Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jüngst kündigte der russische Präsident in einer Rede zur Lage der Nation neue offensive Waffensysteme an, die das Nuklearpotenzial von Russland erheblich erweitern sollen. Auch China, Indien, Pakistan rüsten beträchtlich auf, und die USA setzen die bereits begonnene Modernisierung ihres Nuklearwaffenarsenals fort. Noch viel beunruhigender ist die Tatsache, dass das Tabu, Chemiewaffen einzusetzen, vielfach gebrochen worden ist. Wir haben darüber gestern gesprochen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerne würde ich zu Beginn der Diskussion über den Jahresabrüstungsbericht 2017 anderes berichten, aber die aktuelle sicherheitspolitische Lage zwingt uns dazu, zu erkennen – und es führt kein Weg daran vorbei, dies zu erkennen –: Die Zeichen stehen in vielen Teilen der Welt auf Aufrüstung – leider. Gleichzeitig erodiert die weltweite wie auch speziell die europäische regelbasierte und kooperative Abrüstungs- und Rüstungskontrollarchitektur. Kaum eines der Regime, die jahrzehntelang zu unserer Sicherheit in Europa beigetragen haben, funktioniert noch in vollem Umfang. So ist seit über zehn Jahren der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa durch Russland einseitig suspendiert.
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Und es stimmt: Auch andere Vertragsparteien, im Kaukasus zum Beispiel, erfüllen diesen nicht in allen Punkten. Die USA und Russland werfen sich gegenseitig vor, den INF-Vertrag zu verletzen, anstatt konstruktiv die besorgniserregenden Vorwürfe wechselseitig auszuräumen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie soll man mit dieser sicherheitspolitischen Großwetterlage umgehen? Unsere Aufgabe ist es, den Schutz und die Sicherheit der Menschen in unserem Land, aber auch darüber hinaus zu gewährleisten, jeder militärischen Eskalation strikt entgegenzuwirken und auf allen Ebenen für politische Lösungen zu kämpfen.
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Die NATO-Partner haben beim Warschauer Gipfel 2016 einvernehmlich beschlossen, die konventionellen Verteidigungsfähigkeiten zu optimieren. Vor allem aber, meine Damen und Herren, stärken Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung unsere Sicherheit. Das zeigt der Ihnen vorliegende Bericht außerordentlich anschaulich. Hier wird es notwendig sein, zusätzliches Engagement zu zeigen. Dies muss aus unserer Sicht drei Ziele verfolgen.
Erstens. Wir müssen alles daransetzen, die bestehende Abrüstungs- und Rüstungskontrollarchitektur zu erhalten. Das bedeutet vor allem Eskalationsvermeidung durch Transparenzbildung und Dialog, auch um bereits verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Deshalb setzen wir uns zum Beispiel in Gesprächen mit Russland und den anderen OSZE-Staaten für den Erhalt und, wo nötig, auch die Modernisierung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa ein.
Zweitens. Wir müssen auch akute Proliferationsrisiken minimieren. Wir wissen alle: Nordkoreas völkerrechtswidrige Nuklear- und Raketenprogramme bedrohen den Frieden und die Sicherheit nicht nur in der dortigen Region, sondern weltweit. Deutschland steht deswegen hinter dem Doppelansatz aus Sanktionsdruck, aber vor allen Dingen auch Dialog. Gleichzeitig begrüßen wir trotz aller Skepsis, die man dabei haben kann, jede diplomatische Bemühung, die zu einer verbindlichen und überprüfbaren Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel führt; denn wir müssen auch im Hinterkopf behalten: Wenn es nicht gelingt, die nordkoreanische nukleare Bewaffnung zu beenden, droht die Entstehung weiterer Nuklearwaffenstaaten in Ostasien.
In dieser Situation sollten wir alles dafür tun, dass eine bereits weitgehend eingehegte Krise, der Konflikt über das iranische Nuklearprogramm, nicht wieder ausbricht. Die Unsicherheit über die Zukunft der Wiener Nuklearvereinbarung ist alles andere als hilfreich. Wir haben daher ein überragendes Interesse daran, dass die Wiener Nuklearvereinbarung erhalten bleibt. Als E-3-Außenminister setzen wir uns gerade sehr intensiv, auch gegenüber den Vereinigten Staaten, dafür ein, dass das nach dem 12. Mai so bleibt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Drittens. Wir dürfen – das ist ebenfalls sehr wichtig – das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt nicht aus den Augen verlieren. Wir gehen dabei nicht – darüber haben wir hier vor einigen Wochen schon ausführlich diskutiert – den Weg des Atomwaffenverbotsvertrages. Unser zentraler Eckpfeiler und Kompass ist und bleibt der nukleare Nichtverbreitungsvertrag. Da gilt es, das Erreichte – das ist nicht wenig – zu bewahren. Dafür setzen wir uns auch gegenüber unseren G-7-Partnern ein, die sich am kommenden Wochenende in Toronto treffen werden. Denn wir hier in Deutschland haben den Anspruch, die Rahmenbedingungen für die nuklearwaffenfreie Welt aktiv mitzugestalten; und das werden wir auch auf diesem Treffen tun.
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Wir können hier bereits Erfolge verbuchen. Maßgeblich auf deutsches Betreiben hin sind die Verhandlungen über ein Verbot zur Herstellung von waffenfähigem Spaltmaterial ein gutes Stück nähergerückt. Fortschritte im Bereich der nuklearen Abrüstung sind auch darüber hinaus möglich, und das, obwohl wir sicherlich in sicherheitspolitisch schwierigen Zeiten leben. Das haben die USA und Russland im Februar dieses Jahres schon gezeigt. Sie haben die im Rahmen des New-START-Vertrages vereinbarten Obergrenzen für einsatzbereite strategische Nuklearwaffen erreicht. Das ist ein gutes Zeichen für die Verlängerung des Vertrages, die demnächst ansteht; und diese Verlängerung brauchen wir für die Sicherheit in Europa und auch darüber hinaus.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen: Über Sicherheit in Europa, in Deutschland und auf der Welt brauchen wir eine offene und realistische Debatte, und die wollen wir heute führen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner ist der Kollege Hampel, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Liebe Gäste im Deutschen Bundestag! Ich staune immer, Herr Bundesaußenminister, wenn die Deutschen ihre Weltsicht darlegen. Wir wollen in der Korea-Frage mitmischen, wir wollen in Syrien dabei sein, wir wollen zu einem Ausgleich in der Welt beitragen.
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– Was haben Sie für ein Problem?
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Wir wollen immer bei Dingen mitreden, bei denen Deutschland im Grunde genommen kein Gewicht hat.
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Sie werden es erleben: Wenn die Amerikaner sich in der Tat entscheiden sollten, den Vertrag mit dem Iran aufzugeben, dann werden wir Deutschen daran nichts ändern, meine Damen und Herren. Auch an dem Dialog zwischen Nord- und Südkorea oder gar den USA und Nordkorea werden wir wahrscheinlich nicht teilhaben.
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Nun wird hier ein Abrüstungsbericht vorgelegt. Wissen Sie was: An sich erwarte ich von Frau von der Leyen erst einmal einen Rüstungsbericht; denn in dem Zustand, in dem die Bundewehr ist, müssen wir erst einmal nachlegen, bevor man uns in der Welt wieder ernst nimmt.
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Ich habe in meinem journalistischen Beruf über 20 Jahre Verteidigungs- und Außenpolitik begleitet, und ich habe damals immer wieder gehört, dass man nach dem aus dem Lateinischen stammenden Spruch „Willst du den Frieden, rüste dich für den Krieg“ ein abgestuftes Potenzial haben muss, um ernst genommen zu werden. Wenn wir im konventionellen Bereich schon nicht dazu in der Lage sind, weil unsere Panzer nicht mehr fahren, unsere Flugzeuge und Hubschrauber nicht mehr fliegen und unsere U-Boote an Land bleiben, dann werden wir dieses konventionelle Potenzial auch nicht als überzeugendes Argument in die Diskussion einbringen können. Wir haben in den vergangenen Jahren, angefangen mit Herrn Guttenberg, Milliarden in den Verteidigungsetats eingespart, bis wir jetzt auf amerikanischen Druck auf die Idee kommen, wir müssten jetzt ein bisschen nachlegen, um überhaupt wieder auf ein Niveau zu kommen, damit andere Länder uns ernst nehmen.
Den Einsatz der Bundeswehr in den verschiedenen Bereichen der Welt wollen übrigens die meisten Deutschen nicht. Wir wollen keine Teilhabe in Syrien, in Afghanistan, in Regionen, wo wir erstens den Schaden nicht angerichtet haben und zu denen wir zweitens auch keine historische Beziehung haben. Länder wie Syrien, Irak und andere Nahoststaaten sind doch zuallererst einmal auf die Vereinigten Staaten von Amerika angewiesen; denn die haben mit dem Irakkrieg die Konflikte begonnen. Derzeit befindet sich der Nahe Osten fast durch die Bank weg in Aufruhr und Instabilität. Deshalb ist das zuallererst Aufgabe der Amerikaner und dann vielleicht der ehemaligen Kolonialländer. Denn seien wir ehrlich, meine Damen und Herren: Wir räumen derzeit den postkolonialen Schrott von Großbritannien und Frankreich auf. Und da war Deutschland in der Vergangenheit eben nicht beteiligt. Deshalb sind diese Länder zuallererst in der Verantwortung und müssen ihren Beitrag leisten.
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Es wird hier immer darüber gesprochen, dass man nuklear abrüsten müsse. Ja, das wollen wir alle. Wir wollen vor allen Dingen, dass Länder wie Pakistan, Indien, aber vielleicht auch Israel nicht unbedingt über große Atomwaffenpotenziale verfügen, am besten über gar keine Atomwaffen. Aber wir wissen auch, dass die nukleare Verteidigungskomponente über Jahrzehnte den Frieden in Europa garantiert hat. Und dann müssen wir dem Bürger auch ernsthaft und ehrlich sagen: Auch diese ist ein Teil der Abschreckung, nicht gegen irgendjemanden, sondern sie einfach – wie heißt es so schön? – als System der kollektiven Verteidigung – das ist die NATO – zu haben, hat potenzielle Gegner politisch davon abgeschreckt, in Europa gefährliche Dinge einzugehen. Das ist das alles Entscheidende.
In Ihrem schönen Abrüstungsbericht werde ich auf 170 Seiten mit Details zugeschüttet. Das will kein Mensch wissen.
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Ich möchte Ihre Generallinie wissen. Ich möchte wissen: Was haben Sie erreicht? Welche Ziele setzen Sie sich für die Zukunft? Das steht nämlich nicht in diesem Bericht. Das will aber die deutsche Bevölkerung hören, meine Damen und Herren.
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Also seien wir gegenüber unseren Landsleuten ehrlich
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und sagen ihnen: Wir brauchen eine konventionelle Rüstung, die überzeugt. Unsere Panzer müssen wieder fahren, die Flugzeuge wieder fliegen und die Schiffe in See stechen. Und wir müssen genauso mit unseren NATO-Partnern eine Flexible Response in der nuklearen Abschreckung erreichen, die überzeugend ist für jeden, der Unruhe in Europa stiften will. Sie wissen, Sie erreichen das nicht mit Sanktionen – dann verhandelt keiner mit Ihnen, Herr Maas –, sondern mit einem Gespräch in Moskau. Gespräche mit Moskau statt Sanktionen garantieren den europäischen Frieden. Dahin müssen wir. Das muss das deutsche Ziel sein.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Jürgen Hardt, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, dass der von der Bundesregierung vorgelegte Bericht ein erfreuliches Beispiel dafür ist, dass man durch Präzision und gebündelte Information den Erkenntnisfortschritt im Parlament tatsächlich fördert. Ich finde den vorgelegten Bericht ausgezeichnet. Ich finde es gut, dass wir solche Debatten hier im Deutschen Bundestag haben und regelmäßig darüber beraten.
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Ich möchte auf drei besondere Aspekte eingehen.
Der erste Aspekt betrifft die Frage der nuklearen Aufrüstung von Iran und Nordkorea. Deutschland hat an der Seite der fünf ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat intensiv an führender Stelle für das Nuklearabkommen mit dem Iran gekämpft. Wir haben natürlich auch weitere Fragen an die iranische Politik bezüglich ihrer Aggressivität gegenüber Israel und ihrer Unterstützung der Terroristen im Jemen. Aber wir sind der Meinung, dass dieser Vertrag ein Fortschritt gegenüber dem Zustand ist, der vor dem Vertrag bestanden hat. Deswegen kämpfen wir dafür, dass dieser Vertrag erhalten bleibt. So hat er ja auch die Sicherheit des Staates Israel gegenüber dem Zustand, der vorher herrschte, erhöht.
Wir werden am 12. Mai eine wichtige Entscheidung in Amerika erleben. Ich danke der Bundesregierung dafür – sie hat die volle Unterstützung der Regierungskoalition –, dass sie mit den Amerikanern gemeinsam einen Weg sucht, der es dem amerikanischen Präsidenten trotz der Dinge, die er im Wahlkampf gesagt hat und seinen Wählern versprochen hat, letztlich ermöglicht, an diesem Vertrag festzuhalten. Wenn man mit Generalen und Politikern in Israel spricht – die israelische Regierung ist diesem Vertrag gegenüber ja negativ eingestellt –, hört man hinter den Kulissen eben oft auch: Wir würden uns mehr wünschen, aber diesen Vertrag über Bord zu werfen, ist keine gute Politik im Sinne der Sicherheit des Staates Israel. – Dieser begeht ja in diesen Tagen seinen 70. Geburtstag, zu dem wir herzlich gratulieren.
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Der zweite Aspekt, auf den ich eingehen will, ist die Frage nach chemischen Waffen. Wir haben ein völkerrechtlich sehr strenges Regime, was das Verbot chemischer Waffen angeht. Aber wir wissen, dass in dieser Welt chemische Waffen weiterhin existieren. Wir haben Beispiele dafür, dass sie leider auch eingesetzt werden: entweder im Krieg wie in Syrien in den vergangenen Wochen und in vielen Fällen davor oder im Bereich krimineller Handlungen, wie wir es im Fall Skripal in Großbritannien erlebt haben.
Das völkerrechtliche Regime gegen Chemiewaffen ist nur dann wirksam durchsetzbar, wenn alle Vertragsparteien, wenn alle Partner, die den Vertrag von 1997 unterschrieben haben, Unterstützung dabei leisten, dass dieser Vertrag durchgesetzt werden kann, dass sie dann, wenn die Behörde in Den Haag ermittelt, woher eine chemische Waffe kommt, die Türen von Instituten, Laboren und Lagern öffnen, in denen möglicherweise solche Waffen hergestellt worden sind und vielleicht noch entsprechende Bestände vorhanden sind. Wenn einzelne Partner, in diesem Zusammenhang sei namentlich Russland genannt, den Zugang und die Öffnung ihrer entsprechenden Labore verweigern, dann ist es natürlich nicht möglich, einen so sicheren Beweis über die Herkunft des Stoffes zu führen, wie wir uns das wünschen würden. Das wäre möglich, wenn die Inspektoren tatsächlich in die entsprechenden Labore gehen könnten. Insofern ist es die Pflicht eines jeden Unterzeichners dieses Abkommens, nicht nur die entsprechenden chemischen Waffen zu vernichten bzw. entsprechend dem Abkommen gar nicht zu produzieren, sondern auch das Verifikationsregime, das dahintersteht und erforderlich ist, nach Kräften zu unterstützen. Das ist mein Appell an Russland.
Der dritte Aspekt, auf den ich eingehen möchte, ist die Frage des Mittelstreckenraketenvertrags aus den 80er-Jahren zwischen den USA und Russland bzw. damals der Sowjetunion. Die Frage der Stationierung von atomaren Mittelstreckenwaffen in Europa hat Anfang der 80er-Jahre die öffentliche Meinung in Deutschland und in anderen Teilen Europas gespalten, und sie hat zum Bruch einer Bundesregierung geführt. Es war ein enormer Quantensprung in der Friedenspolitik, dass es gelungen ist, die landgestützten Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5 000 Kilometern in Europa komplett abzuschaffen. Im Übrigen hätten die Anhänger der Friedensbewegung Anfang der 80er-Jahre gar nicht zu erträumen gewagt, dass tatsächlich schon wenige Jahre später diese Waffen komplett verschwinden.
Wir haben jetzt Anzeichen dafür, dass durch neue Technologie und Modernisierung möglicherweise dieser Vertrag infrage steht. Ich plädiere und appelliere an die Bundesregierung und alle Beteiligten, mit aller Effizienz und Sorgfalt zu untersuchen, ob die Vorwürfe, die im Raum stehen, tatsächlich berechtigt sind, dass nämlich die SSC-8-Raketen Russlands möglicherweise diesen Vertrag verletzen, oder ob das eben nicht der Fall ist. Ich appelliere, dass wir uns diesem Thema intensiv widmen, weil es für die Sicherheit Deutschlands und Europas von so großer und tragender Bedeutung ist.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Alexander Müller, FDP.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um zu Abkommen zur Abrüstung zu kommen, ist ein zäher und oft Jahrzehnte dauernder Prozess nötig. Trotzdem muss immer wieder neu versucht werden, durch internationale Verhandlungen Fortschritte zu erreichen. Der Abrüstungsbericht der Bundesregierung macht deutlich, wie mühselig die internationalen Bemühungen um Abrüstung sind. Wir begrüßen dabei die vielfältigen Aktivitäten, die im vorliegenden Abrüstungsbericht dokumentiert sind.
Es gibt immer wieder Rückschläge bei der Verlängerung und der Kontrolle der Verträge. Trotzdem ist es seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges international gelungen, durch hartnäckige Abrüstungsverhandlungen die Anzahl der nuklearen Sprengköpfe von 64 000 auf heute 15 000 zu reduzieren. So wurden in 30 Jahren immerhin schon drei Viertel des Weges zu Global Zero zurückgelegt, also zu dem Ziel einer Welt ohne Nuklearwaffen. Wir Freien Demokraten verlieren dieses Ziel nicht aus den Augen. Dieser Weg zur atomwaffenfreien Welt muss weiter beschritten werden.
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Trotzdem mussten wir durch Erfahrung lernen, dass dieser Weg nicht über den einseitigen Totalverzicht auf nukleare Abschreckung führt, so wie ihn Grüne und Linke hier beantragt haben. Auch hier in Europa gibt es immer noch Kräfte, die das Völkerrecht mit Füßen treten, die das Budapester Memorandum und die Schlussakte von Helsinki erst unterzeichnen, um dann beides zu brechen. Solange es Mächte gibt, die in militärisch aggressiver Weise ihre friedlichen Nachbarn unterwerfen wollen, müssen wir uns durch Abschreckung selbst verteidigen können. Das ist unsere feste Überzeugung.
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In drei Wochen entscheidet sich die Zukunft des Iran-Abkommens, mit dem es gelungen ist, Iran zu verpflichten, Nukleartechnologie ausschließlich friedlich zu nutzen und die Einhaltung wirksam überprüfen zu lassen. Iran hat sich an alle Regeln gehalten und hat heute kein hochangereichertes Nuklearmaterial mehr. Trotzdem denkt der amerikanische Präsident laut über eine Kündigung dieses Abkommens nach. Es wäre das Ende der Früchte jahrzehntelanger Bemühungen um die Eingrenzung der Verbreitung von Atomwaffen. Wir appellieren an die Bundesregierung und an den französischen Präsidenten, der heute hier in Berlin zu Gast ist, bei ihren Gesprächen kommende Woche in Washington alle diplomatischen Kanäle zu nutzen und auf Präsident Trump einzuwirken, damit dieses Abrüstungsabkommen eingehalten und nicht zerstört wird.
Dasselbe gilt natürlich für den Friedensprozess in Korea. Hier öffnet sich gerade ein Fenster für einen Dialog mit dem nordkoreanischen Präsidenten, der zu einem Friedensprozess der koreanischen Staaten und zu einer Wiedereinbindung Nordkoreas in internationale Nuklearabkommen führen kann. Auch hier müssen wir Europäer alle Gesprächsmöglichkeiten nutzen, insbesondere bei der Gelegenheit in der amerikanischen Hauptstadt nächste Woche, wenn die Kanzlerin auf den amerikanischen Präsidenten trifft.
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Die Ereignisse der letzten Wochen haben uns gezeigt, wie wichtig das Thema Rüstungskontrolle nach wie vor ist. Die Vergiftung der Familie Skripal und der Einsatz von Chemiewaffen in Syrien zeigen: Es ist unfassbar, dass 100 Jahre nach der Ächtung von biologischen und chemischen Waffen durch das Genfer Protokoll und viele weitere Abkommen danach heute noch immer solche Waffen eingesetzt werden.
Die UNO will aktiv untersuchen, wer im syrischen Duma Giftgas eingesetzt hat, doch das Untersuchungsteam der OPCW wird ständig hingehalten, wird beschossen, und die Aufklärung wird systematisch behindert. Im UNO-Sicherheitsrat blockiert Russland Resolutionen zur Sanktionierung der Giftgaseinsätze. Es ist für uns unerträglich, ohnmächtig zuschauen zu müssen, wie in Syrien seit Jahren immer und immer wieder Giftgas gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt wird.
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Umso unverständlicher ist für uns, wenn die Fraktion Die Linke dann bei den Beratungen in den Gremien dieses Hauses spekuliert, die Giftgaseinsätze könnten ja von interessierten westlichen Kreisen inszeniert worden sein.
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Angesichts der erdrückenden Faktenlage ist das schlicht zynisch gegenüber den ermordeten Giftgasopfern.
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Wir sollten in diesem Haus alle ein Interesse daran haben, dass die Aufklärung der Giftgaseinsätze nicht länger behindert wird, und nicht mit kruden Verschwörungstheorien das weitere Verwischen von Spuren betreiben.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Maas, Sie als Minister des Auswärtigen haben die Schwierigkeiten bei internationalen Abrüstungsbemühungen beklagt und auf die Gefährdung des Vertrages über die Begrenzung der nuklearen Mittelstreckenraketen hingewiesen. Ihre Hauptsorge ist Russland. Das ist nur alles in hohem Maße unglaubwürdig, wenn man die Aufrüstung im Westen und in Deutschland und die Einseitigkeit der Vorverurteilungen und Maßnahmen im Westen, speziell auch in Deutschland, beobachtet.
Sie wiesen zum Beispiel darauf hin, dass der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa von Russland gekündigt wurde – Russland ist ausgetreten –; aber Sie verschweigen, dass sämtliche NATO-Staaten die Ratifizierung abgelehnt haben und Russland deshalb ausgestiegen ist.
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Russland – das stimmt – holte sich völkerrechtswidrig die Krim, stützte sich aber darauf, dass die NATO mit Deutschland völkerrechtswidrig, das heißt, unter Verletzung der territorialen Integrität, ohne Zustimmung Serbiens, das Kosovo abtrennte. Damals habe ich Sie gewarnt, dass Sie damit ein negatives völkerrechtswidriges Beispiel schaffen, aber es interessierte Sie nicht, weil der Westen so sehr gegen Russland siegte, dass er meinte, das Völkerrecht nicht mehr zu benötigen.
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Darauf stützen sich im Übrigen auch die Katalanen und die Menschen im Nordirak. Übrigens: Wer nicht aufhören kann, zu siegen, wie bei der Herstellung der deutschen Einheit, bezahlt eines Tages dafür. Jetzt ist es weltweit und in Europa so weit.
Der Krieg der USA und anderer gegen den Irak war völkerrechtswidrig. Sie waren vom Irak nicht angegriffen worden, und es gab auch keinen Sicherheitsratsbeschluss. Der Krieg der Türkei gegen Syrien ist völkerrechtswidrig. Wieder gab es keinen Angriff, keinen Sicherheitsratsbeschluss.
Gegen Russland wurden umfangreiche Sanktionen beschlossen, gegen die USA und die Türkei wagen Sie nicht einmal darüber nachzudenken. Sie werden eine Gleichbehandlung ablehnen, aber vergessen, dass Putin und die russische Bevölkerung die unterschiedliche Behandlung durch die gesamte EU mitbekommen. Deshalb unterstützt – leider – Putin jetzt alle Kräfte gegen die EU. Mit anderen Worten: Das beweist schon, wie falsch diese Aktionen sind und dass sie endlich aufgehoben werden müssen.
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Übrigens: Der Militärschlag der USA, Großbritanniens und Frankreichs gegen Syrien war ebenfalls völkerrechtswidrig – wieder kein Angriff, wieder kein Sicherheitsratsbeschluss.
Das große Problem besteht demnach in dem absichtsvollen Abschied von einer Sicherheitskultur des Dialogs, des Respekts und der gemeinsamen Sicherheit in den internationalen Beziehungen. Ich sehe keine Bemühungen, dahin zurückzukehren. Im Gegenteil: Es ist fatal, dass Sie erst glaubten, die russischen Kooperationsangebote, die Putin 2001 hier im Bundestag in Fragen der Wirtschaft und der Sicherheit gemacht hat, ignorieren zu können, und nun den Konfrontationskurs der USA ohne Sinn und Verstand mittragen.
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Die NATO will mit Zustimmung der Bundesregierung pro Mitgliedsland 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Militär ausgeben. US-Präsident Trump rief Europa zu, dass das nun endlich zu verwirklichen sei. Sofort riefen Frau Merkel und Frau von der Leyen hier: Wir sind artig, wir machen das. – Sie wissen es möglicherweise nicht, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, aber man darf zu Herrn Trump auch Nein sagen.
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Allerdings braucht man dafür etwas Kreuz im Rücken.
2017 wurden 37 Milliarden Euro für Militär ausgegeben. Das waren schon 2 Milliarden Euro mehr als 2016. Es waren aber erst 1,22 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In diesem Jahr sollen es schon 38,5 Milliarden Euro sein. Nur zum Vergleich: Für Bildung und Forschung wollen Sie 17,5 Milliarden Euro und für Gesundheit 15,2 Milliarden Euro ausgeben, also deutlich weniger als für Militär und Rüstung. Wenn Sie 2024 das 2-Prozent-Ziel wirklich erreichen wollen, müssten Sie 75 Milliarden Euro für Rüstung und Militär ausgeben – eine gigantische Aufrüstung, eine gigantische Verschleuderung von Steuermitteln,
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und das alles, obwohl es keinen einzigen Staat gibt, der die Absicht hat, Deutschland militärisch anzugreifen. Natürlich lancieren Sie Meldungen in den Medien, woran es der Bundeswehr überall fehlt. Auch die Berichte über die internationalen Spannungen sollen dazu beitragen, die Bevölkerung von der Notwendigkeit der Rüstung zu überzeugen. Aber die Mehrheit trägt das nicht mit.
Die Bundeswehr ist derzeit an 14 Auslandseinsätzen beteiligt, mit bis zu 3 600 Soldatinnen und Soldaten. Ich will ganz kurz auf drei Beispiele eingehen.
Afghanistan: Der Einsatz läuft seit 2001, also schon über 16 Jahre. Der Einsatz war von Anfang an falsch; aber Sie mussten ja mitmachen und haben damit eine Situation geschaffen, die so instabil ist, wie man es sich kaum vorstellen kann. Statt Abzug hat die Bundestagsmehrheit nun sogar eine Aufstockung der Truppenstärke beschlossen. Deutlicher kann man das Scheitern nicht zeigen.
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Der Kosovo: Der Einsatz läuft seit 1999 – das sind bald 20 Jahre –, nach einer Beteiligung an einem völkerrechtswidrigen Krieg. Wie lange soll die Anwesenheit unserer Soldaten im Kosovo noch dauern? 100 Jahre? Was haben Sie da eigentlich für Vorstellungen?
Jordanien und Türkei: Überwachung des syrischen Luftraums. Alle Daten, die unsere Soldaten einsammeln, gehen an die Allianz gegen den „Islamischen Staat“. Zu dieser Allianz gehören auch die USA, Großbritannien und Frankreich und die Türkei. Sie alle bekommen die Daten und nutzen sie. Die Bundeskanzlerin sagte: Deutschland wird sich an dem Militärschlag der USA, Großbritanniens und Frankreichs nicht beteiligen. – Wir sind beteiligt! Denn sie bekommen von uns die Daten, die sie für diesen Militärschlag nutzen.
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Die Türkei – das ist noch schlimmer –, mit Erdogan an der Spitze, bekämpft in Syrien die Kurdinnen und Kurden, die die Hauptlast des Kampfes gegen den „Islamischen Staat“ getragen haben. Erst kämpfen sie also an unserer Seite, dann lassen wir zu, dass sie beschossen und ermordet werden, noch dazu mit deutschen Waffen und auf der Grundlage der von uns gelieferten Daten. Das ist ein unbeschreiblicher Skandal.
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Sie wollen uns wirklich glauben machen, dass all diese Einsätze ein Beitrag zur atomaren Abrüstung sind? Warum sorgen Sie nicht wenigstens dafür, dass wir atomwaffenfrei werden? Warum beschließen wir nicht, die USA aufzufordern, ihre Atomwaffen aus Deutschland abzuziehen?
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Das wäre doch mal ein Schritt in die richtige Richtung.
Ich merke, dass meine Redezeit abläuft. – Herr Bundestagspräsident, ich will es Ihnen bloß kurz erklären: Wissen Sie, als ich vor einem Jahr hier geredet habe, –
Erklären Sie mir das nachher.
– hatte ich immer sieben Minuten Redezeit.
Die Zeit ist rum, Herr Kollege Gysi.
Ich weiß, aber ich muss mich erst auf die sechs Minuten einstellen.
Aber Sie haben jetzt auch schon sieben Minuten gesprochen.
Ist gut. Ich höre dann auf.
Ich danke Ihnen.
Ich sage nur so viel: Sie, Herr Bundesaußenminister und die anderen, müssen merken, dass wir, wenn wir wirklich vorankommen wollen, ein grundlegend anderes Verhältnis Europas und speziell Deutschlands zu Russland brauchen.
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Die SPD bitte ich, einmal daran zu denken, wie sie unter Willy Brandt dachte. Die heutige Politik hat damit nichts zu tun; aber Sie machen das alles mit. Denken Sie darüber nach!
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst das Positive: Gut, dass es diesen Abrüstungsbericht gibt, und gut, dass wir darüber reden. Für uns Grüne steht außer Frage, dass Abrüstungsbemühungen heute notwendiger sind denn je. Auch die Bundesregierung betont im Bericht immer wieder ihre Besorgnis über die aktuelle Aufrüstungsspirale. Gleichzeitig ist aber das Schweigen der Bundesregierung unüberhörbar, wenn es darum geht, den Abzug der Atomraketen aus Deutschland durchzusetzen oder den Atomwaffenverbotsvertrag zu unterstützen. Dabei hatten wir doch 2010 alle gemeinsam hier im Bundestag genau dies beschlossen. Heute betont die Bundesregierung nur noch, dass ein Engagement im Rahmen der bestehenden Verträge und Systeme erfolgen soll. In Zeiten erodierender Vertragsgrundlagen ist das aber nicht genug.
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Bei Atomwaffen heißt der Status quo nämlich Modernisierung und Investitionen in Milliardenhöhe. Deutschland liefert dazu noch das Spaltmaterial für die US-Atomraketen. Aus Sicht meiner Fraktion ist das der falsche Weg.
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Auch Steinmeier hatte 2016 als Außenminister völlig zu Recht neue Initiativen angemahnt. Ich hoffe doch sehr, dass Sie, Herr Maas, sich davon nicht verabschieden wollen.
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Wir brauchen dringend neue vertrauensbildende Maßnahmen, gerade dann, wenn wir den INF-Vertrag retten wollen. Das Misstrauen gegenüber Russland, was die Reichweite der SSC-8-Raketen betrifft, ist bislang ebenso wenig ausgeräumt wie das Misstrauen der Russen gegenüber dem US-Raketenabwehrsystem, das möglicherweise auch mit Offensivsprengkörpern versehen werden kann. Dass der Raketenabwehrschirm die Aufrüstungsspirale massiv befeuert, haben wir Grünen schon seit Jahren kritisiert. Bevor wir aber der Diskussion über neue Mittelstreckenraketen in Europa freien Lauf lassen, könnte Deutschland beispielsweise gegenseitige Inspektionen ins Spiel bringen. Voraussetzung für jede Art von vertrauensbildenden Maßnahmen ist aber erst einmal, dass man den politischen Willen dazu hat. Da habe ich inzwischen doch einige Zweifel.
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In der Fragestunde der letzten Sitzungswoche vor Ostern hat Außenminister Maas in Bezug auf die vorgeschlagenen Inspektionen gesagt, er würde davor warnen, irgendwelche Deals mit der russischen Seite zu machen. Das ist doch wirklich allerhand.
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Eine solche Äußerung stellt den gesamten Abrüstungsbericht infrage. Mit wem wollen Sie denn Abrüstungsverträge schließen, wenn nicht mit Russland? Mit sich selbst?
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Es gibt leider nicht mehr sehr viele funktionierende Verträge, auf die man zurückgreifen könnte. Der KSE-Vertrag über die konventionelle Abrüstung liegt seit Jahren auf Eis, weil sich beide Seiten stur gestellt haben. Jetzt gilt es, wenigstens den Vertrag über den Offenen Himmel zu retten – das letzte Vertragswerk, das noch regelmäßig praktiziert wird. Stellen Sie bitte sicher, dass der deutsche Beitrag in Form eines Flugzeuges auch wirklich „fliegt“. Lange genug haben die Mitglieder des Unterausschusses Abrüstung gemeinsam darauf gedrängt, dass dieses Flugzeug endlich angeschafft wird. Es ist auch gut, dass wir uns jetzt endlich geeinigt haben, dass es auch den Unterausschuss wieder geben wird. Ich fing schon langsam an, mir Sorgen zu machen.
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Auch gegen die im Bericht genannten Gefahren durch Streumunition und Antipersonenminen könnte die Bundesregierung mehr tun, indem sie endlich ein entsprechendes Investitionsverbot auf den Weg bringt. Das Förderungsverbot in § 18a Kriegswaffenkontrollgesetz müsste ausdrücklich auf Investitionen in Unternehmen erstreckt werden. Damit müsste verhindert werden, dass derartige Investitionen auch noch steuerlich gefördert werden.
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Einen entsprechenden Antrag hatten wir bereits im Jahr 2011 gemeinsam mit der Fraktion Die Linke und übrigens auch gemeinsam mit Ihnen, liebe Genossinnen und Genossen von der SPD, hier eingebracht.
Die Bundesregierung will sich laut Bericht für die Ächtung letaler automatischer Waffensysteme einsetzen; das finde ich gut. Allerdings wollen Sie bewaffnete Drohnen für die Bundeswehr anschaffen. Ja, ich weiß: Das sind keine automatischen Waffensysteme. Dennoch spricht viel gegen bewaffnete Drohnen. Sie werden in der Praxis überwiegend illegal und völkerrechtswidrig außerhalb von Militäreinsätzen verwendet, und zwar mehr von Geheimdiensten als von regulären Streitkräften. Unsere Bundeswehr hat wirklich andere Probleme mit ihrer bestehenden Ausrüstung.
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Die SPD war im Sommer vor der Bundestagswahl noch tapfer gegen die Anschaffung. Jetzt lese ich: Der Vertrag soll in den nächsten sechs Wochen unterzeichnet werden.
Zu guter Letzt kann ich Ihnen nicht ersparen, darauf hinzuweisen: Auch die Rüstungsexporte zahlen auf die Negativbilanz der Bundesregierung ein. Dass wir seit Jahren mehr Kriegswaffen an Drittstaaten als an Bündnispartner liefern, widerspricht Ihren eigenen Grundsätzen und gefährdet zunehmend deutsche Sicherheitsinteressen.
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Aber auch Bündnispartner, die völkerrechtswidrige Angriffskriege gegen Nachbarstaaten führen und Menschenrechte im eigenen Land missachten, dürfen solche Kriegswaffen nicht erhalten.
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Wir Grünen haben Ihnen an dieser Stelle schon mehrfach unsere Vorschläge für ein verbindliches Rüstungsexportkontrollgesetz vorgestellt. Besonders konstruktiv finde ich den neuen Vorschlag des Präsidenten des BAFA, Exportgenehmigungen künftig zeitlich zu befristen. Dann könnte bei einer veränderten Sicherheitslage auch kein angeblicher Vertrauensschutz mehr greifen.
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Das Kriegswaffenkontrollgesetz sieht zwar schon heute vor, dass Genehmigungen jederzeit widerrufen werden können; die Praxis zeigt aber, dass die Bundesregierung quasi nie davon Gebrauch macht.
Ich komme zum Schluss. Liebe Kolleginnen und Kollegen, „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts“. Auch wenn Sie, Herr Maas, erklärtermaßen nicht wegen Willy Brandt in die SPD eingetreten sind, so will ich doch sehr hoffen, dass gerade die SPD die Entspannungspolitik nicht einfach aufgibt.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Fritz Felgentreu, SPD.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine kleine Vorbemerkung mit ein paar Angaben zur Richtigstellung, weil der Kollege Gysi hier gerade ein Fake-News-Feuerwerk abgebrannt hat,
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von dem Sie, Herr Gauland, und Ihre Kollegen durchaus noch etwas lernen können:
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Die Bundeswehr hat zurzeit keine 6 600 Soldaten in Einsätzen, sondern 3 700.
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Im Kosovo wird die deutsche Präsenz gerade massiv abgebaut. In diesen Tagen werden Abkommen darüber unterzeichnet, wie die ehemals militärisch genutzten Liegenschaften in Zukunft zivil genutzt werden sollen.
Wenn Sie sich von den Kollegen aus dem Verteidigungsausschuss über die gestrige Beratung dort hätten unterrichten lassen, dann hätten Sie gewusst, dass es wirklich keinerlei militärische Beteiligung Deutschlands an dem Luftschlag in Syrien gegeben hat,
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aber politische Unterstützung.
Schließlich, lieber Kollege Gysi, zu Willy Brandt: Muss ich Sie wirklich daran erinnern, dass es die feste Grundlage der Westbindung war, die die Ostpolitik Willy Brandts überhaupt möglich gemacht hat, und dass das eine Westbindung war, die so attraktiv war, dass die Mehrheit der Bevölkerung der DDR gegen den Widerstand Ihrer Partei große Risiken in Kauf genommen hat, um am Ende dazugehören zu können? – Das vielleicht nur als kleiner Kommentar zu Ihren Worten.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Jahresrüstungsbericht für 2017 fällt in eine Zeit, die uns alle mit Besorgnis erfüllt. Die internationalen Spannungen haben erheblich zugenommen, die NATO hat sich im Lichte des Krieges in der Ukraine entschieden, wieder ein größeres Gewicht auf Abschreckung zu legen, und auch Deutschland muss wieder mehr Geld in die Bundeswehr investieren. Wir stellen ernüchtert fest, dass wir einen weiten und steinigen Weg bis zur erforderlichen Einsatzbereitschaft vor uns haben. Dabei sprechen wir nicht von Abrüstung im engeren Sinne, sondern zunächst einmal davon, dass die Bundeswehr die Aufgaben erfüllen kann, die sie übernommen hat, und dafür das erforderliche Personal, die Waffen und das Material hat.
Auch die gefährlichsten Waffen von allen, die Nuklearwaffen, spielen in unseren Überlegungen und Debatten über die Sicherheit Europas und der Welt wieder eine größere Rolle. Der größte Erfolg der letzten Jahre war ohne Zweifel der Gemeinsame Umfassende Aktionsplan mit dem Iran. Er hat die nukleare Gefahr eingehegt und sieht eine enge Kontrolle iranischer Nuklearanlagen durch internationale Experten vor. Trotzdem wird er in den USA zunehmend infrage gestellt. Das ist gerade das Land, das für sein Zustandekommen und seine Umsetzung ganz entscheidend Verantwortung trägt. Mit Nordkorea steht ein vergleichbares Abkommen in weiter Ferne.
Am erschreckendsten ist es für uns aber, dass das Verbot von Mittelstreckenraketen, der INF-Vertrag, unter Druck geraten ist, seitdem die NATO immer mehr Zweifel an der Vertragstreue der Russischen Föderation hat und die USA ihrerseits von Russland beschuldigt werden, angeblich vertragswidrige Raketensysteme stationiert zu haben.
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Die Rückkehr nuklearer Mittel- und Kurzstreckenwaffen kann Europa in die existenzielle Unsicherheit der 80er-Jahre zurückwerfen, und das wollen wir nicht.
In dieser Situation ist es ein wichtiges Signal und ein wichtiger Aufruf zur Besonnenheit, dass sich die deutschen Regierungsparteien in ihrem Koalitionsvertrag ausdrücklich zum Ziel einer atomwaffenfreien Welt bekennen. Als einen ersten Schritt, um die gemeinsame Haltung deutlich zu machen, haben die Koalitionsfraktionen einen Antrag mit einem Bekenntnis zum INF-Vertrag in den Bundestag eingebracht, der in dieser Woche in den Ausschüssen beraten wird. Dieser Antrag muss der Auftakt zu einer beharrlichen Politik sein, mit der Bundestag und Bundesregierung gemeinsam durch Diplomatie, Vertrauensbildung und Überzeugungsarbeit darauf hinwirken, dass die nukleare Bedrohung der Menschheit wieder geringer wird.
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Einen echten Fortschritt halten wir allerdings derzeit vor allem dort für möglich, wo nicht die Grundsatzfrage gestellt wird. Deutschland wird sich deshalb auch weiterhin für das Inkrafttreten des Vertrages über den Stopp aller Atomtests einsetzen, der schon 1996 beschlossen, aber bis heute von so wichtigen Ländern wie China und den USA nicht ratifiziert worden ist.
Ein noch kleinerer Schritt, der eine große Wirkung haben wird – der Außenminister hat darauf hingewiesen –, wenn er denn gelingt, ist das geplante Verbot der Herstellung von spaltbarem Material, um damit Waffen zu bauen. Deutschland, Kanada und die Niederlande machen sich im Rahmen der Vereinten Nationen dafür stark.
Mit großem Respekt, aber auch mit Zweifeln begleitet die SPD-Fraktion demgegenüber die Bemühungen um ein völkerrechtliches Verbot von allen Nuklearwaffen. Es kann uns ja nicht gleichgültig sein, dass die ICAN-Initiative, die sich dafür besonders einsetzt, 2017 den Friedensnobelpreis erhalten hat. Dennoch können wir nicht erkennen, dass die von über 100 Staaten unterstützte Verbotsinitiative schon ein erfolgreicher Ansatz wäre; denn solange sich so gut wie alle Nuklearmächte, die davon betroffen wären, dem Verbot entziehen und es keine wirksamen Kontrollmechanismen vorsieht, besteht die große Gefahr, dass es wirkungslos bleibt.
Die SPD-Fraktion unterstützt deshalb die Bundesregierung darin, ihre abrüstungspolitischen Ziele mit diplomatischer Beharrlichkeit weiter zu verfolgen, und zwar auf allen Ebenen, auf denen Deutschland Einfluss nehmen kann: in der NATO, in der EU, in den Vereinten Nationen. Diese haben hier die größte Bedeutung.
Ich wäre dankbar, wenn der Deutsche Bundestag der Bundesregierung dabei den Rücken stärken würde, zum Beispiel indem wir auf den Abrüstungsbericht gemeinsam in der Form reagieren, dass wir den Koalitionsantrag zum Erhalt des INF-Vertrages mit einer großen Mehrheit beschließen.
Danke schön.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Anton Friesen, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete!
Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.
Mit diesem Zitat hat Albert Einstein sehr anschaulich die Folgen einer nuklearen Konfrontation zusammengefasst.
Den Atomkrieg zu verhindern, dazu gibt es gerade zwischen den zwei führenden Nuklearmächten USA und Russland eine ganze Reihe von Abkommen. Wir leben aber in einer Welt, die nicht nur durch die Eskalationsdynamik zwischen Washington und Moskau geprägt ist, sondern in der immer mehr Staaten in den Besitz von Nuklearwaffen gelangen und Terroristen nach der ultimativen Waffe greifen. Daher müssen wir die nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung noch viel ernster nehmen als zu Lebzeiten Albert Einsteins.
Der INF-Vertrag – so bemerkt es der Abrüstungsbericht der Bundesregierung richtig – „ist für die Sicherheitsarchitektur in Europa von grundsätzlicher Bedeutung“. Deshalb hat Die Linke mit vielen Punkten ihres Antrags recht. Trotzdem werden wir ihm nicht zustimmen. Die Linke übersieht nämlich etwas ganz Wesentliches – ob es jetzt auf ideologische Blindheit oder Realitätsverweigerung zurückzuführen ist, sei einmal dahingestellt –: Die Linke vergisst, dass Rüstungskontrolle bei den Atomwaffen und ihren Trägersystemen nur funktioniert, wenn man über schlagkräftige konventionelle Streitkräfte verfügt.
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Es ist in diesen Tagen viel von der Entspannungspolitik die Rede. Man sollte aber nicht vergessen, dass die Entspannungspolitik einen militärischen Zwillingsbruder, die NATO-Doktrin Flexible Response, hatte. Ich zitiere einen Historiker:
USA und NATO ließen ... offen, wie sie auf einen Angriff reagieren würden. Entsprechend wurden die Streitkräfte so ausgerüstet, dass sie über alle – nuklearen und konventionellen – Mittel verfügten.
Es ist sicherlich notwendig und in unserem deutschen Interesse, dass der INF-Vertrag als ein Meilenstein der Abrüstung erhalten bleibt. Dazu ist es auch notwendig – so heißt es in einer Untersuchung der trilateralen deutsch-russisch-amerikanischen Deep Cuts Commission –, dass russische und US-amerikanische Inspektoren Zugang zu den russischen SSC-8-Raketen, aber ebenso auch zur US-amerikanischen Raketenabwehr erhalten.
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Wir als AfD treten dafür ein, eine stabilitätsorientierte Friedenspolitik mit Augenmaß zu betreiben. Garant einer solchen Politik ist eine Bundeswehr, deren Einsatzbereitschaft sowie materielle und personelle Ausrüstung dem Auftrag der Landes- und Bündnisverteidigung gerecht werden.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Thomas Erndl, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Beratungen über den Jahresabrüstungsbericht 2017, den uns die Bundesregierung vorgelegt hat, fallen in eine außen- und sicherheitspolitisch brisante Zeit. Die Situation in Syrien, die wir gestern hier debattiert haben, der Nervengiftanschlag in England, Russlands Ankündigung neuer Raketen- und Waffensysteme: All das ist höchst besorgniserregend.
Wir dürfen in Europa nun seit 73 Jahren in Frieden und Freiheit leben, müssen aber mehr denn je in den Erhalt dieses Friedens investieren. Im Koalitionsvertrag haben wir bestätigt, dass Rüstungskontrolle und Abrüstung prioritäre Ziele verantwortlicher deutscher Außenpolitik sind und bleiben. Der Abrüstungsbericht zeigt wirklich sehr umfassend unsere Beiträge auf.
Es ist wichtig, dass wir trotz einer großen Anzahl internationaler Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, in Fragen der Rüstungskontrolle und Abrüstung vorankommen. Aber zuallererst besteht eine Notwendigkeit zur Akzeptanz der Realität, und daran habe ich bei dem, was ich von ganz links und manchmal auch von ganz rechts hier in diesem Hause höre, ernsthafte Zweifel.
Wenn Sie, Herr Kollege Gysi, uns Einseitigkeit vorwerfen, dann muss ich sagen: Mehr Einseitigkeit als in Ihrem Beitrag geht wirklich nicht.
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Es ist wichtig und in unserem ureigensten Interesse, dass wir uns intensiv in die Abrüstungsinitiativen einbringen. Gemeinsam mit unseren europäischen Freunden müssen wir gerade die Verletzung des INF-Vertrags durch neue russische Kurz- und Mittelstreckenraketen viel deutlicher anprangern. Das ist kein weiterer Punkt auf einer Liste mehrerer Unstimmigkeiten, die man zu besprechen hat, sondern das ist ein fundamentales Sicherheitsproblem für unser Land, und das müssen wir klar und laut hörbar an Moskau kommunizieren. Leise Töne sind hier das falsche Signal.
Wenn dann in diesem Zusammenhang von ganz links und auch von ganz rechts immer wieder die NATO-Osterweiterung angesprochen wird, die angeblich Russland zur Aufrüstung veranlasst, muss ich Ihnen sagen, meine Kolleginnen und Kollegen: Wir haben keine bipolare Weltordnung mehr, in der es nur um die USA und Russland geht.
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Die Menschen in Osteuropa sind keine Menschen zweiter Klasse. Sie haben das Recht, sich einem Bündnis anzuschließen, um einen Schutz gegen die vielfältigen Bedrohungen auf dieser Welt zu haben, und dieses Recht haben sie genutzt. Da kann man noch so viel Legendenbildung betreiben: Die Aktivitäten der NATO sind für unseren Schutz; sie sind nicht gegen Russland gerichtet.
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Meine Damen und Herren, es ist doch vollkommen klar: Wir brauchen wesentlich bessere Beziehungen zu Russland. Ich möchte Moskau gerne wieder uneingeschränkt als Partner für die vielfältigen Herausforderungen bezeichnen können. Aber sie machen es uns wirklich nicht leicht. Es ist ein weiter Weg, aber Deutschland ist in einer besonderen Rolle, um hier Fortschritte zu ermöglichen.
Eine weitere Herausforderung ist Nordkoreas aggressives Nuklearstreben, welches nicht nur in der Region, sondern weltweit Frieden und Sicherheit bedroht. Dass gegenwärtig Gespräche mit Südkorea und auch mit den USA stattfinden, ist zu begrüßen; aber klar muss auch sein: Das völkerrechtswidrige Raketen- und Nuklearprogramm muss zurückgebaut werden.
Meine Kolleginnen und Kollegen, eine atomwaffenfreie Welt ist unser Wunsch. Wir dürfen jedoch nicht ignorieren, dass Atomwaffen ein realer Bestandteil dieser Welt sind. Gerade deshalb gibt es keinen anderen Weg, als vernünftig und ohne auf ideologischen Positionen zu beharren mit der Frage der nuklearen Abrüstung umzugehen.
Wir debattieren heute nicht nur über den Jahresabrüstungsbericht, sondern auch über einen Antrag der Linken, der zu dem Bild passt, das Sie in der gestrigen Debatte über den Syrienkonflikt und mit Ihrer Kundgebung vor dem Brandenburger Tor abgegeben haben. Sie kritisieren einseitig die NATO und den Westen, während die Russen die Guten sind. Einen solchen Antrag kann man nur ablehnen.
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Zur Abwechslung wäre es gut, wenn Sie für die Kinder mit aufgerissenen Augen und Schaum vor dem Mund demonstrierten und nicht einen solchen Zirkus wegen ein paar Raketen aufführten, die Chemiewaffen zerstören, welche schon lange entsorgt sein sollten.
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Zum Antrag der Grünen, zum Atomwaffenverbotsvertrag. Wir haben in diesem Haus schon oft darüber debattiert. Ohne die Nuklearmächte einzubeziehen, macht das keinen Sinn. Deswegen können wir hier nicht zustimmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ob im konventionellen Bereich, in der nuklearen Nichtverbreitung, der nuklearen Abrüstung, im Bereich von chemischen und biologischen Waffen oder bei der Cyberabwehr, unser Land leistet einen umfassenden Beitrag, damit unsere Welt sicherer und friedlicher wird. Wir müssen zusammen mit unseren europäischen Partnern und den USA Strategien für den Umgang mit neuen Herausforderungen entwickeln. Das ist das Wichtigste für unsere friedliche Zukunft.
Danke schön.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Frank Müller-Rosentritt, FDP, zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Dass ich als Quereinsteiger heute hier stehe, ist absolut keine Selbstverständlichkeit. Es ist vielmehr Wesensmerkmal unserer freiheitlichen Demokratie, dass jede Bürgerin und jeder Bürger durch Wahlen auf höchster politischer Ebene einfach mitgestalten kann. Für diese demokratische Ordnung müssen wir uns täglich einsetzen: im Wahlkreis, hier im Hohen Haus und auch in der internationalen Politik. Auch wir Freien Demokraten wünschen uns eine friedliche Welt und unterstützen selbstverständlich alle ernsthaften und geeigneten Abrüstungsbemühungen. Wir teilen das Ziel einer atomwaffenfreien Welt. Wir wissen: Abrüstungsvereinbarungen waren zu Zeiten des Kalten Krieges für die Deeskalation sehr wertvoll. Rüstungskontrolle trägt zweifelsfrei zu Vertrauensbildung und Dialog bei.
Im Ziel einer friedlicheren Welt besteht, glaube ich, ganz große Einigkeit in diesem Hause. Bezüglich des richtigen Wegs sehe ich aber ganz klare Unterschiede.
Die vermeintlichen Lösungen, die Linke und Grüne in ihren Anträgen anbieten, greifen völlig zu kurz. Für die Linke scheint wie üblich alle Bedrohung dieser Welt von der NATO auszugehen. Die Grünen befassen sich – wie nicht anders zu erwarten – deutlich ernsthafter mit dieser Thematik, wenn auch aus meiner Sicht nicht gänzlich zielführend. Die Idee eines Atomwaffenverbotsvertrags scheint auf den ersten Blick total logisch und gut zu sein. Ein Vertrag, in dessen Ausarbeitung die Atommächte gar nicht einbezogen waren, ist jedoch für uns reine Symbolpolitik. Anders als Sie glauben wir nicht daran, dass schon alle mitziehen werden, wenn nur eine Seite komplett abrüstet. Ganz im Gegenteil: Auch Demokratien müssen wehrhaft sein gegen die Bedrohungen von außen, gegen Angriffe auf ihre Ideen, ihre freie Lebensweise und das von mir eingangs so gelobte politische System.
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Wir müssen uns die Fähigkeit erhalten, klare Kante gegen Verletzungen des Völkerrechts zu zeigen. Das gilt für die Annexion der Krim durch Russland genauso wie für den türkischen Einmarsch in Afrin und die abscheulichen Giftgasangriffe in Syrien.
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Abrüstungsbemühungen können nur gemeinsam mit allen relevanten Akteuren verstärkt werden. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie zusammen mit unseren europäischen Partnern eine deutlich aktivere Rolle auf weltpolitischer Ebene einnimmt.
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Zusätzlich liegt mir eines noch ganz besonders am Herzen. Auf Regierungsebene sind Verhandlungen oft schwierig und nur ganz selten von schnellem Erfolg gekrönt. Deshalb werbe ich für einen noch intensiveren zivilgesellschaftlichen Dialog mit den Ländern, zu denen wir politisch ein äußerst angespanntes Verhältnis haben.
Lassen Sie mich abschließend noch eine ganz persönliche Botschaft senden. Deutschland war über 40 Jahre lang geteilt und hat neben der Einbindung in den demokratischen Westen eine lange gemeinsame Vergangenheit mit Russland, aus der bis heute ganz viele persönliche Beziehungen resultieren. Das sollte die Bundesrepublik als Brücke zwischen Ost und West bei ganz klarer Verankerung Deutschlands in der westlichen Wertegemeinschaft zum Anlass nehmen, den Dialog in beide Richtungen, USA und Russland, mehr denn je anzukurbeln.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Roderich Kiesewetter, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute Vormittag eine ganze Reihe recht romantischer Vorstellungen zur Abrüstung gehört – von ganz links und ganz rechts. Mein lieber Herr Gesangsverein, da fragt man sich schon, wo wir sind. Aber dieses Lied singen wir nicht mit; ich unterstreiche vielmehr, dass der Abrüstungsbericht in sehr klarer Prosa deutlich macht, wo und wie stark Deutschland in internationalen Abrüstungsvereinbarungen verankert ist.
Ich will das deutlich machen. Einer der Vorredner erwähnte heute die Deep Cuts Commission. Das ist eine Einrichtung, die für tiefe Einschnitte in die nukleare Rüstung wirbt, und sie wird intensiv gestützt vom Auswärtigen Amt. Beteiligt sind die USA und Russland. Sage da noch einer, von welcher Seite auch immer, Deutschland habe keinen Einfluss. Deutschland übt dort großen Einfluss aus. Ich möchte sagen: Wir haben dort auch eine ganze Reihe guter Vorschläge. Ein Dank an die Deep Cuts Commission!
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Ich möchte aber auf den INF-Vertrag eingehen, auf den Vertrag über landgestützte Mittelstreckenraketen. Er ist 1987, vor über 30 Jahren, in Kraft getreten und hat die Sicherheitspolitik in Europa maßgeblich verändert; so viel zur „Romantik“. Damals hat die erste Regierung Kohl als Lehre aus der Politik der Regierung Schmidt Härte und Festigkeit bewiesen. Wir haben über viele Jahre innergesellschaftlich gerungen. Am Ende stand auf US-Seite und auf sowjetischer Seite die Abrüstung dieser gerade für Europa so gefährlichen Raketen. Das zeigt, dass wir auf der einen Seite den Schild fest in der Hand halten müssen und auf der anderen Seite die Hand ausstrecken müssen für eine bessere Rüstungskooperation.
Wenn wir nichts tun, wird der INF-Vertrag langsam ausgehöhlt, weil durch die Drohnen, durch sehr bodennah fliegende Raketen insgesamt die Technik, die der INF-Vertrag abbildet, längst nicht mehr der Wirklichkeit entspricht. Darauf zu reagieren, dafür gibt es drei Möglichkeiten:
Die eine ist: Wir beziehen auch die see- und luftgestützten Raketen ein. Das könnte man machen, wenn Russland und die USA sich einig wären; aber es gibt eben noch andere Staaten auf der Welt, die das völlig anders sehen, wie China, Pakistan, Nordkorea oder auch Indien. Also wird es gar nicht helfen, wenn allein Russland und die USA diesen Schritt gehen.
Die zweite Möglichkeit ist: Wir binden diese Länder mit ein. Denken Sie einmal daran, Nordkorea oder Indien und Pakistan einzubinden. Das ist eine Aufgabe, der wir uns nicht verwehren sollten. Wir sollten uns aber auch nicht überheben. Es ist eine Zukunftsaufgabe, die uns alle sicher die nächsten 20 Jahre binden würde.
Somit bleibt die dritte Möglichkeit. Diese Möglichkeit baut auf dem alten deutschen Prinzip von Dialog und Festigkeit auf. Hier geht es um Transparenzmaßnahmen. Wie will man Vertrauen gegenüber Russland aufbauen, wenn Russland weltweit sehr bestimmt auftritt, wenn es das Chemiewaffenabkommen obsolet macht, indem es einen Diktator Assad stützt, der seine eigene Bevölkerung mit Chemiewaffen bombardiert, wenn es die Krim besetzt, wenn es die Ostukraine destabilisiert und wenn es versucht, Europa zu spalten?
Gerade in den Fällen, die ich eben nannte, ist es wichtig, den Gesprächskanal aufrechtzuerhalten. Die deutsche OSZE-Präsidentschaft hat sehr eindrucksvoll gezeigt, dass es geht. Wenn wir das von mir Beschriebene machen wollen, dann müssen wir erkennen, dass zu den Transparenzmaßnahmen auch etwas mehr Ehrlichkeit gehört. Die Amerikaner haben im Jahr 2014 Russland vorgeworfen, dass es eine neue Mittelstreckenrakete entwickelt, und, siehe da, aufgrund dieser klaren Festigkeit hat Lawrow im Januar 2018 das bestätigt. Es ist die heute schon erwähnte Rakete SSC-8, oder, wie die Russen sie nennen, 9M729. Wir wollen wissen: Wie ist die Reichweite dieser Rakete?
Auf der Gegenseite wird uns unterstellt, dass die amerikanischen Raketen unter dem NATO-Schirm in Rumänien keine Boden-Luft-Raketen zur Zerstörung angreifender Raketen sind, sondern dass sie womöglich auch Bodenziele erreichen können. Hier bietet es sich an, wirklich für Transparenz zu sorgen. Das ist auch die Aufgabe Deutschlands; der Außenminister hat das gestern mit der Scharnierfunktion Deutschlands – fest verankert sein im westlichen Bündnis und dann die Hand ausstrecken, um für Transparenz und Verhandlungen zu sorgen – eindrucksvoll geschildert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht darum, pragmatisch vorzugehen und nicht romantisch. Es geht darum, auf der einen Seite Festigkeit zu zeigen und auf der anderen Seite kluge Abrüstungsschritte zu wagen. Es ist gerade bei den Mittelstreckenraketen, die Europas Sicherheit, unsere eigene Sicherheit intensivst berühren, auch unsere Aufgabe, mit den Amerikanern, unseren Partnern in EU und NATO gegenüber Russland Festigkeit zu zeigen und dann mit Russland für Transparenzmaßnahmen zu sorgen. Beide Seiten sind aufgefordert. Die besseren Argumente sind bei uns.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir den Abrüstungsbericht der Bundesregierung heute diskutieren, dann tun wir das natürlich im Lichte der aktuellen Herausforderungen. Die Vorredner sind intensiv auf die Themen „Atomwaffen“ und „chemische Waffen“ eingegangen. Es ist in der Tat so, dass wir dort vor Herausforderungen stehen, wie wir sie vor Monaten und Jahren so noch nicht gekannt haben. Der twitternde amerikanische Präsident oder der russische Präsident, der bei seiner zentralen Wahlkampfrede mehr als die Hälfte seiner Redezeit darauf verwendet, über Aufrüstung, neue Waffensysteme und Militär zu sprechen – das dokumentiert die ganz reellen Gefahren. Es ist in der Tat so, wie Sie, Herr Minister, gesagt haben: Es geht um nichts weniger als um das Aufrechterhalten der Waffenkontrollarchitektur auf internationaler Ebene. Dafür lohnt sich jeder Einsatz.
Wir hätten vor wenigen Jahren sicherlich auch nicht gedacht, dass das Thema der Chemiewaffen so in den Fokus rückt. Es sind nicht nur die Kinder mit Schaum vor dem Mund und mit weit aufgerissenen Augen in Chan Schaichun oder in Duma – das ist vorhin angesprochen worden –, sondern es ist tatsächlich so, dass die UN-Kommission für Syrien seit 2013 33 Einsätze von Giftgas – Sarin, Chlorgas – dokumentiert hat. Das zeigt, dass es in der Tat viel Leidenschaft und Beharrlichkeit bedarf, um hier für Verbesserungen zu sorgen.
Ich möchte am Ende dieser Debatte noch auf einen Punkt des Abrüstungsberichts eingehen, der mir sehr wichtig erscheint, über den wir aber wenig diskutieren. Es ist die Situation im Bereich der Kleinwaffen, der Handwaffen, der Pistolen, der Maschinenpistolen, der halbautomatischen Gewehre. Durch keine andere Waffengattung sterben so viele Menschen wie durch Kleinwaffen. Die UN gehen davon aus, dass etwa 875 Millionen Kleinwaffen in der Welt zirkulieren – bei einer durchschnittlichen Verwendungsdauer, die irgendwo zwischen 30 und 50 Jahren liegt – und dass dadurch jährlich etwa 250 000 Menschen ums Leben kommen. Deswegen müssen wir uns damit beschäftigen.
Diese Waffen sind günstig zu erhalten. In Nigeria beispielsweise kosten sie zwischen 25 und 50 Dollar. Das ist für die Menschen leicht erreichbar. Die Verbreitung ist immens, und die Schadenswirkungen, die daraus entstehen, sind es genauso. Es sind vor allen Dingen arme Länder, fragile Staaten, destabilisierte Staaten. Es geht darum, dass man etwas dagegen tut, dass das weiter zur Destabilisierung, zur Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols beiträgt. Ansonsten würde das am Ende dazu führen, dass es keine wirtschaftlichen Investitionen und Fortentwicklungen gibt, weil Lebensperspektiven verschwinden. Das wiederum schafft Fluchtursachen oder macht die Menschen gar zu Werkzeugen des Terrors. Deswegen müssen wir da ansetzen.
Es ist in der Tat richtig, dass Analyse allein noch keine Politik ist. Der Abrüstungsbericht macht an vielen Stellen deutlich, glaube ich, dass sich Deutschland vielfältig engagiert. Es sind multilaterale Ansätze, die wir in der Außenpolitik generell in den Mittelpunkt rücken – unter dem Dach der Vereinten Nation, der Europäischen Union, der OSZE oder beispielsweise auch der NATO –, und es sind unmittelbare bilaterale Ansätze. Da haben wir viele kleine Projekte, beispielsweise im EU-Rahmen, in denen wir in Afrika auf kommunaler Ebene über die Gefährlichkeit informieren und darüber hinaus auch Programme zum freiwilligen Umtausch gegen Güter des Gemeinwohls anbieten.
Herr Kollege Frei, der Kollege Beutin würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja, das soll er gerne tun.
Herr Kollege Frei, nehmen Sie denn zur Kenntnis, dass die deutschen Exporte von Kleinwaffen im letzten Jahr wieder einen neuen Höchststand erreicht haben und Waffen im Wert von 47,8 Millionen Euro exportiert wurden? Die gelangen eben in die Hände von Kindersoldaten; die gelangen gerade in die Staaten, die Sie jetzt beschrieben haben. Deswegen wäre es schön – und wir würden uns sehr darüber freuen –, wenn Sie sich gemeinsam mit unserer Fraktion für das notwendige Verbot des Exports von Kleinwaffen einsetzen würden. Würden Sie da mitgehen?
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Herr Kollege, Sie sprechen zu Recht an, dass es enorm wichtig ist, dass wir die Waffenexportkontrolle insbesondere im Bereich der Kleinwaffen deutlich verbessern. Es ist festzustellen, dass die Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode die Rahmenbedingungen dafür massiv verschärft hat und dass wir im Koalitionsvertrag mit den Sozialdemokraten vereinbart haben, dass Exporte von Kleinwaffen in Drittstaaten und ihnen gleichgestellte Staaten in Zukunft nicht mehr erfolgen sollen.
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Das ist ein entscheidender Punkt, und ich will einen zweiten ansprechen: Die Bundesregierung hat im letzten Jahr die Leitlinien für Krisenprävention verabschiedet. Wir haben das parlamentarisch eng begleitet. Und da ist unter anderem klargestellt, dass es auch Projektversuche geben soll, um die Post-Shipment-Kontrollen im Endverbrauchsland tatsächlich vor Ort durchführen zu können. Das heißt, wir wollen deutlich mehr Augenmerk darauf legen, dass auch tatsächlich überprüft wird, was mit den Waffen am Ende passiert. Insofern kann ich einfach nur feststellen: Die Bundesregierung ist hier auf dem richtigen Weg, tut das Notwendige, und deshalb unterstützen wir sie auch dabei.
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Das sind in der Tat die entscheidenden Punkte, um im Bereich der Rüstungsexportkontrolle deutlich besser zu werden. Ich habe in der Antwort eben zwei Punkte angesprochen. Aber es sind auch sehr viele unmittelbare, bilaterale Projekte dort in den Mittelpunkt zu rücken. Die kann man sehen; sie müssen nicht neu erfunden werden, und deshalb, glaube ich, sind wir da gut unterwegs.
Insgesamt leisten wir einen erheblichen Beitrag, auch wenn es um die nachhaltigen Entwicklungsziele der Agenda 2030 der UN geht. Das kann man beispielsweise auch daran sehen, dass im Juni dieses Jahres die dritte UN-Überprüfungskonferenz zur Bekämpfung von Handfeuerwaffen stattfindet. Die Bundesregierung hat dazu gute und ambitionierte Vorschläge gemacht. Das ist ein weiterer Punkt, der es rechtfertigt, dass wir uns für einen nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat engagieren. Ich glaube, dass wir einen wirklich guten Beitrag dazu leisten können. Im Abrüstungsbericht dieses Jahres ist das dokumentiert.
Herzlichen Dank.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 19/1380 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Keine Stationierung neuer Nuklearwaffen in der Bundesrepublik – INF-Vertrag erhalten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 19/1733, den Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 19/1299 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion der AfD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Damit kommen wir zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Glaubhafter Einsatz für nukleare Abrüstung – Nationale Handlungsspielräume nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/1732, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 19/976 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke bei Enthaltung der Fraktion AfD angenommen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute einen Antrag, der ein zentrales Anliegen der AfD seit ihrer Gründung enthält, nämlich die Einführung direkter Demokratie auf Bundesebene. Aber nicht nur der AfD ist dieses Thema wichtig. Wie Umfragen seit Jahren belegen, spricht sich eine überwältigende Mehrheit der Deutschen für die Einführung bundesweiter Volksabstimmungen aus.
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Dahinter steht der Wunsch, nicht nur alle vier Jahre seine Stimme bei Wahlen abzugeben, sondern bei wichtigen politischen Fragen in der Sache mitbestimmen zu können.
Auf Kommunal- und Landesebene hat es seit den 90er-Jahren einen wahren Boom der direkten Demokratie gegeben. In den Verfassungen aller Bundesländer ist die Volksgesetzgebung mittlerweile verankert, wenn auch sicherlich die Regelungen in vielen Ländern verbesserungswürdig sind. Und in den Kommunen stehen bundesweit Bürgerbegehren und Bürgerentscheide zur Verfügung.
Lediglich auf Bundesebene, gerade dort, wo die Schicksalsfragen der Nation entschieden werden, ist den Bürgern die konkrete Mitbestimmung bis heute verwehrt. Weder wurden die Deutschen zur Einführung des Euro befragt, noch hat jemals eine Volksabstimmung bei der Abgabe von nationaler Souveränität an die Europäische Union stattgefunden.
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Dies steht im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern, in denen Elemente direkter Demokratie auf nationaler Ebene zum festen Bestandteil des politischen Systems gehören. Das deutsche Staatsvolk ist aber nicht weniger mündig als das schweizerische, das irische oder das dänische.
Um es an dieser Stelle klarzustellen: Es geht nicht darum, die repräsentative Demokratie durch direkte Demokratie zu ersetzen. Direkte Demokratie soll vielmehr die repräsentative sinnvoll ergänzen. Dass eine solche Ergänzung positive Effekte erzielt, zeigen international vergleichende Untersuchungen. Direkte Demokratie führt zu einer besseren Informiertheit der Bürger über politische Sachverhalte. Dies ist auch einsichtig; wer weiß, dass er bei einer konkreten Frage mitbestimmen kann, dessen Bereitschaft ist deutlich erhöht, sich über die Thematik umfangreich zu informieren. Direkte Demokratie stärkt die generelle Identifikation der Bürger mit dem Gemeinwesen. Und, nicht zuletzt: Direktdemokratische Verfahren führen zu einer höheren Akzeptanz der konkret getroffenen Entscheidung.
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Wir als AfD fordern Volksabstimmungen im Wesentlichen in drei Konstellationen:
Erstens. Ohne Zustimmung des Volkes darf es keine Änderung des Grundgesetzes und keine Abgabe nationaler Souveränität an die Europäische Union oder andere internationale Organisationen geben.
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Zweitens. Es muss für die Bürger die Möglichkeit geben, über vom Parlament beschlossene Gesetze eine Abstimmung herbeizuführen. Dieses sogenannte fakultative Referendum hat sich speziell in der Schweiz als Vetorecht der Bürger bewährt.
Drittens. Die Bürger sollten auch die Möglichkeit haben, eigene Gesetzesinitiativen auf Bundesebene einzureichen.
Die neue Bundesregierung hat nun in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, man wolle eine Expertenkommission einsetzen, die – Zitat –
Vorschläge erarbeiten soll, ob und in welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden kann.
Zunächst ist hierzu positiv zu bemerken, dass sich nun auch die CDU bei diesem Thema bewegt. Aber es kann doch bei einer Kommission nicht mehr um die Frage gehen, ob wir direkte Demokratie auf Bundesebene brauchen. Es muss um die Frage gehen, wie wir sie ausgestalten wollen.
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Wie wichtig der Koalition bzw. der Kanzlerin das Thema „direkte Demokratie“ wirklich ist, sah man dann später bei der Regierungserklärung hier im Bundestag. Die Bundeskanzlerin stellte in ihrer 60-minütigen Erklärung die Vorhaben und Pläne der Regierung für die Legislaturperiode vor. Und was hören wir? Nicht ein Wort zu direkter Demokratie. Zwei Tage später gab der zuständige Bundesminister Horst Seehofer seine Erklärung ab. Auch hier – Sie werden es ahnen – nicht ein Wort zu direkter Demokratie. Alle bisherigen Gesetzentwürfe zur Einführung direkter Demokratie auf Bundesebene sind an der erforderlichen Zweidrittelmehrheit gescheitert.
In einer Enquete-Kommission können die Grundlagen für einen Gesetzentwurf erarbeitet werden, der fraktionsübergreifend mehrheitsfähig ist. Das muss das Ziel sein.
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Zeigen Sie, dass Sie es ernst meinen, und unterstützen Sie unseren Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission! Lassen Sie uns dieses wichtige Thema gemeinsam angehen! Wir sind dazu bereit.
Danke.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Lindholz, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD fordert die Einsetzung einer Enquete-Kommission, um über direkte Demokratie auf Bundesebene zu diskutieren. Laut Ihrem Wahlprogramm – Sie haben es gerade noch einmal angesprochen – wollen Sie über Volksentscheide eine direkte Bürgerbeteiligung für jedes Gesetzesvorhaben herbeiführen und auch ermöglichen, bereits beschlossene Gesetze wieder abzulehnen oder diesen nicht zuzustimmen.
Deutschland hat eine gut funktionierende repräsentative Demokratie. Seit 70 Jahren garantiert unser politisches System Stabilität, Wohlstand und Frieden; auch deshalb muss jede grundlegende Reform gut bedacht werden. Eine Entscheidung ist nicht automatisch deshalb besser, weil sie direktdemokratisch getroffen wurde. Der NATO-Doppelbeschluss von 1983 wäre wohl nie umgesetzt worden, wenn es darüber einen Volksentscheid gegeben hätte, und in der Folge hätte es die Wiedervereinigung vielleicht nicht gegeben.
Auch die Manipulationen und Desinformationen mittels Facebook oder die knappe wie fatale Brexit-Entscheidung machen mich eher ein bisschen vorsichtig und rufen bei mir Achtung auf den Plan; denn komplexe bundespolitische Themen lassen sich nur selten mit Ja oder Nein beantworten und sind auch immer Stimmungsschwankungen unterworfen. Ja, in den Kommunen und in den Ländern funktionieren direkte Bürgerbeteiligung und mehr Mitbestimmung in vielen Teilen sehr gut. Auch unsere Bürgermeister kommen ihrer Verantwortung nach, über die formellen Möglichkeiten hinaus selbstverständlich immer wieder die Bürger mit ins Boot zu holen. Das ist wichtig und richtig.
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Auf Bundesebene kann aber angesichts von vielfältigen und komplexen Themen schnell Rechtsunsicherheit entstehen. Das könnte auch abschrecken, in unser Land zu investieren. Ich will es einmal zugespitzt formulieren – Abstimmungen oder Umfragen zu diesem Thema hat es immer mal wieder gegeben –: Auch eine Abstimmung über die Wiedereinführung der Todesstrafe könnte Erfolg haben, wenn zum Beispiel kurz vor der Entscheidung ein Fall von Kindesmissbrauch publik würde. Auch das müssen wir bedenken.
Die AfD will laut ihrem Wahlprogramm mit Volksentscheiden vor allem auch die Gesetzesflut eindämmen. Die Kolleginnen und Kollegen nehmen immer wieder Bezug auf die Schweiz; das tun sie auch in ihrem Antrag. In der Schweiz gab es allerdings in den letzten sieben Jahren fast 70 Volksentscheide.
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Ob also direkte Demokratie zur Eindämmung der Gesetzesflut führt, da habe ich meine Bedenken. Ich glaube, es führt zu mehr Gesetzen und vor allen Dingen auch zu einem langsameren Prozess.
Aber auch ich halte ebenso wie die CSU mehr Bürgerbeteiligung für wichtig. Wir haben in unserem Wahlprogramm mehr Bürgerbeteiligung auf Bundesebene eingefordert und jetzt gemeinsam mit der SPD im Koalitionsvertrag vereinbart, dass eine Expertenkommission Vorschläge erarbeiten soll, wie unsere repräsentative Demokratie durch mehr Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie ergänzt werden kann und unser politisches System stabil bleibt. Ich halte es für sinnvoll, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir diese externen Expertenvorschläge erst einmal abwarten und hier miteinander diskutieren.
Jetzt komme ich aber zum Verfahren im Zusammenhang mit einer Enquete-Kommission. Die AFD stellt sich heute hier hin und ermuntert uns alle, mitzumachen.
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Wie ist es denn mit Enquete-Kommissionen in der Vergangenheit gewesen? Eine Enquete-Kommission ist ein überfraktionelles Gremium aus Abgeordneten und Sachverständigen, das komplexe Fragestellungen untersucht und dazu gemeinsame Positionen formulieren soll, die einen breiten gesellschaftlichen Rückhalt haben.
({3})
35 dieser 36 Enquete-Kommissionen, die hier beantragt worden sind, liebe Kolleginnen und Kollegen, wurden mit einer überwältigenden Mehrheit beschlossen. Immer waren fast alle Fraktionen an der Antragstellung direkt beteiligt; denn ohne die konstruktive Mitwirkungsbereitschaft vieler Fraktionen ist eine Enquete-Kommission gar nicht denkbar.
({4})
Sie haben unsere Fraktion zu keinem Zeitpunkt angesprochen und gefragt, wie es denn mit einem gemeinsamen Antrag zur Einsetzung einer Enquete-Kommission ausschaut.
({5})
Sie haben zu keinem Zeitpunkt versucht, sich mit uns allen hier zu verständigen. Oder wollen Sie das Gegenteil behaupten?
({6})
Sie haben Ihren Antrag noch nicht einmal rechtzeitig vorgelegt; denn er wurde uns erst gestern zugestellt.
({7})
Sie können sich hier jetzt wie jeden Donnerstag in Sitzungswochen wieder hervorragend echauffieren; denn Ihr eigentliches Ziel ist es, Schaufensteranträge zu stellen,
({8})
dabei aber nicht mit den anderen Fraktionen zusammenzuarbeiten, um sich aufregen zu können.
({9})
Herzlichen Glückwunsch! Aber dabei machen wir nicht mit.
({10})
Wir werden Ihren Antrag im Innenausschuss beraten.
Vielen Dank.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Manuel Höferlin, FDP.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Nachdem die AfD nun ihre Gespräche beendet hat, fange ich an.
({0})
– Ich möchte jetzt meine Rede halten.
({1})
Ich war gespannt auf Ihren Antrag, Kollegen der AfD-Fraktion, und ich war gespannt auf Ihre Rede. Ich bin enttäuscht worden; denn ich dachte, Sie würden etwas dazu sagen, wie Sie sich direkte Demokratie vorstellen.
({2})
Frau Lindholz hat es gerade schön gesagt: Es ist bezeichnend, warum Sie alleine diesen Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission einbringen. Ein Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission wird eigentlich eingebracht, wenn viele politische Kräfte dieses Hauses sich eine Frage stellen, die gesamtgesellschaftlich noch nicht beantwortet wurde und zu der noch eine Meinungsfindung stattfinden muss. Hier ist der Fall aber so, dass Sie keine Ahnung haben, was Sie jenseits Ihres Wahlkampfgetöses genau wollen. Wenn Sie nicht wissen, was Sie wollen, dann gründen Sie doch bitte einen Arbeitskreis und nicht eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages.
({3})
– Wir haben jedenfalls Vorschläge, wie wir uns das vorstellen.
Sie können Ihre Ideen ja einbringen, aber bitte nicht so. Das Rad muss nämlich nicht neu erfunden werden, und es gibt Haltungen dazu. Ich würde Ihnen gerne sagen, wie diese Haltungen aussehen. Man kann dazu unterschiedlicher Meinung sein. Wenn wir aber hier im Hause über direkte Demokratie sprechen, dann ist es nicht Aufgabe der Bundesregierung, diesem Haus etwas zu direkter Demokratie vorzugeben, sondern es ist originäre Aufgabe des Parlaments, Vorschläge zu machen.
({4})
Deswegen erwarte ich, dass von den Mitgliedern dieses Hauses konstruktive und konkrete Vorstellungen geäußert werden. Das gelingt nicht mit dem Verschieben des Themas in eine Enquete-Kommission.
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– Das mache ich jetzt gleich.
Das Rad muss, wie gesagt, nicht neu erfunden werden, liebe Kollegen;
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denn es gibt bereits viele Vorschläge, die übrigens auch aus anderen Enquete-Kommissionen dieses Hauses kommen. In der 17. Legislaturperiode gab es eine Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, die sich auch mit der Frage der digitalen Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern in diesem Haus beschäftigt hat. Wir haben die Ergänzung der parlamentarischen Demokratie schon vor sieben Jahren vorgelebt durch direkte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger.
Herr Kollege Höferlin, der Kollege Haug würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte, gerne.
Herr Kollege, jetzt habe ich doch eine Frage. Jetzt bin ich etwas irritiert. Sie haben gerade gesagt, es sei nicht Aufgabe der Bundesregierung, eine Enquete-Kommission einzusetzen. Bezog sich das auf unseren Antrag oder auf meine Rede? War das so? Haben Sie sich da gerade auf meine Rede oder auf den Antrag bezogen? Ihre Reaktion zeigt schon, dass das so ist. Ich weiß nicht, ob Sie den Antrag gelesen haben, und ich weiß nicht, ob Sie meine Rede gehört haben. Mit keinem Wort sprechen wir von der Bundesregierung. Wir sprechen natürlich davon, dass der Bundestag eine Enquete-Kommission einsetzen soll.
({0})
Das heißt: Wenn Sie uns zukünftig kritisieren, dann kritisieren Sie uns bitte, wenn Sie in der Sache etwas richtig gelesen haben.
Danke schön.
({1})
Herr Kollege – –
Herr Kollege, bleiben Sie bitte da.
Wie bitte?
Ich habe den Kollegen Haug gemeint. Er soll am Mikrofon bleiben.
Meine Antwort interessiert Sie ja. – Ich habe Ihrer Rede sehr gut zugehört. Ich habe auch Ihren Antrag gelesen. Sie haben in Ihrer Rede gesagt bzw. kritisiert, dass die Bundesregierung keinen konkreten Vorschlag für das Thema Bürgerbeteiligung gemacht hat, weder in der Regierungserklärung der Kanzlerin noch der des Bundesinnenministers.
({0})
Ich teile Ihre Auffassung, dass man die Regierung kritisieren sollte, wenn man Abgeordneter dieses Parlaments ist und eine andere Meinung vertritt. Aber es ist eben nicht originäre Aufgabe einer Bundesregierung, zu sagen, wie das hier im Bundestag zu laufen hat mit der Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an der parlamentarischen Demokratie. Vielmehr ist es unsere Aufgabe, dies zu steuern.
({1})
Wir haben einen Petitionsausschuss. Wir öffnen das Parlament für Beteiligung, und wir möchten, dass mehr Bürger und Bürgerinnen an diesem Verfahren teilnehmen: Das ist das, was Sie gesagt haben. Sie haben im Prinzip die Erwartungshaltung suggeriert, dass die Bundesregierung sich dafür einsetzen soll, dass in diesem Haus Bürgerbeteiligung stattfindet. Das ist aber unsere Aufgabe. Wir können das.
({2})
Dazu brauchen wir nicht die Bundesregierung. Das können wir in diesem Hause selbst machen durch die Änderung der Geschäftsordnung und von Gesetzen.
({3})
Diese Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ hat vorgemacht, wie sich Bürgerinnen und Bürger beteiligen können, wie sie sich einbringen können. Das können wir von uns aus sofort verändern,
({4})
indem wir zum Beispiel mehr Sitzungen dieses Hauses der Öffentlichkeit öffnen, indem wir zum Beispiel Ausschusssitzungen und Anhörungen der Öffentlichkeit öffnen, indem wir die Methode des Livestreamings, die wir in der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ ausprobiert haben, öfter anwenden. Ein gutes Beispiel, ganz aktuell, ist die gemeinsame Sitzung des Rechtsausschusses und des Digitalausschusses, die morgen früh stattfindet. Diese Sitzung wird, obwohl dort ein hoher Vertreter von Facebook anwesend sein wird, nicht öffentlich sein. Ich bin der Meinung: Wenn der US-Kongress eine öffentliche Anhörung bzw. Sitzung durchführen kann, dann können wir das auch. Wir haben es in der Hand, uns zu öffnen und mehr Bürger an unseren Verfahren hier im Haus zu beteiligen.
({5})
Es gibt auch eigene Ideen. Die habe ich bei Ihnen vermisst. Sie nehmen im Prinzip die allgemeinen Worte Ihres Wahlkampfes und tragen sie hier in die Debatte. Das können Sie gern machen, aber es ist entlarvend. Ich will Ihnen eine unserer Ideen dazu vorstellen. Dass wir für mehr Bürgerbeteiligung sind, dass wir mehr Bürgerbeteiligung wollen, ist, glaube ich, bekannt.
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Ich mache Ihnen einen konkreten Vorschlag, den wir auch schon in der Vergangenheit eingebracht haben und den wir hier in diesem Hause im Zuge der Geschäftsordnungsreform, die jetzt anstehen könnte, umsetzen könnten. Wir haben in der Vergangenheit vorgeschlagen, ein Bürgerplenarverfahren einzurichten, das an das Petitionsverfahren anschließt. Derzeit ist es so, dass ein Petent, der eine Petition einreicht, im Petitionsausschuss öffentlich angehört werden kann, wenn 50 000 Menschen innerhalb von vier Wochen diese Petition mitzeichnen. Wir haben in der Vergangenheit schon vorgeschlagen, dass im Rahmen der Beteiligung, zum Beispiel über Onlinetools, eine Petition, wenn es ein wirklich wichtiges Thema ist und eine hohe Anzahl von Unterstützern erreicht ist – zum Beispiel 100 000 Unterstützer innerhalb von zwei Monaten –, hier in diesem Haus im Plenum in einer Bürgerplenarstunde diskutiert wird. Wir würden also die Anliegen von Bürgerinnen und Bürgern deutlich wichtiger nehmen und würden ihnen eine Plattform bieten können – zum Beispiel im Rahmen eines Formats, das ähnlich gestaltet ist wie eine Aktuelle Stunde –, hier dieses Thema aufzusetzen. Es ist ein Initiativrecht. Das Plenum muss sich dann damit in öffentlicher Sitzung beschäftigen. Das kann man auch limitieren, damit es beispielsweise pro Jahr nicht mehr als vier Veranstaltungen dieser Art gibt. Ich halte es für ein angemessenes Verfahren, das wir sofort umsetzen können, nicht erst im nächsten Jahr, am Ende der Legislatur oder in der nächsten Legislatur.
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Dafür brauchen wir keine Enquete-Kommission, dafür brauchen wir fraktionsübergreifend den Willen und die Beschäftigung damit, die Bürger mehr bestimmen zu lassen. Das gehört auf die Agenda. Das würde ich mir im Rahmen der Geschäftsordnungsreform wünschen. Da könnten wir weitergehen, meine Damen und Herren.
({8})
Ich hätte mir gewünscht, dass wir heute über einen Antrag sprechen, wie sich eine Fraktion das vorstellt. Wenn Sie Fragen haben, wie sich die Bundesregierung etwas vorstellt, dann stellen Sie doch eine Kleine Anfrage. Wir werden Ihren Antrag zur Einsetzung einer Enquete-Kommission sicherlich im Ausschuss behandeln. Aber wir sind eigentlich schon viel weiter, als uns die Frage zu stellen, wie wir uns das vorstellen. Jede Fraktion in diesem Haus – offensichtlich bis auf die AfD – hat eine Vorstellung und eine Haltung dazu, wie direkte Demokratie aussehen kann.
({9})
Wir werden das gerne diskutieren. Dafür gibt es die entsprechenden Gremien. Aber dies in einen Arbeitskreis abzuschieben, den Sie Enquete-Kommission nennen wollen, ist falsch.
({10})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch eine Sache sagen: Bevor wir beginnen, über neue Methoden zu reden, sollten wir die bestehenden erst einmal ernst nehmen. Das richtet sich insbesondere an die Kollegen der SPD, der Linken und der Grünen. Wenn Ihnen das Ergebnis einer Bürgerbeteiligung nicht passt – zum Beispiel der Bürgerentscheid zum Flughafen Tegel –, dann ist das kein Grund, Bürgerentscheide am Ende nicht ernst zu nehmen. Mein Petitum ist: Wenn wir Verfahren einrichten – die sind auf Landesebene da –, dann lassen Sie sie uns am Ende gefälligst ernst nehmen.
({11})
Das jedenfalls stärkt nicht das Vertrauen in die Beteiligung der Bürger, sondern das schädigt es. Deswegen: Dort, wo Sie Verantwortung tragen, nehmen Sie die Dinge ernst, und folgen Sie den Entscheiden der Bürger, sonst erweisen wir uns einen Bärendienst.
Herzlichen Dank.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lars Castellucci, SPD-Fraktion.
({0})
Danke, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute Morgen über Demokratie sprechen, dann können wir ruhig erst einmal sagen: Wir sind froh, dass wir sie haben. Wir dürfen nicht müde werden, sie zu schützen und sie lebendig zu gestalten.
({0})
Diese Demokratie ist wahrlich nicht vom Himmel gefallen. Hier sind wir vielen zu Dank verpflichtet. Sie muss immer wieder neu eingeübt werden. Ich habe gestern mit Erzieherinnen und Erziehern einer Kindertagesstätte gesprochen. Dort wird jede Woche eine Kinderkonferenz veranstaltet. Schon die Kleinsten dürfen ihre Themen einbringen und zu bestimmten Fragen, die sie betreffen, entscheiden. Ich finde das großartig, und ich will die Gelegenheit nutzen, allen zu danken, die politische Bildung im Großen, aber auch im Kleinen machen und dafür sorgen, dass unsere Demokratie weitergetragen wird.
({1})
Der vorliegende Antrag beschäftigt sich nur mit einem Ausschnitt, nämlich mit der direkten Demokratie. Ich bin für die direkte Demokratie und sehe auch, dass wir Baustellen haben. Aber ich glaube, wir müssen dieses Thema ein bisschen weiter fassen.
Wir haben ein System einer repräsentativen Demokratie, das seit vielen Jahren für Stabilität in diesem Land gesorgt hat.
({2})
Repräsentativität bedeutet, dass wir hier abbilden sollen, was draußen im Land ist.
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Jetzt frage ich uns einmal: Gelingt uns das denn?
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Wenn ich mir zum Beispiel die Frage der gleichberechtigten Partizipation von Frauen und Männern anschaue, dann schaue ich zur AfD-Fraktion und sehe, dass Sie eigentlich gar keine Anträge stellen müssen, sondern Sie müssen erst einmal Ihre Hausaufgaben machen.
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Ich habe mit dem früheren schweizerischen Botschafter über die direkte Demokratie gesprochen. Es ist ein tolles System, das wir nicht übertragen können, von dem wir aber viel lernen können.
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Er hat zum Beispiel gesagt: In der Schweiz, die Sie angesprochen haben, ist ein Viertel der Menschen, die dort Steuern zahlen, Unternehmen gegründet haben und arbeiten, ausgeschlossen von den Wahlen und Abstimmungen, weil sie nicht über den schweizerischen Pass verfügen.
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Ich bin für ein Demokratiemodell, bei dem wir die Partizipation, die Teilhabe von allen Menschen erreichen wollen.
({8})
Das erreichen wir mit Ihrem direktdemokratischen Verfahren allein nicht.
Ein zweites Beispiel. Meine politischen Vorfahren haben irgendwann einmal dafür gekämpft, dass unabhängig davon, ob du Geld besitzt, ein Stück Land hast oder aus welcher Schicht du kommst, jede Stimme gleich viel wert ist. Heute dagegen können wir bis in die Wahlbezirke nachvollziehen – wir haben die Untersuchung vorliegen –, dass gerade die Ärmeren nicht mehr an einer Wahl teilnehmen und an der Demokratie teilhaben. Das zerbricht mir das Herz. Wir erkämpfen für jeden eine Stimme, und dann nehmen ausgerechnet diejenigen, für die wir es erkämpft haben, dieses Recht nicht mehr in Anspruch. – Den damit verbundenen Fragen müssen wir uns stellen, und gleichzeitig wissen wir: Auch da bringt uns die direkte Demokratie nichts, weil diese Menschen auch an direktdemokratischen Verfahren gar nicht teilnehmen würden; es wären nur sehr kleine Kreise, die sich jeweils ihre Fragen herauspicken würden.
Die Fragen zur Verlebendigung der Demokratie, die sich uns stellen, sind vielfältiger, und sie sind nicht allein mit dem zu beantworten, was Sie in Ihrem Antrag formulieren.
({9})
Deswegen ist es gut, dass sich die Koalition auf eine Expertenkommission verständigt hat, die nicht nur über direkte Demokratie, sondern über die Stärkung der Demokratie insgesamt sprechen soll.
({10})
Jetzt möchte ich den Antragstellern noch etwas sagen. Sie haben das hier jetzt sehr sachlich vorgetragen. Aber Demokratie hat einen Ausgangspunkt, und es ist ein zarter, verletzlicher Ausgangspunkt. Dieser Ausgangspunkt ist die Menschenwürde, mehr noch: die gleiche Würde aller Menschen. Wenn Sie dann, wie in der vergangenen Woche, hier eine Anfrage stellen, in der Sie Behinderung, Inzest und Migration irgendwie verrühren,
({11})
dann verletzen Sie die Menschenwürde.
({12})
Man muss sich schon schämen, was in deutschen Parlamenten wieder gesagt und aufgeschrieben wird. Ihr Kollege im saarländischen Landtag hat von behinderten Menschen auf der einen und normalen Menschen auf der anderen Seite gesprochen.
({13})
Entschuldigung, das ist unsäglich, und damit beschädigen Sie die Demokratie.
({14})
Noch etwas zum Thema Sachlichkeit: Der Antrag liest sich anders, aber eigentlich bedienen Sie hier mal wieder die Grundmelodie, die von Rechtspopulisten und Rechtsextremen
({15})
schon immer vorgetragen wurde, nämlich: Hier ist das Volk, und da sind die anderen. – Wissen Sie, was das ist? Das ist im Kern eine antidemokratische Haltung, die Sie hier offenbaren.
({16})
Wir sind hier nicht gewählt, um die Leute gegeneinander aufzuhetzen, sondern, um zusammenzuarbeiten. Demokratie ist eine Gemeinschaftsaufgabe.
({17})
Insofern passt hier das Sprichwort vom Bock, der zum Gärtner gemacht wird:
({18})
Sie tun hier so, als ob Sie unsere Demokratie ein bisschen hegen und pflegen wollen.
({19})
In Wahrheit schießen Sie einen Bock nach dem anderen und zertrampeln unsere Demokratie. Da werden Sie uns immer zum Gegner haben.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Friedrich Straetmanns, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Der Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission „Direkte Demokratie auf Bundesebene“ steht heute zur Beratung auf der Tagesordnung. Mit diesem Antrag soll, so die Begründung, eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen ermöglicht werden.
Grundsätzlich teilen meine Partei und die Fraktion Die Linke den Vorschlag, mehr Verfahren der direkten Demokratie einzuführen.
({0})
In der von der AfD geforderten Enquete-Kommission wollen Sie allerdings Themen besprechen, meine Damen und Herren von der AfD, die wir selbst seit Jahren bearbeiten. Wir als Fraktion Die Linke fordern seit langem, dass in einer lebendigen Demokratie erweiterte Möglichkeiten direkter demokratischer Entscheidung eröffnet werden. Geschafft werden soll das nach unserer Vorstellung durch Mitwirkung in Volksinitiativen, durch Volksbegehren, Volksentscheide sowie Bürgerbegehren und Bürgerentscheide.
({1})
Zugleich fordern wir obligatorische Volksentscheide über die EU-Verträge. Die Menschen müssen EU-weit das Recht erhalten, über Bürgerinitiativen, Bürgerbegehren und Bürgerentscheide wirksam Einfluss auf Europa zu nehmen.
({2})
Das sollte auch bald passieren. Darum haben wir, anders als die AfD, in dieser Legislaturperiode bereits einen konkreten Gesetzentwurf zu der Frage direkter Demokratie vorgelegt,
({3})
mit dem eine wirkliche und sofortige Umsetzung erfolgen kann. Deshalb bedarf es hier nicht der Beerdigung zweiter Klasse in einer Enquete-Kommission, sondern einer Debatte über unseren Vorschlag.
({4})
Nach unserem Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der direkten Demokratie im Grundgesetz gibt es ein juristisch abgestimmtes Verfahren zur Volksgesetzgebung mit einer Kontrolle durch das Verfassungsgericht. Dadurch wird nach unserer Vorstellung der Bevölkerung ermöglicht, demokratisch auch zwischen Wahlen Einfluss auf die Politik zu nehmen. Die in unserem Gesetzentwurf vorgesehene Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht gewährleistet, dass keine verfassungswidrigen Ziele über das Verfahren zur Volksgesetzgebung verfolgt werden.
Die Annäherung an das Verfahren in der Schweiz, die von der AfD ja offenbar gewünscht wird, sehen wir deshalb kritisch. Volksabstimmungen in der Schweiz richten sich oft gegen Minderheitenrechte. Wir verweisen diesbezüglich auf die Volksabstimmung zum Verbot des Baus von Minaretten.
({5})
Diese Minderheitenrechte sind in Deutschland durch die Verfassung geschützt, und das ist auch gut so.
({6})
Dass Ihnen von der AfD solche Initiativen vorbildlich erscheinen, zeigt Ihren verächtlichen Umgang mit den Rechten von Minderheiten.
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Vielleicht ist der Grund für die Affinität zur Schweiz auch ein anderer. Oder, Frau Weidel, zahlen Sie zwischenzeitlich Ihre Steuern in unserem Land? Und wenn nein: Wissen das Ihre Wählerinnen und Wähler?
({8})
– Ich habe Sie gefragt. Sie könnten das einmal öffentlich bekunden.
({9})
– Jetzt regen Sie sich ab.
({10})
Sonst teilen Sie aus. Jetzt können Sie auch einmal ertragen, dass Sie etwas härter angefasst werden.
({11})
– Bleiben Sie gelassen, und hören Sie einfach zu.
Direkte Demokratie setzt nach unserer Vorstellung mündige Bürgerinnen und Bürger voraus. In Sachen Mündigkeit brauchen Sie aber offenbar auch Nachhilfe: Einerseits sind Jugendliche für Sie statt mit 14 Jahren bereits mit 12 Jahren mündig genug, dass sie die volle Härte des Jugendstrafrechts treffen kann, andererseits halten Sie in Thüringen 16-Jährige für nicht mündig genug, um an der Kommunalwahl teilzunehmen, und klagen dagegen. Liegt das vielleicht daran, dass Ihnen das Wahlergebnis in dieser Altersgruppe möglicherweise nicht passen könnte? Wie geht das zusammen? Darauf hätte ich gerne eine Antwort von Ihnen.
({12})
Und an die Adresse der Koalitionsfraktionen: Instrumente direkter Demokratie sind wichtig – Kollege Castellucci hat darauf verwiesen –; wir fordern diese schon seit langem. Aber wir müssen auch an die Bedingungen denken, unter denen sich die Menschen in unserem Land mit Politik befassen können. Studien belegen, dass hohe Nichtwählerzahlen auch etwas mit Armut zu tun haben. Als Sozialrichter kenne ich die Bedingungen, unter denen Menschen mit geringem Einkommen leben, recht gut. Und aus eigener Anschauung muss ich Ihnen sagen: Diese Menschen leiden unter Stress. Wenn sich jemand laufend Sorgen machen muss, ob die Waschmaschine noch hält, oder er sich mit riesigem Aufwand mit der Verwaltung um den Lebensunterhalt streiten muss, fällt es schwer, sich gesellschaftlich und politisch zu engagieren. Das ist Tatsache.
({13})
Weitere Teile der Bevölkerung leiden unter Stress, weil sie fürchten, eines Tages abzusteigen und ebenfalls bei den Sozialgerichten zu stehen. Tun Sie als Regierungskoalition hier etwas. Sorgen Sie wenigstens ansatzweise für die Wiederherstellung sozialer Gerechtigkeit, damit die Menschen in diesem Land in die Lage versetzt werden, Zeit und Energie aufzubringen, um sich gesellschaftlich zu engagieren. Dann steigt auch wieder die Beteiligung an den Wahlen. Da sind wir uns sicher.
({14})
Zurück zum Thema: Eine Enquete-Kommission dient dazu, Handlungsvorschläge zu erarbeiten. Diese liegen nach unserer Überzeugung mit unserem Gesetzentwurf bereits auf dem Tisch, und über diesen sollten wir reden.
({15})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Britta Haßelmann, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Rechtsstaat und unsere repräsentative Demokratie sind unsere größten und wichtigsten Errungenschaften als Gesellschaft.
({0})
Die verfassungsrechtliche Werteordnung des Grundgesetzes ist die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben aller Menschen in unserem Land.
