Umstellung entstünden Liquiditätsausfälle der Sozialversicherungsträger in Höhe von knapp 28 Milliarden Euro und in der Folge erhebliche Steigerungen der Beitragssätze.
({2})
Zunächst einmal nehmen wir das so zur Kenntnis.
Aber Sie versprechen in Ihrem Antrag nicht nur Entlastungen, sondern auch Bürokratieabbau. Das wünschen sich durchaus viele Mittelständler. Denen empfehle ich, auch einmal Ihren Antrag zu lesen.
Sie haben diese Finanzierungslücke erkannt; das ist vollkommen richtig. Deswegen heißt es in Ihrem Antrag auch: Am Jahresbeginn sollen Unternehmer eine Sondervorauszahlung von Sozialversicherungsbeiträgen leisten, die sich auf ein Elftel des Vorjahresumsatzes – wie kommt man da eigentlich auf Umsatz? – beläuft. Das ist eine zusätzliche Abgabe. Das ist zusätzliche Bürokratie und schon wieder ein neues Verfahren, das Sie hier einführen. Uns überzeugt das nicht.
({3})
Der Mittelstand ist Grundlage unseres wirtschaftlichen Erfolgs. Deshalb muss die Politik den Mittelstand fördern und unterstützen. Für mich persönlich bedeutet das, dass wir die Unternehmen auch einfach einmal in Ruhe lassen sollten.
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Damit ganz kurz zum Thema Bürokratieabbau. Hier haben wir bereits viel getan; das dürfen Sie ruhig zur Kenntnis nehmen. In den letzten zehn Jahren, von 2006 bis 2016, wurden die Bürokratiekosten der Wirtschaft um 25 Prozent abgebaut. Wir haben im Koalitionsvertrag – das haben wir bereits gehört – klare Ziele gesetzt und werden intensiv daran arbeiten, den Mittelstand nicht nur durch Bürokratieabbau weiter zu entlasten. Wer die deutsche Wirtschaft fördern will, muss in diese Richtung denken. Wenn Sie als FDP-Fraktion in diesem Sinne Vorschläge machen, dann können wir im Ausschuss sehr gerne darüber sprechen.
Vielen Dank.
({5})
Das Schlusswort in dieser Debatte hat Ralf Kapschack für die SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein paar Zuschauer sind zu dieser späten Stunde auch noch da. – Politik ist die Kunst, Probleme zu lösen und nicht neue zu schaffen. Der Redebeitrag der AfD war ein Beleg für das Gegenteil: Sie lösen kein einziges Problem und schaffen jede Menge neue.
({0})
Probleme lösen, darum geht es heute. Politische Entscheidungen können rückgängig gemacht werden, wenn man der Meinung ist: Es funktioniert nicht so, wie man es sich ursprünglich gedacht hat. Deshalb ist es gut und völlig in Ordnung, dass Sie von der FDP heute diesen Antrag vorlegen. Wir finden ihn allerdings wenig gelungen. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Er bringt mehr Probleme, als er lösen würde, und ist voller Widersprüche. Natürlich entstehen durch die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen in den Unternehmen Kosten. Aber zur Erinnerung: Das Vorziehen der Fälligkeit erfolgte damals auch aufgrund eines Wunsches der Arbeitgeber. In der Begründung des Gesetzes von 2005 heißt es – ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten –: Die Neuregelung „kommt auch einem Anliegen der Arbeitgeber entgegen, die die bisherige rückwirkende Fälligkeit solcher Entgeltbestandteile kritisiert hatten“.
Würde man Ihrem Vorschlag nachkommen, würde der Sozialversicherung, zum Beispiel der Rentenversicherung, Geld fehlen. Das ist ganz banal.
({1})
– Lassen Sie mich doch mal ausreden.
({2})
Das wissen Sie auch; für so schlau halte ich Sie schon. Deshalb schreiben Sie in Ihrem Antrag, die Liquidität der Sozialversicherung solle gewährleistet bleiben. Das ist ja schon mal ganz schön. Dafür sollen Unternehmen zum Jahresbeginn eine freiwillige Sonderzahlung leisten. Woher kommt das Geld? Die jetzige Regelung führt dazu – das kritisieren Sie –, dass insbesondere „kleinen und mittleren Unternehmen Finanzmittel entzogen“ werden – das steht so in Ihrem Antrag –, die für Investitionen und Innovationen fehlen. Aber warum ist das bei einer Sonderzahlung anders, einer Sonderzahlung, die noch gar nicht erwirtschaftet ist, sondern aus dem Ertrag des Vorjahres finanziert werden muss? Dazu findet sich nichts in Ihrem Papier. Fehlanzeige! Warum das weniger aufwendig sein soll als die aktuelle Regelung, bleibt offen. Fehlanzeige! Immerhin haben Sie bemerkt, dass man eine solche Krücke braucht. Sie haben 2015 im nordrhein-westfälischen Landtag schon einmal einen solchen Antrag gestellt. Ziel war es, zum alten System zurückzukehren. Die Deutsche Rentenversicherung hat Ihnen damals vorgerechnet, dass allein sie Beitragsausfälle in Höhe von 15 Milliarden Euro zu verkraften hätte. Außerdem würden die Beiträge um 1,25 Prozentpunkte steigen. Das hätte Arbeitgeber mit Milliardenbeträgen belastet, Arbeitgeber, die Sie eigentlich entlasten wollen.
Kollege Kapschack, Herr Kemmerich von der FDP versucht beharrlich, eine Zwischenfrage zu stellen. Gestatten Sie das?
Bitte schön.
Das ist schon seine zweite heute und die letzte.
Sehr zuvorkommend, Herr Präsident. Vielen Dank. – Ich versuche, das noch einmal auf der Grundlage des Antrags zu erklären.
({0})
Er kann auch eine Bemerkung machen.
Können Sie nachvollziehen, wie wir es in unserem Antrag beschreiben, dass nur die Unternehmen, die die Sondervorauszahlung, die ungefähr der tatsächlichen Beitragszahlung entspricht, leisten, in den Genuss kommen, das Datum der Beitragsfälligkeit bzw. der exakten Zahlung zu verschieben? Alle anderen zahlen wie bisher. Insofern entsteht den Rentenversicherungsträgern, den Sozialversicherungen kein Ausfall. Gleichzeitig werden die Unternehmen in die Lage versetzt, immer spitz abzurechnen, wenn sie es wollen, entweder im laufenden Monat oder im folgenden Monat, und sie sparen signifikant Aufwand. Ist das für Sie nachvollziehbar?
Herr Kollege, Sie können davon ausgehen, dass ich Ihren Antrag gelesen habe. Ich sage es ungern: Ich habe mich auch einmal wissenschaftlich mit solchen Themen beschäftigt. Also, ich habe das schon nachvollzogen.
Trotzdem finde ich es nicht plausibel. Sie haben eine Krücke gesucht, um Ihren Antrag von 2015 aus dem nordrhein-westfälischen Landtag wieder einbringen zu können. Aber Ihr neuer Vorschlag macht es nicht wesentlich besser. Er bedeutet einen massiven Eingriff in die Finanzierung, zum Beispiel der Rentenversicherung.
Da kann ich mir zum Schluss eine Bemerkung nicht verkneifen. Vertreter der FDP haben sich vor ein paar Tagen ganz schnell die abenteuerlichen Rechnungen einiger sogenannter Rentenexperten zu eigen gemacht.
({0})
Die Rentenpläne der Koalition seien unbezahlbar, hieß es da lautstark.
({1})
Wie Sie diese Position mit Ihrem heutigen Antrag in Einklang bringen wollen, ist mir schleierhaft; aber vielleicht erfahren wir dazu ja etwas im Ausschuss.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank. – Dann schließe ich jetzt die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1838 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen; aber die Federführung ist strittig. Die Fraktionen CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Die Fraktion FDP wünscht Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der FDP abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Wer stimmt dafür? – Das sind die Fraktion der FDP und die Fraktion der Linken. Wer stimmt dagegen? – Das sind die CDU/CSU, die SPD, die AfD und einige Grüne, also die klare Mehrheit. Damit ist der Überweisungsvorschlag abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen CDU/CSU und SPD – Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales – abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Bei Gegenstimmen von FDP, Grünen und Linken ist der Vorschlag mit der Mehrheit von CDU/CSU, SPD und AfD angenommen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In der aktuellen Gesundheitspolitik herrscht der Widersinn, dass Beamtinnen und Beamte, die ja per Definition dem Gemeinwohl dienen, durch eine faktische Pflicht, sich privat zu versichern, gezwungen sind, genau dieses Gemeinwohl mit Füßen zu treten. Die Beamtinnen und Beamten sind die dickste Rosine, die sich die privaten Krankenversicherungen herausgepickt haben.
({0})
Ja, ohne Beamtinnen und Beamten wären die privaten Krankenversicherungen überhaupt nicht lebensfähig; denn über die Hälfte der knapp 9 Millionen Privatversicherten sind Beamtinnen und Beamte. Das bedeutet, dass die private Versicherungsindustrie ohne staatliche Beihilfezahlungen als Vollversicherung überhaupt nicht existent wäre.
Mit dieser teuren Subventionierung der Versicherungsindustrie auf Kosten der Allgemeinheit muss Schluss sein.
({1})
Diese Art der Versicherung für Staatsdienerinnen und Staatsdiener ist nicht im Interesse des Staates, sondern sie ist einzig und allein im Interesse der Lobby der Privatversicherungen, zu der bekanntermaßen auch unser Gesundheitsminister Spahn gehört.
({2})
Beamtinnen und Beamte haben zwar auf dem Papier die Wahlmöglichkeit, sich entweder privat oder freiwillig gesetzlich zu versichern. Tatsächlich allerdings haben sie diese Wahl nicht. Wenn sie sich privat versichern, bekommen sie über Beihilfen 50 bis 80 Prozent der Kosten für medizinische Leistungen erstattet. Wenn sie sich dagegen freiwillig gesetzlich versichern, müssen sie neben dem Arbeitnehmeranteil sogar noch den Arbeitgeberanteil übernehmen. Der finanzielle Nachteil ist so groß, dass sie faktisch gar keine andere Möglichkeit haben, als sich privat zu versichern.
Mit unserem Antrag wollen wir einerseits den Beamtinnen und Beamten eine echte Wahlmöglichkeit geben. Wir möchten aber andererseits die Zweiklassenmedizin aufbrechen.
({3})
Auch Besserverdiener sollen mit ihren hohen Beiträgen in die Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung einbezogen werden. Die Linke fordert deshalb gemeinsam mit Gewerkschaften und Sozialverbänden die Einführung einer solidarisch finanzierten Gesundheits- und Pflegeversicherung, in die alle nach ihren Möglichkeiten einzahlen, aus allen Einkommensarten und ohne Beitragsbemessungsgrenze.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie haben im Wahlkampf eine Bürgerversicherung, wenn auch nur eine Bürgerversicherung light, gefordert. Die Einbeziehung der Beamtinnen und Beamten in die gesetzliche Krankenversicherung ist ein wichtiger Schritt dahin. Sie haben heute die Möglichkeit, einmal für eine Forderung zu stimmen, die Sie im Wahlkampf erhoben haben. Für Ihre Glaubwürdigkeit wäre das nicht schlecht.
({5})
Die privaten Krankenversicherungen, meine Damen und Herren, haben viele Nachteile, die sie in ihren Imagebroschüren nicht erwähnen. So ist es zum Beispiel so, dass gerade im Alter, wenn das Einkommen sinkt, die Beiträge enorm ansteigen. Es ist so, dass es mit einem enormen Kostenrisiko verbunden ist, wenn Privatversicherte oder ihre Kinder Vorerkrankungen haben oder chronisch krank werden. Wir wollen zunächst den Beamtinnen und Beamten, dann aber auch allen anderen den Weg aus der Kostenfalle „private Krankenversicherung“ ermöglichen.
Die echte Wahlmöglichkeit für Beamtinnen und Beamte ist ein wichtiger Schritt hin zur solidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung.
({6})
Durch die Einbeziehung aller Einkommensarten und durch die Abschaffung der Zusatzbeiträge und der Beitragsbemessungsgrenze kann die Zweiklassenmedizin überwunden werden.
({7})
So können wir das Gesundheitssystem dauerhaft und solide finanzieren, und wir können allen die bestmögliche Gesundheitsversorgung garantieren. Lassen Sie uns diesen ersten Schritt heute gemeinsam machen!
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Ebenfalls zu Ihrer ersten Rede rufe ich die Kollegin Petra Nicolaisen von der CDU/CSU-Fraktion auf.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema des heute vorliegenden Antrags der Fraktion Die Linke ist mir in der Tat nicht unbekannt. Die Forderung, das gegenwärtige Beihilfesystem dahin gehend zu ändern, alternativ einen Arbeitgeberzuschuss zur gesetzlichen Krankenversicherung für Beamtinnen und Beamte einzuführen, war Gegenstand einer der letzten Reden, die im Schleswig-Holsteinischen Landtag Ende des letzten Jahres gehalten wurden. Vieles hat sich in dieser Zeit getan; einiges hat sich allerdings nicht geändert. Auch damals schon sprachen die besseren Argumente für die Fortsetzung des bestehenden Beihilfesystems.
({0})
Gerne möchte ich Ihnen erläutern, warum wir, die CDU/CSU-Fraktion, uns gegen die vorgeschlagene Änderung des Beihilfesystems für Beamtinnen und Beamte aussprechen und daher den vorliegenden Antrag ablehnen werden.
Das bisherige System aus Besoldung, Versorgung und Beihilfe bietet Gewähr für die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben. Die eigenständige beamtenrechtliche Kranken- und Pflegefürsorge ist versicherungsneutral im Sinne der Gleichbehandlung aller Beamtinnen und Beamten ausgestaltet. Das heißt, die Festsetzung der Beihilfe für beihilfefähige Aufwendungen erfolgt gerade unabhängig davon, ob man gesetzlich oder privat versichert ist.
({1})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke, zwar mag Ihnen im ersten Moment eine Änderung bestehender Systeme einfach erscheinen; häufig zeigt sich jedoch erst später, welche Konsequenzen dies im Einzelnen nach sich ziehen kann. Ungeachtet der Frage nach einem eventuellen Bedarf und einem möglichen Interesse sprechen insbesondere sowohl verfassungsrechtliche Bedenken als auch die damit einhergehenden Kosten gegen die von der Fraktion Die Linke vorgeschlagenen Änderungen des Beihilfesystems.
Kommen wir zunächst zum verfassungsrechtlichen Aspekt. Es ist fraglich, ob der Dienstherr seiner nach Artikel 33 Absatz 5 des Grundgesetzes bestehenden Fürsorgepflicht nachkommt, wenn, wie von Ihnen vorgeschlagen, anstelle der Regelung nach dem jetzigen Beihilfesystem die Möglichkeit bestehen soll, dass die Beihilfe durch den Arbeitgeberzuschuss abgelöst wird. Denn damit würde die verfassungsmäßige Fürsorgepflicht gänzlich auf ein anderes System delegiert. Dies verkennen Sie in Ihrer Begründung des Antrags.
Darüber hinaus erfordert die Schutz- und Fürsorgepflicht des Dienstherrn in gewissen Fällen ein Mehr an Leistungen. Das bedeutet, dass auch für freiwillig gesetzlich versicherte Beamtinnen und Beamte eine Restbeihilfe immer bestehen bleiben müsste. Daraus ergäben sich zwei parallele Systeme mit zusätzlichen Kosten für den Dienstherrn.
Eine Mehrbelastung des Staatshaushalts würde sich zudem im Hinblick darauf ergeben, dass der Personenkreis neu einzustellender Beamtinnen und Beamter in der Regel in den ersten Jahren ihrer Beamtenzeit für die Beihilfe kaum Kosten verursacht. Aber daneben ergäbe sich für das Solidarsystem der gesetzlichen Krankenversicherung das Risiko, dass hauptsächlich Beamtinnen und Beamte mit Vorerkrankungen von der vorgeschlagenen Änderung Gebrauchen machen würden. Doch damit nicht genug.
Außerdem würde Ihr Vorschlag dafür sorgen, dass mit hohen Beitragssteigerungen einiger Beamtentarife in der privaten Krankenversicherung gerechnet werden müsste. Besonders für nicht wechselberechtigte Personen in der privaten Krankenversicherung könnte dies enorme Mehrkosten mit sich bringen.
Zu guter Letzt dürfen wir neben dem Aspekt zusätzlicher Bürokratie die Attraktivität des öffentlichen Dienstes nicht gänzlich unberücksichtigt lassen. Dazu gehört neben der Besoldung und der Versorgung eben auch die Beihilfe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, welche Probleme der Antrag der Fraktion Die Linke mit sich bringt. Ehrlich gesagt – Sie haben es ja eben selber erwähnt –, Sie wollen einen Schritt in Richtung Bürgerversicherung machen. Das lehnen wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion ab.
({2})
Wir sprechen uns für den Erhalt des gesamten Gesundheitswesens einschließlich seiner beiden tragenden Säulen aus, also für das Nebeneinander der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung. Was mögliche Reformen des Gesundheitssystems angeht, muss immer sichergestellt sein, dass diese weder zulasten der Ärzteschaft noch zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung und erst recht nicht zulasten der Bürgerinnen und Bürger gehen.
({3})
Ebenso dürfen Reformen nicht zulasten des öffentlichen Dienstes gehen; denn dieser bildet die Grundlage einer funktionierenden staatlichen Infrastruktur und einer verlässlichen Daseinsvorsorge für die Menschen.
Ich bin daher der festen Überzeugung, dass das derzeit bestehende System nicht nur die verfassungsrechtlichen Vorgaben, sondern auch eine gute Versorgung der Beamtinnen und Beamten gewährleistet.
Herzlichen Dank.
({4})
Für die AfD-Fraktion spricht der Kollege Jörg Schneider.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Die Linke möchte die gesetzliche Krankenversicherung für Beamte öffnen. Die Argumente, die Sie in Ihrem Antrag anführen, sind durchaus stichhaltig. Das Beihilfesystem ist für Beamte in einigen Fällen tatsächlich nicht sinnvoll und gut, gerade bei Kinderreichtum oder chronischen Erkrankungen.
Nur, wenn man Ihren Antrag liest und gerade die Rede von Herrn Kessler gehört hat, weiß man relativ schnell, wohin die Reise gehen soll. Da kommen dann wieder die üblichen Kampfparolen von der Zweiklassenmedizin. Da wird dann wieder von den enormen Privilegien fabuliert, die Privatversicherte haben.
({0})
Sie haben ganz klar ausgeführt: Im Grunde genommen möchten Sie die Bürgerversicherung; die Privatversicherung würden Sie am liebsten abschaffen.
({1})
Dann klopfen Sie sich auf die Schulter dafür, dass Sie mit diesem Antrag tatsächlich für die Beamten – Achtung! – eine Wahlfreiheit schaffen.
({2})
Liebe Damen und Herren von der Linken: Zu Wahlfreiheit gehört auch immer ein Wettbewerb von Systemen, zwischen denen der Wählende dann frei entscheiden kann. Wenn Sie eines nicht wollen, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Linken, dann sind es Wettbewerb und Wahlfreiheit im Gesundheitswesen. Das wollen Sie garantiert nicht.
({3})
– Eine Zwischenfrage von Herrn Dr. Kessler. Gerne. – Bitte.
({4})
Entschuldigen Sie, Herr Präsident. Also mein Einverständnis haben Sie.
Das ist ja schön. Ich bin auch einverstanden.
Ist Ihnen bekannt, dass wir in der gesetzlichen Krankenversicherung dadurch, dass wir über 1 000 unterschiedliche Versicherungen haben, einen Wettbewerb haben?
({0})
Natürlich gibt es schon ein Stück weit diesen Wettbewerb;
({0})
aber gerade der Dualismus von privater Krankenversicherung und gesetzlicher Krankenversicherung ist ein weiterer Wettbewerb, den ich in diesem Krankenversicherungssystem nicht missen möchte.
({1})
Das ist einfach ein zusätzlicher Wettbewerb, der dem System, glaube ich, sehr gut tut.
({2})
Ich möchte auf eine Unstimmigkeit in Ihrem Antrag hinweisen. Sie mögen die private Krankenversicherung nicht, okay. Die private Krankenversicherung ist aber ein ganz zentraler Bestandteil des Beihilfeverfahrens. Wäre es dann nicht ehrlicher, direkt die Abschaffung des Beihilfeverfahrens zu fordern? Oder spricht da bei Ihnen vielleicht ein bisschen Klientelpolitik dagegen? Dem gut versorgten Oberstudienrat, der sich natürlich im Beihilfesystem eingerichtet hat, möchten Sie nicht vors Schienenbein treten.
({3})
Deswegen kommt bei Ihrem Antrag so ein Reförmchen raus. Ich bitte Sie: Wenn Sie Reformen wollen, dann seien Sie doch mutig und konsequent. So geht das meiner Meinung nach nicht.
({4})
– Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, dann stellen Sie eine Zwischenfrage.
({5})
– Wenn ich vielleicht fortfahren dürfte? – Danke schön.
Das Beihilfeverfahren ist schon im Moment komplex, speziell wenn es um die Mitversicherung von Familienangehörigen geht. Da kann es tatsächlich passieren, dass sich ein Beihilfeberechtigter für eine Versicherung seiner Familienangehörigen entscheidet, die dann unter Umständen Jahre später zu erheblichen Mehrkosten führt. Jetzt wollen Sie diesem System eine zusätzliche Komplexität hinzufügen.
({6})
Ich sage Ihnen einmal, was das konkret bedeutet. Da ist eine 20-jährige Beamtin, die sich jetzt entscheiden soll: gesetzliche Krankenversicherung oder Beihilfeverfahren. Sie weiß doch noch gar nicht, wie sich ihre Karriere und ihr Einkommen entwickeln. Sie weiß noch gar nicht, ob sie heiraten wird, wie viele Kinder sie haben wird. Für dieses Problem gibt es übrigens eine einfache Lösung. Sie könnten natürlich den Beamten einen ständigen Wechsel zwischen beiden Systemen ermöglichen. Nur: Diese Rosinenpickerei wäre sehr teuer, und sie wäre den nichtverbeamteten Menschen in diesem Land wohl kaum vermittelbar.
({7})
Worauf ich hinaus möchte, ist Folgendes: Die zentrale Frage: „Wer darf eigentlich wann und wie innerhalb dieses Systems wechseln?“, beantworten Sie in Ihrem Antrag nicht. Das ist eine zentrale Frage; die gehört in den Antrag hinein. Es ist einfach handwerklich schlecht gemacht, wenn Sie eine solche zentrale Frage auslassen.
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Noch etwas haben Sie in Ihrem Antrag ganz geschickt ausgelassen, nämlich die Kostenfrage. So schwierig wäre das an dieser Stelle nicht gewesen. In Hamburg ist man ein bisschen weiter, da plant man schon in diese Richtung.
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Der Hamburger Senat hat ausgerechnet: Es entstehen Mehrkosten von ungefähr 6 Millionen Euro pro Jahr. – Wenn das der Gleiche kalkuliert hat, der auch die Kosten für die Elbphilharmonie kalkuliert hat, dann können es vielleicht auch 30 Millionen Euro werden. Wenn ich das auf die Bundesrepublik Deutschland extrapoliere, dann bedeutet das Mehrkosten von ungefähr 250 Millionen bis zu 1 Milliarde Euro im Jahr. So eine Zahl gehört meiner Meinung nach in einen solchen Antrag hinein. Wenn Sie uns hier solche Zahlen vorenthalten, dann verfestigt sich der Eindruck, den ich von Ihnen habe: Probleme mit Geld fangen für Sie immer erst dann an, wenn Ihnen das Geld anderer Leute ausgeht.
({10})
Natürlich sehen auch wir im Gesundheitssystem Reformbedarf; aber im Gegensatz zu Ihnen stehen wir für echte Wahlfreiheit. Wir stehen für einen echten Wettbewerb. Wenn wir uns über Reformen unterhalten, dann muss bitte schön auch die Finanzierung angesprochen werden. Und dann sollten wir eines im Auge behalten: Wir sollten das System für die Menschen grundsätzlich einfacher und verständlicher machen, weil nur dann eine echte freie Wahl möglich ist.
In diesem Sinne freuen wir uns auf die Diskussion im Ausschuss. Wir stimmen der Überweisung an den Ausschuss zu.
Ich danke Ihnen.
({11})
Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Bärbel Bas.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um meinen geschätzten Koalitionspartner schon einmal in Wallungen zu bringen, will ich vorweg sagen: Es ist ja nicht unbekannt, dass die SPD für die Bürgerversicherung ist.
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Wir müssten uns über den Antrag der Linken nicht unterhalten, wenn wir ein gemeinsames Versicherungssystem hätten. Das ist Fakt. Die Probleme, die wir hier diskutieren, die auch die Linke in ihrem Antrag anspricht, resultieren aus diesen zwei unterschiedlichen Systemen, die nebeneinander existieren und unterschiedliche Voraussetzungen haben.
Man muss das noch einmal erklären: Man kann ja aus ideologischen Gründen gegen eine Bürgerversicherung sein.
({1})
– Ich wusste, dass ich Sie damit kriege. – Trotzdem möchte ich auf das Thema, das hier zur Debatte steht, eingehen. Die Beamten haben – das wurde hier gerade angesprochen – ein Wahlrecht. Es ist aber kein echtes Wahlrecht. Ein Beamter kann zwar entscheiden, ob er in die gesetzliche oder in die private Krankenversicherung geht. Wir müssen uns aber fragen: Wer geht denn in die gesetzliche Krankenversicherung? Das sind diejenigen, die vielleicht viele Kinder, eine Behinderung oder schon schwere Erkrankungen haben. Für sie würde es sonst richtig teuer.
Eines ist doch klar: Wir haben unterschiedliche Voraussetzungen in den beiden Systemen. Bei der gesetzlichen Krankenversicherung spielt das Einkommen zwar bis zu einer gewissen Grenze eine Rolle, Erkrankungen spielen aber keine Rolle, weil das Solidaritätsprinzip zugrunde liegt. In der privaten Krankenversicherung wird es im Alter richtig teuer bzw. wenn ich Erkrankungen habe. Deshalb ist es für Beamte am Anfang ihrer Laufbahn schwierig, eine echte Wahl zu treffen. Sie werden quasi in die private Krankenversicherung gedrängt, auch wenn sie krank sind oder Behinderungen haben. Zudem werden sie noch bestraft, weil sie den Beitrag in der PKV komplett alleine bezahlen müssen. Das ist doch das Thema, um das es hier eigentlich geht.
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Deshalb lohnt es sich, im Ausschuss einmal darüber zu reden, ob das gerechtfertigt ist und ob – wenn man auf einer Wahlfreiheit besteht – das eine echte Wahlfreiheit ist.
Die SPD sagt: Man kann das auch ganz anders regeln, nämlich indem man eine Bürgerversicherung einführt.
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Gerade ist vom Hamburger Modell die Rede gewesen. Ich finde, das ist ein erster richtiger Weg. Die Regelungen sollen zum 1. August 2018 in Kraft treten. Hier wird den Beamten – übrigens zu Beginn der Laufbahn, nicht einfach so zwischendurch – zumindest angeboten, dass sie die monatliche Pauschale in Anspruch nehmen können. Ich weiß nicht, ob das verfassungswidrig ist. Ich bin keine Juristin. Es ist aber eine freiwillige Entscheidung, wenn man diese Pauschale annimmt. Ich finde es richtig, diese Entscheidungsmöglichkeit zu bieten. Vielleicht sollten wir erst einmal abwarten, wie dieses Modell funktioniert, und es nicht schon jetzt in Bausch und Bogen kaputtreden. Auch diejenigen, die jetzt schon in der GKV sind und ihre Beiträge alleine zahlen, bekommen diesen Zuschuss bzw. diese Pauschale. Das ist ein richtiger Schritt.
Sie haben gesagt: Das kostet Hamburg zu Beginn 6 Millionen Euro. Es gibt aber auch eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, die besagt, dass wir Bund und Länder, würden wir die Beamtinnen und Beamten in die gesetzliche Krankenversicherung des Bundes und der Länder einbeziehen, bis zum Jahr 2030 um bis zu 60 Milliarden Euro entlasten würden. Ich finde, auch das ist eine Summe, über die man einmal nachdenken muss.
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Zum Schluss möchte ich noch einmal deutlich sagen, was mich an dem Antrag der Linken stört. Es kommt darin nicht ganz klar herüber, ob Sie auch denjenigen Gruppen, die jetzt in der privaten Krankenversicherung sind, die Tür öffnen wollen, sofort in die gesetzliche Krankenversicherung zu kommen. Ich glaube, es ist bekannt, dass auch ich damit Schwierigkeiten hätte. Das würde automatisch sofort diejenigen Beamtinnen und Beamten oder Pensionäre in die gesetzliche Krankenversicherung locken, die jetzt ihre Prämie nicht zahlen können. Es würde die gesetzliche Krankenversicherung sofort belasten. Deswegen ist mir der Weg lieber, zu sagen: Wir schaffen erst einmal diese Ungerechtigkeit bei der Wahlmöglichkeit am Beginn der Laufbahn der Beamten ab, zu dem Zeitpunkt, an dem sie sich entscheiden können. Darüber, finde ich, sollten wir auch innerhalb der Koalition noch einmal reden.
Herr Spahn hat ja, soweit ich weiß, noch ein zweites Thema in seinen Antrittsreden angesprochen. Er hat gesagt, dass Polizisten im Alter hohe Prämien zahlen müssen und dies möglicherweise mit ihrer Pension oder ihrem Einkommen nicht kompatibel ist. Er sagt, auch das sei ein schwieriges System. Er hat zwar daraus den Schluss gezogen, dass die private PKV hier einen Reformbedarf hat. Aber ich finde, man kann es auch anders denken. Man kann auch den Weg gehen, den ich gerade skizziert habe und den das Land Hamburg jetzt geht.
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Abschließend will ich sagen: Ich freue mich auf die Diskussion. Wir sollten sie führen. Da der Minister ja auch gelegentlich außerhalb des Koalitionsvertrages Themen nennt, denke ich, gibt es ja eine gewisse Offenheit, auch Themen, die nicht im Koalitionsvertrag stehen, miteinander zu besprechen. Darauf setze ich, darauf freue ich mich.
Vielen Dank fürs Zuhören.
({6})
Die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus spricht für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Beamtinnen und Beamten den Weg in die gesetzliche Krankenversicherung erleichtern“ klingt erst einmal ganz nett und harmlos.
({0})
– Es klingt aber auch nur so. – Wenn wir uns mit dem Inhalt dieses Antrages befassen, dann werden wir merken, dass das die Büchse der Pandora ist, meine Damen und Herren.
({1})
Denn der vergiftete Inhalt dieser Büchse soll vorbereiten auf den Einstieg in die Bürgerversicherung. Das ist Ihr Ansinnen. Das hat Ihre Rede hier auch ganz klar gezeigt. Aber warum Büchse der Pandora? Es würde nämlich den Steuerzahler enorm viel Geld kosten und vor allen Dingen auch zu sehr viel zusätzlicher Bürokratie führen, meine Damen und Herren. Aber das scheint Sie ja nicht zu interessieren. Hauptsache, die PKV wird ordentlich kleingemacht, weil es nicht in Ihr ideologisches Weltbild passt, dass wir hier eine private Vollversicherung haben, die den Menschen zur Verfügung steht.
({2})
Noch einmal zur Klarstellung: Beihilfe und gesetzliche Krankenversicherung sind zwei völlig unterschiedliche Systeme, haben einen völlig unterschiedlichen Ansatz, meine Damen und Herren. Die Beihilfe zahlt ausschließlich im Krankheitsfall. Für den Beamten, der krank ist, fallen also Beihilfekosten an. Die Zuschüsse für die gesetzliche Krankenversicherung werden im Gegensatz dazu jeden Monat entrichtet, also egal und völlig unabhängig davon, ob der Beamte krank ist oder nicht. Ihr Modell, meine Damen und Herren, würde alle teuer zu stehen kommen. Bund, Länder und Kommunen müssten nämlich die Zeche zahlen und damit der Steuerzahler. Je nachdem, wie viele Beamte in Ihrem Modell wechseln oder sich dafür entscheiden, würde das den Steuerzahler – das sind Zahlen, die in der „FAZ“ veröffentlicht wurden – in zehn Jahren zwischen 3,2 Milliarden und 4,4 Milliarden Euro kosten.
({3})
Meine Damen und Herren, dafür könnten wir zehn Jahre lang sehr viele Vollzeitpflegerinnen und Vollzeitpfleger in der Pflege bezahlen. Da wäre das Geld besser angelegt als für diese Kosten.
({4})
Wegen dieser hohen Kosten, meine Damen und Herren, winken viele Bundesländer ja auch dankend ab, wenn sie von Ihrem Modell hören. Hamburg setzt es um, aber alle anderen haben gesagt: Nein danke, lieber nicht. – Denn die Übernahme der Krankenversicherungsbeiträge ist über einen sehr langen Zeitraum erheblich teurer als die Beihilfe.
Sie begründen Ihren Antrag unter anderem auch – das hat mich wirklich sehr geärgert – mit der Feststellung, dass Beamte mit Vorerkrankungen Probleme hätten, in die PKV einzutreten.
({5})
– Nein. – Das ist Unsinn bei Beamten. Jeder Beamtenanwärter wird heute unabhängig von seiner Vorerkrankung und seinem Gesundheitszustand in die PKV aufgenommen.