Die Demokratie in Deutschland und in Europa voranzubringen und direkte demokratische Entscheidungen zu ermöglichen, ist seit jeher Ziel grüner Politik. Aber ebenso bedeutend ist der aktive Menschenrechts- und Minderheitenschutz. Deswegen gehört dieses Thema in jede Debatte über repräsentative und direkte Demokratie.
({1})
Der Schutz von Minderheiten gehört genauso zur Demokratie wie die Mehrheitsentscheidung; denn durch sie werden die Entscheidungen der Mehrheiten legitim.
Es spricht viel dafür, unsere Demokratie weiterzuentwickeln. Wir Grüne haben seit jeher für unsere repräsentative Demokratie ein klares Bekenntnis abgegeben. Wir haben aber immer auch gesagt: Lasst uns überlegen, wie wir diese Demokratie lebendiger machen können. Wie können wir unsere parlamentarische Demokratie, auch auf Bundesebene, ergänzen durch Elemente der direkten Demokratie, durch mehr Beteiligung, mehr Partizipation, mehr und bessere Bürgerbeteiligung bei Gesetzgebungsverfahren, durch die Förderung von Beteiligung und Demokratiebildung von Kindern und Jugendlichen – meine Damen und Herren, das war heute noch gar nicht Thema; im Antrag steht auch dazu nichts – und – bedeutend für diese Frage – durch die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements und unserer lebendigen Zivilgesellschaft? Das alles, meine Damen und Herren, müssen wir zusammen denken.
({2})
Das Thema ist viel komplexer, als uns diese Eingangsrede und vor allen Dingen dieser wirklich leidenschaftslose und dahingefluppte Antrag vormacht.
({3})
Uns ist bewusst, dass die direkte Demokratie auch für menschenverachtende Hetze, für Diskriminierung, für den Abbau von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechten von Menschen benutzt und missbraucht werden kann. Meine Damen und Herren, deshalb ist es vielleicht kein Wunder, dass in diesem Antrag das Wort „Minderheitenschutz“ überhaupt nicht vorkommt.
({4})
Die Frage nach dem Verhältnis von Elementen direkter Demokratie zum Rechtsstaat – dem gilt unsere Sorge; dafür tragen wir Verantwortung – ist in diesem Antrag überhaupt nicht enthalten. Da steht nichts von Minderheitenschutz. Meine Damen und Herren, hier im Deutschen Bundestag, in den Landtagen und bei Ihren öffentlichen Wahlkampfauftritten ist deutlich geworden: Sie wollen Kampagnen gegen Gotteshäuser, gegen Flüchtlinge und alles, was nicht in Ihr Weltbild passt.
({5})
Und dazu wollen Sie den Hebel der direkten Demokratie nutzen.
({6})
Angesichts dessen müssen wir uns schützend davorstellen.
({7})
Wir wollen die Debatte über direkte Demokratie, und wir wollen mehr Elemente direkter Demokratie. Ich finde, diese Debatte ist noch nicht zu Ende, Friedrich Straetmanns. Ich finde, diese Debatte muss ganz intensiv geführt werden.
({8})
Aber wir wollen keine Plattform schaffen für Hetzkampagnen gegen Menschen anderer Herkunft, gegen Lesben und Schwule, Obdachlose, Andersdenkende, Andersgläubige oder sozial Benachteiligte.
({9})
Wenn ich mir die letzten fünf Monate im Deutschen Bundestag vor Augen führe, dann weiß ich, dass ich allen Grund habe, darüber zu sprechen.
({10})
Meine Damen und Herren, es gibt einen großen Unterschied zwischen der AfD und uns hinsichtlich des Anspruchs bei den direkten Beteiligungen: Sie von der AfD wollen direkte Demokratie statt Rechtsstaat, und wir Grüne wollen mehr direkte Demokratie im Rechtsstaat. Da liegt der ganz entscheidende Unterschied.
({11})
Jetzt lassen Sie mich kurz etwas zum Antrag sagen,
({12})
zur Forderung nach Einsetzung einer Enquete-Kommission. Die drei Forderungen, die der Kollege hier vorgetragen hat, die für die AfD im Hinblick auf direkte demokratische Beteiligungen wichtig sind, stehen überhaupt nicht im Antrag.
({13})
Vielleicht sollten Sie das mal klären. Herr Haug, Sie haben hier drei Forderungen der AfD genannt. Aber warum stehen die nicht im Antrag? Das ist komisch.
({14})
Das kommt wahrscheinlich daher, dass Sie aus der Hüfte geschossen haben
({15})
und das Ding erst gestern eingebracht haben. Ich finde, wir sollten mit mehr Ernsthaftigkeit, mit mehr Souveränität und mit mehr Seriosität an diese komplexen Fragen gehen.
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Wir lassen uns doch von so einem Antrag, der mal eben runtergeschrieben wurde und noch nicht einmal in Einklang zu bringen ist mit den drei Forderungen, die der Kollege hier vorgetragen hat, nicht vorführen.
Meine Damen und Herren, vor der Einsetzung einer Enquete-Kommission braucht man Zeit für Beratungen und Debatten unter den Fraktionen.
({17})
Sie sollten sich die Beispiele einmal vor Augen halten: Als es um die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, die wir hatten, ging, ist monatelang zwischen den Fraktionen beraten worden, wie wir das machen wollen, welchen Anspruch und welche Ideen jede einzelne Fraktion hat. Auch die Berichterstatter haben sich beraten. Das Gleiche gilt für die Enquete-Kommission zu Wachstum und Nachhaltigkeit.
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Auch da haben wir monatelang darüber geredet: Welche Interessen haben die einzelnen Kolleginnen und Kollegen der jeweiligen Fraktionen? Was schlägt eine Fraktion vor, ohne Aufträge an die Bundesregierung zu geben? Um all das, meine Damen und Herren, muss es gehen, und zwar in großer Ernsthaftigkeit.
Hinzu kommt: Die Beteiligung soll bei Ihnen großgeschrieben werden. Sie wird aber ganz kleingeschrieben; denn für die Arbeit der Enquete-Kommission ist nur ein Jahr angesetzt. Das ist ein Witz. Außerdem sollen nur neun Sachverständige und neun MdBs vertreten sein. Und Sie reden von Beteiligung! Was ist das denn, meine Damen und Herren?
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Da müssen wir uns von Ihnen nichts erzählen lassen. Beteiligung sieht anders aus. Darüber sollten wir jetzt ganz in Ruhe, in aller Ernsthaftigkeit und Seriosität reden. Ihr Antrag hat dafür keine Grundlage gelegt.
({20})
Jetzt erteile ich das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen Baumann, AfD.
Herr Präsident! Wir haben heute ein wirklich wichtiges Kernthema vorgetragen, das die Herzkammer des Parlamentarismus betrifft.
({0})
Es geht um Demokratie, Abstimmungen und Wahlen. Wir haben uns nicht darauf beschränkt, ganz konkrete Vorschläge zu machen und einen Katalog von zehn Punkten vorzulegen, von denen ein oder zwei abgelehnt werden können. Hier im Parlament konnte man ja die Erfahrung machen, dass viele Fraktionen solche Vorschläge gemacht haben. Sie sind dann immer abgelehnt worden, weil es keine Übereinstimmung ab. Deswegen haben wir jetzt die Einsetzung einer Enquete-Kommission beantragt, Frau Haßelmann, einer Enquete-Kommission, in der wir gemeinsam beschließen können, was möglich ist und was nicht, um das Volk stärker zu beteiligen, das gerade Ihre Rede gehört und wahrgenommen hat, mit welch fadenscheinigen Verleumdungen auch uns gegenüber Sie gearbeitet haben.
({1})
Ihr ganzer angeblicher Einsatz für Demokratie, Menschenrechte und was Sie hier alles vorgetragen haben, ist reine Heuchelei. Im Hintergrund steht Ihre Machtpolitik, wenn Sie einen solchen Antrag so sehr verdammen, ohne Argumente zu nennen, Frau Haßelmann.
({2})
Was hier und heute deutlich geworden ist wie im Brennglas, ist die totale Verweigerungs- und Blockadestrategie, die Sie fahren, und zwar gemeinsam mit linken Teilen von SPD und Union.
({3})
Es ist ja nicht so, dass wir nur eine Enquete-Kommission einsetzen wollen, in der alle Fraktionen mitarbeiten und sich gemeinsam Gedanken machen sollen, welchen Vorschlag man dem deutschen Volk unterbreiten kann, um eine stärkere Beteiligung zu ermöglichen.
({4})
Nicht nur dem haben Sie nicht zugestimmt. Vielmehr geht es auch um die Überweisung an den Ausschuss, Frau Haßelmann, wo man weiter daran arbeiten und die Dinge verfeinern kann. Wir wollen, dass alle Ebenen durch gemeinsame Arbeit zu einer besseren Durchführung von Demokratie, Volksabstimmungen und allem, was da möglich ist – die Schweiz und die USA machen es uns vor –, beitragen. Sie blockieren sogar das, um die AfD zu blockieren, Frau Haßelmann. Das lassen wir nicht auf sich beruhen.
({5})
Frau Kollegin Haßelmann, wenn Sie mögen, können Sie antworten.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Baumann, ich kann nichts dafür, dass Ihr Antrag schlecht ist.
({0})
Ich kann auch nichts dafür, dass Sie jetzt so ein Mimimi veranstalten.
({1})
Sorry, aber ich möchte über direkte Demokratie und über die Einbettung von direkter Demokratie in den Rechtsstaat auf der Grundlage des Grundgesetzes in aller Ernsthaftigkeit reden.
({2})
Ich habe Sie mit der Frage konfrontiert, warum das Thema Minderheitenschutz in Ihrem Antrag keine Rolle spielt; es kommt darin noch nicht einmal vor. Ich habe Sie auch gefragt, warum die drei Forderungen, die für Sie essenziell sind und die Ihr Redner in seinem Debattenbeitrag vorgetragen hat, nicht im Antrag stehen. Ich habe die Vermutung: Das liegt daran, dass Sie hier schnell etwas zusammengeschustert haben, um am Mittwochmorgen einen Antrag vorlegen zu können.
({3})
Das Thema ist aber zu ernst, meine Damen und Herren,
({4})
als dass wir uns wegen eines schlechten Antrags und eines solchen Mimimi mit diesem Thema befassen.
({5})
Jetzt erteile ich dem Kollegen Christoph de Vries das Wort zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem die Nerven bei der AfD schon wieder blank liegen,
({0})
will ich gerne zur Sachlichkeit zurückfinden, auch wenn es etwas schwerfällt. Sie fordern immer Ernsthaftigkeit ein. Dieses wichtige Thema haben Sie vor drei Wochen angemeldet. Und was machten Sie dann? Sie legten den Antrag erst gestern vor. Das zum Thema Ernsthaftigkeit auf Ihrer Seite!
({1})
Ich will zum Wesen der repräsentativen Demokratie kommen; das ist bisher etwas zu kurz gekommen. Verantwortungsvolle Politik in der Demokratie lebt vor allem davon, dass sie mehr von Sachverstand und Vernunft und weniger von Stimmungen und Emotionen geleitet wird. Das sollten wir uns immer vor Augen führen, wenn wir über die Stärkung plebiszitärer Elemente reden.
Der frühere Bundespräsident Roman Herzog hat zu Recht einmal gesagt:
Unsere freiheitliche Demokratie lebt nicht von Umfragen, sie lebt von Engagement und Courage!
Ich will das gerne ergänzen: Unsere Demokratie lebt von der Bereitschaft aller Beteiligten, aufeinander zuzugehen.
({2})
Sie lebt davon, dass die Vertreter unterschiedlicher Positionen aufeinander zugehen, dass Einzelinteressen nicht über dem Gemeinwohl stehen, dass gute Argumente zählen und dass es nicht nur um Gewinner und Verlierer geht.
({3})
Das sind all die Vorzüge der repräsentativen Demokratie in Deutschland, und wir sind gut beraten, diese Vorzüge nicht kleinzureden und leichtfertig aufs Spiel zu setzen;
({4})
denn die Väter unseres Grundgesetzes haben aus guten Gründen ein starkes Parlament eingeführt und die Elemente direkter Demokratie stark beschränkt.
Ich will mal auf ein Wesensmerkmal der repräsentativen Demokratie zu sprechen kommen, nämlich das AKV-Prinzip. Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung liegen danach in einer Hand. Komplexe politische Fragen – das ist gesagt worden – sind eben meistens nicht mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten. Die Entscheidungen erfordern ein hohes Maß an Abwägung, Genauigkeit und Sachverstand, und all das ist in der arbeitsteiligen Arbeit unseres Parlaments gewährleistet.
({5})
Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass nicht auch Fehler gemacht werden. Wo wären wir! Für Fehler können und werden die politisch Verantwortlichen bei den nachfolgenden Wahlen aber zur Rechenschaft gezogen – in manchen Fällen auch juristisch. Ich frage Sie aber mal: Wer wird denn zur Rechenschaft gezogen, wenn wie in Berlin nach der Volksabstimmung 2014 über die Nachnutzung des Tempelhofer Flughafens 30 000 Wohnungen nicht gebaut werden können, obwohl die Mieten explodieren und Tausende Menschen keinen bezahlbaren Wohnraum finden? Niemand!
({6})
Im Anschluss muss das dann die Politik wieder richten. An der Stelle sage ich ganz klar: Eine Entscheidung ohne Kompetenz und Verantwortung bedeutet nicht mehr Demokratie, vielmehr kann sie zur Gefahr für die Demokratie werden.
({7})
Hier sind wir auch beim Unterschied zu Ihnen, zur AfD. Ihnen geht es ja nur noch um das Wie; das haben Sie ja auch dargelegt. Sie wollen eine Enquete-Kommission einsetzen, die im Grunde nur noch – „nur noch“ in Anführungszeichen – die Details klärt. Wir sind anders. Uns geht es erst einmal um das Ob. Wir haben diese Frage noch nicht beantwortet.
Interessant sind Ihre Begründungen im Antrag. Ich habe ihn gelesen, obwohl die Zeit nur kurz war. Sie sprechen von „Wahlmüdigkeit“ und „Politikverdrossenheit“, von einem hohen „Zuspruch für direktdemokratische Mitbestimmung“ und von einer „Belebung ... der Demokratie auf Landes- und Kommunalebene“.
Schauen wir uns mal die Fakten an – die nehmen Sie ja nicht immer so genau –:
({8})
Wie hoch ist denn die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl? Bei der letzten Bundestagswahl lag sie mit 76 Prozent auf demselben Niveau wie bei der Wiedervereinigungswahl von 1991.
({9})
Seit drei Jahrzehnten ist die Wahlbeteiligung auf Bundesebene nahezu unverändert.
({10})
Jetzt kommen wir mal zu den positiven Beispielen, die Sie nennen, zu den USA und der Schweiz: Wie sieht in den USA die Wahlbeteiligung bei Präsidentschaftswahlen aus? Sie lag bei 59 Prozent und damit 17 Prozentpunkte niedriger als in Deutschland. Sie haben auch die Schweiz angeführt. Dort lag sie bei 48 Prozent, also ganze 28 Prozentpunkte niedriger als bei den deutschen Bundestagswahlen.
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Kommen wir zum letzten Punkt, zur Belebung der Demokratie auf Länderebene; Sie haben es angesprochen. Wie sieht es denn mit der Belebung aus? Ich komme noch mal zu der Entscheidung zu Tempelhof von 2014 zurück. 46,1 Prozent der Wahlberechtigten haben damals diese Entscheidung getroffen. Bei der Wahl im Abgeordnetenhaus, die danach folgte, lag die Wahlbeteiligung um gut 20 Prozentpunkte höher.
Ein ähnlich umstrittenes Projekt ist Stuttgart 21. Dort haben 48,3 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben, obwohl es hochumstritten war. Bei der nachfolgenden Landtagswahl waren es 18 Prozentpunkte mehr.
Hier müssen wir uns schon die Frage stellen: Warum soll es bei diesen Entscheidungen mehr Legitimität geben als bei den allgemeinen Wahlen?
Sie sehen selbst: Von Ihrer Argumentation bleibt an dieser Stelle nur wenig übrig. Die Beteiligung der Menschen an den allgemeinen Wahlen auf Bundesebene ist auf einem hohen Niveau. Das ist sie auch im internationalen Vergleich. Der Zuspruch der Wähler bei direktdemokratischen Abstimmungen, die Sie hier so positiv dargestellt haben, ist in aller Regel überschaubar. Auch dies zeigt: Direkte Demokratie bedeutet eben nicht, dass sie demokratischer ist als repräsentative Demokratie. Das Gegenteil ist häufig sogar der Fall.
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Wenn wir uns die Faktenlage anschauen, dann fragen wir: Was reitet Sie eigentlich bei diesem Vorstoß? Eines ist doch ganz klar: Um die Stärkung der Demokratie geht es Ihnen ganz gewiss nicht.
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Ihr Antrag ist doch vielmehr der Versuch, für Ihre populistische Politik Mehrheiten durch die Hintertür zu bekommen, die Sie hier im Parlament nicht haben, meine Damen und Herren.
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Herr Gauland hat es ja nach der Wahl gesagt. Sie wollen die Regierung besser jagen können, auch wenn Sie dafür keine parlamentarische Mehrheit haben. Sie führen mit unserer Demokratie nichts Gutes im Schilde. Das liegt doch auf der Hand.
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Ich komme zum Schluss. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden den Koalitionsvertrag selbstverständlich umsetzen. Wir werden auch eine Expertenkommission einsetzen. Aber da werden wir uns von Ihnen nicht treiben lassen. Eines ist klar: Jede Stärkung der direkten Demokratie ist zugleich eine Schwächung des Parlaments. Deshalb müssen wir wachsam sein und sehen, wie wir diese Kommission zusammensetzen und wer da mitwirkt; denn klar ist auch: Es darf bei der Umsetzung keinen Automatismus geben.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt Ihren Schlusssatz sagen.
Das muss Gegenstand dieses parlamentarischen Verfahrens sein.
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Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Abgeordnete Michael Espendiller für die AfD, der seine erste Rede im Deutschen Bundestag hält.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem heute hier eingebrachten Antrag zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Direkte Demokratie auf Bundesebene“ verfolgen wir das Ziel, noch in dieser Legislatur Volksentscheide auf Bundesebene einzuführen. Klar: In diesem Antrag sind wir nicht besonders konkret geworden. Wir brauchen eine Zweidrittelmehrheit, um das Grundgesetz zu ändern. Wir müssen einen Konsens zwischen den verschiedenen Parteien finden.
Frau Lindholz, tut mir leid, wir haben Sie wirklich nicht gefragt. Ich dachte, es gibt einen Unvereinbarkeitsbeschluss, dass die CDU/CSU nicht mit der AfD redet. Ich freue mich, dass Sie ihn langsam aufheben.
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Frau Haßelmann, wenn der Antrag zu langweilig, zu trocken und – Zitat – „leidenschaftslos“ ist, dann malen Sie halt Regenbögen darauf.
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Seit Jahrzehnten wird in dieser Republik über das Für und Wider von mehr Bürgerbeteiligung diskutiert, und seit Jahrzehnten gibt es hier keine Ergebnisse. Währenddessen wird weiter über die Köpfe der Menschen hinweg regiert. Dabei geraten die Grundlagen unseres Gemeinwesens völlig aus dem Blick. Eine ganz wesentliche Funktion der Demokratie ist die Eindämmung von Machtmissbrauch und unverhältnismäßiger Machtausübung.
Aber wie sieht die Realität aus? Bei allen wichtigen Fragen, die der Bundestag in den vergangenen Jahren zu entscheiden hatte, waren sich die Fraktionen seltsam einig. Egal ob Euro-Rettung, Grenzöffnung oder Kernenergie: Stets herrschte breite Einigkeit über die Alternativlosigkeit von politischen Entscheidungen. Aber wer von Alternativlosigkeit spricht, hat nicht lang genug über das Problem nachgedacht. Alternativlosigkeit ist die größte Bedrohung der Demokratie;
({2})
denn Demokratie lebt vom Streit. Sie lebt von der Kontroverse. Sie lebt vom Wettbewerb der politischen Ideen. Demokratie ist das Ringen um die beste Lösung für unser Land. Was ist davon eigentlich geblieben? Und wo bleibt bei all dem der Bürger? Er steht unpersönlichen Verwaltungseinheiten gegenüber. Er bekommt mehr und mehr Vorschriften gemacht. Er muss einen immer größeren Anteil seines Verdienstes an den Staat abgeben und darf Wahlgeschenke auf Kosten der nächsten Generation finanzieren. Zahlen dürfen die Menschen immer, mitreden dürfen sie nie.
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Wir wollen auch Volksentscheide über finanzrelevante Dinge. Aber das werden wir dann in dieser Kommission diskutieren, wenn sie denn kommen sollte. Wir als AfD-Fraktion werden die genannten Dinge auf jeden Fall ändern. Wir wollen, dass nicht nur das Parlament entscheidet. Wir wollen, dass das Volk selber über sein eigenes Schicksal entscheiden kann. Da reicht es uns nicht, wenn eine Ausschusssitzung öffentlich ist. Das Volk will selber entscheiden.
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– Man kann direkt mit der richtigen Sache starten. In der Schweiz klappt das perfekt.
Deswegen, liebe Kollegen: Gucken Sie in Ihre Wahlprogramme. Sie haben im Wahlkampf sehr häufig versprochen, dass es Volksentscheide geben wird. Lassen Sie diesen Worten endlich Taten folgen. Stimmen Sie mit uns für die Einsetzung dieser Kommission; die Details können wir im Innenausschuss gerne noch klären. Dann werden wir dort einen gemeinsamen Entwurf erarbeiten, der hier mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
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– Erste Rede, okay.
In der zweiten Rede, gerne; okay. – Dann wird es in Deutschland auch endlich Volksentscheide geben.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner ist der Abgeordnete Mahmut Özdemir für die SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, ob die Antragsteller Interesse an einer sachlichen Debatte haben oder nicht, deshalb gibt es vorab eine Zusammenfassung auf Niederrheinisch: Da haben Sie mal wieder Stuss zusammengefrickelt.
Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes besagt:
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt.
Spätestens alle vier Jahre findet ein urdemokratischer Akt in der Bundesrepublik statt. In allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl treffen die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger die Entscheidung darüber, wer sie vertreten darf. Es gibt Sieger und Verlierer. Es gibt eine Mehrheit, die regiert, und eine Minderheit, die durch steten Widerspruch im Rahmen der Parteiendemokratie wieder oder überhaupt die Mehrheit erlangen möchte.
Nun haben wir als SPD-Bundestagsfraktion bereits ohne die Notwendigkeit der Einsetzung einer Enquete-Kommission erkannt, dass es in der Bundesrepublik den Drang und den Wunsch der Menschen im Land nach mehr unmittelbaren Beteiligungsformen gibt. Diese möchten nicht nur allgemein oder im Geheimen alle vier Jahre ihren Protest oder ihre politische Haltung ausdrücken, welche sie möglicherweise auf einzelne Sachfragen beschränken, sondern sie streben auch nach der grundgesetzlichen Möglichkeit, im Einzelfall an die Seite oder die Stelle der gewählten Bundestagsabgeordneten zu treten.
Das Bedürfnis, die Stimme zu erheben, hat diesem Parlament bereits zur Entscheidung vorgelegen. Die ursprünglichen Gesetzentwürfe, die im Übrigen auch eine Grundgesetzänderung vorschlagen, tragen die Drucksachennummern 17/13873 und 17/13874 – Nachhilfe in parlamentarischer Arbeit habe ich Ihnen schon einmal angeboten – und stammen aus der Feder der SPD-Bundestagsfraktion. Insofern braucht meine Fraktion weder diesen Antrag noch Ihren Anstoß, sondern nur eine Zweidrittelmehrheit.
({0})
Unmittelbaren Mitwirkungsrechten stehen wir im Übrigen aufgeschlossen und sehr wohlwollend gegenüber. Wir haben der Festschreibung im Grundgesetz auch die entsprechende Gebrauchsanweisung für die Umsetzung von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden beigefügt.
Dennoch sind unmittelbare demokratische Regelungen im Grundgesetz kein Selbstzweck. Sie ersetzen auch keine Mehrheitsentscheidungen. Erst recht sind sie keine Zurschaustellung von Misstrauen gegenüber Abgeordneten und Parlamenten. Vielmehr gilt, dass die mittelbare Demokratie und damit das Wählen von Abgeordneten die Regel darstellt. Die unmittelbare Demokratie ist und bleibt damit eine Ausnahme, die den Handlungsspielraum erweitert, weil sie Entscheidungen des Deutschen Bundestages im äußersten Einzelfall zu verlagern vermag und im besten Fall eine Beschäftigung mit bisher nicht beachteten Sachverhalten veranlasst.
Beide Arten der Demokratie haben grundsätzlich eine Gemeinsamkeit: Am Ende steht jeweils eine Entscheidung. Unabhängig von den deutlichen oder knappen Entscheidungsergebnissen bleibt eine Mehrheit auch eine Mehrheit. Entscheidungen gründen schließlich auf Vertrauen.
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Sowohl die mittelbare als auch die unmittelbare Demokratie sind daher vereint in dem Vertrauen, dass Entscheidungen akzeptiert und respektiert werden, eben weil man sich auch vorher beteiligen konnte. Sofern man sich natürlich an diese demokratischen Spielregeln nicht halten möchte, versucht man, Zweifel zu säen und sich als Opfer darzustellen. Das sehen wir besonders auf der rechten Seite des Hauses in letzter Zeit regelmäßig.
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Ob nun eine Befassung des Deutschen Bundestages mit einer Gesetzesvorlage oder die Überprüfung von bereits beschlossenen Gesetzen durch unmittelbare Volksbeteiligung der Gegenstand ist: Am Ende steht entweder eine Verlagerung oder die Bestätigung der Entscheidung des Parlamentes. Diese Einheit von mittelbarer und unmittelbarer Demokratie stellt, wie gesagt, mehr ein Regel-Ausnahme-Verhältnis dar als, wie uns die Antragsteller glauben machen wollen, eine Berichtigung durch das Staatsvolk, das dadurch nach seinem zuvor gezeigten Vertrauen möglicherweise ein Misstrauen zeigt, indem es eine Entscheidung wieder an sich zieht.
Die SPD-Bundestagsfraktion war und ist Fürsprecher der unmittelbaren Demokratie. Unsere Position ist maßvoll, zurückhaltend, aufrichtig und erweitert den Spielraum des Artikels 20 Absatz 2 des Grundgesetzes dem Sinn und Zweck nach, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Unsere Gesetzentwürfe aus der 17. Legislaturperiode schmieden aus den mittelbaren und unmittelbaren Bestandteilen eine Einheit des Vertrauens gegenüber auf Zeit gewählten Parlamentariern und der Erweiterung demokratischer Teilhabe im Staat.
Kurzum: Eine Enquete-Kommission brauchen wir nicht; denn wir haben unsere Hausaufgaben bereits erledigt.
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Ich rufe Sie herzlich dazu auf, Ihre Hausaufgaben zu machen.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist Philipp Amthor für die Fraktion der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD will eine Enquete-Kommission für mehr direkte Demokratie auf Bundesebene einsetzen. Das klingt wieder nach einem tollen Antrag. Ich will vorwegschicken: Das ist ein sehr berechtigtes Grundanliegen; denn auch unsere Koalition hat sich dazu entschlossen, eine Expertenkommission zu diesem Thema einzusetzen. Über das Für und Wider direkter Demokratie kann man trefflich streiten. Sachlichen Diskussionen werden wir uns nicht verschließen. Trotzdem habe ich zwei Kritikpunkte betreffend Ihren Antrag und die Art und Weise, wie Sie über direkte Demokratie diskutieren. Ich übe Kritik zum einen an der Zielrichtung und zum anderen an der Form der Enquete-Kommission, in der Sie diskutieren wollen.
Zuerst zur Zielrichtung. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Es ist ein gutes Verständnis von mehr Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie, wenn man das begreift als ein gemeinsames Instrument aller Fraktionen, als ein gemeinsames Instrument des Parlaments und als ein Instrument, das Brücken zwischen der Politik insgesamt und der Bevölkerung baut, als ein Instrument, das Vertrauen in das politische System schafft. Aber ich sage Ihnen eines: Ich habe nicht den Eindruck, dass Sie die direkte Demokratie so verstehen. Sie haben sich hier heute sehr zurückhaltend gegeben. Wenn ich aber an Ihre Auftritte im Wahlkampf denke, stelle ich fest: Sie wollen die direkte Demokratie zuallererst als ein Kampfinstrument gegen alle anderen Fraktionen dieses Parlaments, als ein Kampfinstrument gegen das Parlament selbst.
({0})
Sie wollen kein Instrument, das Brücken baut, sondern ein Instrument, das Brücken zum Einsturz bringt.
({1})
Das zeigt sich an einem Beispiel sehr deutlich. Wenn Sie gelegentlich mit Ihren Freunden von Pegida durch die Straßen deutscher Städte laufen, dann schreien Sie sehr laut: Wir sind das Volk! – Ich sage Ihnen eines: Ja, Sie sind das Volk, aber alle anderen Deutschen auch.
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Sie persönlich sind nicht nur das Volk, sondern nun auch Volksvertreter. In dieser Rolle hat man Ihnen auch eine ganz besondere Aufgabe zugewiesen; denn die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben uns die Verantwortung gegeben, exklusiv für die Gesetzgebung zuständig zu sein. Sie sollten sich in Ihrer neuen Rolle – Sie gehören zum Parlament dazu – sehr gut überlegen, ob Sie leichtfertig sagen: Mit dieser Aufgabe können wir nicht klarkommen; das schaffen wir nicht. – Machen Sie es sich nicht so leicht! Kapitulieren Sie nicht, und stehen Sie zu Ihrer Verantwortung! Das wäre ein guter Tipp.
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Nun zur Form. Ihr Vorschlag, eine Enquete-Kommission, ein gemischtes Gremium aus Experten und Abgeordneten, einzusetzen, hat mich ein bisschen zum Schmunzeln gebracht. Es wäre neu, dass die AfD nicht nur großes Getöse, sondern auch Sacharbeit im Parlament machen will. Damit haben wir bisher nicht so viel Erfahrung.
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Sie hatten schon in den Landtagen die Chance, Sacharbeit zu leisten. Ich habe mich in den letzten Tagen einmal umgehört, um zu erfahren, wie Sie sich in den Enquete-Kommissionen der Landtage schlagen, in denen Sie sitzen. Da habe ich sehr possierliche Eindrücke gewonnen. In Hamburg wurde mir berichtet: In der Enquete-Kommission „Kinderschutz und Kinderrechte stärken“ sind Sie nicht durch inhaltliche Arbeit aufgefallen, sondern dadurch, dass einer Ihrer Abgeordneten einfach eingeschlafen ist. Oder die Enquete-Kommission „Ursachen und Formen von Rassismus und Diskriminierung in Thüringen“: Da haben Sie sich gefragt, wer dafür der beste Experte aus Ihren Reihen sein könnte. – Richtig, Björn Höcke! Aber Ihr Rassismusexperte Björn Höcke konnte sein Expertenwissen nicht so häufig einbringen, da er nicht so oft anwesend war.
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Oder – noch besser – Rheinland-Pfalz: Das ist ein Paradebeispiel für Ihre erfolgreiche Sacharbeit. In der Enquete-Kommission „Tourismus“ haben Sie es in über einem Jahr nicht geschafft, auch nur eine einzige Frage für eine Anhörung einzureichen oder einen einzigen Experten zu benennen.
({6})
Wenn wir nun eine Enquete-Kommission einsetzten und alle Fraktionen so arbeiten wie Sie in den Landtagen, dann wäre diese Enquete-Kommission kein Motor für neue Ideen, sondern vor allem eines: Steuerverschwendung.
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Herr Amthor, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung des Abgeordneten Frömming?
Ja, gerne.
Bitte sehr, Herr Frömming.
Sehr verehrter Herr Kollege Amthor, Sie sind jetzt ein bisschen vom Thema abgewichen.
({0})
Nein, nein.
Ich möchte Sie zum Kern der Sache zurückführen.
Erstens – Sie sind ja nun ein recht junger Kollege –: Ist Ihnen bewusst, dass es vor allen Dingen Ihre Partei war, die CDU, die seit über 60 Jahren die Einführung von Volksentscheiden verhindert? Dafür verantwortlich war insbesondere die CDU und keine andere Partei.
({0})
Zweitens. Dürfen wir zur Kenntnis nehmen – das waren Ihre Eingangsworte –, dass es inzwischen in Ihrer Partei in dieser Frage tatsächlich ein Umdenken gegeben hat? Das würde ich gerne von Ihnen noch einmal deutlich hören. Öffnen sich die CDU und die CSU jetzt tatsächlich für Volksentscheide? Ist das richtig?
({1})
Zunächst: Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass wir nicht blockiert haben, sondern dass wir offenen Diskussionen immer offen gegenübergestanden haben.
({0})
– Hören Sie zu. Ich bin vielleicht ein junger Kollege; aber ich mache mich vorher kundig.
({1})
Dieses Thema haben wir schon diskutiert. Lange bevor ich in den Bundestag gekommen bin – schon vor der Wiedervereinigung und auch danach –, hat die CDU unter Benennung maßgeblicher Sachverständiger in einer Verfassungskommission dieses Thema diskutiert. Wir wollen auch jetzt eine Expertenkommission zu diesem Thema einsetzen. Ich sage Ihnen bewusst: Es gibt viele Argumente gegen Volksentscheide; aber es gibt auch welche dafür. Natürlich können wir darüber im Innenausschuss diskutieren. Das ist der richtige Weg; denn der Innenausschuss ist dafür das richtige Gremium.
Ich kehre kurz zu dem Punkt Enquete-Kommission zurück. Was ist der Unterschied zwischen unseren Ansätzen? Ich meine, wir brauchen keine aufgeblähte Enquete-Kommission, die viel Geld kostet. Ein Tipp an Sie – Sie wollen ja sonst immer Gralshüter der deutschen Steuerzahler sein –: Diese sachlichen Diskussionen sind im Innenausschuss schon all-inclusive. Darüber können Sie mit mir als Berichterstatter gern diskutieren. Wir werden eine Expertenkommission einsetzen. Dann bin ich auf die Sachargumente gespannt, die Sie uns dabei liefern.
({2})
Genau das ist der richtige Weg.
Hier haben wir wieder einen aufgeblasenen Antrag gesehen. Wir helfen Ihnen gerne, Steuergeld zu sparen. Sachliche Diskussionen, wie gesagt, gibt es auch all-inclusive im Innenausschuss. Da zählen dann aber nicht warme Worte, sondern Sachargumente. Darauf bin ich gespannt. Dann schauen wir, wie wir mit der Sache umgehen.
Herzlichen Dank.
({3})
Nächste Rednerin ist Sonja Steffen für die Fraktion der SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Ich teile die Ansicht meines Wahlkreisnachbarn Philipp Amthor: Der Antrag der AfD hat tatsächlich ein berechtigtes Anliegen. Es geht um direkte Demokratie. Wenn man aber Ihre internen Debatten verfolgt, dann muss man tatsächlich davon ausgehen, dass Sie das Thema nutzen und missbrauchen wollen, um billigen Populismus zu betreiben und um Ihre Themen durchzusetzen.
({0})
Wir von der Koalition haben dieses Thema aufgegriffen und eine Regelung im Koalitionsvertrag getroffen. Unter der Überschrift „Bürgerbeteiligung“ gibt es die Aussage, dass wir eine Expertenkommission einsetzen, die sich mit dem Thema „direkte Demokratie“ konstruktiv beschäftigen wird. Wir von der SPD-Fraktion sind sehr aufgeschlossen für direkte Demokratie auf Bundesebene.
Warum sind wir aufgeschlossen? Es gibt viele Beispiele dafür, dass auf der kommunalen Ebene gute Erfahrungen mit Volksentscheiden gemacht worden sind. Auch auf Landesebene hat es solche Entscheide gegeben; wir haben das vorhin schon gehört. Herr de Vries hat die Beispiele Tempelhofer Feld und Stuttgart 21 genannt; er hat sie sehr kritisch gesehen. Man muss aber auch sagen: Entscheidungen sind Entscheidungen, und die dürfen wir hier nicht werten.
Ich glaube, dass diese Volksentscheide für eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung gesorgt haben. Möglicherweise werden solche Entscheidungen sogar eher akzeptiert, als wenn sie durch Volksvertreter getroffen worden wären.
Wie der Brexit allerdings zeigt, sind Volksentscheide eben auch kein Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit. Ich will die Entscheidung der Briten an dieser Stelle nicht werten; das steht mir nicht zu. Aber es ist beispielsweise unanständig, die Wählerinnen und Wähler mit dem Versprechen, es werde viel Geld in den Gesundheitsdienst investiert, zu locken, zu überreden, was sich dann hinterher als komplette Luftnummer erwiesen hat. Noch etwas: Der Volksentscheid muss zwar nicht, kann aber sehr schnell zum Einfallstor der Interessen mächtiger und reicher Gruppen werden. Ein weiterer Punkt ist ebenfalls sehr wichtig: Es geht um den Minderheitenschutz. Der muss weiter gewährt werden. Dazu hat sich Frau Haßelmann vorhin in ihrer Rede schon sehr treffend geäußert.
Schön, dass wir also eine Expertenkommission einsetzen werden, die sich mit diesem Thema intensiv beschäftigen wird. Dort werden Ideen diskutiert und Abwägungen getroffen. Dann wird man sehen, zu welchem Ergebnis die Expertenkommission kommt.
Eines ist jedenfalls klar: Ohne Grundgesetzänderung geht gar nichts. In der Debatte zeichnet sich zumindest eine große Offenheit für das Thema im Parlament ab. Ich freue mich deshalb, dass es sowohl im Innenausschuss als auch in der Expertenkommission diskutiert wird.
Noch eines zum Thema AfD-Antrag. Der Antrag ist inhaltlich tatsächlich sehr oberflächlich formuliert.
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Es hätte ihn nicht gebraucht. Die AfD spielt sich hier als Verfechter der Bürgerbeteiligung auf, während sie gleichzeitig in Thüringen die Kommunalwahl anfechten will und beim Bundesverfassungsgericht beantragt, dass Jugendliche ab 16 zukünftig nicht mehr wählen sollen. Das alles passt für mich nicht zusammen. Vielleicht erörtern wir das mal an anderer Stelle.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist Axel Müller für die CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Einsetzung einer Enquete-Kommission ‚Direkte Demokratie auf Bundesebene‘“ – so der Antrag der AfD. Bei näherer Betrachtung wird er jedoch dem § 56 unserer Geschäftsordnung, der sich mit der Einsetzung von Enquete-Kommissionen befasst, nicht wirklich gerecht. Was bedeutet denn dieses Wort „Enquete“ übersetzt? Es bedeutet „forschen“. Es bedeutet „untersuchen“. Das heißt aber auch, dass man das Ergebnis seiner Forschungen und Untersuchungen nicht schon kennt und nicht schon vorwegnimmt, sich vielmehr offen zeigt für das, was am Ende stehen könnte.
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Deswegen haben wir uns mit unserem Koalitionspartner im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, eine unabhängige Expertenkommission einzusetzen, die sich mit diesem Thema beschäftigt. Wir zeigen uns ergebnisoffen und widmen uns diesem Thema bereits, und das – das füge ich hinzu – seriös.
Die AfD jedoch liefert mit ihrem Antrag die Ergebnisse gleich mit. Ich zitiere:
Im Rahmen von Meinungsumfragen beklagt eine ... Mehrheit der Befragten, keinen wirklichen Einfluss auf die ... Politik zu haben.
Weiter:
Es besteht ein hoher Zuspruch für eine direktdemokratische Mitbestimmung bei wichtigen politischen Belangen.
Für diese Behauptungen bleiben Sie jeden Beleg schuldig. Der Antrag ist völlig unsubstantiiert. Anwälte, die ihn mit formuliert haben, müssten eigentlich wissen, dass man für die Behauptungen, die man aufstellt, auch Belege anführen muss.
Zugleich stellt die AfD damit gewissermaßen ins Blaue hinein die Behauptung auf, dass dieses – angebliche – Defizit an Wahlbeteiligung – ich komme darauf noch zu sprechen – und eine als mangelhaft empfundene Einbeziehung in den politischen Willensbildungsprozess durch Elemente direkter Demokratie einfach so beseitigt werden können. Sie führen an – das habe ich in Ihrer Rede zu diesem Antrag sehr wohl vernommen, Herr Haug –, dass es eine bessere Informiertheit der Bevölkerung mit sich bringe, wenn man mehr demokratische Elemente einführe. Ich frage Sie mal: Wer informiert denn? Wer das meiste Geld hat? Wer die Kontrolle über die Medien hat? Was kommt am Ende dabei heraus? Führen wir uns den Brexit oder Trumps Wahl zum Präsidenten mal vor Augen! Das hat nichts mit direkter Demokratie zu tun.
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Sie haben die Schweiz als Beleg dafür angeführt, wie direkte Demokratie besser funktioniere. Dazu hat der Kollege de Vries die richtigen Worte gefunden. Die Wahlbeteiligung in der Schweiz ist deutlich niedriger, sowohl bei den Nationalratswahlen als auch bei den Direktabstimmungen, häufig unter 50 Prozent. Das sagt jedenfalls das eidgenössische Bundesamt in der entsprechenden Statistik.
Wir hatten bei der Bundestagswahl – es ist bereits gesagt worden – fast 76 Prozent Wahlbeteiligung. Gegenüber den letzten Bundestagswahlen ist die Wahlbeteiligung um 5 Prozentpunkte angestiegen. Das widerlegt doch, was Sie in Ihrem Antrag behaupten, nämlich dass wir weniger Wahlbeteiligung hätten, weniger bürgerliches Engagement für Politik. Nicht zuletzt wird gerade in diesen Tagen sehr viel über Politik geredet. Auch mit jungen Leuten, die sich politisch so interessiert zeigen wie schon seit langem nicht mehr, hatte ich Kontakt.
Zurück zu § 56 der Geschäftsordnung. Umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe als wesentliche Bestandteile einer Enquete-Kommission sind gefordert. Aktuelle, die Gesellschaft bewegende Zukunftsthemen sollen dort behandelt werden. Das gab es in Vergangenheit mehrfach. Ethik und Recht in der modernen Medizin sowie Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität, nachhaltiges Wirtschaften – Themen von Enquete-Kommissionen, um nur zwei beispielhaft zu benennen –, das waren komplexe Fragen, die man nicht mit Ja oder Nein beantworten kann, wie Sie es die Bevölkerung immer wieder glauben machen möchten.
Demokratie – Kollegin Haßelmann hat es gesagt – ist etwas anderes als die Diktatur der Mehrheit gegenüber den Minderheiten,
({2})
ein fortwährendes Niederstimmen. Demokratie ist die Einbeziehung von Minderheiten ins Konsensherstellen in einer Gesellschaft. Das ist Demokratie.
({3})
Ihr Antrag ist letztendlich nichts anderes als ein Missbrauch des Instruments der Enquete-Kommission. Sie nehmen das Ergebnis vorweg. Denn Sie wissen ja schon, dass die Enquete-Kommission doch bitte einen Gesetzentwurf vorbereiten möge – so steht es da zu lesen –, der die Einführung direktdemokratischer Elemente im Grundgesetz erlaubt. Ja, was macht die denn? Macht die ihre Arbeit, macht die unsere Arbeit? Macht die Enquete-Kommission Direktdemokratie durch entsprechende Gesetzesvorlagen? Ich habe beileibe nicht verstanden, was Sie da wollen.
({4})
Ich kann Ihnen nur eines sagen: In Wahrheit geht es Ihnen wieder einmal mehr darum, dieses Thema am Laufen zu halten, es über die ganze Legislaturperiode hinweg in einer Enquete-Kommission am Köcheln zu halten, sich mit Ihren Vertretern, die Sie in diese Kommission schicken, regelmäßig zu Wort zu melden, in den Medien aufzuschlagen – und am Ende ist das nicht mehr und nicht weniger als Populismus. Und Populismus, meine Damen und Herren, ist die erste Stufe zur Demagogie, und das lehnen wir ab.
Vielen Dank.
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Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1699 an den Innenausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Hier in diesem Hohen Haus wird ja viel von den Wohnkosten als einer der drängenden sozialen Fragen geredet. Und es stimmt ja auch: Für immer mehr Menschen werden die Mieten zum Problem. Wohneigentum, vor allem in Ballungsräumen, ist für die Mitte der Gesellschaft nicht mehr erschwinglich. Wir Freien Demokraten sagen da ganz klar: Wohnen darf kein Luxus sein. Wohnen muss endlich wieder bezahlbar werden.
({0})
Leider hat die Große Koalition herzlich wenig gegen diesen Missstand getan. Es wurde ein bisschen an Symptomen herumgedoktert, die Ursachen allerdings wurden nicht angegangen.
Werte Kolleginnen und Kollegen, Sie haben heute die Möglichkeit, sich uns anzuschließen und einen ersten Baustein zu günstigerem Wohnen und zu mehr Eigentum zu setzen. Die Mieten und das Wohneigentum werden in Deutschland auch deshalb immer teurer, weil die Baukosten seit Jahren steigen. Dabei ist der Staat einer der Hauptkostentreiber. Damit muss endlich Schluss sein!
Mir ist schon klar: Entbürokratisierung im Wohnungsbau ist kein sexy Werbeslogan, wie Sie ihn gerne haben, aber dafür ist die Entbürokratisierung wirkungsvoll, zielgerichtet, weitestgehend kostenfrei und kommt jedem zugute.
({1})
Was mich bei dem Thema aber am meisten umtreibt: Wir haben da eigentlich kein Erkenntnisproblem, wir haben ein Umsetzungsproblem. Die Baukostensenkungskommission hat vor zweieinhalb Jahren konkrete Vorschläge und Ideen auf den Tisch gelegt. Vor zweieinhalb Jahren! Gestern habe ich den CSU-Staatssekretär Mayer gehört, der gesagt hat: Wir werden uns die Ergebnisse ganz genau anschauen. – Meine Güte, wie lange und wie oft wollen wir uns die Ergebnisse noch anschauen?
({2})
Deswegen fordern wir – erstens – einen Baukosten-TÜV. Seit dem Jahr 2000 sind die Baukosten allein aufgrund der verschärften Vorschriften und Standards um 20 Prozent gestiegen. Das ist einfach zu viel. Wir fordern, dass für jedes neue Gesetz, jede neue Verordnung, jede neue Norm eine Abschätzung der Folgekosten erfolgt: Was bringt diese Norm, und was kostet sie?
Zweitens – auch das ganz deutlich formuliert –: Wir müssen den Dämmwahn stoppen. Ja, der Energieverbrauch spielt beim Klimaschutz eine sehr wichtige Rolle. Aber Regelungen müssen auch Sinn machen; das tun sie eben nicht mehr. Allein die Verschärfung der EnEV 2016 hat die Neubaukosten um 8 Prozent in die Höhe getrieben; das sind bei einem Einfamilienhaus gerne mal 20 000, 30 000 Euro und mehr. Mit diesen Maßnahmen sparen wir dann 0,02 Prozent CO 2 -Ausstoß ein. Aufwand und Ergebnis stehen doch nicht mehr in einem vernünftigen Verhältnis. Deswegen: Schluss mit immer neuen und schärferen Energie- und Dämmvorschriften!
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Und drittens. Wir müssen das Baurecht vereinfachen und harmonisieren. Typengenehmigungen und serielles Bauen können wichtige Schritte zur Baukostensenkung sein. Dazu müssen wir hier die Voraussetzungen schaffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, günstiger bauen heißt günstiger wohnen. Die Entbürokratisierung ist ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg zu niedrigeren Wohnkosten und mehr Eigentum. Sie ist kein Allheilmittel; das ist uns klar. Aber wir müssen jetzt handeln, und wir müssen schnell handeln.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren der linken Ideologie, bitte verzichten Sie auf Ihren reflexhaften Zynismus, und sparen Sie sich den Hinweis, das Senken der Baukosten würde nur die Gewinne der Unternehmen in die Höhe treiben! Erstens stimmt das nicht, und zweitens ist es unsäglich, allen eine Entlastung zu verweigern, nur weil vielleicht auch jemand profitiert, den Sie nicht leiden können.
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Schaffen wir den Menschen in unserem Land bitte endlich die Freiräume, die sie verdienen – Freiräume durch weniger Miete oder realen Freiraum in Form der eigenen vier Wände. Die Hürden bei der Entbürokratisierung sind gering, aber die Chancen sind groß.
Vielen Dank.
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Als Nächster spricht Kai Wegner für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuerst einmal herzlichen Dank an die FDP-Fraktion für den Antrag zum Thema Wohnungsbau. Ich freue mich, dass wir hier und heute im Plenum über dieses wichtige Thema beraten können.
Aber, Herr Föst, wenn ich mir Ihren Antrag durchlese, stelle ich fest, dass Sie den Koalitionsvertrag ein Stück weit genauer lesen müssen;
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denn vieles, was Sie hier fordern, haben wir in der letzten Koalition längst auf den Weg gebracht, bzw. vieles, was Sie neu fordern, finden wir im neuen Koalitionsvertrag wieder. Wir freuen uns, dass Sie den Vertrag offenkundig anerkennen und ihn wertschätzen und wir uns in der Beratung in vielen Punkten einig sein werden, meine Damen und Herren.
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Wir werden in dieser Legislaturperiode häufiger über das Thema Wohnen sprechen, weil dieses Thema wie kaum ein anderes die Menschen bewegt. Am vergangenen Wochenende sind zum Beispiel allein in Berlin 13 000 Menschen auf die Straßen gegangen, um gegen steigende Mieten und gegen Verdrängung zu demonstrieren.
({2})
Diese Demonstration macht einmal mehr deutlich, wie stark der Wunsch nach bezahlbarem Wohnraum ausgeprägt ist. Sie zeigt aber auch, dass dieses Thema mittlerweile in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen ist.
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Es treibt die Menschen um; deshalb müssen wir uns darum kümmern. Ich würde so weit gehen, zu sagen, dass das Thema Wohnen eine der zentralen sozialen Fragestellungen dieser Legislaturperiode sein wird, meine Damen und Herren.
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Wir als Koalition wollen sicherstellen, dass sich alle Menschen in Deutschland eine angemessene Wohnung leisten können, ohne Angst vor Verdrängung und ohne Angst vor einer Mietentwicklung, die in keinem vertretbaren Verhältnis zur Einkommensentwicklung steht. Wie können wir das bewerkstelligen?
So manche, auch hier im Haus und auf der Demonstration in Berlin, fordern dann immer ganz einfach: Wir brauchen eine schärfere Mietpreisbremse.
({5})
Aber wenn das so einfach wäre, dann wäre es ja wahrscheinlich gar kein Problem. Ich sage Ihnen: Wenn wir uns nur darauf konzentrieren würden, wäre das ausschließlich ein Herumdoktern an den Symptomen. Es wäre ausschließlich die Verwaltung des Mangels. Das wollen wir nicht. Wenn sich nämlich auf eine preisgünstige Wohnung 500 Interessenten bewerben, nützt eine Mietpreisbremse nur einer Person, nämlich der Person, die den Zuschlag für die Wohnung bekommt. 499 Personen haben gar nichts davon. Deshalb ist für uns klar: Wenn wir eine gestiegene Wohnraumnachfrage haben, dann brauchen wir auch ein steigendes Angebot an Wohnraum. Das ist die richtige Antwort, die wir dem entgegensetzen müssen.
({6})
Für uns ist deswegen auch klar: Das wirksamste Mittel gegen steigende Mieten, das wirksamste Mittel gegen Verdrängung lautet: Wir müssen bauen, bauen, bauen. – Das ist die entscheidende Maßnahme. Und wie schaffen wir das? Wir starten eine Wohnraumoffensive. Wir wollen in dieser Legislaturperiode 1,5 Millionen neue Wohnungen und Eigenheime in Stadt und Land bauen.
Ich nenne Ihnen fünf für mich zentrale Punkte des Koalitionsvertrages, die wir umsetzen müssen: Wir müssen den sozialen Wohnungsbau für die Zukunft sichern. Wir müssen den Mietwohnungsbau endlich steuerlich fördern.
({7})
Wir müssen durch das Baukindergeld und höhere Wohnungsbauprämien für mehr Wohneigentum sorgen.
({8})
Wir müssen deutlich mehr Bauland mobilisieren. Und: Ja, wir brauchen schnellstmöglich ein Planungs- und Baubeschleunigungsgesetz.
({9})
Daher werden wir schon bald mit allen wichtigen Akteuren zu einem Wohngipfel zusammenkommen; denn eines ist klar – ich glaube, darin sind wir uns einig –: Der Bund kann diese Herausforderung, vor der wir stehen, nicht alleine stemmen. Hier sind alle Akteure gefragt, und insbesondere die Länder tragen hier eine maßgebliche Verantwortung.
({10})
Teil unserer Verantwortung ist es sicherlich, auch dafür zu sorgen, die Baukosten zu begrenzen. Es ist vollkommen klar, dass wir überflüssige Regelungen, die das Bauen verzögern und verteuern, abbauen müssen. Hier beinhaltet der Koalitionsvertrag einen sehr guten Arbeitsauftrag an die Regierung. Ich verweise gern darauf – Herr Föst hat es schon gesagt –, dass die letzte Koalition bereits eine Baukostensenkungskommission eingesetzt hat, in der viel geredet und viel beraten wurde, in der auch gute Beschlüsse gefasst wurden; das haben Sie gesagt.
({11})
Von daher kann auch ich sagen: Wir haben gar kein Erkenntnisproblem; wir haben ein Umsetzungsproblem.
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Deswegen: Ich freue mich, dass die Baukostensenkungskommission auch in dieser Legislaturperiode ihre Arbeit fortsetzen wird. Aber noch wichtiger, als neue Herausforderungen zu identifizieren, ist, glaube ich, dass wir die Ergebnisse der Baukostensenkungskommission endlich umsetzen. Hier werden der neue Bundesminister und die neue Koalition handeln. Da bin ich mir ganz sicher, und das kann ich Ihnen von der FDP auch versprechen.
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Ich freue mich im Übrigen sehr – lassen Sie mich das sagen –, dass wir einen eigenen Ausschuss, einen Ausschuss für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen, bekommen werden.
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Das zeigt einmal mehr, wie groß die Herausforderung ist und dass wir uns hier im Deutschen Bundestag dieser Herausforderung auch bewusst sind.
Wenn wir die Themen des Baubereichs mit den Fragestellungen der Kommunen, mit den Fragestellungen der ländlichen Räume verbinden, dann ist das, glaube ich, ein gutes Signal dafür, dass wir verstanden haben. Denn was wir nicht einfach hinnehmen dürfen, nicht einfach hinnehmen können, ist, dass auf der einen Seite in manchen ländlichen Regionen Kommunen und Dörfer ausbluten und auf der anderen Seite Ballungszentren, Städte völlig überlaufen werden. Hier müssen wir für mehr Gleichgewicht sorgen, hier müssen wir für gleichwertige Lebensverhältnisse sorgen, und hier müssen wir auch dafür sorgen, dass die Regionen in unserem Land gestärkt werden.
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Was mir aufgefallen ist, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP: Ich finde in Ihrem Antrag leider kein Wort zum ländlichen Raum. Sie haben die ländlichen Räume ausgeblendet.
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Ich sage Ihnen: Wir werden das nicht tun.
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Wir werden die Herausforderungen der ländlichen Räume angehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir beim bezahlbaren Wohnen und Bauen besonders brauchen, lässt sich in wenigen Worten auf den Punkt bringen: Wir brauchen mehr und vor allen Dingen bezahlbare Baugrundstücke, weniger Normen und Regulierungen, schnellere Verfahren, eine steuerliche Förderung des Mietwohnungsbaus, Förderung von Wohneigentum und die Sicherung des sozialen Wohnungsbaus. Ich freue mich auf die Diskussionen in den nächsten Wochen, Monaten, ja, Jahren zu diesem Thema. Ich freue mich auf tolle Ergebnisse für die Menschen; denn wir wollen erreichen, dass die Menschen dort, wo sie zurzeit wohnen, wo ihre Heimat ist, auch morgen noch ihre Zukunft sehen und leben können. Deswegen freue ich mich auf die weiteren Diskussionen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Abgeordnete Udo Hemmelgarn für die Fraktion der AfD, der heute seine erste Rede im Deutschen Bundestag halten wird.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Immobilienentwickler freut es mich, meine erste Rede im Deutschen Bundestag zu einem Thema, das mich in den letzten Jahrzehnten beschäftigt hat, zu halten.
Wohnen, ein sicheres Dach über dem Kopf zu haben, gehört zu den ureigensten Bedürfnissen der Menschen. Es geht um mehr als um Miete und Wohnen; es geht um Lebensqualität, und diese nimmt bei Millionen von Menschen in diesem Land rapide ab.
Die FDP hat einen Antrag zur Entbürokratisierung im Wohnungsbau vorgelegt. Entbürokratisierung ist zweifellos wichtig; das allein ist aber noch keine ausreichende Lösung. Die Situation auf dem Wohnungsmarkt ist äußerst prekär, und die bisher vorgeschlagenen Lösungen gehen vielfach an der Realität vorbei. Das darf so nicht weitergehen.
Lassen Sie uns eine gemeinsame Bestandsaufnahme machen: Der Bedarf an neuen Wohnungen beträgt bis 2020 mindestens 400 000 Wohneinheiten pro Jahr. In den letzten zehn Jahren wurden im Durchschnitt aber nur knapp 200 000 Wohnungen pro Jahr gebaut. Auch 2018 wird die Deckung des Bedarfs wieder verfehlt. Die Mietpreise steigen ins Uferlose; Neubauten werden immer unbezahlbarer. Insgesamt sind in Deutschland rund 1 Million Menschen wohnungslos. Die Bürger der Mittelschicht werden zunehmend aus den Städten herausgedrängt, und das wird sich mit der Reform der Grundsteuer vermutlich weiter verschärfen.
In Deutschland fehlen insgesamt ungefähr 1,5 Millionen Wohnungen, davon gut die Hälfte in Metropolen. Seit 1998 wirken unterschiedlichste, häufig absurde Regelungen aus den verschiedensten Politikfeldern auf den Wohnungsmarkt ein. Deren Gesamtwirkung ist verheerend. Die Regierungspolitik der letzten 20 Jahre von Union, SPD und Grünen lässt sich mit nur einem einzigen Wort zusammenfassen: Wohnraumbremse.
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Die Misere zeigt sich in folgenden vier Punkten:
Erstens. Grenzenlose Auflagen, Energieeinsparverordnungen sind ideologisch aufgebläht und völlig übertrieben. Sie haben Neubauten verteuert und befördern die Luxussanierung von Altbauten. Insbesondere bei den Vorschriften für die Dämmung von Fassaden lässt sich das eingesetzte Kapital nicht annähernd in angemessener Zeit amortisieren. Das ist praktisch eine Enteignung. Hier haben Lobbyverbände ganze Arbeit geleistet. Eine unsinnige Mietpreisbremse hat den Anstieg der Mieten nicht gebremst, aber private Investoren wurden abgeschreckt, sich im Wohnungsbau ausreichend zu engagieren.
Zweitens: grenzenlose Geldknappheit von Ländern und Kommunen. Verschiedene Bundesländer haben die Grunderwerbsteuer auf bis zu 6,5 Prozent erhöht. Das hat das Bauen enorm verteuert. Die immer klammeren Kreise und Städte haben die Bauämter personell ausgedünnt. Das hat die Zeitspanne für die Erstellung von Bebauungsplänen und Baugenehmigungen erheblich verlängert. Bauland wurde in viel zu geringem Maße von den Kommunen ausgewiesen.
Drittens: grenzenloser Kapitalzufluss. Unbebaute Grundstücke werden im Verhältnis zu bebauten Grundstücken viel niedriger besteuert. Das macht es attraktiver, Grundstücke aus spekulativen Gründen unbebaut zu lassen. Ausländische Kapitalgesellschaften, insbesondere Pensionskassen, haben stark in deutsche Wohnimmobilien investiert, und diese sind nur an hoher Rendite interessiert. Auch die Angst vor dem Platzen der Euro-Blase durch die Niedrigzinspolitik der EZB hat zu spekulativen Investitionen in Betongold geführt. All das hat die Preise massiv erhöht.
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Viertens: grenzenlose Zuwanderung.
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Aufgrund der Freizügigkeitsregelung der EU sind zusätzliche Bürger, vor allem aus Osteuropa, zu uns gekommen. Diese sind dazu berechtigt, erhöhen allerdings auch die Nachfrage nach Wohnraum. Sie haben in der letzten Regierung nichts dafür getan, dass sich das verbessert. Aber die heftigste Verwerfung auf dem Wohnungsmarkt hat das Eindringen von über 1,4 Millionen sogenannter Flüchtlinge seit 2015 hervorgerufen. Dies hat das Fass zum Überlaufen gebracht und bedroht massiv den sozialen Frieden.
({3})
Dies trifft insbesondere unsere großen Städte, da eine Residenzpflicht fehlt, die für eine gleichmäßige Verteilung sorgen könnte. Jetzt sollen Jahr für Jahr mehr als 200 000 weitere Menschen zu uns kommen; wenn es nach SPD, Grünen und Linken geht, gerne noch etwas mehr. Das kann nicht funktionieren. Das schaffen Sie nicht, Frau Bundeskanzlerin Merkel.
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Wir wollen das nicht schaffen.
Wir wissen ebenfalls nicht, wie sich die Situation rund ums Mittelmeer entwickelt. Die Bombardierung Syriens durch die Länder des Westens in der letzten Woche sorgt nicht gerade für eine Entspannung in der Flüchtlingskrise.
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In Afrika sitzen Millionen von Menschen auf gepackten Koffern und warten nur darauf, nach Europa und speziell nach Deutschland zu gelangen.
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Fangen wir endlich an, die mehr als 500 000 geduldeten abgelehnten Asylbewerber konsequent abzuschieben! Sorgen Sie endlich dafür, dass unsere Grenzen sicher sind vor unberechtigter Einwanderung!
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– Nicht über Baustandards! Lassen Sie mich wenigstens bei meiner ersten Rede ausreden. Dann können Sie noch was lernen.
Subsidiärer Schutz ist Schutz auf Zeit. Ich fordere diese Bundesregierung auf: Überprüfen Sie endlich in den Herkunftsländern der derzeit Schutzberechtigten, ob eine Rückkehr in die Heimat möglich ist! Das wollen die Flüchtlinge, und das wollen wir doch alle.
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– Dass das bei Ihnen nicht so ist, weiß ich.
Fazit: Die bisherigen Vorschläge zur „Wohnraumbremse“ sind zum Scheitern verurteilt. Milliarden in den objektbezogenen sozialen Wohnungsbau zu stecken, ist unsinnig. Das zeigt der bürokratische Aufwand, das dokumentiert die aktuelle Fehlbelegungsquote von geschätzten 54 Prozent, und das manifestiert sich in der immer größeren Anzahl von Anspruchsberechtigten durch die kontinuierliche Anhebung der Einkommensgrenzen und die mangelnde Verlaufskontrolle. Vielmehr benötigen wir eine intelligente, personenbezogene Förderung des sozialen Wohnungsbaus. Das alte Modell taugt bestenfalls zur Linderung des größten Mangels bei fehlenden Investoren. Im Grunde stammt es aus der Klamottenkiste sozialistischer Planwirtschaft.
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Vor langer Zeit war der Wohnungsmangel in Deutschland schon einmal ähnlich groß. Doch da gab es in der Bundesrepublik Deutschland ein Wirtschaftsmodell, das unser Land generell wieder aufblühen ließ. Vor allem entstanden überall neue Wohnungen. Dieses Modell, meine sehr geehrten Damen und Herren, nannte man soziale Marktwirtschaft.
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Der Wohnungsmarkt wurde liberal gestaltet. Ohne „Wohnraumbremse“ wurden Investoren animiert, Wohnraum aller Art zu erstellen – eben auch preiswerten. Die Politik gab den Markt frei, und das zahlte sich aus. Dennoch herrschte kein blindwütiger Neoliberalismus oder inhumaner Kapitalismus; denn der Staat half den sozial Schwachen. Sie konnten ihr Grundrecht auf Wohnen verwirklichen. Die AfD fordert daher, zu diesem Modell der sozialen Marktwirtschaft zurückzukehren.
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Wir fordern die Befreiung des Wohnungsmarktes von der „Wohnraumbremse“ und die Unterstützung der sozial Schwachen durch ein angemessenes und kontinuierlich anzupassendes Wohngeld. Das, was wir in den letzten 20 Jahren – auch im Wohnungsbau – erlebt haben, ist der reine Ökosozialismus. Die jetzt geforderte Entbürokratisierung löst nicht alle Probleme, aber sie hilft und ist ein Schritt in die richtige Richtung. Deswegen unterstützen wir die Überweisung an den Ausschuss.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion der SPD spricht jetzt die Abgeordnete Ulli Nissen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Herr Hemmelgarn, es wäre schön, wenn Sie sich vorab einmal informieren würden: Neubauten sind von der Mietpreisbremse ausgenommen. Also bitte vorher informieren.
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Liebe Kollegen und Kolleginnen, der Antrag der FDP gibt uns die Möglichkeit, über dringend benötigten bezahlbaren Wohnraum zu reden. Die Wichtigkeit dieses Themas haben viele anscheinend noch nicht begriffen, so auch die damalige CDU-Oberbürgermeisterkandidatin in Frankfurt. SPD-Oberbürgermeister Peter Feldmann hat bezahlbaren Wohnraum seit vielen Jahren zu einem seiner Schwerpunkte gemacht und auch deshalb die Wahl mit gigantischen 70,8 Prozent gewonnen. Dies soll auch eine Mahnung an die Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU sein. Engagieren Sie sich gemeinsam mit uns für die Mieterinnen und Mieter, und stellen Sie Vereinbarungen nicht infrage!
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Außer Frage steht, dass wir dringend mehr bezahlbaren Wohnraum brauchen. Bereits 2014 hatten SPD und CDU/CSU das Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen ins Leben gerufen. Klar ist: Wir müssen den sozialen Wohnungsbau dringend weiter ankurbeln. Wir müssen Anreize schaffen, insbesondere bezahlbare Wohnungen zu bauen. Wir müssen Bauen günstiger und nachhaltiger gestalten, und wir müssen mehr Bauland zur Verfügung stellen. Die Wohnungsbauoffensive wollen wir fortführen und – wichtig – mit allen Beteiligten im Rahmen eines Wohnungsgipfels Eckpunkte für ein Gesetzespaket „Wohnraumoffensive“ schaffen. Unser Ziel ist, dass wir mindestens 1,5 Millionen neue Wohnungen bauen.
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Das Grundgesetz soll geändert werden, damit sich der Bund auch nach 2019 beim sozialen Wohnungsbau weiter engagieren kann. SPD und CDU/CSU hatten bereits in der vergangenen Legislaturperiode die Mittel für den sozialen Wohnungsbau verdreifacht. Ab 2020 werden die Mittel sogar vervierfacht. 2020/2021 will der Bund mindestens 2 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung stellen – ganz wichtig.
Die Baukostensenkungskommission wird ihre Arbeit fortsetzen.
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Wir werden weiter an der Umsetzung der Maßnahmen zur Begrenzung der Baukosten arbeiten. Durch Abschaffung überflüssiger Vorschriften wollen wir Kostensenkungspotenziale schaffen. Nach wie vor streben wir die Einführung einer einheitlichen Musterbauordnung in allen Ländern an.
Werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie heben die Kostenexplosion im Bau hervor. Bei Ihren Forderungen lese ich aber leider nichts über einen der schlimmsten Preistreiber im Bauen: die exorbitant gestiegenen Bodenpreise. Das wundert mich aber nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir von SPD und CDU/CSU wollen Grundstücke des Bundes günstiger an Städte und Gemeinden verkaufen, damit dort bezahlbare Wohnungen entstehen können. Zudem erhalten die Kommunen neue Instrumente, um dafür zu sorgen, dass brachliegendes Bauland tatsächlich bebaut wird. Ich bin mir sicher, liebe Kollegen von der FDP, dass Sie hier nicht zustimmen werden.
Weiterhin müssen wir alles tun, um bezahlbaren Wohnraum zu erhalten. Die SPD-CDU/CSU-Bundesregierung wird bis zur Sommerpause die Kappung der Modernisierungsumlage und die Verschärfung der Mietpreisbremse angehen. Bei der Mietpreisbremse haben in Hessen CDU und Grüne ein Desaster hingelegt. Erst wurde die Mietpreisbremse sieben Monate später eingeführt – so konnten die Vermieter noch sieben Monate länger als nötig ordentlich draufschlagen –, dann haben CDU und Grüne dies auch noch ausgesprochen schludrig gemacht. Die hessische Mietpreisbremse wurde jetzt vom Landgericht Frankfurt wegen Fehlern gekippt.
In Hessen hatte bezahlbarer Wohnraum seit vielen Jahren unter CDU-Regierungsführung leider keinerlei Priorität, aber jetzt haben sie es vielleicht doch noch begriffen. Seit 1999 hat sich die Zahl der Sozialwohnungen in Hessen auf 90 000 halbiert, ein Schlag ins Gesicht der Menschen mit geringem Einkommen. Aus meiner Sicht wird es dringend Zeit, dass bei der Landtagswahl im Oktober die SPD die Regierungsführung übernimmt; denn bei uns steht die Schaffung von bezahlbarem Wohnen ganz, ganz oben auf der Tagesordnung.
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Nicht nur für die Frankfurter SPD mit Oberbürgermeister Peter Feldmann, sondern auch für den hessischen SPD-Landesvorsitzenden Thorsten Schäfer-Gümbel heißt es: Bauen, Bauen, Bauen. Unser Ziel sind aber keine Luxuswohnungen, sondern gut bezahlbare.
Auf Bundesebene ist mir die schnelle Absenkung der Modernisierungsumlage ein wichtiges Anliegen. Wenn in Mietshäusern Balkone oder Aufzüge eingebaut werden, nutzen die Vermieter das häufig für heftige Aufschläge.
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In einigen Fällen werden Bewohner gezielt rausmodernisiert. Das ist bei uns in Frankfurt leider öfter passiert. In Zukunft schieben wir dem einen Riegel vor. Bislang dürfen Vermieter 11 Prozent der Kosten auf die Jahresmiete aufschlagen. Dies begrenzen wir auf 8 Prozent; ich hätte mir eine stärkere Absenkung gewünscht. Aber noch viel wichtiger: Die monatliche Miete darf nach einer Modernisierung nicht mehr als um 3 Euro pro Quadratmeter innerhalb von sechs Jahren steigen. Außerdem wird das gezielte Herausmodernisieren künftig den Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit erfüllen und damit Schadenersatzansprüche der Mieter begründen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu wenig bezahlbarer Wohnraum ist ein gewaltiger sozialer Sprengstoff. SPD und CDU haben in ihrer Koalitionsvereinbarung viel Gutes vereinbart. Lassen Sie uns dies im Interesse der Menschen schnell umsetzen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächste Rednerin ist Caren Lay für die Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sage und schreibe 25 000 Menschen waren am Wochenende bei der Demo gegen Mietenwahnsinn hier in Berlin. Das ist ein riesiger Erfolg der Mieterbewegung. Vielen Dank an alle, die da waren!
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Es hat Spaß gemacht, dabei zu sein und zu sehen, wie viel Kreativität, wie viele Ideen mitgebracht werden. Das gibt uns wirklich Hoffnung für die Zukunft.
Meine Damen und Herren, die Mieten in Großstädten und Ballungszentren sind seit 2004 um fast 50 Prozent gestiegen. Von einer entsprechenden Lohnerhöhung im gleichen Zeitraum sind wir meilenweit entfernt. Erwerbslose und Alte werden aus ihren Wohnungen gedrängt, in denen sie jahrzehntelang gewohnt haben. Wer in München Altenpfleger oder in Stuttgart Verkäuferin ist, der findet in der Innenstadt bald keine Wohnung mehr. Arme Haushalte müssen fast 50 Prozent ihres Einkommens für das Wohnen ausgeben. Internationale Finanzkonzerne und Hedgefonds kaufen ganze Häuserblocks in den Städten auf, aber zu Semesterbeginn schlafen Studenten in Turnhallen, und die Zahl der Wohnungslosen erreicht Rekordniveau. Das, meine Damen und Herren, ist Deutschland im Frühjahr 2018. Ich glaube, da ist mächtig etwas schiefgelaufen.
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Das ist die aktuelle Wohnungsfrage; es geht um Mietenexplosion, es geht um Wohnungsspekulation. Und da kommt heute die FDP und legt einen Antrag zur Muster-Garagenverordnung vor. Also, ich muss wirklich sagen: Das wird der Reichweite, der Brisanz, der Bedeutung dieses Themas in keiner Weise gerecht. Das können wir hier gemeinsam festhalten.
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Ja, auch wir Linke sind gegen sinnlose demokratische Hürden. Wir brauchen nicht 16 verschiedene Bauordnungen, in jedem Bundesland eine eigene.
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Tatsächlich finden auch wir, dass Neubauvorhaben nicht an einer Stellplatzverordnung scheitern sollten; denn das Leitbild der autogerechten Stadt sollte sowieso der Vergangenheit angehören.
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Aber viel schlimmer, meine Damen und Herren, ist doch die deutsche Bürokratie, wenn das Amt Hartz-IV-Betroffenen ein Zimmer verriegelt, weil die Wohnung nach irgendwelchen bürokratischen Bestimmungen 2 Quadratmeter zu groß ist, wenn aus dem gleichen Grund Erwerbslose nach Jahren aus ihrer Wohnung geschmissen werden. Das ist Bürokratie in Deutschland, und damit muss endlich Schluss sein.
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Von dieser sozialen Frage in der Wohnungspolitik findet sich im Antrag der FDP kein einziges Wort. Darüber sollten Sie vielleicht einmal nachdenken.
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Zu viele Vorschriften machen das Wohnen teuer. Auch wenn es die FDP verwundert, wollen wir als Linke das Bauen und das Wohnen selbstverständlich günstiger machen. Natürlich machen die entsprechenden Vorschriften das Wohnen teurer; das sehen wir, und darüber müssen wir diskutieren. Aber vor allen Dingen werden die Preise doch durch Spekulation mit Grundstücken und Wohnungen nach oben getrieben.
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In Berlin sind die Bodenpreise in zehn Jahren um 1 000 Prozent gestiegen. Wer Wohnen und Bauen bezahlbar machen will, der muss dafür sorgen, dass Spekulation mit Häusern, mit Grund und Boden gestoppt wird. Darauf kommt es an.
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Das schaffen wir nicht durch Entbürokratisierung, sondern nur durch eine soziale Kehrtwende in der Wohnungspolitik. Wir brauchen einen Neustart im sozialen Wohnungsbau, mit 250 000 neuen Sozialwohnungen im Jahr.
Wenn die Bundesregierung jetzt das Grundgesetz ändern will, damit der Bund auch in Zukunft Sozialwohnungen fördern kann, dann freut uns das. Es freut mich auch persönlich außerordentlich; denn als ich noch vor zehn Monaten an dieser Stelle gesprochen habe, gab es für diese Forderung von weiten Teilen des Hauses keinerlei Unterstützung. Sie sehen also, meine Damen und Herren: Die Linke wirkt.
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Auch eine neue Wohngemeinnützigkeit würde dafür sorgen, dass Bauen endlich wieder deutlich günstiger wird. Auch darüber müssen wir in dieser Legislatur weiter sprechen. Es geht nicht nur – hier unterscheiden wir uns von dem, was Union, FDP und AfD erzählen – um Bauen, Bauen, Bauen. Viel entscheidender ist doch die Frage, für wen gebaut wird.
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Wollen wir weiterhin Lofthouses haben, oder wollen wir endlich für die Normalverdiener bezahlbaren Wohnraum in den Städten bauen? Das schaffen wir nur durch ein groß angelegtes, öffentliches Wohnungsbauprogramm, dadurch dass Wohnungen von Kommunen, Ländern und auch vom Bund neu gebaut werden. Die Steuergeschenke, die die GroKo jetzt privaten Investoren verspricht, sind nicht der richtige Weg.
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Ja, die Mietpreisbremse muss deutlich nachgebessert werden; wenn es nach uns geht, zu einem echten Mietendeckel. Ich bin wirklich gespannt. Als Reaktion auf die Mieterdemo vom vergangenen Wochenende hat Katarina Barley, SPD, angekündigt, dass die Mietpreisbremse schnellstmöglich nachgebessert wird. Nun finde ich, dass das, was im Koalitionsvertrag steht, bei weitem nicht ausreicht. Aber ich nehme das Signal wahr, dass die neugewählte Justizministerin dafür sorgen will, dass die GroKo endlich aus ihrem wohnungspolitischen Winterschlaf erwacht. Der Mietenexperte der Union, Herr Luczak – ich sehe ihn gerade gar nicht –, hatte jedoch nichts Besseres zu tun, als ihr noch am gleichen Tag in die Parade zu fahren und alles infrage zu stellen, was Sie noch vor ein paar Wochen im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Ich muss sagen: Das ist wirklich ein starkes Stück. Dass die Union jemanden für das Mietrecht zuständig erklärt, der offenbar den Auftrag hat, jede Verbesserung zugunsten von Mieterinnen und Mietern höchstpersönlich zu verhindern, das ist Heuchelei erster Güte. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
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Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Bei der Union hilft offenbar nur öffentlicher Druck, es hilft nur außerparlamentarischer Druck. Wenn ich mir eines wünschen darf: Ich hoffe wirklich, dass es eine bundesweite Demo geben wird und dass wir zweimal, dreimal oder viermal so viele Menschen sein werden. Dazu werde ich Sie, Herr Wegner, dann auch höchstpersönlich einladen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Abgeordnete Christian Kühn für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Jeder Baupolitiker kennt die absurden Beispiele, die Bauen in Deutschland verteuern. Es ist völlig absurd, dass in Ulm anders gebaut werden muss als in Neu-Ulm. Es braucht endlich eine Vereinheitlichung der Bauregeln der Länder. Darin sind wir uns zwischen SPD, CDU, Linke und Grüne – das war auch in der letzten Wahlperiode so – völlig einig. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es braucht Sie nicht hier im Deutschen Bundestag, um uns diese Erkenntnis zu liefern.
({0})
Es ist einfach die Folge unseres Föderalismus. Mir ist auch nicht aufgefallen, dass sich Herr Lindner im Landtag von Nordrhein-Westfalen dafür ausgesprochen hat, dass die Bauregeln auf Bundesebene vereinheitlich werden sollen; das ist mir zumindest nicht bekannt, Herr Föst.
({1})
Da wir gerade bei Ihrem großen Fraktionsvorsitzenden sind, Herr Föst: Er ist heute nicht anwesend, hat sich aber gestern in der „Bild“-Zeitung zum Thema Wohnen geäußert. Er hat folgenden Satz gesagt, der sich erst einmal gut anhört: Günstig Bauen heißt günstig Wohnen. – Das ist ein Satz, den man auf einem Sharepic ins Internet stellen kann, um in seiner eigenen Community Applaus dafür zu ernten. Das ist ein Satz wie: Besser nicht regieren als falsch regieren. – Beide Sätze sind grundfalsch.
Ich werde Ihnen jetzt darlegen, warum der erste Satz grundfalsch ist.
({2})
Günstiger Bauen kann auch heißen: mehr Gewinne für diejenigen, die bauen.
({3})
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. In meiner Heimatstadt Tübingen liegen die Baukosten für ein Mehrfamilienhaus, das sozusagen frei finanziert wird, also nicht im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus gebaut wird, bei 3 000 Euro pro Quadratmeter. Am Ende geht diese Wohnung dann für 7 000 Euro pro Quadratmeter über die Ladentheke. Die Differenz von 4 000 Euro pro Quadratmeter ergibt sich aus der Spekulation mit Immobilien. Das sind im Augenblick die wahren Kostentreiber beim Bau von Eigenheimen und Mietwohnungen. Deswegen: Lassen Sie uns Spekulation bekämpfen, statt durch Debatten über eine Muster-Garagenverordnung hier im Parlament Nebelkerzen zu zünden.
({4})
Herr Kühn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Todtenhausen?
Sehr gerne, Herr Präsident.
Bitte sehr.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie mir die Zwischenfrage gönnen.
Sehr gerne.
Ich komme aus der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft und gehöre einer Wohnungsbaugenossenschaft an. Ich würde gerne von Ihnen wissen: Glauben Sie wirklich, dass Genossenschaften daran interessiert sind, möglichst hohe Mieten zu kassieren, dass das günstige Bauen für uns nicht ausschlaggebend ist und dass uns nicht daran gelegen ist, unseren Mitgliedern und Mietern preiswerten Wohnraum zur Verfügung zu stellen?
({0})
Wir Grünen und ich persönlich schätzen die Genossenschaften in Deutschland sehr, weil sie die Wohnungsmärkte stabilisieren,
({0})
weil sie Wohnungen zu Mietpreisen anbieten, die deutlich unter den marktüblichen Mieten, die deutlich unter den ortsüblichen Vergleichsmieten liegen.
({1})
Genossenschaften kommen in Deutschland aber meistens nicht zum Zuge, weil sie sich die Baugrundstücke am Ende nicht leisten können;
({2})
denn die Wohnungen gehen letztlich für 7 000 Euro pro Quadratmeter über die Ladentheke. Wenn wir die Spekulation nicht eindämmen, können die Genossenschaften keine Baugrundstücke erwerben, weil sie auf dem freien Markt gar nicht mitbieten können.
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Deswegen ist es im Interesse der Genossenschaften, dass wir die Vergabe von Bauland regulieren und gegen Spekulation vorgehen. Dann können die Genossenschaften endlich wieder selbst investieren.
Ich kenne eine ganze Reihe Genossenschaften in Deutschland, bei denen die Baukosten deutlich unter 3 000 Euro pro Quadratmeter liegen,
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weil sie gut planen. Ein Beispiel ist die Familienheim Schwarzwald-Baar-Heuberg eG in Villingen-Schwenningen, die ihre microLOFTs – das ist ein tolles Konzept – für deutlich unter 3 000 Euro pro Quadratmeter errichtet. Aber auf dem frei finanzierten Wohnungsmarkt geht so etwas nicht. Daran sieht man: Den Anbietern, die im Augenblick auf dem freien Wohnungsmarkt zum Zug kommen, geht es nicht um ein größeres Angebot an günstigen Wohnungen, sondern um Luxusappartements, die man teuer verschachern kann. Das ist nicht die Wohnungspolitik, für die wir stehen. Einer solchen Politik reden Sie mit diesem Antrag aber das Wort.
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Jetzt kommen wir zu einem anderen Thema, das Sie mit Ihrem Antrag aufgemacht haben: Klimaschutz. Wie können wir in Deutschland klimagerecht bauen? Fälschlicherweise behaupten Sie in diesem Antrag, dass der Klimaschutz das Bauen in Deutschland teuer macht. Ich rate Ihnen, sich im Nachgang zu dieser Debatte die Studie des Institutes für Technische Gebäudeausrüstung Dresden anzuschauen, die dieses Jahr herausgekommen ist. Die kennen sich mit den Baukosten und den damit zusammenhängenden Fragen wirklich im Detail aus. In dieser Studie steht der bemerkenswerte Satz:
Die Baupraxis zeigt, dass über die EnEV 2016 hinausgehende energetische Standards unkompliziert und mit marktüblichen Technologien problemlos erreichbar sind.
Ich frage mich ganz im Ernst: Warum wollen Sie dann die Standards zurückdrehen bzw. einfrieren? Das macht doch gar keinen Sinn. Das, was Sie hier vorschlagen, ist klimaschutzfeindlich und technologiefeindlich.
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Es reicht eben nicht, mit der Immobilienlobby zu frühstücken, sondern man muss sich mit den Realitäten beschäftigen. Das sollte auch in Ihrem Interesse liegen. Letztlich fordern Sie in Ihrem Antrag nichts anderes als das, was die Große Koalition in ihrem Koalitionsvertrag geschrieben hat.
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Danach sollen die aktuellen energetischen Anforderungen im Gebäudebereich in Deutschland fortgelten. Langfristig verstößt man damit aber gegen europäisches Recht; denn die EU-Gebäuderichtlinie besagt: Ab 2021 muss der Niedrigst- bzw. Nullenergiestandard zwingend sein. Daher ist dieses Vorgehen letztlich europafeindlich. Diese Bundesregierung wird deswegen Probleme mit Brüssel bekommen. Das ist ganz klar.
Ich sage es noch einmal: Spekulation ist der Hauptkostentreiber. Das sieht auch die Bundesregierung so. Es ist nicht so, dass Entbürokratisierung zu bezahlbarem Wohnraum führt. Das ist die Grundlogik Ihres Antrags: Entbürokratisierung und mehr Markt führen zu bezahlbarem Wohnen. – Auf eine Anfrage von uns hat die Bundesregierung selbst geantwortet: Mieten werden auf Märkten erzielt, und diese Märkte kennen im Augenblick keine obere Grenze. Deswegen steigen die Mieten. – Insofern stimmt die Logik „Entbürokratisierung gleich bezahlbarer Wohnraum“ nicht. Vielmehr entsteht bezahlbarer Wohnraum dort, wo gemeinnützige, genossenschaftliche und soziale Akteure auf dem Wohnungsmarkt investieren.
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Sie haben in Ihrem Antrag auch das Thema Brandschutz erwähnt. Das hat mich ein wenig frösteln lassen; das muss ich ganz ehrlich sagen. Wenn man sich in Europa umschaut, wenn man sich an die brennenden Hochhäuser in Großbritannien erinnert und sich die dortigen Brandschutzstandards anschaut, dann muss man sehr froh sein, dass wir in Deutschland ein hohes Brandschutzniveau haben.
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Die Bundestagsfraktion der Grünen wird diese Brandschutzstandards nicht anfassen; das ist vollkommen klar. Ich rate auch Ihnen davon ab, diese Debatte anzustoßen.
Sie haben hier über „Entbürokratisierung“ gesprochen. Das ist eines der Schlagworte, mit denen die FDP immer unterwegs ist. Ich sage Ihnen: Wir brauchen endlich vernünftig ausgestattete Kommunen, damit wir die Bauplanung endlich beschleunigen können.
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Das heißt eben mehr Bauamt und nicht weniger Bauamt. Dann kommen wir beim Bauen endlich voran.
({11})
Das Problem wird sich noch verschärfen, weil die Digitalisierung die Bauämter und die Bauplanung vor große Herausforderungen stellt. Die Digitalisierung bietet große Chancen; aber das ist eine Frage der Investitionen. Wir Grüne wollen hier investieren, statt weiter bei den Bauämtern zu sparen. Sonst müsste man am Ende womöglich noch sagen: Die Investoren können sich die Genehmigungen selbst erteilen. – Das ist nicht unsere Politik im Bereich Bauen.
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Herr Wegner, Sie haben das Baukindergeld angesprochen, das Sie auf den Weg bringen wollen. Ich nenne es „Reichenheimzulage“. Ich rate Ihnen davon ab, weil die Geschichte der Eigenheimzulage zeigt: Sie führt zu höheren Baukosten und zu Mitnahmeeffekten. Das sehen übrigens nicht nur wir so, sondern auch Haus & Grund, der Steuerzahlerbund, der Deutsche Mieterbund und viele andere. Wir werden Sie hier im Parlament und außerhalb des Parlaments daran erinnern und stellen. Ich finde, die 20 bis 40 Milliarden Euro, die das am Ende kosten wird, sind im sozialen Wohnungsbau bzw. im gemeinnützigen Wohnungsbau besser angelegt.
({13})
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir müssen Spekulationen endlich wirksam bekämpfen, statt hier Scheindebatten über Brandschutz und angeblich zu strenge Klimaschutzmaßnahmen zu führen. Das sehen nicht nur wir so; das haben am Wochenende auch 25 000 Menschen so gesehen, die auf der Straße waren und gegen Spekulation, für mehr sozialen Wohnungsbau, für eine echte Mietpreisbremse und für mehr Gemeinnützigkeit gekämpft haben. Herr Wegner, Sie habe ich auf der Demo nicht gesehen, obwohl Sie in Berlin leben. Ich war auf der Demo und kann Ihnen eines sagen: Die Seele der Berlinerinnen und Berliner kocht beim Thema Wohnen. Das sollten Sie sich als ehemaliger Landespolitiker, der Sie ja einmal waren, wirklich zu Herzen nehmen.
Danke.
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Nächster Redner ist Michael Kießling für die Fraktion der CDU/CSU.
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Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Stellen wir uns einmal vor, dass alle an einem Bau Beteiligten mit einem einzigen kleinen Werkzeugkasten auskommen sollten. Das wird für Dachdecker, Maurer und Elektriker verdammt schwierig. Doch genauso wie bei dem kleinen Werkzeugkasten verhält es sich mit dem Antrag der FDP: Die Herausforderungen auf dem Wohnungsmarkt, vor denen wir stehen – wir haben sie von meinen Vorrednern gehört –, sind nicht mit einem einzigen Lösungsansatz zu bewältigen. Das hat auch Herr Föst zugegeben. Da, denke ich, haben wir einen guten Mitstreiter für unseren Koalitionsvertrag.
Klar ist aber auch: In den vergangenen Jahren gab es viel Bürokratie und viele Anforderungen, die das Bauen erschwert haben. Vielleicht waren es zu viele; die energetischen Anforderungen sind genannt worden. Allein die zusätzlichen Vorgaben von Bund, Ländern und Kommunen machen ein Drittel der Kostensteigerungen seit dem Jahr 2000 aus. Ich nenne nur die Mantelverordnung und das Stichwort „Entsorgung von Oberboden“. Das ist nicht optimal; da muss ich der FDP recht geben.
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Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir nicht noch mehr bürokratische Bauhindernisse schaffen und die Planung sowie den Bau durch ein Gesetzespaket sogar beschleunigen möchten; damit erfüllen wir bereits eine Forderung aus dem Antrag der FDP. Wir prüfen weiterhin, inwieweit durch die Abschaffung und die Optimierung von Gesetzen, Vorschriften, Verordnungen und Normen Kosten gesenkt werden können. Das kommt jedem zugute: sowohl demjenigen, der Wohneigentum erwerben will, als auch demjenigen, der Mietwohnungen bauen will, und natürlich auch den Genossenschaften.
Was aber würde uns die Entbürokratisierung bringen? Sie macht das Bauen billiger und einfacher. Sie erhöht damit die Wahrscheinlichkeit, dass mehr und schneller gebaut wird und der Druck auf dem Wohnungsmarkt sinkt. Bei der jetzigen Baukonjunktur – Handwerker, Bauunternehmer und Planer sind voll ausgebucht – hilft uns das allerdings nur bedingt, die Kosten zu senken. Auch das gehört mit zur Wahrheit.
Die Bauwirtschaft arbeitet bereits auf Hochtouren. Das merkt momentan jeder, der ein Haus bauen will oder einen Handwerker braucht. Auch den sozialen Wohnungsbau und den Bau bezahlbarer Mietwohnungen wird man mit den Vorschlägen der FDP nicht entscheidend befördern können. Aber genau in diesem Segment ist der Bedarf am höchsten. In Deutschland braucht es nicht einfach nur mehr Wohnungen. Wir brauchen die Wohnungen dort, wo der Bedarf am größten ist, und wir brauchen Wohnungen, die sich die Menschen leisten können. Umso wichtiger sind die geplanten Maßnahmen zur Eigentumsförderung wie das Baukindergeld oder das Bürgschaftsprogramm. Herr Kühn, ich kann Sie beruhigen: Es gibt beim Baukindergeld eine Obergrenze, was das Einkommen betrifft. Somit erreichen wir sehr viele Familien in diesem Bereich.
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Der Wohnungsmangel in den 90er-Jahren wurde größtenteils dadurch bekämpft, dass neues Bauland geschaffen wurde, und zwar in Regionen, in denen Bauland verfügbar war. Das ist heute anders. Denn der Bedarf ist heute dort am größten, wo Bauland am knappsten ist: in den Ballungsräumen und in den Speckgürteln. Es braucht also neue Ideen. Dazu gehören neben den genannten Punkten und der Baulandaktivierung eine Städtebauförderung für Kommunen für eine nachhaltige Entwicklung im ländlichen Raum, Aufstockungen, Wohnraumaktivierungen und andere Arten der Nachverdichtung, intelligente Lösungen beim ÖPNV, beim öffentlichen Personennahverkehr, sind innovative Methoden in der Planung – ich nenne BIM –, um die Bauprozesse zu verbessern und kostengünstig und effektiver zu gestalten, eine Überprüfung von Normen auf ihren Nutzen und deren Reduzierung auf den erforderlichen Umfang – ich denke, es gibt mehrere Baunormen, die man sich anschauen kann – sowie eine anwenderorientierte Weiterentwicklung der VOB.
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Nötig ist jedenfalls ein differenzierterer Blick auf den Wohnungsmarkt, wodurch die lokalen Unterschiede erkannt und in die Lösungen eingebunden werden. Entbürokratisierung und Kostensenkung hören sich gut an; sie sind aber keine ausreichende Grundlage für erschwinglichen Wohnraum.
Elektriker, Dachdecker und Maurer, jeder braucht sein ganz eigenes Werkzeug. So braucht es auch für die Lösung wohnungspolitischer Probleme ein Bündel an Maßnahmen. Wir brauchen also mindestens eine Werkstatt an Maßnahmen, um unser Versprechen einzulösen, in dieser Wahlperiode 1,5 Millionen neue Wohnungen zu bauen.
Wir werden dazu in diesem Jahr – das haben wir schon genannt – einen Wohnungsgipfel veranstalten, auf dem Bund, Länder, Gemeinden, Bau- und Immobilienwirtschaft verbindliche Eckpunkte eines Gesetzespaketes zur Wohnraumoffensive vereinbaren. Genauso wie die Gewerke beim Hausbau koordiniert werden müssen, müssen auch die einzelnen politischen Maßnahmen koordiniert werden; denn, liebe FDP, wenn die Wände nicht stehen, kann man auch noch nicht verputzen.
Lassen Sie uns im Ausschuss gemeinsam darüber beraten, wie wir bauen und Wohnraum schaffen können.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Als Nächstes spricht Hagen Reinhold für die Fraktion der FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Debatte eben musste ich jetzt viel mitschreiben.
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Herr Kießling, ich bin ja ganz erstaunt, dass aus dem Werkzeugkoffer, den Sie bei der Union in den letzten vier Jahren mit sich herumgetragen haben, jetzt schon eine ganze Werkstatt geworden ist. Da freue ich mich.
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Aber das zeigt schon, wie komplex dieses Thema ist, und das hat man an der Debatte heute auch gemerkt.
Was hier alles reingespielt wurde! Es wurde von – was habe ich nicht alles gehört? – Spekulationen, die die Grundstückspreise hochtreiben, von der Mietpreisbremse und von was nicht allem noch gesprochen. Herr Kühn, hier zeigt sich, dass es die FDP ganz offensichtlich doch braucht; denn mit Ihrem Werkzeugkoffer oder Ihrer ganzen Werkstatt kommen Sie allein nicht weiter. Deshalb braucht es uns hier so dringend.
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Es ist schön – ich nehme Sie hier beim Wort –, wenn Sie die FDP auffordern, ein umfangreiches Programm vorzulegen, damit Sie abschreiben können. Sehr gerne machen wir auch das.
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Heute haben wir uns in unserem Antrag hauptsächlich um die Baukosten und um die Entbürokratisierung gekümmert. Ganz ehrlich: Dass Sie das nicht verstehen, zeigen die Debatten.
Hier vorne steht ein Maurermeister. Wenn es um den Brandschutz geht, dann braucht man bauaufsichtlich zugelassene Produkte. Ich weiß nicht, ob Sie so etwas schon einmal in der Hand hatten; wahrscheinlich ja.
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Dann wissen Sie vielleicht auch, dass ich ein Produkt, für das in Deutschland eine bauaufsichtliche Zulassung notwendig ist, noch nicht einmal alleine mit einer EU-Zertifizierung bekomme, sondern dafür muss es in Deutschland noch eine DIN-Norm obendrauf haben.
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Das macht das Bauen in Deutschland einfach nur teuer. Die Produkte kosten ein Vielfaches von dem, was sie im Ausland kosten.
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Das zeigt doch, dass hier was passieren muss. Dafür braucht es Entbürokratisierung. Das ist nun einmal so.
Herr Wegner, ganz ehrlich: Ich war eben erschüttert. Sie sagen, wir hätten den ländlichen Raum ausgelassen. Bei mir im ländlichen Raum wird gebaut, bei Ihnen vielleicht nicht.
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Jeder, der baut, braucht günstige Baukosten, im ländlichen Raum genauso wie in den Ballungsgebieten. Das ist nun einmal so.
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Liebe Frau Lay, wer noch immer nicht verstanden hat, dass günstiges Bauen auch günstige Mieten hervorruft, der tut mir leid. Das ist wirklich beratungsresistent,
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und Sie zeigen, dass Sie wahrscheinlich genau so rechnen. Sie sprachen von einer Steigerung der Grundstückskosten um 1 000 Prozent. Ich muss sagen, ich habe geschmunzelt. Selbst wenn das Grundstück in Berlin vorher nur 1 Euro pro Quadratmeter gekostet hätte und 300 Quadratmeter groß ist, würde es jetzt 300 000 Euro kosten. Da stimmt in Ihrer Rechnung schon was nicht, aber so rechnen die Linken. Damit kann man eben nicht viel erreichen.
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Lassen Sie mich kurz noch – leider habe ich zu wenig Zeit, um alles abzuräumen – auf den Antrag zurückkommen. Es ist wichtig, dass wir das Bauen in Deutschland vereinfachen. Mir ist bewusst, dass der Bund allein hier nicht reicht. Wir brauchen auch die Länder und die Kommunen dazu; das ist selbstverständlich. Wie kann es sonst sein, dass beim systematischen Bauen in Deutschland nicht nur in jedem Bundesland andere Anforderungen gelten – in dem einen muss ich eine Entrauchungsanlage oder einen Sprinkler einbauen, in dem anderen nicht; auch die Auflagen zum Brandschutz sind unterschiedlich –, sondern es sogar in ein und demselben Bundesland unterschiedliche Auflagen gibt. Das kann nicht sein. Das macht das Bauen in Deutschland teuer.
Wenn wir erkennen, dass wir mehr Wohnraum brauchen, um ein Angebot an Mietwohnungen herzustellen – bei einem größeren Angebot sinken auch die Mieten wieder –, dann brauchen wir serielles Bauen, dann brauchen wir Entbürokratisierung. Das erreichen Sie, indem Sie den Antrag der FDP ernst nehmen. In dem Antrag wird eigentlich nur darauf hingewiesen, dass die ausgearbeiteten Vorschläge der Baukostensenkungskommission umgesetzt werden sollen.
Wie wichtig das Thema dem Minister ist, der es an sich gezogen hat, das sieht man heute. Ich freue mich, dass es dazu einen eigenen Ausschuss gibt. Die Wichtigkeit des Themas erkennt jeder; da kann auf die Straße gehen, wer will. Herr Seehofer scheint das Thema nicht sehr ernst zu nehmen. In der ersten Debatte, in der es um Bauen gehen, ist er nicht da. Das ärgert mich, ehrlich gesagt, ungemein.
Ich danke Ihnen.
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Nächste Rednerin für die Fraktion der SPD ist Claudia Tausend.
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Gute Frage! – Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, die Sicherung von bezahlbaren Mieten, die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum sind eine vordringliche Aufgabe für den Deutschen Bundestag und für Großstädte – mittlerweile für Städte überhaupt – die vordringlichste, die zentralste soziale Frage.
Deshalb haben wir in der letzten Legislaturperiode bereits zu Beginn das Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen einschließlich einer Baukostensenkungskommission eingesetzt. Diese hat nicht nur festgestellt, dass es eine deutliche Verschiebung von den Rohbau- zu den Ausbaukosten gibt, sondern auch die vier Hauptkostentreiber identifiziert. Das sind, wie mehrfach angesprochen, der vorbeugende Brandschutz und – das wurde noch nicht angesprochen – die Barrierefreiheit. Kolleginnen und Kollegen, seien wir doch ehrlich: Diese Themen, glaube ich, werden wir im Grundsatz nicht angehen können.
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Gleiches gilt für unsere hohen Energiestandards und für das klimagerechte Bauen. Wir haben zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen der Union einen guten Vorschlag entwickelt. Er ist auch im Koalitionsvertrag nachzulesen; darauf geht der Kollege Gremmels in seinem Wortbeitrag noch ein. Bei der Stellplatzverordnung sehe ich, ehrlich gesagt, eher die Länder und die Kommunen am Zug. Ich möchte trotzdem Ihre Vorschläge und auch die Vorschläge der Baukostensenkungskommission nicht einfach wegwischen. Wir werden diese Ergebnisse gemeinsam mit der Bauwirtschaft, der Wohnungswirtschaft und allen Beteiligten im Rahmen unseres Bündnisses für bezahlbares Wohnen und Bauen, das wir fortsetzen wollen, prüfen und bewerten.