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Meine Damen und Herren, für Neugeborene mit gesundheitlichen Problemen gilt Kontrahierungszwang, das heißt, sie müssen, wenn ein Elternteil in der privaten Versicherung ist, ohne Risikozuschlag in die Private aufgenommen werden.
({7})
Das haben Sie bewusst verschwiegen. Sie tun so, als würden Zuschläge fällig werden. Das ist einfach falsch, meine Damen und Herren.
({8})
Selbst der Beamtenbund ist gegen Ihr Modell und äußert sehr lautstark verfassungsrechtliche Bedenken. Die Kollegin Nicolaisen hat es schon angesprochen; ich nenne nur das verfassungsrechtliche Delegationsverbot als Stichwort. Aber auch die GKV möchte die Beamten am liebsten gar nicht haben, weil sie genau wissen, dass sie mit den wechselwilligen Beamten keine kostendeckenden Einnahmen erzielen werden.
Meine Damen und Herren, der ganze Antrag – das müssen wir wirklich sagen – zeigt ganz deutlich: Ihnen geht es doch gar nicht um eine Wahlfreiheit für Beamte.
({9})
– Nein. – Ihnen geht es einfach nur um die Schwächung der PKV.
({10})
Darum geht es Ihnen. Es geht Ihnen um einen Einstieg in die Bürgerversicherung, und am Ende lassen Sie Ihre ideologischen Wunschträume vom Steuerzahler bezahlen.
({11})
Das macht die FDP nicht mit. Das werden wir im Ausschuss auch so mit Ihnen diskutieren.
Vielen Dank.
({12})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Maria Klein-Schmeink.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen hier im Haus! Es ist eigentlich selten, dass anlässlich eines Antrages der Linken der Vorwurf von Ideologie im Raum steht, wo ich fragen würde: Aus welchem Antrag nehmen Sie das eigentlich?
({0})
Jedenfalls das, was in diesem Antrag geschrieben steht, rechtfertigt in keiner Weise irgendeinen Ideologievorwurf.
({1})
Worum geht es? Es wird aufgezeigt, dass es eine Gruppe gibt, die nicht wie alle anderen hier in Deutschland freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung Mitglied werden können und dafür von ihrem Arbeitgeber auch einen Zuschuss erhalten. Genau das ist heute die Sachlage für die Beamtinnen und Beamten in diesem Land. Das ist einfach eine Ungerechtigkeit.
({2})
Und es ist natürlich das Gegenteil von einer faktischen Wahlfreiheit. Das sind die Worte, die Sie gerne im Mund führen und wo Sie immer sagen, dass Sie sich als Anwältinnen und Anwälte einer solchen Position verstehen. Deshalb verstehe ich in keiner Weise, warum Sie mit diesem Anliegen, das sehr sachlich vorgetragen wurde und aufgeschrieben ist, nicht wirklich argumentativ umgehen.
({3})
Man muss ganz klar sagen: Wir haben 10 Prozent Beamtinnen und Beamte, die die freiwillige Mitgliedschaft in der GKV unter anderem deshalb wählen, weil sie entweder vorerkrankt sind und sich in der GKV besser aufgehoben fühlen, weil sie wenig Einkommen haben und deshalb mit einkommensbezogenen Beiträgen sehr viel besser dastehen, selbst wenn sie den gesamten Beitrag zahlen, oder weil sie viele Kinder haben. Auch das ist ein Vorzug der gesetzlichen Krankenversicherung. Warum schließen wir um Himmels willen die Beamtinnen und Beamten von diesen Vorzügen aus? Für mich ist das nicht nachvollziehbar.
({4})
Dann haben Sie davon gesprochen, dass die Aufstellung verfassungsrechtlich und beamtenrechtlich so sei, dass sie versicherungsneutral sei, also jeder die Möglichkeit hätte. Aber faktisch können wir nicht davon sprechen. Das ist sehr deutlich geworden.
Dann sprechen Sie davon, dass es Mehrbelastungen für den Staatshaushalt gebe. Kurzfristig mag das so sein.
Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage von Frau Aschenberg-Dugnus zu?
Ja, ich lasse sie zu.
Vielen Dank, Frau Kollegin, für die Zulassung der Frage. – Mich wundert, dass Sie die Wahlfreiheit immer nur von einer zur anderen Seite sehen, nämlich von der PKV in die GKV. Bei Beamten ist das noch nachvollziehbar, aber wir haben schließlich eine Versicherungspflichtgrenze. Auch denjenigen Arbeitnehmern, die weniger als 5 000 Euro im Monat bzw. 60 000 Euro im Jahr verdienen, versagen Sie die Wahlfreiheit, in die PKV zu gehen. Mich stört an unserer Diskussion, dass Ihrer Meinung nach die Wahlfreiheit immer nur in eine Richtung geht.
({0})
Frau Kollegin, wir reden heute über einen Antrag, bei dem es erst einmal um die Wahlfreiheit für die Beamtinnen und Beamten geht. Wir könnten an anderer Stelle noch einmal ausführlicher über verschiedene Aspekte von Wahlfreiheit reden, aber nicht heute Abend.
({0})
Hier geht es um eine ganz bestimmte Gruppe von Beamtinnen und Beamten, die diese Freiheit heute nicht haben, sondern mit ihren Beiträgen alleingelassen werden.
({1})
Genau das ist Gegenstand des Antrages der Linken. Ich muss sagen: Ich kann viele dieser Einlassungen, die gerade gemacht worden sind, nicht verstehen.
Dann waren wir bei dem Argument „Mehrbelastung für den Staatshaushalt“. Schauen Sie sich an, welche Welle und Woge von Mehrbelastungen insbesondere auf die Länderhaushalte, aber auch auf den Bund zukommen, wenn wir erst einmal die gesamten Pensionslasten und damit auch die Beihilfelasten zu stemmen haben. In größerem Umfang sind sie in den Länderhaushalten nicht wirklich verzeichnet und bereits berechnet. Auch beim Bund haben wir an dieser Stelle Probleme.
({2})
Das sind die Ausgaben, die auf uns zukommen, die in der Zukunft massiv unsere Haushalte belasten werden.
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Das ist die eigentliche Sicht, die wir brauchen, nicht die kurzfristige.
({4})
Es stimmt, wenn wir kurzfristig schauen; allein wenn wir sehen, wie die Beamten, die in der GKV sind, durch ihren Dienstherrn nicht unterstützt werden, wäre das eine kleine Mehrbelastung. Aber sie steht in keinem Verhältnis zu dem, was an Pensionslasten und Beihilfelasten auf unsere öffentlichen Haushalte zukommt. Es gibt ja nun auch genug Studien, die zeigen, dass sich eine Einbeziehung der Beamten im Gegenteil für die öffentlichen Haushalte rechnen würde, aber eben erst mittel- und langfristig.
({5})
Dann hatten wir das ganze Argument der Bürokratie. Da muss ich wirklich sagen: Da hört es dann tatsächlich auf. Schauen Sie sich an, was im Beamtenrecht alles notwendig ist. Wir haben die Abrechnung der Beihilfe, und wir haben zusätzlich für die gleichen Leistungen noch einmal die Abrechnung der PKV. Das heißt, wir haben doppelte Bürokratie. Das sind wirkliche Bürokratielasten, und da können wir tatsächlich viel sparen. Aber jetzt an dieser Stelle geht es einfach nur darum,
({6})
sich die Situation vorbehaltlos anzuschauen und herauszufinden, wie Wahlfreiheit für die Beamtinnen und Beamten geschaffen werden kann. Es geht ja nicht darum, irgendjemandem etwas vorzuschreiben, sondern darum, eine Möglichkeit einzuräumen. Dazu sind Sie, so scheint es, nicht in der Lage und nicht bereit. Das halte ich für bedauerlich.
({7})
Der nächste Redner ist der Kollege Erich Irlstorfer, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Titel des Antrags der Fraktion Die Linke, „Beamtinnen und Beamten den Weg in die gesetzliche Krankenversicherung erleichtern“ gibt dessen Intention nicht vollständig wieder.
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– Selbstverständlich, alles andere hätte mich überrascht. Dr. Kessler, ich muss Ihnen aber eines sagen: Sie haben ja zuvor unseren Minister Spahn angesprochen. Minister Spahn ist viel, aber mit Sicherheit kein Lobbyist der PKV.
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Da haben Sie, so glaube ich, am Ziel vorbeigeschossen.
Ich möchte Ihnen auch noch sagen, dass ich folgenden Eindruck nicht loswerde, Herr Dr. Kessler: Ihnen geht es in meinen Augen nicht um die Beamtinnen und Beamten und darum, dass Sie ihnen zur GKV Zugang verschaffen. Für mich ist das ein weiterer hilfloser Versuch, die Bürgerversicherung über die Hintertür einzuführen und ein funktionierendes System zu zerschlagen.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Kranken- und die Pflegeversicherung müssen sicherstellen, dass die medizinische bzw. die pflegerische Versorgung für unsere Bürgerinnen und Bürger gewährleistet ist. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels, der Ihnen ja mit Sicherheit auch bekannt ist, ist dies insbesondere mit Blick auf die Kosten, aber auch auf die Versorgungssicherheit in der Fläche eine große Herausforderung für unser Gesundheitssystem. Der Antrag der Linken ist allerdings gerade aus gesundheitsökonomischer Sicht wenig zielführend. Das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, ähnelt – die Kollegin hat es ja gesagt – dem Hamburger Modell, bei dem sich Beamte ab August 2018 anstelle des Anspruchs auf Beamtenbeihilfe freiwillig für einen Arbeitgeberzuschuss zur GKV entscheiden können.
({3})
Gerne zeigen wir Ihnen dies auch noch einmal auf. Es kann kein Vorbild für die Bundesebene sein. Wenn ich mir diese Zahlen anschaue, die hierzu im Hamburger Senat gehandelt werden, den Fakt, dass man hier von jährlichen Mehrkosten in Höhe von 5,8 Millionen Euro allein für die Beamten ausgeht, die schon heute in der GKV versichert sind, dann kann ich nur sagen: Hinzu kämen noch die Kosten für alle neuen Beamten, die sich für einen Arbeitgeberzuschuss entscheiden. Wenn man das hochrechnet, so sind das für Hamburg innerhalb einer Zehnjahresspanne Kosten um die 100 Millionen Euro, und das ist fatal.
Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren, haben sich im Übrigen auch die anderen Länder dagegen ausgesprochen, dass man ein solches Modell in Angriff nimmt. Wenn man die Hamburger Variante im Bund anwenden würde – das dürfte Sie doch auch interessieren –, dann entstünden hier innerhalb von ungefähr zehn Jahren Mehrkosten in einer Größenordnung von über 3 Milliarden Euro.
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Mit dieser Summe könnte man die Lohnkosten der 8 000 zusätzlichen Pflegerinnen und Pfleger, die in unserem Koalitionsvertrag vorgesehen sind – Sie fordern ja auch immer wieder mehr Pflegestellen und belächeln da unseren Koalitionsvertrag –, locker über viele Jahre hinweg abdecken.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte schon betonen: Das Hamburger Modell ist schlichtweg unnötig. Auch die Kinder von Beamten erhalten eine Beihilfe; zudem sind Kinderzuschläge fester Bestandteil der Besoldung.
({5})
Unabhängig davon, dass im Pensionsalter höhere Beihilfesätze greifen, sind die Pensionen von Beamten im Durchschnitt ohnehin deutlich höher als die Renten in der gesetzlichen Rentenversicherung.
Kinder und nicht erwerbstätige Familienangehörige sind bekanntermaßen im System der gesetzlichen Krankenversicherung beitragsfrei. Kinderreiche Beamtenfamilien hätten somit beim Hamburger Modell einen besonderen Anreiz, sich in der gesetzlichen Krankenversicherung zu versichern.
({6})
Das Resultat – das gehört leider auch zur Wahrheit – wäre eine überproportionale Belastung der gesetzlichen Krankenversicherung durch eine Versorgung von Versicherten, die keine kostendeckenden Beiträge zahlen. Das Mehr an Kosten müsste dann die Solidargemeinschaft tragen.
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Wir sollten natürlich schon darüber nachdenken, was das für Auswirkungen hätte.
Lassen Sie mich auf den Anfang zurückkommen. Karl Lauterbach hat sich ja auch zum Hamburger Modell geäußert, und er hat dazu gesagt: ein großartiger Schritt zur Bürgerversicherung. – Meine Damen und Herren von der Linken, das, was Sie in Ihrem Antrag fordern – das haben Sie ja auch offen zugegeben –, ist eben nichts anderes als der schrittweise Übergang zur Bürgerversicherung.
Frau Bas hat vorhin etwas gesagt, um uns „in Wallungen zu bringen“. Sie bringt uns aber nicht mehr in Wallungen. Von der SPD sind wir so viel gewöhnt.
({8})
Daher brauche ich nicht einmal eine Blutdrucktablette, wenn ich solch eine Rede höre; es ist völlig normal.
Wir als CDU/CSU stellen uns klar gegen eine Bürgerversicherung. Selbst die SPD-nahe Hans-Böckler-Stiftung macht in ihrer Studie deutlich, dass durch eine Bürgerversicherung bis zu 50 000 Arbeitsplätze bei den privaten Krankenkassen in Deutschland gefährdet würden. Diese Gefährdung wollen wir nicht eingehen.
Bei diesen ganzen Rechenbeispielen muss man auch festhalten: Wenn man eine Bürgerversicherung schaffen und die PKV zerschlagen würde, dann würde ein funktionierendes System verloren gehen, das mit einem jährlichen Budget von circa 15 bis 16 Milliarden Euro zur medizinischen Infrastruktur beiträgt. Hierfür sehe ich keinen Ausgleich; das ist rechnerisch nicht nachvollziehbar.
({9})
Dieses Geld, meine sehr geehrten Damen und Herren, brauchen wir natürlich. Wir brauchen es für Investitionen in ein funktionierendes Vorsorgesystem.
Ich möchte hier schon festhalten: Die Linken halten gemäß ihrem Konzept zur Bürgerversicherung die überproportionalen Beiträge der PKV zur Finanzierung der medizinischen Infrastruktur
({10})
anscheinend für entbehrlich. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo möchten Sie denn dieses Geld herholen? Wo ist hier Ihr Ansatz? Man kann nicht nur fordern und nicht sagen, wie man es bezahlen will. Das ist in meinen Augen wirklich schändlich. Deshalb sind wir – das sage ich in aller Deutlichkeit – dagegen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir können gerne – dazu lade ich alle ein – parteiübergreifend über mögliche Reformen der Krankenversicherung diskutieren. Das ist auch notwendig. Doch die Vorschläge sollten konstruktiv und auch ökonomisch sinnvoll sein. Der Antrag der Linken ist es nicht. Deshalb lehnen wir ihn ab.
Herzlichen Dank.
({11})
Der letzte Redner zu diesem Punkt ist der Kollege Helge Lindh von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu vorgerückter Stunde ist das sozusagen der Abend der Bekenntnisse. Ich schließe mich Frau Bas an: Vor das Privileg der Wahl gestellt, entschied auch ich mich für die gesetzliche Krankenversicherung und bin sehr zufrieden damit.
({0})
– Ah, Ideologe.
({1})
Machen wir weiter mit den Bekenntnissen. Ich schließe noch ein weiteres Bekenntnis an: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten – Sie werden es gemerkt haben – sind schon seit Jahrzehnten dem Gedanken der Bürgerversicherung verpflichtet. Aber wir sind nicht nur progressiv, wir sind im Grunde unseres Herzens in bestimmter Hinsicht auch konservativ.
({2})
Rem publicam conservare. Deshalb achten wir selbstverständlich das Dienst- und Treueverhältnis und das Alimentationsprinzip. Aber wir hüten auch den Staat. Wir sind auch besorgt um den Bereich Gesundheit als öffentliches Gut.
Bei allem Verständnis für Wettbewerb: Wir haben einen Markt der Gesundheit, aber Gesundheit ist eben nicht einfach ein marktgängiges Gut.
({3})
Kranke sind nach unserem Verständnis – und ich glaube, viele in diesem Hohen Hause teilen dieses Verständnis – auch etwas anderes als Kostenverursacher.
({4})
Insofern ist es legitim, die in dem Antrag enthaltenen Fragestellungen zu beleuchten und über die entsprechenden Schlussfolgerungen zu diskutieren.
Des Weiteren ist heute im Übrigen nicht nur der Abend der Bekenntnisse, sondern auch noch – bald nicht mehr – Welttag des geistigen Eigentums. Insofern deute ich den Antrag der Linken – nicht nur, weil es zu den parlamentarischen Gepflogenheiten gehört – als einen, mit dem man einen Koalitionspartner provozieren kann und den anderen im Grunde dazu bringen kann, zu etwas zuzustimmen, mit dem man sympathisiert. Nein, ich werte ihn als stillschweigende Verneigung vor den Bemühungen der Sozialdemokratie
({5})
um die Stärkung der gesetzlichen Krankenversicherung und der Bürgerversicherung in Zukunft und als Anerkennung der Bemühungen des derzeitigen Finanzministers, damals noch Bürgermeister von Hamburg, Olaf Scholz, der das Hamburger Modell auf den Weg gebracht hat. Er hat es immerhin als ein Stück Sozialgeschichte bezeichnet.