Aber, Kolleginnen und Kollegen, das reicht doch alles nicht. Die Kollegin Ulli Nissen aus Frankfurt hat darauf hingewiesen – sie kennt das aus eigenem Erleben, ich kenne das aus München –: Der größte Kostentreiber sind mittlerweile die Grundstückspreise. Die Bodenpreisentwicklung in meiner Heimatstadt München sieht folgendermaßen aus: Die Preise haben sich innerhalb von zehn Jahren verdreifacht. Wir haben in den letzten 45 Jahren bundesweit einen Anstieg der Baulandpreise um 1 600 Prozent gehabt, die Mieten sind in der Folge um 500 Prozent gestiegen.
Das alles kann man noch viel deutlicher in einem wirklich wichtigen Aufsatz, den ich Ihnen allen ans Herz legen möchte, von unserem ehemaligen Bundesbauminister Hans-Jochen Vogel nachlesen, der kürzlich auch in der „Süddeutschen Zeitung “ veröffentlicht wurde. Ich bin sehr, sehr dankbar, dass es uns gelungen ist, im Koalitionsvertrag die Einrichtung einer Enquete-Kommission für nachhaltiges Bauen zu vereinbaren.
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Ich glaube, es ist vordringlich, Vorschläge zu entwickeln und zu diskutieren, wie wir diese Bodenpreisentwicklung in den Griff bekommen; denn diese steigenden Boden- und Grundstückspreise konterkarieren doch wirklich jede Einsparung bei den Baukosten.
Wir müssten aber, bevor wir zu gesetzlichen Änderungen kommen, die Chancen nutzen, die wir alle schon kennen. Dazu möchte ich gerne zwei kleine Beispiele aus München anführen, um zu zeigen, wie man kostengünstig bauen kann, wenn man alle Regelwerke und Gesetze einhält.
Das erste Beispiel kommt aus unserer eigenen Städtischen Wohnungsgesellschaft München, GWG. Sie hat ein sogenanntes Minimalprojekt entwickelt und umgesetzt. Alle technischen, strukturellen Standards, die Richtlinien und die Vorschriften wurden hinterfragt. Alle Bauakteure wurden rechtzeitig zu einem gemeinsamen Planungsprozess an einen Tisch gebracht. Das klingt sehr abstrakt, aber die Baukosten sind auf 1 450 Euro pro Quadratmeter Geschossfläche minimiert worden. Das ist die Hälfte dessen, was üblich ist. Es geht also auch, wenn tatsächlich innerhalb des gesetzlichen Rahmens gearbeitet wird.
Ein zweites Beispiel, das ich noch nennen kann, ist – Sie kennen es vielleicht – unser Stelzenhaus am Dantebad in München. Es wurde kürzlich mit dem Deutschen Bauherrenpreis ausgezeichnet, und zwar in der Kategorie „Serielles und modulares Bauen“. Hier gibt es Chancen, die wir, glaube ich, konsequent nutzen sollten. Ich bin sehr dankbar, dass mit dem GdW schon die Initiative angestoßen worden ist, dieses Thema über Ausschreibungen stärker zu fokussieren.
Kolleginnen und Kollegen, ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit, und ich freue mich, in unserem neu einzurichtenden Bauausschuss all diese Überlegungen mit Ihnen zu vertiefen.
Danke.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist Torsten Schweiger für die CDU/CSU, der heute seine erste Rede im Bundestag hält.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir befassen uns heute mit dem Antrag „Wohnungsbau entbürokratisieren – Kostenexplosion eindämmen“. Meine Vorredner sind bereits umfassend auf die Aktivitäten von Bund und Ländern eingegangen, um den Wohnungsbau in Deutschland anzukurbeln. Die Kostentreiber und auch die Hemmnisse sind benannt worden.
Ich will daher den Blick auf die aktuelle Wohnungsbaupolitik richten und die offensichtlichen Fehlentwicklungen, die wir in der Vergangenheit gehabt haben, aus einer völlig anderen Perspektive darstellen, die sicherlich in dem vorliegenden Antrag – jedenfalls meiner Meinung nach – noch unzureichend zum Ausdruck kommt.
Während meiner 20-jährigen Tätigkeit als Bauamtsleiter in der Stadt Sangerhausen – das ist eine kleine Kreisstadt in Sachsen-Anhalt mit rund 30 000 Einwohnern – habe ich mich sozusagen täglich mit den Problemen des öffentlichen Baurechts auseinandergesetzt. Zum Beispiel sorgte insbesondere im Zusammenhang mit den Baugenehmigungen im Rahmen des § 34 Baugesetzbuch immer wieder die Auslegung für Probleme zwischen den Baugenehmigungsbehörden – das sind die Landkreise –, den Städten, die das planungsrechtliche Einvernehmen erteilen, und natürlich auch den Bauherren.
Die im Gesetzestext vorhandenen Formulierungen wie „Maß der baulichen Nutzung“ oder „Eigenart der näheren Umgebung“ bereiten immer wieder Probleme, die mühsam und zeitaufwendig geklärt werden müssen. Aber auch die Dreimonatsfrist, die für die Genehmigungsbehörde gilt, ist mitunter schwer zu rechtfertigen, zumal sie für ein Bauvorhaben von einigen Tausend Euro genauso gilt wie für ein Millionenprojekt. Auch daraus ergibt sich sicherlich die Notwendigkeit einer Diskussion über eine Überarbeitung des Baugesetzbuches.
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Es gilt nun aber auch, zu schauen, ob sich beispielsweise objektivere Kriterien für die Genehmigung nach § 34 finden lassen.
Ein weiteres Hemmnis für die zügige Umsetzung von Bauprojekten insbesondere dann, wenn es sich nicht nur um ein einzelnes Haus handelt, das Bauvorhaben größerer Art ist oder beispielsweise im Außenbereich liegt, sind die zeitraubenden Bebauungsplanverfahren, die in der Regel mindestens ein Jahr dauern, und das ist schon optimistisch.
Die Beteiligung (an der Bauleitplanung) einer Unmenge von Trägern öffentlicher Belange, der sogenannten TöBs, ist immens zeitaufwendig und problematisch. Dass es zum Beispiel notwendig ist, die Wehrbereichsverwaltung in einer Kleinstadt zu beteiligen, um herauszufinden, ob nicht gerade an diesem Standort der Planung irgendwann zukünftig eine neue militärische Anlage gebaut werden soll, zeigt, dass wir hier unbedingt stärker differenzieren müssen, wenn wir bei den Genehmigungen an Geschwindigkeit gewinnen wollen.
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Auch hier greift der Antrag der FDP meiner Meinung nach etwas zu kurz.
Seit aber die Umweltverbände vom Gesetzgeber durch das Verbandsklagerecht privilegiert wurden, nimmt die Zahl der Klagen ständig zu, so auch in den vergangenen Jahren in meinem Verantwortungsbereich als Bauamtsleiter. Klagen sind – das wissen wir alle – über mehrere Instanzen sehr verzögernd, und letztendlich geben viele Investoren auf, weil die Finanzierung zusammenbricht und das Projekt nicht mehr umsetzbar ist.
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Meiner Erfahrung nach geraten Genehmigungsverfahren für Infrastrukturprojekte, aber auch für notwendigen Wohnungsbau oftmals so in eine Schieflage. Das Verbandsklagerecht wird zunehmend als Blockadeinstrument benutzt und somit zweckentfremdet.
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Investoren wird damit meiner Meinung nach ein oft überdurchschnittliches Maß und Risiko aufgebürdet. Auch hier gilt es, zügig Abhilfe zu schaffen, damit die Wichtung der Interessenlage ausgeglichener erfolgt, um Kosten zu sparen und den Planungshorizont überschaubar zu halten.
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Einen weiteren zentralen Aspekt möchte ich deutlich hervorheben. Unser Wohnungsmarkt ist schon seit vielen Jahren ein Stück weit aus dem Gleichgewicht geraten. Die Diskrepanz zwischen Nachfrageengpässen in den Ballungsräumen und Angebotsüberhang im ländlichen Raum wird immer größer. Insofern ist das jetzt notwendige Wohnungsbauprogramm unabweisbar, ganz deutlich. Aber für eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Stadt und Land, wie es auch der Koalitionsvertrag vorsieht, ist es eigentlich nicht zuträglich. Ich möchte Ihnen nicht vorenthalten, dass in meinem Wahlkreis im Süden Sachsen-Anhalts viel Geld in die Hand genommen wurde, um durch Abwanderung leer stehende Gebäude abzureißen. Wir mussten Wohnraum vernichten, um wenigstens die Mieten stabil halten zu können und für Investoren überhaupt eine Refinanzierung zu sichern. In den Wachstumszentren und Ballungsräumen hingegen muss der Wohnungsbau massiv vorangetrieben werden, oft mit Milliardenaufwand.
Wir doktern seit Jahren an den Symptomen eines problematischen Wohnungsmarktes herum.
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Ich bin überzeugt, dass die Ursache der Fehlentwicklung auch in der teilweisen Vernachlässigung der ländlichen Räume besteht. Wir haben bisher einfach zu wenig getan, um gleichwertige Lebensbedingungen in Stadt und Land sowie in einzelnen ländlichen Räumen zu schaffen. Es gelingt nicht ausreichend, den Menschen, insbesondere den jungen Menschen, eine attraktive soziale und technische Infrastruktur zu bieten, die den Abwanderungsprozessen entgegenwirkt.
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Daher bin ich ausgesprochen froh darüber, dass der Koalitionsvertrag die Herstellung von gleichwertigen Lebensverhältnissen in Stadt und Land zum Ziel hat.
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Lassen Sie mich über einen weiteren Punkt des FDP-Antrags reden, der Unterstützung verdient. Die Energieeinsparverordnung sollte nicht weiter verschärft werden, nicht einmal ansatzweise.
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Damit neue und sanierte Wohngebäude besonders energieeffizient sind, hat der Gesetzgeber 2006 die bereits bestehenden Richtlinien verschärft und die Anforderungen an den zulässigen Primärenergiebedarf erhöht. Für Bauherren und Eigentümer bedeutet dies enorme Mehrkosten. Somit unterstütze ich die im Antrag der FDP formulierte Forderung nach einem Verzicht auf weitere Verschärfungen der Energieeinsparverordnung.
Ein weiterer Punkt ist ebenfalls diskussionswürdig: die Wiedereinführung der degressiven Abschreibung. Ursprünglich sollten Familien von diesem lukrativen Steuermodell profitieren, einem steuerlichen Anreiz, um den Traum vom privaten Eigenheim zu realisieren. Als ersichtlich wurde, dass weniger Familien, sondern mehr Wohnungsbaugesellschaften Nutznießer waren, hat man die degressive steuerliche Abschreibung 2006 wieder abgeschafft, mit der fatalen Folge, dass auf dem deutschen Immobilienmarkt ein drastischer Rückgang zu verzeichnen ist. Die Folgen sind bis heute spürbar. Um den privaten Wohnungsbau wieder anzukurbeln, sollte deshalb die Wiedereinführung der degressiven Abschreibung zumindest in Erwägung gezogen werden.
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Ich komme zu meinem letzten Punkt, zu der Grunderwerbsteuer und der Grundsteuer. Die Prüfung eines Freibetrags bei der Grunderwerbsteuer, wie es der Koalitionsvertrag vorsieht, ist ein vernünftiger Ansatz, ganz deutlich. Allerdings wird man die Auswirkungen in den Ländern genau im Blick haben müssen. Dazu erwarte ich eine rege Erörterung in den Ausschüssen. Ein korrespondierender Punkt wird die Diskussion über die Neugestaltung der Grundsteuer sein. Praktikabilität und dadurch schnelle Umsetzung sind hier das Gebot der Stunde bei dieser wichtigen Einnahmequelle unserer Kommunen. Als Bemessungsgrundlage sollten bereits verfügbare Daten wie die Bodenrichtwerte dienen. Jeglicher bürokratischer Aufwand zulasten der Behörden und der Steuerpflichtigen muss vermieden werden.
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Die Forderung, dass die Reform aufkommensneutral sein soll, ist berechtigt, auch wenn mir hier momentan die Fantasie fehlt, mir vorzustellen, wie das gehen soll.
Wenn wir in Zukunft Wohnungsbaupolitik in Deutschland erfolgreicher und mit größerer gesellschaftlicher Akzeptanz betreiben wollen, müssen wir die Ursachen der Fehlentwicklung im ländlichen Raum beherzt angehen. Der heute vorliegende FDP-Antrag ist dafür eine erste Basis, greift aber nicht weit genug. Ich freue mich daher auf die Beratungen in den Ausschüssen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Da sich das Plenum langsam füllt mit Blick auf die nahenden Abstimmungen, bitte ich darum, die notwendigen Gespräche, wenn sie geführt werden müssen, draußen in der Lobby zu führen und dem letzten Redner die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Das ist Timon Gremmels für die Fraktion der SPD.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich dachte schon, die Kolleginnen und Kollegen kommen meinetwegen in den Saal; aber anscheinend liegt es doch nur an der Abstimmung.
Ich freue mich, dass wir uns heute hier mit dem Thema Wohnungsbau beschäftigen. Als ich den ersten Absatz des FDP-Antrags gelesen habe, habe ich gedacht, dass Sie von der FDP die Zeichen der Zeit erkannt haben und ein ernsthaftes soziales Problem adressieren. Der erste Absatz dieses Antrags ist okay. Aber im Hinblick darauf, wie Sie Ihr Vorhaben umsetzen wollen, springen Sie deutlich zu kurz, meine sehr verehrten Damen und Herren von der FDP.
Der Mangel an Wohnraum – ich füge hinzu: der Mangel an bezahlbarem Wohnraum – ist die soziale Frage des kommenden Jahrzehnts. Ich finde, dass wir in der Großen Koalition mit Hochdruck an diesem wichtigen Thema arbeiten und auch gute Lösungen vereinbart haben.
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Das ist zum Ersten, die Arbeit der Baukostensenkungskommission fortzusetzen, zum Zweiten, die Initiative für ein Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen, die schon die damalige Bundesbauministerin Hendricks auf den Weg gebracht hat, fortzuführen, drittens, den sozialen Wohnungsbau weiter zu fördern, viertens, ein Planungs- und Beschleunigungsgesetz auf den Weg zu bringen, fünftens, die Digitalisierung des Planens und Bauens gemeinsam mit der Wirtschaft voranzubringen und, sechstens – was mich ganz besonders freut, weil die Koalition, insbesondere die CDU, da ihre Blockade aufgegeben hat –, endlich auch bundeseigene Grundstücke kostengünstig abzugeben, damit sie für den sozialen Wohnungsbau genutzt werden können. Das wäre gut, und es ist längst überfällig.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, was wir ganz sicherlich nicht tun werden, ist, dass wir Wohn- und Klimaschutz gegeneinander ausspielen.
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Genau das ist der Kern Ihres Antrages. Das ist aus meiner Sicht nicht der richtige Weg.
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Sie schreiben von überdurchschnittlich gestiegenen Preisen für die technische Gebäudeausrüstung und von energetischen Anforderungen, die sich nach verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen als Kostentreiber erwiesen hätten; allerdings belegen Sie diese Untersuchungen nicht. Ich sage Ihnen: Das ist schlicht und einfach falsch.
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Ich habe einen Beleg für das, was ich sage – der Kollege Kühn hatte die gleiche Quelle –: Das Institut für Technische Gebäudeausrüstung Dresden hat Anfang dieses Jahres untersucht, wie das mit den Kosten ist. Dabei kam ganz klar heraus, dass die Gesamtkostensteigerungen durch energetische Auflagen seit dem Jahr 2000 als gering einzuschätzen sind. Von der 36-prozentigen Preissteigerung zwischen 2000 und 2014 fallen gerade einmal 6 Prozentpunkte auf den Gebäudeenergiebereich zurück. Das spricht doch Bände. Sie bauen da einen Popanz auf. Sie wollen die Energiewende im Gebäudebereich nicht und versuchen jetzt, sie gegen die Frage bezahlbaren Wohnraums auszuspielen. Das ist nicht gut, weil Sie die energiepolitische Realität verkennen.
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Energieeffizienz im Gebäudebereich ist gleich dreimal sinnvoll:
Sie ist sinnvoll für die Mieterinnen und Mieter, weil sie sich von steigenden Energiekosten unabhängig machen. Die Häuser und die Wohnungen, die heute gebaut werden, müssen so beschaffen sein, dass Menschen in den nächsten 50 Jahren darin wohnen können. Wenn wir einmal Geld in die Hand nehmen, dann sollten wir das nachhaltig tun und die Energiekosten, von denen wir nicht wissen, wie sie sich weiterentwickeln, im Blick behalten.
Energieeffizienz ist zweitens für die Wirtschaft günstig, weil die Branche der technischen Gebäudeausrüstung über 150 000 gutbezahlte Ingenieure hat und mehr als 40 Milliarden Euro umsetzt. Eigentlich ist das doch die Sprache, die Sie verstehen. Hören Sie doch einmal auf die Kolleginnen und Kollegen aus dieser Wirtschaftsbranche.
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Zum Dritten ist sie gut Klima und Umwelt.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wenn Sie dieses Thema hier schon ansprechen, dann sollten Sie doch auch bitte an der Stellschraube drehen, bei der das wirklich nutzt, und das ist, wie vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im September 2017 amtlich festgestellt, die Frage mangelnder geeigneter Flächen und zu hoher Grundstückspreise. Das ist doch das eigentliche Problem.
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Vor dessen Behandlung drücken Sie sich in Ihrem Antrag; dazu sagen Sie nichts. Die Beseitigung dieses Engpasses ist der entscheidende Faktor für mehr bezahlbaren Wohnraum. Lassen Sie uns doch darüber diskutieren, wenn wir jetzt über die Grundsteuer diskutieren.
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Bodenspekulationen muss im Rahmen einer umfassenden Grundsteuerreform Einhalt geboten werden. Dazu könnten Sie einen Beitrag leisten, nämlich indem Sie die Baukosten nachhaltig reduzieren und bezahlbaren Wohnraum schaffen. Das ist die richtige Stellschraube, von der in Ihrem Antrag mit keinem Wort die Rede ist. Das zeigt einmal mehr, dass die FDP nach wie vor eine Klientelpartei ist.
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Ich sage Ihnen noch etwas: Wenn Sie hier die EnEV zitieren, dann schauen Sie doch einmal, welche Unterschrift unter dieser Verordnung steht. Wer hat die unterschrieben? Gucken Sie mal rein! Ich gebe Ihnen einen Tipp: Das war noch ein Wirtschaftsminister, der Ihr Parteibuch hat. – So viel zur Redlichkeit der FDP.
Vielen Dank.
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Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. – Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1692 an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit vorgeschlagen. – Damit sind Sie, soweit erkennbar, einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Alles hängt mit allem zusammen. Oder: Nichts hat mit nichts zu tun. Die Wahrheit dahinter ist oft ganz simpel oder manchmal auch komplex und verschachtelt. Die Ausarbeitung des sogenannten Global Compacts for Migration – zu Deutsch: Globaler Pakt für Migration – befindet sich in der abschließenden Phase. Dieser Pakt soll in 2018 von den Regierungen unterschrieben werden. Vorgestern, am Dienstag, fand im EU-Parlament eine Aussprache zu diesem Pakt statt, und gestern gab es eine Entscheidung dazu. Auch mit Zustimmung der Union aus CDU und CSU wurde beschlossen, dass – ich zitiere –:
… Migranten und Flüchtlinge, unabhängig von ihrem Rechtsstatus, anerkannt und die Staaten verpflichtet werden, sie zu achten, einschließlich des fundamentalen Grundsatzes der Nichtzurückweisung …
Meine Damen und Herren, das wurde auch mit den Stimmen der Union gestern im EU-Parlament beschlossen.
Ziel der Union ist die Etablierung eines weltweiten Globalen Pakts für Migration. Die aktuelle Ausarbeitung der 2016 beschlossenen New Yorker Erklärung etabliert ein Bündel von Rechten für reguläre Migration und von Pflichten für die aufnehmenden Zielstaaten. Zu den staatlichen Pflichten gehört die Bekämpfung von Xenophobie.
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Jegliche Kritik an diesem Plan wird als ebensolche Fremdenfeindlichkeit bezeichnet. Es soll auch keine Rolle mehr spielen, ob Flüchtlinge und Migranten an den Grenzen Pässe haben oder nicht. Die Erklärung könnte zu einem Signal für eine nie da gewesene Völkerwanderung werden, die vor allem in die Sozialsysteme Europas erfolgen wird. Wir hatten uns darüber gewundert, was die Beteiligung am Resettlement- und Relocation-Programm, dem Umsiedlungsprogramm der UN, im Wahlprogramm der Union zu suchen hat.
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Jetzt wissen wir es.
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Sprache steuert das Denken. Wo also von Flüchtlingen oder gar Geflüchteten die Rede ist, denkt man an Bürgerkrieg, Not und Hilfe. Aber man ahnt spätestens seit der Gewalt des übergriffigen Migrantenmobs aus nordafrikanischen Staaten in Köln und anderswo, dass viele der sogenannten Syrer eben nicht von dort kommen.
Die IOM, die Internationale Organisation für Migration – in Brüssel gegründet –, beschäftigt sich seit 1989 mit der Steuerung von Migration. Seit dem Jahr 2013 ist sie Teil des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Europa, Zielregion der Migration, hat kaum Mitsprache. Im Hintergrund stehen neben der westlichen Hilfsbereitschaft im Übrigen handfeste wirtschaftliche Interessen. Ein einheitlicher globalisierter Markt auch für Menschen, unbeschränkt durch nationale Regelungen, lässt sich nur nach Auflösung nationaler Identität erreichen. Das World Economic Forum in Davos hat in seinem Global Agenda Council for Migration für die Industrie bereits einen Businessplan bzw. einen Business Case for Migration beschrieben, somit ein Geschäftsmodell für Migration, ein Geschäftsmodell, zu dem im Übrigen der Daimler-Chef Zetsche mit Blick auf die Migranten und Flüchtlinge sagte, dass ein neues Wirtschaftswunder heraufziehen würde.
Was aber will ein Staat ohne Grenzen, ohne Budgethoheit, ohne Definition der eigenen Identität? Kein Grundgesetz kann die kulturelle Wertebeliebigkeit noch sinnstiftend regeln, die ein solches Siedlungsgebiet für jedermann darstellen würde. Das ist der bekannte One-World-Unsinn, der Armut sozialisiert, statt Leistung zu fördern, und der nicht erkennt, dass Toleranz ohne die Akzeptanz von Grundregeln zur Blaupause für Anarchie mutiert.
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Die bisherigen Entscheidungen erfolgten an den demokratischen Strukturen vorbei, um anschließend als alternativlos und großer Gewinn für die Zielländer präsentiert zu werden – oder wie Frau Merkel schlicht sagte: „Nun sind sie halt da.“ Meine Damen und Herren, Verantwortung sieht anders aus. Im Übrigen geht Benjamin Netanjahu davon aus, dass die Schwarzafrikaner, die Israel nicht haben will und die das Land verlassen müssen, auf Deutschland verteilt werden, weil Verpflichtungen gegenüber dem UNHCR bestehen.
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Es ist damit klar, dass es hier nicht um Flucht vor Krieg oder um Verfolgung gehen kann. Es geht um eine geplante Umsiedlung, zu der sich Deutschland verpflichtet hat – am deutschen Parlament vorbei.
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Wer, meine Damen und Herren, hat die Bundesregierung dazu ermächtigt? Wann wurde das Thema im Bundestag behandelt? Wann wurde darüber in der Öffentlichkeit berichtet? Wo waren die sogenannten Qualitätsmedien, allen voran ARD und ZDF, die doch immer so gern am Nerv der Zeit sind? Lassen Sie sich noch einmal vor Augen führen, was gestern im EU-Parlament verabschiedet wurde, und lesen Sie das einmal. Es geht um eine globale Neuordnung. Die EU ist dabei, und der Bundestag ist entmündigt. Sie, die Sie hier sitzen, haben sich selbst entmündigt. Meine Damen und Herren, ändern wir das!
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Die USA haben die Mitwirkung am Globalen Pakt für Migration gekündigt; denn er ist ein No-Border-Programm. Sie haben recht: Er ist ein Pakt zur Aufhebung der Grenzen. Eine Welt ohne Grenzen ist eine ähnliche Illusion wie Wohlstand ohne Arbeit.
Herr Hebner, achten Sie bitte auf die Zeit?
Ja. – Meine Damen und Herren, im Fries dieses geschichtsträchtigen Hohen Hauses steht nicht: „Der ganzen Welt“. Dort steht: „Dem deutschen Volke“.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Andreas Nick für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dieser Aktuellen Stunde soll offenbar der Eindruck erweckt werden – so haben Sie es gesagt, Kollege Hebner –, die Vereinten Nationen wollten mit dem Global Compact for Migration eine nie da gewesene Völkerwanderung in Richtung Europa und in unsere Sozialsysteme in Gang setzen.
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Die Stichworte „Migration“ und „internationale Zusammenarbeit“ reichen offenbar schon aus, um bei Ihnen entsprechende Reflexe auszulösen. Das genaue Gegenteil ist in Wahrheit der Fall: Es ist das erklärte Ziel des Pakts, ungeregelte Migrationsströme zu verringern. Es geht um globale Lösungen im Umgang mit Fluchtbewegungen und um geordnete Migration. Es geht an keiner Stelle darum – das ist jedenfalls die klare Position der Bundesregierung –, staatliche Souveränitätsrechte einzuschränken.
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Meine Damen und Herren, wir wollen Migration ordnen, steuern und begrenzen.
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Deshalb wollen wir die Bekämpfung der eigentlichen Fluchtursachen in den Ursprungsländern in den Vordergrund rücken. Deshalb setzen wir uns für die nachhaltige Verbesserung der Lebenssituation in den Herkunfts- und Transitländern ein. Deshalb bekämpfen wir illegale Migration und Schleuserkriminalität. Und deshalb wollen wir auch funktionierende Rücknahmeabkommen mit möglichst zahlreichen Herkunftsländern in Afrika und anderswo. Und im Rahmen von Migrationspartnerschaften mag es an der einen oder anderen Stelle sinnvoll sein, im Gegenzug auch klar definierte Kontingente für begrenzte Zuwanderung zu eröffnen, zum Beispiel über Studenten- und Arbeitsvisa. Wir haben alles im Übrigen im Bereich des westlichen Balkan mit großem Erfolg praktiziert. Denn kluge Einwanderungspolitik, wie es im Koalitionsvertrag heißt, verringert „die Attraktivität von illegaler und ungesteuerter Einwanderung“. Gesteuerte Einwanderung muss nach festen, von den Zielländern festgelegten Kriterien erfolgen. Deshalb beteiligen wir uns im Rahmen der UN auch an den Verhandlungen zum Migrationspakt.
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Resettlement-Programme mit dem UNHCR nach humanitären Kriterien sind eine klare Ergänzung für das, was in diesem Bereich zu tun ist, wie wir es auch im EU-Türkei-Abkommen dargelegt haben.
Meine Damen und Herren, wer eine Steuerung und Begrenzung der Migration erreichen will, kann nicht ignorieren: Fluchtbewegungen und Migrationsdruck sind weltweit eine Realität – und das mehr denn je. 260 Millionen Menschen leben heute in einem anderen Land als ihrem Geburtsland – mehr als jemals zuvor. Weltweit sind derzeit rund 65 Millionen Menschen auf der Flucht, davon über 40 Millionen Binnenvertriebene.
Die meisten Flüchtlinge finden Aufnahme in Nachbarländern, die häufig selbst Entwicklungsländer sind. Mehr als 80 Prozent der Flüchtlinge weltweit halten sich in Staaten mit niedrigem oder mittlerem Einkommen auf. Diese Aufnahmeländer benötigen Unterstützung – auch, um ihre eigene Stabilität weiterhin gewährleisten zu können. Wer globale Wanderungsbewegungen begrenzen und steuern will, der muss auch hier ansetzen. Denn es ist sinnvoll, dass Flüchtlinge möglichst in der Region oder den Nachbarländern verbleiben können; das wahrt am besten ihre Chance auf Rückkehr in ihr Heimatland. Dort muss selbstverständlich ihre elementare Versorgung sichergestellt werden. Das ist nicht nur eine humanitäre Verantwortung; Lastenteilung in dieser Hinsicht ist auch wirtschaftlich sinnvoll.
Die Versorgung und Unterbringung eines Flüchtlings in Europa kostet nach manchen Berechnungen mehr als das Hundertfache des Betrages, den man bräuchte, um ihm in der Region seiner Herkunft sichere Perspektiven zu eröffnen.
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Es reicht aber nicht aus, sie dort nur mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft zu versorgen. Viele Menschen bleiben heute länger – oft für mehrere Jahre – in ihrem Zufluchtsland. Sie brauchen auch die Möglichkeit, dort Geld für ihren Lebensunterhalt zu verdienen, um, wie es der Ökonom Paul Collier formuliert hat, „aus Arbeit Würde zu beziehen und ihre Familien zusammenzuhalten“. Dabei ist auch der Zugang zu Bildung für ihre Kinder ein ganz zentrales Thema; auch das haben wir im EU-Türkei-Abkommen berücksichtigt. „Cash for Work“, die Initiative des BMZ, ist ein gutes Beispiel, mit der wir in Jordanien und im Libanon rund 31 000 Jobs in Bildung, im Handwerk und in der Infrastruktur für Flüchtlinge geschaffen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die deutsche Beteiligung an den Verhandlungen zum globalen Migrationspakt ist sinnvoll und notwendig. Wir nehmen diese Verantwortung an. Und wer den Menschen in Deutschland einreden will, wir bräuchten uns nur hinter Mauern und Stacheldraht zu verschanzen und uns dann um die Probleme in der Welt nicht mehr zu kümmern, der handelt schlichtweg verantwortungslos.
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Und im Zentrum steht für uns auch beim globalen Migrations- und Fluchtpakt die Würde des Menschen.
Wer sich gerne als Retter des christlichen Abendlandes stilisiert, der sollte sich vielleicht auch die Worte des Vatikanvertreters zu Herzen nehmen: Flüchtlinge sind nicht einfach nur Zahlen, die verschoben und zugeteilt werden, sondern jeder Einzelne ist eine individuelle Persönlichkeit mit einem Namen, einer Geschichte und mit seinen ganz persönlichen Hoffnungen und Sehnsüchten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Kollege Christoph Matschie für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Angesichts des Titels der von Ihnen beantragten Aktuellen Stunde, in dem es heißt: „Keine Verlagerung nationaler Zuständigkeiten bei der Zuwanderung auf transnationale Ebene“, und angesichts Ihrer Rede, Herr Hebner, in der Sie sagen, es geht um einen „Pakt zur Aufhebung der Grenzen“, erkennt man auf den ersten Blick: Hier drin steckt nichts als die Verdrehung der Wahrheit. Sie operieren wieder ganz offen mit Lügen über das, was tatsächlich passiert.
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Dabei reicht ein einziger Blick in die Unterlagen. Ich weiß nicht, ob Sie das einmal gemacht haben.
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Dann wird Ihnen zum Beispiel klar, dass es hier um einen rechtlich nicht bindenden Pakt geht. Wie kann denn ein rechtlich nicht bindender Pakt, der Ziele und Leitlinien formuliert, zur Aufhebung von nationalen Zuständigkeiten führen? Das geht überhaupt nicht.
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Sie unterstellen hier bewusst falsche Tatsachen, um Menschen zu verängstigen und sie aufzuhetzen. Das ist schäbig, werte Kolleginnen und Kollegen von der AfD.
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Worum geht es denn eigentlich wirklich in diesem Global Compact for Migration? Es geht darum, zunächst einmal anzuerkennen, dass Wanderungsbewegungen, dass Flucht, dass Wanderungen aufgrund von ökonomischen Hintergründen zur Geschichte der Menschheit dazugehören,
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dass das nichts ist, was plötzlich über uns kommt, sondern dass das etwas ist, das die Geschichte der Menschheit immer mit geprägt, mitbestimmt hat und dass es darauf ankommt, mit dieser Tatsache international verantwortungsbewusst und kooperativ umzugehen, nach gemeinsamen Regeln für Wanderungsbewegungen zu suchen, anstatt Ängste zu schüren und die Schotten dichtzumachen.
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Schauen Sie sich einmal die 22 Ziele dieses Paktes an. Dazu gehört auch, dass man die Gründe für Wanderungsbewegungen zu reduzieren versucht. Es geht um Menschen, die gezwungen werden, ihre Heimatländer zu verlassen: aufgrund von Umweltzerstörung, aufgrund instabiler politischer Situationen, aufgrund sozialer Probleme. Solche Aufgaben sollen gemeinsam und in internationaler Kooperation angepackt werden. Da geht es um den Kampf gegen das Schlepperunwesen. Da geht es auch und natürlich um bessere Bedingungen für die Integration von Zugewanderten. Da geht es um Menschenrechte von Zugewanderten. Wer sich dagegen ausspricht, bei dem frage ich mich: Welches Menschenbild vertritt er denn eigentlich?
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– Werte Kolleginnen und Kollegen, Sie berufen sich so oft auf das christliche Abendland. Zu diesem christlichen Abendland gehören zwei ganz wichtige Prinzipien: Erstens. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden. Zweitens. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. – Gegen beide Prinzipien verstoßen Sie auch heute wieder ganz klar und deutlich.
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Es waren im Übrigen insbesondere die Zielländer von Fluchtbewegungen, von Wanderungsbewegungen, die darauf gedrungen haben, dass wir gemeinsam internationale Regeln finden, dass wir über Instrumente reden, wie wir mit Zuwanderung umgehen.
Ich will es noch einmal deutlich sagen, da von Ihnen Zuwanderung oder Wanderungsbewegungen immer als Angstmacher benutzt werden: Dies gehört auch zur deutschen Geschichte. Deutschland war immer auch Einwanderungsland.
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Deutschland war immer auch Auswanderungsland. Schauen Sie doch einmal in die Geschichte zurück: im 17. und 18. Jahrhundert die Zuwanderung der Hugenotten nach Preußen,
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im Zuge der Industrialisierung des Ruhrgebietes die Zuwanderung polnischer Arbeitskräfte,
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ab Mitte der 50er-Jahre die Zuwanderung aus Jugoslawien, aus Italien, aus der Türkei und Anfang der 90er-Jahre die Spätaussiedler. Dieses Land hat immer mit Zuwanderern zu tun gehabt.
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Dieses Land hat davon profitiert und diese Zuwanderung hervorragend bewältigt. Auch das muss man hier einmal deutlich sagen.
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Deutschland war auch immer ein Auswanderungsland. Allein im 19. Jahrhundert sind rund 7 Millionen Deutsche in die USA ausgewandert. Im Jahre 2016 – aus diesem Jahr stammt die neueste verfügbare Zahl, die wir dazu statistisch haben – waren es immerhin 280 000 Deutsche, die ausgewandert sind. Wir haben also eine Einwanderungs- und Auswanderungsgeschichte.
Werte Kolleginnen und Kollegen, machen Sie doch nicht die Augen vor der Wirklichkeit zu.
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Versuchen Sie doch nicht, Ängste zu schüren, sondern halten Sie sich an die Tatsachen. Halten Sie sich an die Tatsachen, anstatt Lügen zu verbreiten.
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Schämen Sie sich für den Antrag, den Sie hier gestellt haben. Es kommt darauf an, ein Miteinander zu organisieren und nicht ein Gegeneinander. Davon wird unser Land profitieren.
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Mit dem, was Sie machen, schaden Sie unserem Land.
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Das Wort hat die Kollegin Linda Teuteberg für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte ist leider ein Paradebeispiel für eine Zerrbilddiskussion. Die AfD hat es darin zu einer wahren Meisterschaft gebracht. Alles habe mit allem zu tun, haben Sie gerade gesagt. Ich ergänze: Bei Ihnen hat alles mit den üblichen Reizwörtern und Schlagworten zu tun.
Aber zur Sache: Der Sinn und Zweck und die Bedeutung des Global Compact for Migration, über den wir gerade debattieren, gerät bei Ihnen zu einer bizarren Karikatur. Man kann sicherlich über manche Schwerpunktsetzung der aktuellen Entwürfe diskutieren. Aber Tatsache ist: Es geht hier gerade nicht darum, Grenzen niederzureißen und eine ungehemmte Migration zu ermöglichen, sondern es geht darum, eine global geordnete, sichere Migration zu ermöglichen, unter anderem durch bessere Regeln zur Grenzsicherung, durch Bekämpfung von Schleuserbanden sowie durch verbesserte Regelungen zur Ausweispflicht und zur Rückübernahme durch die Herkunftsländer. All das ist notwendig, wenn wir die Flüchtlingsbewegungen in Zukunft human in den Griff bekommen wollen. Allein kann Deutschland, kann Europa das nicht schaffen. Dazu brauchen wir die Hilfe der Herkunftsländer, der Transitländer und unserer Partner in der Welt. Darum brauchen wir nicht weniger, sondern mehr internationale Zusammenarbeit.
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Staatliche Souveränität sollte dabei gerade nicht unterlaufen werden. Dass das gut möglich ist, zeigt das aktuelle EU-Resettlement-Programm, an dem sich die Bundesrepublik beteiligt.
Es ist darum richtig, dass wir auf globaler Ebene hier neue Wege gehen. Wir dürfen nichts unversucht lassen. Tatsache ist allerdings auch: Ein rechtlich unverbindliches Regelwerk wie der Compact wird uns da nicht entscheidend voranbringen, sondern wir Deutschen, wir Europäer müssen da selbst mehr tun. Wir dürfen die Augen nicht länger vor der Wirklichkeit verschließen. Und da ist das andere Zerrbild, das auf der anderen Seite gemalt wird – auch von Grünen, Linken und zum Teil von Sozialdemokraten –, bei dem manche immer noch so tun, als könne unser Land für jedermann offenstehen.
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Wir brauchen geregelte Zuwanderung. Dafür brauchen wir maßvolle Regeln für den Familiennachzug. Wir brauchen konsequente Abschiebung derer, die kein Recht auf Aufenthalt in unserem Land haben, und wir brauchen auch das Prinzip des sicheren Herkunftslandes, das Sie infrage stellen.
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Wer auf den Ruf nach Abschottung mit der Forderung nach offenen Grenzen für alle und jeden antwortet, der spielt den Populisten in die Hände. Dem schwierigen und ernsten Zielkonflikt zwischen grenzenloser Not und begrenzten Kapazitäten zur Integration von Flüchtlingen kann man nicht entkommen. Wir können aber versuchen – und das ist unsere Verantwortung –, ihn durch vorausschauende Politik zu entspannen.
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Sehr geehrte Damen und Herren, Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit und nicht damit, sie sich so zu malen, wie man sie gerne hätte.
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Diese Wirklichkeit ist: Wir werden auch in Zukunft weltweit mit wachsenden Flüchtlingsströmen rechnen müssen – durch Klimawandel, wirtschaftliche Not und regionale Krisen. Die Wirklichkeit ist auch: Auch die Kräfte eines so starken Landes – und wir sind ein starkes Land – wie Deutschland sind endlich, ebenso die Akzeptanz seiner Bürger für Zuwanderung. Deshalb brauchen wir eine gesteuerte Zuwanderung statt einer ungesteuerten und eine neue Migrationspolitik: eine Politik, die Menschen in ihrer Heimat Perspektiven eröffnet, die Grenzen besser sichert, die legale Wege zur Einwanderung schafft und zugleich konsequent jene abschiebt, die kein Recht haben, sich in unserem Land aufzuhalten.
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Und das ist mir sehr wichtig; denn wer das Asylrecht bewahren will – und wir als Freie Demokraten wollen das –, der muss es auch konsequent anwenden.
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Aber damit das praktisch gelingen kann, müssen wir in Europa gemeinsam handeln, die Zusammenarbeit mit anderen Staaten in der Welt suchen und um echte Lösungen für eine humane, funktionierende und mehrheitsfähige Asylpolitik ringen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor dem Hintergrund zunehmender internationaler Flucht- und Wanderungsbewegungen wurde auf einem Sondergipfel der Vereinten Nationen 2016 die Ausarbeitung von zwei internationalen Vereinbarungen beschlossen. Einerseits soll es einen Pakt für internationale Verantwortungsteilung zur Bewältigung großer Fluchtbewegungen geben. Zum anderen soll ein Pakt für sichere, geordnete und legale Migration geschlossen werden. Dieser Pakt soll die Rechte derjenigen Migranten umfassen, die nicht unter das Mandat der Genfer Flüchtlingskonvention fallen, aber unfreiwillig ihre Heimatländer verlassen mussten. Über diesen Pakt diskutieren wir in der heutigen von der AfD beantragten Aktuellen Stunde.
Ich will ganz deutlich sagen: Ziel dieses Paktes ist der Schutz der Sicherheit, der Würde und der Menschenrechte von Migranten sowie ihrer Grundfreiheiten.
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Das sind Dinge, die eigentlich selbstverständlich sein sollten. Dass schon ein Bekenntnis zu Menschenrechten bei der AfD zu allergischen Reaktionen führt, ist entlarvend für ihre Grundhaltung.
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Länder, die eine große Zahl von Flüchtlingen und Migranten aufnehmen, sollen laut dem Pakt bei deren Integration Unterstützung finden. Rassismus und Diskriminierung sollen bekämpft werden. Auch das scheint offensichtlich schon zu viel zu sein für die AfD.
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Der geplante Pakt ist ein Eingeständnis, dass mit globaler Migration verbundene Herausforderungen nur in internationaler Kooperation bewältigt werden können. Doch die AfD liest etwas ganz anderes heraus, etwas, was in der rechtsextremen Szene unter dem Begriff „Der große Austausch“ firmiert. Die AfD ist ernsthaft der Überzeugung – wir haben das heute hier gehört –, dass die Vereinten Nationen gezielt eine neue Migrationswelle nach Europa und Nordamerika vorbereiten. Wissen Sie, wie mir das vorkommt? Als ob man einem Bürgermeister Brandstiftung unterstellt, weil er neue Feuerwehrautos anschafft.
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Das ist doch wirklich paranoid. Lassen Sie sich eines sagen: Migration hat es zu allen Zeiten gegeben. Immer haben Menschen ihre Länder verlassen in der Hoffnung auf ein besseres Leben in der Fremde.
Zentrale Ursache für den Anstieg weltweiter Migrationsbewegungen ist die ungerechte kapitalistische Wirtschaftsordnung.
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– Hören Sie sich das ruhig mal an! Kapitalismuskritik ist in diesem Zusammenhang ein sehr wichtiger Punkt.
Es geht um die neoliberale Ausbeutung des globalen Südens, die Zerstörung der Umwelt durch rücksichtslosen Abbau der Natur und die weltweite Kriegspolitik der NATO-Staaten und ihrer Verbündeten. Doch diese Ursachen für Migration und Flucht wollen die mächtigen Staaten der Vereinten Nationen gar nicht bekämpfen. Der globale Pakt ist lediglich der Versuch, Folgen der eigenen verheerenden Politik abzumildern und steuerbar zu machen. Doch der Egoismus, wie wir ihn von Trump bis Orban und auch bei der AfD erleben, zeigt, dass es hier gar nicht um ernsthafte Beschlusslagen geht und dass sich die AfD noch nicht einmal ansatzweise mit solchen Fragen auseinandersetzt.
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Die AfD sieht im Globalen Pakt einen erheblichen Eingriff in die Souveränitätsrechte Deutschlands. Folgt man der Logik der AfD, könnte man glauben, dass wir kurz vor dem Einmarsch von Blauhelmtruppen zum Schutz von Migranten stehen. Hier zeigt sich einmal mehr die völlig verzerrte Wahrnehmung der AfD.
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Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass dieser Pakt – das wurde heute schon gesagt – lediglich eine Übereinkunft darstellt, also keine völkerrechtliche Bindung haben wird?
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Genau das ist aus Sicht der Linken das Problem. Wir brauchen nicht vollmundige Absichtserklärungen, sondern praktische Konsequenzen.
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Die Linke wird sich daher in der Debatte für verbindliche internationale Abkommen zum Schutz von Flüchtlingen und Migranten und vor allen Dingen zur Bekämpfung von Fluchtursachen einsetzen. Fangen wir doch einfach in Deutschland mit Abrüstung und vor allen Dingen mit einem Verbot von Rüstungsexporten an. Das würde uns den Krieg in vielen Teilen dieser Welt wirklich ersparen.
Danke.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Polat das Wort.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die AfD-Fraktion fährt hier eine der populärsten Verschwörungstheorien auf. Das wurde in Ihrer Rede leider gar nicht so deutlich, Herr Hebner. In den Texten, die Sie dazu veröffentlicht haben, und in Ihren Powerpoint-Präsentationen kann man das sehr gut nachlesen.
Frau Jelpke hat es kurz angesprochen: Sie bewegen sich hier im Kontext der neuen Rechten, im Netzwerk der Rassisten in Europa. Sie führen hier die Verschwörungstheorien der White-Genocide-Bewegung über den großen Bevölkerungsaustausch mit Europa an.
Insofern, Herr Matschie, noch einmal zu den Gastarbeiterbewegungen: Der große Plan, den die AfD darin sieht, ist: Die Gastarbeiterbewegungen sind Teil eines Bevölkerungsaustausches. Angestoßen worden sei dieser Plan von den Vereinten Nationen und den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg. Wenn man sich den Artikel anguckt, aus dem Herr Hebner anscheinend eins zu eins abgeschrieben hat oder den er vielleicht sogar selbst verfasst hat, dann stellt man fest, dass darin steht: Es geht hier um die Umvolkungsspezialisten der Vereinten Nationen. – Das ist widerlich und zutiefst antisemitisch.
({0})
Sie behaupten, eine Elite siedele in Europa Migranten an, mit dem erklärten Ziel, das deutsche Volk auszulöschen. Das steht im Kern hinter dieser Theorie. Ihr Narrativ bespielt eindeutig antisemitische Bilder.
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Frau Jelpke hat es angesprochen: Was steht eigentlich hinter dem Global Compact for Migration? Kein großer Verschwörungsplan zum Völkeraustausch – nein! Haben Sie schon einmal etwas von moderner Sklaverei gehört? Daran kann und muss sich etwas ändern. Fakt ist, dass für Millionen Migranten, insbesondere für Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter, die universellen Menschenrechte nicht gelten. Menschenhandel und Zwangsarbeit gibt es immer noch. Das ist Ihnen anscheinend nicht bekannt. Weltweit müssen schätzungsweise fast 46 Millionen Menschen als moderne Sklaven ackern. Millionen Menschen leisten ausbeuterische Zwangsarbeit im Privatsektor, beispielsweise als Hausangestellte, auf dem Bau, in der Landwirtschaft oder erfahren sexuelle Ausbeutung.
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Dieses internationale Regelwerk der Vereinten Nationen, der Global Compact for Migration, dient der Stärkung von Migranten, insbesondere von Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeitern. Bis Oktober 2017 gab es zahlreiche Konsultationen zu den Themen Menschenrechte, Migrationsursachen, internationale Kooperationen, nachhaltige Entwicklung, Menschenhandel, legale Migration und Arbeitsmobilität. Genau so ein Prozess wird doch der Realität einer global vernetzten Welt gerecht, und nur so können wir alle davon profitieren, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell, Herr Gauland. Da brauchen Sie gar nicht so verwirrt zu gucken.
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Das sind sinnvolle, weil ursachenorientierte Lösungsstrategien. Darum geht es bei den Global Compacts, und das unterstützt meine Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Wir wissen, dass sich die Zivilgesellschaft und die Kirchen intensiv in den Beratungsprozess eingebracht haben. Sie haben hierzu einen Zehnpunkteplan verabschiedet. Dieser Aktionsplan beinhaltet viele gute Vorschläge. Ich will einige nennen: den Schutz und sichere Fluchtwege für Asylsuchende, die legalen Einwanderungsmöglichkeiten für Arbeitsmigranten, mehr Rechtssicherheit für Migranten und Flüchtlinge und hier speziell die Rechte und den Schutz, ganz wichtig, von Frauen und Kindern. Ich appelliere auch an die Bundesregierung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, sich diesen Forderungen aus der Zivilgesellschaft gegenüber offen zu zeigen.
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Deshalb ist es wichtig, zu erwähnen, dass es beim Global Compact for Migration an dieser Stelle vielleicht auch um den effektiven Schutz vor Diskriminierung geht.
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– Vor dem Gift des Rassismus müssen nicht nur Migranten und Flüchtlinge geschützt werden, sondern alle Menschen in diesem Land. – Auch vor Ihnen müssen sie geschützt werden.
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Europa und Deutschland müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Menschenrechte, meine Damen und Herren, auch hier auf der rechten Seite, gelten egal wo, egal wann und egal für wen, auch im Transit, auch in Bewegung. Auch ein Mensch, der in Ihren Augen irregulär migriert, hat Menschenrechte. Punkt!
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Dieser Pakt ist nur eine konsequente Weiterführung des Menschenrechtsschutzes.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Kollege Thorsten Frei für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um ehrlich zu sein: Mir hat sich lange gar nicht erschlossen, was eigentlich der Hintergrund dieser Aktuellen Stunde sein soll und was man gegen internationale Absprachen zur Regelung von Problemen, die bei uns in Deutschland allein nicht gelöst werden können, tatsächlich einwenden kann.
Nur weil Donald Trump sagt, dass das letztlich eine Initiative sei, mit der Masseneinwanderung in wohlhabende Länder organisiert werde, unter Umgehung nationaler Gesetze und des Willens der jeweiligen Völker, wird es noch lange nicht wahr. Es ist in der Tat falsch, es ist irreführend, und es verkürzt vor allen Dingen den Sachverhalt. Deswegen, glaube ich, ist es ganz entscheidend, sich vor Augen zu führen, dass wir in einer globalisierten Welt leben, wo man zwar Wünsche haben kann, aber die Realisierung nicht innerhalb nationaler Grenzen oder innerhalb von Europa, unserem Kontinent, möglich ist. Das ist eine Grundwahrheit. Der muss man sich genauso stellen wie der Automatisierung, der Digitalisierung oder auch anderen weltweiten Phänomenen. Genau das macht Deutschland, wenn wir uns an diesem Compact und den Diskussionen darum beteiligen.
({0})
Was ist der Rahmen, in dem wir uns bewegen? Es ist offensichtlich: Wir diskutieren sehr viele außenpolitische Themen hier im Deutschen Bundestag, und dabei spüren wir, dass die dahinterliegenden Konflikte letztlich Auslöser für die Probleme sind, mit denen wir bei uns im Land konfrontiert sind. Wenn wir beispielsweise über den Südsudan oder über Darfur oder auch über andere Regionen der Welt diskutieren, stellen wir fest: Es sind häufig ethnische Konflikte, und es sind die Auswirkungen des Klimawandels: Verwüstung, Wassermangel, Mangel an Weideland und daraus resultierende Schwierigkeiten bei der Ernährung und vieles andere mehr. Auch das muss man in den Blick nehmen, wenn man über Fluchtursachenbekämpfung sprechen möchte. Wer das nicht tut, verschließt die Augen.
Die Zahlen der Vereinten Nationen sind alarmierend; in der Tat. Es sind nicht nur die von uns oft zitierten 65 oder 66 Millionen Menschen weltweit, die gezwungen sind, aus ihren Herkunftsländern zu fliehen. Wenn man Migration umfassend betrachtet, dann sind es etwa 240 bis 250 Millionen Menschen, die weltweit in Bewegung sind. Wir alle sind uns einig, dass die großen Herausforderungen diesbezüglich nicht im Nahen und Mittleren Osten liegen, sondern auf dem afrikanischen Kontinent. Die Sachlage ist die, dass da nicht nur 1,1 Milliarden Menschen leben, sondern dass sich diese Zahl bis Mitte des Jahrhunderts verdoppelt haben wird und bis Ende des Jahrhunderts noch einmal verdoppelt haben wird.
Es gibt Zahlen aus Ländern wie Kenia, Tansania, Senegal und Südafrika. Die Leute sagen, dass etwa die Hälfte der Menschen dort ihr Land verlassen möchte. Bei den noch ärmeren Ländern wie Ghana oder Nigeria sind es zwei Drittel der Menschen. Es ist nicht so, dass die zu uns kommen können; das ist vollkommen klar. Natürlich geht es dabei auch um Grenzschutz und Organisation, sodass hier kein Chaos entsteht. Mein Kollege hat es formuliert. Es geht um Steuern, Ordnen und Begrenzen. Das machen wir sehr wohl. Die Faktizitäten auszublenden, das ist einfach kurzsichtig, und damit wird man am Ende das Ziel nicht erreichen; das muss man ganz klar sagen.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man sich mal anschaut, was eigentlich im Global Compact steht, dann stellt man fest: Es sind sehr viele Themen, die für uns essenziell sind. Im Kern geht es nicht darum, dass Entsendeländer, wenn man so will, dies unbedingt organisieren wollen. Man muss die Herkunftsländer, Aufnahmeländer, Transitländer – so haben Sie es formuliert – mit ihren verschiedenen Interessen letztlich an einen Tisch bekommen, wenn es beispielsweise um die Frage geht: Wie schaffen wir in den Herkunftsländern Rahmenbedingungen, um schnelle und sichere Rückführungen zu ermöglichen? Das muss doch auch in unserem Interesse liegen; Sie haben es formuliert, Frau Kollegin. Deswegen müssen wir uns genauso engagieren, wenn es darum geht, den Druck von den Aufnahmeländern zu nehmen, wenn es darum geht, gemeinsame Grenzkontrollen richtig zu organisieren und zu koordinieren.
Das sind alles Themen, die international geregelt werden müssen. Dafür bietet es den richtigen Rahmen. Deswegen bin ich dafür dankbar, dass die Bundesregierung nicht nur an diesem Prozess beteiligt ist, sondern eine federführende Rolle übernommen und auch Zwischenkonferenzen hier in Berlin organisiert hat. Daher, glaube ich, ist es richtig, den eingeschlagenen Weg konsequent weiterzugehen.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Aydan Özoğuz für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Frei, Sie haben gerade zu Beginn Ihrer Rede sehr deutlich gemacht, was, glaube ich, viele Redner hier denken: Warum diskutieren wir über etwas, bei dem wir noch mitten im Prozess sind und das aus zwei Teilen besteht: dem Global Compact for Migration und dem Global Compact on Refugees? Frau Jelpke hat dies schon ausgeführt. Es wird nur ein Teil als Thema angemeldet – der für Arbeitszuwanderung –,
({0})
aber es wird mehr über den der Fluchtzuwanderung diskutiert.
Daher wollen wir das jetzt einmal zusammenfassen und deutlich machen: Es gibt die starke Willensbekundung fast aller Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, endlich ein umfassendes Konzept zum weltweiten Umgang mit Migration – also Einwanderung, Auswanderung – und Flucht auf die Beine zu stellen. Diese beiden Pakte sollen am Ende der Verhandlungen so etwas wie Grundsätze – ich würde es eher Mindeststandards nennen – aufstellen, und sie zielen darauf ab, Völker- und Menschenrechtsverstöße zu unterbinden. Es sind ja nicht nur Staaten daran beteiligt. Auch die Zivilgesellschaft, der Privatsektor, die Gewerkschaften, internationale Organisationen – vorhin wurde zu Recht der Heilige Stuhl genannt – sind an diesem Prozess beteiligt
({1})
und wollen am Ende einiges auf den Weg bringen.
Ich frage mich schon: Wie kann man gerade in einer Zeit so starker Migrationsbewegungen, aber auch vieler Fluchtbewegungen etwas dagegen haben,
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dass sich möglichst viele Akteure zusammensetzen und den Versuch unternehmen, zum einen gemeinsame Regeln aufzustellen und zum anderen zu verstehen: Was passiert global wirklich? Wo sind unsere Standards in der Migration, und was kann eigentlich dagegen sprechen, dass Deutschland hier Standards setzt und sagt: „So stellen wir uns das Mindestmaß dessen vor, wie man mit den Menschen umgeht“?
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Es geht in diesen Papieren zum Beispiel darum – ich lasse einmal aus, was schon genannt wurde –, Frauen- und Kinderrechte zu stärken. Was kann man dagegen haben? Die Pakte zielen darauf ab, Ausbeutung von Arbeitsmigranten zu verhindern. Ich erinnere mich, was wir auch in diesem Land schon diskutiert haben: Wie waren oder sind die Zustände beim Bau von WM-Stätten? Ich denke dabei an Katar. Was passiert da eigentlich? Wir sprechen von Sklaverei. Das muss endlich einmal auf den Tisch, und da müssen wir auch sagen, wie wir uns die Behandlung von Arbeitsmigranten vorstellen, und zwar in allen Ländern der Erde, nicht nur bei uns.
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Hier versucht die AfD, die, wie ich finde, sehr sinnvolle Initiative dafür zu nutzen, zu suggerieren, dass das alles eine Bedrohung für Deutschland wäre. Wir sind auf halber Strecke. Wir haben zwar noch mehrere Verhandlungsrunden vor uns, aber schon jetzt wird gesagt, dass der Pakt – es sind in Wahrheit ja mehrere – schlecht für unser Land sei. Das ist nicht glaubwürdig.
Sie sprechen von einer Gefährdung der Hoheitsrechte. Da möchte ich noch einmal zwei Dinge herausheben: Erstens. Ein beträchtlicher Teil der 258 Millionen Migranten und Vertriebenen weltweit ist Gefahren ausgesetzt, und darum muss man sich kümmern. Zweitens möchte ich ausdrücklich betonen: Die Erhaltung der nationalen Souveränität bezüglich ihrer Zuwanderungspolitik – auch das wurde hier schon genannt – ist im Entwurf festgehalten. Jetzt zitiere ich einmal – ich habe es mir eben schnell noch rausgesucht –:
The Global Compact reaffirms the sovereign migration jurisdiction of each State …
Das kann man nicht falsch verstehen.
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Die aktuell verhandelten Texte stellen einen starken Gegenpol zum migrationsfeindlichen Zeitgeist dieser Tage dar – auch das muss man einmal deutlich machen –, vor allem gegenüber Flüchtlingen und Asylbewerbern. Vielleicht ist genau das Ihr Problem mit dieser Initiative der UN-Mitglieder. Es ist nicht überraschend, dass Trump und Orban plötzlich sagen, sie wollen eigene Initiativen anstreben. Interessanterweise reden auch sie vor allem über Flüchtlinge im Zusammenhang mit dem Migration Compact, in dem es eigentlich um reguläre Arbeitsmigration geht.
Und selbst im Flüchtlingspakt wollen wir doch gerade dafür sorgen, dass dieser Ideen enthält, wie Aufnahmeländer entlastet werden können. Es geht auch um Maßnahmen der Rückkehrunterstützung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, darüber haben wir hier in den letzten Jahren viel gesprochen.
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– Na ja, es ist sogar zigtausendfach angewandt worden, aber das wollen Sie natürlich nicht sehen; das ist mir schon klar. – Wir müssen uns darum kümmern, die Menschen zu unterstützen, die rückkehren können oder dies wollen,
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aber ein Stück weit Unterstützung brauchen, weil sie möglicherweise vor dem Nichts stehen.
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Ich stelle fest, dass Sie über diese Themen nicht in dieser Art und Weise sprechen wollen. Sie wollen, dass die Vereinten Nationen diese Bestrebungen sofort wieder abbrechen. Sie wollen auf gar keinen Fall eine weltweite Diskussion haben, weil die Menschen dann plötzlich merken könnten: Ja, es gibt tatsächlich Flucht von Menschen, die alles verloren haben, denen es ganz schlecht geht. – Nicht für jeden haben wir hier in Deutschland einen Asylgrund, aber das ist überhaupt keine Begründung dafür, über Menschen so schlecht zu reden und über sie zu hetzen.
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Kollegin Özoğuz, bitte achten Sie auf die Zeit.
Ich komme natürlich zum Schluss. – Ich finde es sehr richtig, dass wir diesen Weg weitergehen, ordentlich verhandeln, uns einsetzen und uns weiter mit allen Mitgliedstaaten verständigen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion.
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Werte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Auch wenn es nicht so ganz in Ihr Weltbild passen mag: Migration ist kein Recht. Artikel 13 Absatz 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte besagt – ich zitiere –:
Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.
Man darf also niemanden in seinem Land einsperren – so wie es die SED getan hat –, es gibt aber auch keine Pflicht, jemanden aufzunehmen. Jeder hat das Recht, in das Land seiner Staatsbürgerschaft zurückzukehren. In ein anderes Land aufgenommen zu werden, ist hingegen ein Privileg. Die Entscheidung über diese Aufnahme ist ein Grundpfeiler der Souveränität eines Landes.
({0})
Für Deutschland heißt das: Wir als Deutsche dürfen und sollten entscheiden, wer zu uns kommen darf und wer nicht. Ausländern sollten wir vermitteln, dass es ein Privileg und kein Recht ist, hier zu sein.
({1})
Es gibt kein Recht auf Aufnahme. Es gibt auch kein allgemeines Recht auf Nichtzurückweisung – auch das wird relativ häufig eingefordert.
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Es gibt das Non-Refoulement-Prinzip – Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention –, aber dabei geht es nur um Zurückweisung in Staaten, wo Folter oder politische Verfolgung drohen.
Es gibt kein Recht auf Einreise, auch nicht und insbesondere nicht, wenn jemand ohne Papiere einfach ankommt und „Asyl“ ruft; daran sollte man sich endlich einmal halten.
({3})
Übrigens steht gerade das im Global Compact for Migration, Artikel 13. Ich erlaube mir, das englische Original ganz kurz zu zitieren:
National sovereignty: The Global Compact reaffirms the right of States to exert sovereign jurisdiction with regard to national migration policy.
So weit, so richtig, Frau Özoğuz. Also die Nationalstaaten entscheiden, wer rein darf und wer nicht. Das ist ein souveränes Recht. Ich frage die Bundesregierung: Warum lagern Sie genau das an die Europäische Union aus? Das ist nämlich genau das, was passiert. Das Problem ist nicht der Global Compact; das Problem ist, was damit gemacht wird. Die EU ist kein Nationalstaat; und wir werden alles daransetzen, dass es auch nicht dazu kommt.
({4})
Was machen Sie? Sie geben diese Kompetenzen an die EU ab: Da gibt es einen Migrationskodex; da gibt es einen Asylkodex; da gibt es den aktuellen Antrag von Federica Mogherini, über den gestern im EU-Parlament entschieden worden ist. Indem die EU sich hier Recht besorgt, verstoßen Sie gegen das souveräne Recht des Deutschen Bundestages
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und übrigens zugleich gegen den Global Compact.
Ich sage Ihnen mal, was die EU-Kommission so machen will – dann kommen wir gleich dazu, wie unverbindlich das ist, Herr Matschie –: Sie will aufzeigen, wie wichtig der Schutz der Rechte von Flüchtlingen und Migranten ist; der Schutz Europas findet keine Erwähnung. Sie will die globalen Pakte für Migration aktiv verteidigen und voranbringen. Sie will einen fundamentalen Grundsatz der Nichtzurückweisung durchsetzen. Sie will durch eine gut durchdachte Migrationspolitik die Ungleichheit zwischen Staaten mildern, also Deutschland herabwirtschaften. Sie will große Summen investieren. Sie will eine Neuansiedlungspolitik. Sie will einen weltweiten Mechanismus zur Aufteilung der Verantwortung.
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Sie will andere Länder verurteilen, die aus den Verhandlungen ausscheiden oder erfolgreich darin sind, den Inhalt des endgültigen Paktes zu verbessern. Das steht alles hier drin, Herr Matschie. Und: Sie will die Pakte verpflichtend machen, um zu verhindern, dass Staaten einen À-la-carte-Ansatz verfolgen, also vielleicht auf die Idee kommen, national ihre Einwanderungspolitik zu regeln. So unverbindlich ist das alles. Die EU hat nicht begriffen, dass wir nicht im Restaurant sitzen. Die Nationalstaaten haben das Recht, zu entscheiden, und nicht die EU-Kommission.
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Deswegen gehört dieses Thema in dieses Parlament und nicht auf irgendwelche anderen Ebenen, nicht auf die weltweite und auch nicht auf die europäische, sondern in dieses Haus. Das ist auch der Grund für diese Aktuelle Stunde.
Lassen Sie mich noch anfügen: Migration ist nicht zwingend erfolgreich – Sie tun immer so, als sei das super –, sie kann scheitern, und sie scheitert vor allem dann, wenn die Qualifikation der Einwanderer niedrig ist. 2013, also vor der sogenannten Flüchtlingswelle, hatten 40 Prozent der Zuwanderer aus dem Nicht-EU-Ausland keinen Abschluss. Seit der Flüchtlingswelle haben die Messerstechereien um 20 Prozent zugenommen, und wir haben importierten Antisemitismus im Land. Ist das eine hervorragend erfolgreiche Migration? Nein.
Wir müssen Migration verantwortungsvoll gestalten. Das bedeutet auch: Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz. Nicht das, was Sie von der SPD planen, sondern wir brauchen eins nach kanadischem Vorbild. Das heißt auf gut Deutsch: Qualifizierte werden angeworben, Nichtqualifizierte kommen nicht rein. Und wer das zu entscheiden hat, sind wir.
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Sie haben geschworen, liebe Minister, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Halten Sie sich daran! Zuwanderungssteuerung gehört auf die nationale Ebene, nicht auf die europäische.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Kollege Alexander Throm für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eine typische Ausgangsposition in diesem 19. Deutschen Bundestag: Die AfD – auf der einen Seite – stürzt sich auf alles, was die Wörter Migration, Migranten, Flüchtlinge enthält, neigt zur Hysterie und zur Panikmache und ruft die größte Völkerwanderung aus, die es je gegeben hat. Auf der anderen Seite Linke, SPD und Grüne, die an dieses Thema ein bisschen blauäugig herangehen und die Augen hin und wieder vor der Realität verschließen. Beides ist fehl am Platz.
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– Ich sage es Ihnen, Herr Matschie.
Am 27. Februar fand eine interparlamentarische Ausschusssitzung des Europäischen Parlamentes mit den Vertreterinnen und Vertretern der nationalen Parlamente statt. Ich war dort, als Vertreter der CDU/CSU-Fraktion, und Herr Hebner war dort, als Vertreter seiner Fraktion. Die Linke, die SPD, die Grünen und auch die FDP haben mit Abwesenheit geglänzt. Das wäre, wenn Ihnen dieser Pakt so wichtig ist – uns war er das –, die Gelegenheit gewesen, Ihre Positionen vor den Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlaments und – noch wichtiger – vor denen der anderen nationalen Parlamente der Europäischen Union zu vertreten.
Es war gut, dass ein weiterer Vertreter aus diesem Haus – in diesem Fall ich – an dieser Sitzung teilgenommen hat;
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denn ansonsten hätten wir das Feld Herrn Hebner mit ähnlichen Äußerungen, wie er sie heute hier im Deutschen Bundestag von sich gegeben hat, überlassen.
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Ich habe darauf hingewiesen, dass Deutschland nach wie vor ein verlässlicher Partner bei der Regelung und Steuerung der internationalen Migration sein wird, dass wir aber auch von anderen Ländern eine größere Solidarität bei der Übernahme von Flüchtlingen einfordern, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Herr Hebner war also dort und behauptet nun heute, wir würden den Bundestag entmündigen, indem hier nicht darüber beschlossen wird. Er behauptet, es würden deutsche Souveränitätsrechte an die UN abgegeben. Herr Hebner, ich frage Sie, ob Sie nur körperlich dort anwesend waren. Haben Sie an diesem Nachmittag in Brüssel eigentlich zugehört? Dort wurde deutlich erklärt, dass es nicht um die Abgabe von Souveränitätsrechten geht, sondern dass im Gegenteil die nationalen Souveränitätsrechte gewahrt werden sollen.
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Es wurde erklärt, dass es sich selbstverständlich um einen rechtlich nicht bindenden Pakt handelt und die Souveränitätsrechte weiterhin gewahrt bleiben.
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Entweder haben Sie dort nicht zugehört, es nicht gelesen oder – und das vermute ich leider – Sie stellen Ihre Behauptungen hier erneut wider besseres Wissen auf.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es wurde schon viel darüber gesagt, was im Pakt für Flüchtlinge geregelt werden soll. Das betrifft vor allem die Mindeststandards für Kinderrechte, die Einhaltung der Menschenrechte, den Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und Justiz sowie den Rechtsschutz. Das sind alles Rechte, die wir in Deutschland und in der Europäischen Union wahren und einhalten und in Bezug auf den zukünftigen Pakt teilweise sogar übererfüllen.
Es muss niemand Angst haben vor diesem Pakt. Im Gegenteil: Er bietet für Deutschland und Europa die Chance, dass sich auch andere Länder dieser Welt, außerhalb der Europäischen Union, zukünftig an diesen Mindeststandards orientieren und dadurch der Druck auf die Europäische Union und auf Deutschland auch in der Sekundärmigration abnehmen wird.
Es soll aber auch bessere Möglichkeiten der Arbeitsaufnahme zu fairen Bedingungen geben. Faire Bedingungen bei Arbeitsschutz, Arbeitszeit und -lohn haben wir in Deutschland. Mit diesem Pakt darf aber keine Ausweitung der Zuwanderungsmöglichkeiten zur Arbeitsaufnahme einhergehen. Es kann nicht darum gehen, dass wir heute illegale Zuwanderung einfach per Gesetz, auch nicht durch das zukünftige Zuwanderungsgesetz, zur legalen Einwanderung machen. Deswegen müssen die Empfehlungen zur Regulierung und Legalisierung des Status von Migranten, die sich mit einem illegalen Aufenthaltsstatus im Zielland aufhalten, aus dem Entwurf zu diesem Pakt herausgenommen werden. Diesen Schritt werden wir nicht im Pakt und auch nicht – das will ich ankündigen – im zukünftigen Zuwanderungsgesetz mitgehen.
Ein letzter Punkt, der Ihnen eigentlich gefallen müsste. Sie sollten solche Schriftstücke auch zu Ende lesen. Damit meine ich beispielsweise die New Yorker Erklärung, die ja der Startschuss für die Verhandlungen war. Ich will Sie auf die Ziffer 58 – man muss es bis zum Ende lesen – verweisen. Dort wird nämlich festgehalten:
Wir legen den Ländern der Herkunft, den … Zielländern … eindringlich nahe, zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass Migranten, die keine Aufenthaltsgenehmigung für das Zielland haben, … auf geordnete Weise, … vorzugsweise auf freiwilliger Grundlage, … in das Land ihrer Herkunft oder Staatsangehörigkeit zurückkehren können.
Wir haben immer wieder Probleme im Bereich der Passersatzpapiere. Genau darum geht es.
Kollege Throm.
Letzter Satz. – Im Rahmen dieser Zusammenarbeit wären auch eine ordnungsgemäße Identifizierung und die Ausstellung der entsprechenden Reisedokumente sicherzustellen.
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Davon würden wir in Deutschland ganz besonders profitieren. Insofern kann es nur sinnvoll sein, diesen Pakt weiterhin zu verhandeln und mit unseren Maßgaben, wie ich sie ausgeführt habe, abzuschließen.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Ute Vogt für die SPD-Fraktion.
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Herzlichen Dank. – Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sozialdemokratische Partei geht nicht blauäugig in solche Debatten. Vielmehr gehen wir, Herr Kollege von der CDU/CSU, mit großem Realismus in solche Debatten. Der Kollege Matschie hat schon am Anfang der Debatte darauf hingewiesen: Wanderungsbewegungen sind so alt wie die Menschheit. Wenn Sie sich hier umschauen und sich einmal die Zusammensetzung des Parlaments insgesamt vor Augen halten, dann können Sie feststellen, dass viele von uns heute überhaupt nicht hier wären, wenn Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern nicht gewandert wären. Wahrscheinlich würde höchstens jeder Dritte überhaupt noch hier im Deutschen Bundestag sitzen. Noch nicht einmal der heute schon zitierte Donald Trump wäre überhaupt nach Amerika gekommen, wenn es in seiner Familie damals nicht auch eine Auswanderung aus Deutschland nach Amerika gegeben hätte.
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Es sind inzwischen rund 250 Millionen Menschen, die international als Migrantinnen und Migranten unterwegs sind. Die Zahl wurde schon genannt: 2016 sind allein circa 280 000 Deutsche aus Deutschland in andere Länder ausgewandert. Migration ist also etwas ganz Normales, und das schon seit vielen Jahrhunderten.
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In einer Zeit internationaler Waren- und Finanzströme muss man fragen: Wer sind wir denn eigentlich, wenn wir glauben, in solchen Zeiten Menschen in ihren Länder einsperren zu können?
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Damit wäre auch nichts für unseren Lebensstandard gewonnen.
Es gilt natürlich, dafür einzutreten, dass diese Migration geordnet, sicher und rechtssicher vonstattengeht. Genau das wollen dieser Global Compact for Migration und der Global Compact on Refugees, die nicht getrennt davon diskutiert werden können. Von den über 250 Millionen Migrantinnen und Migranten, die derzeit unterwegs sind, sind etwa 65 Millionen Menschen Vertriebene auf der Flucht. Auch in der AfD-Fraktion gibt es im Übrigen Menschen, die im „Kürschner“ angeben, dass sie als Flüchtlinge hierhergekommen seien. Sie können also dankbar sein, dass es auch ein Recht gibt, von einem Staat aufgenommen zu werden.
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Wir müssten uns einmal vor Augen halten, wie viel humaner und sicherer unsere Welt sein könnte, wenn wir uns gemeinsam auf weltweit gültige Regelungen verständigen würden. Dieser Global Compact for Migration ist ein Baustein, mit dem wir unserer Verpflichtung nachkommen, die wir in Bezug auf die Nachhaltigkeitsziele eingegangen sind. Die Agenda 2030, der wir uns alle verpflichtet haben, legt fest, dass wir daran arbeiten, dass es den Ländern insgesamt gut geht und dass wir Ungleichheiten innerhalb der Länder, aber auch zwischen den Ländern verringern; denn keiner und keine kann auf Dauer gut leben, wenn es Nachbarn schlecht geht. Es hilft also auch, ein funktionierendes System der Migration gemeinsam einzuführen.
Letztlich geht es eigentlich um Selbstverständlichkeiten.
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In einer zivilisierten Welt gilt es, eine Migrationspolitik festzuschreiben, die auf der Achtung der Menschenrechte basiert, eine Arbeitsmigration zu ermöglichen, bei der Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechte gesichert sind, und gefahrlose und reguläre Routen für Migration festzulegen. Das dient auch dem Kampf gegen die organisierte Kriminalität und entzieht Schlepperbanden den Nährboden. Ich kann nicht nachvollziehen, wie man gegen solche Vereinbarungen sein kann.
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Alles in allem handelt es sich also um einen wichtigen Pakt, der aus meiner Sicht verbindlicher werden kann und muss. So ein Pakt kann, wenn er funktioniert, am Ende ganz viel dazu beitragen, dass unsere Welt ein Stück besser und sicherer wird und dass vieles, was heute schon geltendes Recht ist, zum Beispiel die Europäische Menschenrechtskonvention oder auch die UN-Kinderrechtskonvention, die wir unterzeichnet haben, auch international gelebt wird. Es lohnt sich, dafür einzutreten, und daran arbeiten wir mit.
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Das Wort hat der Kollege Michael Kuffer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr dafür, dass wir uns hier zu wichtigen Themen kontrovers auseinandersetzen. Ich bin, glaube ich, einem übertriebenen Hang zur Harmonie völlig unverdächtig. Aber dies heute ist schon ein Kunststück. Sie blasen ein Thema auf, bei dem es wirklich keine Kontroverse gibt, jedenfalls bei vernünftiger Betrachtung überhaupt keine Kontroverse geben kann,
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und haben die Situation einfach überbrückt, indem Sie mühelos zu anderen Themen sprechen als zu dem Thema, um das es eigentlich geht. So kann man das natürlich machen. Damit kaschieren Sie auch, dass Sie wieder einmal überhaupt nicht vorbereitet sind.
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Das kann man auch nicht sein, wenn man wie Sie wieder einmal sechs Minuten vor Deadline das Thema einloggt.
Wenn Sie vorbereitet gewesen wären, dann hätten Sie einige interessante Dinge festgestellt, nämlich dass es in dem Abkommen um eine Grundlage für die globale Steuerung von Migration gehen soll. Die zentralen Ziele dieses Vorhabens sind unter anderem, den politischen Willen anderer Länder zu erhöhen, selbst Flüchtlinge aufzunehmen und so die internationale Lastenverteilung zu stärken und eine Umverteilung zugunsten der Länder, die wie die Bundesrepublik Deutschland schwere Lasten zu tragen haben, zu fördern. Damit soll die Neuverteilung bei der Aufnahme und der Versorgung von Flüchtlingen in andere Länder zugunsten der Länder wie der Bundesrepublik Deutschland geregelt werden. Es geht um eine gerechtere Verteilung, es geht um die Erhöhung der Aufnahmebereitschaft. So wie Sie sich hier heute präsentieren, sagen Sie Nein zu einer gerechteren Verteilung zugunsten der Bundesrepublik Deutschland. Sie sagen Nein zu einer Erhöhung der Aufnahmebereitschaft anderer Länder. Insofern können wir feststellen: Sie haben das Abkommen einfach nicht gelesen. Sie müssen das jetzt nicht bestätigen; aber anders kann ich mir das nicht erklären.
Selbstverständlich geht es hier um ein Abkommen, das rechtlich nicht bindend ist; aber so ist das nun einmal in der internationalen Diplomatie. Sie haben einige Kollegen in Ihren Reihen, die sich neuerdings Außenpolitiker nennen. Wenn die sich in Zukunft auch mit anderen Personen treffen als mit Vertretern verbrecherischer Regime, dann werden sie dies auch feststellen. Es lässt sich international nur schwer mit den Mitteln von Zwang und Regulierung Politik machen. Das ist auch nicht das Anliegen dieses Abkommens.
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Man kann es nicht oft genug betonen: Dieses Abkommen ist im ureigenen Interesse Deutschlands; denn es mindert den Migrationsdruck auf Deutschland und Europa.
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Es steht damit in einer Linie mit den Maßnahmen der Bundesregierung auf nationaler und europäischer Ebene. Wenn man sich wie Sie nur auf einzelne Maßnahmen stürzt, dann liefert man keinen praktisch wirksamen Beitrag. Sie liefern wieder einmal keinen Beitrag.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen im Koalitionsvertrag auf ein Bündel von Maßnahmen. Der Bundesinnenminister hat die Agenda der nächsten Wochen und Monate erst gestern in aller Entschlossenheit im Innenausschuss vorgetragen. Ich darf noch einmal die wichtigsten Punkte daraus zitieren: Wir werden den Rechtsanspruch auf Familiennachzug für subsidiär Geschützte abschaffen und durch ein freiwilliges Kontingent für humanitäre Härtefälle von 1 000 Personen ersetzen. Wir werden Algerien, Marokko und Tunesien sowie weitere Staaten mit Anerkennungsquoten unter fünf Prozent zu sicheren Herkunftsstaaten erklären und damit die Verfahren signifikant beschleunigen. Wir werden mit den Rückführungszentren, den sogenannten AnKER-Zentren, ein neues und wirkungsvolles Instrument schaffen, um unsere Kapazitäten zu bündeln, die Asylverfahren zu beschleunigen und die Rückführung von Nichtschutzbedürftigen effektiv und schnell zu gestalten.
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Und wir werden auf europäischer Ebene an unserer Position im laufenden Prozess festhalten,
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die da ist: Beibehaltung der grundsätzlichen Zuständigkeiten des Ersteinreiselandes.
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Wir treten ein für das Festhalten an einem engen Familienbegriff, und wir sind im Falle der Überforderung für wirkungsvolle Verteilmechanismen auf europäischer Ebene. Wir handeln, und Sie machen wieder einmal nichts anderes, als Situationen zu beschreiben.
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Sie leisten keinen Beitrag zum Handlungskonzept, und das ist unzureichend. Insofern auch heute wieder: same same.
Vielen Dank.
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Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Bevor wir in den Debatten und in der Tagesordnung fortfahren, gebe ich Ihnen die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der Wahlen zu Gremien bekannt.
Z uerst kommen wir zur Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremiums gemäß § 10a der Bundeshaushaltsordnung: abgegebene Stimmen 650, ungültige Stimmen 3, gültige Stimmen 647. Mit Ja haben 327 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein haben 269 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, es gab 51 Enthaltungen. Der Abgeordnete Marcus Bühl hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 Jastimmen nicht erreicht und ist als Mitglied des Vertrauensgremiums gemäß § 10a der Bundeshaushaltsordnung nicht gewählt.
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W ir kommen zur Wahl von zwei Mitgliedern des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes, dem Bundesfinanzierungsgremium: abgegebene Stimmen 649. Auf den Abgeordneten Albrecht Glaser entfielen 269 Jastimmen, 321 Neinstimmen, 51 Enthaltungen. 8 Kolleginnen und Kollegen haben ungültige Stimmen abgegeben. Auf den Abgeordneten Volker Münz entfielen 336 Jastimmen, 250 Neinstimmen, 55 Enthaltungen. Auch hier gab es 8 ungültige Stimmen. Die Abgeordneten Albrecht Glaser und Volker Münz haben die erforderliche Mehrheit nicht erreicht. W ir kommen zum Ergebnis der Wahl eines Mitglieds des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes: abgegebene Stimmen 657, 1 Stimme war ungültig, gültig waren 656 Stimmen. Mit Ja haben 329 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein 276, 51 Kolleginnen und Kollegen haben sich enthalten. Der Abgeordnete Peter Boehringer hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 Jastimmen nicht erreicht und ist als Mitglied des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes nicht gewählt.
Wahl eines stellvertretenden Mitglieds des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes: Hier wurden 658 Stimmen abgegeben, 1 Stimme war ungültig, gültig waren damit 657 Stimmen. Mit Ja haben 327 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein 263, es gab 67 Enthaltungen. Die Abgeordnete Dr. Birgit Malsack-Winkemann hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 Jastimmen nicht erreicht und ist als stellvertretendes Mitglied des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes nicht gewählt. So weit zu den Ergebnissen der Wahlgänge.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute gleich über zwei Jahresberichte: abschließend über den für das Jahr 2016 und neu über den für das Jahr 2017. Das ist dem Wahljahr und der diesmal etwas längeren Übergangszeit geschuldet.
Nach der Wahl gibt es jetzt zusätzliche neue Fraktionen und viele neue Abgeordnete. Lassen Sie mich deshalb zunächst ein paar Worte zur Institution des Wehrbeauftragten sagen. Dieses Amt ist ein bisschen besonders, und es ist etwas ziemlich Deutsches. Als in den 50er-Jahren die Wiederbewaffnung beschlossen wurde, war das hier im Bundestag wie in der westdeutschen Gesellschaft insgesamt hochumstritten. Es sollte auf jeden Fall eine Neugründung von Streitkräften in der Demokratie und für die Demokratie werden, keine Wiederbelebung von Wehrmacht oder Reichswehr, obwohl es natürlich Kriegsgediente waren, die diese neue Bundeswehr aufzubauen hatten. Deshalb die Prinzipien „Staatsbürger in Uniform“ und „Innere Führung“, deshalb das Prinzip „Parlamentsarmee“.
Parlamentsarmee heißt unter anderem, dass verpflichtend nach Artikel 45a Grundgesetz ein Verteidigungsausschuss einzurichten ist. Parlamentsarmee heißt, dass nach Artikel 45b des Grundgesetzes vom Deutschen Bundestag ein Wehrbeauftragter zu wählen ist. Unsere Verfassung will eine starke, permanente parlamentarische Kontrolle im Interesse der Grundrechte aller Soldatinnen und Soldaten, im Interesse der Grundsätze der Inneren Führung.
Jeder Soldat hat das Recht, sich einzeln ohne Einhaltung des Dienstweges unmittelbar an den Wehrbeauftragten zu wenden.
So steht es in § 7 des Wehrbeauftragtengesetzes. Dabei unterliegt er oder sie keiner thematischen oder politischen Einschränkung, wenn der Bezug zur Bundeswehr gegeben ist. Entsprechend vielfältig sind die Themen.
Der Wehrbeauftragte hat über diese Eingaben und über seine sonstigen Erkenntnisse, etwa aus Truppenbesuchen, dem Bundestag einmal jährlich zu berichten. Zwei dieser Berichte beraten wir heute. Das ist ein Ausdruck unserer gemeinschaftlichen parlamentarischen Verantwortung. Wir sind auf diese Weise wirklich gut mit der Einbindung der Bundeswehr in unsere demokratische Gesellschaft gefahren.
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Und wir müssen das mitnehmen auf unserem Weg hin zur europäischen Verteidigungsunion.
Nach all den Debatten des vergangenen Jahres, zuletzt über den Traditionserlass, möchte ich sagen: Es ist ein Glück, dass uns diese Bundeswehr in der Demokratie heute ganz normal erscheint, meine Damen und Herren.
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Zu dieser Normalität gehört, dass Fehlverhalten erkannt, geahndet und abgestellt wird. Davon handeln im Bericht die Kapitel über Führungsverhalten und Dienstaufsicht, Mobbing und sexuelle Belästigung sowie Extremisten in der Bundeswehr. Die Sensibilität ist hier insbesondere nach den Fällen von Pfullendorf und Illkirch noch einmal signifikant gestiegen.
Manche meinen, der Fall Franco A. sei übertrieben ernst genommen worden. Ich meine das nicht. Gewiss, es gab Fehler bei der Fehlersuche. Aber bei Terrorverdacht kann man nicht vorsichtig genug sein. Deshalb ist es besser, dreimal hinzuschauen und am Ende festzustellen: „Es gab keine Terrorzelle in der Bundeswehr“, als einmal zu wenig aufzupassen.
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Und im Übrigen gilt: Wer die Freiheit und den demokratischen Rechtsstaat bekämpft, der hat in der Bundeswehr nichts verloren.
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Viel beschäftigt hat mich in der letzten Zeit das Thema Ausbildung. Hier ist der Übergang von der Wehrpflicht- zur reinen Freiwilligenarmee noch nicht ganz geschafft, organisatorisch nicht und mental manchmal auch noch nicht. Es ist jedenfalls nicht Aufgabe von Ausbildern, die tauglich Gemusterten, nach Eignung und Bedarf eingestellten Freiwilligen durch Überforderung oder Schikane zu vergrämen. Wo Ausbildung auf der Intensivstation endet, ist definitiv etwas aus dem Ruder gelaufen. Deshalb begrüße ich sehr, Frau Ministerin von der Leyen, dass Sie das ganze Thema jetzt einmal grundsätzlich angehen wollen: von der Allgemeinen Grundausbildung bis zum Offizierstudium.
Ich begrüße ebenso den geplanten Aufwuchs um 12 000 militärische Dienstposten bis 2024. Das schließt viele der erkannten Lücken – wenn es klappt. Es wird aber nicht leicht, so viel Personal zusätzlich zu gewinnen, zumal auch die Polizei gerade massiv um junge Leute wirbt. Die Aufgabe ist sogar noch größer, weil gegenwärtig 21 000 Dienstposten für Unteroffiziere und Offiziere nicht besetzt sind. Also muss die Bundeswehr noch attraktiver werden. Es hilft übrigens enorm, wenn bei Programmen zur Attraktivitätssteigerung nicht nur an neue Leute gedacht wird, sondern auch an das sogenannte Bestandspersonal. Wenn ich Rekruten frage, wie sie zur Bundeswehr gekommen sind, dann ist oft die Rede von Soldaten in der Verwandtschaft oder im Freundeskreis; das sind die besten Multiplikatoren. Für sie muss es besser werden bei den Pendlerunterkünften und bei der Auszahlung von Überstunden. Schöne Betreuungseinrichtungen in der Kaserne und WLAN in der Kaserne sind nötig. Die Familie muss in die PTBS-Betreuung einbezogen werden, wenn das nötig ist und wenn sie das wollen. Es muss besser werden mit den oft verspäteten In- und Out-Flügen nach Afghanistan und Mali. Unsere Hubschrauberbesatzungen brauchen einen Befreiungsschlag bei der Flugstundenproblematik. Und es muss Schluss sein mit den verunsichernden Gerüchten über die nächste Dienstzeitverlängerung für Berufssoldaten. Das sind nur einige Punkte, die ich immer wieder höre.
Zwei gute Beispiele in Sachen Unterkünfte – ich will auch loben – sind die Einsatzflottille 2 in Wilhelmshaven und die Heeresoffizierschule in Dresden. Hier wurden, der Not gehorchend, privat Unterkünfte gebaut und von der Bundeswehr angemietet. Das scheint mir eine schnelle und wirtschaftliche Lösung zu sein. Mehr davon!
All das ist wichtig. Aber das Megathema der Soldatinnen und Soldaten ist ein anderes. Es ist die Ausrüstung. Die Soldaten sagen: Trendwendepläne sind gut, Trendwendematerial wäre besser. Ausbildung am Originalgerät ist existenziell: mit dem Flugzeug, dem Hubschrauber, dem Panzer, dem Schiff. Als Wehrbeauftragter interessiert mich die Mangelwirtschaft nicht nur, weil sie die Soldaten extrem nervt, sondern vor allem, weil ein Mangel an Übung, wenn es hart auf hart kommt, gefährlich werden könnte. In seinem offiziellen Bericht zur materiellen Einsatzbereitschaft stellt das Heer in diesem Jahr ausdrücklich fest: Ausbildung und Übungen unterliegen „teilweisen Einschränkungen“. Die Marine meldet, dass Ausbildung „in allen Bereichen“, wie es diplomatisch heißt, „nicht immer im erforderlichen Umfang sichergestellt werden“ kann. Der Klartext der Luftwaffe lautet: Es gibt „bereits jetzt“ einen „gewissen Verlust fliegerischer Fähigkeiten“.
Das sind alarmierende Meldungen. Hier geht es um Großgerät, Hauptwaffensysteme. Das ist alles schwierig: Obsoleszenzen, Altersschwäche, Kinderkrankheiten, Ersatzteile, multinationale Verträge, Raketenwissenschaft. Schon klar, dass es dauert, das zu verbessern. Aber Winterjacken für unsere Truppe in Rukla und Kunduz? Bergausstattung für Lehrgangsteilnehmer in Österreich? Und warum um Himmels willen muss sich ein Drei-Sterne-General um die richtigen Schlafsäcke für eine NATO-Übung in Norwegen kümmern? Unsere Beschaffungsregeln passen nicht mehr. Wenn 100 zuständige Experten jeden Tag zu 100 Prozent das Richtige tun und das dann nur zu einem 30-Prozent-Ergebnis führt, dann sollten wir uns unsere alte Definition von „richtig“ noch mal anschauen, meine Damen und Herren.
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Gut, dass im Koalitionsvertrag Beschleunigung bei der Beschaffung ein Thema ist. Gut, dass Staatssekretärin Suder alle notwendigen Analysen hat vornehmen lassen.
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Die sind jetzt da. Jetzt brauchen wir neue Regeln für mehr Tempo.
Lassen Sie mich bitte abschließend einen Vorschlag machen: Ich könnte mir vorstellen, dass man neben dem großen Plan A – materielle Vollausstattung bis 2030 – einen zusätzlichen, kleineren Plan B setzt: für die schnelle und spürbare Vollausstattung, zum Beispiel mit der neuen Kampfbekleidung, einschließlich Stiefel, Schutzwesten und all dem an persönlicher Ausstattung, was die Soldaten sich sonst aus eigener Tasche kaufen. Das wäre ein Programm, das Vertrauen herstellt in die vielen notwendigen Verbesserungen, die später kommen.
Nicht vergessen will ich den Dank an meine hervorragenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Amt und an unsere vielen engagierten Ansprechpartner in der Bundeswehr und im Ministerium. Wir haben unterschiedliche Aufgaben, aber dem Wohl des Landes und unserer Soldatinnen und Soldaten sind wir gleichermaßen verpflichtet. Gestern wurde einer von ihnen – der Älteste, der Generalinspekteur –, General Volker Wieker, in den Ruhestand verabschiedet. Er hat sich wahrlich Verdienste um unsere Parlamentsarmee erworben. Er war acht Jahre lang unsere belastbare „bridge over troubled water“. Auch dafür sage ich vielen Dank.
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Bevor ich der Bundesministerin das Wort erteile, möchte ich mich im Namen des Hauses beim Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Vorlage des Jahresberichts 2017 und natürlich für ihre Arbeit insgesamt bedanken.
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Das Wort hat die Bundesministerin der Verteidigung, Dr. Ursula von der Leyen.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich dem Dank, lieber Herr Bartels, anschließen, vor allen Dingen dem Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Ihrem Amt. Wir wollen über zwei Berichte zugleich diskutieren. Ich finde, die Zeit reicht nicht, um sie ausführlich und angemessen zu würdigen. Deshalb möchte ich mich auf einige wenige Punkte konzentrieren.
Lieber Herr Bartels, Sie haben kürzlich in einem Interview gesagt – ich zitiere –:
Seit 2014 gibt es ... beide Aufgaben parallel.
Gemeint sind die Landes- und Bündnisverteidigung und das Krisenmanagement.
Und das mit der kleinsten Bundeswehr aller Zeiten.
Das stimmt. Nie war das Aufgabenspektrum der Bundeswehr breiter und heterogener, und nie war die Bundeswehr so klein.
Aber wir sollten auch nicht vergessen, woher wir gekommen sind. Seit der Wiedervereinigung hat die Bundeswehr 25 Jahre lang Schrumpfung, Kürzung, Reduzierung und Reformen erlebt. Sie alle haben es miterlebt: Personal wurde abgebaut, Material wurde aussortiert, Ersatzteillager wurden abgeschafft. Das heißt, man hat Gerät, das zu viel da war, kannibalisiert, also Ersatzteile entnommen, um sie in anderes Gerät, damit dieses noch funktioniert, einzubauen. Aber die Modernisierung ist damit natürlich vertagt worden; denn irgendwann hat man keine Geräte mehr, um diese zu kannibalisieren.
Das war nach dem Ende des Kalten Krieges nachvollziehbar und sicherheitspolitisch absolut notwendig. Die Zusammenführung von zwei großen und unterschiedlichen Armeen brauchte das. Aber wir alle wissen, dass spätestens seit der Finanzkrise 2008 aus den Kürzungen bei der Bundeswehr ein Leben von der Substanz folgte. Der Tiefpunkt war in der Tat, dass es hohle Strukturen und eine Verwaltung des Mangels gab und dass an allen Ecken und Enden Personal fehlte.
Dann kam es zu der dramatischen Veränderung der Sicherheitslage, die wir ab 2014 erlebt haben: zur Annexion der Krim, zum Beginn des hybriden Krieges in der Ostukraine, zum veränderten Verhalten Russlands. Ein Vierteljahr später folgten der Aufmarsch des IS über Mosul bis 10 Kilometer vor Bagdad, das Abschlachten der Jesiden bis hin zur Destabilisierung Afrikas durch Migrationsbewegungen, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen haben.
Wir haben gemeinsam umgesteuert und Trendwenden bei Personal, Material und Finanzen eingeleitet. Die Bundeswehr wächst wieder. Aber das Wachsen ist nicht einfach ein Umdrehen des Trends. Vielmehr macht es etwas mit einer Organisation, dass man neu, ins Offene und in die Modernisierung hinein planen und sich neu aufstellen muss. Wir stellen mehr Berufssoldatinnen und -soldaten und mehr Soldaten auf Zeit ein. Die Bewerberlage ist übrigens trotz aller Unkenrufe gut.
Wir haben die starren Obergrenzen, die sich seit 2011 nicht verändert hatten, abgeschafft. Da geht mein Dank für das Vertrauen, das Sie uns gegeben haben, an das Parlament. Jetzt müssen wir nicht mehr die Wirklichkeit an die Obergrenzen anpassen. Wir legen dem Parlament die Planungsprozesse jedes Jahr transparent vor, sodass wir mit Blick nach vorne darlegen können, was wir, um die Auftragserfüllung der Bundeswehr zu gewährleisten, tatsächlich brauchen. Wir haben Transparenz geschaffen, etwa durch Rüstungsberichte, wie es sie nie zuvor gegeben hat. Wir sind schneller und besser geworden.
Wir haben es geschafft, das Volumen der Beschaffungsaufträge zu verfünffachen. Herr Wehrbeauftragter, ich nenne die Zahlen für die letzte Legislaturperiode: Uns sind 51 Boxer, 1 800 Geländewagen und Lkw, 181 Puma, 28 NH90, 16 A400M, 15 Hubschrauber für die Spezialkräfte und 31 Tiger zugegangen. Das reicht noch nicht, aber das ist der Weg in die richtige Richtung.
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Wir dürfen jetzt aber nicht nachlassen. Die Trendwenden müssen verstetigt werden.
Wir haben im letzten Dezember in der Tat auch die Europäische Verteidigungsunion aus der Taufe gehoben.
Herr Wehrbeauftragter, ich bin beim Thema Ausbildung bei Ihnen. Deshalb haben wir die Agenda Ausbildung ganz oben auf die Prioritätenlisten für diese Legislaturperiode gesetzt, und wir werden sie gemeinsam auch breit diskutieren.
Ja, das Bestandspersonal, wie Sie es nannten, Herr Wehrbeauftragter, muss sich gerade auch in der Gesetzgebung wiederfinden. Deshalb planen wir ein Artikelgesetz, das genau darauf zielt. Ich will nur einige Punkte nennen: Der von Ihnen eben beschriebene notwendige Zugang der Familien von PTBS-Erkrankten zu therapeutischen Angeboten steht in diesem Artikelgesetz.
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Die Gehaltsstruktur wird überprüft und muss verbessert werden. Die soziale Absicherung unserer Soldatinnen und Soldaten nach der aktiven Zeit – insbesondere, wenn es um die Krankenversicherung der Rentner geht – muss ermöglicht werden. – All das sind Bausteine, die wir dann in der Breite auch gemeinsam diskutieren werden. Herr Wehrbeauftragter, Sie laufen bei uns also gewissermaßen offene Türen ein.
Wir sind in der vergangenen Legislaturperiode verbindliche europäische Verpflichtungen eingegangen, die wir umsetzen wollen. Ich nenne die Kooperation mit Frankreich beim Transportflugzeug C-130J und die Entwicklung der nächsten europäischen Generation eines gemeinsamen Kampfpanzers sowie eines gemeinsamen Luftkampfsystems. Das haben wir im letzten Jahr in der Feuille de route festgelegt. Niederländische Einheiten von Heer und Marine sollen tief in unsere militärischen Strukturen integriert werden, und wir planen, den Digitalfunk – die sogenannte Mobile Taktische Kommunikation – gemeinsam auf den Weg zu bringen. Mit Norwegen haben wir eine U-Boot-Kooperation; mit Frankreich, Spanien und Italien entwickeln wir die Eurodrohne.
Jetzt müssen diese Vereinbarungen mit Leben gefüllt werden; denn darauf verlassen sich unsere Verbündeten und unsere Soldatinnen und Soldaten. Das ist kein Sprint. Jetzt zeigt sich, ob wir diesen Dauerlauf schaffen, den langen Atem haben und tatsächlich das umsetzen, was wir in der letzten Legislaturperiode auf den Weg gebracht haben.
Unsere Soldatinnen und Soldaten warten auch auf neue Nachtsichtgeräte, erstklassige Schutzkleidung, moderne persönliche Ausrüstung und moderne mobile Kommunikationsmittel. Sie erwarten als Parlamentsarmee dafür auch eine nachhaltige und verlässliche Finanzierung.
Man kann den Rückbau der letzten mehr als 20 Jahre nicht in 3 Jahren aufholen oder ungeschehen machen. Deshalb sind uns die Beschlüsse im Koalitionsvertrag so wichtig: die überjährige Finanzierung, die Verbesserung im Vergaberecht, die deutsche Umsetzung des europäischen Vergaberechts.
Ja, wir brauchen neue Beschaffungsregeln, wie Sie, Herr Wehrbeauftragter, das nannten, und wir müssen gemeinsam mit allen Beteiligten die Organisation des BAAINBw betrachten. Vor allem ist für uns wichtig, dass im Koalitionsvertrag kein Absinken der NATO-Quote und auch kein Absinken der ODA-Quote, sondern eine Erhöhung dieser beiden Quoten eins zu eins festgehalten ist. Diese nachhaltige Finanzierung ist unverzichtbar für die Ressorts des äußeren Handelns, und unsere Soldatinnen und Soldaten verlassen sich darauf.
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Nicht nur unsere Soldatinnen und Soldaten verlassen sich darauf. Auch unsere Verbündeten verlassen sich in diesem Punkt auf uns. Wir wissen, dass wir verlässlich sind. Diese Verantwortung wollen wir auf unsere Schultern nehmen, und wir wollen ihr auch gerecht werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Ministerin von der Leyen; ich wollte nicht in den Applaus hineinreden. – Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, einen schönen sonnigen Nachmittag von meiner Seite aus!
Nächster Redner: Gerold Otten für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Franz Josef Jung, Karl Theodor zu Guttenberg, Thomas de Maizière: Die Rückschau auf die Verteidigungsminister der Ära Merkel weckt Assoziationen von Inkompetenz, Verantwortungslosigkeit und Aktionismus. Die heutige Amtsinhaberin setzt diese Tradition konsequent fort; denn die gleichen Merkmale prägen auch heute den Führungsstil im Verteidigungsministerium.
Sogenannte Trendwenden in verschiedenen Bereichen sollen plötzlich dafür sorgen, dass die über die Jahre hinweg kaputtgesparte Bundeswehr ihrem grundgesetzlichen Auftrag der Landes- und Bündnisverteidigung wieder gerecht wird. Es muss endlich damit aufgehört werden, die Folgen der langjährigen Versäumnisse zu verharmlosen.
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Es gibt zu vieles, das dringend angesprochen werden muss.
Der Bericht des Wehrbeauftragten zeigt zwar einige Probleme auf, ist aber in derselben Praxisferne gefangen wie die Bundesregierung.
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In keinem anderen Bereich wird die jahrzehntelange Vernachlässigung der Bundeswehr so deutlich wie bei der sogenannten Trendwende Material. Dies geht aus dem Bericht über die Hauptwaffensysteme nur allzu deutlich hervor, wie zum Beispiel der Zustand der U-Boote, von denen kein einziges einsatzbereit ist.
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Erschreckend ist dabei nicht nur der beklagenswerte Zustand des Materials an sich, sondern auch der von Schönfärberei geprägte Stil des Berichts. Dort heißt es zum Beispiel, die materielle Einsatzbereitschaft habe sich verstetigt. – Auf gut Deutsch: Gar nichts ist besser geworden.
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Vieles hat sich hingegen verschlechtert. Unzureichende Instandhaltung, Materialmängel und Überbelastung durch verschiedene Auslandseinsätze haben zu Fähigkeitsverlusten im Bereich der Landes- und Bündnisverteidigung geführt. „Train as you fight“ als Devise hat sich in diesem Zusammenhang als Wunschdenken erwiesen.
Die sogenannte Trendwende Personal macht sich im Alltag der Soldaten kaum bemerkbar. Vor dem Hintergrund der steigenden Anzahl von Auslandseinsätzen und den daraus resultierenden Belastungen wird der dringende Bedarf der Truppe zu wenig berücksichtigt. Eine Lösung scheint in der Ausbringung von neuen, oftmals hochrangigen Dienstposten zu liegen – natürlich auch im Ministerium selbst –, führte aber bisher nicht zu einer nachhaltigen Verbesserung der Personalsituation. Strategisch betrachtet sollten die geplanten Trendwenden einander komplementieren. Ob allerdings mit dem administrativen Wasserkopf, der aus der Trendwende Personal resultiert, die erhoffte Effizienzsteigerung im Bereich des Materials erreicht werden kann, dürfte mehr als fraglich sein.
Die Agenda Attraktivität sollte den Soldatenberuf wettbewerbsfähig gegenüber zivilen Arbeitgebern machen. Kitas am Standort, eine am zivilen Bereich angelehnte Soldatenarbeitszeitverordnung oder aktuell Schwangerschaftsbekleidung und Handtaschen sind Errungenschaften der Ära von der Leyen, einer Ära, die der besonderen Natur des Soldatenberufs allerdings in keiner Weise Rechnung trägt, nämlich im Ernstfall als Soldat Leib und Leben zu riskieren.
Wo soll das enden, meine Damen und Herren? Denkt man die Maßnahmen konsequent zu Ende, die vermeintlich die Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber erhöhen sollen, wäre dies doch ein individuelles Recht auf Kündigung des Dienstverhältnisses im Verteidigungsfall. Wer aber glaubt, auf diese Weise die Bundeswehr leistungsfähig machen zu können, der irrt sich.
Was sollte denn den Soldatenberuf attraktiv machen, wenn nicht der Respekt vor dem pflichtbewussten Bürger in Uniform, der für die Gewährleistung der Werte einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung bereit ist, sein Leben einzusetzen?
(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Davon sind doch Sie und Ihre Fraktion Gegner! Sie wissen doch gar nicht, was das bedeutet!
– Herr Hofreiter, Sie haben doch noch nicht einmal eine Kaserne von innen gesehen.
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Die AfD fordert deshalb eine weitere und neue Trendwende, nämlich die Trendwende Respekt, Herr Hofreiter. Dazu muss sich am Sozialprestige der Soldaten massiv etwas ändern. Das beginnt zum Beispiel im Sozialkundeunterricht an unseren Schulen, an denen übrigens Jugendoffiziere permanent ausgegrenzt werden,
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und sollte mit einer objektiven Berichterstattung über die Bundeswehr einhergehen. Heute erzielt doch ein verbeulter Stahlhelm aus dem Zweiten Weltkrieg in irgendeiner Kaserne der Bundeswehr mehr Aufmerksamkeit in den Medien als Einsätze zur Rettung und Evakuierung deutscher Staatsbürger aus Krisenregionen.
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In den letzten Jahren sind permanent Zeichen gesetzt worden. Die Außendarstellung der Bundeswehr ist kaum noch geeignet, diejenigen für den Dienst in den Streitkräften zu gewinnen, die unser Land braucht. Immer weniger Soldaten lassen sich nach ihrer Dienstzeit als Reservisten gewinnen. Der Dienst als Soldat ist eben kein Job wie jeder andere. Wer unsere Soldaten größten Risiken aussetzt, sollte letztendlich mehr zu bieten haben als Kinderbetreuung und Damenhandtaschen.
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Soldaten müssen sich mit scheinbar unzeitgemäßen Werten wie Treue, Tapferkeit und Ehre identifizieren können.
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Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Herrn Lambsdorff?
Nein. – Wie gesagt, Treue, Tapferkeit und Ehre sind Werte, mit denen sich Soldaten identifizieren können. Diese Werte stehen im Mittelpunkt militärischer Tradition. Aber gemäß dem gerade durch die Ministerin in Kraft gesetzten Traditionserlass soll sich die Bundeswehr hauptsächlich auf ihre eigenen Traditionen seit 1956 stützen.
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Angeblich soll aber trotzdem die gesamte deutsche Geschichte im Blick behalten werden. Damit wird die Traditionspflege in ein enges politisches Korsett gezwängt. Durch Einzelfallentscheidungen soll Traditionswürdiges kenntlich gemacht werden, um für Handlungssicherheit zu sorgen: ein Widerspruch in sich.
Letztendlich war es doch das mangelnde Vertrauen in die Truppe, welches zu diesem Neuerlass geführt hat. Einzelfälle wie der des Franco A. wurden als typisch für die Bundeswehr dargestellt. Frau von der Leyen stellte sich aber nicht vor ihre Soldaten, sondern bezichtigte diese pauschal eines Haltungsproblems und allgegenwärtiger Führungsschwäche.
Mangelndes Vertrauen führt aber zu einer Einschränkung des Handlungsspielraums der Truppe. Verrechtlichung hat die gerade im militärischen Kontext so wichtige Entscheidungsfreude verdrängt. Administration ersetzt Führung. In der Truppe herrschen zunehmend Verunsicherung und Vertrauensverlust.
Unsere Soldaten durch alle Ränge verdienen unseren Respekt, unsere Achtung und vor allem auch unser Vertrauen.
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Trotz widrigster Bedingungen und nicht selten ohne politische Rückendeckung leisten sie engagiert ihren Dienst. Elan und guter Wille überbrücken dabei häufig Mängel in Ausrüstung und Organisation. Für junge Soldaten ist das ein Ärgernis; Altgediente resignieren.
Das sind die Folgen der Politik einer Ministerin, die überall Flagge zeigen will, demnächst auch noch im Irak, obwohl sie weder die Materiallage noch die Personallage in den Griff bekommt, aber ständig von Trendwenden fabuliert. Trotz des Scheiterns verbohrt auf angebliche Erfolge zu verweisen, widerspricht allerdings fundamentalen militärischen Führungsprinzipien.
Eigensinn
– so der große preußische Militärreformer Carl von Clausewitz –
ist kein Fehler des Verstandes, er ist ein Fehler des Gemüts. Diese Unbeugsamkeit des Willens, diese Reizbarkeit gegen fremde Einrede haben ihren Grund nur in einer besonderen Art von Selbstsucht.
Meine Damen und Herren, er hätte die heutige Verteidigungsministerin nicht besser beschreiben können.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Graf Lambsdorff.
Herr Otten, eine Zwischenfrage wollten Sie nicht zulassen. Deshalb mache ich es im Wege der Kurzintervention.
Sie haben einige Dinge gesagt, bei denen meine Fraktion sofort mitgehen würde. Dass in der Truppe Werte wie Treue, Tapferkeit und Ehre natürlich eine besondere Rolle spielen, ist völlig unbestritten. Das gilt auch für Kameradschaft und Verlässlichkeit. Auch dass das alles Vertrauen braucht, ist überhaupt kein Problem. Aber die Art und Weise, wie Sie hier argumentieren, indem Sie absurde Behauptungen aufstellen, um die Verteidigungspolitik der Bundesrepublik insgesamt zu diskreditieren, halte ich für unseriös. Das ist nicht vertrauenswürdig. Daraus spricht auch keine politische Verlässlichkeit.
Ich gebe Ihnen ein ganz konkretes Beispiel. Sie haben eben gesagt, dass die Konsequenz der aktuellen Versuche, den Dienst in der Bundeswehr attraktiver zu machen, das Kündigungsrecht im Verteidigungsfall sei. Das ist ein Zitat aus Ihrer Rede. Das können Sie nur sagen, wenn Sie das Grundgesetz vollkommen ignorieren. Artikel 12a unseres Grundgesetzes sagt eindeutig aus, dass im Verteidigungsfall selbstverständlich sämtliche Männer zum Dienst an der Waffe herangezogen werden können. Diejenigen, die aus Gewissensgründen verweigern, können zum Erbringen ziviler Dienstleistungen verpflichtet werden.
Mit anderen Worten – das ist die übliche Methodik der AfD –: Sie bauen mit viel Elan einen Strohmann auf und rennen ihn anschließend mit noch mehr Elan um. Das ist keine seriöse Art, die Probleme der Truppe zu diskutieren.
Ich fordere Sie auf, solche Debatten in Zukunft orientiert am Grundgesetz und an den Werten, die Sie selber hier angeführt haben, zu führen.
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Danke, Graf Lambsdorff. – Herr Otten, wenn Sie mögen, haben Sie die Möglichkeit, zu antworten, nur wenn Sie wollen, kein Zwang.
Herr Graf Lambsdorff, ich glaube, dass ich in meiner Rede deutlich gemacht habe, wo die Problemfelder der Armee sind. Der Versuch, die Bundeswehr mehr oder weniger in Konkurrenz zum zivilen Arbeitsmarkt darzustellen, führt letztendlich zur Konsequenz, dass Personen zur Bundeswehr kommen, die den Beruf des Soldaten als Job sehen und den militärischen Aspekt, was es bedeutet, Soldat zu sein, völlig außer Acht lassen. Aber Letzteres muss wieder in den Vordergrund rücken. Ich hatte auch gesagt, dass wir der Bundeswehr wieder Respekt entgegenbringen und dem Dienst der Soldaten in unserer Gesellschaft einen höheren Stellenwert beimessen sollten. Das ist das Entscheidende, worum es geht.
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– Frau Strack-Zimmermann, ich hatte Sie nicht angesprochen.
Vielen Dank.
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Danke schön. – Nächster Redner in der Debatte für die SPD-Fraktion: Martin Gerster.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter lieber Herr Wehrbeauftragter Hans-Peter Bartels! Werte Kolleginnen und Kollegen! Über 2 500 persönliche Eingaben im vergangenen Jahr zeigen: Die Soldatinnen und Soldaten vertrauen dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Über 2 500 Eingaben verdeutlichen, welch hohes Ansehen sich der Wehrbeauftragte mit seinem Team erarbeitet hat, aber auch, wie notwendig, wie wichtig seine Arbeit ist. Ich möchte mich im Namen der Soldatinnen und Soldaten, aber auch im Namen der SPD-Fraktion und persönlich ganz herzlich bei Hans-Peter Bartels und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die geleistete Arbeit bedanken.
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Der Bericht des Wehrbeauftragten – eigentlich stehen zwei Berichte zur Diskussion, aber ich will mich vor allem auf den Bericht mit Bezug zum letzten Jahr konzentrieren – spricht viele Punkte an. Ich will zwei besonders herausstellen. Da ist zum einen die Außenwahrnehmung der Truppe in den Medien. Diese prägt auch das Meinungsbild in der Bevölkerung. Die Darstellung in den Medien ist leider oft – ich finde, viel zu oft – von Skandalen geprägt. Schlagzeilen macht die Bundeswehr vor allem mit Verfehlungen. Da sind die Misshandlungsvorwürfe in Pfullendorf und Sondershausen, der tödliche Marsch von Munster, das bizarre Doppelleben eines Franco A. und die Kaserne in Illkirch, eine deutlich gestiegene Zahl an rechtsextremistischen Verdachtsfällen, unangemessenes Führungsverhalten und sexuelle Belästigungen. Über all das hat der Wehrbeauftragte berichtet. Über all das haben auch die Medien berichtet. Nun kann man die Vorfälle, die es bei der Bundeswehr unstrittig gibt, kleinreden und verharmlosen und sagen, dass es sich um Leute handelt, die verweichlicht sind. Man kann diese Vorfälle auch skandalisieren, alles pauschalisieren und alle Soldaten über einen Kamm scheren. Ich kann verstehen, dass sich unsere Soldaten darüber sehr aufregen; denn weder sind alle unsere Soldaten strukturell rechtsextrem, noch sind sie allesamt verweichlicht.
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Eine differenzierte Herangehensweise ist angebracht. Hier hilft der Wehrbeauftragte auch uns Abgeordneten ungemein. Er nimmt auf, sammelt, hakt nach, bewertet und hilft uns bei der Einordnung von Vorfällen und Missständen. Natürlich dürfen diese Vorfälle nicht unter den Tisch gekehrt, vertuscht, verharmlost oder verschwiegen werden. Das wäre den einzelnen Vorfällen und insbesondere den Geschädigten gegenüber weder angemessen noch fair. Wie der Wehrbeauftragte selbst gesagt hat, ist jeder dieser Vorfälle einer zu viel. Ich nehme aber wahr, dass die Bundeswehr diese Vorfälle in einem sehr transparenten, offenen und rechtsstaatlichen Verfahren behandelt. Wir im Bundestag werden – so ist mein Eindruck – gut und zeitnah unterrichtet. Das haben auch die letzten Sitzungen des Verteidigungsausschusses gezeigt. Dieses offene Vorgehen begrüßen wir ausdrücklich. Vorfälle werden disziplinarrechtlich geahndet und, wo nötig, auch strafrechtlich aufgearbeitet. Das ist gut so und wichtig.
Es wäre weltfremd, von einer Organisation mit 175 000 Angehörigen zu erwarten, dass sie ohne Fehl und Tadel ist. Richtig ist aber, dass gerade vom bewaffneten Staatsbürger in Uniform ein erhöhtes Maß an Verantwortungsbewusstsein verlangt werden kann. Die Bundeswehr ist eben nicht ein Arbeitgeber wie jeder andere. Wie auch der Wehrbeauftragte kommen wir zu dem Schluss, dass die Soldatinnen und Soldaten unserer Bundeswehr mitten in unserer pluralen Gesellschaft und unserem demokratischen Rechtsstaat stehen.
Der zweite wichtige Themenblock, den der Wehrbeauftragte anspricht, ist die Mangelwirtschaft bei der Bundeswehr. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass dies, wie der Wehrbeauftrage berichtet, ein Megathema bei den Soldatinnen und Soldaten ist. Einige Beispiele: Bis zum Jahresende waren sechs von sechs deutschen U-Booten außer Betrieb. Zeitweise flog von mittlerweile 14 in Dienst gestellten Airbus A400M-Maschinen keine einzige. Die Ausmusterung von Schiffen klappt prima; doch es dauert Jahre, bis neue Schiffe in Dienst gestellt werden. Das nervt Soldaten, und das nervt auch uns Abgeordnete; um es einmal deutlich zu sagen.
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Der Ärger bei den Soldatinnen und Soldaten ist sehr nachvollziehbar; denn unter dieser Mangelwirtschaft leidet auch die Ausbildung. Das kann sich im Ernstfall auch bitter rächen. Deswegen ist Mangelwirtschaft beim Material ein großes Problem für das Personal. Da herrscht in der Tat großer Handlungsbedarf.
Wir als Parlament, die Koalition aus Union und SPD haben mit dem Haushalt 2017 zusätzlich 2 Milliarden Euro bewilligt. Im Finanzplan ist der erhöhte Ansatz für die kommenden Jahre verstetigt. Im Koalitionsvertrag gewährleisten wir auch für die kommenden Jahre Planungs- und Finanzierungssicherheit für Investitionen.
Die Trendwende sei eingeleitet, sagten Sie heute, Frau Ministerin von der Leyen. Ja, aber diese Trendwende muss natürlich auch bei den Soldatinnen und Soldaten ankommen. Die Verbesserungen müssen spürbar sein. Unterhält man sich mit Bundeswehrangehörigen, dann erfährt man, ganz vorsichtig formuliert, dass das bei weitem noch nicht überall so ist. Das muss sich ändern. Es ist klar, dass die Ministerin die Probleme bei unseren U-Booten, beim A400M oder bei anderen Sorgenkindern nicht von heute auf morgen lösen kann. Im Koalitionsvertrag haben wir uns daher zu Recht auf eine Beschleunigung der Prozesse verständigt. Mehr Tempo, das ist in der Tat vor allem auch beim Beschaffungswesen notwendig.
Wir wollen – das ist auch der Appell des Wehrbeauftragten –, dass die vorhandenen und zusätzlichen Gelder, die der Koalitionsvertrag in Aussicht stellt, vernünftig und zielgerichtet eingesetzt werden. Unsere Beschlüsse im Parlament müssen bei den Soldatinnen und Soldaten ganz konkret und zeitnah ankommen. Das ist vornehmlich die Aufgabe der Exekutive, zuvorderst die Aufgabe der zuständigen Ministerin. Wir wissen, Sie sind dran. Das Problem heißt nicht mangelndes Geld, sondern vor allem mangelnde Effizienz bei der Beschaffung. Deswegen sind wir natürlich sehr gespannt auf den Haushaltsentwurf, der ja in wenigen Tagen vorliegen wird. Wir können dann sehen, wie sich das im Haushalt entsprechend darstellt.
Ich hoffe sehr, dass der Wehrbeauftragte in seinem nächsten Bericht, lieber Hans-Peter Bartels, sehr viele Punkte aufzählen kann, bei denen unsere Beschlüsse hier im Parlament zu deutlichen Verbesserungen für unsere Soldatinnen und Soldaten geführt haben. Dafür zu sorgen, das ist unsere dringende Bitte, unser Appell an Sie, Frau Ministerin von der Leyen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Gerster. – Nächste Rednerin: Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann für die FDP-Fraktion.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die beiden Berichte des Wehrbeauftragten sind eine wirklich empfehlenswerte Lektüre, natürlich sowohl für uns als Abgeordnete, die umfassend und authentisch aus der Sicht der Soldatinnen und Soldaten erfahren, unter welchen Bedingungen diese arbeiten, als auch für die interessierte Öffentlichkeit. Ihnen, Herr Dr. Bartels, und Ihrem Team an dieser Stelle im Namen meiner Fraktion noch einmal ein ganz herzliches Dankeschön dafür!
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Wenn man die beiden Berichte nebeneinanderlegt und auch das eine oder andere Exemplar aus den Vorjahren hinzuzieht, stellt man fest, dass es leider Defizite gibt, die seit vielen Jahren ohne Veränderungen konstant bleiben. Man kann leider ebenfalls lesen, dass es auch Verschlechterungen gibt.
Wir erfahren etwas über die täglichen Sorgen der Soldatinnen und Soldaten. Das fängt bei der Soldatenarbeitszeitverordnung an, die oft für mehr Verwirrung als Entlastung sorgt, und hört bei der persönlichen Ausrüstung auf. Losgelöst von der Debatte über nicht funktionierendes Großgerät fehlt es im Soldatenalltag an Waffen für die Ausbildung, an – nicht unerheblich – Bekleidung mit Vektorenschutz in Zeckengebieten oder an den vieldiskutierten Schutzwesten, deren Beschaffung wohl noch mindestens sage und schreibe acht Jahre dauern wird. Meine Damen und Herren, Attraktivität sieht anders aus.
Ein weiteres wichtiges Thema ist die Unterbringung. Wer nämlich älter als 25 Jahre ist, hat keinen Anspruch mehr auf eine Einzelstube in der Kaserne und muss entweder pendeln oder sich in eine Vierbettstube einmieten, sofern dort überhaupt Platz ist. Die Große Koalition hat versprochen, dass Unterkünfte auch für nicht unterkunftspflichtige Soldatinnen und Soldaten – ich zitiere – bedarfsgerecht zur Verfügung gestellt werden. Das wäre für viele sicher eine große Entlastung. Aber die Regierung muss dann bitte auch sagen, was das konkret bedeutet; denn es ist schlichtweg so, dass sich angesichts wachsender Personenzahl natürlich auch die Frage der Liegenschaften stellt. Wir sind mal gespannt, was für eine Antwort uns die GroKo da gibt.
Bei der Fragestellung „Wo bringe ich denn in Zukunft das Mehr an Soldatinnen und Soldaten unter?“ muss das Verteidigungsministerium natürlich auch die Kommunen mitnehmen, in denen sich die Kasernen befinden. Dass das Ministerium erst einmal alle Pläne gestoppt hat, Kasernen nebst Grundstücken zu verkaufen, macht natürlich Sinn. Dummerweise hat man es aber einmal mehr versäumt, die betroffenen Kommunen darüber zu informieren. Wollen Sie also nun die Kasernen behalten, oder machen Sie sie schlichtweg zu?
Schon vor zehn Jahren habe ich mich als Bürgermeisterin in meinem Wahlkreis Düsseldorf mit der Frage beschäftigen dürfen, wann – nicht: ob – die Bergische Kaserne geschlossen wird. Noch vor einem halben Jahr hieß es, Ende 2018 sei es so weit. Die Planungen für bis zu 3 000 neue Wohnungen auf diesem Gelände hat die Stadt schon seit langem im Fokus, und sie hat bereits ein Gutachten zur Verkehrsanbindung in Auftrag gegeben. Meine Damen und Herren, für eine wachsende Stadt ist das nicht unerheblich; das wissen Sie. Dass diese Kaserne vermutlich gar nicht geschlossen, sondern in Zukunft wiederbelebt wird, hat der Düsseldorfer Oberbürgermeister aus der Zeitung erfahren. Meine Damen und Herren, so sieht Transparenz mit Sicherheit nicht aus.
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Frau Ministerin, bitte legen Sie zügig und transparent Ihre Pläne auf den Tisch. Die Bundeswehr ist mit ihren Standorten ein wichtiger Bestandteil der Städte und Gemeinden, vor allen Dingen ihrer Infrastruktur; für kleine Kommunen sogar ein wesentlicher Bestandteil. Diese müssen umgehend und zuverlässig wissen, ob sie in Zukunft mit oder ohne Bundeswehrstandort leben und planen müssen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Strack-Zimmermann. – Nächste Rednerin: Christine Buchholz für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Wehrbeauftragter! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Wehrbeauftragten! Ich begrüße auch ganz herzlich die Gäste auf der Tribüne. Ganz besonders begrüße ich den ehemaligen Soldaten Obermaat Florian Crosbie.
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Wir beraten hier das erste Mal seit der letzten Bundestagswahl die Berichte des Wehrbeauftragten. Seine Aufgabe ist es – so die Website des Bundestages –, als Anwalt der Soldaten zu dienen. Leider mussten wir feststellen, dass Herr Bartels in der Öffentlichkeit vor allem als Anwalt einer schnelleren Aufrüstung auftritt.
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In seinem Bericht fordert er mehr Anstrengungen bei der Erhöhung des Militärhaushalts und bei den Rüstungsinvestitionen.
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Herr Bartels, so nutzen Sie Ihren Jahresbericht, um für die Aufrüstungsagenda der Ministerin von der Leyen zu werben, und deswegen wird unsere Fraktion der Entschließung zum Bericht des Wehrbeauftragten nicht zustimmen.
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Die Große Koalition setzt auf immer mehr Auslandseinsätze. Das führt zu immer mehr Aufrüstung, hinterlässt seine Spuren aber auch in der Bundeswehr. Das bekommen dann oft die Soldatinnen und Soldaten zu spüren. Das verdeutlichen einige wirklich bemerkenswerte Fakten aus dem Bericht. Ich gebe Ihnen mal zwei Beispiele: 2017 stieg die Zahl der Selbsttötungen von Soldatinnen und Soldaten ebenso wie die Zahl der Suizidversuche. Mehr Soldaten wurden wegen einer einsatzbedingten psychischen Erkrankung in einer Einrichtung der Bundeswehr behandelt. Doch es gibt zu wenig Möglichkeiten, Wehrdienstbeschädigte zu behandeln, und auch zu oft werden Soldatinnen und Soldaten noch nicht einmal ausreichend auf die bestehenden Behandlungsmöglichkeiten hingewiesen.
Ein weiteres großes Problem in der Bundeswehr ist die Rücksichtslosigkeit, mit der Soldatinnen und Soldaten immer wieder behandelt werden. 2017 gab es einen Meldeboom bei auf dem Dienstweg angezeigten Vorfällen. Dabei ging es um rechtsextremistische Verdachtsfälle, um sexuelle Übergriffe und um brutale Ausbildungsmethoden. Allein infolge eines Gewaltmarsches bei Munster brachen sechs Soldaten zusammen, einer von ihnen starb. Ein halbes Jahr nach Munster bricht bei einem Gewaltmarsch in Pfullendorf erneut ein Soldat bewusstlos zusammen.
Wir sagen ganz deutlich: Das sind keine Einzelfälle. Es ist das System Bundeswehr, das keine Rücksicht auf den einzelnen Menschen nimmt.
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Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Hier im Bundestag sitzt heute Obermaat Florian Crosbie. Herr Crosbie hat mir seine Geschichte erzählt, und was er erzählt hat, macht einen sprachlos. Er hat sich ab 2010 bei der Bundeswehr für 15 Jahre verpflichtet. Zwei Jahre später bekam er aus heiterem Himmel Besuch von zwei Mitarbeitern des Militärischen Abschirmdienstes. Diese verhörten ihn auf seiner Dienststelle über viele Stunden, ohne dass Herr Crosbie erfahren hätte, warum. Kein Wort dazu, dass gegen ihn ermittelt wurde! Seine Dienstvorgesetzten wurden hingegen vor dem Gespräch informiert und mit falschen Tatsachenbehauptungen konfrontiert. Ihnen wurde erzählt, Soldat Crosbie sei in islamischer Kleidung in einer Moschee gewesen, sein Auto sei vor einem – Zitat – „Islamistentreff“ gesehen worden und seine Handydaten wiesen Verbindungen nach Nordafrika auf. Das alles beruhe auf – Zitat – „einer bestätigten Information“.
Tatsächlich waren die Vorwürfe völlig haltlos, aber die Ermittlungen gingen über Monate weiter. Kameraden wandten sich von Herrn Crosbie ab und beäugten ihn misstrauisch. Ein halbes Jahr nach dem Verhör wurde Herr Crosbie lapidar informiert, es habe sich um eine – Zitat – „Verwechslung“ gehandelt. Da waren die Ermittlungen bereits mehr als drei Monate eingestellt worden. Für Florian Crosbie war das deutlich zu spät. Er erkrankte psychisch und ist heute dienstunfähig. Das Bundeswehrkrankenhaus in Ulm bestätigte, dass es – Zitat – „sehr wahrscheinlich“ ist, dass Verhör und Ermittlung durch den MAD es waren, die die Erkrankung ausgelöst haben. Es ist das Mindeste, was man erwarten könnte, dass die Bundeswehr dafür geradesteht.
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Doch der Antrag von Herrn Crosbie auf Anerkennung einer Wehrdienstbeschädigung wurde abgewiesen.
Meine Damen und Herren, dieser Fall muss aufgeklärt werden, und der Betroffene muss angemessen entschädigt werden.
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In seiner Not hat sich Herr Crosbie übrigens auch an den damaligen Wehrbeauftragten Hellmut Königshaus gewandt. Er hat Herrn Crosbie leider ebenfalls alleingelassen. In einem Schreiben heißt es, er könne – Zitat – „in dem Verhalten der Mitarbeiter des MAD und der Vorgesetzten keine Verletzung seiner Grundrechte als Soldat oder der Grundsätze der Inneren Führung sehen“.
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Ich würde mich freuen, wenn sich Herr Bartels dieses Falles annähme;
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denn er zeigt ein grundsätzliches Problem: Wenn es hart auf hart kommt, ist ein Soldat oder eine Soldatin in der Bundeswehr allein auf sich gestellt.
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Für Die Linke ist es selbstverständlich: Menschenrechte und rechtsstaatliche Prinzipien haben auch in der Bundeswehr Anwendung zu finden.
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Aus aktuellem Anlass noch eine kurze Anmerkung. Wenn der Komplize des rechtsextremen und mutmaßlichen Terrorverdächtigen Franco A. im Büro des AfD-Abgeordneten Jan Nolte arbeitet und wenn derselbe Komplize, der übrigens im Vorfeld rechtsextrem auffällig geworden ist, immer noch bei der Bundeswehr beschäftigt ist und auch dieses Beschäftigungsverhältnis von der Bundeswehr, wie ich heute in der Presse lesen konnte, genehmigt worden ist, dann ist eines klar: Der Kampf gegen die extreme Rechte ist aktueller denn je – in der Bundeswehr, im Bundestag und in der Gesellschaft überhaupt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollegin Buchholz. – Nächster Redner: Dr. Tobias Lindner für Bündnis 90/Die Grünen.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatten über die jährlichen Berichte des Wehrbeauftragten sind zuallererst einmal die Gelegenheit, dankzusagen, auch im Namen meiner Fraktion. Ihre Arbeit, Herr Bartels, macht das, was eine Parlamentsarmee ist, überhaupt erst möglich. Sie sind quasi unser Gehör über den Zustand der Truppe und über das, was sie beschäftigt. Ich glaube, das ist in diesen Tagen wichtiger denn je.
Ich will aber auch einer zweiten Gruppe von Menschen danksagen, nämlich all den Soldatinnen und Soldaten und den zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die eine Eingabe gemacht und damit den Mund aufgemacht haben. Wer hinsieht und nicht schweigt, wer den Mund aufmacht und nicht wegsieht, meine Damen und Herren, der macht unsere Bundeswehr nicht schlechter – nein, er trägt dazu bei, dass Probleme bei der Bundeswehr abgestellt werden können. Dafür herzlichen Dank!
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Der Jahresbericht, meine Damen und Herren, enthält wieder zahlreiche Ansatzpunkte, über die man diskutieren kann. Ich will ganz offen zugeben: Natürlich ist die Versuchung in so einer Debatte groß – da nehme ich mich gar nicht aus –, wenn man in der Opposition ist, vor allem das Wort „Skandal“ zu rufen, mit Empörung darauf hinzuweisen, was alles falsch läuft, oder die Gelegenheit für Debatten zu nutzen. Wenn über mehr Mittel und die Ausstattung geredet wird, könnte ich auf die Seite 8 im Jahresbericht verweisen, wo es heißt – ich zitiere –: „An finanziellen Mitteln fehlte es 2017 nicht.“
Ich will ganz klarstellen: Wo in der Truppe Fehler gemacht wurden, wo es zu Verfehlungen gekommen ist, muss das geahndet werden. Wir müssen dann natürlich fragen: Waren die Meldeketten richtig? Waren die Ermittlungswege richtig? Angesichts von Fällen wie in Pfullendorf, wo Ermittlungen erst ausgelöst worden sind, nachdem anonyme E-Mails das Verteidigungsministerium erreicht haben, habe ich daran meinen großen Zweifel, um das ganz deutlich zu sagen.
Bei so einer Debatte geht es darum, über das konkrete Beispiel hinauszugehen – ich will es nicht „Einzelfall“ nennen – und sich im politischen Raum die Fragen zu stellen: Wo müssen wir politisch gegensteuern? Wo müssen wir Dinge ändern? In diesem Zusammenhang will ich in der Kürze der Zeit über zwei Themenkomplexe sprechen.
Als Erstes geht es um das Thema „Tradition und Umgang mit Extremismus in der Truppe“. Es ist unstrittig – das kann man der Truppe nicht zum Vorwurf machen –, dass Menschen in Uniform, die Waffen tragen, ein gewisses Faszinosum für Rechtsextremisten sind.
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Das mache ich der Bundeswehr nicht zum Vorwurf. Aber: Es erlegt uns die Pflicht auf, dafür ein feines Gespür zu haben. Deswegen ist es zum Beispiel richtig, dass bei Neueinstellungen in der Truppe eine Sicherheitsüberprüfung stattfindet. Deswegen ist es auch richtig – das will ich hier noch einmal bekräftigen –, dass man an den Traditionserlass herangegangen ist.
Der letzte Traditionserlass ist von 1982. Nachdem es die Bundeswehr als Parlamentsarmee 60 Jahre gibt, ist es gut und richtig, zu sagen: Diese Truppe kann stolz genug auf sich selbst sein; das ist schon traditionsstiftend, mehr brauchen wir nicht mehr.
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Es geht auch darum, Tradition von Geschichte zu trennen, etwas, was Sie, Herr Otten, in Ihrer Rede vorhin, wie ich finde, nicht hinbekommen haben. Um das klarzumachen: Durch eine Erlassänderung an sich hat man natürlich noch nichts in den Köpfen geändert. Die Änderung des Traditionserlasses kann nur ein erster Schritt sein.
Frau Ministerin, es geht jetzt darum, dass das Ganze mit Leben gefüllt wird: dass wir in der täglichen Arbeit der Soldatinnen und Soldaten, bei der Ausbildung Zeit und Gelegenheit schaffen, um über politische Bildung zu diskutieren; dass es die richtigen Vorbilder gibt; dass Ausbilder und Vorgesetzte genug Zeit haben, sich zu kümmern, hinzusehen, Missstände abzustellen und darüber zu diskutieren, was in unserer Truppe traditionswürdig ist und was eben auch nicht.
Damit bin ich beim zweiten Thema, nämlich beim Thema Ausbildung; auch das ist heute schon angesprochen worden. Ja, es gab im letzten Jahr ernsthafte, gravierende Verfehlungen. Die Stichworte „Sondershausen“, „Pfullendorf“ und „Munster“ sind gefallen. Jenseits der konkreten Vorfälle müssen wir uns doch die Frage stellen: Was muss an der Art und Weise der Ausbildung in der Bundeswehr anders werden?
Ich muss erst einmal feststellen: Mit der Aussetzung der Wehrpflicht – ich halte diese nach wie vor für absolut richtig – haben wir es mit einem Bewerberpool zu tun, der körperlich heterogener geworden ist. Es kommen Menschen zur Bundeswehr, die eine körperlich unterschiedliche Leistungsfähigkeit haben. Ich finde das überhaupt nichts Schlimmes; auch das ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Dann müssen wir gerade die Frauen und Männer, die als Ausbilderinnen und Ausbilder tätig sind, fit machen, mit dieser unterschiedlichen körperlichen Leistungsfähigkeit angemessen umzugehen und nicht so auszubilden, dass es zu körperlichen Schäden kommt.
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Wir müssen beim Thema Personalgewinnung natürlich auch berücksichtigen, dass in der heutigen Zeit die Anforderungen an die Truppe spezieller geworden sind. Wir brauchen für einzelne Bereiche hochspezialisierte Menschen mit ganz speziellen Fähigkeiten. Auf dem Arbeitsmarkt ist es schwer genug, Personen mit entsprechenden Voraussetzungen zu finden. Körperliche Fitness ist nur ein Teil davon. Darauf müssen wir uns einstellen.
Herr Otten, als ich Ihnen vorhin zugehört habe, hatte ich manchmal den Eindruck, Sie wollen den Soldaten auf die Rolle des Kämpfers reduzieren und vergessen dabei, dass es Menschen wie wir alle sind, mit Familie, mit Söhnen, mit Töchtern, mit Frauen, mit Männern. Darauf müssen wir Rücksicht nehmen. Da geht es um Fürsorge und um das Thema PTBS und um ganz andere Themen.
Ein letzter Punkt. Ich glaube, es schlägt dem Fass den Boden aus, Herr Otten, sich an einem Tag wie heute hierhinzustellen und über Dinge wie Tapferkeit und Treue zu schwadronieren, wenn Herr Nolte, ein Mitglied Ihrer Fraktion, einen mutmaßlichen Komplizen eines Rechtsextremisten, gegen den immer noch ein Ermittlungsverfahren läuft, als Mitarbeiter einstellt. Wer das als Abgeordneter, der im Verteidigungsausschuss mit vertraulichen Informationen befasst ist, tut, wer die Nähe zu Extremisten sucht, der ist ein laufendes Sicherheitsrisiko, und der kümmert sich um alles andere als um diese Truppe.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Tobias Lindner. – Nächster Redner: Mario Mieruch, fraktionsloser Kollege.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Dr. Bartels! Liebe Gäste auf den Tribünen! Der vorliegende Bericht des Wehrbeauftragten zeichnet eine Analogie zur Entwicklung unserer Gesellschaft. Stichworte wie „Zentralisierung“ und „persönliche Verantwortung“ seien hier einmal exemplarisch herausgehoben. Es lässt sich nach meiner Auffassung zweifelsohne feststellen, dass wir weniger Zentralisierung benötigen und viel mehr vom Zweiten, nämlich von der persönlichen Verantwortung, und das Ganze verbunden mit einer gelebten Fehlerkultur, welche ermöglicht, aus seinem Handeln zu lernen, es zu optimieren, ohne dass einem gleich der Kopf runtergeschlagen wird.
Gleiches gilt für das Thema Generalverdacht. Statt konkreter Sachverhaltsaufklärung und gegebenenfalls notwendiger Debatten wird mit Hysterie und Aktionismus immer viel zu viel viel zu schnell kaputtgemacht. Das führt unter Umständen dazu, dass fahnentragende und singende Kameraden, die für einen multinationalen Marsch üben, von der Polizei angehalten werden, weil sich die Bevölkerung völlig verunsichert fühlt. Das ist sicherlich auch eine Folge der Berichterstattung und des Bildes, das sich mittlerweile in der Bevölkerung abzeichnet.
Wir sollten also grundsätzlich – das gilt für alle Bereiche – keine Annahmen treffen, sondern viel mehr fragen und miteinander reden. In Bezug auf die „Trendwende Material“ ist festgehalten, dass zwar alle irgendwie wollen; aber so richtig passiert ist nichts. Auch jetzt wird wieder angekündigt, was alles gemacht werden soll. Ich war selber Zeitsoldat Mitte der 90er. Damals haben wir auch schon Mangelverwaltung vom Allerfeinsten betrieben. Offensichtlich ist das immer noch so. Es wäre also dringend angebracht, auch für das jetzige Verteidigungsministerium, hier für mehr Transparenz bei der Zusammenarbeit mit der Industrie zu sorgen und klar und deutlich aufzuzeigen, warum neues Material nicht funktioniert, warum es nicht einsatzbereit ist.
Beim Cyber- und Informationsraum, CIR, wird zum Beispiel deutlich, dass wir auch hier der Digitalisierung wieder hinterherlaufen. Welche Zusammenarbeit wird es mit dem BND, dem Verfassungsschutz und der Polizei geben? Hier fehlen schlüssige Konzepte und klare Aussagen. Bitte liefern Sie die nach. Eine kleine Randbemerkung: Es bleibt zu hoffen, dass die Anwender dann auch Admin-Rechte haben und nicht so enden wie wir hier und für alles ein Formular per Fax schicken müssen.
Der Teil über den baulichen Zustand der Infrastruktur ist schlicht beschämend. Unsere Soldaten in schimmelnden Unterkünften mit XXL-Ungezieferdosen auszustatten, ist in Zeiten von Rekordsteuereinnahmen und immer mehr Geld für alles Mögliche in der Welt ein gravierender Pflichtverstoß des Dienstherrn. In jedem Zivilbetrieb hätte man schon die Gewerkschaft oder eine ganze Reihe von Klagen am Hals. Hier muss mehr als dringend nachgebessert werden. Es stellt sich auch die Frage, inwieweit in den vergangenen Jahren die Schließung von Liegenschaften wirklich aus wirtschaftlichen Gründen oder eher aus politischen erfolgte. Da lohnt sich an der einen oder anderen Stelle mal ein Blick auf die gewonnenen Wahlkreise. Da würde es sicherlich die eine oder andere Überraschung geben.
Der Kreis schließt sich dann beim Thema Vertrauen und mit dem Spannungsverhältnis zwischen den Einsätzen im Rahmen der NATO und von Auslandsverpflichtungen; denn auch hier braucht man eine Langfristplanung, insbesondere dann, wenn einmal kein Geld mehr da ist.
Vielen Dank.
Danke schön, Herr Kollege. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Jan Nolte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich wurde hier gerade mehrfach genannt; deswegen will ich doch einmal darauf eingehen. Es ist natürlich klar, dass das allermeiste, das in diesem Parlament gesagt wird, leider dazu dient, einfach ein paar Tore zu schießen.
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Man muss aber fairerweise auch sagen, dass sich jeder Abgeordnete selbstverständlich immer vor die Demokratie stellen und sich für diese einsetzen muss.
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Ich habe auch volles Verständnis dafür, dass man, wenn man so etwas in der Zeitung liest, nachfragt. Das will ich gar keinem zur Last legen.
Ich kann Ihnen jetzt sagen – und daran können Sie mich gerne in der Zukunft messen –: Wenn bei einem meiner Mitarbeiter irgendwelche kriminellen oder verfassungsfeindlichen Bestrebungen bekannt werden würden, dann wäre das ein sofortiger Kündigungsgrund. Das ist ein Bekenntnis, das ich gerne einmal von den Linken oder von den Grünen hören würde.
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Ich habe den Sachverhalt eingehend prüfen können – ich glaube, genauer als Sie, die hier sitzen – und kann Ihnen sagen, dass ich nach gewissenhafter Prüfung zu dem Schluss gekommen bin, dass es ziemlich stark danach aussieht, als sei hier aus politischen Gründen Recht gebeugt worden. Wenn ich als Bundestagsabgeordneter so etwas feststelle, dann habe ich tätig zu werden, auch wenn es unbequem ist.
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Jetzt ist Herr Nolte dran. Es gibt dann die Möglichkeit, zu reagieren.
Genau. – Ihr Shitstorm hier wird niemals ein Grund sein, um einem Mitarbeiter zu kündigen. Wenn ich irgendetwas von Kriminalität oder Ähnlichem hören würde: Sofort. Das ist etwas, was Grüne und Linke so nicht von sich behaupten können. Wir werden in diesem Parlament noch einmal über dieses Thema sprechen. Dann reden wir über Beugung des Rechts durch die Politik.
Eines noch: Stellen Sie sich einmal einen Moment lang vor: Das, was ich in meiner Stellungnahme auf Facebook geschrieben habe, ist nicht ausgedacht und stimmt. Wenn das so ist, dann wird hier gerade ein völlig Unschuldiger für den Rest seines Lebens stigmatisiert.
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Da wünsche ich mir von Ihnen ein bisschen mehr Verantwortungsgefühl.
Danke.
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Würden Sie bitte, wenn es geht, stehen bleiben? – Eigentlich müsste die Antwort darauf jetzt Kollege Mieruch geben. Da er es aber nicht angesprochen hat, machen wir es jetzt anders; das ist eine freie Interpretation. Ich lasse diejenigen zur Antwort zu, die es konkret angesprochen haben. Das ist zum einen der Kollege Lindner und zum anderen die Kollegin Buchholz. – Herr Lindner, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Herr Kollege Nolte, für Ihre Einlassungen. Gestatten Sie mir drei Bemerkungen.
Erstens. Meine Mitarbeiter, die in meinem Büro beschäftigt und mit Angelegenheiten des Verteidigungsausschusses betraut sind, haben eine Sicherheitsüberprüfung. Ich weiß nicht, wie das mit Ihren Mitarbeitern ist. Vielleicht hätten Sie dazu etwas sagen sollen.
Zweitens. Wenn Sie hier in diesem Saal über Beugung des Rechts sprechen: Ihnen sollte vielleicht so etwas wie Gewaltenteilung bekannt sein. Das Ermittlungsverfahren gegen Ihren Mitarbeiter wird durch den Generalbundesanwalt bzw. durch die Justizbehörden und nicht durch das Bundesministerium der Verteidigung geführt. Ich sehe dem Ausgang mit Spannung entgegen.
Drittens und letztens. Mein Vertrauen in die Verwaltung des Deutschen Bundestages ist so groß, dass ich davon überzeugt bin, dass diesem Mitarbeiter nicht ohne Grund der Zutritt zu diesen Gebäuden und ein Hausausweis verwehrt worden sind. Ich sage Ihnen eines in aller Deutlichkeit: Wenn ich jemanden einstellen wollte, bei dem mir die Verwaltung mitteilt, man könne ihm aus Sicherheitsgründen keinen Zutritt zu diesen Gebäuden gewähren, dann würde ich eine solche Person nicht einstellen, erst recht nicht, wenn ich als Abgeordneter persönlich mit Angelegenheiten des Verteidigungsausschusses, die unsere Sicherheit und die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten betreffen, befasst bin.
Danke.
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Vielen Dank. – Frau Kollegin Buchholz, bitte auch in entsprechender Kürze.
Herr Nolte, zum einen ermittelt die Bundesanwaltschaft. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist, dass die Bundestagsverwaltung deutlich gemacht hat: Sie gibt diesem Mitarbeiter keinen Hausausweis. Das wird seine Gründe haben.
Drittens will ich nur eins sagen: In dem ganzen Kontext der Umtriebe um Franco A. und Maximilian T. ist deutlich geworden, dass es sich um ein rechtsextremes, rassistisches Netzwerk handelt, auch wenn die bisherige Klage keinen Erfolg hatte. Das ist ganz klar. Schauen Sie in die Arbeit von Franco A., schauen Sie sich die Liste von möglichen Opfern eines Terroranschlags an, die erstellt wurde. Was Sie hier machen, ist, sich wegzuducken. Sehen Sie der Realität ins Auge! Die AfD ist inzwischen eng verwoben mit der extremen Rechten. Das ist die Wahrheit. Sie müssen dazu stehen. Sie haben das letztendlich zu verantworten. Darum geht es.
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Wir gehen weiter in der Debatte. Nächster Redner: Florian Hahn für die CSU/CDU-FC-Bayern-München-Fraktion.
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– Ich kann nichts dafür, ich bin Augsburg.
Frau Präsidentin, das hätte ich selbst nie gewagt anzusprechen. Aber Sie haben schon recht. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zurück zur Debatte und zu der Diskussion, die wir hier führen. Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter Dr. Bartels, zu Beginn darf ich Ihnen und Ihren Mitarbeitern für Ihre beiden Jahresberichte und für Ihr Engagement für unsere Soldatinnen und Soldaten danken. Ihre Arbeit ist nicht nur für uns Parlamentarier wertvoll, um in die Truppe besser hineinhören zu können, sondern Sie sind vor allem auch als Anlaufstelle für unsere Bundeswehr sehr, sehr wichtig. In Ihren beiden Berichten verweisen Sie zu Recht auf zahlreiche eklatante Lücken und Mängel, vor allem bei Personal und bei Material. Die Mängel und die damit einhergehenden Beeinträchtigungen, vor allem im Heimatbetrieb und bei den Übungen, möchte niemand hier in unseren Reihen bestreiten. Der Rüstungsbericht sowie der Bericht zur Einsatzbereitschaft der Hauptwaffensysteme, die die Ministerin vorgelegt hat, stellen ebenfalls sehr transparent dar, wo dringend nachgesteuert werden muss. Lassen Sie mich dazu zwei Dinge sagen. Erstens geht es mir um die Verhältnismäßigkeit in der Diskussion um Ausstattungsmängel und zweitens um die Konsequenzen, die wir nun dringend ziehen müssen.
Zum ersten Punkt. Ich möchte nichts an der angespannten Lage bei der Bundeswehr schönreden. Die Bundeswehr war 25 Jahre lang das Sparschwein der Nation. Die Ausgaben für unsere Verteidigung lagen 1990 noch bei 2,4 Prozent des BIP. Heute sind es nur noch 1,2 Prozent. Wir bewegten uns sehr lange in einer friedlichen europäischen Nachbarschaft und haben dabei die Bündnis- und Landesverteidigung vernachlässigt und uns auf Auslandseinsätze konzentriert. Die dramatische politische Weltlage hat die Phase der Stabilität spätestens seit 2014 beendet; dazu kommt noch die gewachsene Verantwortung Deutschlands in der Welt. Wir haben bereits reagiert. Die Trendwenden sind eingeleitet. Trotzdem ist es mir sehr wichtig, an dieser Stelle zu betonen, dass die Bundeswehr keineswegs eine Schrotttruppe ist, wie es vor allem die AfD ganz gerne darstellt. Unsere Streitkräfte sind für ihre qualifizierte Arbeit bei unseren Partnern weltweit hoch angesehen, und man schadet dem Ansehen und dem Selbstbewusstsein der Truppe enorm, wenn man bestehende Mängel, die vor allem im Übungsbetrieb zu Hause in Deutschland existieren, dermaßen überzeichnet, dass die Menschen, vor allem die Familien der Soldaten, das Gefühl haben: Bei der Bundeswehr funktioniert nichts. – Das ist mitnichten der Fall, und es muss immer wieder deutlich gesagt werden: Unsere Soldatinnen und Soldaten sind für ihre zahlreichen laufenden Einsätze sehr gut ausgerüstet, können ihren Auftrag allumfassend erfüllen und leisten dabei glänzende Arbeit.
Ich komme zum zweiten Punkt, zu den Konsequenzen, die wir aus den Berichten des Wehrbeauftragten ziehen müssen. Es ist gut, dass wir gerade jetzt, kurz vor den Haushaltsberatungen, über die Ausstattung sprechen. Denn eines ist klar: Wenn die Trendwenden nicht finanziell gestützt werden, sind sie das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind. Wir müssen deshalb endlich Konsequenzen ziehen. Bei der Beschreibung der Lage und der Forderungen sind wir uns in der Koalition alle ja weitgehend einig: Die Welt ist aus den Fugen geraten. Deutschland muss und möchte mehr Verantwortung übernehmen und bemüht sich um einen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Man plant eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion. Die Bundeswehr soll laut gemeinsamem Koalitionsvertrag ein zuverlässiger Partner bei der weltweiten Krisenbewältigung sein. Das ist alles schön und gut. Dafür müssen wir aber auch bereit sein, Geld in die Hand zu nehmen, und zwar mehr Geld als bisher geplant.
Ich möchte mich deshalb an unseren Koalitionspartner SPD wenden: Nehmen Sie den Appell des Wehrbeauftragten ernst! Er kommt aus Ihren Reihen, und er hat recht: Es geht bei der Bundeswehr mitnichten um eine gefährliche Rüstungsspirale, wie es in Ihren sicherheitspolitischen Leitgedanken im Wahlkampf formuliert wurde, sondern es geht um unsere Bündnis- und unsere Verteidigungsfähigkeit.
Ich sage hier und jetzt: Wenn wir es nicht schaffen, überschüssige Finanzmittel im Haushalt für die Verteidigung und für die Entwicklungszusammenarbeit bereitzustellen, wie wir es gemeinsam festgelegt haben, platzt nicht nur ein Versprechen des Koalitionsvertrages, sondern es platzt auch die europäische Zusammenarbeit im militärischen Bereich. Das deutsch-französische Abkommen des letzten Jahres könnte dann nicht eingehalten werden. Außerdem müssten die deutsch-norwegische U‑Boot-Kooperation sowie die enge Zusammenarbeit mit den Niederlanden im Bereich der mobilen taktischen Kommunikation gekündigt werden.
Meine Damen und Herren, das wäre ein fatales Signal für Europa und würde unserer Glaubwürdigkeit enorm schaden. Die nächsten Wochen sind deshalb existenziell, nicht nur für unsere Bundeswehr, sondern auch für die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und Europas. Lassen Sie uns unsere Bundeswehr, unsere Streitkräfte besser ausstatten!
Danke schön.
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Vielen Dank, Florian Hahn. – Nächster Redner: Dr. Marcus Faber für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Meine Zeit bei der Bundeswehr liegt nun schon 15 Jahre zurück. Ich erinnere mich an eine spannende Zeit bei den Panzerpionieren. Um ehrlich zu sein: Es war auch damals schon nicht alles Gold, was glänzt. Ich erinnere mich an einen Nässeschutz, also die Regenjacke, die auch damals schon wenig Nässe draußen, dafür aber viel Hitze drinnen gehalten hat.
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– Sie kennen sie auch noch, sehr gut. – Dem Bericht des Wehrbeauftragten können Sie ebenfalls Mängel bei Material und Ausrüstung entnehmen. Wir müssen feststellen: Es gibt einige davon. Die Ministerin will denen mit dem Thema „Trendwenden“ begegnen. Allerdings ist von einer Wende bisher herzlich wenig zu spüren. Dazu möchte ich Ihnen drei Punkte nennen.
Erstens. Material und Ausrüstung sind häufig eine Katastrophe. Vieles, was Soldaten zur Verfügung gestellt wird, ist einfach nicht zweckmäßig. Es beginnt bei den Socken, es geht weiter bei den Stiefeln, und es endet leider nicht bei den Schießhandschuhen. Bei Letzteren sind die bereitgestellten Stücke schlicht nicht brauchbar. Wenn wir die Jahresberichte 2016 und 2017 vergleichen, stellen wir daher fest: Das Material ist zwar ein Jahr älter geworden, besser ist es leider nicht.
Deswegen komme ich zu: Zweitens. Eine weitere wünschenswerte Trendwende wäre der Bürokratieabbau. Wenn Dienstort und Wohnort 30 Kilometer oder mehr auseinanderliegen, bekommen Soldatinnen und Soldaten Trennungsgeld, wie es im öffentlichen Dienst üblich ist. Letzte Woche war ich in der Kaserne in Havelberg und habe mich mit Soldatinnen und Soldaten unterhalten, die einen solchen Anspruch hätten. Derzeit müssen sie, um an ihr Trennungsgeld zu kommen, jeden Monat ein Formular ausfüllen. Das Einzige, was sich dort jeden Monat ändert, ist das Datum. Das ist Irrsinn. Das muss auch einfacher gehen.
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Dann wäre drittens noch das liebe Geld an sich. Hier erwarten wir einen Trend, und zwar einen Aufwärtstrend.
All die hübschen Ziele, die sich die Ministerin und das Verteidigungsministerium gesetzt haben, sind ohne die Grundlagen im Haushalt nicht umsetzbar. Das gilt insbesondere für die Trendwende Personal. Ein entsprechender Mittelaufwuchs ist bisher nicht hinterlegt. Außerdem gibt es jetzt schon viele offene Stellen bei der Bundeswehr.
Ein Lob zum Ende doch noch, wenn auch nicht an die Ministerin. Dafür, dass trotz der genannten Mängel die Soldatinnen und Soldaten eine so grandiose Arbeit leisten, gilt ihnen unser größter Respekt und unsere Anerkennung, gerade auch aus diesem Haus.
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Meine Damen und Herren, „Trendwende“ klingt schick, aber wer sich wenden will, muss sich auch bewegen. Wir Freien Demokraten wollen hier etwas bewegen, gerade bei der Bundeswehr. Deswegen sagen wir: Mehr Mittel für unsere Bundeswehr, mehr Mittel für funktionierende Streitkräfte, gerade in stürmischen Zeiten. Nur das kann das Fazit dieses Berichts sein. Dieses Fazit gilt es nun anzugehen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Faber. – Nächster Redner: Dr. Karl-Heinz Brunner für die SPD-Fraktion.
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Liebe Frau Präsidentin! Sehr verehrter, lieber Herr Wehrbeauftragter Hans-Peter Bartels! Frau Ministerin von der Leyen, als wir vor etwas mehr als vier Jahren, 2013, das erste Mal aufeinandertrafen, ging es auch um den Bericht des Wehrbeauftragten. Manchmal hat man das Gefühl eines Déjà-vu, weil es in vielen Bereichen nicht so schnell, nicht mit der Geschwindigkeit und Intensität vorangeht, wie man es gerne haben würde. Auch die heute zu diskutierenden Jahresberichte 2016 und 2017 des Wehrbeauftragten haben gezeigt, dass es immer noch im Bereich der Bewirtschaftung der Bundeswehr Mängel gibt; es fehlt an Ecken, es fehlt an Enden, es fehlt an Kleidung und vielem anderen mehr.
Wenn man als elfter Redner in diesem Hohen Hause zu den beiden Berichten sprechen darf, dann gehört es natürlich dazu, sich beim Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern herzlich zu bedanken, nicht nur für das sehr gute Werk, sondern auch dafür, dass der Wehrbeauftragte bei der Bearbeitung von über 2 500 Eingaben, die bei seiner Aufgabe als Ombudsmann der Soldatinnen und Soldaten im Mittelpunkt steht, immer ein Auge auf die Gesamttruppe, die Lage der Bundeswehr und die Sicherheitsarchitektur unseres Landes wirft. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind stolz auf unsere Bundeswehr, unsere Parlamentsarmee. Die Soldatinnen und Soldaten in unserem Land – das möchte ich sagen – leisten eine tolle Arbeit. Wenn es in Einzelfällen einmal nicht funktioniert, dann ist das nur menschlich; es sind Einzelfälle. Die Mehrheit unserer Soldatinnen und Soldaten macht einen tollen Job, eine gute Arbeit. Dafür muss man ihnen auch in diesem Hohen Hause Danke sagen.
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Liebe Mitglieder des Gremiums, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Soldatinnen und Soldaten, die Reservistinnen und Reservisten in diesem Land, die eine tolle Arbeit leisten, wollen aber oft mehr als nur eine gute Ausrüstung, mehr als gutes Material, mehr als politische Anerkennung. Sie wollen auch wissen, welchen Auftrag sie haben. Sie, Frau Ministerin, haben in Ihren Ausführungen von der Auftragserfüllung gesprochen. Richtig, die Auftragserfüllung steht im Mittelpunkt; alle Soldatinnen und Soldaten folgen dem Gedanken, ihren Auftrag für unser Land, für Deutschland, zu erfüllen. Insofern bin ich etwas enttäuscht – aber als Politiker darf man nicht enttäuscht sein, sondern muss sich freuen, wenn es vorangeht –, dass wir im Weißbuchprozess, der sich sehr gut angelassen hat, aber ein interner Prozess der Bundesregierung geblieben ist, ein Stück weit bei etwas zurückgeblieben sind, was dieses Land, die Bundesrepublik Deutschland, nach nunmehr fast 70 Jahren benötigt. Wir bekommen in den nächsten Tagen den Entwurf der Konzeption der Bundeswehr. Ich denke und erwarte, dass das ebenfalls ein gutes Papier ist, das die Bundeswehr von innen und außen beleuchtet. Was wir in diesem Land aber nicht haben, ist die Verknüpfung des Weißbuchs mit der Konzeption der Bundeswehr, den Vorgaben des Koalitionsvertrages und der Debatte in unserer Gesellschaft im Sinne einer nationalen Sicherheitsstrategie.
Folgende Fragen stellen sich in unserem Land: Welchen Auftrag stellen wir unserer Bundeswehr, unserer Parlamentsarmee? Was erwarten wir von dieser Parlamentsarmee? Erwarten wir eine gute Landesverteidigung? Selbstverständlich tun wir das. Erwarten wir Bündnisverteidigung und Bündniseinbringung? Jawohl. Erwarten wir eine gute Kriseneinsatzarmee? Ebenfalls. Wollen wir eine gute Einbindung in die Europäische Union? Welche Gefährdungslage in Europa und für unser Land steht für uns im Mittelpunkt? Ist es allein die kinetische Gefährdung, oder sind es auch die Bedrohungen im Cyberbereich, im Bereich des Weltraums, im Bereich unserer Energieversorgung, der Wasserversorgung und der Infrastruktur? Ich halte das für viel bedeutender.
All diese Fragen ganzheitlich zu betrachten, sie in den Referaten und vor allem in den Ministerien übergreifend zu beraten und eine Konzeption, eine Sicherheitsstrategie dieses Parlaments zu erarbeiten, wäre ein guter Ansatz, der jetzt – nach dem Weißbuch, dem Koalitionsvertrag und der Konzeption der Bundeswehr – fortentwickelt werden sollte, damit wir, das Parlament, der Vertreter des Souveräns, unseren Soldatinnen und Soldaten einen Auftrag geben können, ihnen sagen können, was wir von ihnen erwarten, und dafür sorgen können, dass sie diesen Auftrag erfüllen können. Ich bin mir darüber im Klaren: Das können die Soldatinnen und Soldaten, das können die Reservistinnen und Reservisten, das können unsere Frauen und Männer; da bin ich zuversichtlich.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Karl-Heinz Brunner. – Das Wort zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag hat Jens Lehmann.
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Da fällt mir wieder Fußball ein. Aber es ist Jens Lehmann von der CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Da mein Fraktionskollege Hahn mit seinem Bundesligaverein begrüßt worden ist, möchte ich darauf hinweisen, dass auch wir in Leipzig einen Bundesligaverein haben.
Ja.
Jetzt zur Sache.
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Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten des Bundestages – das hört sich für viele Menschen nach einer trockenen Materie an. Dahinter verbergen sich jedoch nicht weniger als der Zustand der Bundeswehr und die persönlichen Anliegen der deutschen Soldatinnen und Soldaten. Sie leisten ihren Dienst für die Sicherheit Deutschlands sowie für Frieden und Freiheit weltweit unter Einsatz von Leib und Leben. Dies ist eben kein Beruf wie jeder andere.
Der Bericht des Wehrbeauftragten ist Gradmesser für zweierlei Dinge: erstens, ob es uns gelungen ist, für zeitgemäße Rahmenbedingungen und bestmögliche Ausstattung beim Dienst in der Bundeswehr zu sorgen, und zweitens, ob sich unsere Soldaten mit ihren Sorgen ernst genommen fühlen; eine Kombination also aus Erfolgskontrolle und Stimmungsbarometer.
Bei allen Problemen hinsichtlich Personal und Material: Die überwiegend negative öffentliche Bewertung der Berichtsergebnisse übersieht erstens grundlegende Zusammenhänge und zweitens längst ergriffene Maßnahmen der Bundesministerin der Verteidigung, um Abhilfe zu schaffen. Jahrzehntelang wurden Ausrüstung und Material auf 70 Prozent Einsatzbereitschaft reduziert. Die Trendwenden Material, Personal und Budget sind nun eingeleitet, können aber selbstverständlich nicht von heute auf morgen wirksam werden. Es gibt also beileibe keinen Grund, den beschrittenen Weg in Bausch und Bogen zu verdammen.
Die vom Wehrbeauftragten geforderte „Trendwende Tempo“ halte ich bei den gegebenen Rahmenbedingungen für Augenwischerei.
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Die Forderung des Wehrbeauftragten nach einer „Trendwende Mentalität“ teile ich dagegen, wenn auch differenziert; denn auch hier gibt es bereits nennenswerte Fortschritte. Wieso sage ich das? – Die Zahl der auf dem Dienstweg gemeldeten „meldepflichtigen Ereignisse“ ist erheblich gestiegen. Vorrangig geht es um Rechtsextremismus, sexuelle Belästigung und unangemessenes Führungsverhalten. Grund hierfür ist eine fortschreitende Sensibilisierung für das, was sein darf und was nicht sein darf. Diese Entwicklung ist mehr als zu begrüßen. Sie ist ein Beleg dafür, dass die Bundeswehr „im Heute“, in unserer freiheitlichen Gesellschaft fest verankert ist. Ich sage: Das ist maßgeblich auf die Initiative der Ministerin zurückzuführen.
({2})
Bei der Vielzahl von Herausforderungen, denen sich die Bundeswehr gerade bei den Hauptwaffensystemen stellen muss, wird dies oft in der öffentlichen Debatte übersehen.
Generell halte ich es für geboten, die politische Bildung in den Streitkräften weiter zu stärken. Die Bundeswehr vertritt unseren Staat und steht für dessen Werte ein. Dies müssen Zeit- und Berufssoldaten verinnerlichen. Rechts- und Linksextremismus, Frauen- und Judenfeindlichkeit oder Homophobie haben in einer demokratischen Armee keinen Platz.
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Meine Damen und Herren, ich würde mir wünschen, dass die oft zu Unrecht kritisch dargestellten Fakten zum Zustand der Bundeswehr endlich ausgewogen dargestellt werden. Unsere Soldaten arbeiten sehr hart. Sie setzen ihr Leben für unser Land ein. Sie verdienen Respekt und Anerkennung. Deshalb dürfen wir nicht hinnehmen, dass sich in der Öffentlichkeit ein negatives Bild der Truppe verfestigt. Zugleich ist die vom Wehrbeauftragten angestoßene Debatte sehr wichtig. Genau betrachtet, bestätigt sein Bericht die Bedeutung der Trendwenden und damit die Politik der Union. Ich stimme Ihnen zu, dass diese konsequent und zügig umgesetzt werden müssen, gerade mit Blick auf die Bündnisverpflichtungen.
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– Ja.
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Auch.
Der Wehrbeauftragte rügt, dass bei der „Trendwende Personal“ und der „Trendwende Material“ noch keine ausreichenden Fortschritte erzielt worden sind. Dass Personalaufbau und Rekrutierung Zeit benötigen und dass die Bundeswehr sich im Wettbewerb um Fachkräfte befindet, sollte jedoch auch jedem klar sein. Für moderne Technologien brauchen wir gut ausgebildetes Personal. Das fällt nicht vom Himmel. Gleiches gilt für den Bereich Material. Jahre des Abbaus und Sparens können nicht über Nacht wiedergutgemacht werden.
Auch an einem anderen Punkt bestätigt der Bericht die Politik der – Koalition.
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Zu Recht mahnt dieser stärkere Investitionen in die Bundeswehr an. Gesellschaft und Politik müssen erkennen, dass sie mehr Geld für die Verteidigung bereitstellen müssen. Um die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr aufrechtzuerhalten, müssen wir deutlich mehr investieren. Das gilt auch für die Gewinnung und Ausbildung von Personal. Ganz und gar kein Verständnis habe ich für jene, die sich Zeit ihres Lebens gegen höhere Ausgaben für Verteidigung gesträubt haben und nun mit Häme der Bundeswehr Mängel bescheinigen.
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Meine Damen und Herren, lassen Sie es mich so formulieren: Vor uns liegt kein Sprint, sondern die Fortsetzung eines Marathons. Es gilt, den stetig wachsenden Anforderungen der Truppe gerecht zu werden – natürlich mit höchstmöglichem Tempo. Heute sind wir dank der Initiative der Ministerin auf einem sehr guten Weg. Das muss deutlich gesagt werden.
Schließen möchte ich mit einem Dank an den Wehrbeauftragten und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die geleistete Arbeit. Herzlichen Dank auch an die Soldaten, die Eingaben geschrieben haben. Zögern Sie auch weiterhin nicht, Ihre Anliegen zu formulieren. Damit helfen Sie uns, unsere Arbeit zu tun – für das Wohl aller Soldatinnen und Soldaten und für die Sicherheit unseres Landes.
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Vielen Dank, Jens Lehmann. – Damit schließe ich diese Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/700 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Jetzt kommt die rhetorische Frage: Sie sind damit einverstanden? – Das war ja eine rhetorische Frage, dann brauche ich auch nicht auf eine Antwort zu warten. Das ist klar: Sie sind einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zum Jahresbericht 2016 des Wehrbeauftragten. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, SPD, FDP, AfD und Bündnis 90/Die Grünen. Enthalten hat sich die Fraktion der Linken.
Guten Tag, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute eine Mission, die bereits seit November 2008 den Seeverkehr am Horn von Afrika sichert. Die Europäische Union engagiert sich hier außen- und sicherheitspolitisch. Hauptaufgabe der Operation Atalanta ist der Schutz der Nahrungsmitteltransporte des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen. Diese Hilfe, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nach wie vor überlebenswichtig für viele Menschen.
Genau diesen Auftrag, an dem auch deutsche Soldatinnen und Soldaten beteiligt sind, erfüllt die Mission zu 100 Prozent. Seit Bestehen von Atalanta ist kein einziger Transport des Welternährungsprogramms in die Hände von Piraten gefallen. Diese Bilanz kann sich wirklich sehen lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ganz konkret haben wir seit Beginn der Operation vor fast zehn Jahren 1 000 Schiffsladungen des Welternährungsprogramms unter den wachsamen Augen von Atalanta sicher in ihren Bestimmungshäfen ankommen lassen. Dabei wurden insgesamt 1,7 Millionen Tonnen Nahrungsmittel ans Ziel gebracht, um notleidenden Menschen in Somalia zu helfen, aber eben auch in Äthiopien, in Dschibuti, im Südsudan und im Jemen. Diese Zahlen sprechen aus Sicht der Bundesregierung für sich. Atalanta ist eine Erfolgsgeschichte.
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Die Piraterie, eines der schlimmsten Übel in dieser Region, konnte weitestgehend zurückgedrängt werden. Für ein paar Jahre, von 2014 bis 2017, sah es sogar so aus, als sei sie vollständig besiegt. Ich erinnere mich noch gut: Im vergangenen Jahr haben wir hier im Bundestag darüber diskutiert, ob wir die Operation Atalanta nicht alsbald beenden könnten. Leider ist es für eine endgültige Entwarnung aber noch zu früh. Seit Frühjahr 2017 hat es wieder vereinzelte Angriffe von Piraten auf kommerzielle Schiffe gegeben. Glücklicherweise konnten diese Angriffe allesamt erfolgreich abgewehrt werden und, was mindestens genauso wichtig ist, die Piraten vor Gericht gestellt werden. Aber es bleibt gefährlich. Am 18. November letzten Jahres wurden vor der Küste Somalias gleich zwei Schiffe an einem einzigen Tag nacheinander angegriffen. Der Operation Atalanta gelang es, die Piraten festzunehmen. Ihnen wird nun auf den Seychellen der Prozess gemacht.
Dieses eine Beispiel unterstreicht die Bedeutung von Atalanta gleich doppelt.
Erstens. Nur der gemeinsame Einsatz von europäischen Fähigkeiten führt zum Erfolg. An dieser Operation sind 18 Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt, darüber hinaus Serbien und Montenegro als Beitrittskandidaten. Die Leitstelle in Großbritannien, ein spanisches Aufklärungsflugzeug und eine italienische Fregatte arbeiten hier Hand in Hand. Saisonal hilft auch ein deutscher Seefernaufklärer, der zum Einsatz kommt. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist echtes europäisches Teamspiel. Das zeigt, dass wir gemeinsam in der Europäischen Union viel mehr erreichen, als wenn wir uns rein nationalstaatlich engagieren.
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Zweitens möchte ich die Frage der Rechtsstaatlichkeit hervorheben: Was wird eigentlich aus den Piraten? Nur dadurch, dass Atalanta im Namen der Europäischen Union mit den Anrainerstaaten rechtliche Übereinkommen abgeschlossen hat, kann den Piraten ein rechtsstaatlicher Prozess gemacht werden. Seit Bestehen der Operation wurden 166 Verdächtige von EU NAVFOR Atalanta an die Justizbehörden überstellt.
Diese Erfolge müssen wir bewahren.
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Der Golf von Aden ist die Haupthandelsroute zwischen Europa, der europäischen Halbinsel und Asien. Stabilität am Horn von Afrika und freie Seewege sind also auch für uns hier in Deutschland von großer Bedeutung. Das haben auch andere Staaten, die sich unter ganz anderen Voraussetzungen ebenso engagieren, inzwischen erkannt. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate haben ihre militärische Präsenz am Roten Meer und am Horn von Afrika ausgeweitet, die Türkei ebenfalls. China hat vergangenes Jahr seinen ersten ausländischen Militärstützpunkt in Dschibuti eröffnet. Der Unterschied ist aber ein ganz entscheidender: Die Europäische Union übernimmt auf Grundlage gemeinsamer demokratischer Werte außenpolitische Verantwortung. Das kann man von den anderen Staaten, die sich dort engagieren, nicht unbedingt und automatisch sagen. Deshalb spielen wir vor Ort eine stabilisierende Rolle, und wir engagieren uns umfassend.
Wir beraten heute hier im Bundestag zwar nur die militärische, sicherheitspolitische Komponente, aber selbstverständlich engagieren wir uns vor Ort auch diplomatisch, entwicklungspolitisch und vor allem auch humanitär. Das machen wir auch ganz konkret, und wir werden sicherlich auch in den Haushaltsberatungen noch einmal darüber streiten und diskutieren.
Wie Sie wissen, haben wir die deutsche Beteiligung an der Ausbildungsmission EUTM Somalia Ende März dieses Jahres nach acht Jahren im Einsatz beendet. Im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik beteiligt sich die EU neben der Operation Atalanta weiter an der zivilen Mission EUCAP Somalia, die mit rein zivilen Mitteln helfen soll, die maritime Sicherheit zu stärken.
Gerade diese zivile Mission, an der sich Deutschland ebenso personell beteiligt, macht große Fortschritte. Die Neuausrichtung, auf die wir sehr stark gedrängt haben, zeigt erste Erfolge. Die Ausbildung der Hafenpolizei in Mogadischu schreitet voran. Das zeigt sich unter anderem an den regelmäßigen Patrouillen, die zwischenzeitlich durchgeführt werden.
Das sind zugegebenermaßen kleine Schritte, aber wir reden und streiten hier ja auch über viele Einsätze, und ich finde, das sind zumindest Schritte, die in die richtige Richtung weisen. Ich will das durchaus selbstbewusst formulieren: Die EU macht das Leben vieler Menschen in Somalia sicherer, und darauf kommt es angesichts der Tragödien, die sich dort in dieser Region abspielen, vor allem an.
Hier liegt in Somalia die größte Bewährungsprobe: Wir haben es dort mit völlig instabilen staatlichen Strukturen zu tun. Diese Fragilität befördert kriminelle Netzwerke, die nicht nur für die Piraterie verantwortlich sind, sondern auch für andere schlimmste Formen organisierter Kriminalität, wie Menschenhandel und Waffenschmuggel.
Die Kritikerinnen und Kritiker – auch hier im Haus – haben sicherlich in einem Punkt recht: Die Gesamtlage am Horn von Afrika bleibt schwierig. Gerade weil sie so schwierig ist, bleibt die Mission Atalanta so wichtig für unser Engagement für Frieden und Sicherheit in der Region, und deshalb bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, namens der Bundesregierung um Verlängerung der Mission Atalanta.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Michael Roth. – Nächster Redner: Jan Nolte für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Die Beweglichkeit humanitärer Hilfe ist natürlich ein wichtiger Aspekt der Atalanta-Mission. Deutschland ist aber auch Exportnation, und der Umfang des Staatshaushaltes, mit dem wir hier arbeiten, hängt natürlich ganz wesentlich von unseren Exporten ab. Deswegen ist es unsere Pflicht, hier die Voraussetzungen für eine ungefährliche und reibungslose Exportwirtschaft zu schaffen.
Fast jeder vierte Arbeitsplatz hängt von der Exportwirtschaft ab. Diese Exporte finden, ausgehend von dem Gewicht, zu 90 Prozent auf dem Wasser statt. Sichere Handelswege zur See liegen also klar in unserem Interesse.
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Der Suezkanal, dessen Zugang zeitweise von Piraten heimgesucht wurde, verkürzt den Seeweg von Europa nach Asien um 7 000 Kilometer. 2016 gingen rund 18 Prozent unserer Exporte nach Asien. Im vergangenen Jahr betrug das Handelsvolumen mit der Asien-Pazifik-Region rund 356 Milliarden Euro.
Atalanta ist aber nicht nur der Wirtschaft wegen sinnvoll, sondern vor allem auch, um zu verhindern, dass deutsche Staatsbürger in die Hände von Piraten fallen. Es sind Einsätze wie dieser, zu deren Gunsten wir uns von außenpolitischen Abenteuern mit diffusen Missionszielen zurückziehen müssen. Ein begrenzender Faktor für unsere Einsätze ist die prekäre Material- und Personallage der Bundeswehr; denn selbst wenn wir endlich einen Maßstab der Vernunft anlegen und unsinnige Einsätze streichen würden, zeichnet sich für die Zukunft doch ein gewaltiges Aufgabenspektrum – gerade für die Marine – ab.
Bis 2050 rechnet man mit bis zu 800 Millionen Afrikanern mit dem Migrationsziel Europa. Die Zerschlagung von Schleppernetzwerken wird also noch lange Auftrag der Marine sein müssen. Während wir die Piraterie vor Somalia in den Griff bekommen haben, ist sie doch insgesamt gestiegen: in den ersten drei Monaten dieses Jahres um 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, jetzt mit dem Schwerpunkt Westafrika.
Was sollten wir eigentlich tun, wenn auch hier in Zukunft militärischer Schutz erforderlich sein sollte? Die Abschaffung der Wehrpflicht und fahrlässig massive Sparmaßnahmen haben der gesamten Bundeswehr schwer zugesetzt.
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Wenn die Bundesregierung nicht bald etwas tut, werden wir erleben, dass wir Gefahren nicht mehr begegnen können. Die Soldaten, die Sie in jeder Plenarrede artig loben,
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müssen mit dem leben, was hier beschlossen wird. Denen, die heute zuschauen, rate ich daher: Schauen Sie sich die Haushaltsdebatte an! Da werden Sie sehen, was Sie der Regierung wert sind.
Was die Personalsituation angeht, so freue ich mich natürlich darüber, dass Teile der CDU die Wiedereinführung der Wehrpflicht fordern. Da zur selben Zeit andere Teile der CDU aber über eine Koalition mit der Linken nachdenken, mache ich mir erst einmal wenig Hoffnung.
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Das Konzept des Atalanta-Einsatzes war eindeutig erfolgreich. Die Zahl der Piraterievorfälle ist massiv gesunken. Da sich die Umstände in Somalia nicht wesentlich geändert haben, muss dies auch auf den Einsatz unserer Streitkräfte zurückgeführt werden.
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Dass fünf Piraten, die ein deutsches Schiff mit Panzerfäusten und Sturmgewehren angriffen, auf Steuerzahlerkosten nun frei in Hamburg leben und nicht abgeschoben werden können, verdeutlicht übrigens ein weiteres Mal, wie hilflos unser Staat dem Migrationsgeschehen gegenübersteht.
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Die Seehandelswege und die Unversehrtheit deutscher Staatsbürger gegen Kriminelle zu verteidigen, ist ein Ziel, das den Einsatz der Bundeswehr rechtfertigt. Wir stimmen daher der Überweisung und auch in der Sache zu.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte: Dr. Peter Tauber, Parlamentarischer Staatssekretär, für die Bundesregierung.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will doch versuchen, etwas stärker auf den Einsatz und die Mission selbst einzugehen. Denn ich glaube, es gibt viele Punkte, die einer näheren Betrachtung in der Debatte lohnen; der Staatsminister Roth hat ja auf einige schon hingewiesen.
Unsere Bundeswehr ist inzwischen zehn Jahre erfolgreich an der von der Europäischen Union geführten Operation Atalanta beteiligt. Mit unserem Engagement tragen wir zu sicheren Seeverbindungen rund ums Horn von Afrika bei. Durch unseren Einsatz ist es in der Tat – das wird ja von niemandem bestritten – in den letzten Jahren gelungen, die Piraterie erfolgreich zu bekämpfen.
Wir gewähren damit den Schiffen des Welternährungsprogramms und auch der Mission der Afrikanischen Union in Somalia Schutz. Diesen Schutz brauchen diese Schiffe nach wie vor dringend. 6 Millionen Menschen in Somalia sind von diesen Lebensmittellieferungen unmittelbar abhängig. Allein das begründet schon die Fortführung dieser Mission, wie ich persönlich finde; denn sie ist im wahrsten Sinne des Wortes überlebenswichtig.
Die Operation ist darüber hinaus Teil des vernetzten Ansatzes. Ressortübergreifend und im Zusammenspiel mit anderen europäischen und internationalen Partnern trägt unsere Bundeswehr maßgeblich zu Stabilität und Frieden in der Region bei. Unsere Soldatinnen und Soldaten der Operation Atalanta beteiligen sich vor allem durch Seefernaufklärung, logistische und sanitätsdienstliche Unterstützung und Unterstützung des Führungspersonals.
Für ihren unermüdlichen Einsatz, für ihr Engagement an der Operation möchte ich unseren Soldatinnen und Soldaten hier und jetzt ein herzliches Dankeschön sagen. Vielen Dank! Ich finde, das kann man nicht oft genug tun.
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Herr Dr. Tauber, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Frau Hänsel?
Nein, jetzt nicht.
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Nein, das ist sein Recht. Er kann Ja oder Nein sagen. Vorsicht!
Herr Neu, ich bin heute aufgrund des schönen Wetters so milde gestimmt, dass selbst Sie es nicht schaffen, mich zu provozieren. Da müssen Sie noch eine Schippe drauflegen.
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Trotz aller Erfolge dürfen wir aber nicht übersehen – ich sagte es bereits –: Die Lage am Horn von Afrika ist weiterhin instabil. Die Entführung eines Öltankers im vergangenen Jahr und der Angriff am 8. April auf einen für eine deutsche Reederei fahrenden Öltanker zeigen das deutlich. Das zeigt auch: Unser Engagement wird weiterhin gebraucht.
Die sicheren Seeverbindungen sind unerlässlich, und zwar nicht nur für das Welternährungsprogramm, sondern auch generell zur Sicherung von freien Seewegen, von Handelswegen weltweit. Daran haben wir Deutsche bzw. wir in Europa ein gemeinsames Interesse.
Unser militärisches Engagement im Rahmen der Operation Atalanta ist also Teil des vernetzten Ansatzes und eine Rückversicherung zur See. Sie ergänzt unsere umfassenden Stabilisierungsmaßnahmen an Land sowie im angrenzenden Küstenmeer. Auch darauf ist der Staatsminister schon eingegangen. Gemeinsam mit unseren europäischen Partnern setzen wir uns für die Stärkung der zivilgesellschaftlichen staatlichen Strukturen in Somalia ein, um auch dort eine wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen. Denn ganz klar ist: Mit der Bekämpfung der Piraterie beseitigen wir nicht zwingend die Ursachen der Piraterie. Das darf man nicht aus dem Blick verlieren, wenngleich wir hier über einen Einsatz der Bundeswehr reden.
In den letzten zehn Jahren hat die Europäische Union allein über 1 Milliarde Euro in den Wiederaufbau und die Stabilisierung Somalias investiert. Dieses Engagement bleibt wichtig.
Darüber hinaus arbeiten wir in der Europäischen Union gemeinsam an einer neuen Strategie für unsere zukünftige Unterstützung am Horn von Afrika, die bis Ende des Jahres 2020 umgesetzt werden soll. Dabei ist wichtig, das Erreichte zu konsolidieren und eine Entscheidung über die zukünftige maritime Präsenz der Europäischen Union in diesem Raum zu treffen.
Mit einer inhaltlich unveränderten Fortsetzung unserer Beteiligung an Atalanta um ein Jahr können wir weiterhin einen wertvollen Beitrag am Horn von Afrika leisten. Noch braucht Somalia unsere Unterstützung auf dem Weg zu Frieden und Stabilität. Atalanta ist und bleibt hierfür ein richtiger und wichtiger Baustein. Deswegen bitte ich Sie um Ihre Unterstützung für die Fortführung des Mandats.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Tauber. – Nächster Redner: Christian Sauter für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit 2012 gelingt es Piraten vor Somalia kaum noch, Schiffe aufzubringen, Lösegeld zu erpressen, von einigen wenigen gescheiterten Versuchen abgesehen. Das ist ein eindeutiger Erfolg der Operation Atalanta. Es ist auch ein Erfolg der Reeder. Sie haben investiert und ihre Verfahren verbessert.
Die vor diesem Hintergrund 2016 auf europäischer Ebene erfolgte strategische Überprüfung der Operation ergab, dass die beteiligten Länder ihre Einsatzbeteiligung reduzieren können. Insbesondere die Ausrichtung auf einsatzintensivere Zeiten zwischen den Monsunperioden hat sich als sinnvoll erwiesen. Die Absenkung der Mandatsobergrenze von 1 400 auf 950 und dann 600 Soldaten ist folgerichtig und der richtige Schritt gewesen.
Das Einsatzumfeld hat sich – neben der Abnahme der Piraterie – in einem weiteren Aspekt geändert: Der Krieg im Jemen schafft zusätzliche Unsicherheit in den Gewässern am Horn von Afrika. Anschläge bzw. Angriffe lokaler Milizen auf Schiffe der saudi-arabischgeführten Koalition schaffen eine zusätzliche Bedrohung für die internationale Seeschifffahrt. Dies sind zwei Begebenheiten, die die Einsatzgrundlage ändern. Wie sich dies künftig auf die Einsatzplanung auswirkt, wird in dem Antrag der Bundesregierung noch nicht ganz klar ausgesprochen.
Die Änderungen in der Einsatzumgebung – erfolgreiche Bekämpfung der Piraterie und auf der anderen Seite mehr Krieg und Bürgerkrieg im direkten Umfeld – verlangen eigentlich eine Neuausrichtung des Mandats – hier sehe ich noch Klärungsbedarf –, an dem sich Deutschland seit zwei Jahren nur noch mit relativ geringem Einsatz beteiligt: mit einigen Soldaten in Dschibuti zusätzlich zu den Besatzungen der P‑3C „Orion“, die aber einen hervorragenden Dienst leisten, wofür ihnen unser aller Dank gilt.
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Die bisherigen Mandatsbegründungen beschreiben außerdem regelmäßig, dass, solange keine stabilen staatlichen Strukturen in Somalia bestünden, ein weiterer Einsatz nötig wäre. Wann dieses Ziel erreicht werden soll, ist bisher nicht absehbar. Ich hoffe, dass im Rahmen der Ausschussberatungen noch näher auf diese Punkte eingegangen wird.
Der Einsatz steht wie alle Aktivitäten der Bundeswehr vor dem Hintergrund der weiterhin schlechten Lage der Ausrüstung und Ausstattung. Man wird fast müde, es stets zu wiederholen. Denn es war – Stand Dezember letzten Jahres – genau eine von fünf P‑3C „Orion“ einsatzbereit. Deutschland hat acht Systeme. Fünf davon stehen zur Verfügung. Ein System ist einsatzfähig. Es wird aktuell im Rahmen von Atalanta eingesetzt. Die Frage lautet also: Wie soll sich Deutschland an Einsätzen wie Atalanta beteiligen, wenn das letzte einsatzbereite Flugzeug nicht mehr fliegen sollte? Wie soll so dauerhaft internationale Verantwortung übernommen werden, die in Zukunft auch von Deutschland getragen werden muss? Das sind offene Fragen, die einer dem Mandat übergeordneten Ebene zuzuordnen sind.
Der langfristige Rückgang der Zahl der Pirateriefälle am Horn von Afrika ist ein großer Erfolg der Operation Atalanta. Die Seeraumüberwachung und die internationale Kooperation schützen wirksam die Seewege und damit auch Deutschlands Interessen, aller Kritik zum Trotz.
Der Überweisung des Antrags der Bundesregierung stimmt meine Fraktion zu. Ich freue mich auf die Diskussion.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Christian Sauter. – Nächste Rednerin: Kathrin Vogler für die Fraktion Die Linke.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Vor 25 Jahren, am 21. April 1993, beschloss das Bundeskabinett zum ersten Mal, Soldaten nach Somalia zu entsenden. Am 2. Juli 1993 stimmte eine Mehrheit aus Union und FDP im Bundestag diesem Auslandseinsatz zu. Ich finde, das ist ein Anlass, sich einmal anzusehen, wie uns damals diese Ausweitung des Auftrags der Bundeswehr schmackhaft gemacht werden sollte und was heute aus diesem einen ersten Einsatz geworden ist. Apropos „schmackhaft“: Ich stand damals gemeinsam mit anderen Friedensaktivisten in Bonn vor dem Bundeskanzleramt. Neben Schildern und Transparenten hatten wir eine symbolische Salami dabei, um darauf hinzuweisen, dass die Bevölkerung scheibchenweise an eine massive Militarisierung der Außenpolitik gewöhnt werden sollte. Genauso wie wir Friedensbewegte es befürchtet haben, kam es. Es blieb nicht bei diesem einen Einsatz. Heutzutage berät der Bundestag beinahe jede Sitzungswoche über Auslandseinsätze.
Es gibt aber auch eine gute Nachricht. Auch nach 25 Jahren ist die Bevölkerung keineswegs mit diesen Auslandseinsätzen einverstanden.
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Ihre Salamitaktik hat zwar vielleicht eine gewisse Gewöhnung, aber keinesfalls Zustimmung erzeugen können. Das ist ein Erfolg der Friedensbewegung und vieler kritischer Geister in diesem Land, die sich kein X für ein U vormachen lassen und die sich auch nicht einschüchtern lassen.
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Mit Einschüchterung und Diffamierung haben Sie es schon damals versucht, zum Beispiel Herr Schäuble, den ich aus der Bundestagsdebatte von 1993 zitieren möchte:
Wenn ich mir die Erbärmlichkeit der diesjährigen sogenannten Ostermarschierer noch einmal vor Augen führe, muß ich sagen: Etwas Schäbigeres hat es in diesem Lande schon lange nicht mehr gegeben.
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So Herr Schäuble! Wissen Sie, was ich schäbig finde: Wenn eine herrschende Elite versucht, den Menschen ihren Friedenswillen auszutreiben, um die Profite der Rüstungsindustrie zu sichern, und das auch noch als humanitäre Maßnahme verkauft, ist das schäbig.
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Damals sollten die Soldaten in Somalia englische Blauhelme unterstützen. Diese kamen allerdings nie an. So verwandelte man den Einsatz rasch in einen Werbefeldzug. Wir bekamen gezeigt, wie die Soldaten Brunnen, Krankenhäuser und Schulen bauten. Der „Spiegel“ schrieb dazu treffend:
Soldaten, die Hungernde fütterten, Kranke versorgten, Schwache beschützten – konnte es eine verlockendere Vorstellung geben als die von einem gutmütigen Weltgendarmen, der den Bedrängten zu Hilfe eilt?
Nicht gezeigt wurde aber, was nach dem Einsatz mit den Brunnen, den Schulen und den Krankenhäusern passierte.
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Sie versandeten, sie wurden zerstört oder vermint. Die Bundeswehr ist nun einmal keine Entwicklungsorganisation.
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Niemals wird von der Regierungsseite ernsthaft darüber diskutiert, was man hätte vielleicht anders machen können. Selbst dann, wenn man mit dem militärischen Einsatz ganz und gar nicht weiterkommt, wie es in Somalia der Fall ist, ziehen Sie niemals in Erwägung, dass vielleicht der ganze Ansatz falsch sein könnte. Das ist der Fehler.
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Der siebenmonatige Propagandafeldzug vor 25 Jahren kostete ganze 164 Millionen Euro. Über 17 Milliarden Euro haben die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler seither für die Auslandseinsätze der Bundeswehr ausgegeben. Da frage ich Sie: Ist die Welt dadurch sicherer, friedlicher, gerechter geworden? Ist wenigstens Somalia, wo immer noch jedes achte Kind vor dem fünften Lebensjahr stirbt, heute ein besserer Ort zum Leben? Das können Sie doch nicht ernsthaft behaupten.
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Solange die reichen Staaten wie Deutschland sich immer wieder dazu entscheiden, mehr in Rüstung und Militär als in Bildung, Gesundheit und wirtschaftliche Entwicklung zu investieren, solange Heckler & Koch, Rheinmetall, Krauss-Maffei Wegmann, Lürssen Werft und wie sie alle heißen weiter mit Rüstungsexporten in Kriegsgebiete blutige Euros scheffeln können, so lange wird Die Linke gegen diesen Irrsinn Widerstand leisten.
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Vielen Dank, Kathrin Vogler. – Nächster Redner: Ottmar von Holtz für Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Operation Atalanta hat tatsächlich zwei Seiten: Kurzfristig sichert sie die Hilfslieferungen, auf die die Menschen in Somalia, aber auch in Äthiopien, im Jemen und im Südsudan angewiesen sind;
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aber mittelfristig hat sie keinen Effekt auf die Ursachen der Pirateriekriminalität. Nachdem die Anzahl der Vorfälle vor der Küste Somalias in den letzten Jahren sehr niedrig war, ist sie im vergangenen Jahr wieder deutlich gestiegen. Bislang sind diese Anschläge zwar glimpflich verlaufen, aber sie lassen doch schon befürchten, dass es schlimmer kommen könnte.
Die Gründe für den erneuten Anstieg der Piraterie sind klar: fortdauernde Korruption, schwache staatliche Strukturen in Somalia, Einfluss von islamistischen Gruppierungen, die Schwemme an Waffen in der Region. Die Hungerkrise am Horn von Afrika treibt zusätzlich Menschen in die Kriminalität. Vor diesem Hintergrund ist der Einsatz der Bundeswehr vor der Küste Somalias genau genommen lediglich eine Symptombekämpfung. Es ist kein Beitrag für eine nachhaltige Lösung. Man kann jetzt zwar sagen: „Ja gut, das ist besser als nichts“, aber dann muss es von anderen Maßnahmen flankiert werden und Teil einer umfassenden, ganzheitlichen Strategie werden.
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Herr Tauber, Sie haben eine Strategie angesprochen. Sie soll bis Ende 2020 stehen; aber bis Ende 2020 ist es tatsächlich noch sehr weit hin.
Und dann die Sache mit dem Einsatz an Land. Das Mandat sieht Einsätze an Land vor. Die Bundeswehr dürfte bis zu 2 Kilometer weit im Inland gelegene logistische Einrichtungen der Piraten angreifen. Das ist doch keine rein maritime Mission mehr.
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Das hat auch Eskalationspotenzial. Das ist auch einer der Gründe, warum viele meiner Fraktionskolleginnen und -kollegen dem Mandat in der Vergangenheit nicht zustimmen konnten. Wäre ich Pirat, würde ich meine logistische Einrichtung 3 Kilometer weit ins Landesinnere legen. Herr Roth, streichen Sie endlich diesen sinnlosen Landeinsatz aus dem Mandatstext.
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Fatal für die Gesamtstrategie ist die somalische Aufrüstung mit deutschen Waffen. Die Waffen gelangen unter anderem über Lizenzfabriken in Saudi-Arabien und im Iran dorthin. Hinzu kommen unendlich viele alte Waffen in die Region, zum Beispiel aus den libyschen Armeebeständen. Wir müssen endlich mehr dafür tun, diese Waffen aus dem Verkehr zu ziehen. Das wäre eine nachhaltige und wirksame Maßnahme.
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Gegen die Piraterie vor der Küste Somalias braucht es eine Strategie zur Bekämpfung der Ursachen, beispielsweise gegen die Raubfischerei in den somalischen Gewässern, gegen die illegale Müllverklappung in den Fischereigebieten. Vor allem muss der Friedensprozess in Somalia vorangetrieben werden. Die Menschen dort brauchen eine Lebensperspektive. Das ist das Einzige, was wirklich hilft.
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Die Piraterie kann nicht nur mit militärischen Instrumenten bekämpft werden. Etwa 7 Millionen Menschen – Herr Tauber, Sie sprachen von 6 Millionen; die tatsächliche Zahl ist eigentlich unerheblich, es sind sehr viele – leiden an Hunger, die Hälfte der Bevölkerung. Wir müssen die Entwicklungszusammenarbeit ausbauen. Die bisherigen Projekte sind zwar gut, erreichen aber bei weitem nicht genug Leute und werden zusätzlich durch Dürre und Hungersnot oftmals zunichtegemacht. Im Flüchtlingslager Dadaab im Nachbarland Kenia leben 250 000 Somalier unter schweren Bedingungen. Diejenigen, die zurückkehren, weil sie es dort nicht aushalten, erwartet eine unsichere Zukunft. Wir können doch nicht einfach dabei zusehen, wie sich die Rückkehrerinnen und Rückkehrer völlig desillusioniert bald nach anderen Einkommensquellen umsehen werden.
Meine Damen und Herren, der Mandatsverlängerung sollte man zustimmen, wenn man der Sache mit den unsicheren Wegen für die Hilfsgüter ein besonderes Gewicht beimisst. Ich habe aber auch großes Verständnis für alle diejenigen, die der Verlängerung nicht zustimmen können, weil es an der Gesamtstrategie fehlt und das Mandat nicht zur Bekämpfung der Ursachen der Piraterie beiträgt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Ottmar von Holtz. – Nächster Redner: Ingo Gädechens für die CDU/CSU-Fraktion.
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Meine sehr verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, das, was der Staatsminister Roth und der Parlamentarische Staatssekretär Tauber hier gesagt haben – Atalanta wirkt –, stimmt. Zehn Jahre sind wir im Einsatz dort, und es war ein langer Weg. Die Praxis war unterschiedlich. Es gab die Entwicklung von Safe Rooms auf Handelsschiffen, von sogenannten Schutzräumen. Wir mussten mit unseren Boarding-Teams neue Methoden entwickeln, die piraterischen Skiffs aufzubringen. Wir haben mit der Bundespolizei und der Bundeswehr Best Practice zu der Frage entwickelt, wie unsere Handelsschiffe, aber auch die internationalen Handelsschiffe sich auf dieser Route schützen können.
Es war ein langer Weg, zehn Jahre. Ich habe die Diskussion über das Atalanta-Mandat nahezu von Anbeginn begleitet, nicht nur im politischen Raum, sondern mehrfach auch vor Ort: in Dschibuti bei den schwimmenden und fliegenden Einsatzkräften unserer Bundeswehr.
Wir haben hier leidenschaftlich debattiert. Eigentlich vermisse ich in dieser Debatte die Wortmeldung vom Kollegen Ströbele aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – die wird es heute nicht geben –,
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in der er mir sagt, wie er es immer getan hat, wir mögen doch die Ursachen der Piraterie bekämpfen, wir mögen doch endlich aufpassen, dass nicht irgendwelche Fischtrawler die Küste vor Somalia leerfischen und der arme somalische Fischer seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann.
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– Ich freue mich, dass Sie applaudieren; das ist nämlich Bestandteil dieses Mandats.
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Wir observieren das Gebiet mit unserem Seefernaufklärer, um genau diese Piraterie, die dort auch von internationalen Fischtrawlern betrieben wird, zu melden und zu bekämpfen, damit der somalische Fischer seine Lebensgrundlage hat. Bitte teilen Sie das Herrn Ströbele mit, falls er jetzt nicht am Fernseher sitzt und meinen Wortbeitrag genießt.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, Abschreckung durch militärische Präsenz ist ein Grund dafür, dass die Schiffe des Welternährungsprogramms – auch das wurde erwähnt – den Hafen von Mogadischu sicher erreichen können. Auch die Zahl ist schon genannt worden: Über 6 Millionen Menschen in Somalia sind auf diese humanitäre Hilfe zwingend angewiesen.
Wir sind nicht allein in diesem Einsatz. Nicht nur EU- und NATO-Einheiten, sondern auch Einheiten anderer Nationen beteiligen sich in diesem Atalanta-Verband, um Piraterie einzudämmen.
Meine Damen und Herren, ich sage das jetzt nicht, weil das gern mal Applaus einbringt; ich sage das in Richtung der Soldaten. Wenn es irgendwo auf der Welt knallt oder kriselt, richtet sich der Fokus sehr schnell auf diese Region, richtet sich der Fokus darauf: Was macht unsere Bundeswehr dort eigentlich? Wenn die sogenannte Einsatzrealität, die Einsatzroutine greift, dann ist dieser Fokus sehr schnell wieder weg; dann reden wir im politischen Raum manchmal von einem vergessenen Mandat. Das Atalanta-Mandat ist im Deutschen Bundestag nicht vergessen. Ich sage es nicht, weil es Applaus bringt, sondern ich sage es aus vollem Herzen: Ich danke all denen, die dort am Horn von Afrika ihren Dienst schon geleistet haben, heute leisten und zukünftig leisten werden.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, weil die Regierungsvertreter gute Gründe genannt haben und in der Debatte diese Gründe auch wiederholt worden sind, empfehle ich Ihnen allen, diesem Mandat zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Ingo Gädechens. – Christian Ströbele hat sich jetzt sicher gefreut, Ihnen zu lauschen. Ich bin mir fast sicher, dass er das wirklich tut.
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– Ja, aber er hat ja Christian Ströbele genannt.