({6})
In diesem Sinne: Wir wissen alle, dass Koalitionen Zweckehen sind. Zweckehen beruhen auf der Differenz der Partnerinnen und Partner; in Liebesehen ist das auch nicht anders, sonst wäre es oft sehr langweilig. Aber wir sind uns doch einig – das ist auch Ergebnis des Koalitionsvertrages –, dass wir die Parität wiederherstellen. Wir sind uns einig, dass wir zum Beispiel Solo-Selbstständigen – darunter sind viele Künstler – den Eintritt in die gesetzliche Krankenversicherung erleichtern.
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Wir alle müssen dafür sorgen, dass diese Personengruppe nicht das Prekariat des 21. Jahrhundert wird.
In diesem Sinne sehe ich hier große Einigkeit in Bezug auf die Stärkung der gesetzlichen Krankenversicherung. Arbeiten wir daran, beraten wir darüber intensiv in den Ausschüssen! Ich wünsche Ihnen allen einen wunderbaren Abend.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1827 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Allerdings ist die Federführung strittig. Die Fraktionen CDU/CSU und SPD wünschen die Federführung beim Ausschuss für Inneres und Heimat, die Linkenfraktion schlägt Federführung beim Ausschuss für Gesundheit vor.
Wir stimmen zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführung beim Gesundheitsausschuss, ab. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Das sind die Fraktionen der Linken, der Grünen und der AfD. Wer stimmt dagegen? –
({0})
– Das Zweite ist eindeutig die Mehrheit. Enthaltungen? – Dann ist der Überweisungsvorschlag abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen CDU/CSU und SPD, also Federführung beim Ausschuss für Inneres und Heimat, abstimmen. Wer für diesen Überweisungsvorschlag ist, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind SPD, CDU/CSU und FDP. Wer ist dagegen? – Das sind Linke, Grüne und AfD. Das Erstere war die Mehrheit. Damit ist der Überweisungsvorschlag angenommen.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Neue gesellschaftliche Probleme verdrängen alte Probleme in den Hintergrund und hier im Parlament in die späten Abendstunden. Faktisch machen neuer Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Fragezeichen bei der Digitalisierung oder die Bedrohung durch die Klimakrise die Risiken der weltweit Radioaktivität erzeugenden Atomkraft aber nicht kleiner.
({0})
Das machen einen spätestens Reisen nach Tschernobyl oder Fukushima klar.
({1})
Beide Länder, Japan und die Ukraine, versuchen die traumatische Erfahrung zu verdrängen, Japan, indem es mit beständigen Dekontaminierungen zu zeigen versucht, dass man mit einem Super-GAU leben kann, die Ukraine, indem sie die Sperrzone um Tschernobyl von der heutigen Politik abspaltet und zu einer Art zu der Sowjetzeit gehörendem atomaren Disneyland macht. In beiden Ländern sind die Opfer dieser Strategien die Betroffenen, die für ihre Schäden und Verluste minimal oder gar nicht entschädigt werden.
Der Deutsche Bundestag hat nach dem zweiten Super-GAU fraktionsübergreifend den Ausstieg beschlossen. Das war in erster Linie ein Erfolg der Zivilgesellschaft, ist aber allen Fraktionen, die sich damit von ihrer damaligen Energiepolitik abwenden mussten, hoch anzurechnen.
({2})
Danach wurden die Lex Asse und der Neustart in der Endlagersuche auf den Weg gebracht. Beide Gesetze sind auch Ausdruck neuen Problembewusstseins.
Ist es damit gut, verehrte Kolleginnen und Kollegen? Nein, solange in der Welt Atomkraftwerke laufen, solange das Risiko weiter produziert wird, ist es nicht gut.
({3})
Hier beginnt die eigentliche Mammutaufgabe einer deutschen Regierung. Sie besteht darin, das deutsche Beispiel nicht, vielleicht sogar ein bisschen verschämt, als Sonderweg dastehen zu lassen, sondern für einen europäischen und schließlich weltweiten Atomausstieg zu kämpfen.
({4})
In den deutschen Grenzregionen, die mit störanfälligen Reaktoren in den Nachbarländern wie Fessenheim, Cattenom, Tihange, Temelin, Beznau konfrontiert sind, würden Sie damit Begeisterungsstürme auslösen.
Wir legen Ihnen zum heutigen 32. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl 30 Punkte vor, die den Atomausstieg für Deutschland vollständig machen. Dazu gehört die Schließung der Atomfabriken Gronau und Lingen. Dazu gehört die Einforderung einer Novellierung von Euratom. Dazu gehört das Ende aller Bundesinvestments in Atomkonzerne. Dazu gehört der Ausstieg aus der Erforschung neuer Reaktorlinien.
Dass all dies bisher nicht passiert, macht den deutschen Atomausstieg unglaubwürdig und trägt nicht dazu bei, dass unser Beispiel Schule macht. Neubauten von Atomkraftwerken stellen sich immer mehr als ökonomische Desaster heraus: Olkiluoto, Flamanville, Hinkley Point. So sind Laufzeitverlängerungen auch der ältesten Schrottreaktoren in Europa der Wunsch der Stunde. Sie werden von der EU-Kommission und bis in die Ukraine hinein unterstützt.
Die in Deutschland gestartete Energiepreislüge, die alle externalisierten Kosten bei Kohle und Atom ignoriert und den spätestens für unsere Kinder unschlagbar billigen Strom aus erneuerbaren Energien teuer redet, findet ihren Niederschlag selbst in Kiew, wo der Staatshaushalt die gesetzlich festgelegte Entschädigung für die Tschernobyl-Opfer nicht hergibt und man trotzdem argumentiert, sich den Atomausstieg finanziell nicht leisten zu können. Dazu haben wir in Deutschland mit unserer verlogenen Kostendebatte beigetragen.
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Die internationale und gerade auch die deutsche Solidarität mit der Ukraine beim Bau der neuen Schutzhülle waren und sind groß, und das ist gut so. Solidarität mit den Opfern und mit nachfolgenden Generationen, die es vor Schaden zu bewahren gilt, verlangt aber mehr: den engagierten und unerschrockenen Einsatz für den Ausstieg aus der Atomkraft auch außerhalb Deutschlands. Dazu fordere ich die Bundesregierung und Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf, nicht nur heute, am 26. April, aber auch und ganz besonders heute.
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Der Kollege Karsten Möring von der CDU/CSU-Fraktion ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Kotting-Uhl, in einem Punkt stimmen wir überein: Über die Hilfeleistung, die wir für die Menschen und die Opfer erbringen müssen, und über die Hilfeleistung für die Ukraine zur Bewältigung der Folgen gibt es keinen Streit. Aber ansonsten muss ich sagen: Ihr Antrag kommt zum Gedenktag in regelmäßiger Wiederkehr – jetzt sogar zum zweiten Mal mit demselben Titel; sonst gab es kleine Variationen –, und inhaltlich ist es im Wesentlichen auch immer dasselbe. Sie könnten zwar sagen, dass Sie das so machen mussten, weil Sie damit nichts bewegt haben. Ich möchte Ihnen aber sagen, dass Ihr Ansatz meiner Ansicht nach weitestgehend falsch ist.
Sie haben für den heutigen Termin vom BUND ein schönes Gutachten geliefert bekommen, in dem festgestellt wird, dass in den deutschen Kernkraftwerken große Mängel zu verzeichnen sind. Aber das ändert nichts daran, dass die Bundesregierung und die Atomaufsicht in Deutschland verantwortungsvoll handeln und alles für die Sicherheit Notwendige tun. Dazu braucht es keiner Ermahnung. Das ist selbstverständlich, und wir haben uns auch in unserem Koalitionsvertrag dazu bekannt.
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Ich bin sicher, dass die Bundesregierung diesen Aussagen des BUND entgegentreten und im Hinblick auf diese Behauptung eine Antwort geben wird. Ich möchte Sie sogar ermuntern, Frau Ministerin, das proaktiv zu tun. Denn ich glaube, die Grünen werden das sowieso demnächst in irgendeiner Kleinen Anfrage thematisieren.
Es ist ein Phantomschmerz, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Sie plagt, ein Phantomschmerz, der bei Ihnen seit dem Zeitpunkt da ist, als Bundestag und Bundesregierung den Atomausstieg und die Energiewende beschlossen haben. Ihnen fehlt dieses Thema einfach.
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Ich frage mich: Was wollen Sie eigentlich ab 2022 machen, wenn der letzte Reaktor in Deutschland vom Netz gegangen ist?
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– Ich komme gleich darauf, Herr Krischer.
Was wollen Sie mit Ihrem Antrag erreichen? Sie kritisieren einige Aspekte, und Sie fordern eine ganze Reihe von Punkten.
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Ich will einige wenige ansprechen, solange die Zeit dazu reicht. Ein eklatantes Versagen des internationalen Frühwarnsystems merken Sie im Zusammenhang mit der Ruthenium-Wolke Ende September, Anfang Oktober letztes Jahres an. Entdeckt wurde sie sofort. Mitgeteilt wurde sie sofort. Festgestellt, wie groß die Strahlenbelastung war, wurde auch sofort.
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Das Ergebnis war: Die Belastung, jedenfalls hier bei uns, war unerheblich.
Völlig unbefriedigend ist aber die Tatsache, dass es bis heute nicht möglich ist, die Quelle zu verifizieren. Es gibt begründete Vermutungen, aber wir kämen nur dann weiter, wenn Russland bereit wäre, durch Bodenproben in dem vermuteten Quellgebiet entweder zu widerlegen, dass es dorther stammt, oder dies zu bestätigen. Das ist aber kein Problem des internationalen Frühwarnsystems.
Zum Euratom-Vertrag. Ich verstehe natürlich, dass Sie mit der Intention des Euratom-Vertrags, die ursprünglich festgelegt wurde – ich meine die Förderung der Kernenergie –, nicht übereinstimmen. Das ist auch für uns obsolet. Aber wenn Sie sagen, dass Sie den Euratom-Vertrag ändern wollen, oder gar damit drohen, ihn zu kündigen, dann frage ich mich, wem Sie damit Angst machen wollen. Wenn wir das täten, würden wir uns selbst schaden. Denn dann würden wir uns aus den geltenden Regelungen und aus dem Meinungs- und Erfahrungsaustausch über Gesundheitsschutz und Sicherheitsstandards herauskicken.
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– Genau, und nicht kurz vor Mitternacht; da haben Sie schon recht. – Das ist ein Punkt, bei dem ich sagen würde: Das wäre nicht in unserem Interesse, selbst wenn wir es machten. Hinter die Frage, ob andere Länder bereit sind, das zu tun, mache ich ein großes Fragezeichen.
Zum Exportstopp. Sie haben eben gesagt, wir sollten einen Exportstopp im Hinblick auf die Brennelemente beschließen,
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notfalls bzw. am liebsten auch eine Stilllegung der Fabriken. Ein Exportstopp ist rechtlich, sagen wir mal vorsichtig, wohl nicht möglich. Über ein Schließen könnte man reden. Sie würden dadurch aber auf jeden Fall Entschädigungsforderungen auslösen.
Ich frage mich aber auch nach dem tieferen Sinn. Glauben Sie denn im Ernst, dass die Belgier – Hände hoch – Doel und Tihange stilllegen würden, wenn wir den Export der Brennelemente nach Belgien untersagen oder beenden würden? Nein, sie würden sich eine andere Bezugsquelle suchen. Wäre es in unserem Interesse, andere Brennelemente liefern zu lassen und nicht unsere zu liefern, die wenigstens höchsten Qualitätsansprüchen genügen?
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Ich denke, hier würden wir ein Eigentor schießen, und das ist meiner Ansicht nach nicht Sinn der Sache.
Wir müssen schon damit leben, dass wir unseren Nachbarn nicht unseren Willen aufzwingen können. Wir können aber werben und mahnen, und das tun wir auch. Das hat auch die Bundesregierung getan. Ich bin der bisherigen Umweltministerin Barbara Hendricks sehr dankbar, dass sie sich da engagiert hat, genauso wie Armin Laschet aus Nordrhein-Westfalen,
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und ich denke, dass die neue Umweltministerin, Frau Schulze, das ebenfalls tun wird.
Das sind die Instrumente, die wir haben.
Ich will nicht die Perspektive umdrehen und fragen, was wir denn sagen würden, wenn uns andere Länder vorwerfen würden, wir würden aus der Atomenergie aussteigen und damit die CO 2 -Bilanz verschlechtern. Das würden wir uns auch verbitten.
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– Sie vorweg, vor allem, und ich würde sogar noch hinterherlaufen und dasselbe sagen.
Sie möchten – ich zitiere mal – „Vorreiter eines weltweiten Atomausstiegs werden“ und dazu „konsequent, glaubwürdig und erfolgreich mit unserem Atomausstieg sein“. Ich zitiere weiter: „Die Widersprüche müssen endlich aufgelöst werden.“ – Ich weiß nicht, welche Widersprüche Sie meinen.
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Ich sehe einen Widerspruch zu unserer Klimapolitik. Der BDEW hat in Hannover vorgerechnet, welche Lücke entsteht, wenn wir den Atomausstieg beendet haben und die Strommengen – auf welche Weise? nicht vollständig durch Erneuerbare – ersetzen müssen. Sie können jetzt sagen, der BDEW sei ein Lobbyverband, aber auch der BUND hat mit seinen Experten bei der Präsentation eines Papiers eingeräumt, dass es zu einer vorübergehenden – so haben sie es formuliert; sie haben aber offengelassen, wie lange es dauert und wie weit es geht – CO 2 -Erhöhung kommt.
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Ich möchte Ihnen sagen, wie wir nach meiner Vorstellung Vorreiter für den weltweiten Atomausstieg werden können.
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Das werden wir, wenn wir Folgendes schaffen: erstens, wenn wir den Atomstrom und den fossilen Strom durch Erneuerbare ersetzen, zweitens, wenn wir es schaffen, diesen Strom über Leitungen auch zum Verbraucher zu bringen, drittens, wenn wir die Power-to‑X‑Technologie zur Marktreife bringen, viertens, wenn wir den Umbau der Energiewirtschaft sozialverträglich gestalten können, und fünftens, wenn wir unserer Bevölkerung auch den Bezug von bezahlbarer Energie ermöglichen.
Das ist unser Ziel, und es wäre schön, wenn Sie Ihre Energie darauf verwenden würden, dieses Ziel gemeinsam mit uns zu erreichen.
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Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Rainer Kraft, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Schönen guten Abend! Werte Abgeordnete! Werte Gäste, die noch da sind! Wir sprechen heute zu einem Antrag aus Anlass des 32. Jahrestages der schwersten Katastrophe der zivilen Kernkraftnutzung. Laut einem WHO-Bericht hat sie 30 Personen direkt getötet, circa 6 000 Krebserkrankungen der Schilddrüse verursacht, von denen die meisten glücklicherweise geheilt werden konnten,
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und es mussten circa 350 000 Menschen ihre Häuser und Wohnungen verlassen.
Der Antrag der Grünen tut das, was die Grünen gerne anderen Parteien vorwerfen: Er instrumentalisiert. Ihr Antrag missbraucht die Opfer der Katastrophe, um ihre ökopopulistische Antikernkraftpropaganda weiterzutragen.
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Es ist – leider erwartungsgemäß – auch inhaltlich ein schlechter Antrag.
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Er ist schlecht recherchiert und enthält falsche Fakten: Fake News!
So ist zum Beispiel Ihre Behauptung, in Fukushima sollten mehr als 100 Millionen Tonnen tritiumverseuchtes Wasser ins Meer eingeleitet werden, schlichtweg falsch.
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Selbst Greenpeace spricht von circa 1 000 Tanks à 1 000 Kubikmetern. Das sind in Summe 1 Million Tonnen und ist damit nur 1 Prozent von dem Wert, den Sie in Ihrem Antrag herbeifantasieren. Sie betreiben also wissentlich Fake News um den Faktor 100.
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– Faktor 100. – Wie ein Taschenrechner funktioniert, habe ich Ihnen schon einmal erklärt. Dass Sie aber in einem solchen Antrag an einem solchen Datum mit solch schlampig recherchierten Fakten aufwarten, ist hochnotpeinlich.
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Kommen wir zu weiteren Punkten Ihres Antrags. Sie wollen massiv in die Angelegenheiten anderer Staaten hineinreden und diesen Staaten, die sich Ihrer Radiophobie nicht anschließen, Vorschriften machen, was sie zu tun und zu lassen haben.