Letzter Redner in der Debatte: Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Am Ostersamstag, dem 31. März, ist es zum letzten Mal passiert: Vor dem Horn von Afrika haben Piraten ein Schiff attackiert. Es war ein Rohöltanker aus Liberia. Zwei Skiffs mit hoher Geschwindigkeit versuchten, das Schiff zu kapern. Die Mannschaft des Schiffs hat sich erfolgreich gewehrt und konnte die Piraten in die Flucht schlagen.
Am 22. Februar lief es ähnlich ab: Ungefähr 1 500 Kilometer südlich – an der Küste vor Mogadischu – erwischte es einen Tanker aus Singapur, und im November war gleich in der Nähe ein Containerschiff aus Panama an der Reihe. Auch da hat die Mission Atalanta mit eingegriffen.
Meine Damen und Herren, solche Vorfälle sind bei weitem nicht mehr so zahlreich wie 2011. Es gab damals 176 Angriffe auf Schiffe und 25 Schiffsentführungen. Dagegen sind das, was wir im Moment erleben, nur noch Einzelfälle. Trotzdem: Die Gefahr der Piraterie ist immer noch da. Dass es weniger geworden ist, hat zwei wesentliche Gründe. Erstens – der Kollege Gädechens hat es bereits sehr fachkundig angesprochen – haben die Reedereien mehr in die Sicherheit investiert, auch mit staatlicher Hilfe. Die Best Management Practices sind schon thematisiert worden.
Der zweite Grund ist die Mission Atalanta. Seit 2011 sind wir mit dabei; seit 2008 besteht eine ständige militärische Präsenz im Indischen Ozean. Das Seegebiet wird auch von uns überwacht, und es kann im Ernstfall eingegriffen werden.
Natürlich konnten wir, nachdem die Piraterie zurückgegangen war, auch unsere Präsenz vor Ort reduzieren. Wir sind zwar seit 2016 nicht mehr mit einem Schiff dort, es macht aber noch Sinn, dort präsent zu sein: erstens, um das, was wir an Sicherheit auf den Seewegen erreicht haben, nachhaltig zu sichern, zweitens, um auch gegen den Terrorismus, gegen Menschenschmuggel oder illegalen Waffenhandel vorzugehen. Es ist eine der gefährlichsten Regionen der Welt: das instabile Somalia auf der einen Seite der Küste und auf der anderen Seite der Jemen mit den Kriegshandlungen. Drittens – das ist hier auch schon angesprochen worden – macht es auch aus wirtschaftlichem Interesse Sinn. Durch den Golf von Aden fahren jedes Jahr 20 000 Schiffe. 90 Prozent des Handels zwischen Europa, Afrika und Asien werden darüber abgewickelt. Und ja, wir als Exportnation haben ein Interesse an sicheren Seewegen, und mit unserem Beitrag zu Atalanta leisten wir einen Beitrag zur Sicherheit auf den internationalen Seewegen.
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Wir tun es im Moment vorrangig mit unserem Seefernaufklärer, einem Flugzeug, das drei- bis viermal die Woche abhebt, in der Region unterwegs ist und im Auftrag von Atalanta verdächtige Bewegungen auf See aufklärt. Aber Deutschland leistet noch andere Beiträge, die vielleicht nicht so im Licht der Öffentlichkeit stehen. Einen will ich beispielhaft dafür, was die Marine leistet, nennen.
Wir betreiben in Dschibuti eine hochmoderne Taucherkammer. Wenn ein Tauchunfall passiert – das geschieht meist dann, wenn ein Taucher zu schnell auftaucht und es dadurch zur Dekompressionskrankheit kommt –, kann man in solchen Taucherkammern die entsprechende Behandlung durchführen. Es ist die einzige Kammer im Umkreis von mehreren Hundert Kilometern, und immer wenn Partnernationen in Einsätze gehen, versichern sie sich, dass diese Kammer zur Verfügung steht, damit einem Taucher im Notfall geholfen werden kann. Das kommt nur drei- bis viermal im Jahr vor, aber unser Einsatz – die Bereitstellung der Kammer – wird hoch geschätzt, und wenn ein Notfall eintritt, ist sie wirklich lebensnotwendig.
Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Atalanta ist ein erfolgreicher Einsatz. Der Einsatz liegt im deutschen Interesse. Wir leisten einen wichtigen Beitrag und wollen ihn auch weiterhin leisten.
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Ich bitte um Zustimmung und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Dr. Brandl. – Damit schließe ich diese Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1596 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind sicher damit einverstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich bitte, sehr zügig die Plätze zu tauschen oder einzunehmen, damit ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufen kann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die erste Tafel wurde 1993 gegründet. Inzwischen gibt es 934 Tafeln. Dass es die Tafeln gibt, ist das Verdienst vieler Ehrenamtlicher. Dass es die Tafeln in diesem Land braucht, ist das Versagen aller bisherigen Bundesregierungen.
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Ja, auch diese Bundesregierung aus Union und SPD betreibt beim Kampf gegen Armut Arbeitsverweigerung. Ich sage es einmal so: Wenn ein Hartz‑IV-Betroffener bei der Suche nach Arbeit so wenig Einsatz zeigen würde wie diese Regierung beim Kampf gegen Armut, er wäre schon längst mit einigen Sanktionen belegt und sein Arbeitslosengeld II wäre wahrscheinlich um mindestens 60 Prozent gekürzt, wenn nicht gar gestrichen worden.
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Halten wir fest: 16 Prozent, also 13 Millionen Menschen, sind hierzulande von Armut bedroht. Die Politik reagiert auf diesen Missstand sehr unterschiedlich. Es gibt einzelne Minister wie Jens Spahn, die Arme belehren, dass man mit dem Geld doch gut über die Runden kommt – als ob er eine Ahnung davon hätte, wie man mit 416 Euro im Monat über die Runden kommt, und wehe, die Waschmaschine geht kaputt.
Die Neoliberalen spielen Arme ohne Arbeit und Arme mit Arbeit gegeneinander aus, als ob ein Niedriglohnbetroffener auch nur einen Cent mehr in der Tasche hätte, wenn der Hartz‑IV-Regelsatz gezielt kleingerechnet wird. Das Gegenteil ist doch der Fall.
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Die ganz Rechten reden den Armen ein, man müsse nur alle Ausländer abschieben, dann würde wieder Wohlstand für alle herrschen. Als ob die arme Rentnerin nur einen Cent mehr in der Tasche hätte, wenn Geflüchtete in Kriegsgebiete abgeschoben werden. Tatsache ist doch: Wir hatten schon viel zu niedrige Renten und viel zu niedrige Löhne, bevor die Geflüchteten gekommen sind.
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Wir Linke sagen hingegen klar: Eine Gesellschaft, in der alle Menschen garantiert vor Armut geschützt sind, ist machbar. Dieses Parlament müsste nur die richtigen sozialen Alternativen umsetzen. Damit meine ich nicht die Maßnahmen, die Ihnen Ihre Freunde von Goldman Sachs, also die Lobby der Finanzspekulation, einreden möchten.
Sicherheit vor Kinderarmut ist möglich, zum Beispiel durch eine Kindergrundsicherung, die alle Kinder garantiert vor Armut schützt. Mit einem breiten Bündnis streiten wir dafür; denn jedes Kind hat das Recht auf einen guten Start ins Leben.
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Sicherheit vor Armut ist möglich, wenn wir das Hartz‑IV-Sanktionssystem abschaffen und durch gute Arbeit und eine sanktionsfreie Mindestsicherung in Höhe von 1 050 Euro ersetzen.
Sicherheit vor Altersarmut ist möglich, wenn wir das Rentenniveau erhöhen und eine solidarische Mindestrente in Höhe von 1 050 Euro als unteres Sicherheitsnetz einführen.
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Diese Sicherheit vor Armut ist finanzierbar. Wir müssten nur den Mumm haben, Millionenerbschaften und Gewinne aus Finanzspekulationen stärker zu besteuern. Die Frage ist doch: Will man weiter Millionärserben beschützen, oder will man endlich Millionen in diesem Lande vor Armut schützen? Wir Linke haben uns entschieden: Wir sagen der Armut den Kampf an.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Katja Kipping. – Nächster Redner: Stephan Stracke für die CDU/CSU-Fraktion.
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Grüß Gott, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir als Union sind beim Kampf gegen Armut sehr erfolgreich; denn unsere Antwort auf Armut ist Arbeit – Arbeit, durch die man in der Lage ist, sein Leben selbst zu bestreiten. Deswegen haben wir uns als Koalition das Ziel gesetzt, Vollbeschäftigung in Deutschland zu schaffen. Die Vergangenheit gibt uns hierbei recht: Seit 2005 sind Tag für Tag über 500 Menschen weniger arbeitslos und über 1 350 Menschen mehr sozialversicherungspflichtig tätig. Das ist ein großer Erfolg, den wir uns in keinster Weise von den Sozialpopulisten schlechtreden lassen, die diese Fakten letztendlich einfach nur negieren.
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Unser Anspruch ist, alle Menschen mitzunehmen. Jeder und jede ist wichtig, keiner darf zurückbleiben. Das gilt insbesondere für die Langzeitarbeitslosen. Wir wollen Menschen, die sehr lange arbeitslos sind, Trittfestigkeit im Leben wiedergeben und Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt eröffnen. Die Linke – Frau Kollegin Kipping hat es wiederholt – schlägt eine sanktionsfreie Mindestsicherung in Höhe von ungefähr 1 500 Euro brutto vor.
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– Ja, 1 500 Euro brutto, aber netto stehen 1 150 Euro bei euch im Antrag.
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– Steht halt so drin. – Aber letztendlich ist es wurscht.
Es klingt zunächst einmal sympathisch, wenn man sagen kann: Na ja, wir werden beschützt. Es sorgt jemand für uns, und wir haben den Übergang geschafft von der Notwendigkeit, einer Arbeit nachzugehen, zu der Möglichkeit, in das Reich der Freiheit in diesem Bereich zu kommen; denn es kommt nicht mehr darauf an, ob ich arbeiten gehe oder nicht. – Was dahintersteckt, ist eine Entkopplung der Existenzsicherung vom Arbeitsmarkt. Letztendlich bedarf es überhaupt keiner Bereitschaft mehr, einer zumutbaren Arbeit nachzugehen. Hier machen Sie im Hinblick auf die Betroffenen auch sozialpsychologisch einen Riesenfehler. Hilfe zur Selbsthilfe wird verkehrt in eine Verfestigung von Abhängigkeit. Das ist die Folge der Ideen, die Sie in diesem Bereich haben.
Wir tun uns insgesamt nichts Gutes, wenn wir nichts mehr voneinander fordern und erwarten. Herr über das eigene Leben zu sein, selbstbestimmt zu sein und selbstbestimmt einer Arbeit nachzugehen, das für jeden zu erreichen, sollte unser gemeinsames Ziel sein wie auch, die Potenziale des Einzelnen anzuschauen, zu wecken und zu heben. Das ist das Programm von Union und SPD. Daran arbeiten wir, wie ich meine, sehr erfolgreich; denn nach den Zahlen der Bundesagentur für Arbeit beispielsweise haben Menschen, die bis zu drei Jahre ohne Job sind, tatsächlich gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Wir kümmern uns mit dem Bundesprogramm „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ auch um diejenigen – es sind um die 150 000 –, die sehr arbeitsfern sind. Auch für die übrigen 700 000 Menschen bedarf es noch mehr Betreuung und Unterstützung nach dem Grundsatz des Forderns und Förderns. Ziel muss immer die Integration in den Arbeitsmarkt sein und keine Daueralimentierung, so wie es Die Linke will, und auch kein dauerhaftes Abschieben in einen Scheinarbeitsmarkt ohne Perspektive. Deswegen halten wir am System der Grundsicherung für Arbeitsuchende fest.
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Fast auf den Tag genau vor einem Jahr, meine sehr verehrten Damen und Herren, wurde der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vorgelegt. Zentrales Ergebnis ist: Deutschland geht es gut wie nie. Sozialtransferleistungen senken deutlich das Armutsrisiko für die Menschen. Der Sozialstaat in Deutschland wirkt. Das ist Unionspolitik.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage von der Fraktion der Linken?
Herzlich gerne. Meine Redezeit wäre jetzt nämlich abgelaufen; insofern kann ich noch wunderbar verlängern. Vielen Dank, Herr Birkwald.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie haben eben insinuiert, Deutschland ginge es gut und das würde sich auf alle beziehen. Niemand stellt in Abrede, dass es vielen Menschen glücklicherweise gutgeht; das soll auch so bleiben. Aber immer mehr Menschen geraten in Armut. Ich will Ihnen das am Beispiel der Altersarmut gerne einmal aufzeigen.
Die Zahlen, die ich nenne, sind nicht etwa ein Jahr alt, sondern sie stammen aus einer aktuellen Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken. Es sind also Zahlen der Bundesregierung. Wenn man sich diese Zahlen anschaut, dann stellt man fest, dass sowohl nach dem Messinstrument Mikrozensus – das ist die offizielle Grundlage Ihrer Armutsrisikoberechnung – wie auch nach der europäischen Berechnungsgrundlage, EU-SILC, wie auch nach dem Sozio-oekonomischen Panel festzuhalten ist, dass Menschen, die älter als 65 Jahre sind, vom Jahr 2007 bis zum Jahr 2014 deutlich ärmer geworden sind. Für sie sind die Armutsrisikoquoten deutlich gestiegen.
Jetzt will ich Ihnen die Zahlen dazu, wer in diesem Land arm ist, einmal vortragen. Arm ist ein alleinlebender Mensch in einem Haushalt nach Mikrozensus, wenn er oder sie weniger als 969 Euro im Monat zur Verfügung hat, nach dem Sozio-oekonomischen Panel, wenn er oder sie weniger als 1056 Euro zur Verfügung hat, und nach EU-SILC, wenn er oder sie weniger als 1064 Euro zur Verfügung hat. Nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe liegt die Grenze bei 1189 Euro. Wenn wir diese Zahlen einmal arithmetisch mitteln, dann kommt heraus: Wer alleine in diesem Land lebt und weniger als 1069 Euro und 50 Cent zur Verfügung hat, ist als arm oder von Armut bedroht zu bezeichnen.
So, jetzt müsste der Kollege bald antworten.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Nach diesen Daten, die mir die Bundesregierung geliefert hat, steigt die Armutsgefährdung der älteren Menschen und auch vieler anderer – aber ich habe jetzt einmal ein Beispiel gebracht – von Jahr zu Jahr. Was sagen Sie denn dazu? Und sagen Sie mir bitte: Wie wollen Sie diese Armutsgefährdung mit Ihrer Politik denn überhaupt bewältigen können? Ich sehe da keinen Ansatz.
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Sehr geehrter Herr Kollege Birkwald, das ist ja wieder ein Beispiel dafür, dass im Zuge der Frage nach der Armutsquote die Frage nach der Gefährdung durch Armut sofort mit Armut gleichsetzt wird. Das ist ja nicht einmal wissenschaftlich korrekt, was Sie vortragen. Man darf das nämlich nicht gleichsetzen. Es handelt sich bei dem, was Sie vorgetragen haben, um die Gefährdung durch Armut. Und ich finde, dass es nicht skandalisierungsfähig ist, wenn jemand so viel Geld durch Arbeit verdient, wie Sie das beispielsweise tun.
Der Einzelne, der von Armut betroffen ist, ist darauf angewiesen, dass er Unterstützung bekommt, etwa durch aufstockende Leistungen oder anderes mehr. Genau da hilft der Sozialstaat. Unser Ziel muss es doch sein, gerade den Risikogruppen, die wir in diesem Bereich schon so oft beschrieben haben, also gerade Alleinerziehenden, Migranten, Langzeitarbeitslosen, weiterhin gute und noch bessere Perspektiven zu eröffnen. Und genau das tun wir.
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Wir sehen, dass es oftmals an mangelnder Qualifikation liegt. Mangelnde Qualifikation und Armutsrisiko sind Zwillingsbrüder. Genau dort setzt diese Bundesregierung, diese Koalition an. Wir wollen das über präventive Maßnahmen verhindern, indem wir alles Menschenmögliche dafür tun, dass es nicht zu Armut kommt, und setzen nach dem Motto des Förderns und Forderns an. Deswegen sind die Instrumente, die wir haben, sehr gut.
Herzliches Dankeschön, Herr Birkwald.
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Der nächste Redner ist der Kollege Martin Sichert für die AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was wir hier vorgelegt bekommen, ist fast alles alter Käse, den wir in diesem Jahr schon in einem anderen Antrag der Linken gelesen haben. Das Schlimmste an dem Antrag ist aber: Sie wollen lauter Wohltaten verteilen, ohne zu erklären, wie das finanziert werden soll.
Stellen Sie sich einmal vor, Ihr Partner kommt zu Ihnen und sagt: Schatz, ich habe so ein tolles Haus gesehen. – Dann sagen Sie doch nicht einfach: „Super, kauf das einfach“,
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sondern klären erst einmal die Finanzierung. Hier wollen Sie aber Massen an Geld, das Ihnen nicht gehört, mit beiden Händen ausgeben. Das ist schlicht unanständig.
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Ich weiß nicht, wie viele Märchen Sie gelesen haben; aber Geld wächst in Deutschland weder auf Bäumen, noch gibt es Esel, die Goldtaler fallen lassen. Vielmehr muss das Geld hart von der arbeitenden Bevölkerung verdient werden, bevor es ausgeben werden kann.
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Auch Sie von der Linken, sollten sich bewusst machen, dass Sie hier auf diesen bequemen Stühlen nur deshalb hin- und herschaukeln und sich aufregen können, weil die Bürger das mit ihren Steuern und Abgaben bezahlen.
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Wenn Sie hier Geld so freizügig verteilen, dann spielen Sie damit die Bedürftigen gegen die hart arbeitenden Menschen aus, dann spalten Sie diese Gesellschaft.
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Das ist armselig, und das ist einer Debatte über das wirklich drängende Thema Armut nicht würdig. Das einzig Brauchbare an Ihrem Antrag ist leider nur der Titel „Armut in Deutschland den Kampf ansagen“.
Die Armut wächst auch deswegen, weil Leute wie Sie der Meinung sind, man müsse angeblichen deutschen Reichtum umverteilen. Wenn Sie vom Reichtum sprechen, der verteilt werden soll, dann führen Sie eine Scheindebatte; denn der Medianwert des Vermögens ist in keinem anderen Land des Euro-Raums geringer als in Deutschland.
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Das durchschnittliche Vermögen ist in Zypern beispielsweise dreimal so hoch; selbst in Spanien ist es noch eineinhalbmal so hoch. Das liegt auch daran, dass die Steuer- und Abgabenlast, die Sie immer weiter erhöhen wollen, in Deutschland inzwischen schon eine der höchsten weltweit ist. Wenn man den Menschen während ihres Arbeitslebens so viel Geld abknöpft und sogar noch die Rente besteuert, dann bleibt vielen keine Möglichkeit, für Notfälle selbst vorzusorgen. Wenn viele nicht mehr selbst vorsorgen können und staatliche Hilfe erst dann bekommen, wenn ihr eigenes Vermögen aufgebraucht ist, dann verarmen folglich immer mehr Menschen.
Reden wir mal Klartext in diesem Hohen Haus: Der Hauptgrund für die zunehmende Armut in Deutschland ist die EU.
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Für viele von Ihnen – das zeigt auch dieses Gelächter – ist dieses Hohe Haus nur ein verlängerter Arm von Brüssel.
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Aber ich möchte Sie daran erinnern: Dies ist der Deutsche Bundestag, und unsere Aufgabe ist es zunächst einmal, die Armut im eigenen Land zu bekämpfen, anstatt Menschen aus der ganzen Welt unsere Sozialleistungen zu gewähren.
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Deutschland braucht ein Ende der Nullzinspolitik, damit die Menschen wieder für ihr Alter vorsorgen können. Deutschland braucht ein Ende des Euro, der jedes Jahr Abermilliarden an Wohlstand vernichtet. Deutschland braucht ein Ende der angeblichen Arbeitnehmerfreizügigkeit, dank der jeder Scheinarbeitnehmer aus Osteuropa ins deutsche Sozialsystem einwandern kann. Und Deutschland braucht einen Ausstieg aus internationalen Zuwanderungsregelungen, die unserem Land ebenfalls nur massenhafte Einwanderung ins Sozialsystem bescheren.
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Wir könnten locker die Abgaben und Steuern deutlich senken und zeitgleich das Rentenniveau auf 60 Prozent anheben. Wir müssten nur Europa und der Welt klarmachen, dass wir nicht weiter bereit sind, in diesem Hohen Hause Regelungen umzusetzen, die unseren Wohlstand vernichten.
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Sie fragen sich doch so oft, wieso Menschen die AfD wählen.
({11})
Ich will es Ihnen gerne mal erklären: weil die arme Rentnerin aus dem Bayerischen Wald zu Recht sauer ist, wenn sie auf den Bus warten muss, der dreimal am Tag kommt, während die Asylbewerber nebenan auf Staatskosten mit dem Taxi abgeholt werden,
({12})
und weil einfache Arbeitnehmer oftmals schauen müssen, wie sie am Ende des Monats noch ihre Familie ernähren, während Clans wie die Goman Sozialleistungen in so großem Stil abzocken, dass sie sich sogar einen ganzen Fuhrpark von Luxusautos leisten können, und weil es Menschen wie in Duisburg-Marxloh unfassbar finden, dass der Staat es zulässt, dass der Wert ihrer Immobilien ins Bodenlose sinkt, weil die im Rahmen der europäischen Arbeitnehmerfreizügigkeit neu zugewanderten Nachbarn nicht arbeiten, sondern ihren Müll auf die Straße werfen und der ganze Stadtteil zur No-go-Area wird.
({13})
Wir haben, um das mal klar zu sagen, mit unseren Sozialleistungen Menschen nach Marxloh gelockt, die mit ihrem Verhalten dafür gesorgt haben, dass es dort nun Kakerlaken- und Rattenplagen gibt. Das ist nicht nur unsozial, sondern auch mit dem im Grundgesetz verankerten Recht auf Eigentum unvereinbar.
({14})
Die Menschen fühlen sich zu Recht von Ihnen allen im Stich gelassen; denn anstatt ihre berechtigten Klagen anzuhören – das sieht man auch heute hier wieder –, versuchen Sie, jede Diskussion mit der Rassismuskeule totzuschlagen.
({15})
Ja, es ist unsere Pflicht, der Armut in Deutschland den Kampf anzusagen. Das beste Rezept, um die Armut zu bekämpfen, ist, dass der Bundestag endlich nicht mehr wie ein willfähriger Erfüllungsgehilfe Brüssels agiert, sondern wie ein souveränes Parlament für die Interessen des deutschen Volkes. Daher fordern wir Sie auf: Kehren Sie von Ihrem Irrweg der Vergangenheit um! Handeln Sie endlich in diesem Sinne!
Vielen Dank.
({16})
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Daniela Kolbe.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es sehr wichtig, über Armut zu reden. Aber Sie gestatten mir, dass ich es etwas anders angehe, als gerade gehört.
({0})
Ich habe mich gefreut, dass das Thema auf der Tagesordnung steht. Ich war allerdings enttäuscht beim Lesen des Antrages; denn ich finde, dass er leider sehr viele Klischees erfüllt, die man von einem Antrag der Linken erwarten würde. Es ist eine sehr holzschnittartige Analyse, die Sie hier vorbringen. Kurz gefasst: Alles ist schlecht. Man muss nur ganz viel Geld in die Hand nehmen, und dann ist das Problem gelöst. – Das passt dann zwar auf knapp zwei Seiten, aber das wird dem Problem kaum gerecht.
({1})
Noch einmal: Wir haben ein Problem mit Armut in unserem Land, einem Land, dem es im Durchschnitt exzellent und sehr gut geht.
({2})
Aber im Durchschnitt war der Teich einen halben Meter tief, und der Gaul ist trotzdem ersoffen. Wer mit offenen Augen und mit offenem Herzen durch dieses Land geht, sieht die Probleme, und er sieht sie auch so stark, dass man sie eigentlich nicht ignorieren kann.
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Ja, wir haben einen sehr leistungsstarken Sozialstaat, der versucht, Armut abzufedern, Armut zu verhindern. Ihn müssen wir uns aber immer wieder anschauen, und an ihn müssen wir immer wieder mit kleinen und großen Reformen herangehen. Ich will Ihnen einige Beispiele nennen – sie sind längst nicht abschließend –, bei denen wir als SPD Nachbesserungsbedarf sehen.
Wir haben ein Bildungs- und Teilhabepaket, damit Kinder, deren Eltern es sich nicht leisten können, teilhaben können, etwa dass sie mit zur Klassenfahrt fahren können, dass sie Nachhilfe oder eben auch ein Mittagessen bekommen können. Wenn man sich die Zahlen anschaut – sie sind sehr schwer zu fassen –, dann sieht man, dass längst nicht jedes Kind, das berechtigt wäre, von diesen Leistungen profitiert. Das hat extrem viel damit zu tun, wo das Kind lebt und einen wie großen Zettelstapel man ausfüllen muss. Es scheint also damit zu tun zu haben, wie die Verwaltung das handhabt, also dass es viel zu oft sehr kompliziert ist, an diese Leistungen zu kommen. Ich finde es gut, dass wir als SPD ein Maßnahmenpaket gegen Kinderarmut auf den Weg bringen werden, das auch umfasst, dass wir das Bildungs- und Teilhabepaket vereinfachen, zum Beispiel beim Anspruch auf Mittagessen. Das tun wir dank der SPD.
({4})
Wir haben einen leistungsfähigen Sozialstaat. Wir zahlen Menschen Grundsicherung im Alter, wenn deren Rente nicht ausreicht. Aber ich zumindest kenne viele Menschen, die beantragen sie gar nicht, weil sie sich schämen oder weil sie Angst haben,
({5})
dass sie dann Versicherungen wie ihre Sterbeversicherung auflösen müssen, sie aber ihren Kindern nicht zur Last fallen wollen, wenn sie versterben. Diese verdeckte Armut ist beschämend, ebenso wie der Fakt, dass es vielfach Menschen betrifft, die ihr Leben lang, die jahrzehntelang gearbeitet haben. Für uns muss doch gelten: Wer sein Leben lang gearbeitet hat, muss mehr haben als derjenige, der nie gearbeitet hat, und er muss in Würde leben können.
({6})
Wir werden eine Grundrente einführen – dank der SPD –,
({7})
auch wenn wir uns über die Ausgestaltung hier im Hohen Haus mit Sicherheit streiten werden und womöglich auch innerhalb der Koalition. Aber noch einmal: Dank der SPD werden wir eine solche Grundrente einführen.
({8})
Wir haben einen leistungsfähigen Sozialstaat. Jeder Mensch hat einen Anspruch auf Existenzsicherung. Wir versuchen, die Menschen zu fördern, sie in Arbeit zu bringen. Aber wir sehen: Ganz viele bleiben in der Langzeiterwerbslosigkeit. Wir bekommen sie einfach nicht heraus. – Ich verwende das Wort „stolz“ selten, aber ich bin stolz darauf, dass wir als SPD 4 Milliarden Euro zur Verfügung stellen
({9})
und endlich den Passiv-Aktiv-Tausch ermöglichen werden, um diese Menschen zukünftig in Arbeit zu bringen und nicht in Maßnahmen.
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Wir haben einen leistungsfähigen Sozialstaat mit ganz tollen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jobcentern, die aber manchmal zu Hause oder im Bekanntenkreis gar nicht verraten, wo sie arbeiten. Wir verschicken mittlerweile Bescheide teilweise als Päckchen, weil sie so dick und so kompliziert sind, dass sie wirklich keiner mehr versteht.
Das sind Debatten, die über die dreieinhalb Jahre hinausgehen, die vor uns liegen; diese wird die SPD aber führen, weil wir glauben, dass wir uns den Sozialstaat genau ansehen müssen und in Teilen mit den Prinzipien von Hartz IV brechen müssen. Wir werden diese Debatte als SPD führen. Dabei werden Konzepte herauskommen, die sicher länger als zwei Seiten sind, aber sie werden viel mehr Gutes tun als der Zwei-Seiten-Antrag der Linken, über den wir heute hier diskutieren.
Danke fürs Zuhören.
({11})
Der nächste Redner für die FDP-Fraktion: Kollege Pascal Kober.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ja nicht so, dass es in Deutschland keine sozialen Herausforderungen gäbe. Aber Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, reden in Ihrem Antrag die Situation, die soziale Wirklichkeit in unserem Land, deutlich schlechter, als sie ist. Wenn Sie die Wirklichkeit so verzerrt darstellen, dann helfen Sie niemandem und verhindern, dass Sie auf kluge Lösungen kommen.
({0})
Noch weniger helfen allerdings Ihre politischen Forderungen. Wenn Sie einen politisch bestimmten Mindestlohn von 12 Euro fordern, ohne zugleich die Frage zu beantworten, ob dann auch die dadurch teurer werdenden Produkte und Dienstleistungen noch nachgefragt werden, spielen Sie Roulette mit den Arbeitsplätzen der Menschen
({1})
und verdrängen am Ende mehr Menschen von ihrem Arbeitsplatz, anstatt ihnen zu helfen.
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Das darf nicht geschehen, und deshalb bitten wir Sie, in Zukunft von solchen blumigen und fantasievollen Vorschlägen Abstand zu nehmen. Stellen Sie sich der sozialen Realität, stellen Sie sich aber auch der volkswirtschaftlichen Klugheit.
Wir wollen Menschen in Arbeit bringen, statt sie mit einem bedingungslosen Grundeinkommen einfach nur ruhigzustellen; denn ein Arbeitsplatz bedeutet immer auch soziale Teilhabe. Ein Arbeitsplatz ist mehr als nur Einkommen, und deshalb ist ein bedingungsloses Grundeinkommen, wie Sie es fordern, letztlich nichts anderes, als die Menschen abzuschreiben.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbstverständlich gibt es einen sozialpolitischen Handlungsbedarf. Da richtet sich mein Blick allerdings auf die Große Koalition. Was Sie im Moment diskutieren, geht auch aus meiner Sicht leider meilenweit an der Problemstellung vorbei. Im Moment sprechen Sie über ein neues Regelinstrument: 150 000 Personen wollen Sie in einem Sonderarbeitsmarkt fördern. Ich fürchte, Sie wollen die Menschen ausgliedern und sie letztendlich dort abstellen. Mit einem solchen Sonderarbeitsmarkt, der von der realen Arbeitserfahrung weit weg ist, verhindern Sie, dass die Menschen durch Qualifizierung im Arbeitsmarkt ihre Fähigkeiten erweitern können. Sie verhindern damit, dass die Menschen mit zunehmender Erfahrung und Bewährung in der Arbeitswelt in neue Jobs aufsteigen können und sich wirklich am Markt entfalten und Chancen nutzen können. Der Aufbau einer Sonderwelt, eines Sonderarbeitsmarktes, beruhigt vielleicht Ihre innerparteilichen Konflikte, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD; den Menschen, die Arbeit und Chancen suchen, hilft diese Form der Vergangenheitsbewältigung aber nicht.
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Besser wäre es, liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition, wenn Sie beispielsweise gegen die immer mehr zunehmende Bürokratie in den Jobcentern vorgehen würden.
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Mittlerweile werden knapp 1 Milliarde Euro von den Fördermaßnahmen abgezogen, um ausreichend Geld für die Verwaltung der Arbeitsuchenden zu haben. Das ist zu viel Geld; da ist etwas falsch am System. Es wäre richtig, da anzusetzen und nach Lösungen zu suchen.
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Besser wäre es beispielsweise auch, die Zuverdienstgrenzen zu erhöhen, damit den Menschen in Hartz IV, wenn sie arbeiten, von dem Geld mehr bleibt als nur 20 Cent pro verdientem Euro.
Besser wäre es auch, wenn man die Kommunen beim Ausbau der Kinderbetreuung noch besser unterstützen würde, damit sie noch flexiblere Betreuungszeiten anbieten können, damit weniger Menschen, die alleinerziehend sind, auf Hartz‑IV-Leistungen angewiesen sind.
Besser wäre es schließlich auch, wenn Sie durch konsequente Einführung des Passiv-Aktiv-Tauschs mehr Menschen als bisher eine Chance auf Qualifizierung im ersten Arbeitsmarkt ermöglichen würden. Wir lesen zwar in Ihrem Koalitionsvertrag, dass das ein Thema ist; aber anstatt die Länder an einen Tisch zu holen, um dieses Instrument wirklich durchzusetzen, kündigen Sie nur an, es zur Verfügung zu stellen. Umsetzen wollen Sie es letztlich nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Diskussionen der letzten Wochen innerhalb der Großen Koalition über einen sozialen Arbeitsmarkt und die Erhöhung von Hartz IV lassen leider befürchten, dass die kommenden vier Jahre verlorene Jahre im Kampf gegen Armut und für mehr Aufstiegsmöglichkeiten sein werden.
Vielen Dank.
({7})
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Strengmann-Kuhn für Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hartz IV schützt nicht vor Armut.
({0})
Wir haben in Deutschland 8 Millionen Menschen, die Grundsicherungsleistungen beziehen – das ist jeder Zehnte –; hinzu kommen mindestens 4 bis 5 Millionen Menschen, die einen Anspruch haben, sie aber nicht beziehen, die sogenannten verdeckt Armen. Das heißt, wir haben in Deutschland 12 bis 13 Millionen Menschen, die auf Hartz‑IV-Niveau oder darunter leben.
({1})
Armut ist ein Problem in Deutschland, und dagegen müssen wir was tun.
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Wir Grünen wollen selbstbestimmte Teilhabe für alle. Das heißt, wir wollen ein Deutschland ohne Armut.
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Armut vermeiden bedeutet übrigens mehr als Geld. Das ist ein Aspekt, der im Antrag der Linken völlig fehlt.
({4})
Wir brauchen Zugang zu Arbeit. Wir brauchen einen sozialen Arbeitsmarkt als Teil eines inklusiven Arbeitsmarktes.
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Wir brauchen inklusive Bildung. Wir brauchen gute Gesundheitsversorgung für alle. Zunehmend gibt es Menschen in Deutschland, die keine Wohnung haben. Ich finde es unerträglich, dass in Deutschland 50 000 Menschen auf der Straße leben müssen.
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Ein reiches Land wie Deutschland sollte es möglich machen, dass niemand auf der Straße leben muss.
({7})
Aber zur gesellschaftlichen Teilhabe gehört in einer Marktwirtschaft auch Geld. Deswegen müssen wir zusehen, dass das soziokulturelle Existenzminimum für alle staatlich garantiert wird; denn das ist ein Grundrecht und ein Menschenrecht.
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Das fängt bei der Grundsicherung an. Die Linke tönt immer: Hartz IV muss weg! Aber im Antrag steht nur: mehr Geld und Abschaffung der Sanktionen. – Das reicht nicht. Um nicht missverstanden zu werden: Der Regelsatz muss erhöht werden, und auch wir wollen die Sanktionen abschaffen. Wir haben just heute einen Antrag dazu eingebracht, in dem wir fordern, die Hartz-IV-Sanktionen abzuschaffen. Aber es braucht noch mehr. Die Grundsicherung muss vereinfacht und barrierefreier werden, wir brauchen mehr Rechte für die Arbeitslosen, damit es eine Vermittlung auf Augenhöhe gibt, wir brauchen einen sozialen Arbeitsmarkt und vieles mehr.
Trotzdem: Die Grundsicherung zu reformieren, reicht nicht; denn bedürftigkeitsgeprüfte Systeme sind aus mehreren Gründen immer problematisch. Wir haben immer verdeckte Armut, weil es Menschen gibt, die sie nicht in Anspruch nehmen, es ist fast immer mit Stigmatisierung verbunden, und – Herr Kollege Kober hat es eben schon angesprochen – durch die Anrechnung von Einkommen lohnt sich mehr Arbeit häufig nicht. Das liegt aber im System begründet, und das kann man in ihm kaum verändern. Eine Verbesserung der Grundsicherung ist zwar notwendig, aber das führt zu dem Dilemma, dass dann noch mehr Menschen Grundsicherung beziehen. Deswegen kann das alleine nicht die Lösung sein.
Für viele von uns ist eine Alternative das bedingungslose Grundeinkommen. Es ist eine Möglichkeit, eine finanzielle Grundlage für alle zu schaffen. Das Grundeinkommen ist übrigens keine bedarfsorientierte bedingungslose Grundsicherung. Dazwischen ist ein großer Unterschied. Das sind zwei unterschiedliche Dinge.
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Es gibt bei uns aber auch viele, die der Einführung eines Grundeinkommens skeptisch gegenüberstehen, die dagegen sind. Wir werden diese Diskussion offen, kontrovers und konstruktiv führen. Es ist wichtig, dass wir eine gesellschaftliche Debatte über die Alternativen führen, und wir Grüne werden diese Debatte führen.
({10})
Wir sind aber dafür, Leistungen zumindest für einzelne Gruppen zu schaffen, die das Existenzminimum ohne Bedürftigkeitsprüfung garantieren: Ich denke an die Garantierente, eine echte, nicht bedürftigkeitsgeprüfte Rente, nicht so eine verkappte Sozialhilfe wie bei den Linken,
({11})
oder die Kindergrundsicherung, die das Existenzminimum für alle Kinder sicherstellt. Solche Maßnahmen braucht es, um zu verhindern, dass die Menschen in Hartz IV abrutschen.
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Eine weitere Gruppe, die wir in den Blick nehmen sollten, sind die Erwerbstätigen. Über 1 Million Menschen beziehen Arbeitslosengeld II, obwohl sie erwerbstätig sind. Wir sollten uns die Frage stellen: Wie kriegen wir die aus dem Hartz-IV-Bezug? Der Mindestlohn sollte so hoch sein, dass keine Aufstockung notwendig ist. Das ist derzeit nicht überall der Fall. Deswegen muss der Mindestlohn steigen. Wir brauchen aber auch für Selbstständige oder teilzeiterwerbstätige Alleinerziehende Maßnahmen, damit die nicht in Hartz IV abrutschen; denn sie gehören eigentlich da nicht rein.
({13})
Wir brauchen insgesamt ein System von Garantieleistungen als Alternative zu Hartz IV: von einer besseren Grundsicherung über die Kindergrundsicherung bis zur Garantierente – das ist unsere Alternative.
Deutschland ist ein reiches Land, aber der Reichtum kommt nicht bei allen an. Wir sollten endlich mit dem Ausstieg aus der Armut beginnen. Armut? – Nein danke!
Vielen Dank.
({14})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Frank Heinrich von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Vorredner Herr Stracke von der CSU hat es zu Beginn der Debatte gesagt: Uns geht es in erster Linie um die Frage, wie man aus der Armut herauskommen kann. Für uns heißt das: Perspektiven schaffen. Der Weg geht über den Arbeitsmarkt. Es ist wichtig, Arbeit zu schaffen. In dieser Hinsicht ist tatsächlich viel gelungen. Das heißt aber nicht, dass wir prinzipiell leugnen, dass es an der einen oder anderen Stelle Armut in Deutschland gibt.
Ich möchte an dieser Stelle einige sehr persönliche Gedanken formulieren; denn meine Prägung steht mit Armut – zumindest mit der, über die wir hier reden –, den entsprechenden Instrumenten und Begriffen wie „relative Armut“ und „Armutsgefährdung“ in Verbindung. Ich selber hätte nach dieser Statistik mit meiner Familie zu 50 Prozent meiner Lebenszeit unter dieser Grenze gelegen. Das war mir in diesem Zeitraum nie bewusst. Ich würde mich auch nachträglich nicht als arm bezeichnen. Damit leugne ich nicht, dass das statistisch so war; aber es geht dabei um mehr Elemente als die finanzielle Ausstattung. Es ist nicht leicht, davon zu leben, aber möglich.
Später wurde ich – das hat vielleicht auch mit dieser Erfahrung zu tun – Heilsarmeeoffizier. Erst habe ich in der Heilsarmee als Sozialarbeiter gearbeitet und später bei der Heilsarmee die Ausbildung zum Theologen gemacht. In diesem Umfeld habe ich mich natürlich in erster Linie um diese Menschen in unserer Gesellschaft gekümmert. Ich habe in diesem Umfeld unter anderem zwei Tafeln gegründet. An dieser Stelle muss ich zu der ganzen Debatte über die Tafeln sagen: Den Zulauf bei den Tafeln und das Manko der Tafeln, nicht genug zum Verteilen zu haben, als Messinstrument für Armut in Deutschland zu nehmen, halte ich für ziemlich hanebüchen;
({0})
denn die Tafeln sind im Angesicht des Überflusses gegründet worden. Dieser Überfluss sollte denjenigen in unserer Gesellschaft zugutekommen, die weniger haben. Die Situation der Tafeln kann nur ein Indiz dafür sein, wie es um die Armut in Deutschland bestellt ist; aber einen Antrag darauf aufzubauen – Sie beziehen sich ja an mehreren Stellen auf die Tafeln –, halte ich für äußerst schwierig.
({1})
Wir sollten tatsächlich über die statistischen Instrumente diskutieren, wie Herr Strengmann-Kuhn es gesagt hat. Welche nehmen wir? Wir, die wir in diesem Bereich arbeiten, wissen alle: Wenn wir jedem in Deutschland 100 Euro mehr geben, haben wir danach gleich viel Arme in Deutschland.
({2})
Nach dieser mathematischen Berechnung, die von 60 Prozent bzw. 50 Prozent ausgeht, haben wir relativ gesehen gleich viel Armut in Deutschland.
Ein letzter Gedanke zu dem Ziel Ihres Antrags – ich habe mich mit dem Antrag beschäftigt; das war ja auch meine Aufgabe –: Unterstellen wir einmal, dass es Ihnen wirklich um die Kinder, die Alleinerziehenden, die älteren Menschen, die Menschen mit Behinderungen und die Langzeitarbeitslosen geht, die tatsächlich und nicht nur laut dieser Statistik in Armut sind. Das sind möglicherweise 20 Prozent – das ist jetzt eine aus der Luft gegriffene Zahl – von denen, die generell nach dieser Statistik arm sind. Das Ziel, die Menschen generell aus Armut zu befreien, teilen wir; aber wir kommen zu anderen Schlüssen. Wir wollen auf andere Weise Perspektiven schaffen, zum Beispiel, indem wir § 16h SGB II so formulieren, dass junge Leute aus dem ALG‑II-Bezug herausgeführt werden. Das wollen wir ganz konkret für eine Personengruppe formulieren.
Rechnen wir Ihre Forderungen einmal durch: Wenn wir tatsächlich Ihre Forderungen umsetzen, dann werden wir – jemand sprach vorhin von dem Preis, den man dafür zahlen muss – für die 20 Prozent, die wirklich Hilfe brauchen, die auf gut Deutsch tatsächlich in der Scheiße sitzen,
({3})
kein Geld übrig haben. Das ist nicht unser Weg. Damit würden Sie Ihrem eigenen Ziel, das Sie in Ihrem Antrag formuliert haben, nicht gerecht. Dann sind Sie blind für die wirklich Armen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Schmidt von der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Partei Die Linke, Sie haben uns mal wieder einen Bauchladenantrag vorgelegt. Der Nachteil eines solchen Antrags ist, dass er einen Bauchladen an Forderungen und Themen enthält – alle nur angerissen –, die einzeln schon diskutiert wurden
({0})
oder noch diskutiert werden, zusammengenommen allerdings noch lange kein Gesamtkonzept darstellen. Der Vorteil eines solchen Antrags ist, dass man sich gut ein Thema herausgreifen kann. Das möchte ich tun.
Das Thema heißt „Kinderarmut bekämpfen“, weil ich es beschämend finde, dass immer noch jedes siebte Kind in Deutschland in Armut groß wird.
({1})
Deswegen haben wir schon in der letzten Legislatur zahlreiche Maßnahmen beschlossen: Investitionen in die Kitas, in die Kommunen insgesamt, Erhöhung von Kindergeld und Kinderzuschlag, Arbeitsmarktprogramm für Alleinerziehende, Reform des Unterhaltsvorschusses. All das reicht aber definitiv noch nicht. Deswegen haben wir für diese Legislatur erneut ein Maßnahmenpaket zur Bekämpfung der Kinderarmut im Koalitionsvertrag beschlossen. Wir wollen den Kinderzuschlag zusammen mit dem Kindergeld auf 399 Euro, das sogenannte sächliche Existenzminimum, erhöhen. Wichtig ist – das ist schon gesagt worden –, dass wir dabei auch an den Bürokratieabbau denken; denn bisher nehmen nur 30 Prozent der Eltern ihr Recht auf Kinderzuschlag wahr, und das ist eines sozialen Rechtsstaates unwürdig.
({2})
Deswegen wäre es klug, den Kinderzuschlag gemeinsam mit dem Kindergeld auszuzahlen. Dann kann das nicht mehr passieren. Insgesamt wollen wir uns darum bemühen, die Beantragung sozialer Leistungen zu vereinfachen.
({3})
Ein weiterer Baustein, um den Menschen das Leben leichter zu machen, ist es, den Eigenanteil beim Mittagessen in Kitas und Schulen für einkommensschwache Kinder abzuschaffen und die Schülerbeförderung kostenlos zu gestalten.
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Allein für das Mittagessen fallen 20 Euro im Monat an, und für die Schülerbeförderung kommen 5 Euro obendrauf. 25 Euro sind für diese Familien nicht wenig Geld.
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Wir werden die Mittel für das Schulstarterpaket für arme Kinder, das für Ranzen und Material zu Schuljahresbeginn gedacht ist, aufstocken. Bisher erhält man 100 Euro. Der Kinderschutzbund erwartet 214 Euro. Über die Höhe werden wir noch diskutieren. Ich hoffe, dass wir zu einem guten Ergebnis kommen.
Ganz besonders wichtig am Koalitionsvertrag ist mir der Punkt, in dem es um die Nachhilfe für arme Kinder geht. Gerade arme Kinder haben es schwerer, aufzusteigen und ihr Potenzial zu entfalten. Bisher war es so, dass sie nur dann ein Recht auf Nachhilfe hatten, wenn sie davon bedroht waren, sitzen zu bleiben. Jetzt haben sie die Möglichkeit, auch dann unterstützt zu werden, wenn sie von der Haupt- auf die Realschule oder auf das Gymnasium wechseln wollen. Das ist ein kleiner, aber ganz wichtiger Punkt, der uns im Koalitionsvertrag gelungen ist.
({6})
Hinzu kommen: Ausbau und Qualitätsverbesserungen im Bereich der Kinderbetreuung, Abbau der Kitagebühren bis zur Gebührenfreiheit, Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule und viele Maßnahmen wie der hier schon vielzitierte soziale Arbeitsmarkt zur Bekämpfung der Elternarmut. Aber das reicht immer noch nicht. Deswegen werde ich mich weiter dafür einsetzen, perspektivisch zu einer Kindergrundsicherung zu kommen, die ein einheitliches kindliches Existenzminimum, und zwar für alle Kinder, garantiert.
({7})
Niemand darf wegen seiner Kinder arm werden. Jedes Kind muss uns gleich viel wert sein. Jedes Kind muss in einem der reichsten Länder der Welt gute und gleiche Startchancen in sein Leben haben. Kein Kind ist für seine soziale Lage selbst verantwortlich. Kein Kind kann sich allein aus seiner Armut befreien. Die meisten von Ihnen wissen aus vielen Debatten, Anhörungen und Studien, was Armut mit Kindern macht: Sie haben schlechtere Entwicklungschancen und öfter gesundheitliche Probleme, und sie werden mit der Erfahrung sozialer Ausgrenzung groß. Deshalb haben wir hier eine ganz besonders große öffentliche Verantwortung.
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Winston Churchill hat gesagt:
Eine Gemeinde kann ihr Geld nicht besser anlegen, als indem sie Geld in Babys steckt.
Lassen Sie uns aus der Gemeinde Deutschland und aus den Babys Kinder und Jugendliche machen, und wir wissen: Eine bessere Geldanlage gibt es nicht.
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Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kober, es geht hier nicht um das bedingungslose Grundeinkommen – überhaupt nicht.
({0})
Es geht darum, dass Kinder, Erwerbstätige, Rentnerinnen und Rentner ein Leben in Würde und ohne Armut führen können. Das ist das, was wir wollen. Sie wollen das überhaupt nicht.
({1})
Herr Stracke, ich muss Ihnen sagen: Für den Boom am Arbeitsmarkt, den Sie immer so schön hier anführen, zahlen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit niedrigen Löhnen.
({2})
Sie haben eine Spirale nach unten in Gang gesetzt, wodurch die Löhne immer niedriger geworden sind.
({3})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kober?
Ich war zwar gerade bei Herrn Stracke, aber gerne.
Frau Kollegin Zimmermann, habe ich in Ihrem Antrag richtig gelesen, dass Sie eine Mindestsicherung von 1 050 Euro fordern, dass Sie darunter also ein Leben in Würde und außerhalb von Armut verstehen, und wissen Sie, dass der Kollege Birkwald gerade vorgerechnet hat, dass die Armutsquote für einen Alleinstehenden, statistisch betrachtet, bei 1 064 Euro liegt, dass also die von Ihnen geforderte Mindestsicherung 14 Euro unterhalb der offiziellen Armutsquote liegt?
({0})
Vielen Dank, Herr Kober, für Ihre Frage. Aber ich glaube, Sie kennen den Unterschied zwischen bedingungslosem Grundeinkommen und Mindestsicherung nicht. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist – das sagt schon der Name – nicht vermögensgeprüft. Ein bedingungsloses Grundeinkommen bekommt sozusagen jeder.
Hier geht es darum, dass wir Armut bekämpfen. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Wenn Sie mit dieser Frage fordern, dass wir mehr als 1 050 Euro brauchen, dann gehen wir doch mit Ihnen mit, dann sagen wir: Natürlich!
({0})
Herr Kober, wenn die FDP 2 000 Euro fordert, dann bekommen Sie von uns die volle Unterstützung. Das will ich Ihnen an dieser Stelle sagen. – Vielen Dank.
({1})
Herr Stracke, um noch einmal bei Ihnen anzusetzen: Ihren Boom am Arbeitsmarkt – das sage ich ganz deutlich – bezahlen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Niedriglöhnen. Wir haben den größten Niedriglohnsektor in ganz Europa.
({2})
Das muss Ihnen doch zu denken geben. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Der Niedriglohnbereich stürzt viele Menschen in Armut.
Jetzt sind wir beim Thema – das sollten Sie sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen –;
({3})
denn die Armut in Deutschland – Kinderarmut, Altersarmut, Armut von Erwerbstätigen – nimmt zu. Ich weiß, dass Sie das nicht hören wollen, weil das gar nicht in Ihr Bild passt,
({4})
aber nehmen Sie doch endlich die Realität zur Kenntnis, dass es diese Armut bei uns in Deutschland gibt, und reden Sie das nicht immer weg.
Frau Kollegin, der Kollege Sichert von der AfD hätte noch eine Frage an Sie. Akzeptieren Sie das?
Ach – nein.
({0})
– Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Das Thema ist eigentlich nicht lächerlich. Ich finde es nicht in Ordnung, dass Sie sich hier so lustig machen.
({1})
Herr Stracke, ich will Ihnen einmal Ihre Bilanz aufzeigen: Bei uns in Deutschland leben 2 Millionen Kinder in Armut. Wir haben 2,9 Millionen Rentnerinnen und Rentner, die armutsbedroht sind, die armutsgefährdet sind, und das gilt auch für jeden zehnten Erwerbstätigen. Es ist doch eine Schande, dass es so etwas in einem so reichen Land wie Deutschland gibt. Da müssen Sie doch endlich aufwachen.
({2})
In der Armutsbekämpfung haben Sie in den letzten Jahren völlig versagt.
({3})
Daran müssen Sie sich mal machen.
({4})
Armut kann nämlich jeden treffen, zumindest jeden, der von seiner Arbeitskraft leben muss. Jeder kann in einem mies bezahlten Job landen. 3,2 Millionen Menschen bei uns arbeiten in einem Zweit- bzw. Drittjob. Das machen sie doch nicht, weil sie nicht wissen, wohin mit ihrer Zeit. Sie machen es, weil sie das Geld brauchen, und das ist eine Schande.
({5})
Es ist auch ein Skandal, dass es in einem so reichen Land wie unserem Kinderarmut gibt.
Egal ob Rot-Grün, Schwarz-Rot oder Schwarz-Gelb, sie alle haben den Sozialstaat systematisch kaputtgemacht. Regeln für gute Arbeit wurden abgeschafft, und seitdem hat sich nichts verbessert. Deshalb breitet sich die Armut aus; das sollten Sie endlich zur Kenntnis nehmen.
({6})
Wir brauchen einen Mindestlohn, von dem man ordentlich leben kann. Wir sagen: Schluss mit Ausbeutung und Schinderei, weg mit Minijobs und Leiharbeit. Sie müssen sich das mal vorstellen: Es gibt 1 Million Leiharbeiter. Sie bekommen 50 Prozent weniger als die Stammbelegschaften. Das ist doch ungerecht.
({7})
Und die sachgrundlosen Befristungen brauchen wir auch nicht.
Wir fordern: Niemand soll im Alter von weniger als 1 050 Euro netto im Monat leben müssen.
({8})
Wir brauchen eine solidarische Mindestrente und auch wieder eine Rentenversicherung, auf die man sich verlassen kann.
({9})
Zu dem Märchen, dass das alles nicht bezahlbar ist: Meine Damen und Herren, wer Milliarden für Rüstung übrig hat und Steuergeschenke an Unternehmen und Wohlhabende verteilt, der weiß auch, wie man Armut bekämpfen kann.
Denken Sie an Ihre Redezeit.
Ich komme gleich zum Schluss. – Die hohen Einkommen und Vermögen wachsen, und die Unternehmensgewinne sprudeln.
Frau Merkel sagt: Deutschland geht es gut. – Sorgen Sie endlich dafür, dass es allen Leuten in Deutschland gut geht und sich die hohe Armut nicht weiter ausbreitet! Ich denke, das ist ganz wichtig. Armut ist das wichtigste Thema für die Zukunft.
Danke.
({0})
Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen Martin Sichert von der AfD-Fraktion.
Frau Kollegin, Sie haben gerade gesagt, Sie würden eine Mindestsicherung von 2 000 Euro gerne mittragen. Das durchschnittliche Nettoeinkommen aller Arbeitnehmer in Deutschland liegt bei 1 893 Euro. Sie wollen jetzt eine Mindestsicherung von 2 000 Euro. Wie wollen Sie das all den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erklären, und wo wollen Sie das Geld hernehmen, um eine Mindestsicherung von 2 000 Euro zu finanzieren?
({0})
Wollen Sie antworten, Frau Kollegin?
({0})
Dann erteile ich dem Kollegen Professor Dr. Matthias Zimmer von der CDU/CSU-Fraktion als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Dagmar Schmidt hat Churchill zitiert. Ich darf mit einem Zitat von Abraham Lincoln anfangen, das besagt: „Jedes Haus, das in sich uneins ist, wird nicht bestehen.“ Es ist richtig, dass dies auch für die Frage von Einkommens- und Vermögensverteilungen gilt, wenngleich ich hier für Alarmismus wenig Anlass sehe; einige Vorredner sind darauf bereits eingegangen.
Lincoln macht aber auf den großen Wert gesellschaftlichen Zusammenhalts aufmerksam. Ja, dieser ist auch eine Quelle des Reichtums einer Gesellschaft. Aber hier sind wir in der Tat verarmt. Wir haben eine Partei in unserer Mitte, genauer gesagt am rechten Rand, die nicht das Gemeinsame, den Reichtum beschwört, sondern das Trennende. Sie pflegen ein Denken in Freund-Feind-Kategorien. Ihr Populismus lebt davon, sich selbst in einer Geste gegen den Pluralismus als das Allgemeine zu verkaufen.
Sie grenzen aus: Ausländer, Deutsche falschen Glaubens, den Feminismus, die Gutmenschen, Gewerkschafter, LGBTI, ja alles irgendwie Undeutsche. Richtig an dieser Ausgrenzung, meine Damen und Herren, ist nur eines: dass jeder anständige Demokrat in Deutschland diesen Kündern des inneren Bürgerkriegs den Kampf ansagen muss.
({0})
Arm ist Ihr Verständnis von Kultur. Spricht man über Bachmann, denken Sie nicht an die Dichterin der leisen Worte, sondern an den Lautsprecher aus der Unterwelt des Ostens,
({1})
dessen Rücksichtslosigkeit und Brutalität Sie bewundern. Sie wollen sein wie er. So stellen Sie sich die konservative Revolution vor: kalt, radikal, ohne Mitleid.
({2})
Derjenige, der es besser wissen müsste, der eigentlich Maß und Mitte als konservative Grundwahrheiten verteidigen müsste, der auch weiß, wie Stil und Haltung als kultureller Reichtum eines Landes den wahren Konservativen immer geprägt und vom Barbaren abgegrenzt haben, lässt sie gewähren. Er stilisiert sich dabei als den leisen Melancholiker, als gealterten Jüngling der nationalen Erneuerung.
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Und doch denkt man hier weniger an Karl Gutzkow und Heinrich Heine, sondern eher an Wolf Biermanns Ballade von den verdorbenen Greisen.
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Die moralische Armut, der Sie uns aussetzen, wird deutlich, wenn Sie Ihren Fantasien freien Lauf lassen, wenn Sie sogenannte „linksextreme Lumpen“ von der Universität in die Produktion stecken wollen, wenn Sie eine Staatsministerin für Integration in Anatolien entsorgen wollen, wenn Sie von „Schmarotzern“ und „Parasiten“ faseln, die das deutsche Volk verseuchen,
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wenn Sie für die „grünen Bolschewisten“ eine „Grube ausheben“ und darauf Löschkalk kippen wollen. Nein, diesen Hass kann man nicht erfinden. Man kann ihn nicht ignorieren. Sie fluten uns tagtäglich mithilfe Ihrer digitalen Schwadronen damit.
({6})
Mit einem Mal, meine Damen und Herren, wird klar, was Karl Kraus meinte: „Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.“ Jedes Tabu wird gebrochen, bis man glaubt, Sie könnten es nicht ernst meinen. Und doch ist es Ihnen todernst mit dem, was Sie wollen. Todernst ist keine Phrase. Man ahnt, was wird, wenn es zu einem Wettlauf von Wort und Tat kommt. Hinter Ihrer Rede steckt der Wille zur Tat; der Wille, das Denken in Lagern zur blutigen Wirklichkeit werden zu lassen.
({7})
Ja, lassen Sie uns im Deutschen Bundestag über Arm und Reich diskutieren – über die, die lediglich reich an Hass und Häme sind, arm aber an bürgerlichen Tugenden. Lassen Sie uns über die reden, die den Deutschen gegen den Ausländer, den Christen gegen den Moslem, den Armen gegen den Reichen, die Jungen gegen die Alten und alle gegen unseren Staat und unsere Grundwerte aufzuhetzen versuchen. Lassen Sie uns darüber reden, was eine offene Gesellschaft auszeichnet, welche Formen der affektiven Selbstkontrolle, Haltung und Werteorientierung mit dem Begriff des Konservativen einhergehen. Lassen Sie uns die gute Ordnung, für die zumindest ich kämpfe, mit der Zumutung vergleichen, die von der rechten Seite des Hauses ausgeht.
Lassen wir nicht zu, dass das Deutsche auf Missgunst, Ausgrenzung und Menschenfeindlichkeit reduziert wird. Lassen Sie uns stattdessen über ein Deutschland reden, wie ich es sehe: weltoffen, europäisch, ein Ort der Chancen, ein Ort der Kultur und des Miteinanders, ein Land, dessen Reichtum genau darin liegt und dessen Armut in einer Geisteshaltung gründet, wie sie von der rechten Seite mit geradezu völkischer Inbrunst vertreten wird.
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Schon einmal hat uns diese Denkweise ins Verderben gestürzt. Schon einmal ist aus Hass Ausgrenzung und Hetze,
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aus der Armut des Geistes
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bittere materielle Armut für das deutsche Volk geworden. Nie wieder! Nie wieder!
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Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1687 an den Ausschuss für Arbeit und Soziales vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute geht es um die Ausbildungsmission der Europäischen Union in Mali, mit der die Grundlagen dafür geschaffen werden sollen, dass die malischen Sicherheitskräfte in Zukunft weniger auf Hilfe von außen angewiesen sind und MINUSMA ihre militärische Verantwortung nach und nach an die malischen Streitkräfte abgeben kann.
Drei Dinge zeichnen die Ausbildungsmission der Europäischen Union in Mali in besonderer Weise aus. Erstens leistet die Mission einen ganz zentralen Beitrag zur Stabilisierung der südlichen Nachbarschaft Europas. Zweitens zielt sie konsequent darauf, den Zusammenhalt und die Eigenverantwortung im Sahel zu stärken. Und drittens ist unser Engagement in Mali ein gelungenes Beispiel für einen integrierten und umfassenden Gesamtansatz, der zivile Elemente auf der einen Seite mit militärischen Komponenten auf der anderen Seite verbindet.
Mali ist aufgrund seiner Lage und aufgrund seiner Verbindungen zu den Nachbarstaaten zentral für die Stabilität der gesamten Sahelregion. Kommt es dort zu Fehlentwicklungen wie der Ausbreitung von Islamismus, organisierter Kriminalität oder zur Schleusung von Menschen, betrifft uns das in Europa schnell und spürbar. Das haben wir in den letzten Jahren angesichts der Migrationsbewegungen dann auch erfahren können.
Ich erinnere daran, dass Mali 2012 kurz davor stand, von radikalen Islamisten überrannt zu werden. Nur das schnelle Eingreifen zunächst Frankreichs, dann der internationalen Gemeinschaft auf Bitten der malischen Übergangsregierung konnte dies verhindern. Seither wurden bei der Stabilisierung Malis einige Fortschritte erzielt.
Dennoch bleibt unser Einsatz für die Stabilität Malis und der Sahelregion notwendig, gerade jetzt vor den dortigen Wahlen und angesichts einer nach wie vor prekären Sicherheitssituation.
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Die fünf Sahelstaaten Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad haben sich nun zu den sogenannten G 5 Sahel zusammengeschlossen. Die Einrichtung einer gemeinsamen Einsatzgruppe der G 5 ist eine sehr positive und auch von uns und der Europäischen Union geförderte Entwicklung. Die Einsatzgruppe ist vor allem gerichtet auf die Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität im Sahelraum. Bislang waren in diesem Bereich vor allem die Vereinten Nationen, die Europäische Union und Frankreich aktiv. Es ist von elementarer Wichtigkeit, dass sich künftig auch eine in der Region entstandene Struktur den Herausforderungen stellen wird.
Seit 2016 gibt es nun eine erste beratende Begleitung der G-5-Einsatztruppe durch EUTM Mali. Jetzt gilt es, die nächsten Schritte auf diesem Weg zu gehen. EUTM Mali wird den Aufbau von Fähigkeiten der G-5-Einsatztruppe verstärkt unterstützen, indem Berater der Mission künftig in die Hauptquartiere der gemeinsamen Einsatzgruppe der G 5 in Mali, Niger, Mauretanien und Tschad entsandt werden.
Meine Damen und Herren, EUTM Mali komplementiert damit, was wir mit den Partnern im Rahmen von MINUSMA bereits leisten. Mit maßgeschneiderten Stabilisierungs- und Entwicklungsmaßnahmen tragen wir außerdem dazu bei, dass staatliche Strukturen im Zentrum des Landes und damit die Daseinsvorsorge gestärkt werden. Wir investieren darüber hinaus gezielt in Versöhnungsprojekte und Krisenprävention, um überwundene Konflikte aufzuarbeiten und erreichte Fortschritte zu konsolidieren, und tun alles dafür, dass die Menschen dort auf Sicht ihre Angelegenheiten selber in die Hand nehmen können. Für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger Malis sind außerdem Fortschritte beim Aufbau einer bürgernahen Polizei essenziell. Wir fördern deshalb die Ausbildung der Polizei in Mali durch die europäische zivile Polizeimission EUCAP Sahel Mali. Damit folgen wir der Grundüberzeugung, dass organisierte Kriminalität nicht ausschließlich militärisch bekämpft werden soll und militärisch bekämpft werden kann.
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Deutschland wird ab November die Führung der EU-Ausbildungsmission und damit weitere Verantwortung übernehmen. Die deutsche Unterstützung für Mali wird an diesem Beispiel noch einmal ganz besonders deutlich werden. Wir finden, Mali hat Fortschritte gemacht. Aber Mali braucht auf dem Weg der Stabilisierung weitere Unterstützung. Dazu leistet EUTM Mali einen ganz besonders wichtigen Beitrag. Deshalb bitte ich Sie erneut um Ihre Zustimmung zur Fortsetzung unserer Beteiligung.
Herzlichen Dank.
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Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Rüdiger Lucassen.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! EUTM Mali ist in den Augen der Bundesregierung für die sogenannte Nachhaltigkeit zuständig, in einem Land, das fast viermal so groß ist wie Deutschland. MINUSMA soll stabilisieren. EUTM Mali soll örtliche Kräfte ausbilden, die dann irgendwann einmal selbst stabilisieren. Ein solcher komplementärer Ansatz kann theoretisch funktionieren, aber sicherlich nicht so, wie es sich die Bundesregierung vorstellt.
Seit fünf Jahren bemühen sich deutsche Soldaten redlich, die Streitkräfte Malis einigermaßen auf Stand zu bringen. Herr Außenminister, Sie haben eine ganze Reihe von Erfolgen aufgelistet. Das Verteidigungsministerium behauptet, dass 10 300 malische Soldaten ausgebildet wurden. Das wären 60 Prozent des gesamten Heeres dieses Landes. Wenn dem so ist: Müssten dann nicht bereits deutliche Verbesserungen in der Sicherheitslage erkennbar sein? In Ihrem Antrag geben Sie die Antwort. Sie lautet: Nein. – Ich zitiere:
Die Sicherheitslage hat sich … insgesamt verschlechtert.
Und:
Die malischen Streitkräfte sind aufgrund ausgebliebener struktureller Reformen … nur sehr eingeschränkt in der Lage, diesen Herausforderungen zu begegnen.
Die Bundesregierung bescheinigt sich in diesem Antrag also ihr eigenes Versagen in Mali, will aber genauso weitermachen wie bisher. Jetzt wäre die Stunde für dieses Parlament gekommen, sich auf seine eigene Rolle zu besinnen und der Regierung zu sagen: Stopp, so nicht!
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Der Auftrag der deutschen Soldaten in Mali ist unter anderem die Beratung des malischen Verteidigungsministeriums und der operativen Führungsstäbe. Genau dort müssten also strukturelle Reformen greifen – tun sie aber nicht. Warum nicht? Sind die Beratung und die Ausbildung falsch? Ist der gesamte Ansatz der Bundesregierung bei diesem Einsatz falsch? Oder liegt es etwa an den afrikanischen Partnern, die mit dem, was dort vermittelt werden soll, einfach nichts anfangen können?
Ich stelle fest: Der Einsatz funktioniert nicht. Das liegt nicht an den Männern und Frauen in unseren Streitkräften, sondern an dem falschen konzeptionellen Ansatz der Bundesregierung.
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Wie bei jedem anderen Einsatz der Bundeswehr legt die Regierung auch bei EUTM Mali größten Wert auf den sogenannten vernetzten Ansatz. Die Grünen sind von dieser Worthülse ja schon fast abhängig. Sie ist so etwas wie das Propofol für die eigene Basis. So kann man den altersschwachen Ostermarschierern sagen: Nein, um Gottes willen. Wir schicken nicht nur Militär, wir leisten auch unheimlich viel zivile Aufbauhilfe.
Doch stimmt das? Heute debattieren wir nur über die Aufgaben der Bundeswehr vor Ort. Doch was macht eigentlich das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Mali? Das wäre ja das entscheidende Ressort, wenn es um die oft zitierte Bekämpfung von Fluchtursachen geht. Wo sind die Erfolge? Antwort: Nicht existent. – Eine Art hauseigene Geldverteilungsmaschine des BMZ, die GIZ, ist mit über 260 Mitarbeitern in Mali vor Ort. Was haben diese Leute bisher erreicht? Die Antwort gibt es wieder im Antrag der Bundesregierung. Ich zitiere – hören Sie einfach zu –:
Zudem mangelt es an grundlegenden sozioökonomischen Perspektiven für weite Teile der Bevölkerung.
Also auch hier Schulnote „ungenügend“; Versetzung in die nächste Mandatsverlängerung nicht möglich.
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Die Bundeswehr ist seit fünf Jahren in Mali stationiert, die deutsche Entwicklungshilfe bereits seit 58 Jahren. Nach über einem halben Jahrhundert technischer und finanzieller Hilfe lautet das Ergebnis: Mangel an grundlegenden Perspektiven für weite Teile der Bevölkerung. Ich sage Ihnen: Die gesamte deutsche Entwicklungshilfe gehört auf den Prüfstand.
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Bei EUTM Mali bleibt die Regierung ihrer Linie treu. Es gibt keine tragfähige Strategie, keine definierten politischen Ziele und deshalb auch keine Erfolgsaussichten. Der Aufwand, den die Bundeswehr betreiben muss, steht in keinem angemessenen Verhältnis zum Ergebnis. Sie wollen keinen robusten Einsatz gegen Terror, gegen Kriminalität und gegen irreguläre Migration, weil Sie die Risiken scheuen. Stattdessen wurschteln Sie seit Jahren herum und binden dadurch Kräfte, die vor allem in der Landes- und Bündnisverteidigung fehlen. Das muss aufhören. Deswegen wird die AfD dem Antrag auf Mandatsverlängerung nicht zustimmen, der Überweisung schon.
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Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Peter Tauber.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was exportiert Deutschland? Maschinen? Autos? Nein, das wäre zu wenig. Ich sage Ihnen am Beispiel unseres Ausbildungseinsatzes in Mali, was wir exportieren: Wir exportieren Vertrauen.
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Denn Deutschland ist ein verlässlicher Partner der Vereinten Nationen und ein verlässlicher Partner Malis und der afrikanischen Länder, mit denen wir zusammenarbeiten.
Ich höre die Zurufe von links – man ruft unter anderem „Waffen“ –, und ich höre das Lachen von ganz rechts. An einer Stelle werden Sie sich irgendwann entscheiden müssen und nicht nur – und das meistens laut – reden können.
Man kann die Haltung vertreten, wie Sie es tun, und sagen: Wir gehen und überlassen Mali und die Menschen dort ihrem Schicksal. – Dann negiert man aber, dass die meisten Menschen in diesem Land sich diese Situation nicht gewünscht und nicht ausgesucht haben.
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Es ist in Ländern mit einer instabilen politischen Ordnung meist so, dass Despotismus auf dem Rücken der Menschen ausgetragen wird; es ist nicht so, weil sie es sich wünschen. Wenn man zu diesem Entschluss kommt, darf man aber nicht im nächsten Atemzug in lautes Wehklagen darüber ausbrechen, dass man nicht genug tut, um Fluchtursachen zu bekämpfen, und dass Millionen Menschen ihre Hoffnung woanders als in ihrem Land suchen.
Die Antwort auf diese Frage können Sie bei der Haltung, die Sie hier vertreten haben, nicht geben.
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Deswegen bleibt es dabei – das ist richtig; das hat auch der Außenminister gesagt –: Die Situation in Mali ist extrem schwierig. Sie ist leider nicht besser geworden, sondern in manchen Bereichen schlimmer. Das erkennen wir, wenn wir uns die Strukturen im Land anschauen, wenn wir uns fragen: Was geschieht dort demnächst, wenn Wahlen sind? Aber gerade weil das so ist, muss man sich die Frage stellen, ob das, was auf den Weg gebracht worden ist, fortgesetzt werden muss.
Wir haben inzwischen insgesamt circa 11 600 malische Soldaten mithilfe der Bundeswehr ausgebildet. Gerade weil die Sicherheitslage weiter instabil ist, weil dieses Land weiter vom Terrorismus und von Konflikten der verschiedenen Volksstämme bedroht ist, muss dieses Engagement fortgesetzt werden. Wir tragen damit auch zur Stabilität der Sahelzone insgesamt bei; denn Mali ist ein Schlüsselstaat und entfaltet Wirkung über die Landesgrenzen hinweg.
Natürlich: Nur der Einsatz des Militärs wird es nicht richten. Es braucht diplomatische Bemühungen. Es braucht Entwicklungszusammenarbeit. Man kann sich hinstellen und den vernetzten Ansatz – das ist ein Wort, das die meisten Menschen zum ersten Mal hören, wenn sie sich mit dem Thema beschäftigen – ins Lächerliche ziehen. Aber ich persönlich glaube: Dazu gibt es keine Alternative. Jeder Soldat, der als Staatsbürger in Uniform in diesen Einsatz geht, wird erwarten, dass die Politik etwas tut, damit danach eine friedliche, eine politische, eine diplomatische Lösung seinen Einsatz rechtfertigt. Deswegen führt am vernetzten Ansatz – ein abstraktes Wort – kein Weg vorbei. Es ist wichtig, dass wir das gemeinsam mit unseren europäischen Partnern tun, dass wir einen Beitrag leisten.
Was geschieht aktuell? Die Bundeswehr trägt zur Ausbildung und Beratung der malischen Streitkräfte bei, und dies mit einer hohen Zahl. Aktuell sind wir mit circa 170 Soldatinnen und Soldaten vor Ort. Anfangs haben wir die malischen Soldaten selbst ausgebildet. Jetzt fungieren Soldaten der Bundeswehr als Ausbilder der Ausbilder.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?
Nein.
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– Sie werden es verschmerzen. Wir haben es schon im Ausschuss diskutiert. – Diese wiederum trainieren ihre Soldaten unter unserer Anleitung und Hilfe. Die Rückmeldung, die unsere Soldaten bekommen, sind Dankbarkeit der malischen Kräfte, die wir ausbilden, und Wertschätzung.
Natürlich ist Ausbildung nicht mit Ausbildung vergleichbar. Auch Sie werden wissen, dass wir dort über andere Fragen und Herausforderungen reden, als wenn wir über die Ausbildungsstruktur für unsere eigenen Soldaten sprechen.
Man kann sagen: In Mali ist nicht alles gut, und durch unseren Einsatz wird auch nicht automatisch alles gut, aber ohne uns wäre vieles schlechter. Wir haben die Aufgabe, Hoffnung nicht zu zerstören, sondern zu geben. Unser Einsatz, gemeinsam mit vielen anderen, leistet dazu einen kleinen Beitrag. Deswegen bitte ich Sie um Zustimmung.
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Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Ulrich Lechte.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! In der letzten Sitzungswoche hatten wir hier im Plenum bereits über die UNO-Mission in Mali gesprochen. Heute geht es um die kleinere Schwestermission der Europäischen Union. Die Beratungen sind zwar getrennt, aber es macht Sinn, beide Missionen zusammen zu betrachten. Addiert man die Obergrenzen beider Mandatstexte – 1 100 plus 350 –, so beantragt die Bundesregierung die Entsendung von bis zu 1 450 Soldaten und Ausbildern nach Mali. Das ist die größte Präsenz von Bundeswehrsoldaten im Ausland – noch vor Afghanistan –, und das unterstreicht, wie wichtig uns allen die Stabilisierung Malis ist. Wir von den Freien Demokraten begrüßen es ausdrücklich, dass Deutschland hier seiner Verantwortung als wichtiges Mitglied der internationalen Gemeinschaft nachkommt.
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Bei der EU Training Mission Mali hatte Deutschland bereits 2015 und 2016 den Missionskommandeur gestellt. Derzeit übernimmt Spanien diese Aufgabe, aber ab Ende November 2018 soll Deutschland erneut den Missionskommandeur stellen. Die Anhebung der Mandatsobergrenze von 300 auf 350 macht in diesem Zusammenhang ebenfalls Sinn. Ebenso ist die Ausdehnung des Mandatsgebietes sinnvoll. Künftig soll die Bundeswehr zusätzlich außerhalb Malis in den Hauptquartieren der G-5-Saheltruppe in Niger, Mauretanien und Tschad ausbilden und beraten können – also in allen G-5-Staaten außer Burkina Faso.
Dies ist auch sinnvoll, weil wir es nicht mit einer lokal begrenzten Rebellion im Norden Malis zu tun haben, sondern mit grenzüberschreitendem islamistischem Terrorismus, der den Frieden in der ganzen Region gefährdet. Vor gut einem Jahr erfolgte der Zusammenschluss mehrerer terroristisch-islamistischer Gruppen zur Terrorallianz JNIM. JNIM verübt seitdem vermehrt Anschläge. Daher ist die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der G-5-Staaten der richtige Ansatz, um auf die Bedrohungen zu reagieren. Im Rahmen von EUTM Mali trainieren wir die Streitkräfte dieser Länder. Nur darum geht es, nicht um die direkte Beteiligung an Kampfhandlungen.
Auch über die Sahelzone hinaus ist die regionale Zusammenarbeit in Westafrika sehr beachtlich. Die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS hat ein hohes Ausmaß an regionaler Integration, das es sonst so nirgendwo anders in Afrika gibt. Es ist ein Vorzeigeprojekt, dessen Erfolg umso wichtiger für ganz Afrika ist. Wir dürfen nicht erlauben, dass der internationale islamistische Terrorismus in dieser Region weiter Fuß fasst, sie destabilisiert und damit auch uns hier in Europa bedroht.
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Wir müssen uns alle vergegenwärtigen, dass Mali im Norden an Algerien grenzt, und Algerien ist nun mal als Mittelmeeranrainer ein südliches Nachbarland der EU. Es geht hier also um die Befähigung zur Bekämpfung von islamistischem Terrorismus und organisierter Kriminalität, wie zum Beispiel Menschenhandel und Menschenschmuggel. Das ist nützliche Nachbarschaftshilfe, die wir gerne leisten. Hierzu bedarf es Hilfe zur Selbsthilfe, aber auch wirtschaftlicher Entwicklung und der Schaffung von Zukunftsperspektiven für das so von jungen Menschen geprägte Afrika. Wir müssen unseren Beitrag leisten, damit dieser Kontinent in die Lage versetzt wird, an der Globalisierung und den Chancen des 21. Jahrhunderts in vollem Umfang zu partizipieren.
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Dem rasanten Bevölkerungszuwachs – plus 800 Millionen in der Prognose allein für das 21. Jahrhundert; das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen, denn das sind mehr Menschen, als in Europa leben – zu begegnen, ist eine Herkulesaufgabe. Wir müssen dafür sorgen, dass sie von Afrika in irgendeiner Weise bewältigt werden kann. Wir haben da eine moralische und eine menschliche Verpflichtung. Nach Jahrhunderten der Ausbeutung sind wir das diesem aufstrebenden Kontinent wohlgemerkt mehr als schuldig.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Die Linke spricht die Kollegin Christine Buchholz.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit fünf Jahren ist die Bundeswehr nun in Mali. Anfangs hieß es, es gehe um die Unterstützung der französischen Armee, um den Vormarsch einiger Hundert Dschihadisten auf die Hauptstadt Bamako zu stoppen. Das ist geschehen, doch die deutschen Soldaten sind geblieben. Mehr noch: Die Große Koalition hat die Einsätze in Mali beständig ausgeweitet und zu einer zentralen Intervention in Afrika gemacht.
Wir sagen: Bei den Einsätzen geht es nicht um Mali oder die malische Bevölkerung. Es geht im Wesentlichen um zweierlei: zum einen darum, die Interessen der deutschen Wirtschaft in der rohstoffreichen Region mit einer militärischen Dauerpräsenz zu sichern, und zum anderen um Flüchtlingsabwehr. Beides hat mit den edlen Motiven, die hier von der Regierungsbank geäußert werden, nichts zu tun.
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Wir diskutieren jetzt den Bundeswehreinsatz im Rahmen der europäischen Ausbildungsmission EUTM Mali. Aber der Name täuscht. Längst werden nicht mehr nur malische Soldaten ausgebildet, sondern auch die Soldaten von vier anderen Sahelstaaten. Dafür will die Bundesregierung nun erneut das Einsatzgebiet der Bundeswehr ausweiten, und zwar auf die Sektorhauptquartiere der neuen G-5-Saheltruppe in Niger, Mauretanien und Tschad – wohlgemerkt der Tschad, der seit nahezu 30 Jahren von dem allmächtigen Generalleutnant Idriss Déby beherrscht wird.
EUTM Mali erweist sich als eine Militärmission zur Stabilisierung von Regierungen, die häufig korrupt, manchmal direkt diktatorisch sind. Das ist eine Außenpolitik, gegen die sich Die Linke stellt.
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Es waren übrigens Frankreich und Deutschland, die auf die Bildung dieser sogenannten G-5-Truppe aus fünf Staaten gedrängt haben. Die EU wird einen Großteil des künftigen Jahresetats von bis zu 400 Millionen Euro bereitstellen. Doch: Mehr Militär ist wirklich das Letzte, was diese bitterarmen Menschen in der Sahelzone brauchen.
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Dort operieren bereits – ich zähle auf – die französische Kampfoperation Barkhane, amerikanische Spezialkommandos, die UN-Truppe der MINUSMA und schließlich die europäischen Militärausbilder. Mit der G-5-Truppe kommt nun eine fünfte internationale Armee dazu. Und das bezeichnet die Bundesregierung in ihrem Antrag ernsthaft als – Zitat – „Schlüssel zur Stabilisierung des Sahelraums“? Das ist doch blanker Unsinn. Die neue Saheltruppe stellt nichts anderes dar als die von Europa vorangetriebene Militarisierung der Sahelzone.
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Deswegen darf diese Truppe nicht durch uns finanziert und auch nicht durch EUTM Mali ausgebildet werden.
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Zu mehr Sicherheit haben die internationalen Militärinterventionen übrigens auch nicht geführt. Herr Maas, wenn Sie hier sagen, dass das bisher ein gelungener Einsatz war, dann bitte ich um eine ehrliche Bilanz. Mittlerweile hören wir wöchentlich von Anschlägen und Entführungen. Die malische Armee, die von der Bundeswehr ausgebildet wird, ist ein Teil des Problems und nicht ein Teil der Lösung.
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Erst vor zwei Monaten wurden in der Region Mopti die Leichen von sechs Personen gefunden, die Tage zuvor von der Armee festgenommen worden sind. Amnesty International beklagt zahlreiche ähnliche Übergriffe durch malische Soldaten, die sich vornehmlich gegen die Ethnie der Peul richten. Wir sagen: Wer eine Armee weiter ausrüstet, berät und militärisch ausbildet, die solche Übergriffe begeht, macht sich mitverantwortlich.
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Es ist gut, dass sich in Mali aktiver Widerstand gegen die eigene Regierung, aber auch gegen die internationale Militärpräsenz regt. Dieser Widerstand wird stärker. Im Januar kam es in der Hauptstadt Bamako zu einer Demonstration, bei der der Abzug der französischen Armee gefordert wurde. Die Polizei löste die Demonstration gewaltsam auf.
Es ist dieser Protest, der unsere Unterstützung verdient – nicht die malische Regierung, nicht ihre Armee oder Polizei. Also, ziehen Sie endlich die Bundeswehr aus Mali ab.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Agnieszka Brugger, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sicherheit, Stabilität und Frieden sind in Mali wahrlich keine Selbstläufer. Seit 2013 bildet die Europäische Union im Rahmen einer Ausbildungsmission die malischen Streitkräfte aus. Ungefähr genauso lange begleiten die Vereinten Nationen im Rahmen der Friedensmission MINUSMA dort den politischen Prozess bei der Umsetzung des Friedensabkommens. Man muss trotzdem feststellen: Nach so vielen internationalen Bemühungen bleibt die Sicherheitslage sehr ernst, teilweise hat sie sich sogar verschlechtert.
Wenn wir heute zum sechsten Mal dieses Mandat für einen Einsatz in Mali beraten, dann müsste eigentlich die Frage nach der Wirksamkeit im Mittelpunkt stehen. Wir erwarten von der Bundesregierung endlich Antworten auf die vielen berechtigten kritischen Fragen nach der Rolle der Milizen, nach der Sicherheitslage und nach den Gründen für das Stocken des Friedensprozesses.
Jetzt rächt sich, dass Sie jahrelang nicht auf uns Grüne gehört haben. Wir haben bei allen Militäreinsätzen gefordert, dass eine unabhängige, eine kritische und eine ehrliche Evaluation durchgeführt wird;
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denn nur so kann man Fehler erkennen und die richtigen Schlüsse für diese, aber auch für andere Missionen daraus ziehen.
Meine Damen und Herren, was tut aber jetzt die Bundesregierung? Statt die notwendigen Verbesserungen auf den Weg zu bringen, ergänzen Sie ein im Kern durchaus sinnvolles Mandat um eine hochproblematische Komponente. Sie war bereits in den älteren Mandaten angelegt und in abgeschwächter Form enthalten, nun wird sie massiv ausgeweitet. Sie wollen die gemeinsame Eingreiftruppe der Staaten Niger, Tschad, Burkina Faso, Mauretanien und Mali – das sind die sogenannten G-5-Sahelstaaten – nun ertüchtigen.
Aus der Vergangenheit wissen wir: Ja, auch die malischen Streitkräfte haben Fehler begangen. Da gab es Verfehlungen; aber dort begleitet die internationale Gemeinschaft diese Ausbildung mit einem intensiven politischen Prozess. Nun wollen Sie aber Sicherheitskräfte in Staaten wie dem Tschad ausbilden, wo es diesen Prozess in keiner Weise gibt, wo sich eine Regierung mit Gewalt und Korruption an der Macht hält und wo die Truppen immer wieder in den Schlagzeilen sind, weil Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Dazu können wir nur sagen: Das, was Sie hier planen, ist kurzsichtig und riskant. Wir können Sie nur auffordern, von dieser Komponente dringend Abstand zu nehmen.
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Ich finde, diese Komponente steht für etwas, was wir in den letzten Jahren bei dieser Bundesregierung als Strategiewechsel beobachten konnten: weg von einer nachhaltigen Sicherheit, weg von Entwicklung und hin zu einer Schwerpunktsetzung auf Militär und Aufrüstung. Das ist insgesamt ein fahrlässiger und auch gefährlicher Kurswechsel.
Wer echte Sicherheit will, darf nicht nur auf Aufrüstung und einen vermeintlich schnellen sichtbaren Erfolg setzen. Wer echte Sicherheit will, braucht eine Ausbildung von Sicherheitskräften, die einen starken politischen Rahmen hat und einen umfassenden Ansatz verfolgt, zu dem auch Justiz, Polizei und Korruptionsbekämpfung gehören. Es braucht nicht nur bloße Ertüchtigung; vielmehr bedarf es einer echten Sicherheitssektorreform. Diesen Teil des Mandates sollten Sie ausbauen.
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Ohne Frage braucht auch die Sahelregion Unterstützung bei der Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität. Wir Grüne haben in den vergangenen Jahren das Mandat mitgetragen. In vielen Regionen Malis ist die Ursache für die Probleme eine fehlende funktionierende und gerechte staatliche Ordnung. Dabei kann die Ausbildung lokaler Sicherheitskräfte durchaus ein wichtiger und sinnvoller Beitrag sein, wenn man langfristig selbsttragende Sicherheit erreichen will. Das Prinzip ist richtig, was aber fehlt, sind mehr Planung und mehr Nachhaltigkeit. Es ist auch eine zentrale Herausforderung, das verlorene Vertrauen in der malischen Bevölkerung an dieser Stelle zurückzugewinnen.
Eine zentrale Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, aber auch der Bundesregierung muss daher sein, Druck auf alle Beteiligten und insbesondere auf die malische Regierung auszuüben, dass die politischen Reformen, dass die Versöhnung, dass der Friedensprozess nicht weiter verschleppt werden, sondern wieder mit Tatkraft in Angriff genommen werden. Die Bundesregierung darf hier nicht jedes Jahr einfach nur schöne Reden halten, sondern Sie sollten aus den Fehlern lernen. Und vor allem sollten Sie eine echte Sicherheitssektorreform für Mali auf den Weg bringen.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Paul Ziemiak.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der European Union Training Mission hat ein sehr anspruchsvolles Ziel. Natürlich wollen wir erreichen, dass die malischen Sicherheitskräfte durch die Ausbildung in der Lage sind, im ganzen Land für Sicherheit zu sorgen. Es ist schwierig. Es ist ein langer Weg. Niemand hat behauptet, dass es schnell gelingen kann. Es ist richtig, dass über 10 000 Soldaten bereits ausgebildet wurden und von der EU-Mission profitiert haben. Das sind tatsächlich 60 Prozent der Landstreitkräfte in Mali.
Jetzt geht es darum, diesen Kurs weiterzuführen. Es geht jetzt um die Ausbildung der Ausbilder. Dass es einen vernetzten Ansatz gibt, ist genau der richtige Weg für die Sahelstaaten Mali, Burkina Faso, Mauretanien, Niger und den Tschad. Die Bundeswehr unterstützt diese Länder bei der Aufstellung und bei dem Aufbau einer gemeinsamen Einsatztruppe. Natürlich geht es darum, gemeinsam mit der Operation MINUSMA, die wir durch die Ausbildung der Streitkräfte ablösen wollen, wirksam Terrorismus zu bekämpfen. Mali war und ist weiterhin ein Rückzugsort für Terroristen. Darum geht es.
Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, Menschenrechtsverletzungen und fehlende Sicherheit beklagen und wenn Sie über Entwicklungshilfe sprechen, dann müssen Sie doch zur Kenntnis nehmen, dass Sie nachhaltige Entwicklungshilfe in einem Land nur leisten können, wenn Sie auch Sicherheit für die Menschen garantieren können.
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Alles andere zu behaupten, ist doch nicht redlich. Natürlich hört es sich besser an, wenn man nur über Entwicklungshilfe spricht. Sie sprechen darüber, dass es korrupte Regierungen gibt und dass wir einschreiten müssen, natürlich. Aber als Erstes müssen Sie Sicherheit schaffen. Sie sprechen von Opposition und vielen anderen Dingen. Aber schauen Sie sich die Situation von 2013 an: Hätten Sie tatsächlich Mali den islamistischen Terroristen überlassen wollen? Hätten Sie zugelassen, dass wir von Deutschland aus zuschauen? Ich glaube, das kann nicht unser Weg sein.
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– Natürlich passt Ihnen das nicht, weil Sie genau wissen, dass ich recht habe. Sie wissen, dass Entwicklungshilfe eben ohne Sicherheit – ich habe es gerade schon gesagt – nicht möglich ist.
Interessant finde ich in dieser Debatte, dass die Kollegen von der AfD-Fraktion ja im Prinzip die These aufstellen: Es sind noch nicht alle Ziele erreicht, also machen wir nichts mehr. – Das ist international natürlich ein besonders „vernünftiger Ansatz“. – Das ist er natürlich nicht.
Es geht am Ende darum, dass wir Terrorismus bekämpfen; das liegt im Interesse der Bundesrepublik Deutschland. Es liegt in unserem Sicherheitsinteresse, dass Mali und auch die Nachbarstaaten stabil werden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
Natürlich.
Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen, Herr Kollege Ziemiak. – Könnten Sie mit mir darin übereinstimmen, dass Streitkräfte so heißen, weil sie ihrem Name entsprechend handeln sollen, und dass wir beim vernetzten Ansatz andere Kräfte hinzuziehen sollten?
Können Sie aber bitte auch bestätigen, dass unsere Streitkräfte sowohl in Mali als auch in Afghanistan oder auch jetzt im neuen Einsatzgebiet Irak genau das, nämlich kämpfen und sichern, nicht machen? Vielmehr machen sie das, was im vernetzten Ansatz durchaus andere Kräfte, Kräfte des BMZ oder aber auch Contractors, machen können. Dies ist nicht die originäre Aufgabe von Streitkräften. Können Sie das bitte bestätigen? Unsere Soldaten haben dort keinen Kampfauftrag.
Herr Kollege, ich will Ihnen gerne bestätigen, dass wir der festen Überzeugung sind, langfristig keine Probleme in Staaten lösen zu können, indem wir einfach nur darüber sprechen, dass wir Soldaten irgendwo hinschicken, um zu kämpfen.
Sie haben doch selbst mit Ihrer Fraktion häufig genug das beklagt, was im Irak passiert ist, und gesagt, dass man am Ende einen Staat selbst fit machen muss. Diese Schlüsse, die wir aus all diesen Erfahrungen der letzten 20 Jahre ziehen, setzen wir in Mali um. Wir glauben, dass am Ende nur malische Streitkräfte und nicht deutsche Soldaten für die Sicherheit in Mali verantwortlich sein müssen. Zusammen mit Entwicklungshilfe ist genau das der richtige Weg. Es wäre schön, wenn Sie das auch einmal zur Kenntnis nehmen würden. Punkt!
Jetzt mache ich mal weiter; denn die Uhr läuft. – Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen: Sie versuchen alles, was in Deutschland passiert, zu missbrauchen – zuletzt haben Sie das im Fall der Amokfahrt von Münster getan –, um Hass zu schüren, Stimmung zu machen und am Ende immer wieder Ihre falsche These vorzutragen, dass nämlich die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag nichts tun, um Terrorismus zu bekämpfen und diesem die Grundlagen zu nehmen.
Ich will Ihnen eines sagen: Wenn Sie so etwas behaupten, dann seien Sie auch ehrlich zu den Leuten. Entweder stimmen Sie hier zu, oder Sie sagen den Leuten, dass Sie diejenigen im Deutschen Bundestag sind, die gegen Terrorismusbekämpfung in dieser Welt sind.
Vielen Dank.
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Vielleicht zur Klarstellung, liebe Kolleginnen und Kollegen: Bei Zwischenfragen wird die Uhr selbstverständlich angehalten. Sie können also die Zwischenfragen ganz ausführlich beantworten, ohne dass Ihre Zeit abläuft.
Der letzte Redner zu Tagesordnungspunkt 10 ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl von der CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der European Union Training Mission hat ein sehr anspruchsvolles Ziel. Natürlich wollen wir erreichen, dass die malischen Sicherheitskräfte durch die Ausbildung in der Lage sind, im ganzen Land für Sicherheit zu sorgen. Es ist schwierig. Es ist ein langer Weg. Niemand hat behauptet, dass es schnell gelingen kann. Es ist richtig, dass über 10 000 Soldaten bereits ausgebildet wurden und von der EU-Mission profitiert haben. Das sind tatsächlich 60 Prozent der Landstreitkräfte in Mali.
Jetzt geht es darum, diesen Kurs weiterzuführen. Es geht jetzt um die Ausbildung der Ausbilder. Dass es einen vernetzten Ansatz gibt, ist genau der richtige Weg für die Sahelstaaten Mali, Burkina Faso, Mauretanien, Niger und den Tschad. Die Bundeswehr unterstützt diese Länder bei der Aufstellung und bei dem Aufbau einer gemeinsamen Einsatztruppe. Natürlich geht es darum, gemeinsam mit der Operation MINUSMA, die wir durch die Ausbildung der Streitkräfte ablösen wollen, wirksam Terrorismus zu bekämpfen. Mali war und ist weiterhin ein Rückzugsort für Terroristen. Darum geht es.
Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, Menschenrechtsverletzungen und fehlende Sicherheit beklagen und wenn Sie über Entwicklungshilfe sprechen, dann müssen Sie doch zur Kenntnis nehmen, dass Sie nachhaltige Entwicklungshilfe in einem Land nur leisten können, wenn Sie auch Sicherheit für die Menschen garantieren können.
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Alles andere zu behaupten, ist doch nicht redlich. Natürlich hört es sich besser an, wenn man nur über Entwicklungshilfe spricht. Sie sprechen darüber, dass es korrupte Regierungen gibt und dass wir einschreiten müssen, natürlich. Aber als Erstes müssen Sie Sicherheit schaffen. Sie sprechen von Opposition und vielen anderen Dingen. Aber schauen Sie sich die Situation von 2013 an: Hätten Sie tatsächlich Mali den islamistischen Terroristen überlassen wollen? Hätten Sie zugelassen, dass wir von Deutschland aus zuschauen? Ich glaube, das kann nicht unser Weg sein.
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– Natürlich passt Ihnen das nicht, weil Sie genau wissen, dass ich recht habe. Sie wissen, dass Entwicklungshilfe eben ohne Sicherheit – ich habe es gerade schon gesagt – nicht möglich ist.
Interessant finde ich in dieser Debatte, dass die Kollegen von der AfD-Fraktion ja im Prinzip die These aufstellen: Es sind noch nicht alle Ziele erreicht, also machen wir nichts mehr. – Das ist international natürlich ein besonders „vernünftiger Ansatz“. – Das ist er natürlich nicht.
Es geht am Ende darum, dass wir Terrorismus bekämpfen; das liegt im Interesse der Bundesrepublik Deutschland. Es liegt in unserem Sicherheitsinteresse, dass Mali und auch die Nachbarstaaten stabil werden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
Natürlich.
Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen, Herr Kollege Ziemiak. – Könnten Sie mit mir darin übereinstimmen, dass Streitkräfte so heißen, weil sie ihrem Name entsprechend handeln sollen, und dass wir beim vernetzten Ansatz andere Kräfte hinzuziehen sollten?
Können Sie aber bitte auch bestätigen, dass unsere Streitkräfte sowohl in Mali als auch in Afghanistan oder auch jetzt im neuen Einsatzgebiet Irak genau das, nämlich kämpfen und sichern, nicht machen? Vielmehr machen sie das, was im vernetzten Ansatz durchaus andere Kräfte, Kräfte des BMZ oder aber auch Contractors, machen können. Dies ist nicht die originäre Aufgabe von Streitkräften. Können Sie das bitte bestätigen? Unsere Soldaten haben dort keinen Kampfauftrag.
Herr Kollege, ich will Ihnen gerne bestätigen, dass wir der festen Überzeugung sind, langfristig keine Probleme in Staaten lösen zu können, indem wir einfach nur darüber sprechen, dass wir Soldaten irgendwo hinschicken, um zu kämpfen.
Sie haben doch selbst mit Ihrer Fraktion häufig genug das beklagt, was im Irak passiert ist, und gesagt, dass man am Ende einen Staat selbst fit machen muss. Diese Schlüsse, die wir aus all diesen Erfahrungen der letzten 20 Jahre ziehen, setzen wir in Mali um. Wir glauben, dass am Ende nur malische Streitkräfte und nicht deutsche Soldaten für die Sicherheit in Mali verantwortlich sein müssen. Zusammen mit Entwicklungshilfe ist genau das der richtige Weg. Es wäre schön, wenn Sie das auch einmal zur Kenntnis nehmen würden. Punkt!
Jetzt mache ich mal weiter; denn die Uhr läuft. – Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen: Sie versuchen alles, was in Deutschland passiert, zu missbrauchen – zuletzt haben Sie das im Fall der Amokfahrt von Münster getan –, um Hass zu schüren, Stimmung zu machen und am Ende immer wieder Ihre falsche These vorzutragen, dass nämlich die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag nichts tun, um Terrorismus zu bekämpfen und diesem die Grundlagen zu nehmen.
Ich will Ihnen eines sagen: Wenn Sie so etwas behaupten, dann seien Sie auch ehrlich zu den Leuten. Entweder stimmen Sie hier zu, oder Sie sagen den Leuten, dass Sie diejenigen im Deutschen Bundestag sind, die gegen Terrorismusbekämpfung in dieser Welt sind.
Vielen Dank.
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Vielleicht zur Klarstellung, liebe Kolleginnen und Kollegen: Bei Zwischenfragen wird die Uhr selbstverständlich angehalten. Sie können also die Zwischenfragen ganz ausführlich beantworten, ohne dass Ihre Zeit abläuft.
Der letzte Redner zu Tagesordnungspunkt 10 ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl von der CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Lage in Mali ist wirklich beunruhigend. Wir erleben im Moment, dass die Instabilität, die vorher vor allem im Norden vorherrschend war, so langsam auch nach Zentral-Mali überspringt. Der UNHCR hat letzten Dienstag einen Bericht veröffentlicht, in dem beschrieben wird, wie gerade in der Region Mopti in Zentral-Mali – das ist ungefähr zwischen Gao und Bamako – die Gewalt zwischen verschiedenen Volksgruppen weiter eskaliert. Es hat Dutzende Tote gegeben. 3 000 Menschen sind in Richtung Burkina Faso geflohen. In der Region sind im Moment dschihadistische Prediger unterwegs, die das Volk aufhetzen. Da steht zum Beispiel der Gruppe der Peul die Gruppe der Dogon gegenüber, also im Prinzip den Nomaden die eher sesshaften Bauern. Aber natürlich sind alle gegen die internationalen Gruppen. Es bilden sich immer neue Milizen, die zum Teil nur ihr Dorf verteidigen, zum Teil nur um fruchtbares Ackerland kämpfen, aber sich zum Teil eben auch dschihadistischen Gruppen wie dem „Islamischen Staat“ oder al-Qaida im Maghreb anschließen.
Diese Entwicklung wird natürlich befördert durch die Armut und den Hunger, die in der Region herrschen. Diese Entwicklung wird befördert durch eine Regierung, die nicht in der Lage ist, für Recht und Ordnung zu sorgen, vor allem im Zentrum und im Norden Malis. Und die Entwicklung wird befördert durch malische Streitkräfte, die selbst auch nicht für Sicherheit sorgen können, weil sie schlecht ausgerüstet und schlecht ausgebildet sind und dementsprechend im Moment gerade in Zentral-Mali an Rückhalt verlieren. Das können wir alles beklagen. So ist die Situation. Aber, liebe Frau Kollegin Buchholz, von alleine wird die Situation nicht besser werden. Wenn wir einen Beitrag leisten wollen, dann müssen wir dem Land helfen, damit zurechtzukommen.
Die internationale Hilfe und auch der deutsche Beitrag setzen genau an diesen Punkten an. Wir haben einen vernetzten Ansatz. Außerdem ist Mali auch ein Schwerpunktland der Entwicklungshilfe. Es ist aber nun einmal so, dass wir heute speziell über EUTM Mali diskutieren. Das ist der Beitrag, den die Mission zur Ausbildung und zur Beratung der malischen Streitkräfte leistet. Diese Mission kommt immer besser ins Laufen. Es sind im Moment 26 europäische Länder, die sich daran beteiligen. 11 000 malische Soldaten wurden bereits ausgebildet. Der Schwerpunkt der Ausbildung verschiebt sich jetzt immer mehr vom einzelnen Soldaten hin zur Ausbildung der Ausbilder und zur Ausbildung von Führungskräften, was auch dazu führt, dass der Multiplikatoreffekt, den die Mission erreichen kann, deutlich größer wird.
Die Mission wird auch mobiler. Wir haben 2016 zum ersten Mal das Einsatzgebiet auf weitere Teile Malis, also über Koulikoro hinaus, ausgeweitet. Das hat sich bewährt. Wir gehen jetzt den nächsten Schritt, indem wir die Ausbildung auf die Grenzen von Mali und dann auch auf Standorte im Niger, im Tschad und in Mauretanien ausweiten. Denn eines ist doch klar: Wenn Sie sich die Karte anschauen, dann springt sofort ins Auge, dass die Grenzen in der Region irgendwann einmal von irgendjemandem mit einem Lineal gezogen worden sind und dass sie in keiner Weise die Lebenswirklichkeit vor Ort widerspiegeln. Sicherheit ist keine Frage, die sich an dieser Grenze entscheidet. Sicherheit ist eine Frage, die sich daran entscheidet, ob die Region zusammenarbeitet, um gemeinsam gegen Terrorismus und Islamismus vorzugehen.
Mit der Beteiligung an der Mission EUTM Mali unterstützen wir die Zusammenarbeit in der G-5-Sahelregion weiter aktiv. Man kann diese Region selber nicht anhand von einzelnen Grenzverläufen beurteilen, sondern nur im Gesamten. Deswegen begrüße ich diese Ausweitung ausdrücklich. Wir werden die Mission nächste Woche im Ausschuss intensiv beraten. Ich kann Ihnen aber jetzt schon in Aussicht stellen, dass unsere Fraktion auch der weiteren Beteiligung an dieser Mission zustimmen wird.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1597 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wer recht hat, muss auch recht bekommen, und das schnell und kostengünstig. Mit diesem einfachen Satz wird auf den Punkt gebracht, was die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land zu Recht von einem funktionierenden Rechtsstaat erwarten. Zu diesem Zweck haben wir Regierungsfraktionen uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, Zivilprozesse und Strafverfahren effektiver zu gestalten. Die Bürgerinnen und Bürger sollen verlässlich und zeitnah bei uns in Deutschland ihr Recht bekommen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Dabei steht der Rechtsstaat vor großen Herausforderungen. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist überlastet, sodass dringend neue Stellen geschaffen und auch besetzt werden müssen. Auch müssen viele Staatsanwälte und Strafrichter eine große Anzahl an Strafverfahren bearbeiten. Deshalb ist es, wie ich finde, eine der wichtigsten Aufgaben der Großen Koalition, den vereinbarten Pakt für den Rechtsstaat zu schließen. Gemeinsam mit den Ländern wollen wir 2 000 zusätzliche Stellen für Richterinnen und Richter, für Staatsanwältinnen und Staatsanwälte und vor allem – das ist mir ganz wichtig – auch für das entsprechende Folgepersonal in den Geschäftsstellen einrichten.
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Das ist dringend nötig, liebe Kolleginnen und Kollegen; denn die besten Gesetze bringen nichts, wenn kein Justizpersonal da ist, um sie umzusetzen. Dabei leistet die Justiz in Deutschland Hervorragendes. Wir haben eine Rechtsetzung von hoher Qualität. Damit das so bleibt, müssen die personellen Grundlagen geschaffen werden. Dort, wo wir als Bund aktiv werden können, nämlich bei den Bundesgerichten und auch beim Generalbundesanwalt, werden wir als Bund die notwendigen Stellen schaffen.
Damit bin ich bei der politischen Ebene, um die es uns bei diesem heute hier zu beratenden Gesetzentwurf geht. Es ist unsere Aufgabe als Bundesgesetzgeber, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass der Rechtsstaat handlungsfähig bleibt und unsere Gerichte Recht mit hoher Qualität sprechen. Als Bundesgesetzgeber haben wir Einfluss auf eine ausreichende personelle Ausstattung, insbesondere beim Bundesgerichtshof. Wir können Verfahrensregelungen einführen, die dazu beitragen, die hohe Qualität der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auf Dauer zu gewährleisten.
Der Bundesgerichtshof trifft wichtige Grundsatzentscheidungen mit breiter Wirkung, oft für Millionen von Bürgerinnen und Bürger. Er sorgt damit für Rechtssicherheit. Diese Funktion darf nicht durch eine Überschwemmung und damit einhergehende Überlastung des BGH gefährdet werden. Die Richterinnen und Richter des BGH sollen sich um wichtige juristische Fragen kümmern können und sich nicht mit einem von einem Berufungsgericht, unter Umständen sogar einstimmig, gefassten Urteil und einem somit offensichtlich aussichtslosen Rechtsmittel beschäftigen müssen.
Ein Blick in die Prozessstatistik zeigt: Während die Anzahl der Zivilprozesse insgesamt zum Teil deutlich zurückgeht, ist dies bei den Zivilverfahren beim Bundesgerichtshof nicht der Fall. Durch die Neuregelung der Nichtzulassungsbeschwerde im Jahr 2011 ist ein dauerhafter zusätzlicher Anfall von 1 000 Verfahren pro Jahr festzustellen. Unsere ursprüngliche Vermutung, dass Nichtzulassungsbeschwerden langfristig rückläufig sein werden, hat sich also nicht erfüllt. Dabei ist festzuhalten, dass über 90 Prozent der Nichtzulassungsbeschwerden erfolglos sind. Dennoch bindet deren Bearbeitung ganz erhebliche Arbeitskapazitäten, wertvolle Kapazitäten, die für die eigentliche Aufgabe der Zivilsenate des BGH, nämlich die Entscheidung von Grundsatzfragen, wichtig wären und dadurch fehlen. Vom Bundesgerichtshof ist zu hören, dass die dortigen Zivilrichter mittlerweile den fast größten Teil ihrer Arbeitskraft damit verbringen müssen, Nichtzulassungsbeschwerden abzuarbeiten. Das wiederum bedeutet, dass andere Verfahren, die grundsätzliche Bedeutung für die Bürgerinnen und Bürger haben, liegen bleiben und nicht entschieden werden können.
Um diese unhaltbare Situation zu entschärfen, gilt aktuell eine Wertgrenze für Nichtzulassungsbeschwerden. Sie sind nur zulässig, wenn der Beschwerdewert der Berufungsentscheidung 20 000 Euro übersteigt. Diese Regelung – deswegen jetzt die Eile – läuft zum 30. Juni 2018 aus. Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir diese Regelung bis zum 31. Dezember 2019 verlängern.
Das Argument, diese zeitlich befristete Streitwertgrenze nehme den Bürgerinnen und Bürgern Rechtsschutzmöglichkeiten, greift aus meiner Sicht so pauschal nicht. Zum einen wurden mit der Reform der Zivilprozessordnung auch die Revisionsregelungen neu gefasst; die sogenannte Wertrevision würde durch die Zulassungsrevision ersetzt. Seitdem können die Landgerichte die Revision beim Bundesgerichtshof zulassen. Das hat dazu geführt, dass die Zahl der Revisionen im Streitwertbereich bis zu 20 000 Euro um 60 Prozent gestiegen ist. Also gerade Verfahren mit kleineren Streitwerten sind deutlich häufiger bis zum BGH gelangt. Die Verfahren des für Kauf- und Wohnungsmietrecht zuständigen BGH-Senats hatten zu 80 Prozent, also eine ganz große Mehrheit, Gegenstandswerte von unter 20 000 Euro, ein Drittel der Verfahren sogar von unter 1 000 Euro. Das zeigt, dass man nicht pauschal sagen kann, die Streitwertgrenze von 20 000 Euro bei der Berufungszulassung würde dem Bürger Rechtsschutzmöglichkeiten nehmen.
Zum anderen wird mit der Eingrenzung der Zulässigkeit von Beschwerden gegen die Nichtzulassung der Berufung auch der Funktion der oberen Gerichte Rechnung getragen. Es soll um Grundsatzentscheidungen gehen, um Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, die zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich sind.
Eine Lösung wäre jetzt natürlich auch, zusätzliche Richterstellen beim BGH zu schaffen. Davon abgesehen, dass das so kurzfristig, bis zum 30. Juni 2018, nicht mehr zu machen ist, haben wir es hier auch mit der sogenannten Rutschklausel zu tun, einer bemerkenswerten Regelung aus den 90er-Jahren. Ich glaube, es ist unsere Aufgabe, dieses Gesetz zu verabschieden. Wir sollten uns aber auf jeden Fall vornehmen, im kommenden Jahr nach alternativen Lösungsmöglichkeiten zu suchen, auch für die Frage, wie wir trotz Rutschklausel mehr Personal in Karlsruhe erreichen können.
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Ich finde, wir müssen die Arbeitsüberlastung beim BGH auf jeden Fall beenden. Die obersten Gerichte müssen in aller Ruhe über die für die Bürgerinnen und Bürger wichtigen Fragen entscheiden können. Ich stimme deshalb diesem wichtigen Gesetz zu.
Vielen Dank.
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Zu seiner ersten Rede rufe ich den Kollegen Jens Maier von der AfD-Fraktion auf.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Nun soll § 26 Nummer 8 EGZPO wieder in die Verlängerung gehen, diesmal vom 1. Juli 2018 bis zum 31. Dezember 2019. Das ist jetzt schon, wenn ich richtig gezählt habe, das siebte Mal. Ursprünglich war für die hier zu treffende Beschlussfassung keine Debatte vorgesehen. Warum auch? Aufgrund des Zeitdrucks kann ja nur noch schnell, schnell reagiert werden. Die Geltungsdauer der bisherigen Regelung läuft am 30. Juni ab. Und dann? Soll man die Gerichte im Regen stehen lassen?
Als ich noch Richter am Landgericht war, haben wir vor jeder Verlängerung gebangt, ob das Parlament sie noch rechtzeitig hinbekommt. Da hieß es: Wenn die Nichtzulassungsbeschwerde plötzlich zulässig wäre, müsste man ja einen Tatbestand ins landgerichtliche Berufungsurteil schreiben. Es wurde auch die zu erwartende Mehrbelastung gesehen. Für den BGH wäre es noch schlimmer ausgegangen. Ich vermute, der Wegfall der Wertgrenze hätte in kurzer Zeit zu einem Verfahrenstsunami geführt. Es ist aber ganz gut, dass wir heute eine Debatte führen.
In der Begründung des hier vorliegenden Gesetzentwurfs heißt es unter A I:
Durch die vorgesehene Verlängerung der Geltungsdauer der Regelung soll eine bei Auslaufen der Wertgrenze eintretende Überlastung des Bundesgerichtshofs aufgrund der Zunahme von Nichtzulassungsbeschwerden verhindert werden. Auch soll eine ebenfalls zu erwartende Mehrbelastung der Berufungsgerichte abgewendet werden.
Aha, möchte man sagen, darum geht es also!
Richtig ist, dass eine Wertgrenze, die jetzt bei 20 000 Euro liegt, die Anzahl der eingelegten Rechtsmittel reduziert. Kein guter Anwalt legt ein Rechtsmittel ein, das offensichtlich unzulässig ist, weil die erforderliche Beschwer nicht erreicht wird. Es stellt sich aber die Frage, ob die Einschränkung der Rechtsmittelfähigkeit eines Rechtsstreits über den Weg von Wertgrenzen der vernünftige Weg ist.
Auch erscheint die Wertgrenze von 20 000 Euro eher willkürlich gegriffen. Nach dem bis 2002 geltenden Recht lag die Revisionssumme bei 60 000 DM, also gut 30 000 Euro. Die Revisionssumme war bis dahin peu à peu erhöht worden. Keiner konnte einem wirklich sagen, warum gerade diese Summe richtig ist. Seit 2002 gilt nun die Grenze von 20 000 Euro. Aber hier stellt sich die gleiche Frage: Warum ausgerechnet 20 000 Euro, warum nicht 25 000 Euro, warum nicht 15 000 Euro?
Es ist als problematisch zu bewerten, den verfassungsrechtlich garantierten Justizgewährungsanspruch des Bürgers an einer Wertgrenze scheitern zu lassen, weil es doch um das Recht geht, um das Recht des Bürgers geht. Es sollte nicht darum gehen, dem BGH bzw. der Justiz den Arbeitsalltag zu erleichtern.
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Wenn am Landgericht – was die Regel ist – der Einzelrichter durch Urteil entschieden hat, muss am Oberlandesgericht nicht der gesamte Senat, sondern wiederum nur der Einzelrichter tätig werden und entscheiden. 10 000 Euro sind für viele Bürger schon viel Geld, 19 000 Euro für noch viel mehr. Es kann also bei Fällen knapp unterhalb der Grenze von 20 000 Euro passieren, dass zweimal ein Richter entscheidet und es dann aus ist. Halten Sie das für fair? Ist das der Rechtsstaat? Führt dies zur Akzeptanz von Entscheidungen?
Ich bin der Meinung, dass wir die Gelegenheit nutzen sollten, im Ausschuss in Ruhe darüber zu diskutieren, welche Wertgrenze man zugrunde legen soll, ob die Wertgrenze nicht reduziert werden soll und ob es nicht andere Möglichkeiten gibt, der Verfahrensflut, insbesondere dem Missbrauch von Rechtsmitteln, Herr zu werden. Da bietet sich zum Beispiel die Einführung einer Missbrauchsgebühr im Zivilverfahren an, wie das bei Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht oder laut Sozialgesetzbuch möglich ist.
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Die AfD wird der Überweisung des Gesetzentwurfs in den Rechtsausschuss zustimmen. Ich persönlich freue mich auf eine spannende Diskussion im Ausschuss.
Danke.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Volker Ullrich.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Zivilrecht ist die Revision beim Bundesgerichtshof möglich, wenn das Berufungsgericht im Urteil die Revision ausdrücklich zulässt, übrigens unabhängig vom Beschwerdewert. Wird die Revision nicht zugelassen, so kann gleichwohl eine Nichtzulassungsbeschwerde erhoben werden mit der Möglichkeit des Zugangs zum Bundesgerichtshof, wenn der Berufungsstreitwert 20 000 Euro übersteigt. Heute geht es um die Frage, ob wir die Wertgrenze für die Nichtzulassungsbeschwerde von 20 000 Euro für die nächsten eineinhalb Jahre fortschreiben. Ich meine, es ist richtig und geboten, dass wir diese Entscheidung treffen.
Was würde passieren, wenn wir die Möglichkeit einer Nichtzulassungsbeschwerde ab einer Höhe des Streitwerts von 20 000 Euro nicht verlängern würden? Die Belastung an den Zivilsenaten des Bundesgerichtshofs würde zunehmen. Bereits jetzt sind die Verfahren vor den Zivilsenaten des Bundesgerichtshofs in der Mehrzahl sogenannte Nichtzulassungsbeschwerden. Und nein, mit der Beibehaltung dieser Wertgrenze schneiden wir nicht das Recht des Revisionsführers ab. Ganz im Gegenteil: Wenn ein Verfahren von rechtlich großer Bedeutung ist und wenn erkennbar ist, dass dieses Verfahren eine Relevanz hat, dann wird das erkennende Gericht, das Landgericht oder das Oberlandesgericht, ohnehin die Revision zulassen, übrigens unabhängig vom Streitwert.
Aber man darf nicht vergessen: Wir haben in Deutschland den vollumfänglichen Rechtsschutz nicht nur dann, wenn jedes Verfahren bis zum BGH geht. Man muss faktisch nicht die drei Instanzen ausschöpfen, um zu seinem Recht zu kommen. Wir haben in Deutschland eine exzellente Landschaft im Bereich der Oberlandesgerichte. Die Oberlandesgerichte haben Spezialkammern mit sehr spezialisierten, guten Richtern, die einen ordentlichen Job machen.
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Die Rechtsweggarantie des Grundgesetzes ist auf alle Fälle gegeben, wenn jemand seine Rechtsstreitigkeit beim Landesgericht und dann beim Oberlandesgericht vorbringen kann.
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Es ist richtig, dass der Bundesgerichtshof in wesentlichen Fragen des Versicherungsrechts, des Mietrechts und des Bankenrechts grundsätzliche Entscheidungen treffen muss. Darauf sollte sich der Bundesgerichtshof konzentrieren können. Aber es wäre falsch und würde dem Charakter eines obersten Bundesgerichtes nicht gerecht werden, wenn wir den Bundesgerichtshof mit noch mehr Nichtzulassungsbeschwerden überlasten, obwohl es eine umfassende Rechtsschutzmöglichkeit bereits auf der Ebene des Landgerichts und des Oberlandesgerichts gibt.
({2})
Wir müssen uns bei diesem Thema klug verhalten. Wir dürfen die Architektur der Zivilrechtspflege nicht generell infrage stellen.
Ja, wir müssen uns überlegen, ob wir die permanente Fortschreibung der Wertgrenze von 20 000 Euro nicht generell regeln. Wir können darüber diskutieren, ob wir den Wert von 20 000 Euro, der übrigens aus dem Jahr 2001 stammt, nicht anheben oder indexieren; das gilt auch für andere Wertgrenzen. Aber insgesamt sollten wir durch eine Änderung des Systems nicht grundsätzlich das infrage stellen, was in Deutschland gut funktioniert, nämlich die Zivilrechtspflege.
Wir sind aufgerufen, alles zu tun, auf Ebene des Bundes, aber auch auf Ebene der Länder, um diese funktionierende Zivilrechtspflege weiterhin zu unterstützen, durch mehr Stellen bei der Justiz, auch in den Geschäftsstellen, aber auch durch eine kluge Strategie zur weiteren Digitalisierung der Justiz.
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Die Digitalisierung von Akten, die E-Akte, betrifft übrigens auch das Anwaltspostfach. Ich meine, das sollte bald geregelt sein, weil nur indem man schnell an Akten kommt, können die Verfahren beschleunigt werden. Das ist der wichtigste Punkt, um im Zivilrechtsbereich nachhaltig eine gute Lösung für diejenigen hinzubekommen, die Recht suchen und bei uns auch ihr Recht bekommen.
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In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin ist für die FDP-Fraktion die Kollegin Katrin Helling-Plahr.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei den Koalitionspartnern ist in den letzten Tagen ganz kurzfristig eine bemerkenswerte Erkenntnis herangereift, die da lautet: Bis zum 30. Juni ist es nicht mehr lang hin. Also wurde die Verlängerung der Regelung, wonach der Streitwert einer Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesgerichtshof mindestens 20 000 Euro betragen muss, spontan noch auf die Tagesordnung gesetzt. Sonst wäre die Wertgrenze Ende Juni ausgelaufen.
In die entsprechende Drucksache schreibt die Große Koalition, man wolle mit der Verlängerung ermöglichen, die Entwicklung der Geschäftsbelastung des BGH für einen Zeitraum von anderthalb Jahren zu beobachten. Sehr geehrte Damen und Herren von CDU, CSU und SPD, die Regelung in § 26 Nr. 8 EGZPO wurde im Zuge der großen ZPO-Reform 2001 als Übergangsregelung beschlossen, im EGZPO versteckt und seitdem viermal verlängert, immer wieder mit der Begründung, man wolle beobachten. Sehr geehrte Damen und Herren von CDU, CSU und SPD, was Sie „beobachten“ nennen, nennen wir Freie Demokraten „schlafen“.
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16 Jahre des Beobachtens sind genug. Entsprechend hatte der Kollege von der SPD bei der letzten Verlängerung der Regelung im Jahr 2016 auch bereits angekündigt, die Wertgrenze werde ein letztes Mal verlängert. Redner von SPD und CDU/CSU waren sich einig, dass man grundsätzlich debattieren muss. Was ist seitdem passiert? Offenbar ging es schlicht in GroKo-Manier weiter so, und heute stehen wir wieder hier.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich wäre es nicht verantwortlich, die Regelung jetzt auslaufen zu lassen und den BGH mit einer entsprechend befürchteten Nichtzulassungsbeschwerdeflut lahmzulegen. Aber wir erwarten von den Koalitionsfraktionen, dass sie jetzt Wort halten. Die jetzige Situation ist für keine Seite befriedigend. Der BGH sieht sich mit einer trotz Wertgrenze steigenden Zahl von Nichtzulassungsbeschwerden überfordert. Auch unabhängig von der Wertgrenze frustriert die mangelnde Voraussehbarkeit der aus BGH-Sicht bestehenden oder fehlenden Revisionswürdigkeit bei einer Zulassungsquote von unter 10 Prozent nicht nur die Anwaltskollegen, sondern erst recht die Parteien, die das finanzielle Risiko tragen. Die Effektivierung ging zuweilen zulasten der Akzeptanz höchstrichterlicher Rechtsprechung in der Bevölkerung.
Schaffen wir nun eine transparente und zukunftsweisende Regelung. Hören wir auf, Rechtsuchende mit einer Dauerübergangsregelung in die Irre zu führen. Verstecken wir künftig die Regelungen nicht mehr im EGZPO. Lassen Sie uns darüber nachdenken, ob die richtige Reaktion auf steigende Fallzahlen in höheren Instanzen aufgrund mangelnder Akzeptanz von Rechtsprechung immer Rechtswegverkürzung sein muss. Müssen wir den BGH stärker aufstellen? Brauchen wir eine Reform der Regelung der Statthaftigkeit von Revisionen, der Zulassungsgründe insgesamt? Nutzen wir die Zeit bis Ende 2019 jetzt wirklich für ein Update.
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Der nächste Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Friedrich Straetmanns.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Die Koalition wünscht sich, durch den vorliegenden Gesetzentwurf weitere eineinhalb Jahre Zeit zu erhalten, um die Geschäftsbelastung beim Bundesgerichtshof zu evaluieren.
Zunächst einmal weise ich darauf hin, dass diese bereits seit 2011 evaluiert wird. In Ihrer Vorlage gehen Sie überhaupt nicht auf den Grund ein, warum dieser Zeitraum nicht ausgereicht haben soll.
Aber gehen wir zum Anfang zurück. Unter Rot-Grün wurde die Zivilprozessordnung dahin gehend reformiert, dass die Zurückweisung sogenannter offensichtlich unbegründeter Anträge auf Berufung vereinfacht wurde. Als über die Jahre klar wurde, dass damit ein rechtlich unhaltbarer Zustand geschaffen worden war, wurde 2011 die Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesgerichtshof eingeführt, die wir hier verhandeln. Damit sollte ein Rechtsmittel geschaffen werden, mit dem der uneinheitlichen Anwendung des § 522 ZPO ein Riegel vorgeschoben werden sollte. Hier ist als Untergrenze ein Beschwerdewert von 20 000 Euro festgelegt. Diese Regelung läuft Ende Juni dieses Jahres aus.
Es war doch schon 2011 klar – darauf hat meine Fraktion, Die Linke, damals auch hingewiesen –, dass diese Reform ein Fehler war.
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Darüber hinaus hat sie weder das Ziel erreicht, die Arbeitsbelastung beim Bundesgerichtshof zu reduzieren, noch hat sie zu einer entsprechenden Vereinheitlichung der Rechtsprechung beigetragen. Meine Fraktion, Die Linke, würde es sehr begrüßen, wenn sich diese Erkenntnis nun, mehr als 15 Jahre später, auch in den Reihen der Koalition durchsetzen würde.
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Meine Damen und Herren, auf den ersten Blick handelt es sich um eine formale Notwendigkeit. Aber ich sage Ihnen: Es geht auch um Gleichheit im Recht. Es gibt eine sehr unterschiedliche Praxis bei den Zurückweisungsbeschlüssen: im Oberlandesgerichtsbezirk Karlsruhe 6,2 Prozent , im Oberlandesgerichtsbezirk Koblenz 22,6 Prozent. Bei Verfahren mit einem Streitwert von unter 20 000 Euro ist kein Rechtsmittel in dem Sinne vorgesehen. Wie soll ich den Bürgerinnen und Bürgern in Bielefeld erklären, dass alle Beträge, die unter 20 000 Euro liegen, Bagatellen sein sollen, die man gut verschmerzen kann?
Zum Schluss möchte ich noch eines zu bedenken geben: Über 100 Jahre kam unser Zivilrecht ohne diese Einschränkung der Rechtsmittel aus. Das sollte auch in Zukunft möglich sein. Sicherlich: Die Aufhebung des § 522 Absatz 2 ZPO kann zu einer stärkeren personellen Belastung führen. Als Richter kann ich diese Sorgen zu einem gewissen Grad verstehen. Aber der gleiche Zugang zum Recht und die Wahrung des Rechtsfriedens sind bedeutende Rechtsgrundsätze und hohe Güter,
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die wir an dieser Stelle nicht mit Einsparungsargumenten stilllegen können oder opfern sollten. Wir werden diesen Gesetzentwurf daher ablehnen.
Vielen Dank.
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Liebe Kollegen, bevor ich zum nächsten Redner komme: Ich habe mir das Protokoll zu Tagesordnungspunkt 9 – Armut in Deutschland – geben lassen. Da gab es während der Rede von Professor Zimmer aus der CDU/CSU-Fraktion einen Zwischenruf des Kollegen Gauland: „Ein elender Hetzer!“
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will nur darauf hinweisen, dass es bisher nicht Gepflogenheit des Hohen Hauses war, so zu formulieren.
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Ich wäre dankbar, wenn wir alle in uns gehen würden. Ich verstehe die Emotionalität, gerade auch bei diesem Punkt und bei den Reden, die gehalten wurden. Aber ich bitte darum, dass wir uns bei unseren Formulierungen wirklich zurückhalten. Es würde der Würde dieses Hauses nicht entsprechen, wenn wir das so einreißen lassen.
Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Manuela Rottmann, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Dr. Fechner, Sie machen einen Fehler. Sie sagen, der BGH soll Zeit für grundsätzliche Rechtsfragen haben. Aber ob eine Rechtsfrage grundsätzlich ist, hat nichts damit zu tun, ob der Streitwert über oder unter 20 000 Euro liegt.
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Darüber diskutieren wir gerade im Zusammenhang mit der Musterfeststellungsklage. Insofern ist dieses Kriterium gaga.
Sehr geehrter Herr Dr. Ullrich, ich weiß nicht, wann Sie das letzte Mal vor Gericht waren. Bei Ihrer Argumentation habe ich mich irgendwann gefragt: Warum haben wir überhaupt eine zweite und dritte Instanz, wenn alles so prima läuft? Am liebsten wäre Ihnen gewesen, Sie hätten diesen Gesetzentwurf hier und heute ohne Aussprache durchhauen können. In ihm steht ja auch: Es gibt keine Alternative dazu.
Ich will Ihnen ein paar Anregungen geben, welches die Alternativen sein könnten. Sie könnten nach den vielen Jahren endlich die lange geforderte Untersuchung in Auftrag geben, warum sich die Zahlen bei den Eingangsinstanzen in der Zivilgerichtsbarkeit so sehr in den Keller bewegen, warum die Leute der Justiz offenkundig kein Vertrauen mehr schenken.
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Sie könnten sich auch mit Vorschlägen darüber auseinandersetzen, wie die Zivilsenate beim BGH anderweitig entlastet werden könnten. Ein Beispiel – ich habe Ihren Parlamentarischen Staatssekretär schon darauf hingewiesen –: Im November hat der EuGH entschieden, dass die Zivilgerichte regulierte Trassenpreise nicht mehr parallel zur Bundesnetzagentur kontrollieren dürfen, weil das gegen das Europarecht verstößt. Wäre das nicht eine Gelegenheit, sich einmal die Grundsatzfrage zu stellen, ob die Kontrolle von Kartellrechtsentscheidungen und von Entscheidungen der Regulierungsbehörde beim Zivilgericht überhaupt richtig aufgehoben ist oder ob wir da nicht langsam mal in Richtung Verwaltungsgerichtsbarkeit gehen sollten?
Sie könnten wenigstens die Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör von der 20 000-Euro-Grenze ausnehmen. In der jetzigen Situation ist nämlich das Bundesverfassungsgericht Hilfsarbeiter der Zivilgerichtsbarkeit. Jeder, der die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör rügt, muss seinen Anspruch auf rechtliches Gehör über das Bundesverfassungsgericht einklagen. Das ist alles andere als effizient.
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Sie könnten sich auch die Frage stellen, ob die Rückkehr zum Kammerverfahren an den Landgerichten das Vertrauen, die Verlässlichkeit und die Akzeptanz der erstgerichtlichen Entscheidungen erhöhen und damit die oberen Gerichte entlasten würde. Auch die Frage, ob der Rechtsstandort Deutschland nicht einfach noch einen weiteren Zivilsenat braucht, Herr Dr. Fechner, darf doch kein Tabu sein, nur weil dann ein Strafsenat nach Leipzig umziehen müsste. Das verstehe ich wirklich nicht.
Wir werden den Rechtsstaat handlungsfähig erhalten. Dies stärkt auch das Vertrauen in die rechtsstaatliche Demokratie.
Das haben Sie in Ihren Koalitionsvertrag geschrieben. Einen guten Monat später ist das als folgenlose Lyrik enttarnt. Hier hat niemand – nicht im Justizministerium, das Ihnen die Hand geführt hat, und nicht in Ihren beiden großen Fraktionen – fünf Minuten über Alternativen zu diesem Verfahren nachgedacht. Mir wäre das an Ihrer Stelle zutiefst peinlich. Ihnen ist es das leider nicht.
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Vielen Dank, Manuela Rottmann. – Ihnen einen schönen sonnigen Abend von mir!
Das Wort als letzter Redner in dieser Debatte hat Dr. Patrick Sensburg für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute zum ersten Mal in dieser Legislaturperiode über die Fortschreibung der Streitwertgrenze bei der Nichtzulassungsbeschwerde. Die Kollegin von der FDP hat eben aber zu Recht gesagt, dass wir das nicht zum ersten, sondern zum wiederholten Mal diskutieren; denn mit der Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde im Jahre 2002 – zum 1. Januar 2002 ist sie eingeführt worden – haben wir auch eine Streitwertgrenze in Höhe von 20 000 Euro eingeführt. Diese Regelung ist über die Jahre von den unterschiedlichen Koalitionen regelmäßig verlängert worden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, auch die christlich-liberale Koalition ab 2009 hat die Streitwertgrenze bei 20 000 Euro beibehalten, weil wir es für richtig gehalten haben.
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Ich glaube, es ist richtig, zu sagen: Die Streitwertgrenze hat sich über die Jahre bewährt. Sie deckt sich auch mit den Regelungen in § 522 ZPO, in denen es zum Beispiel um die Beschwerde gegen die nicht zugelassene Berufung geht. Auch hier gibt es eine Streitwertgrenze in Höhe von 20 000 Euro. Daneben müssen wir feststellen: Auch in der Praxis hat sie sich bewährt. Von daher ist es richtig, zu sagen: Wir halten an der Streitwertgrenze in Höhe von 20 000 Euro, wie sie in der EGZPO geregelt ist, fest.
Man wird in den Beratungen aber sicherlich über einige Punkte diskutieren können. Ich glaube, dass der vorgelegte Gesetzentwurf das eine oder andere noch offenlässt. Vielleicht könnte man auch einmal nach handwerklichen Fehlern schauen. Wir sprechen zum Beispiel nicht von zweieinhalb Jahren, sondern von eineinhalb Jahren, wenn ich den Entwurf richtig gelesen habe.
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Es geht nämlich um den Zeitraum vom 1. Juli 2018 bis zum 31. Dezember 2019. Diesen handwerklichen Fehler müsste man also noch beseitigen.
Wir könnten daneben auch darüber diskutieren, ob wir bei der Berechnung des Streitwertes nicht auch noch das eine oder andere Problem lösen müssen. Es ist nämlich sehr schwer zu berechnen, ob die Streitwertgrenze, wenn man in Gänze in die Revision geht, erreicht wird. Man kann sich die Frage stellen, ob es Möglichkeiten gibt, hier eine Vereinfachung der Berechnung des Streitwertes zu erreichen, sodass Klarheit für die Rechtsuchenden und die Anwälte geschaffen wird und sie bei der Streitwertberechnung nicht nach Gestaltungsmöglichkeiten suchen müssen, um über die 20 000 Euro zu kommen. Auch das Thema „Anspruch auf rechtliches Gehör“ sollten wir in den Beratungen diskutieren. Ich glaube, wir können auch beim Gesetz insgesamt darüber diskutieren: Wie sieht es denn mit den Verlängerungszeiträumen aus?
Wir sollten jetzt schauen, dass wir die alte Regelung, deren Geltungsdauer mit Termin vom 30. Juni dieses Jahres ausläuft, vernünftig in eine Nachfolgeregelung überführen. Aber dann werden wir sicherlich auch mit den Vertretern von Gerichten in eine Diskussion darüber kommen, wie wir die Regelung, deren Gültigkeit wir jetzt seit dem Jahr 2002 fortschreiben, in Zukunft gestalten wollen? Vielleicht gibt es da, wenn man mit dem einen oder anderen Richter in einen Dialog einsteigt, eine endgültige Regelung. Dazu müssen wir aber alle bereit sein.
Von daher glaube ich, dass im Gesetzgebungsverfahren eine vernünftige Regelung gefunden werden kann. Ich wünsche mir, dass wir so ein Thema nicht zum Streitpunkt werden lassen, sondern gemeinsam über alle Fraktionen hinweg eine kluge Regelung finden und hier eine ausgewogene Norm im Sinne der revisionsrechtlichen Überprüfung eines einheitlichen Revisionsrechts mit einem Streitwert ab 20 000 Euro, bei dem wir bleiben sollten, in diesem Bundestag verabschieden, wenn es denn dazu kommt.
Danke schön.
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Vielen Dank, Dr. Sensburg. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/1686 an den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz vorgeschlagen. Ich gehe davon aus, dass es keine anderweitigen Vorschläge gibt. – Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Stuxnet 2010, die Snowden-Veröffentlichungen 2013, WannaCry 2017, der Angriff auf den Deutschen Bundestag oder, ganz frisch, der Regierungshack: Seit vielen Jahren diskutieren wir hier über IT-Sicherheit und die Integrität von Netzwerken und Geräten in unserer durchdigitalisierten Welt. Die Vorfälle verdichten sich immer stärker. Man kann nur konstatieren: Im Bereich der IT-Sicherheit brennt die Hütte lichterloh.
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Deutschland ist nach 13 Regierungsjahren der Union, nach drei Innenministern von CDU und CSU, digital unsicherer als jemals zuvor. Es ist zwingend, dass dieses Thema ein ganz zentrales Thema dieser Legislatur wird. Wenn wir nicht alles unternehmen, um unsere digitalen Infrastrukturen und unsere private Kommunikation bestmöglich zu schützen, dann sind die ganzen schönen IT-Gipfel, all die Sonntagsreden zur Digitalpolitik nicht das analoge Papier wert, auf dem sie stehen, meine Damen und Herren. Deswegen müssen wir etwas tun.
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– Vielen Dank. – Die Risiken sind groß. Deswegen brauchen wir so große Antworten. Diese vermisst man leider bei Ihnen, bei der GroKo, bis heute. Von dem neuen für die IT-Sicherheit und den Datenschutz zuständigen Minister gab es bisher kein öffentliches Wort zu den weitreichenden IT-Angriffen, zu möglichen Wahlmanipulationen und zu den aktuell beispiellosen Datenskandalen. Das ist im Jahr 2018 einfach zu wenig.
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Eine große Antwort hat das Bundesverfassungsgericht schon vor Jahren gegeben: das Recht auf Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme. Lange schon weisen führende Staatsrechtler darauf hin, dass dem Staat hier eine direkte Schutzverantwortung zukommt. Statt dieser Verantwortung nach zehn Jahren gerecht zu werden, ist die inkohärente Politik der Großen Koalition selbst zu einer Gefahr geworden: für die Sicherheit der Daten von Unternehmen und für die Vertraulichkeit der Kommunikation. Sie ist aber auch Gift für die Digitalwirtschaft. Denn wo Vertrauen erodiert, kann keine Wirtschaft wachsen.
Nur drei Beispiele dafür: Es gibt erstens eine völlige Konfusion der Zuständigkeiten und Befugnisse der Sicherheitsbehörden in diesem Bereich – Beispiel ZITiS: eine Behörde ohne Rechtsgrundlage, mit der der Staat selbst zum Hacker verschlüsselter Kommunikation wird –, zweitens das bewusste Offenhalten und die Nutzung von IT-Sicherheitslücken, mit der eine massive Gefährdung der IT-Sicherheit für alle einhergeht, und drittens die anhaltende Zusammenarbeit deutscher Behörden mit obskuren IT-Sicherheitsfirmen, die ihre Software in alle Despotenhände dieser Welt liefern. – All das hat die Große Koalition direkt zu verantworten, und durch ihr Vorgehen entstehen gänzlich neue Gefährdungslagen, und die können wir uns schlicht nicht leisten, meine Damen und Herren.
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Wir müssen endlich weg vom cyberpolitischen Bullshit-Bingo
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hin zu klaren Zuständigkeiten innerhalb der Bundesregierung und der Behörden, weg vom starren Festhalten an der Vorratsdatenspeicherung und anderen Massenüberwachungen und den damit verbundenen unkontrollierbaren Datenanhäufungen, weg von der Missachtung klarer rechtlicher Vorgaben, zum Beispiel zur Überprüfung von Quellcodes durch die Datenschutzbeauftragten, und weg von der Politik des digitalen Wettrüstens, die auch über verfassungsrechtlich hochumstrittene Hackbacks und einen neuen Cyberwar fantasiert.
Stattdessen brauchen wir eine entschlossene wie besonnene, an realen Bedrohungslagen orientierte Politik, die auf effektiv geschützte digitale Infrastrukturen, auf innovative und zivile IT-Sicherheitslösungen und auf starke Institutionen zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher setzt. Wie eine solche Politik konkret aussehen kann, legen wir Ihnen heute noch einmal dar.
Wir brauchen eine Offensive für eine durchgehende Ende-zu-Ende-Verschlüsselung bei allen IT-Großprojekten. Wir brauchen klare Zuständigkeiten in der Bundesregierung und ein neues IT-Sicherheitsgesetz, das nicht nur auf KRITIS abzielt, sondern proaktive Anreize für Unternehmen setzt, die in gute und innovative IT-Sicherheitslösungen investieren wollen.
Außerdem brauchen wir klare Rechtsgrundlagen, zum Beispiel für die Zusammenarbeit im Cyber-Abwehrzentrum, und wir brauchen eine Meldepflicht für Sicherheitslücken, ein unabhängiges BSI, neue Haftungsregelungen, mehr freie und offene Software und vieles, vieles mehr.
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Meine Damen und Herren, eine gute IT-Sicherheit ist die zentrale Bedingung für das Gelingen der Digitalisierung, die Schaffung von Vertrauen in die digitalen Angebote und den Erhalt von Freiheit und Frieden. Deswegen sage ich: Bedienen Sie sich bei unseren Vorschlägen! Machen Sie eine gute IT-Sicherheitspolitik!
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Konstantin von Notz. – Nächster Redner: Armin Schuster für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf zunächst einmal in von Notz’scher Sprache sagen: Teile Ihrer Rede waren echt voll krass.
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Das hat mit dem Inhalt Ihres Antrags gar nicht viel zu tun gehabt. Den finde ich nämlich sehr umfangreich – sehr fleißig –, und es stört mich, dass ich nur fünf Minuten darüber reden darf; denn er verdient eigentlich mehr.
Sieben Seiten in Schriftgröße 8: Ich habe mich im Gegensatz zu Ihnen wirklich durchgearbeitet. Sie haben wenig dazu gesagt. Deswegen, meine Damen und Herren von den Grünen, will ich Ihnen an fünf Punkten erklären, welches Schicksal diesen Antrag trotzdem ereilen wird.
Ich habe dies in zwei Kategorien aufgeteilt. Kategorie 1: wirklich gute Ideen in die richtige Richtung, drei Jahre zu spät.
Erster Punkt. Sie fordern eine neue IT-Sicherheitspolitik. Wir haben in der Großen Koalition – ich verstehe, dass Sie gerne mitgemacht hätten; aber das ging nun einmal nicht – eine Digitalisierungsstrategie und einen Nationalen Pakt Cybersicherheit gerade frisch vereinbart. Das ist ein ganz konkreter Vorschlag, aus dem hervorgeht, wie wir uns in diesem Land auf die neuen Bedrohungen einstellen. Aber das sind keine Bedrohungen, die von der Regierung ausgehen. Jedenfalls müssen sie beherrscht werden; dazu komme ich gleich noch.
Zweiter Punkt, das IT-Sicherheitsgesetz. Sie fordern ein IT-Sicherheitsgesetz. Ein solches Gesetz haben wir bereits 2015 gemacht. Damit sind wir Trendsetter in Europa, ich vermute: sogar im Rest der Welt. Wir werden überall gelobt. Ich gebe zu, dass der Fokus allein auf den kritischen Infrastrukturen liegt. Aber das war im ersten Schritt das Maximale, was wir im Einklang mit denjenigen, die davon betroffen sind, machen konnten. Nun kommt GroKo III. Was haben wir vereinbart? Was steht im Koalitionsvertrag? Ein IT-Sicherheitsgesetz 2.0!
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Auch wir wollen fortschreiben. Sorry, aber Ihr kommt ein bisschen spät. Wir wollen mehr Unternehmen, mehr Mittelstand und auch mehr Behörden in die Sicherheitsstrukturen einbeziehen. Ich sage ganz klar: Aus meiner Sicht wird die Sicherheit in der IT – das haben viele Unternehmen noch nicht verstanden – zu dem entscheidenden Qualitätsmerkmal in der deutschen Wirtschaft, aber auch in den Behörden werden. Deshalb lässt sich im Koalitionsvertrag die Formulierung „Security by Design“ finden. Aufgabe des Staates ist es, den Unternehmen klarzumachen, dass Design und Entwicklung künftig das Thema Sicherheit in der IT qualitativ berücksichtigen müssen. Das alles haben wir drauf; das müsst ihr noch lernen. Wir machen das vielleicht beim nächsten Mal zusammen.
Dritter Punkt. Sie fordern Standardisierung. Was macht das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik? Es ist die deutsche Trendbehörde, die in engster Zusammenarbeit mit dem DIN, dem Deutschen Institut für Normung – seit Jahrzehnten ein Erfolgsinstitut –, längst das Gütesiegel ISO 27001 entwickelt hat, um unter starker deutscher Beteiligung die Standardisierung europaweit und international zu einem Markenzeichen zu machen. Die Kooperation von BSI und DIN ist hervorragend. Ich hoffe, dass wir das fortsetzen werden. Auch hier sind wir Ihnen weit voraus. Sie haben die Ideen, wir die Lösungen.
Zweite Kategorie. Wo sind wir nicht einig? Erstens. Das BSI wegen des Grundrechtsschutzes aus dem BMI herauszuoperieren, ist ungefähr so, als ob man Fastfood essen würde, um schlank zu werden. Entschuldigung, aber das Bundesinnenministerium ist unser Bürgerministerium, unser Gesellschaftsministerium, unser Sicherheitsministerium und vor allen Dingen unser Grundrechtsministerium. Es ist das Verfassungsressort. Das BSI dort herauszuholen, ist aberwitzig; denn nur dort lässt sich Grundrechtsschutz schaffen. Wir wollen das BSI zu einer nationalen Cybersicherheitsbehörde ausbauen, zu einer unabhängigen, neutralen IT-Beratungsstelle für Bürger, Wirtschaft und Verwaltung.
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Es war von Ihnen eine ganz schlechte Idee, uns in den Bereichen IT, Digitalisierung und Sicherheit anzugreifen. Da sind wir im Koalitionsvertrag wirklich super stark.
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Zweitens. In Zeiten der Bedrohungen, die Sie hier skizziert haben – bis hin zum Cyberkrieg –, auf eine aktive Abwehr verzichten zu wollen, bedeutet, dass sich die angeblich modernen Grünen noch im Zeitalter des mittelalterlichen Festungsbaus befinden. Man kann doch solche Bedrohungen nicht allein durch das Bauen von Firewalls beherrschen. Unsere Auffassung ist ganz klar – dazu werden wir Ihnen Vorschläge machen, die Sie quälen werden –: Ja, wir brauchen eine aktive Cyberabwehr. Das heißt, ich will gestohlene Daten zurückholen können. Ich will sie beim Angreifer löschen können. Ich will seinen Server übernehmen und ihn als Ultima Ratio abschalten können.
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Wer das nicht will, kann nicht glauben, dass die Bedrohungen wirklich so groß sind. Aber das sind sie tatsächlich. Es schreit einem aus allen Sicherheitsbehörden entgegen: Schutz der Bürger, der Wirtschaft und der Verwaltung in den Bereichen IT und Digitalisierung! Wir sind da absolut gesehen nicht spitze, aber relativ gesehen sind wir in Europa und der Welt nicht schlecht.
Herr Schuster, jetzt schreie ich Ihnen entgegen: Ihre Redezeit ist krass überzogen.
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Aber es ist noch kein Skandal.
Nein. Sie dürfen natürlich noch Ihre Rede zu Ende bringen.
Nein, jetzt haben Sie mich völlig – –
Jetzt habe ich Sie rausgebracht.
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So einfach geht es; gut. – Vielen Dank, Herr Schuster.
Nächste Rednerin in der Debatte: Kollegin Joana Cotar für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die AfD begrüßt, dass das Thema IT-Sicherheit heute auf der Tagesordnung steht, sie begrüßt vor allem, dass diese für unsere Zukunft so wichtige Aufgabe auch und gerade mit dem Thema Freiheit verknüpft wird; denn diese wird in Deutschland in den letzten Jahren allzu oft mit Füßen getreten.
So enthält der vorliegende Antrag durchaus einige Punkte, mit denen wir von der AfD konform gehen können. Die Bundesregierung hat in den letzten Legislaturperioden die Themen Digitalisierung, digitale Infrastruktur und Informationssicherheit sträflichst vernachlässigt. Gleichzeitig startet diese Bundesregierung immer wieder Angriffe auf die Privatsphäre der Bürger, gefährdet selbst die IT-Sicherheit und kann von staatlicher Überwachung unbescholtener Bürger gar nicht genug bekommen.
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Diesem Treiben gilt es entschlossen entgegenzutreten.
Um das Thema IT-Sicherheit ganzheitlich anzugehen, braucht es jedoch gerade nicht die Herauslösung der Verantwortung aus dem Innenministerium und die Schaffung einer neuen Institution. Gerade in der gegenwärtigen angespannten Sicherheitslage wäre eine weitere Zerfaserung der Kompetenzen absolut kontraproduktiv. Was Sinn machen würde, wäre ein eigenständiges Digitalministerium, das mit dem jetzt schon herrschenden Zuständigkeits- und Koordinierungswirrwarr Schluss macht.
Die Grünen fordern in ihrem Antrag noch mehr neue Organisationseinheiten, mehr Bürokratie, mehr Vorschriften. Es ist schon amüsant, auf der einen Seite mehr Freiheit zu wollen und das sogar in die Antragsüberschrift zu schreiben, im Antrag selbst dann aber auf immer mehr Vorgaben und Auflagen zu bestehen. Das passt nicht zusammen.
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Das, was Sie in Ihrem Antrag so nett als Anreize bezeichnen, entpuppt sich bei näherem Hinsehen schlicht als Gängelung des Mittelstandes. Es ist wichtig, unsere Unternehmen beim Thema IT-Sicherheit aktiv zu unterstützen, sie aber nicht gleichzeitig mit neuen gesetzlichen Vorschriften zu überhäufen.
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Die Politik soll einen notwendigen rechtlichen Rahmen schaffen und sich nicht im Klein-Klein verlieren; genau das passiert hier aber. Bestes Beispiel: das elektronische Anwaltspostfach. Im Antrag wird ausgerechnet dieses gescheiterte Projekt als unterstützenswert angesehen. Dabei hat uns doch gerade dieser Skandal verdeutlicht, dass eine Institutionalisierung von Sicherheitsvorgaben sehr kontraproduktiv sein kann. Das Anwaltspostfach sollte zu Jahresbeginn Pflicht werden. Ende letzten Jahres haben IT-Experten derart viele Mängel gefunden, dass die Bundesanwaltskammer die Plattform vom Netz genommen hat. Daraus sollten wir lernen. Statt branchenspezifische Vorgaben zu machen, sollte der Bundestag besser Rahmenbedingungen zur Etablierung von allgemeingültigen Standards, Best Practices und Ausbildungskonzepten vorantreiben. Davon ist im vorliegenden Antrag wenig zu lesen.
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Es gibt aber durchaus Punkte, in denen wir mit Ihnen konform gehen. Dem Wunsch der Bundesregierung, immer weiter in das Privatleben der Bürger einzudringen, sie immer besser überwachen zu können, müssen wir entgegentreten. Verpflichtungen von Unternehmen, Hintertüren in Hardware und Software einzubauen, sodass uns demnächst auch vernetzte Küchenmaschinen überwachen können, klingen wie eine Textstelle aus dem Roman „1984“. Das ist mit uns nicht zu machen.
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Gleiches gilt für den Ankauf von sogenannten Zero-Day-Exploits, Sicherheitslücken im System, die noch nicht einmal den Herstellern bekannt sind und die unsere Behörden nutzen wollen. Fest steht: Wenn der Staat Computer hacken darf, dann macht das das Internet nicht sicherer, sondern unsicherer. Sicherheitslücken müssen sofort geschlossen werden. Es liegt auf der Hand, dass solche Informationen nicht nur von der Regierung gekauft werden, sondern auch von Kriminellen, die damit unserer deutschen Wirtschaft enormen Schaden zufügen können. Wenn die Bundesregierung an einer Aufdeckung von Sicherheitslücken wirklich interessiert wäre, dann wäre das die Art und Weise, die Bürger zu schützen.
Statt Hintertürchen, Sicherheitslücken und staatlichem Hacking, Staatstrojaner etc., ist Datenschutz gefragt. Wir von der AfD räumen diesem Thema einen hohen Stellenwert ein. Die freie Meinungsäußerung und die freie Entfaltung der Persönlichkeit brauchen einen starken Datenschutz.
Natürlich, mit der Angst vor Terror und dem Wunsch nach innerer Sicherheit kann man den Menschen immer mehr Überwachung verkaufen. Doch immer mehr Überwachung führt nicht automatisch zu mehr Sicherheit, erst recht nicht beim Thema Terror. Alle 24 islamistischen Attentäter, die in den letzten Jahren in der EU Anschläge verübt haben, waren den Behörden bekannt. Für mich stellt sich da nicht die Frage nach noch mehr Überwachung; für mich stellt sich die Frage, wie viele Warnzeichen die Behörden noch brauchen, bevor sie endlich aktiv werden. Dieses Nichthandeln ist das eigentliche Problem, meine Damen und Herren.
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Terror bekämpfen wir nicht dadurch, dass wir Handys in Wanzen verwandeln und das eigene Volk auf Schritt und Tritt überwachen; Terror bekämpfen wir vor allem durch eine konsequente Sicherheits- und Innenpolitik. Lassen Sie uns also gemeinsam an den Themen „mehr IT-Sicherheit“, „mehr Datenschutz“, aber vor allem auch „mehr Freiheit“ arbeiten!
Wir stimmen der Überweisung des Antrags an die Ausschüsse zu und freuen uns auf weitere Diskussionen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte: Sebastian Hartmann für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Digitalisierung ist mehr als eine Frage der Technik. Es geht um die Frage, wie sich unsere Lebensbereiche in jeglicher Hinsicht verändern. Es wird Veränderungen geben, gewollt oder ungewollt: wie wir leben, wie wir arbeiten, wie wir streiten, was der Wahrheit entspricht und was nicht. Wir erleben damit neue Chancen und neue Möglichkeiten, noch ungeahnt. Plötzlich sind wir auch konfrontiert mit neuen Problemen und neuen Gefahren, die uns begegnen.
Das ist nicht nur eine Frage der Sicherheit in der Informationstechnik; die Digitalisierung betrifft viel mehr: wie wir arbeiten und wie wir im Privaten geschützt werden wollen. Damit ist die IT-Sicherheit automatisch das Rückgrat einer erfolgreichen Digitalisierung. Sie muss aber gleichzeitig ein harter Schild sein und ein flexibel atmender Schutzpanzer, der immer wieder aufs Neue verstärkt wird, um die Daten zu sichern, die Daten zu schützen und die Art und Weise, wie wir in unserem Land leben, abzusichern.
Die SPD betrachtet das als ein Thema der progressiven Entwicklung unseres Staates. Damit ist das für uns eine Frage nicht nur der Digitalpolitik, sondern auch der Gesellschaftspolitik. Ich habe jetzt die Rede des Kollegen von Notz gehört. Eigentlich hat uns vieles von dem, was Sie in Ihrem Antrag dargelegt haben, Herr von Notz, gefreut. Ich würde es nicht ganz so kritisch sagen, wie der Kollege Schuster es formuliert hat.
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Was schadet es denn, wenn man etwas aus unserem guten Koalitionsvertrag abschreibt und sagt: „Das wollen wir auch“? Das wäre doch eine Basis, um gemeinsam vorzugehen. Wir werden, vielleicht mithilfe der Grünen, den Koalitionspartner etwas bremsen, wenn er deutlich über das hinausgeht, was wir im Koalitionsvertrag festgelegt haben,
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und hier schon den nächsten Cyberwar ankündigt – plus das Zurückverfolgen von Daten, die man nach Hause bringen möchte. Meine Damen und Herren, so wird es nicht funktionieren.
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Wir haben uns im Koalitionsvertrag auf die Fortentwicklung dessen verständigt, was wir in der letzten Wahlperiode begonnen haben. Das IT-Sicherheitsgesetz 2.0, das der Kollege von den Grünen angekündigt hat, werden wir verantwortlich umsetzen, und zwar so, dass es im Einklang mit unserem geltenden Datenschutzrecht ist und nicht zu einem neuen Einfallstor oder gar zur Bedrohung unserer Bürgerinnen und Bürger wird.
Umgekehrt: Wir haben die entsprechenden Infrastrukturen geschaffen, mit dem BSI im Mittelpunkt, um zum Beispiel Bürgerinnen und Bürgern oder auch kleineren Unternehmen zu helfen, um Dienstleister der Verwaltung zu sein und über den Schutz der kritischen Infrastrukturen hinauszugehen. Genau da wollen wir ansetzen. Wir haben die Instrumente geschaffen und werden sie auf der Basis der Rechtsstaatlichkeit zu einem schlagkräftigen Instrument zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft organisieren.
Die Bundesländer haben sich auch auf den Weg gemacht. In unserem föderalen Staatsaufbau werden wir auf Bundesebene gar nicht alle Punkte allein regeln können. Ich bin für die Punkte zur IT-Sicherheit dankbar, die die alte rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen aufgenommen und dort formuliert hat, allen voran die jetzige Bundesministerin Svenja Schulze. Die jetzige Landesregierung hat es unterlassen, das in ihrem Koalitionsvertrag auch nur ansatzweise darzulegen. Wenn das BSI jetzt sagt: „Wir helfen dem schönen Land Nordrhein-Westfalen; wir bringen es auf den Pfad der Tugend zurück, was die IT-Sicherheit angeht, und schreiben eine gemeinsame Allianz für die IT-Sicherheit“, dann meine ich: Genau da muss der Bund mit den Ländern kooperieren und als Verbund auch mit den Kommunen arbeiten.
Meine Damen und Herren, das ist die Chance, gemeinsam vorzugehen. Wir werden es uns nicht so einfach machen, den Koalitionsvertrag als Grundlage zu nehmen und alles andere in Bausch und Bogen zu verdammen. Wir haben uns darauf verständigt, jetzt Verantwortung zu übernehmen. Aber wir wollen auch darüber hinausgehen. Es ist aber auch richtig, dass wir nicht über das hinausgehen werden, was wir vereinbart haben, wenn es mit dem Bruch von Grundrechten oder – die Ankündigung, die unserem Koalitionspartner da herausgerutscht ist – einem unkontrollierten Cyberwar einherginge. Ich denke, Herr Schuster, wenn wir das noch einmal in Ruhe diskutieren,
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dann werden wir einsehen: Das wollte man eigentlich nicht machen. Es war doch ein schöner sonniger Tag; da sollten Sie sich noch einmal besinnen, ob das hier wirklich der richtige Ort ist, so etwas anzubringen.
Umgekehrt lade ich die Grünen ein: Lassen Sie uns aus dem Schema „Opposition – Koalition“ heraustreten. Sie haben doch Ansätze aufgegriffen, die wir mit dem IT-Sicherheitsgesetz umgesetzt haben. Damit meine ich auch die Möglichkeiten, dass wir Herstellerinnen und Hersteller von Produkten in die Verantwortung nehmen, dass wir Dinge auch weiterentwickeln, um dadurch einen guten Standort in dieser Frage in Deutschland zu schaffen.
Herr Kollege von Notz, ich habe Sie angesprochen – auch wenn Sie jetzt schon wieder weiter sind. Das ist doch etwas, was man gemeinsam bewegen kann, ohne in dem alten Schema „Opposition gegen Koalition“ zu arbeiten.
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Ich habe Sie als progressiven Teil begriffen. Das ist eine herzliche Einladung, und darüber dürften Sie sich doch freuen. Dann werden wir es gemeinsam schaffen, dass Deutschland ein guter Standort ist, und können die Digitalisierung unter Beachtung unserer Grundrechte und mit der starken Infrastruktur, die wir auf Bundesebene organisiert haben, voranbringen.
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Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Sebastian Hartmann. – Nächster Redner, der jetzt seine erste Rede im Deutschen Bundestag hält, ist Mario Brandenburg für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir Freien Demokraten sehen den Antrag der Grünen durchaus als gute Diskussionsbasis an. Die FDP-Fraktion unterstützt einige Forderungen, die in diesem Antrag enthalten sind. Ein Beispiel ist die Korrektur der unübersichtlichen Cybersicherheitslandschaft auf Bundes- und Landesebene, in der weder eindeutige Zuständigkeiten noch eine transparente Koordination und Kompetenz existieren – im Prinzip das gleiche Chaos wie bei der Digitalisierung.
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Des Weiteren steht für uns Freie Demokraten fest, dass Bürgerrechte auch im Internet gewahrt werden müssen. Gesetzliche Beschränkungen, Verbote oder kryptografische Sicherheitsverfahren lehnen wir genauso ab wie den Einsatz von Backdoors in Software. Auch Hackback ist der falsche Weg, um zukünftige Cyberangriffe zu vermeiden.
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Gerne diskutieren wir Freie Demokraten daher konstruktiv mit.
Eher skeptisch bin ich persönlich jedoch, was den Adressaten dieses Antrags betrifft; denn jeder sollte erst einmal in seinem eigenen Hof kehren. Leider vermittelt unsere Bundesregierung, was den Umgang mit dem Datenschutz bzw. der Datenverarbeitung überhaupt betrifft, nicht gerade den Eindruck, dass es ihre Spezialdisziplin wäre.
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Ob es die fehlenden Kabel für die Datenleitungen, die Funkmaste zur Übertragung sind, die gescheiterte De-Mail im Versand oder die nicht vorhandene E-Akte als Bestandteil des niemals realisierten E-Government ist: All dies hat das Vertrauen der deutschen Bevölkerung in die IT-Kompetenz ihrer Regierung auf ein Minimum reduziert.
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Warum sonst geben Menschen ihre Daten freiwillig Internetkonzernen? Und: Start-ups trauen ihrer eigenen Regierung keine sichere zentrale Datenhaltung, etwa bei den elektronischen Gesundheitskarten oder bei Personalausweisen, zu.
Ich kann Ihnen sagen, warum das so ist: Die Bürgerinnen und Bürger des Landes leben in der Gegenwart, während hier, in diesem Hohen Hause, noch gegen die Zukunft angefaxt wird:
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Faxgeräte, vergilbte Siemens-Telefone, VGA-Anschlüsse, Videotext und Verwaltungsmitarbeiter, die im Jahre 2018 mit der Schreibmaschine – ich wiederhole: mit der Schreibmaschine – eine Schlüsselverwaltung organisieren müssen:
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All dies ist traurige Realität im Deutschen Bundestag. All dies führt dazu, dass ich mich als neuer Abgeordneter – sogenannter Digital Native – immer, wenn ich diese heiligen Hallen betrete, eher fühle, als würde ich zu einem Exponat im Technikmuseum gehen als in die moderne Schaltzentrale eines innovativen Landes.
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Bei allem Optimismus, den ich als Freier Demokrat durchaus im Überfluss besitze: Die IT-Sicherheitsprobleme unserer Regierung nur durch Gesetze beseitigen zu wollen, ohne den flächendeckenden Einsatz von und den Umgang mit zeitgemäßen Medien selbst zu praktizieren, ist ungefähr so, wie für die Tour de France durch das Lesen des Regelwerks zu trainieren, aber kein Fahrrad fahren zu wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Abschließend bleibt zu erwähnen, dass auch wir Abgeordnete uns an die eigene Nase fassen müssen. Nur wenn alle Ebenen zusammenarbeiten, schaffen wir es, dass umfangreicher IT-Schutz bei uns selbst beginnt und vorgelebt wird.
In diesem Sinne freue ich mich auf die Beratung im Ausschuss und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, lieber Mario Brandenburg. – Ich bin ein bisschen irritiert; denn nicht nur im Hohen Haus stehen Faxgeräte, sondern auch in meinem Haus. Sie können mich ja mal aufklären. Ich schreibe nämlich immer noch Briefe mit der Hand.
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Nächster Redner in der sehr lebendigen Debatte: Dr. André Hahn für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bürgerinnen und Bürger, aber auch die Unternehmen in unserem Land haben Anspruch auf Schutz vor Cyberangriffen jeglicher Art. Parlament wie Bundesregierung stehen in der Pflicht, die entsprechenden Voraussetzungen dafür zu schaffen. Zu diesem Zweck braucht es weit mehr als die 20 Punkte, die im Antrag der Grünen gefordert werden. Aber dieser Antrag geht in die richtige Richtung. Deshalb wird Die Linke ihn unterstützen.
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Nicht zuletzt die Enthüllungen von Edward Snowden, der NSA/BND-Untersuchungsausschuss, die Hackerangriffe auf den Bundestag, das Außenministerium und viele andere Institutionen haben gezeigt, wie verletzlich wir im IT-Bereich sind. Aus Zeitgründen kann ich hier nur vier Punkte nennen, die für Die Linke in puncto IT-Sicherheit von zentraler Bedeutung sind.
Erstens. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, BSI, muss eine eigenständige, tatsächlich unabhängige und neutrale Behörde werden, deren Kernaufgabe die spürbare Erhöhung des digitalen Schutzes für alle Bürgerinnen und Bürger ist.
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Dafür, meine Damen und Herren, muss das BSI zwingend aus der Zuordnung zum Bundesinnenministerium herausgelöst werden. Vor allem aber muss sich das BSI aus dem Dunstkreis der deutschen Inlands- und Auslandsgeheimdienste befreien.
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Das Amt muss endlich Servicedienstleister für Bürger, öffentliche Infrastruktur und Unternehmen und darf nicht länger auch Zulieferer für die Geheimdienste sein.
Zweitens fordert Die Linke den Verzicht auf den Ankauf und die Nutzung von Sicherheitslücken durch staatliche Einrichtungen. Es muss Schluss damit sein, dass deutsche Behörden und Geheimdienste technische und Softwareschwachstellen ausnutzen und Verschlüsselungsstandards gezielt unterwandern, um Kommunikation auszuspähen, und Staatstrojaner zur Strafverfolgung oder zur Informationsbeschaffung einsetzen. Damit tritt der Staat neben Kriminellen letztlich als ein Gefährder von IT-Sicherheit auf.
Drittens. Einige bei CDU und CSU – Herr Schuster war heute wieder bestes Beispiel – wollen den Geheimdiensten und der Bundeswehr sogar sogenannte Hackbacks erlauben, also Cybergegenangriffe auf fremde Server und Computer, um dort Daten oder gar die ganze Technik zu zerstören. Dadurch könnte die Sicherheitslage dramatisch eskalieren. Die allermeisten Cyberangriffe sind nicht eindeutig zuzuordnen und laufen häufig über Systeme von Dritten, ohne deren Wissen oder gar Einverständnis. Dadurch können bei Gegenangriffen sogenannte Kollateralschäden nicht ausgeschlossen oder sogar provoziert werden. Was das im militärischen Bereich alles an Gefahren bedeuten kann, will ich hier gar nicht ausmalen. Deshalb lehnen wir als Linke die Hackback-Forderungen entschieden ab.
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Viertens fordert Die Linke die Ausweitung der Produkthaftung für IT-Hersteller. Das ist vor allem für Nutzer von Smartphones von Bedeutung; denn diese können zu Cyberangriffen genutzt werden, ohne dass deren Nutzer es jemals bemerken. Das IT-Sicherheitsgesetz von 2015 sieht dazu leider nichts vor. Das ist ein zentrales Defizit, das dringend behoben werden muss.
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Zwei weitere Themen kann ich hier nur anreißen. Das Betriebssystem Windows 10, das in Deutschland millionenfach genutzt wird, leitet selbst bei den besten Sicherheitsprogrammen Daten auf Serversysteme in den USA aus. Was genau, ist selbst dem BSI und der Bundesdatenschutzbeauftragten nicht bekannt, da die Daten verschlüsselt ausgeleitet werden. US-Router haben eingebaute Sicherheitslücken, jene aus China vermutlich auch. Deshalb brauchen wir eine Rückgewinnung an technologischer Souveränität durch die Förderung der Entwicklung von eigener Hard- und Software.
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Letzter Punkt. Ein Journalist hat mich kürzlich gefragt, ob es denn stimme, dass jede dritte oder vierte Planstelle im Bereich der Cyberabwehr in Deutschland unbesetzt sei. Wenn das so stimmt, dann wäre das ein unhaltbarer Zustand. Ich erwarte vom Innenminister, dass er dazu baldmöglichst Stellung bezieht.
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Meine Damen und Herren, wir müssen über die Chancen von IT reden, aber eben auch über die Probleme und die damit einhergehenden Risiken, und wir müssen Maßnahmen zur Stärkung der IT-Sicherheit ergreifen. Die heutige Debatte kann dazu sicher nur ein Anfang sein.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Hahn. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Christoph Bernstiel.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Mehr als 82 000 Cybercrime-Straftaten registrierte das BKA allein im Jahr 2016. Hinzu kommen 253 000 Fälle, bei denen das Internet als Tatmittel verwendet wurde. Im letzten Jahr infizierte das Schadprogramm WannaCry circa 230 000 PCs in über 150 Ländern, und erst kürzlich haben wir uns hier im Bundestag mit einem Hackerangriff auf das Regierungsnetz IVBB befasst, den unsere Behörden zum Glück erfolgreich eindämmen konnten. Es gibt demnach allen Anlass, um hier über das Thema IT-Sicherheit zu sprechen. Und überraschenderweise finden sich in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen – Kollege Schuster hat es bereits erwähnt – tatsächlich Punkte, denen auch wir zustimmen können.
Sie sprechen sich zum Beispiel dafür aus, die Forschungsförderung für die IT-Sicherheit zu stärken. Das ist zweifellos ein sehr wichtiges Thema. Und genau deshalb fördert das BMBF heute schon das Center for IT-Security, Privacy and Accountability in Saarbrücken mit über 16 Millionen Euro. Ziel des Zentrums ist es, bis 2026 über 500 Forscher zu beschäftigen, die sich ausschließlich mit dem Thema Cybersecurity befassen.
In Ihrem Antrag sprechen Sie sich zudem für eine Stärkung des BSI aus, und Sie wünschen sich mehr Kooperation zwischen den Bundesländern. Bereits heute arbeiten GTAZ und das Internetzentrum im Bundesamt für Verfassungsschutz sehr eng mit den Landesbehörden zusammen. Einigkeit besteht auch bei dem Thema „Sensibilisierung und Schulung von Mitarbeitern in Behörden und Unternehmen“. Speziell für diesen Zweck hat der Bund die Allianz für Cyber-Sicherheit ins Leben gerufen. Die Allianz leistet mit einer Vielzahl von Veranstaltungen wie zum Beispiel den Cyber-Informationstagen einen wichtigen Beitrag zur Beratungs- und Aufklärungsarbeit.
Absolut uneinig sind wir uns jedoch bei den übrigen Punkten Ihres Antrags. Sie reden von anlassloser Massenüberwachung durch unsere Sicherheitsbehörden, die es in Deutschland gar nicht gibt. Wir hingegen wollen rechtsfreie Räume im Internet schließen. Sie reden von Cyberwar-Fantasien. Wir nennen es: die Realität. Sie wollen mehr Regulierung und Kontrollen. Wir wollen mehr Sicherheit für unsere Bürgerinnen und Bürger.
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Sie wollen Eingriffsschwellen für Ermittler erhöhen. Wir wollen Täter schnappen und verurteilen. Sie reden von Spionagesoftware und unterstellen ausgerechnet den Behörden, die zu unserem Schutz da sind, dass diese rechtswidrig handeln. Wir dagegen stehen für Waffengleichheit im Cyberraum, und deshalb werden wir, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, das IT-Sicherheitsgesetz weiterentwickeln. Sie sind strikt gegen jede Form der aktiven Verteidigung – auch das klang hier heute schon an –, wie zum Beispiel das Ausschalten von Botnetzen oder das Löschen von gestohlenen Daten auf fremden Rechnern durch einen gezielten Hackback.
Wenn man Ihre Logik in die reale Welt übertragen würde, dann dürfte man einem Einbrecher seine Beute nicht mehr abnehmen, nachdem man ihn geschnappt hat. Das kann doch nicht wirklich Ihr Standpunkt sein.
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Wir wollen jedenfalls nicht tatenlos am Spielfeldrand stehen, wenn Kriminelle in unsere Netzwerke eindringen, sondern uns aktiv zur Wehr setzen.
Sie wollen Whistleblower stärken und damit den Verrat von sicherheitsrelevanten Informationen auch noch belohnen.
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Für uns gilt nach wie vor der alte Grundsatz: Der Zweck heiligt eben nicht alle Mittel.
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Meine Damen und Herren, ich könnte jetzt noch eine ganze Reihe weiterer Punkte aufzählen, aber ich denke, es ist deutlich geworden, dass in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen eine gehörige Portion Misstrauen gegenüber unseren Sicherheitsbehörden mitschwingt. Ich halte das für absolut unberechtigt und im Übrigen auch für unangemessen. Wir als Union stehen für eine verantwortungsvolle und zukunftssichere Cybersicherheitspolitik, die es ermöglicht, die enormen Chancen und Potenziale der Digitalisierung zu nutzen, ohne dabei die Risiken zu vernachlässigen. Dazu müssen wir unsere Ermittlungsbehörden so ausstatten, dass sie technisch, personell und auch rechtlich in der Lage sind, Kriminellen im Internet die Stirn zu bieten.
Zum Schluss möchte ich die Gelegenheit nutzen, allen Partnern zu danken, die sich im täglichen Kampf für die Sicherheit unseres Landes –
Herr Kollege.
– im digitalen Raum starkmachen.
Herzlichen Dank.
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Herr Kollege, die Frage war, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen.
Gerne.
Jetzt ist es eigentlich fast zu spät.
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Das müssen Sie entscheiden.
Also gut. Aber schnell: eine kurze Frage und eine Ratzfatz-Antwort.
Ich bin etwas überrascht. Ich habe jetzt eine Diskussion zwischen Juristen und Politikwissenschaftlern etc. erlebt. Ich bin ganz einfach Diplom-Informatiker, und das, was ich hier in der Diskussion gehört habe, sind sehr viele Schlagworte.
Herr Bernstiel, Sie sagten, dass Sie alle Maßnahmen ergriffen haben. Nehmen Sie zum Beispiel einmal an, dass ein Netzknotenrechner der Deutschen Telekom, dem zentralen Provider, von Huawei kommt und dort Firmware des chinesischen Herstellers installiert ist, die Sie nicht kennen. Was machen Sie dann? Wie operieren Sie? Vorausgeschickt: Wissen Sie überhaupt, was Firmware ist? Es wäre für mich interessant, zu erfahren, was Sie in dem Fall tun? Wie gehen Sie vor?
Die Gesamtdiskussion war für mich etwas losgelöst von der Realität. Deswegen bitte ich Sie: Geben Sie doch ein paar Fakten dazu.
Herzlichen Dank.
Wir sollen schnell antworten. Diese schnelle Antwort kommt jetzt: Dafür haben wir das BSI. Und selbstverständlich weiß ich, wovon Sie sprechen. Bitte unterstützen Sie uns doch bei dem Vorhaben, genau diese Offensivfähigkeiten, von denen ich vorhin gesprochen habe, auszubilden, damit wir in Zukunft in der Lage sind, gegen unsere Feinde im Internet vorzugehen.
Vielen Dank.
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Danke, Herr Kollege Bernstiel. – Nächster Redner: Dr. Jens Zimmermann für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigentlich wollte ich ja mit dem Antrag der Grünen beginnen, aber zu dem Thema Hackback muss man, glaube ich, doch noch einmal etwas sagen; denn so, wie es eben dargestellt wurde, hätte das folgende Logik: Wir haben einen Einbrecher entdeckt, der ein Auto mit einem Nummernschild aus Hamburg hat, und jetzt schießen wir einfach mal auf alle Autos, die ein Hamburger Kennzeichen haben.
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Das ist doch eines der großen Probleme, die wir beim Thema Hackback haben. Wen wollten Sie denn nach den bisherigen Attacken eigentlich angreifen?
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Man weiß nicht genau, von welchem Server der Angriff kam, und am Ende schießt man dann mit den Offensivkapazitäten vielleicht ein Krankenhaus in Frankfurt ab. Da bitte ich um ein bisschen mehr Zurückhaltung und weniger Kriegsgetöse, meine Damen und Herren.
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Die Grünen haben diesen Antrag gestellt, und ich kann mich den Vorrednern anschließen: Auch ich finde, dass es eigentlich ein sehr guter Antrag ist. Er greift viele Maßnahmen aus dem Koalitionsvertrag auf.
Wenn ich aber zu den Kolleginnen und Kollegen der Grünen hinüberschaue, vor allem zu denjenigen aus Hessen, dann muss ich sagen: Vorsicht an der Bahnsteigkante! – Denn hier wird gesagt, dass es ein Problem ist, dass sich der Verfassungsschutz zum Beispiel auch der Instrumente des Internets bedient und das zu Sicherheitslücken führen kann. Das Problem hat ja die schwarz-grüne Landesregierung auch, sonst wären Ihre Mitglieder in Hessen nicht so auf der Palme und die schwarz-grüne Landesregierung in Hessen müsste nicht zum x-ten Male die Verfassungsschutzreform verschieben.
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Dort passiert genau das Gleiche wie hier im Bundestag: Wir führen eine kontroverse Diskussion über die Frage: Was müssen wir können, um Sicherheit zu gewährleisten, und was müssen wir verhindern, um Freiheitsrechte nicht aufzugeben? Ich finde es gut, dass ihr in Hessen die gleichen Diskussionen wie wir hier im Bundestag durchmachen müsst. Ich bitte aber darum, das bei der Rhetorik an der einen oder anderen Stelle zu bedenken.
Die Jamaika-Verhandlungen sind noch nicht so lange her. Wäre Jamaika zustande gekommen, würden wir das Ganze hier vielleicht mit anders verteilten Rollen diskutieren.
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Das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt, den ich den Kolleginnen und Kollegen der Grünen noch mit auf den Weg geben möchte. Die Diskussion über den Antrag ist wichtig, und die Notwendigkeit, das IT-Sicherheitsgesetz weiterzuentwickeln, besteht. Wir haben Ideen, was beim BSI verbessert werden muss. Da sind wir, was die Zielrichtung angeht, glaube ich, einer Meinung.
Deswegen freue ich mich auf die weitere Debatte über dieses Thema, und freue mich natürlich auch, zu beobachten, wie man am Ende in Hessen zu einem Ergebnis kommen wird.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Zimmermann. – Letzter Redner in der Debatte: Hansjörg Durz für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wissen genau: Cyberangriffe finden ständig statt; sie sind eine ständige Bedrohung. Die Wenigsten von ihnen werden öffentlich diskutiert. Vor wenigen Tagen haben die Cybersicherheitsbehörden der USA und Großbritanniens vor Angriffen auf Internetnetzwerke und IT-Infrastrukturen gewarnt. Besonders wahrgenommen haben wir vor wenigen Wochen den Angriff auf die Netze der Bundesregierung, und natürlich ist uns auch der Angriff auf den Bundestag im Jahr 2015 in besonderer Erinnerung. Diese Angriffe zeigen beispielhaft und eindrucksvoll, welch zentrale Aufgabe IT-Sicherheit ist und welch zunehmende Bedeutung der Schutz unserer IT-Infrastrukturen und unserer IT-Systeme hat. Insofern kann man die IT-Sicherheitspolitik der Bundesregierung durchaus „kritisch“ hinterfragen, wie es im vorliegenden Antrag der Grünen heißt. Allerdings sollte dies – das lässt der Antrag vermissen – schon bei Betrachtung der objektiven Tatsachen geschehen. Sie können doch nicht übersehen haben, dass die Koalitionsfraktionen in der letzten Legislaturperiode dieses Thema ganz entscheidend vorangetrieben haben.
Zur Erinnerung möchte ich auch noch einmal, wie eingangs bereits erwähnt, drei Beispiele herausgreifen.
Erstens. Wir waren das erste Land mit einem IT-Sicherheitsgesetz in Europa. Dadurch haben wir den Standard für die europäische Richtlinie gesetzt.
Zweitens. Die Cyber-Sicherheitsstrategie, die den ressortübergreifenden strategischen Rahmen für die Aktivitäten der Bundesregierung bildet, haben wir in der letzten Legislaturperiode neu gefasst.
Drittens. Wir haben eine deutliche Stärkung, auch personelle Stärkung, des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik, unserer nationalen Cybersicherheitsbehörde, vorgenommen, die übrigens bei allem ständigen Wandel und Anpassungsbedarf weltweit hoch geschätzt ist.
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Sie sehen: Das Thema beschäftigt uns nicht erst seit Bekanntwerden der jüngsten Cyberattacken. Uns ist bewusst: Wir befinden uns in einem ständigen Wettlauf gegen Cyberkriminelle. Wir beobachten auch eine zunehmende Professionalisierung der Cyberangriffe. Deshalb muss natürlich eine stetige Anpassung an den Stand der Technik erfolgen. Die Cybersicherheit muss kontinuierlich verbessert werden. Das gilt für die öffentliche Hand, das gilt für Unternehmen, und das gilt natürlich auch für Privatpersonen. Aber genau das nimmt der Koalitionsvertrag auf.
Beim Lesen des Antrages fällt auf, dass der Verfasser den Koalitionsvertrag mindestens sehr genau gelesen haben muss. Eine Vielzahl von Ideen und von Vorschlägen – auch das ist schon dargestellt worden – finden sich so oder so ähnlich bereits im Koalitionsvertrag. Verübeln können wir das nicht; denn die Vorschläge dort sind tatsächlich sehr gut. Ich möchte einmal fünf Beispiele herausgreifen: erstens den Nationalen Pakt Cybersicherheit, also ein Cyberbündnis zwischen Staat und Wirtschaft; zweitens – es ist heute mehrfach angeklungen – die Fortschreibung des IT-Sicherheitsgesetzes; drittens den weiteren Ausbau des BSI als nationale Cybersicherheitsbehörde und die Stärkung seiner Rolle als unabhängiger neutraler Beratungsstelle; viertens – auch das ist schon angeklungen – die Förderung des Entwicklungsprinzips „Security by Design“; fünftens die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen im Bereich der IT-Sicherheit. Das sind nur fünf Beispiele, aber daran wird deutlich: Wir arbeiten stetig und zukunftsgerichtet an der Verbesserung der IT-Sicherheit. Letztendlich enthält der debattierte Antrag der Grünen zwar durchaus gute und sinnvolle Ansätze. Angereichert werden diese allerdings durch altbekannte Forderungen. Aus meiner Sicht helfen organisatorische Überlegungen in Bezug auf das BSI überhaupt nicht bei der Stärkung der IT-Sicherheit. Unsere Sicherheitsbehörden müssen schon – das verweist noch einmal zurück auf die intensive Diskussion – die Möglichkeit haben, den Angreifern annähernd auf Augenhöhe zu begegnen. Die engagierte Diskussion hat gezeigt: Wir werden auch in den Ausschüssen wieder intensiv darüber diskutieren.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Ich bedanke mich, wie Herr Durz es auch gesagt hat, für die lebendige Debatte. Es ist ja immer vom lebenslangen Lernen die Rede. Mein FDP-Kollege hat meinen Wortschatz erweitert und mir versichert, dass das Wort „Bullshit Bingo“ bei den FDP-Parteitagen sozusagen zu Hause ist. Vielen herzlichen Dank! Es hat Spaß gemacht. Ich habe auch was gelernt. Und Sie kommen zu mir nach Hause und räumen mein Faxgerät weg. – Gut.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1328 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden.
Dann darf ich bitten – Sie sind schon dabei –, die Plätze zu wechseln, wenn Sie sich an der kommenden Debatte nicht mehr beteiligen wollen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den letzten Wochen und Monaten viel über Schadstoffe in der Luft, über Stickoxide, Fahrverbote, Grenzwerte und auch über eine sogenannte Studie mit hochgerechneten angeblichen Todesfällen gesprochen. Aber ging es denn bei dieser ganzen Debatte wirklich um eine gesündere Umwelt und um eine bessere Volksgesundheit? Nein, es ging vor allem um die Abschaffung des Individualverkehrs.
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Auch die derzeit in Deutschland gültigen Grenzwerte für Stickoxide dienen letztlich nur diesem einen Ziel: das Automobil zu verteufeln und damit Millionen von Arbeitsplätze in Deutschland zu gefährden.
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Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass es das klare Ergebnis des Diesel-Untersuchungsausschusses hier im Deutschen Bundestag war, dass keine Gesundheitsbeeinträchtigungen durch Stickstoffdioxid in Konzentrationen unter 900 Mikrogramm pro Kubikmeter nachweisbar sind.
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Der Stickoxidgrenzwert für Arbeitsplätze beträgt dementsprechend auch 950 Mikrogramm. Wo liegen die Grenzwerte für Stickstoffdioxid in der Außenluft? Bei gerade einmal 40 Mikrogramm. Dort also, wo sich die Menschen in diesem Land acht Stunden und mehr jeden Arbeitstag aufhalten, dürfen sie mehr als das 20-Fache dessen einatmen, das sie an einer Kreuzung, wo sie nur wenige Minuten am Tag sind, einatmen.
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Daran sieht man: Hier geht es nicht um die Gesundheit der Menschen, sondern hier ist jedes Augenmaß, jede Abwägung, jede Verhältnismäßigkeit und Zweckmäßigkeit auf dem Altar eine irrationalen Autoabschaffungsideologie geopfert worden.
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Eurokratisch grüne Grenzwertfanatiker wollen nicht die Umwelt oder die Gesundheit schonen. Sie wollen gängeln, und sie wollen überwachen. Kein Fleisch in den Kantinen und kein Auto auf den Straßen – das ist das grüne Leitmotiv, mit dem ganz offensichtlich auch die EU-Bürokraten gehirngewaschen wurden.
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Selbst in Kalifornien, das mit die strengsten Umweltvorschriften der Welt hat, gibt es wie im Rest der USA einen Grenzwert von 100 Mikrogramm pro Kubikmeter; das ist das Zweieinhalbfache des Wertes in Deutschland. Die US-Umweltbehörden haben diesen Grenzwert erst kürzlich noch einmal ausdrücklich bestätigt, und zwar mit der Begründung, dass dieser – so wörtlich – einen angemessenen Schutz der öffentlichen Gesundheit gewährleistet und insbesondere – hören Sie da mal gut zu! – eine ausreichende Sicherheitsmarge auch für ältere Menschen, Kinder und Menschen mit Asthma berücksichtigt. Dass Europa und Deutschland diesen Grenzwert noch einmal auf weniger als die Hälfte herabgesetzt haben, kann nicht ernsthaft mit Gesundheitsbedenken begründet werden, sondern zielt vielmehr auf eine weitere Drangsalierung der Automobilindustrie und der Dieselbesitzer ab.
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Und so werden dann auch statistische Hochrechnungen, die Durchforstung ganzer Datenberge nach allen möglichen Korrelationen als wissenschaftlich seriös dargestellt und als epidemiologische Studien bezeichnet, mit denen sich angeblich 6 000 vorzeitige Dieseltote nachweisen lassen, um dies dann medienwirksam auszuschlachten. Dass das Umweltministerium im Nachhinein jedoch kleinlaut einräumen musste, dass die ursächliche Wirkung von Stickoxiden hinsichtlich dieser angeblichen Todesfälle mit einer solchen Studie gar nicht belegt werden kann, wird dagegen gerne verschwiegen.
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Selbst die sagenumwobene WHO-Empfehlung eines Grenzwertes von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter aus dem Jahr 1997 basiert nur auf epidemiologischen Untersuchungen, also auf rein statistischen Hochrechnungen. Versuche der WHO in den Jahren 2000 und 2005, diesen Grenzwert mit klinischen Studien zu bestätigen, sind krachend gescheitert.
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Der damalige Verhandlungsführer in Brüssel und Abteilungsleiter im Bundeswirtschaftsministerium hat völlig zu Recht in seiner Stellungnahme für das Bundesverwaltungsgericht im Zusammenhang mit dem Dieselurteil klargestellt, dass der EU-Grenzwert willkürlich gewählt wurde. Wir schließen uns dieser Expertenmeinung an und fordern das Ende der Verteufelung des Individualverkehrs und die unverzügliche Überprüfung der Stickoxidgrenzwerte.
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Denn diese Grenzwerte sind ungerechtfertigt, sagt der Diesel-Untersuchungsausschuss, diese Grenzwerte sind unsinnig, sagen die Fachmediziner, diese Grenzwerte sind willkürlich festgelegt, sagt der damals im Wirtschaftsministerium Zuständige. Hören Sie deshalb endlich damit auf, ohne haltbare wissenschaftliche Basis in rein ideologischer Verblendung Millionen von Dieselbesitzern kalt zu enteignen, die Existenz vieler kleiner Handwerksbetriebe zu gefährden und Millionen von Arbeitsplätze in der deutschen Automobilindustrie zu vernichten.
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Danke schön. – Nächster Redner in der Debatte: Oliver Grundmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Antragsteller von der AfD, ein Stück weit weniger Polemik und Übertreibung hätte bei der Vorstellung Ihres Antrages gutgetan. Dann hätten wir hier auch eine sachliche Debatte führen können.
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Wir wollen hier weiß Gott nicht alles schlechtmachen, was aus Ihrer Feder kommt und in Ihrem Antrag steht. Grundsätzlich schließe ich mich ausdrücklich den Ausführungen der Kollegin Skudelny von der FDP an: Es muss Schluss sein mit dieser ideologischen Hexenjagd auf unseren Dieselmotor. Es muss auch Schluss sein mit entsprechenden fragwürdigen Studien des UBA – das haben wir auch klar zum Ausdruck gebracht –, das damit renommierten Wissenschaftlern vor den Kopf stößt.
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Denn das verunsichert die Menschen in diesem Land – da gebe ich Ihnen durchaus recht –, und das wollen wir ausdrücklich nicht, das wollen wir entschieden verhindern.
Kurz zu Ihnen, liebe Kollegen der FDP. Es stehen durchaus wertvolle Dinge in Ihrem Antrag, über die es sich zu sprechen lohnt, über die wir in den zuständigen Ausschüssen diskutieren werden: über Möglichkeiten zur Digitalisierung unserer Infrastruktur, über notwendige Umgehungsstraßen und auch über objektivere Schadstoffmessungen. Dazu werden wir entsprechende Ausführungen hören, und darüber werden wir auch diskutieren. Wir als Union arbeiten mit Hochdruck an innovativen Lösungen und lassen uns bestimmt nicht durch die Panikmache der Deutschen Umwelthilfe und anderer Interessenverbände hetzen, die als kraftvolles Orchester aufspielen.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir verwehren uns gegen eine solche Dieselpanikmache, aber wir verwehren uns gleichermaßen gegen die scheinbar einfachen Antworten der AfD. Sie legen hier zwei Seiten vor, schrauben ein Stück weit an den Grenzwerten und geben jedenfalls vor, dann seien die Probleme vom Tisch. So läuft das aber nicht. Das ist einfacher Populismus, das sind ganz einfache Antworten.
Ich will Ihnen auch sagen, warum solch ein Antrag in die falsche Richtung geht: weil die Grenzwertdiskussion in unseren Augen überhaupt nicht nötig ist. Ganz im Gegenteil: Es wäre sogar höchst fahrlässig, jetzt an den Grenzwerten herumzuschrauben. Das ist eben der springende Punkt in dieser Debatte, und da unterscheidet sich unsere Position fundamental von der Position der AfD, aber gleichermaßen von der Position der Grünen. Wir stehen nämlich zum Diesel. Wir vertrauen der Dieselantriebstechnologie.
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Wir sehen unseren Diesel nicht lediglich als Verursacher von NO 2 -Überschreitungen an, sondern als Teil einer Lösungsstrategie. Das wird uns helfen, unsere ambitionierten Ziele im Bereich des Klimaschutzes zu erreichen. Gleichermaßen werden wir mit den neuen Euro-6d-Dieseln zukünftig die Grenzwerte einhalten. Ich weiß, ihr von den Grünen wollt das nicht. Ihr habt eine völlig andere Ausrichtung. Ihr findet den Diesel per se schlecht.
Zu den Kollegen von der AfD: Ich habe mir schon die Augen gerieben, als ich mir Ihren Antrag durchgelesen habe. Im Grunde wollen auch Sie den Diesel nicht zukunftsfähig machen; jedenfalls erreichen Sie das nicht einem so formulierten Antrag. Sie gebärden sich als Dieselretter, aber Sie bewirken im Grunde genau das Gegenteil von dem, was wir hier als richtig erachten.
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Herr Grundmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung des Kollegen Spaniel von der AfD?
Ja, gerne.
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Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage gestatten. – Sie haben gerade ausgeführt, dass Sie zum Diesel stehen und dass Sie davon ausgehen, dass Sie durch eine Anpassung der Dieseltechnologie die vorgeschriebenen Luftgrenzwerte erreichen. Ich frage Sie: Kennen Sie die Studie, in der die Luftreinhaltepläne der Stadt Stuttgart untersucht wurden? Da steht nämlich drin, dass nur ein totales Fahrverbot für alle Fahrzeuge in der Stadt Stuttgart dazu führt, dass man die Grenzwerte erreicht. Das passt nicht zu Ihrer Aussage.
Mich würde gerne generell auch interessieren, welche Verbindung Sie zwischen Luftgrenzwerten und Fahrzeuggrenzwerten sehen. Sie ist bisher gar nicht beleuchtet worden. Deshalb finde ich Ihre Aussage sehr mutig. Aber ich würde gerne etwas dazulernen. Wie kann diese Verbindung in Bezug auf die Ergebnisse der vom Verkehrsministerium Baden-Württemberg initiierten wissenschaftlichen Studie eingeordnet werden?
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Es muss nicht eine Frage sein, es kann auch eine Bemerkung sein.
Sehr geehrter Herr Kollege, ich werde darauf im Rahmen meiner Rede noch eingehen. In der kurz bemessenen Redezeit werde ich auch noch auf die Möglichkeiten der Luftreinhaltung im Rahmen des Sofortprogramms eingehen. Über die Studie werden wir bei der Beratung der Anträge in den Ausschüssen ausführlich diskutieren. – Vielen Dank.
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Sie schreiben in Ihrem Antrag fleißig, dass mit den neuen Dieselmotoren die NO 2 -Belastungen automatisch zurückgehen werden. Das ist richtig, dem stimme ich ausdrücklich zu. Wir werden, wenn das so weitergeht, an zahlreichen Messstellen bald keine Grenzwertüberschreitungen mehr zu verzeichnen haben; ich bin sehr zuversichtlich, dass das auch in anderen Städten möglich sein wird. Gleichzeitig heißt es in Ihrem Antrag, die Grenzwerte seien viel zu streng und müssten auf den Prüfstand. Ich frage mich schon: Wie soll das zusammengehen? Sollen wir der Automobilindustrie sagen – jedenfalls denjenigen, die fleißig waren, die sich angestrengt haben –: „Liebe Autobauer, wir haben uns geirrt. Die sauberen Diesel, die ihr entwickelt habt, könnt ihr behalten, die brauchen wir nicht mehr. Wir reduzieren die Grenzwerte, alles fein“? Was für ein fatales, was für ein falsches Signal wäre das für die deutsche Automobilindustrie? Sie braucht Planungssicherheit. Das, was hier heraufbeschworen bzw. gefordert wird, ist im Grunde Industriepolitik aus Zeiten des Sozialismus: Was nicht passt, wird passend gemacht.
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Genau dem widersetzen wir uns entschieden.
Warum sind die NO 2 -Belastungen in den letzten Jahren so drastisch gesunken, um 60 Prozent allein in den letzten 25 Jahren? Warum haben wir diese hochentwickelten Dieselmotoren überhaupt am Markt? Wir haben sie am Markt, weil die Motoren fortwährend weiterentwickelt wurden und weil wir klare staatliche Vorgaben gemacht haben, um einen entsprechenden Innovationsdruck zu erzeugen. Diesen wollen Sie jetzt einfach verpuffen lassen?
Ich will nicht alles schlechtreden, aber man kann schon sagen: Das ist ein Stück weit pubertär. Da kommt ein Schüler nach Hause, er hat schlechte Noten und versucht deshalb, das gesamte Benotungssystem zu verändern, anstatt sich um bessere Leistungen zu bemühen. Das ist ein Ansatz, der in die falsche Richtung geht. Mit diesem Ansatz verabschiedet sich Deutschland in die Mittelmäßigkeit. Das wäre ein Albtraum für unsere deutsche Wirtschaft und deren Ansehen in der Welt.
Betrachten wir das Ganze aus einer anderen Perspektive. Alle 28 EU-Staaten haben sich auf verbindliche EU-weite Grenzwerte verständigt. Und jetzt soll ausgerechnet das Land der Autobauer, der VW-Sünder, bei der EU-Kommission vorstellig werden? Wir würden erstens keinerlei Zustimmung bekommen, zu Recht. Wir würden uns lächerlich machen. Wir würden uns blamieren. Ich will Ihnen sagen: Wir stehen für Verlässlichkeit und Vertragstreue gegenüber unseren europäischen Partnern – so wie wir es festgeschrieben haben. Sie hingegen wollen im Grunde einen irrlichternden Trump-Staat im Herzen Europas. Das lehnen wir entschieden ab.
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Ein zweiter Punkt: Was wäre das für ein fatales Zeichen für unsere Bürger? Sagen wir denen dann: „Das mit den Grenzwerten haben wir nicht hingekriegt, macht nichts, Grenzwerte runter, ob Tausende Diesel unter Wert verkauft oder verschrottet werden, ist uns egal, das ist euer Problem“? Ist das AfD-Politik? Ist das eine bürgernahe Politik?
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Grenzwerte, die wir haben, sind eine wichtige Arbeitsgrundlage; wir halten daran fest. Wir haben das „Sofortprogramm Saubere Luft“ der Bundesregierung: Elektrifizierung von Fahrzeugflotten, Digitalisierung kommunaler Verkehrsleitsysteme. Ich komme von der Küste und weiß: Auch im maritimen Bereich haben wir noch große Chancen, große Potenziale: LNG, Windwasserstoff, Landstrom, Zero-Emission-Antriebe. All das sind gute Wege in die Zukunft. Damit können wir die Städte sauberer, moderner und lebenswerter machen. Mit einem solchen Maßnahmenpaket bleibt Deutschland Mobilitätsland und Innovationsführer.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Das sind die Chancen der Zukunft, die wir kraftvoll anpacken werden. Ihr Antrag – das muss ich hier ausführen – ist leider rückwärtsgewandt. Wir schauen nach vorne.
Vielen Dank.
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Ich habe gesehen, dass Sie eine Frage stellen wollten. Aber wir sind zeitlich schon extrem spät dran. Ich bitte Sie, da schon eine Frage aus Ihrer Fraktion gestellt wurde, dazu beizutragen, dass wir jetzt ein bisschen schneller vorankommen. Sind Sie einverstanden? – Ja, Sie sind einverstanden.
Dann kommt jetzt als nächste Rednerin Judith Skudelny für die FDP.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Dieselfahrer darf nicht zum Bauernopfer der Nation werden. Die EU-Grenzwerte wurden 2008 auf Basis von Korrelationsstudien festgelegt. Ich möchte Ihnen einmal zeigen, was Korrelationsstudien können: Wissenschaftler haben festgestellt, dass die Ehedauer korreliert, das heißt zusammenhängt, mit dem Umfang der Bäuche der Ehemänner.
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Das heißt, je länger eine Ehe dauert, desto größer wird der Bauch. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht unbedingt, dass der ausschlaggebende Punkt für den Bauchumfang tatsächlich die Tatsache der Ehe ist. Vielmehr sind andere Tatsachen wie ein veränderter Stoffwechsel, das Alter, mangelnder Sport und eine andere Ernährung Grund dafür, dass der Bauch ein bisschen größer wird.
Genauso wie man bei Ehe und Bauchumfang nicht eins zu eins Rückschlüsse ziehen kann, ist auch das Stickoxid bei der Frage der Herz-Kreislauf-Erkrankungen das geringste der auftretenden Risiken. Nach wie vor sind die größten Risiken für Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Deutschland Übergewicht, Rauchen, mangelnder Sport und falsche Ernährung. Das sollten wir den Menschen da draußen noch einmal sagen.
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Aber nicht nur das: Wir Deutschen sind auch so ein bisschen die Messidioten Europas. Während andere vollkommen im Rahmen der europäischen Gesetzgebung ihre Messstationen ein Stück weit weg von den Straßen, teilweise unter Palmen, aufstellen, hat man das Gefühl, dass die Länder und Städte in Deutschland bemüht sind, Höchstergebnisse zu messen. Ich sage es einmal mit Dieter Nuhr, der gesagt hat: Das ist so, wie wenn man versucht, den Körpergeruch eines Menschen an seinem Hintern zu messen.
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Das ist die Gemengelage von superstrengen Grenzwerten der EU und radikalen Messmethoden in Deutschland. Genau in dieser Gemengelage drohen die deutschen Dieselfahrer zum Opfer der Politik zu werden.
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Eines möchte ich sagen: Nachhaltig ist das nicht. Nachhaltig ist ein ausgewogenes Maß von ökologisch, ökonomisch und sozial. Schauen wir einmal, was ein Fahrverbot für Dieselfahrzeuge bewirken würde: Damit würden die wirtschaftlichen und sozialen Belange derer, die kalt enteignet werden, derer, die Familie und Beruf vereinbaren wollen, derer, die im Handwerk und Mittelstand wirtschaften möchten, dem geringen ökologischen Nutzen einer leichten Senkung geopfert werden.
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In Deutschland müssen wir drei Dinge noch viel entschlossener angehen.
Erstens. Die Messstellen müssen wir bundeseinheitlich – weil auch die Bundesbürger die Konsequenzen tragen – innerhalb des europäischen Rechtsrahmens, aber unter Ausnutzung der Toleranzen aufstellen.
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Wir müssen zweitens bezüglich des Vertragsverletzungsverfahrens mit der EU im Gespräch bleiben. Wir müssen zeigen, dass wir durchaus noch nachhaltige Maßnahmen haben, die wir anwenden können und müssen, um die Grenzwerte einzuhalten. Wir müssen zeigen, dass wir nach den Erfolgen, die wir bereits erzielt haben – die Luft in Deutschland ist so gut wie seit 30 Jahren nicht –,
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nur noch etwas mehr Zeit brauchen, um die Grenzwerte einzuhalten.