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Sie fordern, Gelder der Nuklearforschung in das „Gelingen der Energiewende“ und in „die noch offenen Baustellen der Energiewende“ umzuleiten, womit Sie eindeutig zugeben, dass die sogenannte Energiewende weder durch- noch zu Ende gedacht ist.
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Sie geben also zu, dass Sie die deutschen Bürger und Steuerzahler auf eine über 500 Milliarden Euro teure Irrfahrt geführt haben, deren Zukunft eine – ich wiederhole mich hier – offene Baustelle ist.
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Wenn Sie außerdem die Forschung und Ausbildung in Deutschland beenden, dann ist die Frage: Wer soll denn dann all die Reaktoren, die um uns herum gebaut werden, für uns sicherheitstechnisch bewerten können, wenn das keiner mehr kann?
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Als weitere Forderung verlangen Sie ein Ende und den Ausstieg aus allen Forschungen bezüglich passiv sicherer Reaktortypen und auch aus dem internationalen Kernfusionsforschungsprojekt ITER in Südfrankreich.
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Dabei gibt es eine Sache, die jedes Menschheitsziel, zum Beispiel die Bekämpfung des Hungers oder die Begrünung der Wüsten, zwingend benötigt. Das ist die Bereitstellung von ständig verfügbaren, ungeheuren Mengen an Energie.
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So wie es aussieht, ist für die meisten Nationen, die eine Verbesserung der Lebensumstände ihrer Völker anstreben, die Kernenergie eine Säule der Energiebereitstellung, auf die nicht verzichtet werden wird.
Kaiser Wilhelm II.
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soll einmal gesagt haben – ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten –:
Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung.
So wie dem Kaiser, werte Kollegen der Grünen, wird es Ihnen auch einmal ergehen, wenn in der Zukunft über Sie geschrieben werden wird.
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Ob es Ihnen passt oder nicht: Die Kernenergie ist eine der modernsten und effizientesten Formen der Energieerzeugung. Sie hat den höchsten Return-of-Energy-Wert, den es gibt.
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Viele Nationen haben das erkannt und bauen im wahrsten Sinne des Wortes darauf.
Gerade weil die Kernenergie das Potenzial hat, enorme Energiemengen bereitzustellen, muss der Umgang damit verantwortungsbewusst geschehen und auf maximale Sicherheit ausgerichtet sein. Es ist nämlich nicht die Kernenergie als Ganzes, die beendet werden muss, sondern es sind die Einstiegs- und Brückentechnologien der nicht passiv sicheren Kraftwerkstypen, die durch moderne, inhärent sichere Systeme abgelöst werden müssen – weltweit. Deutschland könnte eine Vorreiterrolle einnehmen und die Welt mit konstanter, sicherer, sauberer und, falls Sie das interessiert, CO 2 -emissionsarmer Energie versorgen.
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Dank grüner Politik ist Deutschland dabei, sich aus dieser Forschung um ein elementares Thema für die Zukunft der Menschheit komplett zu verabschieden.
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Tschernobyl mahnt uns tatsächlich. Es mahnt uns, zwei Dinge zu akzeptieren und im politischen Handeln zu berücksichtigen: Erstens. Unsere Zivilisation hat einen unstillbaren Durst nach Energie. Zweitens. Wenn wir nicht dafür sorgen, dass diese Energie immer verfügbar und sicher bereitgestellt wird, dann werden es andere tun, aber mit deutlich geringerer Sicherheit.
Lassen Sie uns also weiter daran arbeiten, die größten Träume der Menschheit zu erfüllen
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und durch diese Möglichkeit ungeheure Mengen an Energie friedlich und sicher bereitzustellen. Setzen wir nicht auf das Pferd, sondern auf die Zukunft.
Vielen Dank.
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Die Kollegin Dr. Nina Scheer spricht für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu dem vielen Blödsinn, der gerade erzählt wurde, komme ich gleich noch. Jetzt erst einmal zu einem kleinen geschichtlichen Abriss, der in der jüngeren Vergangenheit anzusiedeln ist, weil ich denke, dass wir darauf anlässlich einer solchen Debatte heute auch noch einmal Bezug nehmen müssen. Ich möchte im Jahre 2010 ansetzen, als die schwarz-gelbe Regierung die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängert hat. Daran muss man an dieser Stelle erinnern, weil es ganz deutlich zeigt, wie viel Irrglaube damals regiert hat.
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Wenn es Fukushima nicht gegeben hätte – so zynisch ist das –, dann würden wahrscheinlich immer noch die Laufzeitverlängerungen gelten, die damals mit dem Wort „Brückentechnologie“ erklärt wurden. Wenige Monate später, nämlich nach dem Ereignis von Fukushima, haben wir durch die Abschaltung von acht Kernkraftwerken bewiesen bekommen, dass es Quatsch gewesen ist, zu behaupten, dass eine Laufzeitverlängerung unumgänglich sei. Man hatte den Beweis: Man kann acht Kraftwerke abschalten und hat trotzdem genug Energie. Eine solche Laufzeitverlängerung ist eben nicht, wie es uns zuvor erklärt worden war, erforderlich gewesen.
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Sie haben dann zwar, wie gesagt, eine Kehrtwende gemacht, aber ich finde es erschreckend, dass ich bis heute von Ihnen, unserem Koalitionspartner, kein Eingeständnis gehört habe, dass das ein Fehler war. Ich glaube, auch das gehört zur Debatte, wenn es jetzt darum geht, wie wir mit den weiteren Verpflichtungen umgehen, die wir haben, und wie wir mit den Kernbrennstoffen und den Exporten umgehen. Das sind alles Fragen, die in dem vorliegenden Antrag zu Recht gestellt werden. Es sind aber Fragen, die man ehrlicherweise nur dann miteinander diskutieren kann, wenn einmal das Eingeständnis gekommen ist, dass das 2010 ein grober Fehler war.
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Dieser grobe Fehler lässt uns, glaube ich, noch kräftig bluten. Durch die Ausgleichszahlungen für die verkorkste Brennelementesteuer, deren Verfassungswidrigkeit im letzten Jahr festgestellt wurde und die damals ja nur deswegen eingeführt wurde, weil ein Ausgleich für die Laufzeitverlängerung geschaffen werden sollte, sind Milliardenzahlungen auf den Steuerzahler zugekommen. Jetzt steht noch in Rede, dass aufgrund der Rücknahme der Laufzeitverlängerung Schadensersatzzahlungen auf uns zukommen. Das sind Beweise dafür, wie falsch das war. Umso wichtiger ist jetzt, dass bei den weiteren Energiewendeschritten keine weiteren Kapriolen gemacht werden, sondern dass wir wirklich an einem Strang ziehen und die Energiewende, der Umstieg auf erneuerbare Energien, zügig und ohne Irrwege fortgeschrieben wird.
Ich möchte aber noch ein paar andere Dinge ansprechen. Auf die vielen Details des Antrags können wir, denke ich, nach der Überweisung in den Ausschussberatungen noch ausführlich eingehen. Auf alle 30 Punkte kann man hier sowieso nicht eingehen. Das ist, glaube ich, auch nicht Zweck der Übung gewesen.
Ich möchte aber zumindest auf einige Punkte eingehen, auch wenn die Zeit mir davonläuft. Für uns Sozialdemokraten war es im Zusammenhang mit dem Entsorgungsfondsgesetz, das letztes Jahr geschaffen wurde, auch wichtig, dass für den Umgang mit den Geldern, die in den Fonds gewandert sind – das waren 24 Milliarden Euro –, festgeschrieben wird, dass diese Gelder und das, was an Erträgen aus den Geldanlagen gezogen wird, nicht in Atomenergieprojekte fließen. Das war uns Sozialdemokraten wichtig, und das haben wir auch in das Gesetz hineinbekommen, natürlich in gemeinsamer Entscheidung und fraktionsübergreifend. Das war uns Sozialdemokraten besonders wichtig.
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Damit wird, wie gesagt, die Investition in Atomenergieprojekte ausgeschlossen.
Ich möchte aber noch kurz auf etwas anderes eingehen, und zwar auf die Verflechtung von militärischer und ziviler Nutzung. Wir haben weltweit das Riesenproblem, dass dort, wo Atomtechnologie militärisch genutzt wird, das Know-how gebündelt ist. Ich denke, das wird die große Zukunftsfrage sein: Wie schafft man einen Ausstieg, den wir natürlich auch weltweit verfolgen wollen, aus der Atomenergie, wenn in manchen Staaten dieses Know-how für militärische Zwecke genutzt wird? In diesen Zeiten, in denen wir leider über Mini-Nuke-Diskussionen erfahren müssen, dass wieder eine Aufrüstungsspirale in Gang gesetzt wird,
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liegt wahrscheinlich das Zentrum der Atompolitik darin, dass wir tatsächlich wieder eine Abrüstungspolitik hinbekommen. Dafür steht die SPD ohnehin. Wir brauchen eine Abrüstungspolitik; es darf keine Aufrüstungsspirale geben. Das ist letztendlich auch die Eintrittspforte, um irgendwann weltweit zu einem Ausstieg aus der Atomenergie zu kommen.
Ich möchte noch ganz kurz auf die von der AfD angeführte Kostenentwicklung von 19 bis 50 Cent pro Kilowattstunde eingehen.
Jetzt ist Ihre Zeit wirklich vorbei, liebe Kollegin. Das war doch jetzt ein schöner Schluss.
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Windenergie gibt es für 4 Cent pro Kilowattstunde.
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Vielen Dank.
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Für die FDP spricht die Kollegin Judith Skudelny.
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Meine Damen und Herren! Angesichts der fortgeschrittenen Uhrzeit werde ich versuchen, mit meiner Redezeit auszukommen, auch aus Respekt vor denjenigen, die noch nach uns sprechen.
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Der Ausstieg bis 2022 ist beschlossen. Das ist Tatsache in diesem Haus, das ist einstimmiger gesellschaftlicher und politischer Konsens. Darüber kann man jammern oder auch nicht. Aber wir werden 2022 aus der Stromerzeugung per Kernenergie aussteigen.
Die Risikobewertung, die wir in Deutschland vorgenommen haben, wird allerdings nicht von jedem europäischen Land geteilt. Ganz im Gegenteil: Manche Länder deklarieren die Kernenergie sogar als sauber, weil sie kein CO 2 emittiert. Frankreich beispielsweise hat nach Abwägung beschlossen, bis 2025 aus der Kohleverstromung auszusteigen. Im Gegenzug setzt Frankreich weiter auf die Kernenergie und baut sogar neue kerntechnische Anlagen, ebenso wie übrigens die Niederlande, England und Finnland. Das heißt, das Umfeld im Bereich der Kernenergie und der Risikobewertung in Europa ist sehr uneinheitlich. Und in diesem uneinheitlichen Umfeld muss Deutschland seine Rolle finden.
Bei uns werden die Kernenergieanlagen, die bis 2022 am Netz sind, unter höchsten Sicherheitsstandards und vor allem unter Kontrolle der Bundesländer sicher weiterbetrieben werden. Das sieht bei Anlagen in anderen Ländern ein bisschen anders aus. Sie haben vorhin auf Aachen hingewiesen. Tihange ist eine der Anlagen, die auch uns schwer im Magen liegt. Dort wurde politischer Druck aufgebaut. Aber es beruhigt die Menschen nicht, wenn als Sicherheitskonzept Jodtabletten an die Bevölkerung ausgegeben werden.
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Wir wünschen uns in diesem Bereich, dass die Bundesregierung den politischen Druck hochhält und dafür sorgt, dass dieses vergleichsweise unsichere Kraftwerk tatsächlich zeitnah vom Netz genommen wird.
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Am Beispiel Belgien sehen wir aber auch, wie schwierig es ist, den Einfluss Deutschlands im Ausland geltend zu machen. Wir sind natürlich Vorreiter und Vorbild. Aber gerade diejenigen, die eine andere Risikobewertung haben, bewerten auch unsere Vorbildfunktion anders. Wenn wir dort Einfluss nehmen wollen, ist es umso wichtiger, dass wir mit den Menschen in der Kommunikation bleiben. Ein Teil dieser Kommunikation ist, internationale Verträge und Abkommen einzuhalten sowie internationale Forschungsvorhaben – wie besprochen – bis zum Ende gemeinsam durchzuführen.
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Wir brauchen übrigens auch diese gemeinsame Forschung im Bereich der nuklearen Energie, um überhaupt nukleare Sicherheits- und Energiekonzepte bewerten zu können; denn nur wenn wir mit am Tisch sitzen, wissen wir tatsächlich, was in den anderen europäischen Ländern am Ende umgesetzt wird. Unser Einfluss kann sogar so weit gehen, dass wir uns an kernenergetischen Anlagen im Ausland – das haben Sie beklagt – beteiligen.
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Warum? Wenn wir uns beteiligen, haben wir Einfluss auf die Sicherheitsmaßnahmen. Ziehen wir uns zurück, können wir nicht mitsprechen. Sitzen wir mit am Tisch, haben wir die Möglichkeit, im Bereich der Sicherheit unsere Bedenken vor Ort einzubringen.
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Ein Letztes zum Thema Forschung. Auch im Hinblick auf die Kernfusionsforschung möchte ich sagen, dass nach unserer Überzeugung mehr Wissen immer ein Vorteil ist.
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Es ist nicht an sich das Wissen um einzelne Technologien, das Schaden anrichtet, sondern es sind immer Menschen, die falsche Schlüsse aus dem Wissen ziehen und falsche Anwendungen vornehmen.
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Dennoch und gerade deswegen wollen wir als Freie Demokraten riskieren, dass unsere Kinder schlauer werden als wir.
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Dazu gehört auch, eine vollständig ideologiefreie und offene Forschung in Deutschland zu gewährleisten.
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Ebenso wie wir heute mit unserem Wissen verantwortungsbewusst umgehen, trauen wir es unseren Kindern zu, dass sie mit ihrem Wissen die Zukunft genauso verantwortungsbewusst gestalten.
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Für die Fraktion Die Linke spricht der Kollege Hubertus Zdebel.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mittlerweile ist es 13 Minuten nach zwölf. Das heißt im Klartext: Gestern vor 32 Jahren explodierte der Block 4 des AKW Tschernobyl. Bis heute dauern die katastrophalen Folgen an. Bis heute verschlingen die Aufräumarbeiten allein in Tschernobyl viele Milliarden Euro. Tausende Menschen sind an den Folgen der Radioaktivität gestorben. Hunderttausende wurden evakuiert und verloren für immer ihre Heimat.
32 Jahre nach Tschernobyl und 7 Jahre nach der Atomkatastrophe von Fukushima sind in Deutschland noch immer sieben Atommeiler am Netz, und noch immer kann auch hier jederzeit ein Super-GAU passieren. Das sollten wir nicht vergessen. Der Atomausstieg hat angefangen, aber er ist noch nicht abgeschlossen. Das gehört einfach zur Wahrheit dazu.
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Erst vorvorgestern, am Dienstag, hat der BUND eine Studie über die Unsicherheiten deutscher Atommeiler vorgelegt und zahlreiche Mängel aufgeführt; Herr Möring hat das ja gerade schon angesprochen. Dieser Studie zufolge gibt es keine ausreichenden Katastrophenschutzpläne. Die Schutzstandards bei Hochwasser, Erdbeben und Anschlägen sind mangelhaft. Die Physikerin Oda Becker, Autorin der Studie, warnt – ich zitiere –: „Fehler im Reaktorkern werden nur per Zufall gefunden“. Das ist alarmierend, finde ich. In der Studie wird festgestellt, dass sicherheitsrelevante technische Maßnahmen nicht mehr erfolgen, weil sich das für die Betreiber angesichts der geplanten Abschaltungen bis 2021/2022 nicht mehr lohnt – Profitsystem. Auch das sollte alarmieren.
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Hubert Weiger, der Vorsitzende des BUND, kritisiert die Untätigkeit von Bund und Ländern zutreffend – Zitat –:
Für die Politik ist das wirtschaftliche Interesse der Betreiber wichtiger als die Sicherheit der Bevölkerung.
Wir Linken unterstützen die Schlussfolgerung des BUND nach sofortigem Atomausstieg und Novellierung des Atomgesetzes. Ich finde es auch richtig, dass das Ministerium umgehend zu dieser BUND-Studie mit diesen alarmierenden Nachrichten Stellung nehmen sollte, damit da Klarheit hergestellt wird.
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Lassen Sie mich jedoch noch eines sagen: Die Kritik des BUND richtet sich nicht nur an die Bundesregierung und die Atomaufsicht in Bayern, die die Mängel im Reaktorblock Gundremmingen C nicht zum Anlass nimmt, den Meiler abzuschalten, wie die Grünen in ihrem Antrag zu Recht fordern.
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Die Kritik des BUND an deutschen Atomkraftwerken ist zu Recht auch auf Reaktoren in den übrigen Bundesländern gemünzt, richtet sich also auch an die Bundesländer, in denen die Atomministerien grün geführt sind. Auch hier gibt es viel Luft nach oben, wie ich finde.