Drittens – das unterscheidet uns –: Auch bei der Luftreinhaltung ist Stillstand ein Rückschritt. Natürlich wollen wir besser werden. Es gibt eine Maßnahme, mit der wir ganz einfach den gesellschaftlichen Belangen und den ökologischen Belangen Rechnung tragen können: Wir müssen unsere Fahrzeuge zum Fahren bringen, und wir müssen den Verkehr zum Fließen bringen. Dann sind die geringsten Schadstoffausstöße vorhanden.
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Umgehungsstraßen, bessere Infrastruktur, digitalisierte Verkehrslenkung und ein attraktiver ÖPNV: So betreibt man nachhaltigen Luftschutz.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Skudelny. – Nächste Rednerin: Ulli Nissen für die SPD-Fraktion.
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Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich erstaunt der Antrag der AfD nicht. Die AfD bestreitet bekanntlich auch den Klimawandel.
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Sie nimmt anscheinend auch den Gesundheitsschutz der Bevölkerung nicht besonders ernst. Da fällt mir ein Spruch von Otto Waalkes ein: Rauchen ist nicht gesundheitsschädlich, sagt Dr. Marlboro. – Dazu passt, dass es bei der AfD einen Kollegen gibt, der langjährig bei Daimler beschäftigt war und die Gesundheitsgefährdung durch Stickoxide kleinredet.
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Die 39. Bundes-Immissionsschutzverordnung sieht aus Gründen des Gesundheitsschutzes vor, dass der Jahresmittelgrenzwert von 40 Mikrogramm für Stickstoffdioxid nicht überschritten werden darf. Auch in meinem Frankfurter Wahlkreis sind an diversen Messstellen Überschreitungen aufgetreten. Hauptursächlich für die Überschreitung ist in Deutschland der Verkehr und hier insbesondere der Diesel. Schädlich im Dieselabgas ist vor allem das Stickstoffdioxid. Der Mensch reagiert auf eine höhere Konzentration mit Husten und Halsschmerzen, später kommen Schwindel, Übelkeit und Kopfschmerzen hinzu. Im schlimmsten Fall führt das zu einem Lungenödem, zu Atem- oder Herz-Kreislauf-Versagen oder auch zu Asthma.
Ich erinnere mich an unsere Debatte zu den Abgastests an Affen. Nach Meinung der Experten standen diese angeblich im Zusammenhang mit einer Veröffentlichung der WHO, die Dieselabgase als krebserregend eingestuft hatte. Da wollte die Automobilindustrie wohl eine eigene Studie, die etwas anderes beweist. Aber dummerweise entsprachen die Ergebnisse nicht den Vorstellungen von VW. Denn auch bei den modernen Dieselfahrzeugen stellten die Forscher kritische Effekte fest, als sie den Affen später Blut abnahmen und Lungenabstriche bei ihnen machten. Es kam zu erhöhten Entzündungswerten und Reizungen. Zufälligerweise wurden die Untersuchungsergebnisse dann nicht veröffentlicht.
Bereits 2017 haben sich alle Beteiligten auf das „Sofortprogramm Saubere Luft“ verständigt. Dafür stehen 1 Milliarde Euro zur Verfügung. 750 Millionen Euro kommen allein vom Bund. Das Sofortprogramm umfasst folgende Maßnahmen: die Elektrifizierung des Wirtschaftsverkehrs, die Elektrifizierung von Taxis, Mietwagen und Carsharingfahrzeugen, die Elektrifizierung von Busflotten im ÖPNV, die Förderung der Ladeinfrastruktur, die Nachrüstung von Dieselbussen im ÖPNV mit Abgasnachbehandlung und die Digitalisierung kommunaler Verkehrssysteme.
Es gibt schon gute Umsetzungsüberlegungen. Mein heimischer Verkehrsverbund, der RMV, will zum Beispiel auf Strecken der Taunusbahn Brennstoffzellenfahrzeuge einsetzen. In meinem Frankfurter Wahlkreis wird darüber nachgedacht, Abwrackprämien für alte Mopeds bei gleichzeitiger Neuanschaffung von Elektrozweirädern zu zahlen. Da tut man nicht nur etwas für bessere Luft, sondern auch für weniger Lärm. Diesen Unterschied merke ich, wenn ich mit meinem Elektroroller – mit ihm bin ich seit neun Jahren unterwegs – neben einem alten Mopedstinker stehe.
Der Lieferverkehr nimmt immer mehr zu. Eine gute Lösung wären Mikrodepots. Diese können drei Paketfahrzeuge ersetzen. Die Stadt Gent in Belgien hat für den Lieferverkehr tolle Konzepte entwickelt. Paketfahrzeuge, die unterwegs sind, sollen nur noch elektrische Transporter sein. DHL geht mit seinem Streetscooter positiv voran. Es gibt bei diesen Modellen sogar Tests, den Feinstaub von den Reifen direkt aufzufangen. Das finde ich wirklich hervorragend.
Auch die E-Mobilität im Güterverkehr muss angegangen werden. Bei mir in Frankfurt wird jetzt auf der A 5 eine Teststrecke für Lastwagen gebaut. Ab 2019 sollen dort Trucks an Oberleitungen fahren. Es gibt daneben Überlegungen, E-Lkws von der Maut zu befreien. Darüber sollten wir diskutieren.
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Die Klimaziele müssen auch in der Seeschifffahrt engagierter angegangen werden. Die dringende Hardwarenachrüstung für dreckige Dieselfahrzeuge ist heute Abend ja noch einmal ein Extrathema.
Aus meiner Sicht ist es vollkommen klar, dass wir zum Schutz der Gesundheit unserer Bevölkerung weitere Aktivitäten ergreifen müssen, um die Luftreinhaltung in Deutschland zu verbessern. Lassen Sie uns daran gemeinsam arbeiten.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank, Kollegin Ulli Nissen. – Nächster Redner: Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Alle diskutieren über den Dieselskandal, es drohen Fahrverbote, und da hört der Spaß auf.
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Die Debatte zu den Anträgen von AfD und FDP gibt mir die Chance, für etwas mehr Klarheit zu sorgen. Als Maschinenbautechniker eines Automobilzulieferers bin ich es gewohnt, Parameter und ihre Wirkung auf Prozesse im Einzelnen und in Zusammenhängen zu beleuchten und zu analysieren.
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, jetzt wird es leider technisch. In der Natur ist ein Stickoxidgehalt von bis zu 9 Mikrogramm je Kubikmeter üblich. In der EU gilt ein Grenzwert von 40 Mikrogramm je Kubikmeter – er entspricht der Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation –, und das Stundenmittel, also der durchschnittliche Wert in einer Stunde, soll 200 Mikrogramm nicht überschreiten.
Wieso ist bei Arbeitsplätzen ein Grenzwert von 950 Mikrogramm zulässig? Ist das gute Lobbyarbeit, oder sind das andere Betrachtungsweisen? Es sind Zugeständnisse an die Industrie, weil manche Prozesse anders einfach nicht finanzierbar oder durchführbar sind, und man handelt mit gesunden Beschäftigten. Diese haben zwei Möglichkeiten: Sie halten das entweder aus, oder sie wechseln den Job.
In Kammerversuchen mit Menschen hat man festgestellt, dass Stickoxidbelastungen von über 375 Mikrogramm je Kubikmeter schon nach 30 Minuten zu Reaktionen in der Lunge führten. Menschen mit Asthma, Kinder, Senioren und Kranke sind empfindlicher als ein junger kerngesunder Mann. Deswegen müssen die Grenzwerte deutlich niedriger sein. Grenzwerte sollen alle schützen.
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Herr Kollege Lenkert.
In Tierversuchen wurde festgestellt, dass sich die NO x -Auswirkung, also die Stickoxidauswirkung, im Körper addiert, ähnlich wie bei Quecksilber. Wenn Sie jeden Tag eine winzige Quecksilbermenge zu sich nehmen, passiert akut nichts. Irgendwann ist aber die Grenze in Ihrem Körper überschritten, und dann leiden Sie an einer Quecksilbervergiftung, die schleichend Ihre Gesundheit vernichtet.
Herr Lenkert, erlauben Sie – damit das ganz klar ist: ich lasse nur eine zu – eine Zwischenfrage oder -bemerkung von einem CDU/CSU-Kollegen? – Das muss nicht sein.
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Kollege Möring.
Herr Kollege Lenkert, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Ich mache es auch ganz kurz.
Zu der Betrachtung der Grenzwerte bei der Industrie und ihrer Argumentation dazu: Würden Sie auch vor dem Hintergrund, dass im Bürobereich 60 Mikrogramm pro Kubikmeter als Grenzwert gelten, während es im Verkehrsbereich 40 Mikrogramm pro Kubikmeter sind, so argumentieren?
Es gibt einen Unterschied zwischen der Büroarbeitszeit und der Gesamtzeit des täglichen Lebens. Wir reden hier über das Jahresmittel von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter. Selbst ich halte mich mit 70 Arbeitsstunden in der Woche nicht 8 700 Stunden im Jahr in meinem Büro auf.
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Das heißt also im Klartext: Es ist eine Summenwirkung, und es liegt durchaus im Interesse der Arbeitgeber, einen etwas höheren Grenzwert anzusetzen.
Bei gesunden Menschen passiert zwar nicht sofort etwas, aber das heißt doch nicht, dass ich im Jahresmittel auch in meiner Freizeit unbedingt denselben Belastungen ausgesetzt sein muss. Das ist ein Kompromiss, um das Mögliche mit dem Machbaren zu verbinden.
Ich zitiere an dieser Stelle den ersten und einzigen DDR-Umweltminister, der sagte: Grenzwerte sind der Kompromiss zwischen dem, was wir bereit sind an Gesundheitsschäden in Kauf zu nehmen, und dem, was unsere Bequemlichkeit oder Wirtschaft erfordert.
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Da kann ich Ihnen ein einfaches Beispiel nennen: Wie viele Menschen sind bereit, für die Einführung eines Tempolimits zu stimmen, obwohl sie wissen, dass mit einem Tempolimit viele Menschen Gesundheit und Leben behalten würden?
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Weltgesundheitsorganisation berichtete von einem Unfall an einer Gasheizung. Kinder atmeten über zwei Wochen 30 Mikrogramm je Kubikmeter Stickoxide ein. Die Atemwegserkrankungen stiegen um 20 Prozent. Wenn man das weiß, sind selbst 40 Mikrogramm zu hoch.
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Sich in Europa einfach auf amerikanische Grenzwerte zu berufen, zeugt davon, dass man den Unterschied zwischen den Schutzsystemen in Amerika und in Europa nicht kennt. In Amerika gibt es nur dann strenge Grenzwerte, wenn eindeutig nachgewiesen ist: Es ist schädlich. Aber wenn VW oder jemand anderes Schäden verursacht und es wird nachgewiesen, dass sie Schuld haben, dann wird es richtig teuer.
In Europa ist das anders. In Europa herrscht das Vorsorgeprinzip. Das bedeutet: Wenn Schäden auftreten könnten, müssen Sie nachweisen, dass dies nicht passiert, ansonsten bekommen Sie keine Zulassung. Treten trotzdem Schäden auf, müssen Sie so gut wie gar nicht haften. Wenn hier also jemand fordert, amerikanische Grenzwerte und amerikanische Regelungen zur Zulassung ohne die amerikanischen Haftungsregeln einzuführen, handelt er grob verantwortungslos und gefährdet die Gesundheit unserer Bevölkerung, unserer Menschen.
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Die Linke steht für das Vorsorgeprinzip. Das lassen wir nicht aufweichen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich weiß nicht, wie vielen von Ihnen bewusst ist, dass Stickoxide zu Ozon führen. Ozon entsteht aus Stickoxiden. Für den Herrn Techniker oder Ingenieur einmal die Formel zur Erinnerung: NO 2 plus O 2 plus UV-Licht ergibt Stickstoffmonoxid plus Ozon, so lange, wie Energie zugeführt wird. Bei Sonnenschein und Stickoxidkonzentration entsteht also Ozon. Wollen Sie jetzt wetterabhängige Grenzwerte einführen, dass also der Daimler bei Sonnenschein nicht fahren darf? Oder muss VW eine Wetterprognose berücksichtigen, bevor Menschen mit ihren Autos losfahren dürfen? Mal ehrlich: So etwas können wir uns sparen.
Es ist vielen kranken Menschen egal, ob ihr Asthma durch die Stickoxide oder durch das Ozon, das durch Stickoxide entsteht, ausgelöst wird. Demzufolge sind Grenzwerte zwingend einzuhalten. Technisch ist dies erreichbar. Unsere Kinder und unsere Gesundheit werden es uns danken.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Ralph Lenkert. – Nächste Rednerin: Dr. Bettina Hoffmann für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir unterhalten uns hier über die Frage: Wie gefährlich ist es, wenn wir langfristig Stickoxide einatmen? Um es ganz klar zu sagen: Es ist gefährlich. Es ist auch vollkommen unstrittig, dass Stickoxide das Gewebe in den Lungen schädigen, dass sie Herz-Kreislauf-Beschwerden verstärken und dass sie Allergien hervorrufen.
Um die Gesundheit von uns allen zu schützen, gibt es ebendiesen Jahresgrenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Er gilt für alle Menschen an allen Orten und zu jeder Zeit. Damit ist dieser Grenzwert darauf ausgelegt, dass auch empfindliche Menschen keine Probleme bekommen. Dieser Grenzwert ist nicht aus der Luft gegriffen.
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– Darüber können Sie ruhig lachen. – Epidemiologische Studien sind wissenschaftlich anerkannte Verfahren. Ich finde es nicht gut, Frau Skudelny, dass Sie diese mit komischen Vergleichen über dicke Bäuche von Ehemännern in Misskredit bringen.
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Experimentelle Versuche an Menschen und Tieren verbieten sich. Deshalb muss man auf diese Studien zurückgreifen.
Der Unterschied zwischen Grenzwerten im Allgemeinen und den Grenzwerten am Arbeitsplatz wurde gerade schon angedeutet. Ich will hier keinen belehren, aber vielleicht muss man es doch noch einmal sagen: Der entsprechende Grenzwert errechnet sich aus zwei Sicherheitsfaktoren, die miteinander multipliziert werden. Ein Arbeitsleben dauert bei uns typischerweise 40 Jahre à 220 Arbeitstage. Diese Zahl mal acht Stunden ergibt etwa 70 000 Stunden. Bei einer Lebenserwartung von 80 Jahren atmet man aber in 700 000 Stunden insgesamt zehnmal so viel Luft ein und aus wie am Arbeitsplatz. Dazu kommt eine um den Faktor zwei bis fünf erhöhte Empfindlichkeit von 10 Prozent der Bevölkerung, die zwar überwiegend gesund, aber empfindlich sind. Das sind zum Beispiel Kinder; sie wurden schon erwähnt. Multipliziert man diese Faktoren, dann kommt man auf einen Wert von 20 bis 50 Mikrogramm pro Kubikmeter als einen vorsorgeorientierten Wert.
Aber seien Sie doch ehrlich: Worum geht es hier wirklich? Was ist hier die Frage? Soll die Politik Vorsorge betreiben, und wie intensiv soll sie das machen? Wir Grüne finden, es ist richtig, das Vorsorgeprinzip streng anzuwenden,
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damit Schwangere sich keine Sorgen um ihre Babys machen müssen, damit auch alte Menschen die Luft in ihrer Straße atmen können und damit auch Menschen mit Asthma sich noch nach draußen trauen können. Und ja, das Vorsorgeprinzip schließt auch ein, dass der Staat das freie Spiel des Marktes dort einengt, wo es nötig ist, und das gilt jetzt insbesondere auch für die Autoindustrie. Sie liegt nämlich keinesfalls am Boden, sondern macht Milliardengewinne, und zwar indem sie daran gespart hat, eine ordentliche Abgasreinigung in ihre Autos einzubauen, obwohl sie es könnte. Das ist nämlich der wahre Skandal in dieser ganzen Diskussion, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Aber zurück zu den magischen 40 Mikrogramm Stickoxiden pro Kubikmeter Luft. Grenzwerte sind immer relativ, aber man kann sie prüfen. Das wird gemacht, und dann stellt man fest: Der heutige Grenzwert ist sogar eher zu lasch als zu streng. Nur weil wir ihn nicht einhalten, ist er nicht falsch. Das Problem löst man nicht, indem man Grenzwerte verschiebt oder die Messstation ein bisschen weiter weg aufstellt.
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2015 haben sich die Experten der Weltgesundheitsorganisation alle Studien zur Langzeitwirkung von Stickoxiden noch einmal genau angeschaut. Sie kamen zu dem Schluss, dass mit gesundheitsrelevanten Wirkungen bei einer langfristigen durchschnittlichen Exposition von 20 Mikrogramm kalkuliert werden müsse, und empfehlen sogar, den Grenzwert bei der nächsten Revision zu verschärfen. Dem schließen sich auch Experten aus dem Sachverständigenrat für Umweltfragen an. Sogar der VDI, der nun wirklich nicht grünennah ist, hat das bestätigt, und zwar 2004 und 2017.
Genau vor diesem Hintergrund empfehle ich Ihnen: Weg mit dem Schaum vorm Mund, wenn es um Grenzwerte geht!
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Machen Sie sich bitte einmal Gedanken darüber, ob es nicht besser ist, mit hohen Anforderungen die Wirtschaft gut für die Zukunft aufzustellen, ganz im Sinne von Lebensqualität und Gesundheit der Menschen, und zwar der Gesundheit von allen Menschen!
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– Auf der ganzen Welt.
Vielen Dank, Bettina Hoffmann. – Nächste Rednerin: Dr. Anja Weisgerber für die CDU/CSU-Fraktion.
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Werte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Menschen in unserem Land haben ein Anrecht auf saubere und gesunde Luft. Das wollen wir gewährleisten, und dafür arbeiten wir.
Die Frage ist doch, ob die Überprüfung der europaweit geltenden NO x -Werte der richtige Weg ist und ob die Europäische Union mit 28 Mitgliedstaaten dies überhaupt ändern wird bzw. ob dies überhaupt durchsetzbar ist. Lassen Sie uns lieber den Weg in eine Mobilität der Zukunft gehen, mit einem hohen Gesundheitsschutz für unsere Bürgerinnen und Bürger. Denn das ist das einzige richtige Signal, meine Damen und Herren.
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Wenn Sie sich in der Europapolitik auskennen würden, dann wüssten Sie auch, dass für eine Änderung der Grenzwerte die EU-Kommission einen Vorschlag für die Änderung der Luftqualitätsrichtlinie vorlegen müsste. Zum einen wird die Kommission diesen Vorschlag zur Aufweichung der Grenzwerte sicher nie vorlegen, und zum anderen würde sich dann ein langwieriges Gesetzgebungsverfahren zwischen Europäischem Parlament und Rat anschließen. Das kann Jahre dauern.
Bis dahin ist Deutschland längst verklagt. Die deutsche Automobilindustrie wäre im internationalen Wettbewerb um Umwelttechnologien abgehängt. Das kann doch nicht ernsthaft Ihr Vorschlag für die Zukunft sein, meine Damen und Herren.
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Wir gehen einen anderen Weg, und zwar den Weg einer modernen, zukunftsgerichteten Mobilität. Dabei ist uns Folgendes besonders wichtig: Wir wollen generelle Fahrverbote vermeiden. Denn wir wollen all diejenigen, die aus wirtschaftlichen Gründen und in gutem Glauben einen Diesel gekauft haben, nicht mit generellen Fahrverboten bestrafen.
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Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Ich würde das heute gerne ausnahmsweise zu Ende führen. Er kann sich ja später zu einer Kurzintervention melden.
Eine blaue Plakette löst die Probleme nicht, sondern schafft durch die Verlagerung der Emissionen neue Probleme. Deswegen lehnen wir die blaue Plakette ganz klar ab, meine Damen und Herren.
Die Mobilität wird sich in den nächsten Jahren grundlegend verändern. Ich sage als Klimapolitikerin: Das ist auch aus klimapolitischen Gründen notwendig. Das internationale Klimaabkommen und unser eigener Klimaschutzplan 2050 geben den Weg vor. So steht es auch im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD. Daran können Sie von der AfD-Fraktion, die Sie den menschengemachten Klimawandel im 21. Jahrhundert noch immer leugnen, nichts ändern.
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Alle Sektoren werden einen Beitrag leisten müssen, auch der Verkehrssektor. Das birgt Chancen für die Wirtschaft. Durch die Entwicklung von Umweltinnovationen werden wir auf dem Markt punkten können. Damit werden neue Arbeitsplätze geschaffen. Wenn wir es nicht tun, werden wir abgehängt werden. Dann werden sogar Arbeitsplätze verloren gehen. Diesen Aspekt dürfen wir bei der ganzen Diskussion nicht vergessen.
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Der Koalitionsvertrag enthält eine ganze Reihe von Maßnahmen für eine moderne Mobilität: die Förderung der Elektromobilität, die Weiterentwicklung der Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie oder die Verlagerung des Pendelverkehrs auf die Schiene. Außerdem wird derzeit ein umfassendes Bündel aus Anreizen und konkreten Maßnahmen umgesetzt. Bis Ende des Jahres werden 5,3 Millionen Diesel-Pkw der Schadstoffklassen Euro 5 und Euro 6 umgerüstet mit dem Ziel, die NO x -Emissionen dieser Autos um 25 bis 30 Prozent zu reduzieren. Wir haben das „Sofortprogramm Saubere Luft“ gestartet. Damit wird der tägliche Verkehr, zum Beispiel Busse des ÖPNV oder Taxis in den Städten, weiter elektrifiziert. Erst in der letzten Woche hat Verkehrsminister Scheuer einen Förderbescheid über 2,4 Millionen Euro für elektrifizierte Polizeiautos in Niedersachsen überreicht. Auch die Digitalisierung der kommunalen Verkehrssysteme wird gefördert, ebenso die Nachrüstung von Bussen im ÖPNV mit Abgasnachbehandlungssystemen. Es macht doch viel mehr Sinn, Busse des ÖPNV, Taxen und Polizeiautos, die den ganzen Tag in den Innenstädten unterwegs sind, emissionsarm zu gestalten, anstatt einer Familie, die zweimal im Jahr in die Innenstadt fährt, die Einfahrt mit ihrem Diesel zu verbieten.
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Damit noch nicht genug: Verkehrsminister Scheuer hat kürzlich angekündigt, Elektro-Lkws von der Maut für Bundesstraßen und Autobahnen zu befreien. Das ist ein weiteres Signal für eine moderne Mobilität in unserem Land.
Abschließend schauen wir uns einmal an, wo wir eigentlich stehen. 2016 haben noch 90 deutsche Städte den Grenzwert überschritten. Heute sind es 66 Städte. Die große Mehrheit dieser Städte überschreitet die Grenzwerte nur noch geringfügig. Das zeigt doch: Wir sind auf dem richtigen Weg und können es schaffen, das EU-Recht einzuhalten, und das ohne Überprüfung der Grenzwerte. Von 1990 bis 2015 war ein Rückgang der NO x -Emissionen um rund 60 Prozent zu verzeichnen. Das gilt es erst einmal anzuerkennen. Wir entscheiden uns dafür, den Weg in die Mobilität der Zukunft zu gehen, für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger, im Einklang mit ihren Interessen – auch der der Dieselfahrer –, für das Klima und für die Wirtschaft, die von den Innovationen sicherlich profitieren wird.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Weisgerber. – Das Wort zu einer Kurzintervention – ich habe das dreimal nicht gemacht – hat Dr. Spaniel.
Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Weisgerber, ich meine, in der CDU/CSU-Fraktion gibt es da ein Missverständnis. Herr Bernhard hat von den Immissionsgrenzwerten und nicht von den Emissionsgrenzwerten geredet, die Sie dauernd angeführt haben. Wir wollen die Bedingungen der Umwelt so reglementieren, dass sie erfüllbar sind. Es geht nicht darum, die Emissionsgrenzwerte der Fahrzeuge vorzuschreiben. Wir stehen selbstverständlich zu den Zulassungskriterien. Auch bei Ihrem Kollegen ging es um die Emissionen. Wir wollen selbstverständlich nicht die Euro-5- und die Euro-6-Norm neu aufrollen.
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Keiner von uns hat so etwas gesagt. Vielmehr wollen wir die Umweltgrenzwerte, also die Immissionsgrenzwerte, auf einen erfüllbaren Wert erhöhen.
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Soweit ich weiß, ist momentan keineswegs geklärt, dass sich der Grenzwert von 40 Mikrogramm NO 2 an allen Stellen mit einem totalen Fahrverbot überhaupt erreichen lässt. Deshalb möchte ich Ihnen da ganz massiv widersprechen.
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Herr Dr. Spaniel, bleiben Sie bitte stehen. – Frau Dr. Weisgerber zur Erwiderung.
Es ist mir durchaus bewusst, dass man zwischen Emissionen an der Quelle und Immissionsgrenzwerten unterscheiden muss.
Aber die Frage ist: Was ist letztendlich der Inhalt Ihrer Forderung? Sie wollen eine Überprüfung und eine Aufweichung der Grenzwerte. Wir haben in vielen Reden klargestellt, dass die Grenzwerte durchaus wissenschaftlich fundiert sind und dass man sich einfach mal fragen muss: Ist es überhaupt realistisch, diese Grenzwerte anzugreifen, etwas an den Grenzwerten zu ändern und eine Entwicklung auf der europäischen Ebene in diesem Sinn anzugehen? Dazu sagen wir Nein. Wir wollen den Weg in die Mobilität der Zukunft gehen. Wir wollen letztendlich die Chancen dieser Zukunftsinnovationen auch für unsere deutsche Automobilindustrie nutzen. Wir wollen sie fit machen für die Zukunft. Das ist vorwärtsgewandt und nicht rückwärtsgewandt, wie Sie es wünschen.
Danke schön.
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Vielen herzlichen Dank. – Nächster Redner in der Debatte: Mario Mieruch, der fraktionslose Kollege.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Verlauf der Debatte habe ich gelernt, dass die Fraktion der Grünen mittlerweile die Welt retten möchte.
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In der Unionsfraktion hat man Sorge vor Klageverfahren der EU.
Es ist ein tolles Thema, das aufzeigt, wie wir die eigene Souveränität bereits in vielen Fällen nach Brüssel verlagert haben und wie das Ganze auf uns zurückfällt. In diesem Zusammenhang sollten wir uns auch einmal die Panikmache und die Hysterie näher vor Augen führen; denn das ist nicht das Einzige, was aus Organisationen wie der Deutschen Umwelthilfe mit ihren sagenhaften 274 Mitgliedern, die erstaunlicherweise auch noch aus unseren eigenen Ministerien mit einer Millionenförderung gepampert wird, zurückkommt. Augenscheinlich haben sich nämlich genau diese Damen und Herren beim Gang durch die Institutionen sowohl hier als auch in der EU eingenistet, sodass sie offenbar wesentlichen Einfluss auf die Legislative nehmen können oder über Ableger noch lukrative Dienstleistungsaufträge zugeschustert bekommen. An dieser Stelle passt also etwas grundlegend nicht mehr.
Zu den Kollegen von der FDP. In Punkt 8 sprechen Sie von Hintergrundemissionen. Nennen Sie es beim Namen. Sagen Sie „Hauptemissionen“; denn es gibt erheblichere und noch eine ganze Menge anderer Quellen als nur den Verkehr.
Wir sollten auch einmal die Rolle des Umweltbundesamtes kritisch hinterfragen. Denn wenn es um die Seriosität all dieser Werte geht, ist es sehr spannend, festzustellen, dass das UBA eine Konzentration von 400 ppm CO 2 bereits als alarmierend wertet, andererseits aber über die DIN EN 13779 einen Wert von 800 ppm CO 2 als hohe Raumluftqualität deklariert. Das ist ein bisschen seltsam, und das wirft erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Objektivität auf, die sich im Bereich der NO X und der Feinstaubthematik fortsetzen.
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Das gefällt Ihnen nicht – das ist mir völlig klar –; aber Realität ist etwas, womit Sie sowieso größere Probleme haben.
Die große Herausforderung bei der Neubewertung dieses Komplexes wird also sein, überhaupt noch jemanden zu finden, der das alles objektiv anpackt. Deshalb brauchen wir ein unabhängiges Moratorium, das wissenschaftlich seriös Werte definiert, die als künftige Entscheidungsgrundlage gelten können.
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Danke.
Danke schön. – Der letzte Redner in der Debatte: Arno Klare für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Stickstoffdioxid ist einer der Grenzwerte. Wenn ich mit der Automobilindustrie rede, sagt man mir: Grenzwerte wie diesen können wir locker einhalten; gar kein Problem. Der Diesel kann das; gar keine Frage.
Es gibt einen weiteren Grenzwert für die Stickstoffdioxidbelastung – er ist gerade schon einmal erwähnt worden –: 200 Mikrogramm pro Kubikmeter im Stundenmittel dürfen nicht öfter als 18-mal pro Jahr überschritten werden. Die deutschen Autobauer können das; die kriegen das hin. Die Autos, die das können, sind schon längst gebaut. Da muss man jetzt nicht die Unterscheidung machen, die hier gerade gemacht worden ist; ich kenne sie natürlich auch. Die Fahrzeuge, die heute gebaut werden können, schaffen diese Werte, und die Unternehmen sind viel weiter, als es diese ideologischen Verrücktheiten oder diese wissenschaftstheoretischen „Schwachkopfheiten“, die da gesagt worden sind, nahelegen.
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Ich kann es nicht mehr hören.
Die Unternehmen haben nämlich längst begriffen: Sustainability sells. Diejenigen werden auf dem Weltmarkt vorne sein, die die Fahrzeuge mit den besten Werten haben werden. – Das müssen unsere Hersteller sein und keine anderen.
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Herr Klare, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Woher kommen die Werte? Es ist gerade schon gesagt worden: Die WHO legt diese Werte fest, bzw. sie macht einen Vorschlag in den Air Quality Guidelines. Es sind eigene Messungen, eigene Studien, die da gemacht werden. Die WHO erstellt regelmäßig sogenannte Metastudien. Die letzte große Metastudie „Review of evidence on health aspects of air pollution” von 2013 ist durch die Europäische Kommission beauftragt worden. Die Frage war: Ab welcher Expositionsschwelle – bei NOx zum Beispiel – sind adverse gesundheitliche Effekte nachweisbar? Die WHO hat eine Studie gemacht und hat die seit 2005 erschienenen Studien – 120 an der Zahl weltweit – ausgewertet. Alle Studien – alle! –, die die WHO ausgewertet hat – bis auf eine; die erwähne ich gleich –, bestätigen die Validität der Grenzwerte, die wir gesetzt haben.
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Es gibt eine Studie, die das nicht tut; das ist die berühmte NMMAPS von 2003, eine Multi-City-Studie, die in den USA gemacht worden ist. Das ist die einzige Studie, die die Werte nicht bestätigt.
Das heißt, die Werte, die wir haben, sind wissenschaftlich valide. Epidemiologie besteht nicht darin, in eine Glaskugel zu gucken, sich mal ein wenig mit Wissenschaftstheorie zu befassen und vielleicht mal Karl Popper zu lesen. Den kann ich Ihnen gern mal schenken; dann werden Sie begreifen, dass das eine ernstzunehmende Wissenschaft ist.
Die Werte sind technisch einzuhalten. Auch das ist kein Problem. Es ist kein Hexenwerk.
Das heißt, die Werte, die wir haben, sind ökonomisch – sustainability sells –, sie sind ökologisch, weil sie Menschen schützen, und sie sind auch sozial, weil sie die Arbeitsplätze unserer OEMs sichern. Das sind die besten Autobauer der Welt. Ich möchte, dass die ihre Arbeitsplätze behalten. Aber mit so einem Unsinn, wie er heute von zwei Seiten gekommen ist, werden wir diese Arbeitsplätze nicht erhalten, sondern gefährden.
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Vielen Dank, Herr Klare. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Skudelny.
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– Jetzt hat die Kollegin Skudelny das Wort.
Herr Kollege, Sie haben gesagt, dass die neuen Autos, die entwickelt und gebaut und verkauft werden, die Grenzwerte einhalten können. Ist Ihnen eigentlich klar, dass Millionen Menschen in Deutschland ein Fahrzeug kaufen, sich aber nicht jedes Jahr ein neues Fahrzeug kaufen können, dass die Laufleistung von Dieselfahrzeugen über 100 000 Kilometer beträgt und dass Sie mit Fahrverboten genau diejenigen belasten, die nicht ein Abgeordnetengehalt haben, sondern ein ganz normales Gehalt und ihr Fahrzeug über 10 oder 15 Jahre fahren und auf Mobilität angewiesen sind?
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Jetzt hat Herr Klare die Möglichkeit, zu antworten.
Für den nächsten Tagesordnungspunkt sind, glaube ich, 38 Minuten vorgesehen, und dann folgt ein Antrag der Linken. Da werde zumindest ich über Nachrüstung und die Notwendigkeit derselben reden.
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Da können Sie mir zuhören. Dazu müssen Sie einfach nur hierbleiben. Mehr will ich im Moment dazu nicht sagen.
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Damit schließe ich auch diese lebendige Debatte.
Ich wünsche auch schöne Debatten in der Ausschussarbeit. Jetzt müssen wir aber gucken, wo debattiert wird.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1213 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Die Vorlage auf Drucksache 19/1693 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Die Federführung ist aber strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur; die Fraktion der FDP wünscht Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit.
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– Es wäre nett, wenn Sie zuhören; wir sind nämlich mitten in einem Abstimmungsverfahren. Sonst entscheiden wir drei hier oben, wohin überwiesen wird. So machen wir das dann.
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Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der FDP abstimmen: Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Niemand. Dann ist der Überweisungsvorschlag abgelehnt. Zugestimmt haben –
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das war sehr eindeutig – dem Überweisungsvorschlag die FDP, die Grünen, Die Linke und die AfD. Dagegengestimmt haben CDU/CSU und SPD. Damit ist der Überweisungsvorschlag abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD: Federführung beim Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD. Dagegen waren die Fraktionen AfD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Linke. Es war knapp, aber ich glaube, es war eindeutig.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerechte Regeln für Globalisierung – dafür wollen wir mit unserem Antrag einen Beitrag leisten. In Deutschland wissen wir, wie wichtig es ist, Schutz für Investitionen und Schutz für Eigentum zu leisten, damit die Wirtschaftsentwicklung und damit die Wohlfahrt der Menschen gewährleistet ist. Auch weltweit gilt: Die Länder, in denen Eigentum gesichert ist, sind wirtschaftlich erfolgreicher und können ihren Einwohnern bessere Lebensbedingungen bieten.
Internationale Direktinvestitionen leisten einen bedeutenden Beitrag zur Überwindung von Hunger und Armut und zur Wohlfahrtssteigerung in allen beteiligten Ländern. Deshalb ist internationaler Investitionsschutz ein wichtiges Ziel, das bislang alle Bundesregierungen unterstützt haben. So hat zum Beispiel die rot-grüne Regierung von 1998 bis 2005 23 bilaterale Investitionsschutzabkommen unterzeichnet, die Schiedsgerichtsklauseln enthalten. Das erkennen wir an. Die Zahl internationaler Schiedsverfahren hat sich in den letzten Jahrzehnten leicht erhöht, und das ist bei knapp 3 000 neu abgeschlossenen Investitionsverträgen und stark steigenden Direktinvestitionen auch nicht anders zu erwarten. 2017 gab es weltweit 65 neue Investor-Staat-Schiedsgerichtsverfahren, und das zeigt: Die Unternehmen wenden diese Mittel nur restriktiv an. Wir sehen aber auch: Je verflochtener die Weltwirtschaft wird, umso besser und präziser müssen auch unsere Abkommen werden.
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Und wir brauchen transparentere Verfahren, die Möglichkeit von Revisionsentscheidungen und unabhängigen Schiedsgerichten.
Unser Ziel ist die Installation eines multinationalen Investitionsgerichtes. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich auf EU-Ebene international intensiv dafür einzusetzen.
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Das zu erreichen, ist wahrscheinlich eine Generationenaufgabe. Aber die Frage ist: Was tun wir in der Zwischenzeit? Wollen wir einfach keinen internationalen Investitionsschutz mehr, zu dem Preis, dass Direktinvestitionen unterbleiben und damit Menschen die Chance auf Entwicklung und Wohlstand verlieren? Oder wollen wir nicht doch lieber ein bislang bewährtes, funktionierendes System erhalten und verbessern?
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Wir schlagen in unserem Antrag vor, das System der Investitionsschutzabkommen zu verbessern.
Ein entscheidendes Problem besteht in der Vereinbarkeit von Schiedsgerichtsklauseln mit dem EU-Recht. Das Urteil des EuGH im März stellt faktisch alle Schiedsgerichtsklauseln in internationalen Verträgen erst einmal unter Vorbehalt.
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– Sie klatschen. Aber damit entsteht eine riesige Rechtsunsicherheit für Unternehmen, die im Vertrauen auf völkerrechtlich gültige Verträge investiert haben.
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Diesen Unternehmen schulden wir Vertrauensschutz.
Die Bundesregierung glaubt, das Urteil würde Verträge mit Drittstaaten nicht betreffen – aber Meinen und Glauben bringen leider keine Rechtssicherheit. Die Bundesregierung muss jetzt auf EU-Ebene politische Initiativen ergreifen, damit rechtssicher klar ist, welche Verträge zweifelsfrei weiter gelten und wo es problematisch wird.
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Diese müssen dann in einem geordneten Verfahren in EU-kompatible Strukturen überführt werden. Unsere Unterstützung haben Sie. Deshalb sollten Sie auch unseren Antrag unterstützen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Weeser. – Nächster Redner in der Debatte: Stefan Rouenhoff für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Schutz von ausländischen Direktinvestitionen ist eine zentrale Voraussetzung für unternehmerisches Engagement in anderen Ländern. Kein deutsches oder europäisches Unternehmen investiert in einem Drittstaat in Produktionsanlagen und schafft Arbeitsplätze, wenn Enteignung oder Diskriminierung drohen.
In der Logik unterscheidet sich unternehmerisches Handeln hier überhaupt nicht von privatem Handeln. Ich möchte hierzu ein Beispiel geben: Wenn Sie als Privatperson nicht sicher sein können, ob auf die Ihnen rechtmäßig erteilte Baugenehmigung für ein Einfamilienhaus Verlass ist und womöglich ein Abriss droht, wenn Sie das Haus einmal errichtet haben, dann werden Sie Ihren Hausbau sicherlich nicht in Angriff nehmen. Das zeigt eines ganz deutlich: Es ist ein rechtlicher Rahmen notwendig, der vor willkürlichem staatlichen Handeln schützt, egal ob für Privatpersonen oder für Unternehmen.
Einen solchen rechtlichen Rahmen gegenüber Drittstaaten bieten Investitionsschutzverträge mit ihren Streitbeilegungsmechanismen, und zwar nach wie vor. Sie schaffen Rechtssicherheit für die im Ausland tätigen Unternehmen und fördern ausländische Direktinvestitionen.
Die Diskussion, die uns von den Linken regelmäßig unter dem Totschlagbegriff der Paralleljustiz aufgetischt wird, ist irreführend und unredlich.
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Es geht uns weder um Paralleljustiz noch um Sonderrechte für Unternehmen. Es geht uns um die Absicherung von Eigentumsrechten, einen wirksamen Investitionsschutz, der ohne entsprechende völkerrechtliche Verträge nur schwer durchsetzbar ist.
Herr Rouenhoff, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Auch nicht von Herrn Ernst?
Nein, auch nicht von Herrn Ernst.
Gut.
Die CDU/CSU-Fraktion sieht deshalb Investitionsschutzverträge mit Drittstaaten weiterhin als geeignetes Instrument an, um dieses Ziel zu erreichen. Für die Linken scheint wirksamer Investitionsschutz jedoch grundsätzlich Teufelszeug zu sein. Das ist zumindest der Eindruck, den man aus der Debatte der letzten Jahre gewinnen muss.
Meine Damen und Herren, Deutschland ist Vorreiter bei bilateralen Investionsschutz- und -förderverträgen. Bis heute hat die Bundesregierung, und zwar mit Zustimmung des Deutschen Bundestages, rund 130 Verträge geschlossen. Ja, auch die Grünen haben in der rot-grünen Bundesregierung von 1998 bis 2005 fleißig für neue Investitionsschutzverträge inklusive der darin enthaltenen Streitbeilegungsmechanismen gestimmt. Und das ist auch gut so. Vielen Dank dafür! Denn auch wenn Linke und Grüne heute im Bundestag regelmäßig behaupten, die Regelungen kämen nur Großkonzernen zugute, so möchte ich doch festhalten, dass von den Investitionsschutzverträgen gerade auch kleine und mittlere Unternehmen profitieren; denn für sie stellt fehlende Rechtssicherheit bei Investitionen im Ausland die mit Abstand größte Hürde für den Markteintritt dar.
Ich möchte aber auch nicht unter den Tisch kehren, dass wir den Investitionsschutz modernisieren und an die Anforderungen unserer heutigen Zeit anpassen müssen. Aber wir haben genau diesen Weg auf europäischer Ebene bereits vor einigen Jahren beschritten. So hat sich die Bundesregierung in Nachverhandlungen zum Freihandelsabkommen mit Kanada für einen reformierten Investitionsschutz eingesetzt, und zwar mit Erfolg. Im CETA-Vertragstext ist heute ein bilateraler Investitionsgerichtshof mit öffentlich bestellten Richtern und einer echten Berufungsinstanz verankert. Die Richterauswahl erfolgt nach strengen Kriterien. Alle Schriftsätze eines Verfahrens müssen künftig veröffentlicht werden; das Right to Regulate wurde gestärkt. Diesen auf europäischer Ebene eingeschlagenen Weg müssen wir natürlich konsequent fortsetzen.
Meine Damen und Herren, der EuGH hat am 6. März 2018 geurteilt, dass die Vorschriften zum Investor-Staat-Schiedsverfahren im niederländisch-slowakischen Investitionsschutzvertrag nicht mit Unionsrecht vereinbar sind. Damit macht das EuGH-Urteil Reformen bei den innereuropäischen Investitionsschutzverträgen notwendig. An dieser Notwendigkeit hat auch die Bundesregierung keinen Zweifel gelassen. Reformvorschläge, an denen Deutschland und andere EU-Mitgliedstaaten gearbeitet haben, liegen ja bereits auf dem Tisch. All jenen, die angesichts des EuGH-Urteils jetzt aber das Ende von Investitionsschutzverträgen mit Drittstaaten heraufbeschwören, sei gesagt: Freuen Sie sich nicht zu früh! Denn Gegenstand des Urteils waren ja gerade nicht Investitionsschutzverträge mit Drittstaaten. Hierauf hat der EuGH auch noch einmal ganz explizit hingewiesen. Deshalb: Keine vorschnellen Rückschlüsse an dieser Stelle!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich habe mich über Ihren Antrag durchaus gefreut,
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weil er einige Forderungen enthält, die die CDU/CSU-Fraktion im Grundsatz unterstützen könnte. Bei genauerem Hinsehen muss ich allerdings feststellen: Die vorgebrachten Punkte werden bereits von der Bundesregierung bzw. der EU-Kommission mit Nachdruck abgearbeitet. Wenn es etwa um die Schaffung eines multilateralen Investitionsgerichtshofs geht, war, ist und bleibt Deutschland eine treibende Kraft bei den Verhandlungen – zumal der multilaterale Gerichtshof auch auf deutsche Initiative zurückzuführen ist. Bei anderen Aspekten im FDP-Antrag ist die CDU/CSU-Fraktion der Überzeugung, dass Sorgfalt vor Schnelligkeit gehen sollte.
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Eine überstürzte Positionierung der Kommission zu den Rechtsfolgen des EuGH-Urteils vom 6. März 2018 wäre womöglich kontraproduktiv für den innereuropäischen Investitionsschutz. Darauf hat die Bundesregierung ja gestern auch im Wirtschaftsausschuss hingewiesen. Deshalb sollte hier nichts übers Knie gebrochen werden. Die FDP ist mit ihrem Antrag in einen aus meiner Sicht unnötigen Aktionismus verfallen. Wir als CDU/CSU-Fraktion wollen Sie vor diesem Aktionismus bewahren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, das Präsidium hat gewechselt. Die Kollegin Roth hat dem Kollegen Ernst eine Kurzintervention zugesagt. Dem schließe ich mich an. Da er als bekennender Porschefahrer beim letzten Tagesordnungspunkt nicht zu Wort kam,
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sollten wir ihm das jetzt gestatten.
Herr Kollege Ernst, Sie haben zu einer Kurzintervention das Wort.
Herr Präsident, besten Dank. – Herr Rouenhoff, ich möchte Sie einfach nur darauf hinweisen, dass nicht nur Die Linke mit diesen Investitionsschutzverfahren, insbesondere mit den Schiedsgerichten, Probleme hat, sondern zum Beispiel auch der Deutsche Richterbund. Jetzt sind das ja, wie Sie vielleicht vermuten, nicht alles Linke. Sie gehen also mit einem Rechtsverständnis an diese Frage ran. Und das Rechtsverständnis dieser Richter ist offensichtlich das des europäischen Rechtssystems. Auch das Rechtssystem zum Beispiel in Kanada – wenn man auf CETA schaut – reicht vollkommen aus, dass die Häuschen, um die es Ihnen offensichtlich geht, geschützt werden.
Haben Sie, Herr Rouenhoff, denn wirklich den Eindruck, dass das Rechtssystem Kanadas so schwierig ist, dass man, wenn man dort ein Häuschen kauft, permanent der Gefahr ausgesetzt ist, dass es einem weggenommen wird? Oder geht es bei dieser Frage vielleicht doch um etwas anderes, nämlich um den Sonderstatus, der für die Unternehmen mit einem Sondergericht – dabei ist es übrigens egal, ob es sich um ein privates Schiedsgericht oder um ein Schiedsgericht in Form eines Staatsgerichtshofs handelt – vorgesehen wird. Genau darum geht der Streit.
Am Urteil des Europäischen Gerichtshofes im Fall Achmea ist im Übrigen deutlich geworden, dass die Systematik, die dort geschaffen wurde, gegen europäisches Recht verstößt. Ich würde deshalb einfach sagen: Das ist der Punkt, und dem schließen wir uns an. Fakt ist dann, dass wir solche Verfahren künftig nicht mehr haben werden. Im Übrigen wäre das für die Bundesrepublik Deutschland sehr preiswert; denn das Verfahren, das zurzeit zwischen Vattenfall und der Bundesrepublik Deutschland läuft und ebenfalls vor solch einem Schiedsgericht ausgetragen wird, könnte für die Bundesrepublik Deutschland nach letzten Aussagen circa 5 Milliarden Euro Kosten mit sich bringen. Da wäre es eigentlich Ihre Aufgabe als Abgeordneter, Deutschland vor Vattenfall zu schützen.
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Herr Kollege Ernst, herzlichen Dank. – Herr Kollege Rouenhoff, wollen Sie antworten? – Nein? – Doch. Schade.
Ich möchte nur ganz kurz einen Punkt aufgreifen. Sie haben auf das Freihandelsabkommen CETA hingewiesen. Jetzt frage ich Sie: Glauben Sie denn allen Ernstes, dass innerhalb der Europäischen Union, in allen Mitgliedstaaten, gleicher Rechtsschutz herrscht wie in Deutschland? Ich glaube, diese Frage haben sich auch die kanadischen Verhandler gestellt. Nun kann man zu der einen oder anderen Schlussfolgerung kommen; aber dass von kanadischer Seite das Interesse an einem Investitionsschutzabkommen besteht, ist, glaube ich, unzweifelhaft und nicht zu bestreiten.
Herzlichen Dank. Klären Sie das bilateral. – Als Nächstes hat das Wort für die AfD der Kollege Hansjörg Müller.
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Hohes Präsidium! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Gleich vorweg: Internationaler Investitionsschutz ist gut für die Exportnation Deutschland. Rechtssicherheit beim Investitionsschutz ist dann gegeben, wenn die beteiligten Staaten das über Investitionsschutzabkommen gewährleisten und die Umsetzung über die nationalen Rechtssysteme erfolgt. Für Streitfälle, um die es auch in Ihrer Rede ging, gibt es seit Jahrzehnten ein bewährtes Instrument: Das sind die Schlichtungsstellen bei den Internationalen Handelskammern.
Das heißt, ich kann schon einmal feststellen: Es existiert bereits ein funktionierender Rechtsschutz für Investoren im internationalen Geschäft. Deshalb stelle ich mir die Frage: Warum möchte die FDP das mit der Unterstützung der Union weiter vorantreiben? Zur Beantwortung der Frage habe ich in den Antragstext geschaut. Dort steht: Die FDP lobt – ich zitiere wörtlich – unabhängige Schiedsrichter als unbefangene Schiedsinstanz und völkerrechtliche Errungenschaft und hält andererseits nationale Gerichte für möglicherweise befangen. – Das heißt, wir können konstatieren, dass aus dem Antragstext der Freien Demokraten – das haben Sie ganz richtig gesagt, Herr Kollege Ernst – ein tiefes Misstrauen gegen die Rechtssysteme souveräner Staaten spricht. Man möchte hier etwas ändern, indem man supranationale Sondergerichte obendrauf setzt.
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In dem Antrag wird behauptet, dass lediglich 8 Prozent der Schiedsgerichtsverfahren von den 100 größten multinationalen Unternehmen angestrengt werden. Und Sie schreiben auch, dass sogar 20 Prozent der Verfahren von Einzelpersonen oder Kleininvestoren stammen. Das stimmt. Aber laut OECD-Studie aus dem Jahr 2012, die Sie hier bemühen, ist bei 40 Prozent der Schiedsgerichtsverfahren die Unternehmensgröße aufgrund fehlender statistischer Angaben überhaupt nicht bekannt. Dazu muss ich Ihnen schon sagen: Aufgrund dieser viel zu hohen statistischen Dunkelziffer von 40 Prozent sind die eindeutigen Schlussfolgerungen, die Sie daraus ziehen, statistisch gar nicht zulässig.
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Was in Ihrer Statistik, die Sie heranziehen, auch fehlt, ist die Höhe der Streitwerte; denn selbst ein einziges Schiedsgerichtsverfahren kann die Statistik total verzerren, und zwar dann, wenn die Steuerzahler eines Landes in einem einzigen Fall viele Milliarden Euro an einen Konzern zahlen müssen. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen der Freien Demokraten doch herzlich, diese Unschärfen in ihrem Antrag nachzuarbeiten.
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Es wird weiterhin behauptet, dass 37 Prozent der Fälle im Sinne der beklagten Staaten entschieden werden und nur 27 Prozent der Fälle im Sinne der klagenden Investoren. Auch das ist richtig. Aber sie verbinden damit eine unterschwellige Botschaft, die da lautet: Vor diesem Sondergericht müsse man keine Angst haben, weil die Staaten angeblich nicht entmachtet werden. – Das sind aber Vergangenheitsbetrachtungen, die Sie hier durchführen. Wir müssen nach vorne schauen. Sind Sie sich sicher, dass diese Zahlen aus der Vergangenheit auch in der Zukunft Bestand haben werden, wenn es diesen multilateralen Investitionsgerichtshof geben wird, den Sie anstreben? Denn dadurch werden wir eine sehr deutliche Verschiebung im Machtgefüge zwischen Staaten und supranationalen Organisationen erleben.
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Ich bin mir nicht sicher, dass die Statistik dann weiterhin in dieser Form Bestand haben wird.
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Zu Ihrer Feststellung, dass zwischen 2015 und 2017 die Zahl der ISDS-Schiedsgerichtsverfahren von 80 Fällen im Jahr auf 65 Fälle im Jahr gesunken sei, kann ich nur sagen: Die Tendenz erscheint immer so wie das Zeitfenster, das man willkürlich herausschneidet.
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In diesen drei Jahren ist die Zahl gesunken. Ich habe mir die gesamte Entwicklung angeschaut. Die gesamte Entwicklung von 1998 bis 2017 belegt einen durchschnittlichen Anstieg der Schiedsgerichtsfälle um 3,2 Fälle pro Jahr. Ich bitte, die Statistiken nicht durch Weglassen der Tatsachen, die Ihnen nicht gefallen, zu verzerren.
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Summa summarum erkennt die Alternative für Deutschland an, dass Sie sich bemühen, den internationalen Rechtsschutz bei Investitionen zu steigern. Auf dem Weg dorthin stützen Sie sich aber auf Statistiken, die Lücken aufweisen und die auf tönernen Füßen stehen. Die machtpolitischen Risiken supranationaler Schiedsgerichte will die FDP nicht sehen und schweigt sie durch diese Tricks, die ich genannt habe, statistisch klein. Deswegen ist es die Aufgabe der Alternative für Deutschland, –
Zum Schluss zu kommen.
– diese Entwicklung weiter kritisch zu begleiten und bei Bedarf einzugreifen, wie Sie, Herr Präsident, es auch gerade gemacht haben.
Ich danke Ihnen.
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Herr Müller, herzlichen Dank. Ich mache das auch nur, weil die Zeit schon so weit fortgeschritten ist. Normalerweise bin ich etwas großzügiger, aber ich bin der Auffassung, wir sollten vor 24 Uhr fertig werden.
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Als Nächstes hat für die SPD-Fraktion der Kollege Markus Töns das Wort.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Die Diskussionen um TTIP und CETA zeigen doch ganz deutlich, dass Bürgerinnen und Bürger wissen wollen, wie Handelspolitik gestaltet wird. Das gilt ganz besonders für die Frage, wie Streitigkeiten zwischen Staaten und Investoren geregelt werden. Lassen Sie mich vorab sagen: Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist klar, dass wir zurzeit nur eine politische und keine juristische Bewertung vornehmen können.
Das von Belgien beantragte Gutachten des EuGH zur Vereinbarkeit des Investitionsgerichtssystems mit dem Unionsrecht steht noch aus. Dass die juristische Bewertung des Gutachtens oberste Priorität hat, versteht sich, glaube ich, von selbst. Deshalb habe ich mich schon gewundert, dass im Antrag der FDP zu lesen war, der Bundestag teile die Auffassung, dass die angenommene Unvereinbarkeit von Investitionsabkommen zwischen EU-Staaten und dem EU-Recht schädlich für die Mitgliedstaaten sei. Damit vertritt die FDP eine Position, die längst durch ein Urteil auf höchstrichterlicher Ebene widerlegt ist.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich ist es legitim, dass sich die Bundesregierung im Vorfeld des EuGH-Urteils zu dieser Frage positioniert. Das ist Teil des normalen rechtsstaatlichen Prozesses. Wenn der EuGH aber in seinem Urteil eine Unvereinbarkeit zwischen Unionsrecht einerseits und Schiedsklauseln zwischen EU-Mitgliedstaaten andererseits feststellt, dann ist das keine angenommene Unvereinbarkeit mehr, dann ist das gerichtlich festgestellte Unvereinbarkeit. Hier läuft die FDP der aktuellen Debatte deutlich hinterher.
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Aber der Antrag der FDP kommt nicht nur zu spät, sondern es gibt auch gravierende inhaltliche Probleme damit. Im Antrag heißt es – ich zitiere wiederum –, der Bundestag solle den EuGH bitten, „so schnell wie möglich das von Belgien … angestrengte Gutachtenverfahren …abzuschließen …“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der EuGH braucht nun wirklich keine Aufforderung von der FDP, wie er seine Arbeit zu machen hat.
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Das ist eine Art Bedienmentalität gegenüber dem höchsten europäischen Gericht, die wir in keiner Weise unterstützen können. Leider ist das nicht der einzige Teil des Antrags, der mich am Rechtsstaatsverständnis der FDP-Fraktion zweifeln lässt; das muss ich Ihnen ganz deutlich sagen. Wenn Sie schreiben, dass privatrechtliche Schiedsverfahren mit unabhängigen Schiedsrichtern den möglicherweise befangenen nationalen Gerichten vorzuziehen seien, ist das aus rechtsstaatlicher Sicht zumindest problematisch. Ich will einmal sagen: Wer sagt mir denn, dass ein ISDS unabhängig ist? Ich kann das nicht unbedingt teilen.
Meine Damen und Herren, Sie fordern von der Bundesregierung, die Verhandlungen der EU-Kommission über die Einrichtung eines multilateralen Investitionsgerichtshofs zu unterstützen. Das ist zu begrüßen. Sie wollen, dass private Schiedsgerichte in dem Falle nicht mehr zustande kommen, weil sie keine Berufungsinstanz haben. Die SPD-Fraktion hat sich eindeutig positioniert. Sie sagt, das Investitionsgerichtssystem, wie es etwa in CETA angelegt ist, beinhaltet gegenüber dem ISDS-System erhebliche Vorteile: Es wird ein ständiges bilaterales Investitionsgericht verankert; über Klagen entscheiden Richter, die über eine feste Amtszeit ernannt sind; die mündlichen Verhandlungen werden öffentlich geführt; und es gibt eine Berufungsinstanz. Das alles gibt es bei den privaten Schiedsgerichten nicht. Das alles kann im CETA-Vertrag nachgelesen werden.
Angesichts der Kritik von Grünen und Linken am Investitionsgerichtssystem – das will ich abschließend sagen – muss eines klargestellt werden: Die Ablösung von Investitionsgerichtssystemen durch einen multilateralen Investitionsgerichtshof führt doch nicht automatisch dazu, dass es in Zukunft keine Investitionsschutzklauseln mehr gibt, sondern sie führt automatisch dazu, dass wir wieder in intransparenten ISDS-Verfahren landen, die zu Recht zu kritisieren sind. Aus diesem Grund kann ich an dieser Stelle nur sagen: Wir lehnen den Antrag der FDP ab.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Töns. – Als Nächstes hören wir die erste Parlamentsrede des Kollegen Pascal Meiser für die Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP fordert in ihrem Antrag Rechtssicherheit im internationalen Investitionsschutz. Worum es eigentlich geht, wird schnell klar: um bessere und exklusive Klagemöglichkeiten für international agierende Konzerne, und das mit allen nur denkbaren Mitteln, auch manchen undenkbaren Mitteln. Deshalb gleich vorweg: Wir Linke lehnen jegliche Paralleljustiz für ausländische Investoren weiterhin ab, und das ohne Wenn und Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Denn bei Investitionsschutzabkommen wie TTIP und CETA und vielen anderen weniger bekannten Abkommen geht es ja nicht in erster Linie um freien Handel oder den Abbau von Zöllen. Es geht darum, dass ausländische Investoren ganze Länder mit Milliardenklagen überziehen können,
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und zwar genau dann, wenn sie glauben, dass politische Entscheidungen ihre Gewinne gefährden, selbst dann, wenn diese Entscheidungen von demokratisch gewählten Parlamenten oder Regierungen getroffen werden und dem Schutz von Mensch und Umwelt dienen. Und über diese Klagen entscheiden dann nicht unabhängige Gerichte, wie wir sie kennen, sondern einzig und allein spezielle Schiedstribunale, in der Regel besetzt mit hochdotierten Anwälten. Das alles passiert nicht bloß in irgendwelchen fernen Ländern, sondern schon jetzt auch mitten in Europa.
Ein Beispiel: Der kanadische Bergbaukonzern Gabriel Resources wollte in Rumänien mittels Zyanid Gold fördern. Nach massiven Protesten stellten die rumänischen Behörden fest, dass der Konzern nicht in ausreichendem Maße für die Sicherheit von Mensch und Umwelt garantieren kann – und untersagten den Abbau. Die Folge: Der Konzern verklagte Rumänien auf Grundlage eines Investitionsschutzabkommens auf Schadensersatz in Höhe von 4 Milliarden Euro.
Aufgrund solcher und ähnlicher Beispiele haben in den letzten Jahren Millionen Menschen in Europa gegen neue Investitionsschutzabkommen wie TTIP und CETA protestiert, und das zu Recht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Sie aber von der FDP – leider auch Sie von der Union und von der SPD – machen weiter, als wäre nichts geschehen. Und dann wundern Sie sich, warum viele Menschen das Vertrauen in die Politik verlieren. Das ist doch absurd, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deshalb bin ich froh, dass der Europäische Gerichtshof dem jetzt einen ersten, kleinen Riegel vorgeschoben hat. Im sogenannten Achmea-Urteil vom 6. März sagt er klipp und klar: Investitionsschutzabkommen zwischen zwei Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind mit dem europäischen Recht nicht vereinbar. – Ja, der Europäische Gerichtshof deutet sogar an – das sehen wir wie die FDP –, dass er die Autonomie der europäischen Rechtsprechung generell durch Investitionsschiedsgerichte gefährdet sieht. Das Urteil ist insofern auch eine Ohrfeige für die Bundesregierung; denn anders als beispielsweise die EU-Kommission hat sie sich selbst in diesem Verfahren bis zuletzt dafür ausgesprochen, die Schadensersatzklage des niederländischen Achmea-Konzerns gegen die Slowakei zuzulassen.
Das Urteil dürfte jetzt nichtsdestotrotz auch positive Auswirkungen für uns, für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Deutschland, haben; denn der schwedische Vattenfall-Konzern – Sie wissen es – hat Deutschland aufgrund des Atomausstiegs auf Schadensersatz in Höhe von über 4 Milliarden Euro verklagt und beruft sich dabei auf eine Investitionsschutzvereinbarung wie die, über die wir hier reden, und wie Sie, Kolleginnen und Kollegen von der FDP, sie gerne überall hätten und überall abfeiern. Nach dem Achmea-Urteil spricht jetzt aber zum Glück vieles dafür, dass auch die Vattenfall-Klage nicht mit EU-Recht vereinbar ist. Und das ist gut so, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Aber ich frage Sie: Wie glaubwürdig ist diese Bundesregierung, die sich einerseits mit allen juristischen Mitteln wehrt, wenn sie, wie bei Vattenfall, selbst mit einer Milliardenklage überzogen wird, die aber gleichzeitig nicht davor zurückschreckt, Sonderklagerechte für Konzerne in anderen Abkommen weiter zu rechtfertigen oder wie bei CETA und TTIP sogar aktiv voranzutreiben? Das ist doch schizophren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Sollten Sie all unserer Kritik keinen Glauben schenken wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann empfehle ich Ihnen dringend, sich die Stellungnahme des Deutschen Richterbunds zur Einrichtung eines multilateralen Investitionsgerichtshofs zu Gemüte zu führen. Er sagt klar: Solchen internationalen Investitionsgerichten fehlt zurzeit jegliche demokratisch legitimierte Rechtsgrundlage.
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Meine Fraktion Die Linke fordert daher, erstens die bestehenden Investitionsschutzabkommen schnellstmöglich aufzukündigen,
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zweitens CETA, das Investitionsschutzabkommen mit Kanada, nicht zu ratifizieren
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und drittens der EU-Kommission umgehend das Mandat für Verhandlungen über einen multilateralen Investitionsgerichtshof und vergleichbare Konzernschutzabkommen zu entziehen.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Meiser. – Als Nächstes für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Katharina Dröge.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es gerade gehört: EON, RWE und Vattenfall haben Deutschland wegen des Atomausstiegs auf Schadensersatz in Milliardenhöhe verklagt. Das Absurde an diesem Verfahren ist – neben dem Inhalt des Verfahrens selbst –, dass Vattenfall gleich zweimal geklagt hat: einmal vor dem Bundesverfassungsgericht und einmal vor einem internationalen Schiedsgericht. Und was ist der Grund für diese absurde Situation? Es ist genau ein solcher Investitionsschutzvertrag zur Etablierung von Schiedsgerichten, die die FDP in ihrem Antrag so feiert. Aufgrund solcher Schiedsgerichtsverträge kann Vattenfall auf der Basis der Energiecharta der Europäischen Union zweifach klagen. Das heißt: zwei Verfahren, zwei unterschiedliche Rechtsgrundlagen, unterschiedliche Richter und möglicherweise auch unterschiedliche Urteile.
Wenn man wissen will, zu welchem Chaos diese Situation führt – so viel zum Thema Rechtsstaatlichkeit und Ordnung, die diese Schiedsgerichtsverträge mit sich bringen sollen –, muss man sich den Vattenfall-Fall anschauen. Gestern haben wir im Wirtschaftsausschuss darüber beraten: Wie gehen wir jetzt mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes um? Welche Möglichkeiten gibt es? Gibt es vielleicht Laufzeitverlängerungen oder Schadensersatzzahlungen für die Atomkonzerne? – Zur gleichen Zeit haben wir das Verfahren von Vattenfall gegen die Bundesrepublik Deutschland. Jetzt sind wir in der Situation, dass wir uns fragen müssen: Was passiert eigentlich, wenn die Gerichte unterschiedlich entscheiden? Was passiert, wenn einerseits das Urteil des Bundesverfassungsgerichts Laufzeitverlängerungen für die Atomkonzerne vorsieht und andererseits das Schiedsgericht Vattenfall eine Schadensersatzzahlung zuspricht? Wird Vattenfall dann entschädigt, obwohl die Rechtsgrundlage entfallen ist, obwohl der Schaden entfallen ist?
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Können Sie mir die Frage beantworten, wie diese Situation aufgelöst wird?
Oder was passiert, wenn sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch das Schiedsgericht sagen, dass Vattenfall Schadensersatz zusteht? Wird das dann gegeneinander aufgerechnet? Kriegt Vattenfall dann mehr als RWE? Was ist dann eigentlich mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz, dem der Staat verpflichtet ist?
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Warum sollte Vattenfall für denselben Schaden mehr bekommen als RWE? Muss der Staat nicht eigentlich jedes Unternehmen in diesem Land gleich behandeln?
Auf all diese Fragen haben Sie aus meiner Sicht bislang keine vernünftige Antwort gegeben. Bisher hatte kein Jurist, mit dem ich gesprochen habe, eine vernünftige Antwort. Und diese Chaossituation wollen Sie jetzt einfach, ohne nachzudenken, fortbestehen lassen.
Nun gibt es auch noch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Achmea-Fall, das besagt, dass Schiedsgerichte innerhalb der Europäischen Union unionsrechtswidrig sind. Ich finde, das ist eine gute Nachricht; denn auf der einen Seite sind Schiedsgerichte innerhalb der Europäischen Union nicht nur problematisch, sie sind auch schlichtweg überflüssig.
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Auf der anderen Seite ist es eine Peinlichkeit für die Bundesregierung; denn sie hat sich seit vielen Jahren diesen Fragen nicht gestellt, obwohl ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vorliegt, in dem genau diese Fragen aufgeworfen werden. Müssen Sie erst ein solches Urteil in der Hand haben, um sich mit diesen Fragen überhaupt zu beschäftigen?
Die Politik, immer wieder wegzuschauen, setzen Sie jetzt fort, wenn es um die Frage geht, welche Rolle Schiedsgerichte in Abkommen mit Drittstaaten wie CETA spielen. Sie sagen einfach: Das wird schon irgendwie gut gehen, das Urteil des EuGH bezieht sich nicht darauf. – Da wäre ich mir nicht so sicher.
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Es gibt schon wissenschaftliche Gutachten, in denen es heißt: Auch in diesen Fällen könnte der EuGH zu dem Urteil kommen, dass das Rechtsprechungsmonopol des EuGH betroffen ist, wenn Unionsrecht ausgelegt wird. In diesem Zusammenhang verweise ich noch einmal auf das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages von vor vier Jahren, in dem es genau um diese Frage ging.
Vor dem Hintergrund der Haltung der FDP, für Ordnung und Rechtstaatlichkeit eintreten zu wollen,
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kann ich nicht verstehen, wieso sie diese Fragen nicht klären wollen, sondern einfach so weitermachen wie bisher. Auch bei CETA wollen Sie so weitermachen; über einen entsprechenden Antrag haben wir gestern im Ausschuss diskutiert. Auch da prüft das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit verschiedener Aspekte des CETA-Vertrages, und trotzdem fordern Sie einfach: Ratifizieren! – Was ist das denn für ein Rechtsstaatsverständnis, obwohl Verfassungsfragen nicht geklärt sind, das einfach durchziehen zu wollen?
Mein letzter Satz. – Sie sagen, Sie sind eine Rechtsstaatspartei. Ich finde, Sie sind Rechtsstaatspessimisten.
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Was schwingt denn dabei mit, wenn Sie sagen: „Wir wollen Schiedsgerichte in der Europäischen Union“? Das bedeutet: Sie geben in gewisser Weise bei Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union auf. Die Nachbarländer sind anscheinend keine Rechtsstaaten, denn sonst bräuchte man solche Schiedsgerichte ja gar nicht.
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Sie setzen nicht auf Rechtsstaatsentwicklung oder auf gemeinsame Anstrengungen in der Europäischen Union zur Verbesserung von Rechtssystemen.
Frau Kollegin!
Sie schaffen ein Parallelsystem und geben einfach auf. Für eine Rechtsstaatspartei finde ich das schon merkwürdig.
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Herzlichen Dank. – Rein mathematisch betrachtet: Aus einem Satz fünf zu machen, auch das ist eine besondere Leistung.
Als Nächstes für die CDU/CSU der Kollege Dr. Matthias Heider.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte bekommt immer mehr die Züge einer Generaldebatte zum Freihandel. Ich möchte in diesem Zusammenhang zumindest darauf hinweisen, dass es der Fraktion der FDP in ihrem Antrag eigentlich um Rechtssicherheit und um die Reichweite von Schutzklauseln im internationalen Investitionsbereich geht.
Ich will einige Punkte klarstellen, um zu verdeutlichen, dass der EuGH mit der Achmea-Entscheidung im März ein Machtwort zur Auslegung europäischen Rechts gesprochen hat. Schiedsklauseln in bilateralen Verträgen, in Investitionsschutzabkommen zwischen zwei europäischen Mitgliedstaaten, sind unzulässig. Über die Auslegung und Anwendung des europäischen Rechts muss man schon ein bisschen länger nachdenken. Damit ist gewissermaßen über Nacht eine Reihe anderer Verträge infrage gestellt worden. Dabei geht es, liebe Kolleginnen und Kollegen, um eine Kernfrage des europäischen Binnenmarktes.
Die meisten der bilateralen Schutzabkommen, die auch Deutschland abgeschlossen hat – zum Beispiel 1961 mit Griechenland, mit Malta 1973, mit Lettland 1993; übrigens wie alle anderen europäischen Länder –, sind jetzt infrage gestellt. Wir brauchen sie für den europäischen Binnenmarkt eigentlich auch nicht; denn mit dem 1. Januar 1993 – Stichwort „Einheitliche Europäische Akte“ – haben wir gewissermaßen den Wendepunkt markiert. Wir haben Marktfreiheiten definiert, und diese Marktfreiheiten müssen wir entwickeln. Die Harmonisierung von Rechtsvorschriften in der Europäischen Union dient dazu, den Binnenmarkt zu vollenden. Mit anderen Worten: Die Rechtsangleichung in der Europäischen Union muss weitergehen. Sie erfasst natürlich auch Anwendungsvorschriften aus alten völkerrechtlichen Verträgen.
Der Europäische Gerichtshof hat in Bezug auf die zugrundeliegenden Fragen einfach Nein gesagt. Darauf hat er sich beschränkt; er ist nicht darüber hinausgegangen. Das bedeutet, dass Klauseln über Investor-Staat-Streitverfahren zwischen Mitgliedstaaten nicht per se mit dem Primärrecht unvereinbar sind. Vielmehr stellt sich die Frage, ob deren Ausgestaltung im Einzelnen die Autonomie der Unionsrechtsordnung wahrt. Das wird wahrscheinlich auch bei anderen Verträgen festgestellt werden.
Lassen Sie mich noch zu ein paar anderen Punkten dieser Debatte etwas sagen. Ich fand es bemerkenswert, dass sich ganz links und ganz rechts in diesem Hohen Hause bei bestimmten Punkten einig waren, dass da Schnittpunkte zum Vorschein kamen: Sie sind gemeinsam gegen Freihandel und für Protektionismus. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
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Für die Union will ich an dieser Stelle klarstellen, weil die Kollegin Dröge das mit Blick auf die CETA-Verträge gerade noch einmal infrage gestellt hat: Das Recht zur Regulierung ist in diesen Verträgen gewährleistet. Ein Investitionsschutz zielt nicht darauf ab, Staaten zur Änderung ihrer Gesetze zu zwingen, ganz und gar nicht. Es entsteht vielmehr ein Schadenersatzanspruch, wenn Rechte durch willkürliche, unverhältnismäßige oder diskriminierende Maßnahmen verletzt werden. Im Übrigen gibt es auch keine Öffnungsverpflichtungen bei der öffentlichen Daseinsvorsorge zulasten der Kommunen. Gerade das ist bei CETA ausgeschlossen.
({1})
Lassen Sie mich noch einen Satz zum Thema „Paralleljustiz“ sagen. In jeder Debatte über dieses Thema in diesem Hohen Hause kommt es vor, dass Schiedsgerichte als abnormale, unsoziale, undemokratische Elemente neben der ordentlichen Gerichtsbarkeit dargestellt werden. Ich will einfach einmal deutlich machen: Schiedsgerichte sind unserer Rechtsordnung immanent. Sie sind Instrumente der Streitbeilegung, die eine lange Tradition haben.
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In der Zivilprozessordnung steht das Schiedsgericht seit 1879.
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Wenn Sie es ein bisschen sportlicher machen wollen, dann gucken Sie sich einmal das Sportgericht des Deutschen Fußball-Bundes an: Letzte Instanz dort ist ein Schiedsgericht. Wenn Sie Streitbeilegungen nicht trauen, dann schauen Sie von den Linken und der AfD mal in die Satzungen Ihrer Parteien: Auch Sie haben ein Schiedsgericht. Ich finde, Schiedsgerichte sind überhaupt nicht zu verteufeln. Streitbeilegungen gehören ganz selbstverständlich zur Kultur.
Das gilt umso mehr im internationalen Handel zwischen Unternehmen, aber eben auch zwischen Staaten und für die Beziehungen zwischen Staaten und Unternehmen. Gerade im letzteren Fall kommt es darauf an, dass man sich gegenseitig bei Investitionen im jeweils anderen Land einen besonderen Rechtsgewährleistungsanspruch einräumt. Unternehmer und Kaufleute, die das nicht machen, laufen Gefahr, dass sie ihrer Investitionen durch staatliche Maßnahmen verlustig gehen. Wenn Sie in einem anderen Staat zehn Jahre lang auf ein Gerichtsurteil warten müssen, dann sind Sie als Kaufmann pleite, dann müssen Sie Ihre Arbeitnehmer nach Hause schicken. Das wollen wir schon allein mit Blick auf die Interessen der Beschäftigten in unserem Land nicht.
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Im Ergebnis ist festzustellen: Das Anliegen der FDP, das sie in ihrem Antrag formuliert, ist berechtigt, und es ist richtig beschrieben. Aber das Gras wächst eben auch nicht schneller, wenn man hier heute Abend daran zieht. Deshalb müssen wir bei der Rechtsangleichung im Binnenmarkt weiter Gas geben. Wir müssen daran weiterarbeiten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Heider. – Lassen Sie mich eine Bemerkung machen, weil wir mit dem Finger immer auf andere Länder zeigen: Auch in Deutschland kann es vorkommen, dass Sie bis zu zehn Jahre und länger auf eine rechtskräftige Entscheidung warten müssen.
({0})
Das ist ja eines unserer Probleme.
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– Wir reden jetzt nicht über das Verhältnis zwischen CDU und CSU, sondern über die zivile Justiz.
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Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt für die SPD die Kollegin Dr. Nina Scheer.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der FDP ist meines Erachtens von gravierenden Widersprüchen gekennzeichnet; das ist schon angeklungen. Einerseits wird ein dickes Bekenntnis zu Verträgen mit Schiedsklauseln abgegeben. Andererseits begrüßen Sie das Mandat zur Aufnahme von Verhandlungen über einen Multilateralen Investitionsgerichtshof. Das ist, denke ich, ein Widerspruch in sich. Sie halten am Alten fest, wollen aber trotzdem etwas Neues.
Mir scheint es so zu sein, dass nicht richtig durchdrungen wurde, welche Zäsur das Achmea-Urteil des EuGH bedeutet. Ich möchte darauf im Detail eingehen. Herr Heider hat gerade schon einiges dazu gesagt. Ich meine aber, man muss noch ein bisschen tiefer ins Detail gehen. Es ist von der Anwendung und Auslegung die Rede. Dabei geht es dem EuGH in seiner Begründung im Kern darum, dass sowohl in der Anwendung als auch in der Auslegung von EU-Recht – das ist nie auszuschließen, wenn es um Investitionsschutzstreitigkeiten geht – niemand anderes als eine europäische öffentlich-rechtliche Gerichtsbarkeit zu entscheiden hat.
Wenn es Investitionsschutz und eine Schiedsgerichtsbarkeit über den Investitionsschutz gibt, man europäisches Recht auch nur streift und hierbei nicht das europäische Gericht als Instanz hat, sondern eben die Schiedsgerichtsbarkeit, so sieht der EuGH hierin eine Unzulässigkeit und einen Verstoß gegen EU-Recht. Deswegen denke ich, das ist sehr wohl übertragbar, und zwar auf sehr viele andere Investitionsschutzverträge und die darin enthaltenen Schiedsklauseln. Das ist öfter der Fall, als wir uns momentan vor Augen führen. Insofern ist auch die Sorge, die Sie, Herr Heider, zum Ausdruck gebracht haben, dass man jetzt alles im Detail überprüfen und wahrscheinlich zu einer Neuordnung kommen muss, schon berechtigt.
Ich möchte kurz etwas zu dieser Neuordnung sagen. Es ist schon angeklungen, dass uns zurzeit das Vattenfall-Urteil beschäftigt. Es weist insofern eine Parallele auf – ich finde, eine sehr anschauliche Parallele –, als auch hier eine Schiedsgerichtsbarkeit vorgesehen ist. Auch hier ist Investitionsschutz vorgesehen. Es ist gekennzeichnet durch Intransparenz. Gut, gegen die Intransparenz kann man möglicherweise etwas tun. Aber es ist eben auch dadurch gekennzeichnet, dass es keine ordentliche Gerichtsbarkeit gibt. Vor allem ist es gekennzeichnet durch unbestimmte Rechtsbegriffe. Das alles sind übrigens Dinge, die die SPD in den letzten Jahren aufgegriffen und über die sie intensiv diskutiert hat. Wir haben in Konventbeschlüssen hinterlegt, dass das definitiv nicht unser Verständnis von Gerichtsbarkeit und Rechtssicherheit und auch nicht unser Verständnis von modernem Handelsrecht und Investitionsschutzrecht ist.
({0})
Insofern war es die SPD, die es geschafft hat, einige Neuerungen in die laufenden Verhandlungen zu bringen und eine Abkehr vom bisherigen System zu erreichen, und zwar in Form des schon erwähnten Multilateralen Investitionsgerichtshofes, den es zu etablieren gilt. Auch da muss man natürlich schauen, inwieweit uns die Aussagen des EuGH im Achmea-Urteil nun zu weiteren Entwicklungen führen. Ich denke, dass wir als SPD in der Tat einen guten Ansatz verfolgen und einen guten ersten Schritt unternommen haben, um dieses System aufzubrechen. Weitere Schritte müssen nun auf Grundlage des Achmea-Urteils folgen. Ich denke, dass man sehr wohl alles auf den Prüfstand stellen muss, was nicht öffentlich-rechtliche Gerichtsbarkeit ist. Denn nur durch Letztere kann man dem Anspruch an eine demokratiekonforme Marktwirtschaft gerecht werden und Rechtssicherheit, die ja gewünscht wird, und zwar auch von der FDP, tatsächlich gewährleisten.
Vielen Dank.
({1})
Herzlichen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1694 an den Ausschuss für Wirtschaft und Energie vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Die heutige Debatte beruht auf dem Betrug der Autoindustrie und dem Versagen der Bundesregierung in gleich zwei Bereichen:
Erstens haben Sie bei der Luftreinhaltung jahrelang blind auf die Versprechen der Autoindustrie gesetzt, dass die neuen Autos schon weniger Schadstoffe ausstoßen werden und Sie so die europäischen Grenzwerte einhalten können. Das ist ein großer Irrtum, der Ihnen nun aber auch schon seit Jahren bekannt ist.
Zweitens haben Sie bei der Aufarbeitung des Abgasskandals – –
({0})
– Es ist hier vorne ein bisschen laut.
Frau Kollegin, ich bedaure sehr, dass Sie mich darauf hinweisen müssen, dass es hier sehr unruhig ist. – Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, der Rednerin zuzuhören, auch wenn wir jetzt schon zu vorgerückter Stunde sind. Noch einmal: Wir wollen es wirklich schaffen, vor 24 Uhr zum Ende zu kommen.
Frau Kollegin, Sie haben das Wort, und ich greife das nächste Mal viel früher ein.
Danke. – Zweitens haben Sie bei der Aufarbeitung des Abgasskandals auf ganzer Linie versagt.
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Sie haben mit der Autoindustrie einen schmutzigen Deal gemacht: Die Hersteller haben sich zu einem Softwareupdate mit geringer Wirkung verpflichtet, im Gegenzug verzichtet die Bundesregierung darauf, die Rechtswidrigkeit der Manipulation festzustellen.
Im Ergebnis der Aussitzerei durch die Bundesregierung schichtet sie ein Problem auf das nächste. Die seit 2010 geltenden Grenzwerte werden immer noch nicht eingehalten. Eine Klage der EU-Kommission steht quasi vor der Tür.
Die Gesundheit der Bevölkerung wird weiter hoch belastet. Die betrogenen Dieselbesitzer haben schon jetzt einen erheblichen Wertverlust ihres Autos erlitten und müssen nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts auch noch befürchten, bald nicht mehr in die Innenstädte fahren zu dürfen. Mit diesem wegen Ihrer Untätigkeit wachsenden Problem verhöhnen Sie die Bürgerinnen und Bürger.
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Mit unserem Antrag zeigen wir als Linke einen rechtlichen Weg auf, wie Sie den gordischen Knoten Ihres schmutzigen Deals in vernünftiger Weise lösen können.
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Das Kraftfahrt-Bundesamt hat mit der europäischen Fahrzeuggenehmigungsverordnung eine Grundlage, die dazu ermächtigt, die Hersteller zu einer Hardwarenachrüstung zu verpflichten. Liegt nämlich ein erhebliches Risiko für die öffentliche Gesundheit vor, ist das KBA sogar befugt, die Typengenehmigung zu widerrufen oder zu entziehen, das heißt das Auto stillzulegen.
Das Umweltbundesamt bestätigt noch einmal das erhebliche Risiko für die öffentliche Gesundheit, unabhängig davon, was hier heute Abend für ein Mist losgelassen wurde. – Entschuldigung!
({3})
Es geht in seiner neuesten Studie davon aus, dass in Deutschland 6 000 Menschen aufgrund der Belastung mit Stickoxiden vorzeitig sterben und dass 8 Prozent der bestehenden Diabetes-mellitus-Erkrankungen auf Stickoxide in der Außenluft zurückzuführen sind.
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Bei Asthmaerkrankungen sind es sogar rund 14 Prozent.
Wie viele Gründe braucht die Bundesregierung denn noch, um die massive Gesundheitsbelastung der Bevölkerung schnellstens zu beenden?
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Natürlich wollen wir dafür nicht die Fahrzeuge stilllegen, auch wenn das hier heute behauptet wurde. Das käme ja einer Enteignung von Millionen Dieselbesitzern gleich. Wir wollen, dass sie endlich sauber werden.
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§ 25 Absatz 2 der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung sieht vor, dass das KBA bei fehlender Vorschriftsmäßigkeit von Fahrzeugen im Wege einer Anordnung nachträglich Nebenbestimmungen erlassen kann, um die Vorschriftsmäßigkeit wiederherzustellen. Aus unserer Sicht muss als Nebenbestimmung die Hardwarenachrüstung der Fahrzeuge gefordert werden. Das wäre gerecht.
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Es gibt also im bestehenden Recht eine Grundlage dafür, die Autoindustrie zu verpflichten, ihre Fahrzeuge wirklich wirksam nachzurüsten. Auch die Gelder dafür sind aufseiten der Industrie vorhanden. BMW, Daimler und VW haben allein im vergangenen Jahr nach Steuern über 30 Milliarden Euro Gewinn gemacht. Was fehlt, ist der politische Wille der Bundesregierung, endlich zu handeln. Andernfalls wird Deutschland wohl schon in der nächsten Woche von der EU-Kommission wegen der Nichteinhaltung der Grenzwerte teuer verklagt – und das völlig zu Recht.
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Es gibt also eine geeignete Maßnahme, es gibt eine Rechtsgrundlage zur Anordnung dieser Maßnahme, und es gibt eine ausreichende Finanzierungsgrundlage der Autoindustrie. Was noch fehlt, ist die im Gesetz vorgesehene Strafe für die Autoindustrie. Darüber sprechen wir ein anderes Mal.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. – Frau Bundeskanzlerin, Herr Verkehrsminister, Frau Umweltministerin, wir haben Ihnen hiermit den Rechtsweg aufgezeigt. Handeln Sie endlich!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Herzlichen Dank. – Ich bitte auch die Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – Frau Kollegin Dröge, das ist bis hierher hörbar –, die Gespräche einzustellen.
Als Nächstes mit seiner ersten Parlamentsrede der Kollege Felix Schreiner für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gehöre dem Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestags erst wenige Wochen an, kenne aber natürlich die Diskussionen aus meiner Zeit im Landtag von Baden-Württemberg schon intensiv. Ich glaube, es ist nichts Neues, dass die Bürgerinnen und Bürger zu Recht von uns als Parlamentariern im Deutschen Bundestag Antworten auf ganz konkrete Fragen erwarten.
Die Diskussion über die Nutzbarkeit von Dieselfahrzeugen ist keine abstrakte. Sie wird ganz konkret. Da kommt bei mir im Schwarzwald der junge Azubi zu mir, der sich ein gebrauchtes Auto gekauft hat, weil er zu seiner Ausbildungsstätte fahren muss und kein ÖPNV vorhanden ist und frägt: Wie kann ich das Auto weiter nutzen? Da kommt der Familienvater mit seinem Familienvan, der jeden Monat beim Autohändler sein Auto abstottert und frägt: Wie geht es weiter? Da kommt der Handwerksmeister aus Stuttgart und frägt: Ich habe drei Pritschenwagen auf meinem Hof stehen. Wie kann ich diese weiter einsetzen? Wie kann ich meine Leute zur Arbeit schicken? Oder ist das in Zukunft gar nicht mehr möglich, wenn ihr mir verbietet, mit meinem Auto in die Stadt zu fahren? – Das sind alles konkrete Fragen, mit denen wir uns hier zu beschäftigen haben.
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Deshalb möchte ich vorwegschicken, dass wir als Unionsfraktion, CDU und CSU, hier immensen Handlungsbedarf sehen. Ich betone vorweg: Denjenigen, die betrogen haben, die bei den Schadstoffbescheinigungen den kleinen Mann hinters Licht geführt haben, gehört klar gesagt: Ihr müsst einen Beitrag für die Nachrüstung der vielen Dieselfahrzeuge in Deutschland leisten.
({1})
Aber wer sich den Antrag der Linken anschaut, wer sich damit im Detail beschäftigt, der kann beinahe den Eindruck bekommen, dass in den vergangenen Monaten überhaupt nichts geschehen wäre.
({2})
Das Gegenteil ist der Fall.
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Als Sofortmaßnahme wurde beschlossen, die 5,3 Millionen betroffenen Dieselfahrzeuge nachzurüsten. Anfang 2018: Das Ergebnis ist positiv. 92 Prozent der betroffenen VW-Fahrzeuge sind nachgerüstet. Bei den freiwilligen Fahrzeugumrüstungen sind es 72 Prozent. Das sind in der Summe 2,5 Millionen Fahrzeuge,
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die insgesamt zu einer Reduzierung der Stickoxidemissionen um 30 Prozent bis Ende des Jahres beitragen. Ich finde, auch darüber kann man an dieser Stelle reden, sehr geehrte Damen und Herren von der Linksfraktion.
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Es ist uns gelungen, seit 2000 die Stickoxidbelastung um 60 Prozent zu reduzieren. Wir haben es vorhin – Kollege Grundmann hat es in der anderen Debatte gesagt – schon gehört: Es gibt das „Sofortprogramm Saubere Luft“. Ja, meine Damen und Herren: 500 Millionen Euro für die Digitalisierung der kommunalen Verkehrssysteme, 390 Millionen Euro für die Elektrifizierung des Verkehrs, 107 Millionen Euro für die Nachrüstung von Dieselbussen im ÖPNV, also die Busse, die in den Städten für die Verschmutzung verantwortlich sind. Wer da nicht von Erfolgen spricht, der verkennt schlicht und ergreifend die Wahrheit, meine Damen und Herren.
({6})
Wissen Sie, Frau Remmers, das ist eben der Unterschied zwischen der linken Hälfte dieses Hauses und uns.
({7})
Sie fordern pauschal: Wir brauchen einen Zwang zur Umrüstung auf Kosten der Industrie. – Sie fordern das, obwohl Sie ganz genau wissen, dass das rechtlich hochumstritten ist und dass sich damit gerade eine Kommission beschäftigt.
In der Politik geht es auch immer um die Verhältnismäßigkeit und um die Betrachtung der Wirklichkeit.
({8})
Da sage ich Ihnen ganz offen: Hören Sie auf, pauschal auf eine Industrie zu schimpfen. Sie gefährden damit den Wirtschaftsstandort Deutschland,
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und Sie gefährden damit 1,8 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland, die von der Automobilindustrie direkt abhängig sind, meine Damen und Herren.
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Klar ist auch: Die Mobilität der Zukunft, ein Umdenken hin zu schadstoffarmen, ja vielleicht sogar schadstofffreien Fahrzeugen, wird uns nur dann gelingen und uns werden nur dann Länder auf der Welt folgen, wenn wir beides schaffen: auf der einen Seite die Nachrüstung und die Weiterentwicklung der Dieselfahrzeuge und der Fahrzeugflotten insgesamt und auf der anderen Seite die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland und damit eine starke Automobilindustrie.
Abschließend muss ich sagen: Es ist das Ziel und sollte das Ziel von uns allen sein, Fahrverbote in Deutschland zu verhindern. Dazu brauchen wir einen Schulterschluss mit der Automobilindustrie.
Herr Kollege Gastel – wir kennen uns schon aus den Koalitionsverhandlungen in Baden-Württemberg –, dazu muss ich Ihnen sagen: In der Stadt Stuttgart gibt es einen Oberbürgermeister der Grünen, und es gibt Maßnahmen, die er sofort von seinem Schreibtisch aus beschließen könnte. Dabei geht es um die intelligente Ampelsteuerung: nicht umgesetzt. Es geht um die Flottenerneuerung für die Kommune in Stuttgart und um die ÖPNV-Erneuerung: alles nicht gemacht.
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Stattdessen macht man es sich leicht und sagt: Berlin soll es richten. – Es sind aber alles Maßnahmen, die vor Ort in der Stadt ganz schnell erledigt werden könnten.
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Meine Damen und Herren, ich glaube, es geht um Vertrauen, das wir zurückgewinnen möchten. Ich bitte Sie herzlich: Lassen Sie uns eine Versachlichung der Diskussion herbeiführen. Lassen Sie uns dem Handwerksmeister in Stuttgart wie dem Azubi bei mir im Schwarzwald klipp und klar sagen, was wir für Maßnahmen ergreifen können, damit auch in Zukunft Vertrauen möglich ist.
Herzlichen Dank.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Schreiner. Es war Ihre erste Bundestagsrede, nicht Ihre erste Parlamentsrede; ich muss mich insoweit korrigieren. – Als Nächster der Kollege Dr. Dirk Spaniel für die AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Nachrüstung von älteren Fahrzeugen ist nach Ihren Ausführungen die einzig zielführende Maßnahme zur Luftreinhaltung und Vermeidung von Fahrverboten. Alle diese Fahrzeuge stellen Ihren Ausführungen nach ein unmittelbares Problem für die Gesundheit der Halter und der Gesamtbevölkerung dar.
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In der Regierungskoalition gibt es ebenfalls Stimmen, zum Beispiel die CDU-Generalsekretärin oder die SPD-Umweltministerin, die eine Kostenübernahme der Nachrüstung durch die Hersteller fordern.
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Der Reihe nach: Luftschadstoffe werden seit mehr als 25 Jahren gemessen. Die Europäische Union hat vor circa 20 Jahren Grenzwerte für Schadstoffe definiert. Diese Grenzwerte wurden mit Studien begründet, die bis zu 25 Jahre alt sind. In der Zwischenzeit haben sich die Messwerte für Stickoxide drastisch verringert.
Warum erzähle ich das? Es gibt überhaupt keinen akuten Handlungsbedarf.
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Die ganze Diskussion um Stickoxide ist reine Panikmache, gesteuert von dubiosen Umweltverbänden wie der Deutschen Umwelthilfe.
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Jetzt wollen Sie die Autohersteller zur Kostenübernahme bei der Nachrüstung verpflichten. Das hat einen technischen, einen praktischen und einen juristischen Aspekt.
Technisch sieht es so aus, dass man in gebrauchte Fahrzeuge einen SCR-Katalysator, eine Einspritzleitung, eine Pumpe, gegebenenfalls ein Steuergerät und einen ziemlich großen Tank einbauen muss. Damit das Ganze auch dauerhaft funktioniert, testen Autohersteller über Zigtausende Kilometer die Befestigung und die Funktion. Dazu muss man übrigens noch die Einspritzzeiten des Motors anpassen. Sonst könnte es sein, dass es zu Fehlfunktionen oder drastischen Mehrverbräuchen kommt.
Kurz gesagt: Keiner weiß, wie lange so eine Nachrüstungslösung jemals funktioniert. Der Kunde verliert die Garantieansprüche und hat gegebenenfalls Nachteile bezüglich Haltbarkeit, Mehrverbrauch und Funktionssicherheit.
Rein praktisch betrachtet stellt sich die Frage: Wer soll denn die Millionen Fahrzeuge umbauen, und wie lange dauert das?
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Und juristisch ist die Frage: Wie kann es sein, dass man den Hersteller eines Produktes, das ordnungsgemäß zugelassen wurde, nachträglich verpflichtet, Anpassungen an seinem Produkt vorzunehmen, nur weil der Gesetzgeber die Zulassungsbedingungen Jahre nach der Zulassung völlig überraschend ändert?
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Wir haben es gerade gehört: Zu den wichtigsten Kriterien in einem modernen Industriestaat gehören die Rechtssicherheit und der Investitionsschutz. Unternehmer und Käufer müssen sich darauf verlassen können, dass Investitionen auch in der Zukunft vom Staat geschützt und nicht geschädigt werden.
Alle drei Aspekte – der technische, der praktische und der juristische Aspekt – zeigen, dass die technische Nachrüstung von Dieselfahrzeugen ein fiktives Problem angeht und viele reale Probleme erst neu schafft.
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Sie müssen kein Experte für Motorentechnik sein, um das zu verstehen. Sie, die Damen und Herren von Linken, Grünen und SPD, sollten aber bereit sein, Expertenmeinungen zu akzeptieren, auch wenn diese nicht in Ihr politisches Weltbild passen.
Und an die realitätsnahen Damen und Herren der Union:
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Es genügt nicht, im stillen Kämmerlein der AfD zuzustimmen.
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Sie müssen endlich auch bereit sein, vernünftige und klare Positionen zu beziehen und diese in Ihrer Partei durchzusetzen.
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Wenn das nicht geht, dann sind Sie vielleicht in der falschen Partei.
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Ich möchte gerne noch auf den Antrag der FDP-Fraktion eingehen. Das Umweltministerium des Landes Baden-Württemberg hat eine Studie für Stuttgart erstellt, die besagt, dass die Nachrüstung bzw. die Elektrifizierung der Dieselbusse im Hinblick auf die Stickoxide in der Luft fast nichts nutzen. Eine plausible Studie, wonach die Digitalisierung die Luftschadstoffe reduziert, ist mir übrigens auch nicht bekannt. Wenn eine Maßnahme keinen Effekt hat, dann sollte man sie auch nicht fordern.
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– Es gibt keine Studie, die das bestätigt.
Das Problem sind nicht die Abgase der Fahrzeuge, sondern die absurd niedrigen Grenzwerte für Stickoxide.
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Diese Vorgaben der EU hätten Sie, sehr geehrte Damen und Herren von der Großen Koalition, in den letzten zehn Jahren infrage stellen sollen. Jetzt haben Sie sich argumentativ in die Sackgasse manövriert. Die fehlende klare Linie in den Regierungsparteien zu diesem Thema und diesen offensichtlich sinnlosen Anträgen ist ein Symbol dafür, wie sehr Sie mit der Führung eines modernen Industriestaates überfordert sind.
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Unter vernünftigen Politikern würde es eine solche Diskussion zur Nachrüstung überhaupt nicht geben.
Die AfD-Fraktion stimmt der Überweisung in beiden Fällen zu, lehnt aber die beiden Anträge inhaltlich ab.
Vielen Dank.
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Herr Kollege Dr. Spaniel, herzlichen Dank. – Als Nächstes für die SPD-Fraktion der Kollege Arno Klare.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beschäftige mich mit diesem Thema jetzt schon verdammt lange. Ich habe die rechtlichen Überprüfungen, die hier angestellt worden sind, schon hinter mir. Das letzte Gespräch in dieser Sache habe ich mit dem UBA geführt, das bekanntlich keine Vorfeld- oder Nebenorganisation des VDA ist. Es hat mir gesagt: Vergiss die Nachrüstpflicht! Das ist rechtlich nicht durchsetzbar. – Mehr ist zu dem entsprechenden Antrag erst einmal nicht zu sagen.
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Was ist nun wichtig? Uns ist wichtig, das unselige Spiel auf Zeit, das hier gespielt wird, zu beenden.
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Die Bundesregierung kann durchaus hilfreich sein, das zu beenden; die auf dem Dieselgipfel eingesetzte AG I, die sich mit diesem Thema befasst hat, muss unbedingt wieder einberufen werden. Sie muss wieder arbeiten, weil der Endbericht der AG noch fehlt; er muss finalisiert werden.
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Wir müssen aber nicht nur den Bericht finalisieren. Ich warte auch darauf, dass die vorliegenden Gutachten veröffentlicht werden, sowohl das von Herrn Koch vom KIT in Karlsruhe als auch das von Herrn Wachtmeister von der Technischen Universität München. Ich neige eher zu Herrn Wachtmeister, der klar festgestellt hat, dass die technischen Nachrüstungen durchaus funktionieren.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist: Wir müssen die Verbraucher in das Zentrum unserer Überlegungen rücken.
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Da ist ein hoher, mehrstelliger Milliardenbetrag an Vermögen vernichtet worden. Es gibt einen gewaltigen Wertverlust.
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Ebenfalls wichtig ist: Wir müssen den Dieselmotor als Brückentechnologie begreifen, der erstens noch etliche Jahre auf der Straße im Gebrauch sein wird und zweitens die Cashcow der Unternehmen ist, um die Transformation hin zu alternativen Antrieben finanzieren zu können. Die Automobilindustrie muss sich vergegenwärtigen, dass die bisher in der Produktion tätigen Belegschaften um 50 Prozent verringert werden, wenn der Antriebsstrang auf Elektrisch umgerüstet wird. 50 Prozent weniger Beschäftigung in diesem Bereich! Das sind keine verrückten Studien, sondern wohlgemerkt Studien des VDA und der IG Metall, die das vorhersagen. Insofern müssen die OEMs ein vitales Interesse daran haben, den Diesel sauber zu bekommen.
Das Fazit, das daraus zu ziehen ist, ist im Grunde ganz einfach: Wir brauchen eine technische Hardwarenachrüstung, die für die Zulieferer ein riesiges Produktionsprogramm darstellt.
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Bei den Zulieferern arbeiten im Übrigen genauso viele Menschen wie bei den großen Herstellern. Es ist kein Hexenwerk. 90 Prozent der Teile, die nachgerüstet werden, lassen sich schon heute aus den Ersatzteillagern der OEMs beschaffen. Es muss also nichts völlig Neues im Hochreinlabor erfunden werden; das ist Unsinn. Die nachgerüsteten Wagen, die auf den Straßen unterwegs sind, sind getestet und funktionieren.
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Es ist im Sinne der Verbraucher, die die Fahrzeuge haben. Es ist auch im Sinne der Hersteller, die ihre Zukunft damit sichern müssen. Ein ganz wichtiger Punkt: Es ist im Sinne derjenigen Menschen, die bei diesen Herstellern arbeiten, die dort verdammt gute Arbeit leisten und deren Arbeitsplätze ich gesichert sehen möchte.
Deshalb brauchen wir diese technische Hardwarenachrüstung; allerdings geht es nicht so, wie die Linken es vorgeschlagen haben.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Klare. – Als Nächstes für die Freien Demokraten der Kollege Oliver Luksic.