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Der Atomausstieg in Deutschland ist nach wie vor nicht vollendet. Das ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit. Er muss vollendet werden; denn nach wie vor sind die Uranfabriken in Gronau und Lingen vom Atomausstieg ausgenommen und dürfen weiterhin den Brennstoff für Atomkraftwerke in aller Welt exportieren, auch für die maroden Reaktoren Tihange und Doel in Belgien, die heute schon zur Sprache gebracht worden sind. Das ist skandalös und muss beendet werden.
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Ich will noch eines zu den Urananreicherungsanlagen sagen – da bin ich ganz bei Nina Scheer –: Die Urananreicherungsanlage in Gronau ist janusköpfig: Einerseits kann dort angereichertes Uran für Atomkraftwerke produziert werden; auf der anderen Seite kann mit dieser Technologie Uran dermaßen angereichert werden, dass damit Atombomben hergestellt werden können. Deswegen muss sie meines Erachtens genauso wie die Brennelementefabrik in Lingen definitiv geschlossen werden.
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Das fordern wir in unseren Anträgen, und das muss entsprechend umgesetzt werden.
Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Michael Kießling.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste auf den Tribünen!
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– Einem der beiden Herren auf der Besuchertribüne kann man zum Geburtstag gratulieren: Seit 0 Uhr hat er Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch!
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Die Grünen möchten das Kernkraftwerk Gundremmingen schließen. Da habe ich aufgehorcht. Immerhin ist Gundremmingen nur 80 Kilometer von meinem Zuhause entfernt. Ich habe mich gefragt: Gibt es dort Störfälle? Gibt es dort akute Störungen? Nein, es gibt sie nicht. Gundremmingen erfüllt die Sicherheitsanforderungen und die Grenzwerte komplett. Die Aufsichtsbehörde in Bayern hätte das Kraftwerk ja sonst bereits stillgelegt. Wie man nachlesen kann, ist das Kraftwerk so ausgelegt, dass es einem Bemessungserdbeben standhält, wie es sich alle 100 000 Jahre einmal ereignet, und einem Bemessungshochwasser, wie es alle 10 000 Jahre einmal eintritt. Von daher ist man da etwas auf Panikmache aus. Ich denke, wir sollten uns hier vernünftig und pragmatisch an die Energiewende machen und die auch gestalten.
Wir haben in Deutschland trotz des Endes der Kernenergie, die wir eingeläutet haben, immer noch hohe Sicherheitsstandards im Vergleich zu anderen Ländern. Natürlich ist Sicherheit im Hinblick auf Kernkraftwerke immer relativ. Es gibt keine 100‑prozentige Sicherheit. Wir haben es bei den Unfällen in Tschernobyl und Fukushima gesehen; da war natürlich jedes Opfer eines zu viel. Das ist auch der Hauptgrund dafür, dass wir aus der Kernenergie ausgestiegen sind und die Energiewende beschleunigt haben.
Die Atomkommission, unter anderem von Jürgen Trittin geleitet, hat erst 2016 einen ordentlichen Kompromiss gefunden. Im vergangenen Jahr hat der Bundestag dazu das Gesetz zur Neuordnung der Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung beschlossen. Die Verantwortung und die Verpflichtungen der Energieversorger wurden darin festgehalten. Sie müssen liquide Mittel in einen öffentlich-rechtlichen Fonds einzahlen und die Kernkraftwerke abbauen. Umgekehrt haben die Energieversorger mit dem Gesetz Planungssicherheit gewonnen. Das ist auch wichtig. Das eine ist nur mit dem anderen möglich. Die Grünen haben diesen Kompromiss mit ausgearbeitet und ihm zugestimmt. Und jetzt versuchen sie durch das Hintertürchen, diesen wieder zu untergraben.
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Das ist keine verlässliche Politik.
In dem Antrag steht, dass es von Anfang an eine Hybris gewesen sei, Kernkraft beherrschen zu wollen. Dem kann man – nach allem, was wir wissen und in der Vergangenheit erlebt haben – zustimmen. Aber es ist mindestens ebenso eine Hybris, zu glauben, man könne von einem auf den anderen Tag aus Atomkraft und Kohlekraft aussteigen und nebenbei auch noch die Nachbarländer dazu zwingen.
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Klar, wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, wenn es ein Sicherheitsrisiko für unsere eigene Bevölkerung gibt, zum Beispiel ein Kernkraftwerk mit Sicherheitsproblemen an der deutschen Grenze. Das tut unsere Bundesregierung bereits. Erstens gibt es allerdings durchaus unterschiedliche Einschätzungen – das haben wir heute auch schon gehört – über die Zustände der Kernkraftwerke. Zweitens muss man eingestehen, dass man sich eben nicht so gerne Ratschläge von seinen Nachbarstaaten geben lässt, wenn es um die nationale Energiepolitik geht. Wir haben keine rechtliche Handhabe. Auch die Einflussmöglichkeiten über die EU und andere internationale Gremien sind begrenzt.
Umso schlimmer ist es, dass die Grünen nun in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken wollen, als könnten wir den Betrieb der Kernkraftwerke in Nachbarländern wie Belgien verhindern. Immer wieder wird dazu zum Beispiel ein Stopp von Brennelementlieferungen aus Deutschland gefordert; auch das habe ich heute schon gehört.
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Es wird damit aber eine Hoffnung geweckt, die nicht erfüllt werden kann. Ja, wir können uns bemühen, können politischen Druck aufbauen. Aber eine echte Handhabe haben wir nicht. Brennelemente zum Betrieb der Anlagen kann man sich auch schlichtweg woanders auf dem Weltmarkt besorgen – ganz abgesehen davon, dass wir auch hier europarechtlich gebunden sind.
Also lassen Sie uns nun die Kernkraft zu Ende bringen, aber eben vernünftig! Der Ausbau der erneuerbaren Energien kann nur Hand in Hand mit einem vernünftigen Ausstieg aus der Kernkraft und aus der Kohlekraft gelingen. Planungssicherheit ist dabei besonders wichtig. Wir wollen die Bürger und Unternehmen in unserem Land nicht über Gebühr belasten.
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Lassen Sie uns gemeinsam an der Energiewende arbeiten, unaufgeregt und unideologisch!
Vielen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Timon Gremmels.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nur ein kurzer Satz zur rechten Seite dieses Hauses: Sie sind nicht die Alternative für Deutschland; Sie sind die Atomlobbypartei für Deutschland, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({0})
Darauf sind Sie auch noch stolz.
({1})
Aber ich kann Ihnen eines sagen: Es gibt keine gesellschaftliche Mehrheit für Ihre Position. Ich hoffe, möglichst viele Menschen haben gehört, was der Kollege hier heute vorgetragen hat. Es war eine Verhöhnung der Opfer von Tschernobyl – und das am Gedenktag, meine sehr verehrten Damen und Herren!
({2})
Ich war im April 1986 zehn Jahre alt, und ich hatte es als Kind nicht verstanden.
({3})
Ich durfte nicht mehr draußen spielen, musste jeden Tag nach der Schule duschen, musste wochenlang ein Milchpulver-Wasser-Gemisch trinken. Mich hat das als Kind geprägt. Meine klare Überzeugung für die Energiewende, für den Einstieg in die erneuerbaren Energien hat damit etwas zu tun, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Wir Sozialdemokraten kämpfen für den Atomausstieg, und zwar konsequent.
({5})
Wir haben – das muss ich jetzt an die Kollegen unseres aktuellen Koalitionspartners richten – dazu nicht erst Fukushima gebraucht. Wir haben im Jahr der Tschernobyl-Katastrophe, auf dem Parteitag in Nürnberg 1986, erkannt, dass diese Technologie keine Zukunft hat. Seitdem haben wir konsequent für Alternativen geworben.
({6})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
({0})
Bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Vielen Dank, Herr Gremmels, dass Sie eine Zwischenfrage erlauben. Ich habe hier den Bericht der Weltgesundheitsorganisation zum 30. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl. Ich möchte Ihnen gerne eine Schlussfolgerung vorlesen; die Übersetzung ist von mir.
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– Ich kann es auch auf Englisch vortragen; das wäre mir egal. – Die WHO konstatiert hier: Es war notwendig, die Tschernobyl-Mythen zu zerstreuen, um klarzumachen, dass für die meisten von der Tschernobyl-Katastrophe betroffenen Menschen die Strahlung nicht der bestimmende Faktor im breiten Spektrum der gesundheits- und sozioökonomischen Probleme der betroffenen Region ist.
({1})
Ist Ihnen das bekannt? Das ist der WHO-Bericht.
Sehr geehrter Herr Kollege, Sie haben wieder einmal bewiesen, dass Sie Opfer verhöhnen.
({0})
Die Menschen, die in Tschernobyl gestorben sind, sind die wahren Opfer, und Sie verhöhnen sie mit Ihren Reden hier im Deutschen Bundestag. Ich finde das peinlich, ich finde das armselig. Aber das müssen Sie verantworten, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Lassen Sie mich jetzt für die SPD sagen: Wir sind froh, dass im Jahre 2022 in Deutschland das letzte AKW vom Netz geht; das ist längst überfällig.
({2})
Das ist gut so. Ich sage Ihnen – die Grünen konnten das ja nicht machen; ich hätte mich gefreut, wenn sie uns auch mal gelobt hätten; aber gut –: Ich finde, dass unsere ehemalige Bundesumweltministerin Barbara Hendricks in den letzten vier Jahren einen verdammt guten Job gemacht hat.
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Das kann man nach den schwarz-gelben Chaostagen in der Atompolitik auch einmal sagen. In den Jahren 2010 und 2011 hat Barbara Hendricks wieder Ordnung in den Laden gebracht.
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Wir haben mit dem nationalen Entsorgungsprogramm erstmals eine langfristige Strategie für die Entsorgung der Brennelemente auf den Weg gebracht. Wir haben uns um die Rückführung der radioaktiven Abfälle aus den Wiederaufbereitungsanlagen La Hague und Sellafield gekümmert. Wir haben dafür gesorgt, dass mit Belgien ein Abkommen für den besseren Austausch in Fragen der nuklearen Sicherheit unterzeichnet wurde. Wir haben die Stromkonzerne dazu gebracht, dass sie im Rahmen der Stilllegung auch zur Zahlung verpflichtet sind. Ich hätte mir gewünscht, dass sie mehr zahlen; aber es ist ein großer Fortschritt, dass wir in diesem Punkt überhaupt vorangekommen sind. Und wir haben die Novelle zum Standortauswahlgesetz auf den Weg gebracht. Ich finde, das sind fünf tolle Punkte, die Barbara Hendricks hier durchgesetzt hat. Es war, wie ich gehört habe, mit dem Koalitionspartner nicht immer leicht.
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Wir bringen auch im aktuellen Koalitionsvertrag einiges auf den Weg.
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Bei diesem Punkt kann Herr Möring noch einmal zuhören. Im aktuellen Koalitionsvertrag haben wir festgelegt: „Keine EU-Förderung für neue Atomkraftwerke.“
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Konsequente „Beendigung aller Beteiligungen staatlicher Fonds an AKWs“ –
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auch das steht im Koalitionsvertrag, auch dafür haben wir gesorgt. Drittens wollen wir verhindern, dass Brennelemente aus deutscher Produktion ins Ausland verkauft werden. Diese Punkte haben wir im Koalitionsvertrag verankert.
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– Es tut mir ja leid, Frau Kotting-Uhl, dass wir Ihnen die Themen weggenommen haben, aber die SPD kann das auch.
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Ich bin mir sehr sicher, dass Svenja Schulze als Umweltministerin das hervorragend weitermachen wird.
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Ich sage Ihnen: Wir werden alles dafür tun – da gibt es auch keinen Zweifel –, dass Deutschland spätestens 2022 unumkehrbar aus der Nutzung der Atomenergie ausgestiegen ist. 36 Jahre nach Tschernobyl ist dann das Thema Kernenergie in Deutschland endlich beendet. Darauf können Sie sich verlassen!
Ich danke Ihnen. Glück auf! Ich habe die Zeit auf die Sekunde genau eingehalten. Prost!
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Das ist sehr löblich. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1731 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung beschlossen.
Werter Herr Präsident! Vielen Dank für das Wort. Sehr geehrte Kollegen! Wir konkurrieren hier um halb eins im Fernsehen mit einem Psychodrama und zwei Horrorfilmen. Das ist – ganz ohne Humor – nicht so weit weg von der Lebenswirklichkeit von Beschäftigten, die nur einen befristeten Arbeitsvertrag haben;
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denn es ist sehr wohl dramatisch, wenn sie nicht wissen, wie es nach ihrer Befristung weitergeht, wenn sie nicht wissen, ob ihr Vertrag verlängert wird, wenn sie nicht wissen, ob sie vielleicht in eine andere Stadt ziehen müssen, wenn sie nicht wissen, ob sie ihre Beziehung aufrechterhalten können, wenn sie nicht wissen, ob sie ihre Familie ernähren können. Das sind gewichtige Probleme, die wir hier lösen müssen; denn es zeigt sich nicht nur in psychosomatischen Belastungen, es zeigt sich auch in Statistiken: Menschen mit befristeter Beschäftigung sind zum Beispiel seltener verheiratet, haben weniger Kinder und geben bei der Schwangerenkonfliktberatung besonders häufig an, dass sie das belastet und zur Abtreibung bewegt hat. Das können wir nicht wollen.
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Das ist ein Thema, das wirklich sehr, sehr viele Menschen betrifft. Wir haben 2,65 Millionen befristet beschäftigte Menschen in Deutschland. Fast jeder zweite Arbeitsvertrag, der neu ausgereicht wird, ist befristet. Das bedeutet: Wir sind hier für eine Menge Menschen und deren Lebenssituation und Lebensglück mitverantwortlich. Da müssen wir was tun.
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– Ja, da kommen tatsächlich auch die Flüchtlinge ins Spiel. Das betrifft übrigens vor allem junge Menschen und Ausländer. Wir tun hier also – um das gesagt zu haben – insbesondere etwas für junge Menschen und Ausländer.
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Jetzt geht es darum, dass wir etwas tun, was nicht nur gut klingt, sondern auch etwas bringt. Das unterscheidet die demokratischen Sozialisten von der AfD. Denn Sie von der SPD und der Linken haben etwas vorgelegt zur sachgrundlosen Befristung, die abgeschafft werden soll. Schauen wir uns einmal an, was das Teilzeit- und Befristungsgesetz aktuell beinhaltet. § 14 Absatz 1 und 2 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes sagt zum Beispiel, dass es eine Befristung mit Sachgrund gibt. Diese Befristung ist quasi schrankenlos und grenzenlos; da gibt es auch Kettenbefristungen. Sie brauchen nur einen Grund. Das ist nicht besonders abgeschlossen. Da steht zum Beispiel drin – ich zitiere –:
Die Befristung eines Arbeitsvertrages ist zulässig, wenn sie durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist.
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Wir lesen: jeder sachliche Grund.
Ein sachlicher Grund liegt insbesondere vor, wenn …
Jetzt folgen acht Punkte. Es ist also eine nicht abschließende Liste.
Sie können beliebig lang befristen. Das passierte zum Beispiel Anja Helffenstein. Sie hatte als Zustellerin bei der Deutschen Post 17 Jahre lang 88 befristete Verträge mit Sachgrund. Das passiert übrigens auch ganz vielen Lehrern, insbesondere in Baden-Württemberg und Hessen. Sie werden just zum Schuljahresbeginn eingestellt und zum Schuljahresende ausgestellt und für die Sommerferien in die Sozialsysteme abgeschoben. Das ist eine Schweinerei. Das können wir hier nicht länger dulden.
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Die sachgrundlose Befristung, meine lieben sozialistischen Kollegen, ist auf maximal 24 Monate mit maximal drei Verlängerungen beschränkt. Ich frage Sie, weil ich es wirklich nicht verstehe: Warum wollen Sie ausgerechnet das, was die Arbeitnehmer schützt, abschaffen und das, was die Arbeitnehmer nicht schützt, behalten? Das macht überhaupt keinen Sinn. Und das zeigt: Sie schreiben sozial drauf, unsozial ist drin. Soziale Politik gibt es ausschließlich mit der AfD.
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Ich trage Ihnen auch sehr gerne vor, wie wir das regeln wollen. Sie haben ja sicherlich die Drucksache gelesen; ansonsten lade ich Sie ein, Seite drei des Gesetzentwurfs aufzuschlagen. Wir sagen nämlich Folgendes: Diese ganze Unterscheidung zwischen Sachgrund und sachgrundlos hat keinen besonderen Sinn; denn das IAB hat festgestellt: 93 Prozent der befristeten Arbeitsverhältnisse haben tatsächlich einen gedanklichen Hintergrund, der Sinn macht; sie sind sachlich befristet. Das steht nicht immer drauf; denn wenn Sie den Sachgrund in den Arbeitsvertrag hineinschreiben, dann kann der Arbeitnehmer Sie als Arbeitgeber vor dem Arbeitsgericht verklagen und gegebenenfalls eine Entfristung des Arbeitsverhältnisses feststellen lassen. Deswegen steht es nicht im Arbeitsvertrag; aber es gibt trotzdem einen Grund.
Wir sagen: Lassen Sie uns diese Grenze zwischen Sachgrundbefristung und sachgrundloser Befristung aufheben. Lassen Sie uns die Regeln, die bisher für die sachgrundlose Befristung galten – maximal 24 Monate mit maximal drei Verlängerungen – verallgemeinern und sagen: Ja, wir brauchen Befristungen für die Flexibilität der Arbeitgeber. Das ist wichtig. Wir haben schon jetzt 1,7 Milliarden Überstunden, und wir wollen nicht, dass es mehr werden. Wir behalten die Befristung als Mittel, aber eben grundsätzlich mit einer Dauer von maximal 24 Monaten und darin maximal drei Verlängerungen.
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Darüber hinaus geht nichts. Es sei denn, es gibt wirklich einen besonderen Grund; das können Sie auch nachlesen. Natürlich gibt es manchmal Sonderregelungen, die nötig sind. Aber diese Sonderregelungen müssen eben die Ausnahme sein – und nicht die Regel, wie es im Moment der Fall ist.
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Lassen Sie uns darüber gemeinsam im Ausschuss diskutieren. Lassen Sie uns diesen vollständigen Gesetzentwurf zur Basis einer Diskussion über eine Reform, über eine wirklich soziale Reform unserer befristeten Arbeitsverhältnisse machen. Lassen Sie uns darüber diskutieren zum Wohle unserer Arbeitnehmer in Deutschland.
Vielen herzlichen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Wilfried Oellers.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zwei sind ja noch auf der Besuchertribüne. – Wir beraten heute den Gesetzentwurf der AfD zur Änderung des Teilzeit- und Befristungsgesetzes. Ich persönlich habe den Eindruck, dass es sich dabei um einen Vorschaltantrag handelt; denn wir haben in der Großen Koalition etwas zu Teilzeit und Befristungen vereinbart und treten jetzt mit ersten Schritten in die Umsetzung ein.
Was Sie mit dem Gesetzentwurf erzielen wollen, kann ich ihm allerdings nicht entnehmen. Sie legen darin den Status quo noch einmal anders formuliert dar und führen die bestehenden Befristungsgründe auf bzw. fassen diese noch einmal neu. Sie sagen allerdings außerdem unter Satz 1 – und das ist bisher nicht Teil des Teilzeit- und Befristungsgesetzes –: Die drei zurückliegenden Jahre beziehen wir nicht mehr nur auf die Tatsache, ob zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wirklich ein Arbeitsverhältnis bestanden hat, sondern wir beziehen sie auch darauf, ob der Arbeitsplatz als solcher vorher mit einem befristet angestellten Mitarbeiter besetzt gewesen ist. – Sie beziehen dabei also eine Arbeitsplatzqualifikation ein, die ich, ehrlich gesagt, eher von den Linken erwartet hätte.
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Das zeigt natürlich auch, in welche Richtung Sie eigentlich mit Ihrem Gesetzentwurf unterwegs sind.
Darüber hinaus will ich einmal ein paar Zahlen nennen, die Sie hier ja auch aufgeführt haben. Dabei muss ich schon einiges in Relation bringen. Wir haben mittlerweile in Deutschland über 43 Millionen Erwerbstätige. Die Quote der befristeten Arbeitsverhältnisse liegt etwa bei 8 Prozent. Davon sind über 50 Prozent im öffentlichen Dienst und dort zum großen Teil im wissenschaftlichen Bereich beschäftigt. – Klammer auf: Wir haben seinerzeit das Wissenschaftszeitvertragsgesetz verabschiedet, um für diese Beschäftigungsverhältnisse Regelungen zu schaffen. Klammer zu. – Etwas weniger als 50 Prozent sind in der freien Wirtschaft beschäftigt.
Sie haben außerdem die Thematik der neugeschaffenen befristeten Arbeitsverhältnisse angesprochen. Dazu muss man sagen: Auch wenn diese Quote sicherlich niedriger sein sollte und wir von der CDU und auch ich persönlich natürlich gerne nur unbefristete Arbeitsverhältnisse hätten, ist doch die Realität in der Wirtschaft leider Gottes eine andere. Wir brauchen Befristungen auch als Flexibilisierungsinstrument.
Wir müssen sehen, dass die Zahl der neugeschaffenen befristeten Arbeitsverhältnisse rückläufig ist. Vor ungefähr zehn Jahren lag die Befristungsquote bei Neuverträgen in den Altersstufen bis 30 Jahre etwa bei 28 Prozent. Mittlerweile liegt sie bei 23 Prozent. Sie ist also rückläufig. Das ist eine erfreuliche Tatsache.
Wir müssen aber feststellen, dass wir schon Flexibilisierungselemente brauchen. Hier komme ich auf den Koalitionsvertrag zu sprechen. Dort ist vereinbart, dass wir ein Recht auf befristete Teilzeit schaffen wollen. Daneben gibt es für Familien die Elternzeit. Wenn wir aber auf der einen Seite den Arbeitsnehmern Flexibilisierungselemente zugestehen, müssen wir diese auf der anderen Seite auch den Arbeitgebern zugestehen, damit sie entsprechend reagieren können. Deswegen sollte man natürlich vorsichtig sein mit den Einschränkungen, die man auf dieser Seite des Arbeitsverhältnisses vornimmt.
Insgesamt muss ich feststellen, dass der Antrag, der von der AfD eingereicht wird, irgendwie nicht den Zielen entspricht, die in der Begründung angebracht werden. Wir werden das wahrscheinlich im Rahmen der Ausschussberatungen weiter verfolgen können.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Der Kollege Till Mansmann spricht für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen und die beiden zur vorgerückten Stunde tapferen Besucher auf der Tribüne! Die Verkettung von befristeten Verträgen ist in der Tat ein Problem, das unsere Aufmerksamkeit verdient. Aber die Befristung von Arbeitsverträgen an sich ist ein wichtiges Instrument in einem Arbeitsmarkt, in dem der Schutz der Arbeitnehmer einen sehr hohen Standard hat. Insgesamt haben wir ein System geschaffen, um das uns andere in Europa beneiden: niedrige Jugendarbeitslosigkeit, hohe Beschäftigungsquote und für den Fiskus hervorragende Steuereinnahmen.
({0})
Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist gerade in einem guten Zustand, und wir sollten alle daran interessiert sein, dass das auch so bleibt. Leider wird bei diesem Thema oft so getan, als würde es genügen, das Instrument der Befristung einfach abzuschaffen.
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Ich schaue da einmal ganz gezielt auch nach links in diesem Hohen Haus. Es ist falsch, dass dann alle bisher befristeten Verträge einfach zu unbefristeten Verträgen umgewidmet würden und alle glücklich sein könnten. Aus vielen der Verträge würde in so einem Fall schlicht Arbeitslosigkeit. Da vielfach junge Menschen betroffen sind, dürfen wir hier nicht leichtsinnig handeln.
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Daher ist jetzt vor allem eins wichtig: Sorgfalt bei Eingriffen. Genau diese Sorgfalt vermissen wir Freie Demokraten bei Ihrem Gesetzentwurf. Ich fange einmal mit kleinen Ungenauigkeiten an, nicht weil sie für die Systematik wichtig wären, sondern eher, weil sie in Ihrem Gesetzentwurf Symptome dafür sind, dass etwas eilig gearbeitet wurde – zu eilig.
Sie sprechen von mehr als 3 Millionen Menschen, die befristet beschäftigt sind. Laut Statistischem Bundesamt waren es im Jahr 2016 2,655 Millionen oder anteilig 7,2 Prozent. Interessant ist auch, dass Sie in erster Linie Zahlen der Hans-Böckler-Stiftung heranziehen. Von dieser gewerkschaftsnahen Forschungsstelle gibt es immer wieder interessante Hinweise, aber sicherlich nicht ganz ohne Interessenleitung. Auch in diesem Punkt sind Sie von der AfD in den ersten Monaten, die Sie hier im Hause sind, näher an die Linke herangerückt, als ich das je erwartet hätte.
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Das Kernproblem bei Ihrem Antrag ist jedoch, dass man große Mühe hat, herauszufinden, welchen Mechanismus Sie sich vorstellen, um die in der Tat vorkommende Verkettung von befristeten Verträgen abzustellen. Da habe ich einen ähnlichen Eindruck wie der Herr Kollege Oellers von der CDU. Aus den unklaren Formulierungen, die wir hier vorgelegt bekommen haben, kann man sich nicht leicht ein Bild machen. Aber ich versuche, es einmal so zusammenzufassen: Sie stellen sich vor, dass aus dem bisherigen Vertragsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine Art Befristungsmarkierung auf die Arbeitsstelle an sich gemacht wird. Nicht mehr das Vertragsverhältnis, sondern die Arbeitsstelle soll künftig im Mittelpunkt Ihrer Betrachtungen stehen. Das ist in einer Weise formuliert, die viele Fragen offenlässt. In dieser Form wird Ihr Gesetz in der Tat eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, aber nicht für junge Menschen, sondern für Rechtsanwälte und Arbeitsgerichte.
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Jahrelange Rechtsunsicherheit wäre die Folge, und das ist genau das, was wir in diesem sensiblen Bereich des Arbeitsmarktes am wenigsten brauchen. Man hat auch den Eindruck, dass immer gern auf die freie Wirtschaft gezeigt wird, wenn es um befristete Arbeitsverträge geht, und gesagt wird, dass wir, also der Staat, die Wirtschaft mit sanftem Druck dahin bringen müssen, Befristungen zurückzudrängen. Dabei ist es vor allem der Staat, der Menschen in Befristungsketten schickt.
({5})
Am höchsten ist die Zahl mit 28 Prozent im öffentlichen Dienst der Länder. In den Bundesministerien waren 2017 bis zu 98 Prozent der neuen Arbeitsverträge sachgrundlos befristet. Eher selten und weiter abnehmend sind befristete Stellen dagegen in der Privatwirtschaft. In der Finanzbranche zum Beispiel waren es im Jahr 2016 nur 3,8 Prozent der Arbeitsverträge, und Bau und Industrie bewegen sich mit einem Befristungsanteil von 4,9 Prozent bzw. 6,7 Prozent am unteren Ende des Branchenspektrums. Das bedeutet: Jeder Aktionismus ist jetzt unnötig. Wir müssen bei Eingriffen in den Arbeitsmarkt mit Bedacht vorgehen. Dazu werden wir in den nächsten Monaten die Arbeit der Großen Koalition, die sich das Thema ja auch auf die Fahne geschrieben hat, kritisch begleiten. Ihr Gesetzentwurf leistet da leider keinen sinnvollen Beitrag. Die Freien Demokraten werden ihn daher ablehnen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm spricht für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, wie es Ihnen ging, als Herr Münzenmaier von der AfD bei unserer letzten Debatte zum Thema Befristungen im Februar hier im Plenarsaal eine ganz große Reform des Teilzeit- und Befristungsgesetzes angekündigt hatte. Ich jedenfalls war sehr gespannt, was die AfD liefern würde. Jetzt liegt uns der Gesetzentwurf vor. Mein Fazit: Er bleibt deutlich hinter dem zurück, was SPD und CDU/CSU im Koalitionsvertrag bereits vereinbart haben.
({0})
In unserem Koalitionsvertrag steht auf Seite 12 klipp und klar – ich zitiere –:
Endlose Kettenbefristungen werden abgeschafft.
({1})
Und auf Seite 52 steht – ich zitiere –:
Eine Befristung eines Arbeitsverhältnisses ist dann nicht zulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein unbefristetes oder ein oder mehrere befristete Arbeitsverhältnisse mit einer Gesamtdauer von fünf oder mehr Jahren bestanden haben.
Diese Regelung betrifft wohlgemerkt Befristungen mit Sachgrund, also zum Beispiel Elternzeit- oder Krankheitsvertretungen. Warum, meine Damen und Herren, haben wir uns bei den Befristungen mit Sachgrund – –
({2})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Kollegin?
({0})
Nein, möchte ich nicht.
({0})
Warum haben wir uns bei den Befristungen mit Sachgrund auf die Fünfjahresfrist verständigt? Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, hängt mit der neuen Brückenteilzeit zusammen, die wir schon sehr bald umsetzen werden. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sollen das Recht erhalten, ihre Arbeitszeit bis zu fünf Jahre reduzieren zu können, um dann wieder in die alte Arbeitszeit zurückzukehren. Mit diesem Schritt helfen wir vor allem vielen Frauen aus der Teilzeitfalle.
Zu den Befristungen ohne Sachgrund: Sie sollen künftig nur noch höchstens 18 Monate dauern dürfen. Außerdem wird die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristungen in den Betrieben stark eingeschränkt. Damit helfen wir rund 400 000 Menschen auf dem Weg zu einem unbefristeten Arbeitsvertrag. Das sind die Vorschläge der SPD im Koalitionsvertrag.
({1})
Und nun kommen wir zum Gesetzentwurf der AfD. Hier heißt es: Kettenbefristungen sollen verhindert werden. Die Unterscheidung zwischen Befristungen mit und ohne Sachgrund soll zugunsten einer generellen Regelung aufgehoben werden. Befristungen sollen grundsätzlich zeitlich begrenzt werden. – Das hört sich erst einmal vernünftig an. Bei näherer Betrachtung wird aber schnell deutlich, dass diese Ziele mit dem vorliegenden Gesetzentwurf überhaupt nicht erreicht werden; denn schon beim ersten Punkt, den Kettenbefristungen, sollen Ausnahmen zugelassen werden. So können zum Beispiel Betriebe unter zehn Beschäftigten weiterhin unbegrenzt befristete Arbeitsverhältnisse mit demselben Beschäftigten eingehen.
({2})
In Betrieben dieser Größe arbeiten zurzeit etwa 8,4 Millionen Menschen – das ist fast jeder fünfte Erwerbstätige in Deutschland.
Und wie sieht es damit aus, dass es keine Unterscheidung mehr zwischen Befristungen mit und ohne Sachgrund geben soll? Ich sage: Vorsicht an der Bahnsteigkante! Denn in § 14 Absatz 2 des AfD-Gesetzentwurfes finden wir zahlreiche Ausnahmefälle, in denen eine längere Befristung durch einen „besonderen Grund“ dann doch gerechtfertigt sein soll.
({3})
Und erstaunlicherweise sind die aufgeführten Gründe fast die gleichen, die wir schon heute im Gesetz haben.
({4})
Über einen neuen Grund, den die AfD einführen will, bin ich allerdings gestolpert: Für die AfD ist ein besonderer Befristungsgrund, wenn die Befristung vornehmlich der Qualifikation dient. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das wäre ja ein riesengroßes Einfallstor für Missbrauch. Denn wann endet in der heutigen Zeit der Digitalisierung und des ewigen Lernens die Qualifizierung der Beschäftigten? Dann müssten ja alle nur noch befristete Arbeitsverträge bekommen. Dazu sage ich: Nein danke, AfD!
({5})
Nun zum letzten Punkt: Liest man den AfD-Gesetzentwurf sorgfältig –
Frau Kollegin, Ihre Zeit ist zu Ende.
– ich komme zum Schluss –, fällt auf, dass die besonderen Befristungsgründe der AfD überhaupt kein zeitliches Limit haben. Spätestens hier endet das Märchen der AfD, Befristungen grundsätzlich auf zwei Jahre begrenzen zu wollen, allerdings ohne Happy End für die Beschäftigten.
({0})
Für die Fraktion Die Linke spricht die Kollegin Susanne Ferschl.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Millionen von Beschäftigten sind von befristeten und unsicheren Arbeitsverhältnissen betroffen oder stecken in der Teilzeitfalle. Leider hat die Große Koalition in den vergangenen Jahren die Chance vertan, diese Probleme zu lösen. Wäre dies geschehen, dann müssten wir uns nicht heute Abend hier ausgerechnet mit der AfD über das Teilzeit- und Befristungsgesetz unterhalten.
(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]
Der von der AfD vorgelegte Entwurf soll also jetzt die grundlegende Reform des Teilzeit- und Befristungsgesetzes sein, ein Gesetzentwurf mit Hand und Fuß, der die wahren Probleme löst, so wie Sie es angekündigt haben? Ganz ehrlich, der Gesetzesentwurf ist völlig unzureichend und Augenwischerei.
({0})
Wenn Sie schon einen Gesetzentwurf vorlegen und keinen Antrag, dann lösen Sie doch bitte schön die Probleme vollständig. In Ihrem Entwurf steht nichts zum Rückkehrrecht in Vollzeit; Arbeit auf Abruf bleibt erlaubt, und statt Sachgründen soll es nun sogenannte besondere Gründe geben.
({1})
Wo liegt denn da der Unterschied?
({2})
Zudem bleibt es bei der sachgrundlosen Befristung. Wer Sie kennt, der weiß auch, warum: Von sachgrundloser Befristung sind überwiegend junge Beschäftigte, Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund betroffen. Dieses Problem will die AfD natürlich nicht lösen.
({3})
Sie sind nämlich die Partei der Spaltung, die alle ausschließt, die nicht Ihrem Menschenbild entsprechen:
({4})
Migranten, Muslime und neuerdings auch noch Menschen mit Behinderung.
Wir Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter dagegen stehen für Solidarität, und das hat Leuten wie Ihnen noch nie gefallen. Deswegen hetzen Sie auch ständig gegen die so von Ihnen titulierten Altgewerkschaften.
({5})
Gewerkschaften in den 70er-Jahren haben die sogenannten Gastarbeiter mit offenen Armen empfangen. Die Kolleginnen und Kollegen haben maßgeblich die Streiks geführt, für soziale Errungenschaften, von denen wir heute noch profitieren,
({6})
zum Beispiel die Abschaffung der Niedriglöhne für Frauen. Darauf bin ich stolz.
({7})
Aus langjähriger Erfahrung als Betriebsrätin und Mitglied im europäischen Betriebsrat eines internationalen Konzerns kann ich Ihnen sagen: Wir waren immer dann erfolgreich, wenn wir uns organisiert und über die Grenzen hinaus Solidarität geübt haben.
({8})
Durch internationale Proteste und Streiks ist es uns sogar gelungen, dass 53 Kolleginnen und Kollegen, die in Indonesien nach einem Streik rausgeschmissen worden sind, wieder eingestellt wurden.
({9})
Sie wollen keine solidarische Gesellschaft. Sie geben sich nur den Anschein, die soziale Alternative zu sein. Aber Ihre Anbiederungsversuche sind durchschaubar.
({10})
Bei den Protesten vor zwei Tagen im Opel-Werk in Eisenach, als die Beschäftigten dafür gekämpft haben, ihren Standort zu erhalten, ist Björn Höcke von der AfD vom Hof gejagt worden.
({11})
Und was haben die Beschäftigten dort skandiert? Ihr könnt nach Hause gehen! – Recht hatten sie, meine Damen und Herren. Das ist meine Gewerkschaftsbewegung, mit der Sie von der AfD nichts anfangen können.
({12})
Die Änderungen im Teilzeit- und Befristungsgesetz sind ein gutes Thema. Aber, meine Damen und Herren, dazu brauchen wir nicht die AfD.
({13})
Seitdem es uns Linke gibt, fordern wir: keine Befristung ohne guten Grund, weg mit sachgrundlosen Befristungen,
({14})
Einschränkung der Sachgründe, weg mit Kettenbefristungen.
({15})
Zum Schluss möchte ich noch all meinen Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben, die Tag für Tag hart dafür kämpfen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, Danke sagen, die solidarisch für ihre Rechte einstehen, die es nicht zulassen, dass die AfD mit ihren Spaltungsversuchen und ihrem Populismus durchkommt.
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Die Kolleginnen und Kollegen aus Eisenach haben es uns vorgemacht. Das muss Schule machen.
Vielen Dank.
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Für Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Beate Müller-Gemmeke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Befristungen sind für Beschäftigte ein großes Problem. Es gibt Kettenbefristungen mit Sachgrund, und die sind nicht akzeptabel. Dafür brauchen wir eine zeitliche Begrenzung. Aber das weitaus größere Problem ist, dass die Betriebe einfach so, ohne Grund, befristen können. Deshalb sind Befristungen ja auch kein Normalarbeitsverhältnis; sie sind prekäre Beschäftigung. Genau deshalb wollen wir Grüne sachgrundlose Befristungen abschaffen.
({0})
Jetzt will auch die AfD mit einem Gesetzentwurf angeblich gegen Befristungen vorgehen. Die sachgrundlose Befristung will sie aber nicht abschaffen – im Gegenteil! Sie will stattdessen die Befristungen mit Sachgrund aus dem Gesetz streichen, und das geht gar nicht. Auf diese Idee kommt ja nicht mal die FDP. Befristungen – zwei Jahre lang, ohne Grund, einfach so, willkürlich – werden dann zur Regel. Die Beschäftigten – und das sind ja in großer Zahl junge Menschen – leben dann weiterhin in Unsicherheit und können ihre Zukunft nicht planen. Daran ändert der Gesetzentwurf der AfD rein gar nichts.
({1})
Jetzt läuft das bei der AfD alles unter dem Deckmäntelchen, man wolle Kettenbefristungen abschaffen. Die vorgeschlagenen Regelungen wären aber nur für Unternehmen gut; für die Beschäftigten hätten sie verheerende Auswirkungen. Denn dieser Gesetzentwurf zementiert sachgrundlose Befristungen. Das ist nichts anderes als ein Angriff auf das Normalarbeitsverhältnis, und das ist nicht akzeptabel.
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Aber es kommt noch schlimmer. Bisher ist ja eine erneute sachgrundlose Befristung im selben Betrieb nicht möglich. Die AfD will aber eine Karenzzeit von drei Jahren einführen. Danach könnte dieselbe Person im selben Betrieb wieder sachgrundlos befristet angestellt werden. Gerade Großunternehmen, die bekanntlich am häufigsten befristen, zum Beispiel die Deutsche Post AG, werden sich darüber extrem freuen. Denn so können Beschäftigte jahrelang und sogar dauerhaft in einem Konzern mit seinen Tochtergesellschaften hin- und hergeschoben werden – nach Lust und Laune, willkürlich befristet, und das dann auch noch rechtssicher. Genau so entstehen Kettenverträge, die Sie, die AfD, mit diesem Gesetzentwurf eigentlich verhindern wollen, und das ist einfach nur absurd.
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– Ich beantworte keine Frage. Wir haben heute schon genügend von Ihnen gehört.
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Den Menschen, die von Befristungen betroffen sind, helfen Ihre Ideen keinen Schritt weiter. Stattdessen zeigt dieser Gesetzentwurf wirklich wunderschön, wie gespalten die AfD ist. Noch vor zwei Monaten hieß es hier in diesem Plenum, Sie würden uns einen Gesetzentwurf mit Hand und Fuß präsentieren. Damals dachte die AfD über eine zeitliche Höchstgrenze für Befristungen nach, ebenso über eine höhere Zahlung der Arbeitgeber in die Arbeitslosenversicherung und über eine Abfindungszahlung für die Beschäftigten. Von all dem ist heute nichts mehr zu hören. Das zeigt: Sie geben sich gerne sozial, tatsächlich sind Sie aber im Kern neoliberal.
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Unser Fazit: Dieser Gesetzentwurf ist keine Alternative – er ist einfach nur schlecht. Denn so entsteht noch mehr prekäre Beschäftigung. Wir bleiben dabei: Die sachgrundlose Befristung ist nicht notwendig, und sie ist auch nicht fair. Deshalb muss sie abgeschafft werden. Denn die Menschen brauchen soziale Sicherheit und Perspektiven.
Vielen Dank.
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Der Kollege Torbjörn Kartes hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Können wir dieses Haus kaufen? Bekommen wir dafür überhaupt einen Kredit? Kann ich die größere Wohnung mieten, wenn ich nicht weiß, ob das Geld für die Miete auf Dauer reinkommt? Können wir unter diesen Umständen eine Familie gründen? – Solche Fragen stellen sich Paare, Familien, Singles in Deutschland, die teils seit Jahren in befristeten Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind. Richtig ist: Für diese Menschen müssen wir etwas tun, und wir werden etwas tun. Sie können das in unserem Koalitionsvertrag nachlesen.
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Nun zu Ihrem Gesetzentwurf. Man muss deutlich sagen: Sie haben uns einen echten Placebo-Gesetzentwurf vorgelegt, der den Menschen den Eindruck vermitteln soll, dass Sie die sachgrundlose Befristungen und vor allem Kettenbefristungen abschaffen wollen. Gleichzeitig schaffen Sie neue, besondere Gründe, aufgrund derer eine Befristung des Arbeitsverhältnisses deutlich länger als 24 Monate möglich sein soll. Wenn man diese mit der bisherigen Rechtslage vergleicht, dann stellt man fest, dass Ihre neuen, ganz besonderen Gründe, zumindest teilweise, fast wortgleich den bisherigen Sachgründen für eine Befristung entsprechen.
Ihre besonderen Gründe sind im Übrigen auch so formuliert, dass sie Arbeitgebern, die unbedingt befristen möchten – aus der Praxis gesprochen –, genügend neue Möglichkeiten eröffnen würden, einen Weg zu finden, wieder zu befristen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Eine Befristung des Arbeitsverhältnisses soll deutlich länger als 24 Monate möglich sein, wenn es vornehmlich der Qualifikation des Arbeitnehmers gilt. Wenn ich also einen Mechatroniker einstelle und ihn über Jahre hinweg zum Techniker oder zum Meister ausbilde: Dient das dann primär seiner Qualifikation? – Ich finde, man kann darüber diskutieren. Wenn das so wäre, dann wäre laut Ihrem Gesetzentwurf eine Befristung wieder möglich.
Am Wortlaut Ihres Gesetzentwurfs kann ich nicht erkennen, dass Kettenbefristungen mit Ihrer Neuregelung nicht mehr funktionieren sollten. Sie können auch nach dieser Regelung einen Mitarbeiter zunächst sachgrundlos befristen und im Anschluss, übrigens ohne Obergrenze, seinen Vertrag aus besonderem Grund weiter befristen. Es könnten sogar mehrere besondere Gründe hintereinander auftreten.
Insgesamt kann uns der vorliegende Gesetzentwurf nicht überzeugen. Er verfolgt zwar durchaus legitime Ansätze, er ist handwerklich aber wirklich schlecht gemacht und löst vor allen Dingen nicht das Problem der Kettenbefristungen.
({1})
Ich weiß nicht, wann Sie den Gesetzentwurf tatsächlich verfasst haben, vielleicht schon vor Abschluss des Koalitionsvertrages; immerhin sprechen Sie in Ihrer Vorlage nur vom Koalitionsvertragsentwurf, auf den Sie sich beziehen. Hätten Sie den aktuellen Koalitionsvertrag zur Kenntnis genommen, wüssten Sie jedenfalls, dass CDU/CSU und SPD die Abschaffung von Kettenbefristungen bereits vereinbart haben.
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Die Dauer von befristeten Arbeitsverhältnissen wird gesetzlich auf maximal fünf Jahre begrenzt, bei Befristungen mit Sachgrund sogar auf maximal 18 Monate, sodass Kettenbefristungen nicht mehr beliebig möglich sind. Im Gegenteil: Nach fünf Jahren ist Schluss. Ich halte es für deutlich besser, unter Beibehaltung unserer bisherigen Sachgründe, mit einer klaren Obergrenze zu arbeiten als mit Ihren neuen, besonderen Gründen ohne klaren zeitlichen Rahmen.
Ich glaube, dass das ein Kompromiss ist, den man am Ende gehen kann und mit dem auch Arbeitgeber leben werden können. Für viele oft schon länger befristet beschäftigte Mitarbeiter wird sich durch unser Gesetzgebungsvorhaben die eigene Lebenssituation deutlich verbessern.
Vielen Dank.
({3})
Der nächste Redner ist der Kollege Bernd Rützel von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich prinzipiell, wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass Befristungen unbedingt begrenzt werden müssen.
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Ich freue mich, dass vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die jetzt darunter leiden, dass sie ihren Lebensplan nicht so gestalten können, wie sie das wollen, dass sie keine Familien gründen oder keine Wohnung kaufen können, weil sie oftmals keinen Kredit bekommen, geholfen wird, besser planen zu können. Viele fühlen sich als Menschen zweiter Klasse. Sie haben Angst, ob ihr Vertrag verlängert wird. Sie engagieren sich selten für den Betriebsrat und leisten oftmals unbezahlte Mehrarbeit. Es kann und darf nicht sein, dass Beschäftigte über Jahre hinweg von einer Befristung in die nächste stolpern. Es darf nicht sein, dass diese Unsicherheit endlos ist.
Jetzt lese ich in Ihrem Entwurf, dass Sie die Kettenbefristung reduzieren möchten. Handwerklich ist er – ich möchte das schön ausdrücken – nicht gut gemacht.
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Sie kommen auch leider viel zu spät; denn in den Koalitionsverhandlungen haben wir verabredet, dass es künftig keine Befristungen mehr geben kann, wenn man mit demselben Arbeitgeber vorher ein unbefristetes Arbeitsverhältnis abgeschlossen hatte oder bereits ein oder mehrere Arbeitsverhältnisse – bis zu einer Gesamtdauer von fünf Jahren – vorlagen; wir haben das schon öfters gehört. Diese Höchstdauer erstrecken wir auch auf vorherige Entleihungen. Wir nehmen also auch die Leiharbeiter in diese Regelung hinein. Das ist ganz wichtig. Das ist ein Meilenstein. Ein erneutes befristetes Arbeitsverhältnis mit demselben Arbeitgeber ist dann erst nach drei Jahren wieder möglich. Nach einem unbefristeten Arbeitsverhältnis kann kein befristeter Vertrag mehr abgeschlossen werden. Das ist ein Riesenvorteil. Ich freue mich, dass wir das umsetzen werden.
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Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf, man könne davon ausgehen, dass auch eine sachgrundlose Befristung immer vor dem Hintergrund einer betrieblichen Überlegung und daher aus sachlichem Grund erfolgt. Das steht auf Seite 6 Ihres Gesetzentwurfs. So blauäugig wäre ich diesbezüglich nicht. Ich sehe das nicht so, dass Befristungen immer vor dem Hintergrund einer betrieblichen Überlegung und damit aus sachlichem Grund erfolgen. Es ist nicht in Ordnung, wenn ein Arbeitgeber das anspricht.
Mein Anspruch an die Politik ist, dass wir Leitplanken setzen und sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer innerhalb dieser Leitplanken gut bewegen können. Ich möchte, dass sie damit gut fahren.
Das IAB hat uns bestätigt, dass wir mit diesen im Koalitionsvertrag vorgesehenen Änderungen den größten Eingriff in das Befristungsrecht seit 1985 vornehmen. Das nutzt 400 000 Menschen. 1985 bin ich selber als Jugendvertreter auf die Straße gegangen und habe gegen die von Helmut Kohl geplante Einführung der sachgrundlosen Befristung demonstriert. Damals waren Sie, Herr Kleinwächter – Sie können nichts dafür –, noch nicht geboren.
Wir werden die Höchstdauer für sachgrundlose Befristungen von 24 auf 18 Monate verkürzen. Insgesamt ist das ein wichtiger Meilenstein, über den wir in der SPD lange und gut diskutiert haben. Dieses Thema hat uns angetrieben, in die Koalition zu gehen. Ich freue mich, dass wir das umsetzen. Das wird vielen Menschen in diesem Land helfen. Das ist ein Weg in Richtung einer arbeitnehmerfreundlichen Politik. Das gilt leider nicht für Ihren Gesetzentwurf.
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Der letzte Redner in der heutigen Debatte ist Max Straubinger von der CDU/CSU-Fraktion.
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Ich muss mich korrigieren: Der letzte Redner vor Sonnenaufgang. Danach geht es weiter.
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Lieber Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir befinden uns zu vorgerückter Stunde. Manchmal fragt man sich, ob das alles so sein muss; das sage ich ganz offen.
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Ich glaube, dass über den Gesetzentwurf bereits viel Richtiges gesagt worden ist. Deshalb möchte ich meine Ausführungen beschränken: Wir halten nichts davon, dass die sachgrundlose Befristung abgeschafft wird. Die AfD will sie abschaffen. Ich glaube, sie ist weiterhin notwendig für einen flexiblen Arbeitsmarkt.
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Darüber hinaus ist auch die sachlich begründete Befristung weiterhin notwendig, und zwar für einen größeren Zeitraum, als die AfD das hier vorschlägt.
Über diesen Gesetzentwurf werden wir im Ausschuss sicherlich sehr intensiv diskutieren. Wir haben entsprechende Gegenvorschläge unterbreitet, die in unserem Koalitionsvertrag niedergelegt sind. Diese werden wir zum Segen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch der Betriebe umsetzen.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Alles Gute für heute Nacht.
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Meine Fraktion möge mir verzeihen; ich habe zwei Minuten und 34 Sekunden hergeschenkt.
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Das gleichen wir irgendwann wieder aus, Max.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 19/1841 an den Ausschuss für Arbeit und Soziales vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir sind am Schluss der Tagesordnung.
Die nächste Sitzung beginnt in 7 Stunden und 50 Minuten, wenn Sie alle um 9 Uhr wieder da sind.
Nutzen Sie die Zeit! Gute Nacht!
(Schluss: 1.10 Uhr)