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Es gibt eine massive Verunsicherung in der Bevölkerung, bei Millionen Dieselfahrern. Die Höfe der Gebrauchtwagenhändler stehen voll, weil Handlungsbedarf besteht. Da hat Kollege Schreiner recht: Sie von der Bundesregierung haben es versäumt, zu handeln. Es drohen Fahrverbote. Wir brauchen allerdings ein klares Signal der Bundesregierung, dass etwas unternommen wird, dass der Diesel sicher ist. Wir brauchen eine Garantie für die Millionen Autofahrer und nicht Ihre Politik, die zur Unsicherheit, zum Wertverlust und zum Verlust des Vertrauens der Bürger in diesen Rechtsstaat beiträgt.
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Sie verhindern keine Fahrverbote. Schon seit 2015 ist bekannt, dass Dieselfahrverbote drohen. Aber nachdem jahrelang nichts getan wurde, erleben wir jetzt Aktionismus. Es gibt keine Strategie der Bundesregierung. Das ist wieder klar geworden durch die Anfrage der Bundestagsfraktion der Freien Demokraten, die unbeantwortet blieb. Auf die Frage, was jetzt gemacht werde, antwortete der eine Staatssekretär im Ausschuss dieses; im Plenum wurde etwas anderes gesagt; in der Antwort auf die Anfrage wurde nichts gesagt. Entweder hat die Bundesregierung keinen Plan, oder sie behält den Plan für sich, oder Parlamentsrechte werden missachtet. In jedem Fall ist das eine schlechte Politik. Ich hätte auch erwartet, dass der Minister heute an dieser Debatte teilnimmt.
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Nicht nur Hamburg, sondern auch andere Städte sind jetzt gezwungen, streckenbezogene Fahrverbote einzuführen. Die Bundesregierung arbeitet an der Rechtsgrundlage, auch wenn sie dies öffentlich nicht sagt. Das ist in der Tat das schlechte Erbe, das übernommen wurde: Nicht nur die Pkw-Maut kommt nicht auf die Straße; auch beim Thema Fahrverbote wird es, wenn nicht endlich gehandelt wird, dazu kommen, dass Minister Scheuer als der Fahrverbotsminister in die Geschichte eingehen wird. Deswegen müssen Sie den Kurs korrigieren. Gehen Sie raus aus der Sackgasse, in der Sie sich befinden.
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Die Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger ist das Ergebnis. Keiner kauft mehr einen Diesel. Millionen Fahrzeuge verlieren an Wert. Ja, bei der Nachrüstung muss etwas getan werden; da tut sich zu wenig. Sie setzen stattdessen auf den E-Bus. Sinnvoller und effektiver wäre es, die Nachrüstung bei Dieselbussen zu beschleunigen.
({3})
Wir brauchen innovative Mobilitätsformen.
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Auch da tut sich viel zu wenig. Wo bleibt die Reform des Personenbeförderungsgesetzes? Wo bleibt die effektive Hilfe für Kommunen bei der digitalen Steuerung des Verkehrs? Auch wenn es Herr Spaniel nicht verstanden hat: Wenn der Verkehr fließt, gibt es auch weniger Emissionen. – Auch bei der innovativen Mobilität tut sich zu wenig bei dieser Regierung.
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Wie wir eben in anderer Debatte gehört haben, brauchen wir ein kritisches Hinterfragen der Grenzwerte. Wir brauchen eine Bundesregierung, die in Brüssel für ein Moratorium sorgt. Wir brauchen Zeit, und wir brauchen vor allem eine bundeseinheitliche Anwendung in den Kommunen. Hören Sie doch auf mit diesem Flickenteppich, wie er sich angesichts dessen, was die Kommunen derzeit machen, zeigt. Nutzen Sie die Spielräume der Verordnung. Sorgen Sie für ein Moratorium in Brüssel. Das würde uns in unserer Debatte sofort weiterhelfen.
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Beim nächsten Dieselgipfel brauchen wir ein klares Signal, dass die neuen Fahrzeuge sauber und sicher sind. Die Bundesregierung muss endlich für bessere Rahmenbedingungen in den Haftungsfragen sorgen, die eben zu Recht angesprochen worden sind. Es kann nicht sein, dass das Risiko beim Nutzer liegt. Wir brauchen einen Rechtsrahmen auch für die Hardwarenachrüstung. Wir brauchen Druck auf die Automobilindustrie in diesem Punkt. Vor allem brauchen wir ein klares Signal. Es geht ja auch um Psychologie. Die Menschen müssen wieder wissen, dass der Diesel sicher ist, dass er wertbeständig ist. Deswegen sorgen Sie mit Ihrer Politik endlich dafür, dass Fahrverbote verhindert werden und dass der Diesel sicher ist. Sorgen Sie für ein klares Signal, und hören Sie mit der Verunsicherung von Millionen Autofahrern in Deutschland auf.
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Vielen Dank, Herr Kollege Luksic. – Als Nächstes der Kollege Stephan Kühn für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über die technische Umrüstung von schmutzigen Diesel-Pkw, und zwar nicht deshalb, weil das Bundesverwaltungsgericht für das Recht auf saubere Luft und damit auch für den Gesundheitsschutz der Bürgerinnen und Bürger geurteilt hat, sondern vor allem deshalb, weil die Automobilhersteller beim Schadstoffaustausch von Diesel-Pkw jahrelang getrickst und betrogen haben und die letzten Bundesregierungen die Grenzwerte für Luftschadstoffe ignoriert haben.
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Verkehrsminister Scheuer spricht mit Blick auf drohende Fahrverbote von einer Quasienteignung der Dieselbesitzer.
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Meine Damen und Herren, diese Quasienteignung findet aber schon durch den Wertverlust der Autos statt, weil diese Bundesregierung die Autohersteller nicht zu einer Hardwarenachrüstung verpflichtet.
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Hardwareumrüstungen könnten weitere Wertverluste für die Fahrzeughalter vermeiden. Damit würden die geschädigten Verbraucherinnen und Verbraucher endlich die überfällige Unterstützung bekommen, die ihnen bisher von dieser Bundesregierung verwehrt wurde.
Es ist schon bemerkenswert, welche Fahrzeuge Andreas Scheuer einfallen, um vom eigentlichen Problem abzulenken. Dieselautos von Paketzustellern, Müllfahrzeuge, Krankenwagen, Taxen, Busse will er sauber machen. Das ist schön und gut, aber zum Beispiel Dieselbusse sind nur für lediglich 4 Prozent der Schadstoffbelastung verantwortlich. Der Diesel-Pkw aber ist für 72,5 Prozent der verkehrsbedingten Stickoxidbelastung in den Städten verantwortlich. Wer die wahren Problemverursacher verschont, macht sich zum Buddy der Automobilindustrie, meine Damen und Herren.
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Man muss auch nicht höhere Mathematik studiert haben, um zu erkennen, dass Softwareupdates für Dieselautos nicht ausreichen.
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Das Umweltbundesamt hat im letzten Jahr festgestellt, dass Euro-5-Diesel auf der Straße durchschnittlich 906 Milligramm Stickoxid pro Kilometer ausstoßen. Damit haben sie fünfmal so hohe Emissionen, als nach dem Grenzwert von 180 Milligramm erlaubt sind. Die Softwareupdates sollen eine Verbesserung um 25 bis 30 Prozent bringen. Nachgewiesen ist das allerdings nicht. Selbst mit diesen Softwareupdates sind die Emissionen eines durchschnittlichen Euro-5-Diesels im besten Fall immer noch 3,5-mal so hoch wie der Grenzwert.
Diese Reduktion setzt übrigens voraus, dass überhaupt Updates aufgespielt werden. Verkehrsminister Scheuer tönt, es seien schon 2,5 Millionen der 5,3 Millionen Diesel-Pkw umgerüstet. Das sind – fast ausschließlich – die Fahrzeuge von Volkswagen, die die Betrugssoftware hatten; da war VW verpflichtet, eine Softwareänderung vorzunehmen. Das heißt andersherum, dass bei den 2,8 Millionen Diesel-Pkw der anderen Hersteller, die freiwillig umgerüstet werden sollen, fast nichts passiert ist. Seit der Vereinbarung vom Dieselgipfel im August letzten Jahres wurde gerade mal 1 Prozent dieser Fahrzeuge umgerüstet. Nur Ankündigungen der Automobilindustrie, nicht mehr! Das ist völlig indiskutabel, meine Damen und Herren.
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Der ADAC hat mit Unterstützung des Verkehrsministeriums in Baden-Württemberg nachgewiesen, dass Hardwarenachrüstungen bei Euro-5-Dieselautos – da reden wir nicht von alten Karren – nicht nur möglich, sondern auch extrem wirksam sind. Bis zu 70 Prozent innerorts bzw. 90 Prozent außerorts weniger Emissionen lassen sich durch Nachrüstung erreichen. Es wäre ein weiterer Kniefall vor der Automobilindustrie, wenn die Bundesregierung diese Hardwarenachrüstung nicht durchsetzt.
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Klar ist auch: Die Zeche hat die Automobilindustrie als Verursacher des Problems zu zahlen, nicht die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss sagen: Das Urteil des Bundesverwaltungsgericht muss der Startpunkt für die Verkehrswende sein. Ein einmaliges „Sofortprogramm Saubere Luft“ für die Kommunen reicht nicht, um den Herausforderungen der städtischen Mobilität zu genügen.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
Unsere Städte brauchen zusätzliche Milliarden vom Bund für den Ausbau des Nahverkehrs, für Rad- und Fußverkehr. Nur so sorgen wir für saubere Luft, für emissionsfreie Mobilität und für lebenswerte Städte.
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Vielen Dank. – Als nächster Redner für die CDU/CSU der Kollege Markus Uhl.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei dieser Debatte, die wir heute Abend erneut führen, geht es um Luftqualität, um Mobilität, und es geht um Arbeitsplätze. Es geht um die Menschen, die in den besonders belasteten Städten leben. Es geht um die Menschen, die auf ihr Auto angewiesen sind, weil sie es für ihre Arbeit brauchen, und die verunsichert sind, weil sie nicht wissen, ob sie ihr Auto wie gewohnt nutzen können. Und es geht natürlich um jene Menschen, deren Arbeitsplätze direkt oder indirekt von den weiteren Entwicklungen abhängen, und von ihnen habe ich in meinem Wahlkreis ganz viele. Diese Menschen fragen mich natürlich.
Die Interessen all dieser Menschen gilt es in den Mittelpunkt unseres Handelns zu stellen und auszugleichen. Das ist das Ziel. Auf dem Weg zu diesem Ziel haben wir bereits deutliche Fortschritte erzielt. Wir haben dazu schon einiges gehört, meine Damen und Herren. Ich glaube, wir sollten hier auch nicht dramatisieren und die Debatte ein gutes Stück versachlichen.
Wir haben schon gehört, dass die Schadstoffbelastung unserer Luft in den vergangenen 25 Jahren deutlich abgenommen hat. Die Stickoxidbelastung im Straßenverkehr ist seit 1990 um 70 Prozent gesunken – und das bei zunehmendem Verkehr. Meine Damen und Herren von den Freien Demokraten: In Ihrem Antrag ist viel Vernünftiges enthalten; da gebe ich Ihnen recht. Aber dass nichts passiert sei, meine Damen und Herren, stimmt nicht.
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Jetzt gibt es ja auch das „Sofortprogramm Saubere Luft“, das letztes Jahr aufgelegt wurde und nun Wirkung zeigt. Es enthält übrigens auch zahlreiche ganz konkrete intelligente Maßnahmen zur Digitalisierung des Verkehrs in den Kommunen. Und, meine Damen und Herren, es gibt auch einen Zeitplan, den man sich ganz einfach aus dem Internet herunterladen kann.
Es gibt natürlich Softwareupdates, die zu einer Reduktion des Stickoxidausstoßes um 30 Prozent geführt haben. Natürlich leistet auch hier die Automobilindustrie ihren Beitrag, wie beispielsweise bei den 250 Millionen Euro, die in den Fonds „Nachhaltige Mobilität“ fließen, und bei den Wechselprämien, die ausgelobt wurden.
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Meine Damen und Herren, natürlich müssen wir auch über Hardwarenachrüstungen reden. Diese Hardwarenachrüstungen – da gibt es in der Tat Studien – können den Stickoxidausstoß um bis zu 90 Prozent reduzieren. Aber erwecken Sie hier bitte nicht den Eindruck, Hardwarenachrüstungen seien das simple, das einzige, das allein selig machende Mittel,
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um eine Reduktion zu erreichen.
Es gibt eben noch offene Fragen, meine Damen und Herren, in technischer und in rechtlicher Hinsicht, und es gibt auch die logistischen Fragestellungen. Genau diese Dinge sollen in der schon erwähnten Expertengruppe I im „Nationalen Forum Diesel“, das sich konkret mit diesen Fragen beschäftigt und in Kürze auch den Bericht vorlegen wird, erörtert werden. Den sollten wir abwarten, und dann sollten wir entscheiden.
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Ich sage es an dieser Stelle auch klar und deutlich: Da, wo eine Hardwarenachrüstung technisch und rechtlich möglich ist und in einem vernünftigen Kosten-Nutzen-Verhältnis steht, muss sie auch kostenfrei angeboten werden. Die Autohersteller – das sage ich an dieser Stelle auch – sind in der Pflicht, verlorengegangenes Vertrauen wiederherzustellen. Es gilt das Verursacherprinzip, und es gilt, den Vertrauensschutz der Kunden zu gewährleisten.
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Es darf keine Bestrafung derjenigen geben, die sich auf Zusicherungen verlassen haben.
Meine Damen und Herren, es gilt natürlich auch, Fahrverbote zu verhindern. Dazu brauchen wir die schon beschriebenen passgenauen Maßnahmen, die die individuelle Situation in den betroffenen Städten erfassen. Wer Fahrverbote verhindern will, der muss vor allen Dingen auch Pauschalisierungen verhindern. Eine blaue Plakette wäre genau eine solche Pauschalisierung.
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Die deutsche Automobilindustrie ist unsere Schlüsselindustrie. Sie sichert die Arbeitsplätze und den Wohlstand in unserem Land. Der Verbrennungsmotor ist kein Auslaufmodell, das schlagartig verschwindet. Gleichwohl gilt, heute die Weichen für die Zukunft unserer Mobilität zu stellen, für eine Mobilität, die ökologisch, die technologieoffen und digital ist, in einem Miteinander aus Politik, Wirtschaft und den Interessen der Menschen in unserem Land.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Uhl. – Als Nächster spricht für die SPD-Fraktion der Kollege Falko Mohrs.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie haben mit Ihrem Antrag das Kunststück vollbracht, alles, aber auch wirklich alles zusammenzuschmeißen – und das teils völlig ungetrübt von Sachkenntnis.
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Mein Kollege Arno Klare hat es eben deutlich gemacht – da brauchen Sie sich nicht aufzuregen –, wo zum Beispiel die rechtlichen Probleme bei Ihrem Antrag liegen.
Sie ignorieren vollkommen, dass es ein „Sofortprogramm Saubere Luft“ gibt, das Fortschritte erzielt hat; ich sage dazu gleich noch etwas. Sie werfen die Manipulation in einen Topf mit den alten Dieselfahrzeugen. Sie ignorieren die Vorteile des Dieselfahrzeugs gegenüber dem Benziner im Bereich der CO 2 -Werte. Und Sie ignorieren völlig die Bedeutung der Millionen Arbeitsplätze in diesem Land.
Aber das ist kein Problem. Wir helfen Ihnen gerne, alles ein bisschen differenziert zu betrachten. Klar ist: Erstens. Manipulation und Betrug müssen bestraft werden. Zweitens. Fahrverbote müssen vermieden werden, und zwar im Sinne der Handwerker und der Kundinnen und Kunden. Drittens. Die Automobilhersteller müssen sich ihrer Schlüsselrolle, in der sie sich befinden, ebenso bewusst sein wie der Verantwortung, die sie selber für die Gesundheit, für die Kunden und für die Arbeitsplätze haben, und sich entsprechend auf die Zukunft vorbereiten.
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Insbesondere die Vorstände und gutbezahlten Topmanagementebenen der deutschen Automobilhersteller haben eine Verantwortung dafür. Das Problem darf am Ende nicht bei den Kunden oder bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern liegen, die dann die Suppe auszulöffeln haben, die die gutbezahlten Ebenen ihnen eingebrockt haben.
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Wir müssen – das war klar – die Fahrverbote vermeiden; denn die treffen insbesondere die kleinen Unternehmen, zum Beispiel Handwerker, und die, die sich trotz der Zuschüsse nicht jedes Mal ein neues Fahrzeug kaufen können. Bei allen Fortschritten, die in den letzten Jahren durch das Programm erreicht wurden – ich habe es eben schon erwähnt –, muss aber deutlich gemacht werden: Das reicht am Ende noch nicht. Hier müssen insbesondere die ausländischen Hersteller deutlich eine Schippe drauflegen.
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Die Automobilindustrie ist eine Schlüsselindustrie in Deutschland. Die über 820 000 Mitarbeiter, die direkt dort arbeiten, plus die vielen Hunderttausende, die für Zulieferer, Spediteure, Dienstleister arbeiten, sprechen hier eine deutliche Sprache.
Klar ist aber: Die Hersteller müssen sich – ich habe das mehrfach gesagt – der Verantwortung stellen; denn sie tragen die Verantwortung dafür, sich für die Zukunft fit zu machen. Wir brauchen in den nächsten Jahren saubere – ich betone: saubere – Diesel und Benziner als Brückentechnologie, um das Geld zu verdienen, das für die Forschung und Entwicklung im Bereich der E-Mobilität, im Bereich der Brennstoffzelle, im Bereich der gasangetriebenen Fahrzeuge notwendig ist.
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Hier gibt es ebenfalls eine Verantwortung, nämlich die, die gesamte Wertschöpfungskette, beispielsweise in der E-Mobilität, in Deutschland zu behalten. Es geht darum, zum Beispiel im Bereich der Batteriezellen zu forschen, sie zu bauen – ganz wichtig an dieser Stelle –, sie weiterhin einzubauen und hinterher zu recyceln und wiederzuverwerten.
Wir alle tragen hier eine Verantwortung. Uns muss klar sein, dass dieses Thema nicht so eindimensional ist, wie uns manche glauben machen wollen. Wir tragen die Verantwortung für die Kunden, die Gesundheit in Deutschland und für die Arbeitsplätze heute und in Zukunft. Lassen Sie also diese sachkenntnisfreien Schnellschüsse. Billigen Populismus und Verweigerung von Realitäten sollten wir anderen überlassen.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Mohrs. – Als Nächstes spricht zu uns der fraktionslose Abgeordnete Mario Mieruch.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Luksic, noch einmal vielen Dank, dass Sie die Idee mit dem Moratorium aufgegriffen haben; denn solange die aktuellen Grenzwerte unberührt bleiben und die Antwort auf diese Grundsatzfrage gewürfelt statt wissenschaftlich fundiert ist, ist die ganze Diskussion eigentlich obsolet, da wir gar nicht wissen, in welche Richtung wir die Nachrüstsysteme optimieren sollen.
Das Schlimme in Bezug auf den Antrag von der Linksfraktion, der sich auf die Real-Driving-Emissions-Methode beruft, ist, dass die ICCT, die Organisation, die das ganze VW-Thema in den USA ins Rollen gebracht hat, dieses Verfahren bereits wieder kritisiert, die Zweckmäßigkeit der Methode hinterfragt und nach Veränderungen schreit.
Das Gleiche hat auch die Deutsche Umwelthilfe angekündigt, indem sie sich mit den Direkteinspritzern beschäftigen will, bei denen seit einiger Zeit statt 40 Milligramm schon wieder 20 Milligramm als Grenzwert durch den Raum schwirren. Das heißt letzten Endes – dieser Begriff ist vorhin schon angeklungen –: Von Planungssicherheit kann an dieser Stelle leider keine Rede sein, solange wir hier nicht Nägel mit Köpfen machen und verlässliche und glaubhafte Werte entsprechend beschließen. Ohne seriöse, anerkannte Grenzwerte werden wir uns im Kreis drehen.
Und wer glaubt, dass die Dieseltechnologie – es ist schlichtweg Fakt, dass die deutschen Hersteller die saubersten Diesel der Welt bauen, auch nach der Real-Driving-Emissions-Methode – eine Übergangstechnologie ist, der wird sich wahrscheinlich auf sehr viele Jahre einstellen müssen. In den USA zum Beispiel – die dortigen Grenzwerte werden immer wieder gern herangezogen – ist Diesel bisher gar keine weitverbreitete Antriebstechnologie. Aber sie wird es immer mehr, weil man auch dort festgestellt hat, dass die Dieselmotoren den Benzinern aufgrund der Vorteile beim Wirkungsgrad deutlich überlegen sind.
Das flächendeckende Problem, das wir mit AGR-System, Verkokung und Ansaugtrakt haben, bleibt bestehen. Das heißt, Softwarelösungen helfen uns nicht wirklich weiter. Über die Hardwarelösung wurde dementsprechend auch schon genug gesagt. Da sind unheimlich viele Forderungen der Politik schon erfüllt worden. Im Rahmen der Verringerung des CO 2 -Ausstosses und der Spritersparnis wurde jede Menge strömungsgünstige Unterbodengestaltungen usw. bereits realisiert, die diese ganzen Forderungen entsprechend erfüllen sollten. Da man packt nicht mal eben einfach einen Katalysator rein; so einfach ist das leider nicht.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Mieruch. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt spricht zu uns der Kollege Karl Holmeier für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum wiederholten Male debattieren wir heute einen Antrag der Linken zum Thema Diesel-Pkw. Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist es die Aufgabe der betroffenen Kommunen, vor Ort zu handeln. Eine bundeseinheitliche Regelung ist nicht erforderlich. Grenzwertüberschreitungen können nur von den punktuell betroffenen Kommunen gelöst werden. Wir müssen aber einen Weg finden, die negative Berichterstattung und das Schlechtreden des Dieselkraftstoffes zu beenden.
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Hier ist auch die Industrie gefordert, dort, wo geschummelt worden ist, im Sinne der betroffenen Autofahrer anzupacken und Lösungen anzubieten. Erforderliche Umrüstungen müssen schnell und effektiv durchgeführt werden. Es müssen auch Lösungen für die vielen Kfz-Händler gefunden werden,
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die aufgrund eingebrochener Preise und der allgemeinen Verunsicherung keinen Absatzmarkt mehr für ihre gebrauchten, auf dem Hof stehenden Diesel-Kfz haben.
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Es geht hier um Existenzen, meine Damen und Herren.
Das Thema „saubere Luft“ verfolgen wir seit Jahren. Durch die bisherigen Maßnahmen haben sich die Werte in den vergangenen Jahren deutlich verbessert; und sie werden sich weiter verbessern. In immer weniger Städten werden die Grenzwerte überschritten. Die allgemeinen Maßnahmen, die wir schon vor Jahren eingeführt haben, zeigen Wirkung. Bevor irgendwelche noch nicht ausgereiften Umrüstungen von Millionen von Dieselfahrzeugen mit einem Milliardenaufwand durchgeführt werden, müssen wir neben der Förderung der Elektromobilität, der Förderung von gasbetriebenen Pkws und Lkws auch die Entwicklung von alternativen Dieselkraftstoffen forcieren.
Unter alternativem Dieselkraftstoff verstehe ich den synthetischen Diesel, der aus Erdgas gewonnen wird. Dieser alternative Dieselkraftstoff verbrennt deutlich sauberer als der herkömmliche Diesel auf Erdölbasis. Er produziert weniger Emissionen vor Ort, weniger Partikel, weniger Stickoxide und weniger Schwefeloxide. Der aus Erdgas gewonnene Diesel ist zudem nicht giftig, nahezu geruchslos und leichter biologisch abbaubar. Dieser neue Diesel kann ohne jegliche Änderung des Fahrzeugs eingesetzt werden, also ohne Umrüstung und ohne Umbau am Fahrzeug.
Warum also nicht diesen neuen Dieselkraftstoff in den betroffenen Städten oder bundesweit auf den Markt bringen? Ein mittelständischer Fuhrunternehmer aus meinem Heimatort nutzt diesen synthetischen Diesel seit einigen Wochen in seinen Lkws. Die Änderungen gegenüber dem herkömmlichen Diesel auf Rohölbasis werden zurzeit mit einem aufwendigen Messverfahren ausgewertet. Der verwendete neue synthetische Diesel ist sehr klar, nahezu geruchslos und daher für den erprobten Dieselfahrer eigenartig. Die Reaktion der Lkw-Fahrer beim erstmaligen Tanken lautete: Chef, wir haben Wasser im Tank. – Die Firma, meine Damen und Herren, fährt die saubersten Diesel-Lkw in ganz Deutschland.
Auch die Berliner Verkehrsbetriebe haben in einem Test die Vorteile dieses synthetischen Diesels bei Bussen im ÖPNV nachgewiesen. Die Senkung der NO X -Emissionen lag bei mehr als 6 Prozent, der Ausstoß von Kohlenstoffmonoxid wurde sogar um 20 Prozent reduziert, allein durch den Wechsel von einem Standarddieselkraftstoff auf einen Dieselkraftstoff aus Erdgas, ohne an den Fahrzeiten etwas zu verändern.
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Bevor ich also die deutsche Wirtschaft mit irgendwelchen Nachrüstungsverpflichtungen stranguliere oder unsere Dieselfahrer in Deutschland über Nacht enteigne, setze ich auf den soeben beschriebenen alternativen Weg, um die Luft in den Städten sauberer zu machen. Wir müssen viele Wege beschreiten, meine sehr verehrten Damen und Herren. Alternative Antriebe wie Elektro- und Gasantriebe oder der eben genannte neue Dieselkraftstoff gehören dazu.
Herr Kollege Holmeier, nun kommen Sie zum Schluss, bitte.
Ja, sofort.
Ja, das meine ich auch so.
Wir sind mit dem von der Bundesregierung vorgelegten Programm auf einem guten Weg, die Luftwerte in unseren Städten zu verbessern. Den Diesel zu verteufeln, ist nicht der richtige Weg. Den Antrag der Linken lehnen wir ab; er ist zu einseitig und zu kurz gesprungen.
Vielen Dank.
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Herr Kollege Holmeier, herzlichen Dank. Ich habe großes Verständnis dafür, dass Sie stolz darauf sind, dass in Ihrem Wohnort der sauberste Diesel fährt; aber wenn ich Sie bitte, zum Ende zu kommen, dann meine ich das ernst.
Ich schließe damit die Aussprache.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/1360 und 19/1695 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir legen Ihnen heute einen Gesetzentwurf vor, der dazu dienen soll, Asylrechtsverfahren zu beschleunigen und die Verwaltungsgerichte zu entlasten, ohne dabei die Rechte der Schutzsuchenden zu beschneiden. Es ist ein Gesetzentwurf, der sehr gut zu dem in Ihrem Koalitionsvertrag angekündigten Pakt für den Rechtsstaat passt. Die Überlastung der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist offenkundig. Da braucht es dringend Abhilfe.
Die Zahl der anhängigen Verfahren hat sich seit 2014 fast verachtfacht. Asylsachen machen derzeit Dreiviertel der Gesamtbelastung der bundesweit etwa 1 700 Verwaltungsrichter aus. Auch die Personalaufstockung durch die Länder von circa 400 Stellen wird das Problem kurzfristig nicht lösen können. Trotz der hervorragenden Arbeit der Richterinnen und Richter kann der Rückstau so in angemessener Zeit nicht abgebaut werden. Der Stau der Klageverfahren hat viele Gründe, unter anderem ist er die Folge der gestiegenen Zahl der Asylanträge und damit der Asylbescheide.
Frau Kollegin, erlauben Sie mir eine kurze Unterbrechung. – Die Bitte, nicht zu reden, bezieht die Regierungsbank mit ein. Ich bitte darum, der Rednerin im Hause auch wirklich Aufmerksamkeit zu schenken, vor allen Dingen bei dem Thema, um das es jetzt gerade geht.
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Vielen Dank. – Außerdem war das BAMF schon 2014 trotz der absehbar steigenden Flüchtlingszahlen personell unterbesetzt, sodass hektisch ein Vielfaches an Personal eingestellt werden musste, was wiederum auf die Qualität der Bescheide Auswirkungen hatte.
Es gibt aber auch noch einen weiteren Hintergrund: Seit der Einführung der Zulassungsberufung im Verwaltungsgerichtsverfahren 1996 sind die Hürden für den Weg durch die Instanzen immer weiter erhöht worden. Man wollte Verfahren straffen und beschleunigen. Dabei hat man allerdings übersehen, dass auch obergerichtliche Rechtsprechung notwendig ist, um erstinstanzliche Verfahren zu beschleunigen.
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Übertrieben hat es der Gesetzgeber diesbezüglich besonders im asylgerichtlichen Verfahren. Anders als im sonstigen verwaltungsgerichtlichen Verfahren können nicht einmal die Richter selbst Berufung zulassen. Fehlende Rechtsmittel führen zu fehlenden Leitentscheidungen, oder einfacher ausgedrückt: Oben kommt nichts an.
In der Praxis bedeutet dies, dass gleich gelagerte Fälle immer wieder neu entschieden werden müssen. Dies führt zu einem erhöhten Prüfungsaufwand bei den Gerichten und einem Flickenteppich an divergierenden Einzelentscheidungen sowie Unsicherheit bei den Rechtsanwendern. So wird beispielsweise die Frage nach dem Status geflüchteter Wehrpflichtiger aus Syrien immer wieder unterschiedlich beantwortet. Die gerichtliche Entscheidung ist teilweise davon abhängig, in welchem Bundesland der Betroffene wohnt. Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir die Zulassung der Berufung bei grundsätzlicher Bedeutung des Falles oder Abweichung von obergerichtlicher Rechtsprechung
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durch das Verwaltungsgericht selbst ermöglichen und Beschwerden gegen Entscheidungen in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zulassen.
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Der Bundesrat hatte bereits 2017 einen ähnlichen Vorschlag gemacht, von dem zwischenzeitlich aber nur die Sprungrevision zum Bundesverwaltungsgericht eingeführt wurde. Wir wollen darüber hinaus die Revision künftig auch bei fallübergreifenden allgemeinen Tatsachenfragen zulassen. Dadurch könnte sich eine obergerichtliche Rechtsprechung etablieren, die wegweisend wäre für viele erstinstanzliche Gerichte.
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Langfristig reduziert dies den Prüfungsaufwand der Richter und fördert die effiziente Verfahrenserledigung. Gleich gelagerte Fälle können zügiger und einheitlich entschieden werden, und nicht jedes Verwaltungsgericht müsste die Lage im Herkunftsland immer wieder selbst neu bewerten. Grundsatzentscheidungen entlasten gleichzeitig das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Eine einheitliche Rechtsprechung schafft verlässliche Prüfungsmaßstäbe für die Behörde, die sich bei ihren künftigen Entscheidungen an der obergerichtlichen Rechtsprechung orientieren kann.
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Dies führt zu steigender Qualität bei den Entscheidungen des BAMF und wiederum zu einem geringeren Geschäftsanfall bei den Gerichten. Auch das Bundesverfassungsgericht würde entlastet, das heute zunehmend als Superrevisionsinstanz herhalten muss.
Unser Vorschlag findet nicht nur Unterstützung im Bundesrat, sondern auch vom Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen, der Neuen Richtervereinigung, dem Deutschen Anwaltverein sowie nicht zuletzt vom Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts. Gerade im Oktober 2017 hat die Jahrestagung der Präsidenten der Oberverwaltungsgerichte genau diese Vorschläge einstimmig beschlossen. Machen Sie sich also bitte von dem ungeschriebenen Gesetz frei, dass Vorschläge der Opposition grundsätzlich abzulehnen sind. Wenn Sie es ernst meinen mit dem Pakt für den Rechtsstaat, wäre dieses Gesetz eine gute Gelegenheit, das unter Beweis zu stellen. Die Verwaltungsrichter werden es Ihnen danken.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Detlef Seif.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Anliegen des vorliegenden Gesetzentwurfes ist durchaus nachvollziehbar und auch zu begrüßen. Zwischen 2015 und 2017 haben sich die Eingangszahlen bei den Verwaltungsgerichten deutlich erhöht. Während in den anderen Bereichen die Eingänge relativ stabil bei 100 000 im Jahr liegen, haben sie sich bei Asylsachen vervierfacht, von 50 000 auf jetzt 200 000 im Jahr. Rund 365 000 Asylklagen sind derzeit anhängig. Mit den 1 700 Verwaltungsrichtern in der ersten Instanz kann man aber nur 200 000 Fälle jährlich erledigen. Selbst wenn die Zahl der Neuzugänge auf das Niveau des Jahres 2015 zurückginge, was wir derzeit aber nicht absehen können, würde der Rückstand jährlich um nur 50 000 Fälle reduziert werden. Das Ganze ist also ein Projekt, das uns in jedem Fall noch über Jahre begleiten wird.
Die Verwaltungsgerichte wenden derzeit drei Viertel ihrer Energie nur für die Asylverfahren auf, obwohl das ein Teilaspekt ihrer Zuständigkeit ist. Ganz wichtige Bereiche sind auch Ausbildungsförderung, Baurecht, Beamtenrecht, Gewerberecht, Kinder- und Jugendhilferecht, Kommunalrecht, Polizei- und Ordnungsrecht, Prüfungsrecht, Schulrecht, Wohngeldrecht usw. usf. Es gibt also noch viele weitere Zuständigkeiten. Meine Damen und Herren, an dieser Stelle ein Lob an die Verwaltungsrichter. Wenn ich bedenke, was diese im Moment zu bearbeiten haben und wie hoch dennoch die Qualität der Arbeit ist, kann man nur den Hut vor ihnen ziehen.
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Aber eines muss doch klar sein: Auch mit dem höchsten Einsatz und Veränderungen des Prozessrechts wird man das aktuelle Problem nicht lösen können, sprich: zu zügigen Verfahren kommen, die auch unseren rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechen. Es sind Maßnahmen erforderlich. Die Frage ist nur, welche.
Änderungen am Prozessrecht – darüber kann man diskutieren – werden das Grundproblem der personellen Unterbesetzung nicht beheben. 400 zusätzliche Stellen reichen nicht. Hier müssen die Länder bei der ersten Instanz noch einmal deutlich nachbessern.
Im vorliegenden Gesetzentwurf geht es im Kern darum, in Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auch die Berufung durch die Verwaltungsgerichte zuzulassen. Weiterhin sollen Verwaltungsgerichte bei Fragen von grundsätzlicher Bedeutung die Beschwerde gegen Beschlüsse im einstweiligen Rechtsschutz zulassen können. Um fallübergreifende allgemeine Tatsachenfragen der Entscheidung in höchster Instanz zuzuführen, sehen Sie die Möglichkeit der Revision vor.
Richtig ist, dass obergerichtliche Entscheidungen bei schwierigen und streitigen Fragen nicht nur den Gerichten, sondern sicherlich auch dem BAMF Orientierung geben werden. Aber es ist doch zweifelhaft, ob es tatsächlich zu der gewünschten Verfahrensbeschleunigung kommt. Niemand kann vorhersehen, in wie vielen Fällen von der Möglichkeit der Berufung, Beschwerde und Revision Gebrauch gemacht wird. Eines ist doch klar: Wer zusätzliche Rechtsmittel einführt, wird zunächst einmal erreichen, dass die Verfahren länger dauern, dass sie in jedem Fall komplizierter werden – zumindest vorrübergehend – und dass die Verfahren insgesamt nicht so schnell der Erledigung zugeführt werden können. Die Entscheidung wird nicht so schnell rechtskräftig werden. Der Aufenthaltsstatus der Betroffenen wird sich sogar noch verfestigen. In letzter Instanz könnte das auch zu fehlender Akzeptanz der aktuellen Politik, die wir machen, führen.
Heute findet die erste Lesung statt. Das ist nicht der Ort, an dem man einen Korb gibt. Ich habe gesagt, dass es ein guter Ansatz ist. Aber wir müssen die Risiken mit dem abwägen, was wir möglicherweise erreichen können. Die Bundesregierung prüft aktuell, ob und wenn ja, welche Gesetzesänderungen zur weiteren Verfahrensbeschleunigung, -vereinfachung und -vereinheitlichung möglich sind. Es ist auch eine Vorabentscheidung beim Bundesverwaltungsgericht im Gespräch. Das ist vielleicht ein guter Ansatz, um durch eine entsprechende Gesetzesänderung die Einheitlichkeit herbeizuführen. Egal wie das Ergebnis der weiteren Beratung aussehen wird, am Schluss muss die Beschleunigung der Verfahren stehen.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Seif. – Als Nächster spricht zu uns der Abgeordnete Tobias Peterka von der AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte verbliebene Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf soll angeblich dafür sorgen, dass deutsche Verwaltungsgerichte nicht mehr heillos überlastet werden. Er stammt gleichzeitig von der Partei, die diesen Missstand am fröhlichsten, am buntesten und – um es auf den Punkt zu bringen – am ideologischsten herbeigeführt hat.
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Hier wird nicht nur der Bock zum Gärtner gemacht, hier macht sich der Bock gleich selbst dazu.
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Ich persönlich würde gerne glauben, dass Sie die Ausführungen in der Begründung auch ernst meinen, dass Ihnen ein Licht in dieser Sache aufgegangen ist. Aber es tut mir leid, ich bin nicht ganz naiv.
Sie beklagen, dass die Explosion bei der Zahl der eingehenden Asylklagen drei Viertel der laufenden Kapazität der Verwaltungsgerichte lahmlegt. Doch dies wird sodann als gerichtsorganisatorische Herausforderung verniedlicht. Ich nenne es Rechtsstaatsversagen auf ganzer Linie und mit Ansage.
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Dem Normalbürger außerhalb der heiligen Kuh Asylrecht wird der Abbau des Rechtsschutzes seit Jahren in homöopathischen Dosen verabreicht und von dem auch so geschluckt. Das ist der bloße Verdrängungseffekt. Sie geben auch noch vor, darum besorgt zu sein. Sie wollen vielmehr die weitere Verfestigung von Aufenthaltstiteln durch Zeitablauf oder Freifahrtscheine durch die Obergerichte.
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Per 2016 hat übrigens das Bundesverfassungsgericht zuletzt klargestellt, dass es nicht zu beanstanden ist, unterschiedliche Materien auch mit unterschiedlichen Rechtszügen auszustatten. Die AfD sagt: Während die meisten Länder auf ihren Rechtswegen wenigstens auf einen Sozialstaat mit Rundumversorgung verzichten, gewährt Deutschland die bleierne Kombination von Sozialstaat und subjektivem Asylanspruch. Dies ist vollkommen aus der Zeit gefallen und führt bei unserer geografischen Lage nachgewiesenermaßen in die Katastrophe, die Sie anscheinend befürworten.
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Zuerst kapitulieren die Verwaltungsgerichte, wie Sie selber erkennen, folgen werden Polizei, Behörden, Gemeinden, Schulen,
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ganze Nachbarschaften, Ihre natürlich zuletzt.
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Ihr Antrag verschlimmert den Kern des Desasters ja erst: das Geschäftsmodell der sogenannten angemaßten Rechtsposition. Es geht den umfassend betreuten Antragstellern genauso wenig wie Ihnen um einen sauberen Rechtsweg.
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Es geht stets um die Vorwegnahme von Fakten: Erstens. Die Antragsteller sind ja schon hier. Zweitens. Sie werden während des kostenlosen Verfahrens weiter hier sein.
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Drittens. Je länger dieses Verfahren dauert, umso eher erhalten sie eine humanitär bedingte Duldung. Der Wisch mit dem Urteil geht dann oft ungesehen ins Archiv des Anwalts, da dem Klienten der Ausgang inzwischen ohnehin egal ist – er bleibt sowieso bei uns.
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Sie, liebe Grüne, wollen nun eine Berufung an den Obergerichten, die übrigens in Ausnahmefällen bereits zulässig ist, zum Normalfall machen, durch bloße Entscheidung des Verwaltungsgerichts selber, und wenn dies es nicht möchte, soll sogar ein Anwalt der Asylindustrie es erzwingen können.
Um dem Ganzen noch den Hut aufzusetzen, soll eine Revision beim Bundesverwaltungsgericht eingeführt werden, um fallübergreifende, allgemeine Tatsachenfragen klären zu können. Zunächst befassen sich Revisionen üblicherweise nur mit Rechtsfragen. Die beabsichtigten Länderleitentscheidungen sollen doch nur Rückführungen in befriedete Gebiete auf Monate blockieren. Sollten diese Leitentscheidungen und allgemein die Obergerichtsentscheidungen asylfreundlich ausfallen, würde das Ihnen natürlich gefallen. Sollten sie asylfeindlich ausfallen, könnte der Anwalt – Sie schreiben es selber hinein – ohnehin weiter dagegen vorgehen, dieses Mal in drei Instanzen statt nur einer.
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Letzte Rettung sind dann wohl der EuGH und der EGMR; es kann nach Ihrer Ansicht endlos weitergehen. Die Asylindustrie kann hier nur gewinnen, Deutschland nur verlieren.
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Liebe Grüne, geben Sie einfach zu, was Sie hier möchten: die Erosion des Rechtsstaats, der durch einen Asylgeberstaat ersetzt werden soll. Meinetwegen schreiben Sie in jeden zweiten Satz „Solidarität“ hinein. Aber wenn Sie das tun – das wissen Sie genau –, bleibt auch dem Ärzteehepaar in Stuttgart beim Frühstück das Müsli im Hals stecken, und deswegen schreiben Sie es nicht hinein.
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Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Sie, liebe Grüne, wollen hier tarnen und täuschen. In die Ausschüsse kann die Sache trotzdem gehen. Vielleicht legen Sie dort die Karten etwas offener auf den Tisch. Die AfD steht weiterhin für sofortigen Asylstopp, Reduzierung der Fallzahlen und eine grundlegende Änderung dieses Anspruchssystems.
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Herr Kollege, Ihr letzter Satz, bitte.
Vielen Dank.
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Und nun für die Fraktion der SPD die Kollegin Gabriela Heinrich.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hinter jedem Asylantrag steht eine Hoffnung: die Hoffnung auf Schutz, die Hoffnung auf Sicherheit, manchmal auch einfach die Hoffnung auf ein besseres Leben. Egal, ob ein Asylantrag berechtigt ist oder nicht – Hoffnung steckt immer dahinter. Deswegen ist es nachvollziehbar – das kann man beklagen, so viel man will –, dass fast alle Betroffenen gegen einen abgelehnten Asylantrag klagen. Dabei gilt, dass viele Asylanträge mit zeitlicher Verzögerung auch zu vielen Klagen führen.
Zum 31. Dezember 2017 waren bundesweit rund 372 000 Asylklagen anhängig. Ihre Zahl ist massiv gestiegen. Vor allem die Verwaltungsgerichte in allen Bundesländern sind massiv überlastet. Wir müssen diese Überlastung ernst nehmen, zumal die Verfahrensdauer – derzeit sind es im Schnitt rund acht Monate – sich weiter verlängert, wenn nichts getan wird. Das haben wir verstanden, und wir werden reagieren.
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart – die Kollegin Keul hat es erwähnt –, dass wir die Gerichte entlasten. Wir haben deswegen einen Pakt für den Rechtsstaat vereinbart, den wir schnell umsetzen müssen. In diesem Rahmen sollen 2 000 neue Richterstellen bei den Gerichten der Länder und des Bundes und entsprechende Stellen für Folgepersonal geschaffen werden. Wir sind uns auch einig, dass Gesetzesänderungen – so habe ich auch den Kollegen von der CDU/CSU verstanden – zur weiteren Beschleunigung, Vereinfachung und Vereinheitlichung der Verfahren auf den Prüfstand müssen. In der letzten Legislaturperiode wurde auch aus diesem Grund bereits die Möglichkeit der Sprungrevision eröffnet.
Eine aktuelle Länderinitiative der SPD-geführten Regierungen von Berlin, Bremen, Brandenburg und Hamburg hat konkrete Vorschläge gemacht. In dieser Initiative werden wesentliche Forderungen aus der Praxis aufgegriffen, an denen sich ja auch der Gesetzentwurf der Grünen orientiert. Im Kern geht es darum, mehr Leit- und Orientierungsentscheidungen zu ermöglichen, damit die Verwaltungsgerichte sich besser an höherinstanzlichen Entscheidungen orientieren können. Das soll die Verfahren einfacher und die Rechtsprechung bundesweit einheitlicher machen. Aus unserer Sicht ist das der richtige Weg.
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Für die Forderungen der Länderinitiative gibt es eine breite Unterstützung der Fachwelt. Wir nehmen das sehr ernst, und wir werden darüber, wie besprochen, in der Großen Koalition und auch im Ausschuss gemeinsam mit der gebotenen Sorgfalt beraten.
Wir werden das Problem dagegen nicht lösen, wenn wir einfach mit dem Finger auf das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeigen. Das möchte ich an dieser Stelle durchaus betonen. Nur weil es viele Klagen gibt, ist das noch lange kein Beleg für eine schlechte Verfahrensqualität. Fakt ist, dass fast 80 Prozent der Klagen vor den Verwaltungsgerichten keinen Erfolg haben. Aber: In immerhin 32 500 Fällen – bei 146 000 Entscheidungen – wurde im letzten Jahr ein abweichender Schutz zugesprochen. Und das heißt eben auch: In einem Rechtsstaat kann es überhaupt nicht darum gehen, die Klagemöglichkeiten einfach einzuschränken.
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Was wir jetzt brauchen, ist eine schnelle, aber auch sorgfältige Lösung. Sie muss mit ganz gezielten Eingriffen insbesondere die Verwaltungsgerichte entlasten und gleichzeitig eine bundesweit einheitliche Rechtsprechung befördern. Die SPD ist dazu bereit, und das Gleiche erwarten wir jetzt auch vom neuen Bundesinnenminister.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Frau Kollegin Heinrich. – Als Nächster spricht zu uns der Kollege Stephan Thomae für die Freien Demokraten.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Jedes gerichtliche Verfahren kostet Zeit und Geld, und weil Zeit Geld ist, kostet es umso mehr, je länger ein Verfahren dauert. Deshalb ist nur schnelles Recht auch gutes Recht.
Bei den Verwaltungsgerichten hat sich die Verfahrensdauer in den letzten Jahren erheblich gesteigert. Im Zuständigkeitsbereich des Verwaltungsgerichtes Berlin dauert ein Verfahren bis zur Rechtskraft der Entscheidung im Schnitt um die 20 Monate, also fast zwei Jahre kostbare Zeit. Dies betrifft nicht nur Asylverfahren, sondern auch jedes andere verwaltungsgerichtliche Verfahren. Jede Familie, die gerne ein Eigenheim bauen möchte, sich aber in einem öffentlich-rechtlichen Bauprozess befindet, muss die Dauer des Verfahrens ebenfalls einkalkulieren.
Die Lösung des Problems könnte nun sein – der Kollege Seif hat es geschildert –, zu sagen: Dann stellen wir mehr Richter ein. Aber ein Stellenaufwuchs im öffentlichen Sektor ist zum Ersten nicht besonders originell und zum Zweiten auch teuer. Hinzu kommt, dass diese Stellen auch dann noch bedient werden müssen, wenn hoffentlich irgendwann die Arbeitsbelastung der Gerichte wieder sinkt.
Der Lösungsansatz, den die Grünen heute mit ihrem Gesetzentwurf vorgelegt haben, ist eigentlich der viel schlauere und der intelligentere.
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Der Antrag sieht vor, dass Effizienzreserven gehoben und Verfahrensabläufe hinsichtlich einer möglichen Verbesserung geprüft werden. Ich finde, das ist eine sehr nachdenkenswerte Idee. Zunächst einmal dauern die Verfahren dann länger – Herr Kollege Seif, da haben Sie recht –, weil weitere Rechtsmittelmöglichkeiten gegeben werden; man muss aber noch einen zweiten Blick auf den Vorschlag der Grünen werfen. Man muss fragen: Was passiert im zweiten Schritt? Die Zahl der offenen Anträge beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist inzwischen auf unter 100 000 gefallen. Viele Fälle landen aber woanders, nämlich bei den Verwaltungsgerichten. Momentan sind bundesweit 320 000 Fälle in Bearbeitung. Die Gerichte müssen im Augenblick jedem Einzelfall nachgehen und die Verfolgungssituation in jeder Provinz, in jeder Region für jede Bevölkerungsgruppe eines Landes prüfen, weil es nur diese eine Tatsacheninstanz und eben keine obergerichtlichen Entscheidungen dazu gibt. Wir haben in § 78 Absatz 6 Asylgesetz zwar die Möglichkeit der Sprungrevision zum Bundesverwaltungsgericht; aber das ist eine reine Rechtsprüfungsinstanz. Dort werden die Tatsachen nicht überprüft. Das heißt, wir haben eine zersplitterte Rechtsprechung. Es bleibt dabei, dass jedes Gericht die Tatsachen noch einmal prüfen muss, und das braucht Zeit.
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Wenn nun das Bundesverwaltungsgericht als neue Tatsacheninstanz auch allgemeinverbindlich Tatsachen überprüfen und feststellen kann, dann entlastet das im Endeffekt, also im zweiten Schritt, wenn das Verfahren durchschritten ist, natürlich die Gerichtsbarkeit in der ersten Instanz. Das hilft dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und den Verwaltungsgerichten in erster Instanz bei ihren Entscheidungen und führt im Endeffekt dazu, dass Verfahren effizienter und schneller werden. Übrigens erfolgen dann auch die Ablehnungen schneller. Die Verfahren werden berechenbarer. Man weiß, was einen erwartet. Außerdem werden die Verfahren einheitlicher. Das heißt, wir bekommen am Ende schnellere Entscheidungsprozesse, schnellere Verfahren. Dann haben die Gerichte auch wieder mehr Zeit und mehr Luft, dann haben sie die Hände frei für den Prozess der Familie, die gerne endlich den ersten Spatenstich für ihr Familienheim machen würde.
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Das ist ein schlauer Antrag. Er könnte auch von uns sein.
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Herr Kollege Thomae, ich enthalte mich hierzu jeden Kommentars.
Als Nächste spricht zu uns die Kollegin Gökay Akbulut. Ich weise darauf hin, dass das ihre erste Bundestagsrede ist.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren hier über einen Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Asylgesetzes. Konkret soll das Rechtsmittelsystem in Asylverfahren reformiert werden, indem die Zulassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht und der Beschwerdemöglichkeiten im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes eingeführt werden. Dadurch soll den Verwaltungsgerichten eine Klärung offener Rechtsfragen ermöglicht werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke begrüßt ausdrücklich die Forderung, dass die Asylverfahren beschleunigt und so den Verfahren nach dem allgemeinen Verwaltungsrecht wieder ein Stück weit angeglichen werden sollen.
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Derzeit belasten die gravierenden Mängel in der Entscheidungspraxis des BAMF nicht nur Asylsuchende, die über Monate und Jahre hinweg in Unsicherheit leben, sondern sie überfordern auch die Verwaltungsgerichte. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit verzeichnet seit geraumer Zeit hohe Eingänge von Asylverfahren. Es gibt einen Höchststand bei den anhängigen Gerichtsverfahren im Asylbereich. 2017 gab es 328 382 Klagen gegen Asylbescheide. Das ist fast eine Verdoppelung gegenüber dem Vorjahr. Gegen 91,3 Prozent aller ablehnenden Bescheide des BAMF wurde im Jahr 2017 geklagt. Wegen eines nur subsidiären Schutzstatus waren Ende 2017 noch 66 247 Klagen anhängig, sogenannte Upgrade-Klagen. Die Erfolgsquote der Klagenden in erster Instanz lag bei inhaltlichen Asylentscheidungen bei 59,6 Prozent. Bei Syrerinnen und Syrern war sie sogar noch höher. Meine Damen und Herren, es kann nicht sein, dass die Hauptaufgabe der Gerichte darin besteht, ständig die falschen Entscheidungen des BAMF zu kassieren.
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Die Linke setzt sich entschieden dafür ein, dass die Entscheidungspraxis des BAMF auf den Prüfstand gestellt wird. Wichtig ist im Ergebnis, dass Geflüchtete in schnelleren und fairen Verfahren eine richtige Entscheidung erhalten.
Durch die erweiterte Möglichkeit der Zulassung von Rechtsmitteln geht der Gesetzentwurf der Grünen in die richtige Richtung. Das Asylgesetz sieht derzeit noch einen äußerst beschränkten Rechtsmittelzug vor. Anders als im allgemeinen Verwaltungsprozess kann das Verwaltungsgericht weder in Hauptsacheverfahren die Berufung noch in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Beschwerde zulassen. Dies hat zu einer nicht mehr hinnehmbaren Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung geführt. Gleich gelagerte Fälle werden unterschiedlich entschieden und sorgen für Rechtsunsicherheit. Die Linke befürwortet ausdrücklich, dass durch einheitlichere Entscheidungen mehr Rechtssicherheit für Geflüchtete entsteht.
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In der bisherigen Uneinheitlichkeit der Entscheidungen sieht Die Linke eine nicht hinnehmbare Ungleichbehandlung von Schutzsuchenden. Dies darf nicht zum Regelfall werden.
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In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass der Gesetzentwurf der Grünen das Problem der fehlerhaften Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, welche wir als das Hauptproblem ansehen, nicht beheben wird.
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Die wirksamste Entlastung der Gerichte würde immer noch darin bestehen, dass das BAMF endlich sorgfältige Asylprüfungen durchführen und gut begründete Bescheide erstellen würde. Das BAMF sollte bei Herkunftsländern mit einer Vielzahl von gerichtlichen Aufhebungen – das betrifft insbesondere Syrien und Afghanistan – negative Bescheide von sich aus überprüfen und gegebenenfalls korrigieren.
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Den Zugang zu einem zügigen Verfahren zu ermöglichen, in welchem in guter Qualität über das Begehren der Schutzsuchenden entschieden wird, liegt in der Verantwortung des Staates. Das Recht der Schutzsuchenden auf ein faires Verfahren muss hierbei maßgebend sein.
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Die Linke unterstützt deshalb den Gesetzentwurf, sieht aber noch weiteren Handlungsbedarf. Es muss umgehend flächendeckend in ganz Deutschland eine gute, frühzeitige und dabei kostenlose Rechtsberatung für alle Schutzsuchenden geben. Wir werden auch weiterhin solidarisch sein und die Rechte der Geflüchteten stärken.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächstes der Kollege Michael Kuffer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Sie haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, auf jeden Fall eine zutreffende Situationsbeschreibung vorgenommen; das muss ich Ihnen zugestehen. Die Belastung der Verwaltungsgerichte ist immens. Wir müssen aufpassen, dass wir hier nicht einen Flaschenhals bekommen, der uns bei unserem Ziel, insgesamt zu einer Beschleunigung zu kommen, im Wege steht.
Man sieht an dem Ganzen natürlich eines – das ist der Punkt, auf den die CSU seit Jahren hinweist –: dass wir, wenn wir die Belastungen, die mit der Flüchtlingskrise verbunden sind, richtig ermessen wollen, weit über die Primärfolgen hinausblicken und die Sekundärfolgen und Sekundäraspekte umfassend mit einbeziehen müssen. Insofern – das kann ich Ihnen nicht ersparen –: Sie werden uns noch dafür dankbar sein, dass wir die Obergrenze durchgesetzt haben. Auch hier sieht man es wieder.
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Ich kann den Gedanken, der mit dem Gesetzentwurf verbunden ist, nachvollziehen, durch obergerichtliche Grundsatzentscheidungen ein Rechtsgebiet und dessen Tatsachenumgebung gewissermaßen so zu kartographieren, dass sich die Instanzgerichte darin einfacher zurechtfinden. Ich kann das, wie gesagt, nachvollziehen, aber ich kann es – ich werde Ihnen gleich sagen, warum – jedenfalls nicht ohne Weiteres teilen. Ich sage deshalb „nicht ohne Weiteres“, weil ich für richtig halte, worauf wir uns im Koalitionsvertrag geeinigt haben: dass wir zwar die Möglichkeiten der Verfahrensoptimierung nutzen, aber genau prüfen wollen. Das ist das, was jetzt ansteht. Ich glaube, dass dies dem Thema gut zu Gesicht steht und angemessen ist. Es gibt ja das Sprichwort: „Das Bessere ist der Feind des Guten.“ Insofern müssen wir aufpassen, dass wir das Ziel der Beschleunigung und Vereinfachung im Blick behalten.
Ich sage Ihnen aber auch: Mit einer Vereinheitlichung ohne Beschleunigung, wenn wir im Gegenteil sogar noch das Risiko der Ausweitung bzw. der Aufblähung des Rechtsschutzes eingehen, würden wir dem Anliegen eher einen Bärendienst erweisen. Anders gesagt: Wir müssen die Beschleunigungskräfte, die wir mit dem Vorschlag auf der materiell-rechtlichen Ebene erreichen können, sehr sauber gegen die Bremskräfte abwägen, die auf der prozessualen Seite drohen, und da kommt mir durchaus der eine oder andere Zweifel.
Zunächst vielleicht noch mal zur Klarstellung: Wir haben auch bisher schon nach § 78 des Asylgesetzes die Möglichkeit der Zulassung einer Berufung bei grundsätzlicher Bedeutung, allerdings eben nicht von vornherein durch die Instanzgerichte, sondern durch die Oberverwaltungsgerichte. Der Einwand, dass eine obergerichtliche Klärung vereitelt werden kann, wenn Zulassungsanträge den prozessualen Anforderungen nicht genügen, überzeugt mich nicht so wahnsinnig. Wenn nämlich schon der Zulassungsantrag nicht sauber gestellt werden kann, dann erscheint es mir mehr als unwahrscheinlich, dass Grundsatzfragen im Berufungsverfahren unter diesen Bedingungen sauber heraus- und auch aufgearbeitet werden können.
Natürlich können wir rechtliche Grundsatzfragen obergerichtlich ausleuchten. Trotzdem sind wir im Asylverfahren natürlich stark von Tatsachenfragen geprägt. Hier erscheint es mir sehr fraglich, ob sie sich obergerichtlich vereinheitlichen lassen und ob das dann wirklich zu einer Beschleunigung führt.
Schlussendlich als letzter Gedanke: Wir müssen aufpassen, dass wir nicht das Risiko eines Perpetuum mobile eingehen; denn wenn wir mehr obergerichtliche Rechtsprechungen produzieren, dann erhöhen wir natürlich auch die Wahrscheinlichkeit, dass Instanzgerichte, gerade wenn sie sich mit Tatsachenfragen beschäftigen und den Besonderheiten des Einzelfalls folgen wollen, davon abweichen müssen, wodurch wir wiederum neue, eigenständige Berufungsgründe schaffen.
Insofern bitte ich wirklich herzlich darum, dass wir uns die Zeit nehmen, die Dinge ordentlich zu prüfen und jetzt darüber nachzudenken, wo die richtigen Ansatzpunkte liegen.
Herr Kollege Kuffer, kommen Sie jetzt wirklich zum Schluss.
Dann, glaube ich, sind wir auf dem richtigen Weg.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank. – Als Nächstes der Kollege Helge Lindh für die SPD.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich zitiere:
Die Gerichte sind der Reparaturbetrieb für die politischen und bürokratischen Versäumnisse der letzten Jahre.
Das schrieb 2017 die „Augsburger Allgemeine“
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sehr pointiert, grob vereinfachend und auch nicht ganz gerecht. Es gibt darin aber zumindest einen Punkt, an dem man ins Nachdenken über die gewiss nicht europäisch-solidarisch bewältigte Massenflucht und über unsere sehr komplexen Regelungsversuche derselben Situation kommt. Im Ergebnis war dies unweigerlich tatsächlich eine Arbeitsbeschaffung für viele Anwältinnen und Anwälte.
Diese Anwältinnen und Anwälte berichten uns, dass unterschiedliche Spruchkörper in demselben Verwaltungsgericht zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Diese Gerichte sind in der Tat so etwas wie die Produktionsstätten von Urteilen. Heutzutage fällen sie diese – das sage ich mit viel Respekt, der ihnen gebührt – fast am Fließband. Gleichzeitig sind sie auch nicht weniger als die Produktionsstätten unseres Rechtsstaates. Denn wann, wenn nicht jetzt, und wo, wenn nicht dort, wird der Bürger zu einem würdigen Bürger, der sich gegen die Behörden wehren kann?
Sie sind aber noch mehr und müssen auch noch mehr sein. Diese Gerichte und das BAMF sind – und das meine ich ganz ernst – Produktionsstätten von Demokratie und Humanität, und sie müssen es sein. Sie sind vielleicht auch so etwas wie – das Wort ist ja wieder in Mode gekommen, und ich bin bald ja nicht mehr nur Innenpolitiker, sondern auch Heimatpolitiker –
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die Heimat von Demokratie und Menschenrechten. Wenn sie das nicht hinreichend sein können, so ist es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, uns darum zu kümmern und zu prüfen, wie sie es sein können.
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Aufgrund der Komplexität all dieser Regelungen und der Dynamik der Gesetzgebung haben wir, denke ich, in den Strukturen – ich denke auch an die Statistiken, um die wir uns sicher guten Willens gekümmert haben – manchmal jemanden am Wegesrand vergessen, nämlich den Menschen in all seinen Dimensionen: als betroffenen Geflüchteten, als Dolmetscher und als Richterin bzw. Richter.
Versetzen wir uns einmal in die typische Situation: ein ziemlich kahler Saal, eine Richterin mit Diktiergerät, ein Dolmetscher, ein Geflüchteter mit oder ohne Rechtsbeistand. Was wird da verhandelt? Da wird ein Menschenschicksal verhandelt.
Nicht wesentlich anders verhält es sich beim BAMF: ein kahler Raum, eine Anhörerin, ein Dolmetscher, ein betroffener Flüchtling. Wie erlebt man es beispielsweise, wenn eine Frau plötzlich in Tränen ausbricht, weil ihr die Bilder wieder vor Augen kommen, dass ein Soldat mit sauber entfernten Gliedmaßen aufgeknüpft wurde? Sie hat es mit ansehen müssen. Was macht das mit einer Betroffenen? Was macht das mit den Dolmetschern? Was macht das mit den Richterinnen und Richtern? Sind wir uns bewusst, was wir ihnen zumuten und vor welche Aufgaben wir sie stellen? Ich denke, dieser Verantwortung müssen wir uns bewusst sein.
Wir müssen alles Erdenkliche tun und die Bedingungen ihrer Arbeit so gut, so effizient und so würdig gestalten, wie es nur geht. Dieser Aufgabe müssen wir uns stellen. Diese beiden Räume, der Gerichtssaal und der Raum beim BAMF, sind so etwas wie kommunizierende Röhren. Wir werden im Ausschuss darum ringen müssen, denke ich, ob eine zweite Tatsacheninstanz Sinn macht, wie sinnvoll sie ist, wie sie sich zur Sprungrevision verhält und wie das Ganze im Zusammenhang mit den neu geschaffenen und auch neu zu schaffenden Richterstellen steht. Diese Fragen werden wir beantworten müssen.
In unserer Demokratie funktioniert Legitimation durch Verfahren. Genau darin zeigt eine Demokratie ihr menschliches und rechtsstaatliches Antlitz – eben im Unterschied zu Diktaturen und autoritären Regimen. Bekenntnisse, die wir alle abgeben, sind wichtig. Sie sind auch richtig und notwendig, aber sie reichen nicht; denn wir brauchen Praxis. Gute Gesinnung ist wichtig. Sie ist notwendig, aber sie reicht nicht; denn wir brauchen – auch darüber diskutieren wir heute – einen humanitären Pragmatismus.
Vielen Dank.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Professor Dr. Patrick Sensburg, CDU/CSU-Fraktion. – Herr Kollege.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir uns in diesem Haus über alle Fraktionen hinweg einig sind – das ist auch nicht immer der Fall –, dass wir handeln müssen. Dass die Zahl der Fälle an unseren Verwaltungsgerichten steigt, das war eigentlich vorhersehbar. Wer ein bisschen Erfahrung hat, die bis in die 80er- und bis in die 90er-Jahre reicht, der konnte wissen, dass die Zahl der Fälle steigen wird.
Wir können auch davon ausgehen, dass die Fälle nicht ganz unkompliziert werden, gerade angesichts der großen Zahl der schnellen Verfahren, die das BAMF abwickeln musste. Da wird auf unsere Verwaltungsgerichte viel zukommen. Ich glaube, wir sind uns darin einig, dass wir etwas tun müssen.
Wie der Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen da helfen soll, hat sich mir in den letzten Minuten nicht erschlossen, weder bei der Rede der Kollegin Keul noch bei der Rede des Kollegen Thomae. Die Möglichkeit der Berufung einer weiteren Tatsacheninstanz soll erweitert werden.
Es wurde gerade vom Kollegen Lindh gesagt, der Grund sei, dass Spruchkörper zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. – Ja, es ist nun mal bei Einzelfallentscheidungen so, dass man zu unterschiedlichen Ergebnissen kommt; denn jeder Fall ist anders. Dahinter verbergen sich ein ganz individueller Werdegang und ein ganz individueller Antrag.
Die Frau Kollegin Keul hat gesagt: Oben kommt nichts an. Es kommt zu einer unterschiedlichen Rechtsprechung, und das führt zu Unsicherheit. – Jetzt möchte ich doch einmal ins Gesetz gucken. Ich habe es mir extra mitgenommen, das schadet ja auch nicht. Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung, das lernt man im Studium.
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§ 78 des Asylgesetzes:
Das Urteil des Verwaltungsgerichts, durch das die Klage in Rechtsstreitigkeiten nach diesem Gesetz als offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet abgewiesen wird, ist unanfechtbar.
In Absatz 2 steht dann:
In den übrigen Fällen steht den Beteiligten die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zu, wenn sie von dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.
Die Berufung ist also möglich, wenn sie vom Oberverwaltungsgericht zugelassen wird. Ich habe mich einmal bei Verwaltungsrichtern umgehört, ob sie meinen, oben bei ihnen komme nichts an. Sie sagen: Wenn etwas ankommen soll, dann geht es auch bei Entscheidungen, die eben nicht offensichtlich unbegründet sind.
({1})
Sie wollen, dass bei denen noch eine weitere Tatsacheninstanz möglich ist. Wenn man sich ein bisschen mit den Asylverfahren beim BAMF befasst hat, dann weiß man, dass sich im Laufe der Zeit Sachverhalte ganz anders darstellen können und dass sich der Vortrag der Antragsteller sehr stark verändern kann.
Sie wollen jetzt die Möglichkeiten der Berufung, die schon im Gesetz enthalten sind – Herr Kollege Thomae hat auf die Sprungrevision hingewiesen, bei der die rechtlichen Fragen im Streitfall noch geklärt werden können –, verbreitern. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen und wünsche mir, dass bitte noch einmal alle einen Blick ins Gesetz werfen und feststellen, dass es die Berufung schon gibt.
({2})
Da schafft eine Erweiterung bei der Vielzahl der Fälle keine Beschleunigung. Sie führt vielmehr zur Lähmung und Verlangsamung. Ich empfehle Ihnen einen Blick in die 6. VwGO-Novelle aus dem Jahr 1997.
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Man muss nicht alles teilen, was da steht, aber man erkennt, dass sie bei der großen Klagewelle an den Verwaltungsgerichten einen Erfolg gebracht hat. Wir hatten in den Jahren fast 500 000 Streitigkeiten bei den Verwaltungsgerichten. Durch sie wurde die Klagewelle eingedämmt, sodass unsere Verwaltungsgerichtsbarkeit mit den vielen Fällen klarkam.
Sie wollen das jetzt völlig negieren und weitere Berufungsmöglichkeiten schaffen. Das kann ich verstehen, aber nennen Sie es dann nicht Beschleunigung. Dann sollten Sie auch sagen, dass Sie die Berufungsmöglichkeiten stark erweitern und unsere Justiz bzw. unsere Verwaltungsgerichtsbarkeit mit viel, viel mehr Fällen betrauen wollen. Das, glaube ich, möchten wir nicht.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/1319 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Innenausschuss liegen soll. Gibt es dazu andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Vor allem kommunistische und islamische Staaten verfolgen Christen. Christen werden diskriminiert und ausgegrenzt, eingesperrt und ermordet.
Noch nie in der Geschichte war die Situation für Christen so katastrophal wie heute. So stellen es unabhängige Experten fest. Nach einer Studie des Pew Research Center ist die Religionsfreiheit von Christen in 128 Ländern eingeschränkt. Open Doors schätzt die Zahl verfolgter Christen weltweit auf rund 200 Millionen Menschen.
Die AfD-Fraktion nimmt diese entsetzliche Entwicklung nicht hin.
({0})
Die Christenverfolgung muss gestoppt und bekämpft werden. Der Arabische Frühling wurde von der deutschen Politik und den Medien unkritisch bejubelt. Jedoch: Weltliche Diktaturen wurden durch islamische Regime abgelöst, begleitet vom Terror fanatischer Horden auf den Straßen.
Christen werden mitten in ihren Kirchen angegriffen, mit Messern, Schusswaffen und Bomben: Dutzende von Toten, abgerissene Gliedmaßen, im Kirchenraum ein Meer von Blut.
Beispiel Ägypten: Die Wahl ausgerechnet des Moslembruders Morsi zum Präsidenten wurde im Westen und besonders in Deutschland bejubelt. Damit begann aber eine entsetzliche Zeit für die koptischen Christen. Erst unter dem Präsidenten el-Sisi, so bedenklich seine Politik sonst ist, hat sich die Lage der Christen wieder deutlich verbessert.
Die Kopten in Ägypten stellen noch immer rund 10 Prozent der Bevölkerung, trotz massiver Verfolgung. Eines der vielen Beispiele in diesem Zusammenhang sind die geköpften Christen am libyschen Strand. Der große Martin Mosebach setzt den mutigen Kopten nun ein literarisches Denkmal mit „Die 21“, vermutlich das politische Buch des Jahres.
Auch in Asylbewerberheimen in Deutschland werden Christen unterdrückt. Sie sind vor dem Islam geflohen und treffen hier ihre Peiniger wieder, nicht in jedem Heim, aber überall in Deutschland.
({1})
Mehrfach bin ich in meinem Wahlkreis von Asylhelfern darauf angesprochen worden. Unsere Befürchtungen betreffend die illegale Grenzöffnung vor drei Jahren sind leider eingetreten. Auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen: Durch das Totalversagen der Regierung Merkel sind Hunderttausende Judenhasser und Christenhasser in unser Land geströmt.
({2})
Wir haben einige sinnvolle Maßnahmen in unserem Antrag genannt, um die Christenverfolgung in vielen Staaten der Welt zu bekämpfen. Wir wollen zum Beispiel gezielt die Entwicklungshilfe kürzen und Handelsprivilegien für Verfolgerstaaten abschaffen. Wenn Sie andere gute Vorschläge haben, dann freuen wir uns sehr auf die Unterstützung der anderen Fraktionen im Ausschuss.
Deutsche Bischöfe legen in Jerusalem das Kreuz ab. Sie unterwerfen sich dem Islam. Das deutsche Parlament sollte mutiger sein.
({3})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun das Wort der Kollege Michael Brand.
({0})
Religionsfreiheit ist ein zentrales Menschenrecht, das weltweit zunehmend eingeschränkt oder komplett infrage gestellt wird. Das gilt für zahlreiche religiöse Minderheiten weltweit. Unsere Solidarität gilt allen benachteiligten religiösen Minderheiten. Dazu zählt der beharrliche Einsatz für viele Millionen verfolgter Christinnen und Christen.
({0})
Lieber Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! So steht es an prominenter Stelle im neuen Koalitionsvertrag, weil es uns ein Anliegen und eine Verpflichtung für unsere Arbeit ist. Vor allem Minderheiten sind betroffen, deren Religionszugehörigkeit genutzt wird, um Vorurteile zu schüren oder zu verstärken, sie zu verfolgen: die Bahai, die Ahmadiyya, die Jesiden, Schabak, die Aleviten, die Juden – diese werden in Ihrem Antrag trotz der Ereignisse in diesen Tagen nicht einmal erwähnt – oder Schiiten und Sunniten, Tibeter, Uiguren oder die muslimischen Rohingya. Um die Situation von Christen ist es besonders schlecht bestellt. Weil sich Menschen zu Jesus Christus bekennen, werden sie diskriminiert und verfolgt, bis hin zu Folter und Hinrichtung. Mehr als 100 Millionen Christen leben in Ländern, in denen ihr Menschenrecht auf Religionsfreiheit nicht geachtet wird. Damit sind Christen die größte verfolgte Gemeinschaft in Nordkorea, Pakistan, Eritrea und Nigeria, in China, der Türkei, im Nahen Osten oder anderswo.
Das Thema Christenverfolgung lässt sich keineswegs auf einen Kulturkampf zwischen Christentum und Islam reduzieren, wie mancher behauptet, auch um bewusst zu spalten oder das eigene politische Süppchen zu kochen.
({1})
Beim Terror des sogenannten „Islamischen Staates“ sind nach wie vor die meisten Opfer Muslime, die eben nicht die aggressive Ideologie der Krieger teilen. Ich bekenne: Mein Einsatz als Christ für die Religionsfreiheit schließt immer den Einsatz für alle Menschen ein, die wegen ihres Glaubens verfolgt werden.
({2})
Der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick hat es auf den Punkt gebracht: „Unser Einsatz für die Christen ist exemplarisch, aber nicht exklusiv.“
({3})
Der Einsatz der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag für die Religionsfreiheit grundsätzlich sowie für bedrängte und verfolgte christliche Schwestern und Brüder im Glauben im Besonderen ist ein Einsatz für unser aller Freiheit. Dieser Einsatz ist seit Jahren stark, beharrlich und konkret.
({4})
In Zusammenarbeit mit einer großen, internationalen Gemeinschaft von Parlamentsangehörigen aller Religionen, dem International Panel of Parliamentarians for Freedom of Religion or Belief, dem Stephanuskreis, mit Fachtagungen und Konferenzen, auf Delegationsreisen wie im Fall des Klosters Mor Gabriel in der Türkei, mit vielfältigem Engagement oder mit parlamentarischen Patenschaften für bedrängte Menschen wie die tapfere Christin Asia Bibi, die in pakistanischer Haft sitzt, wirken die Mitglieder meiner Bundestagsfraktion und anderer Fraktionen für das Recht jedes Menschen auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit.
({5})
Biblisches Ausmaß hat die Gewalt gegen religiöse Minderheiten in Teilen des Nahen Ostens. Durch die Taten des IS ist das Überleben des Christentums in seiner Ursprungsregion in akuter Gefahr. Angesichts der Rückkehr von Vertriebenen in die vom IS befreiten Gebiete im Irak oder in Syrien ist die zentrale Frage, ob religiöse Vielfalt von Christen, Muslimen, Juden und anderen dort möglich bleibt oder wieder möglich wird.
In anderen Ländern wie in China, Vietnam oder auch in einigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion bekämpfen autoritäre Regime systematisch Religionen. Sie werden mit allen Mitteln aus dem öffentlichen Raum verbannt. Jede Regung wird engmaschig überwacht und gnadenlos ins Visier genommen. Auch in Europa gibt es Entwicklungen, die mehr als besorgniserregend sind. Probleme durch wachsende religiöse Pluralität löst man sicher nicht, indem man Religion aus dem öffentlichen Raum verbannt. Auch in Deutschland gibt es einen sich ausbreitenden aggressiven Säkularismus.
Zu dem vorgelegten Antrag der AfD möchte ich aus dem heutigen Beitrag einer Journalistin von „Focus Online“ zitieren und mich dieser Einschätzung ausdrücklich anschließen:
Auf den ersten Blick könnte man denken, ein Antrag zu verfolgten Christen könne auch aus der Union kommen. Damit will die AfD den Eindruck vermitteln, man fordere ja nur Dinge, die konservative Unionspolitiker auch verträten. Die Ähnlichkeit ist aber sehr oberflächlicher Natur: Während es CDU-Politikern wie Kauder wirklich um das Schicksal verfolgter Christen geht,
({6})
nutzt die AfD das Thema nur als Aufhänger, um Stimmung gegen den Islam und Muslime zu machen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die CDU/CSU wird ihren Einsatz konsequent fortsetzen, mit Offenheit und nicht mit Tunnelblick wie andere. Auch deshalb war es uns besonders wichtig, dass das neue Amt des Beauftragten der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit geschaffen wurde. Ich freue mich, dass Markus Grübel hier ist. Wir freuen uns auf diese wichtige Zusammenarbeit. Alle zwei Jahre wird es künftig einen Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit geben, und zwar mit einem systematischen Länderansatz. Als Parlamentarier haben wir hier die Erwartung, dass sich die Erkenntnisse im Handeln deutscher Regierungspolitik widerspiegeln und dass wir diesen Kurs fortsetzen können – für den Schutz der Religionsfreiheit.
({8})
Ich erteile das Wort zu ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag der Kollegin Gyde Jensen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Fazit gleich vorweg: Der vorliegende Antrag der AfD-Fraktion ist nichts anderes als ein Feigenblatt für die Ausgrenzung von Religionsgemeinschaften insgesamt.
({0})
Ich will Ihnen das auch gerne erklären. Ja, Christen werden verfolgt, aber auch Buddhisten, Muslime und Juden. Es gibt Juden, die in muslimisch geprägten Ländern verfolgt werden. Es gibt Muslime, die in buddhistisch geprägten Ländern verfolgt werden. Es gibt aber auch Christen, die in christlich geprägten Ländern verfolgt werden, sogar von Christen selbst. Die Realität ist eben komplex.
In Ihrem Antrag werden Sie der komplexen Realität einfach nicht gerecht.
({1})
Die Folge ist: Christenverfolgung wird in Ihrem Antrag einseitig als ein Problem islamischer Staaten deklariert. Damit legen Sie bewusst die Axt an die Gleichwertigkeit aller Glaubensgemeinschaften.
({2})
Sie sagen, Sie wollten Christen schützen. Tatsächlich aber spielen Sie Religionen gegeneinander aus. Die Forderungen in Ihrem Antrag sind so nichts weiter als Abschottungsromantik:
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Entwicklungshilfe kürzen, Handelsprivilegien abschaffen, Visaerteilung einschränken, wenn Austausch, dann nur für Christen.
({4})
Interreligiöser Dialog? Fehlanzeige. Eine Differenzierung findet schlicht nicht statt.
({5})
Haben Sie einmal einen Blick ins Grundgesetz geworfen?
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Studienplatzvergabe und Flüchtlingshilfe an die Religionszugehörigkeit zu knüpfen, das ist mit unserer Verfassung nicht vereinbar, übrigens auch nicht mit christlichen Werten.
({7})
Für die AfD-Fraktion geht es bei diesem Thema nicht um Verfolgung an sich; es geht vor allem um Ausgrenzung von Muslimen.
({8})
Diese Art der Politik hat bei Ihnen Methode. An Ihrem Versuch, Religionsgemeinschaften gegeneinander auszuspielen, werden wir Freie Demokraten uns nicht beteiligen.
({9})
Meine Damen und Herren, die Religionsfreiheit jedes Einzelnen ist häufig dann gefährdet, wenn Glaube und Politik miteinander vermischt werden, und die AfD macht genau das. Mit Ihrem Mantra der Islamisierung politisieren Sie jeden einzelnen Muslim. Dabei wird Deutschland heute, im 21. Jahrhundert, ebenso wenig islamisiert, wie Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts judaisiert wurde. Ab und an sollten auch Sie aus der Geschichte lernen.
({10})
„Aus der Geschichte lernen“ bedeutet auch, die Verteidigung von Religionsfreiheit nicht nur rein rechtlich zu betrachten, sondern diese auch im Alltag vorzuleben. Was wir vorgestern im Prenzlauer Berg gesehen haben, zeigt: Religionsfreiheit muss jeden Tag aufs Neue verteidigt werden.
({11})
Für uns Freie Demokraten steht fest: Antisemitismus darf in Deutschland nie wieder einen Platz haben, und religiös motivierte Straftaten müssen konsequent verfolgt und bestraft werden.
({12})
Auch wir als Europäer müssen Religionsfreiheit ausreichend schützen. Wenn ein Viktor Orban die Wahl in Ungarn mit einer Kampagne gegen sogenannte muslimische Invasoren gewinnen kann,
({13})
so sehen wir, wie schnell sich Vorurteile in unserer Gesellschaft verfestigen können.
({14})
Meine Damen und Herren, Deutschland und auch die Bundesregierung müssen ihren Beitrag leisten. Wir Freie Demokraten fordern eine aktive Menschenrechtspolitik, die weltweit für Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit eintritt und die Menschenrechte auch lokal umsetzt;
({15})
denn Religionsfreiheit ist immer auch ein Gradmesser für die Toleranz und Integrationsfähigkeit einer ganzen Gesellschaft. Es braucht auch hier Mut zu neuen Ideen.
({16})
Das House of One in Berlin ist so eine Idee, den interreligiösen Dialog zu stärken.
({17})
Aktive Menschenrechtspolitik bedeutet auch, sich von Verfolgungssuperlativen zu distanzieren, so wie es die Evangelische und die Katholische Kirche in ihrem Bericht zum Thema Christenverfolgung getan haben. Das erwarte ich auch von jedem einzelnen Abgeordneten in diesem Parlament.
({18})
Ich komme zum Schluss. – Meine Damen und Herren, Anschläge auf Christen wie in Ägypten oder in Pakistan mahnen Staaten und Kirchen gleichermaßen. Religiöser Fanatismus in Verbindung mit staatlicher Gewalt muss weltweit geächtet werden.
({19})
Ob Christen in Ägypten, die Rohingya in Myanmar oder Jesiden in Syrien – vielerorts sind Religionsgemeinschaften unterdrückt. Staaten, Kirchen und alle friedliebenden Religionsgemeinschaften müssen miteinander die Religionsfreiheit verteidigen, anstatt sich gegeneinander ausspielen zu lassen.
({20})
Lassen Sie uns ein Stück dazu beitragen!
Herzlichen Dank.
({21})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dr. Anton Friesen. Bitte.
Vielen Dank erst einmal. – Ich will nur darauf hinweisen, dass die Behauptung, dass die weltweite Verfolgung insbesondere von Christen nichts mit dem Islam zu tun habe, einfach nicht der Wirklichkeit entspricht. Schauen Sie sich einmal den Weltverfolgungsindex an: Acht der zehn Top-Staaten sind mehrheitlich muslimische Länder. Es trifft also einfach nicht zu, dass der Islam da gar keine Rolle spielt.
Vielen Dank.
({0})
Wollen Sie antworten, Frau Kollegin?
Ich möchte mit dieser Rede betonen – und ich denke, das haben Sie auch am Beifall des Hauses gesehen –, dass das durchaus keine Meinung ist, die die Freien Demokraten teilen.
({0})
Möchten Sie meine Erwiderung hören?
({1})
– Dann dürfen Sie keine Kurzinterventionen machen.
Könnten Sie jetzt bitte der Kollegin zuhören!
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kollegin Gyde Jensen möchte gerne auf die Kurzintervention antworten. Bitte hören Sie ihr zu. – Frau Kollegin, bitte schön.
({1})
Ich möchte mit dieser Rede auch zeigen, dass nicht nur die junge Generation, sondern das gesamte Haus – mit Ausnahme von Ihnen, der AfD – dafür steht, dass es hier nicht nur um Christenverfolgung geht, sondern darum, die Religionsfreiheit weltweit zu gewährleisten.
({0})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriela Heinrich von der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Menschenrechte gelten für jede und für jeden und sind somit universell.
({0})
In der Menschenrechtspolitik ist es dabei völlig legitim, wenn wir auf bestimmte Gruppen hinweisen, die einen besonderen Schutzbedarf haben, zum Beispiel weil sie unter besonderer Verfolgung leiden. Dazu gehören in vielen Ländern unzweifelhaft auch Christen.
Die Menschenrechte sind unteilbar und gelten für alle. Sie gelten für die, die wegen ihrer Religion verfolgt werden. Sie gelten für die, die wegen ihrer Meinung, ihrer Herkunft, ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert werden oder wegen der bloßen Tatsache, dass sie weiblich sind.
({1})
Deswegen möchte ich gleich zu Anfang sagen: Wenn man nicht die Menschenrechte von allen verteidigen will, sondern nur die von ausgewählten Gruppen, dann handelt es sich nicht um Menschenrechtspolitik.
({2})
Deswegen halte ich den vorliegenden Antrag auch nicht für einen menschenrechtspolitischen Antrag.
({3})
Religionsfreiheit oder Bekenntnisfreiheit ist ein wichtiges Menschenrecht. Wird jemand wegen seines Glaubens angegriffen oder diskriminiert, ist das eine klare Verletzung der Menschenrechte, und hier darf keine Religion bevorzugt oder isoliert betrachtet werden.
({4})
Diese Sichtweise entspricht auch dem christlichen Verständnis. Christ sein heißt, dass es immer um alle Nächsten geht. Trennlinien dürfen nicht zwischen West und Ost, Nord und Süd oder zwischen den Religionen gezogen werden.
Vergleichen Sie einmal den Christenverfolgungsindex von Open Doors mit Projekten von Caritas international. Sie werden in fast jedem Land fündig: Zum Beispiel liegt Afghanistan im Weltverfolgungsindex von Open Doors auf Platz zwei – Platz zwei bei der Verfolgung von Christen. Aber die Caritas arbeitet dort in mehreren Projekten, unter anderem um die Gesundheit von Müttern und Kindern zu verbessern. Der Sudan liegt auf Platz vier, aber Caritas international fördert in den Nuba-Bergen vier Grundschulen, eine weiterführende Schule sowie ein Lehrerausbildungsseminar. Und dafür sagen wir: Danke!
({5})
Soll die Caritas aufhören, im Sudan zu arbeiten? Natürlich nicht. Denn ein christliches Weltbild bedeutet, auch in Ländern zu arbeiten, in denen es für Christen wahrlich nicht leicht ist. Und übrigens: Gerade Christen in unserem Land kümmern sich ungeheuer engagiert um Flüchtlinge, die sehr häufig Muslime sind. Ich habe noch nie gehört, dass Flüchtlingshelfer ihr Engagement von der Religionszugehörigkeit abhängig machen.
({6})
Auch für das Kirchenasyl ist die Zugehörigkeit zum Christentum durchaus keine Bedingung.
Wer sich nur für Christen einsetzt, treibt Spaltung voran – und eine Spaltung in „gute“ Religion und „böse“ Religion schürt doch in Wirklichkeit Konflikte, anstatt zu versöhnen. In Myanmar hetzen buddhistische Mönche gegen Muslime. „Mehr als 20 Gemeinden Myanmars haben sich inzwischen zu ‚no-go zones’ für Muslime erklärt“, schreibt der „Tagesspiegel“ im März 2018. Moscheen werden angezündet, die Polizei tut nichts dagegen. Deswegen beschäftigen wir uns morgen aus menschenrechtlicher Perspektive mit der Verfolgung der Rohingya.
Die Verfolgung von religiösen Minderheiten ist nicht zwingend staatlich. Oft geht die Verfolgung, die Hetze von religiösen Führern aus – Sie haben es selbst beschrieben –, man denke an Ägypten. Wenn koptische Kirchen brennen, geschieht das nicht auf Anweisung des Präsidenten.
Im Antrag geht es nicht darum, eine besonders schutzwürdige Gruppe zu schützen. Der Antrag will spalten und treibt einen Keil zwischen die Menschen unterschiedlichen Glaubens.
({7})
Die Forderung, Ländern Entwicklungsgelder zusammenzustreichen, greift mehr als nur zu kurz. Wollen wir Staaten bestrafen, die sich um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bemühen, wenn die Diskriminierung von Christen in der Gesellschaft angelegt ist, wie zum Beispiel in Tunesien? Wer Entwicklungszusammenarbeit nur vom Recht einer Minderheit auf Religionsfreiheit abhängig machen will, schadet gerade der Minderheit, um die es geht. Die ist in den Köpfen der Menschen dann auch noch schuld.
({8})
Ein Hauptziel von Entwicklungsarbeit muss es sein, die Menschenrechte insgesamt voranzubringen: soziale Menschenrechte, wenn es um Hunger, Wasser, Gesundheit oder Bildung geht; Freiheits- und Ausdrucksrechte, wenn es um Meinung oder eben um Religion geht.
Es gibt überaus sinnvolle Forderungen, etwas zu verändern. Wir setzen uns zum Beispiel dafür ein, in den Botschaften Stellen für Menschenrechtsexperten zu schaffen. Wichtig ist, das Thema Menschenrechte noch viel mehr in den Botschaften zu verankern, damit wir hier noch mehr Wirksamkeit entfalten.
({9})
Ich beobachte in den letzten Jahren zwei Tendenzen: Einerseits wird Religionsfreiheit besonders betont. Es entsteht dann der Eindruck, dieses Menschenrecht sei wichtiger als alle anderen Freiheitsrechte. Ja, es ist zentral, aber nicht zentraler als zum Beispiel die Meinungsfreiheit. Andererseits wird die Religionsfreiheit häufig nur bestimmten Religionen zugestanden.
Grundsätzlich gilt die Religionsfreiheit für alle gleich, sogar für das Fliegende Spaghettimonster.
({10})
Aber Religionsfreiheit steht nicht als Höchstes im Ranking der Menschenrechte; es gibt hier nämlich gar kein Ranking. Mein Eindruck ist, dass hier Religionsfreiheit für Christen genutzt wird, um sich gegen vermeintlich Fremdes abzugrenzen. Ich nenne das Instrumentalisierung.
({11})
Wir müssen unermüdlich daran arbeiten, alle Minderheiten zu schützen, ethnische und religiöse ebenso wie Minderheiten hinsichtlich der sexuellen Orientierung. Wir müssen uns für die Gleichberechtigung von Frauen einsetzen. Wir müssen, wo immer es geht, die Zivilgesellschaft stärken; das machen wir auch.
Wir fördern durch unsere Entwicklungszusammenarbeit 155 Projekte mit einem Gesamtvolumen von über 1 Milliarde Euro in folgenden Bereichen: Rechtsstaatlichkeit, demokratische Teilhabe und Zivilgesellschaft, Parlamente, Medien und freier Informationsfluss. Denn eines ist klar: Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind der beste Schutz vor Verfolgung – für alle.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die deutsche Politik muss die Religionsfreiheit weltweit voranbringen und vor Ort das friedliche Zusammenleben aller Menschen fördern.
({13})
Dazu steht uns ein breites Instrumentarium zur Verfügung. Nutzen wir es! Im Antrag steht dazu nichts Hilfreiches. Er nutzt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte dazu, Menschen zu spalten. Darauf muss man erst einmal kommen.
Vielen Dank.
({14})
Für die Fraktion Die Linke erteile ich das Wort der Kollegin Zaklin Nastic.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Laut Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist die Religionsfreiheit, aber auch die Freiheit, keine Religion zu haben, ein hohes Gut.
({0})
In dem Wissen, dass nahezu jede große Religion in ihrer Geschichte sowohl große Humanisten als auch Leichenberge verzeichnet, basiert unser Grundgesetz deshalb auf einer Vorsichtsmaßnahme: der Trennung von Staat und Religion.
({1})
Die AfD-Fraktion versucht heute erneut, mit einem demagogischen Antrag künstlich Angst zu schüren, statt den echten Sorgen des sozialen Abstiegs, wie den miesen Renten, der Kinderarmut oder der Sorge: „Wie bezahle ich meine Miete oder sogar meine Milch am Monatsende?“, Rechnung zu tragen. Aber für Lösungen zur Bekämpfung der sozialen Ungleichheit war die AfD ja noch nie zu haben. Die AfD tut das, was Rechte immer und überall auf der Welt tun und schon immer getan haben: Die Wut und den Zorn der Menschen auf die Macht der Konzerne, Großbanken und Steuerhinterzieher umzulenken auf alles Fremdwirkende und alles Andersgläubige
({2})
und – wie es in Ihrem Lieblingsstaat Ungarn oder in meinem Herkunftsland Polen der Fall ist – auch auf Gewerkschaften, Sozialisten oder linke Organisationen, die sich für Frauenrechte und soziale Gerechtigkeit einsetzen. Sie von der AfD spielen sich auf als Verteidiger des sogenannten christlich-jüdischen Abendlandes. Aber wer vom Holocaustmahnmal als Mahnmal der Schande spricht, der verbannt das Tagebuch der Anne Frank aus dem humanistischen Diskurs.
({3})
Und wo Sie von der CSU glauben, der AfD beim Hass den Rang ablaufen zu müssen, schwadronieren Sie von deutscher Leitkultur.
({4})
Schließlich war es einer der christlichen Religionsgründer, der gepredigt hat: Was du getan hast meinem geringsten Bruder, das hast du auch mir getan. –
({5})
In Ihrem Antrag behaupten Sie, Christinnen und Christen würden weltweit am meisten unter Verfolgung leiden; aber es sind, und das belegen Sie in Ihrem Antrag selbst mit Ihren Quellen, in Wirklichkeit Juden, Hindus und Muslime, die am meisten unter Verfolgung leiden müssen. Christen stehen dabei an sechster Stelle.
({6})
Zu Recht beteiligen sich die großen Kirchen in Deutschland nicht an Ihrer demagogischen Debatte. Gerade erst wurde eine Studie veröffentlicht, die belegt, dass gerade mal 3 bis 4 Prozent der kirchennahen Christen die AfD wählen. Sie schwingen sich hier als Verteidiger von Menschen auf, die sich Ihre Fürsprache zu Recht verbitten.
({7})
Sie beziehen sich auf die Einschränkung der Religionsfreiheit in Ländern, in denen ein Großteil der Bevölkerung muslimisch ist.
Der IS und andere islamistische Terrorbanden stellen eine krasse Minderheit unter den Muslimen dar.
({8})
Und die Opfer dieser Terrorbanden sind und waren in aller Regel überwiegend Muslime.
({9})
Das Einzige, was Ihnen dazu einfällt, ist, die Realitäten zu verzerren und plötzlich Flüchtlingskontingente für verfolgte Christen schaffen zu wollen. Auf Nichtchristen, die vor Verfolgung und Krieg flüchten müssen, darf dann geschossen werden, Frau von Storch,
({10})
auch auf Kinder, die sich nicht mal ein eigenes Urteil über Religion und Glauben bilden können.
Meine Damen und Herren, für das Recht, die eigene Religion frei zu leben, aber auch das Recht, keine Religion haben zu müssen, muss noch gehörig gekämpft werden
({11})
Allein die Angriffe auf Muslime und Juden in Deutschland machen dies alarmierend deutlich. Die AfD hat Toleranz nur für jene übrig, die genauso denken und glauben, wie sie es selbst tut.
({12})
Wir als Linke sagen: Jeder Mensch hat die Freiheit des Andersdenkenden, ob gewerkschaftlich, religiös oder nichtgläubig. Nur wer andere aushält, ist auszuhalten.
({13})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für uns Grüne im Bundestag ist klar: Das Grundrecht auf Religionsfreiheit muss für alle Menschen gelten, hierzulande und weltweit, unteilbar und universell.
({0})
Daraus folgt: Wir müssen Hass auf Juden bekämpfen. Wir müssen Hass auf Muslime bekämpfen. Wir müssen Hass auf Christen bekämpfen. Wir wenden uns gegen jede Diskriminierung und Verfolgung von Gläubigen, Glaubensgemeinschaften, religiösen Minderheiten und Konfessionslosen – egal wo. Anschläge auf Kirchen, Synagogen, Moscheen oder Tempel sind gleichermaßen widerlich, und die Täter gehören bestraft.
({1})
Es darf auf keinen Fall passieren, dass wir uns in einen Krieg der Religionen hineinhetzen lassen. Mit der Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich Papst Franziskus aus seinem Schreiben Evangelii Gaudium:
Der interreligiöse Dialog ist eine notwendige Bedingung für den Frieden in der Welt und darum eine Pflicht für die Christen wie auch für die anderen Religionsgemeinschaften.
Recht hat er.
({2})
Wir müssen auf Dialog und die Stärke des Rechts statt auf Hass und Populismus setzen.
({3})
Die AfD hingegen macht das genaue Gegenteil. Sie spielen Religionen gegeneinander aus. Sie sprechen Menschen wegen ihrer Religionszugehörigkeit oder wegen der Herkunft ihrer Eltern ja sogar die deutsche Staatsangehörigkeit ab.
Wir sagen: Jede einzelne Diskriminierung, auch aufgrund der Religion, ist eine zu viel und gehört geächtet.
({4})
Sie von der AfD glauben doch wohl selber nicht, dass Sie auf Ihrer furchtbaren Stippvisite bei Großmufti Hassun im kriegszerstörten Syrien auf gleiche Menschenrechte und Religionsfreiheit gepocht haben.
({5})
Ich sage auch klar: Keine religiöse Schrift steht in unserer Demokratie über dem deutschen Grundgesetz, keine! Und es gibt keine Religion, die über einer anderen steht. Deshalb darf es in der deutschen Außen-, Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik keine Verfolgten erster und zweiter Klasse geben, so wie die AfD es offenbar will.
({6})
Ja, Christen sind eine vielerorts verfolgte religiöse Gruppe. Sie werden Opfer von Terrortruppen wie Boko Haram oder von Anschlägen, wie die Kopten in Ägypten. In Myanmar wurden in den letzten Monaten mehrere Tausend Angehörige der muslimischen Rohingya-Minderheit getötet; mehr als 700 000 Menschen mussten fliehen. Die AfD schweigt dröhnend dazu, wohl deshalb, weil Muslime in ihrem Weltbild Täter sind und keine Opfer. Aber unsere Welt ist nicht so schwarz-weiß.
({7})
Die Weltgemeinschaft muss überall dort einschreiten und helfen, wo Menschenrechte verletzt werden. Religionsfeindlichkeit gehört genauso wie aggressiver religiöser Fanatismus, der Menschenrechte mit Füßen tritt, konsequent bekämpft. Um dabei erfolgreich zu sein, braucht es alle: Christen, Muslime sowie Anders- oder Nichtgläubige.
({8})
Dazu gehört auch, Verfolger zu bestrafen. Es ist jedoch völlig abwegig, Christenverfolgung exklusiv zu sanktionieren. Genau das fordert die AfD aber. Wer Grundfreiheiten so selektiv handhabt, steht nicht auf der Basis internationalen Völkerrechts.
({9})
Ich kann Ihnen meine Einschätzung nicht ersparen: Religiöse Fundamentalisten und rechte Nationalisten der AfD haben verdammt viel gemeinsam: Beide haben massive Probleme, religiösen Pluralismus und gesellschaftliche Vielfalt anzuerkennen, und sie bringen anderen Religionen keinen Respekt entgegen.
Ihr Abgeordneter Glaser hat gefordert, dem Islam das Grundrecht auf Religionsfreiheit zu entziehen. Das ist maximal schäbig und spaltet. Mit dieser Muslimfeindlichkeit unterhöhlt die AfD unsere Religionsfreiheit und damit die Werte unseres Grundgesetzes, auf die wir stolz sind.
({10})
Von der AfD werden im Übrigen tagtäglich christliche Werte wie Nächstenliebe und Toleranz verächtlich gemacht, wenn Sie Flüchtlinge, Schwerstbehinderte, Muslime, Schwule und viele andere Minderheiten abwerten und sie zu Sündenböcken erklären.
({11})
Und dann ist die AfD auch noch pikiert, wenn sie mit ihrer unchristlichen Gesinnung auf Kirchentagen nicht besonders erwünscht ist. Merken Sie es eigentlich noch?
({12})
Zum Schluss: Zu Deutschland gehören Christentum, Judentum, Islam sowie über 200 weitere Weltanschauungen, und immer mehr Menschen leben ganz ohne Religion. Beenden wir endlich die spaltenden Diskussionen darüber, welche Religion dazugehört. Kümmern wir uns lieber noch stärker darum, wie wir in Deutschland und in der Welt Fundamentalismus bekämpfen und in Frieden und Freiheit zusammenleben.
Danke.
({13})
Der nächste Redner ist der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herzlich willkommen zu einem ganz besonderen Schauspiel am heutigen Tag zu später Stunde, einem Antrag der AfD zum Thema „Christenverfolgung stoppen und sanktionieren“. In der ganzen Diskussion, wo Rede und Gegenrede abwechseln, sitzen Sie da: selbstgefällig, aggressiv, respektlos und überheblich.
({0})
Das ist eine Art und Weise, wie man in der Politik nicht miteinander umgeht. Das ist eine Art und Weise, wie wir nicht miteinander umgehen wollen.
({1})
– Sie sind ja ganz schön aufgeregt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man den Antrag der AfD liest und die Reden der AfD aufmerksam verfolgt, wird man das Gefühl nicht los, sie wolle sich zum Retter diskriminierter und verfolgter Christen aufspielen. Die AfD: ein Leuchtturm im Kampf für die Menschenrechte, Religionsfreiheit und die Christen in der Welt.
({2})
Eine Farce, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das, nicht mehr als eine reine Farce.
({3})
Deshalb kann man die simple Wahrheit gar nicht oft genug wiederholen: Antisemitismus und das Schüren von Hass und Fremdenfeindlichkeit vertragen sich eben nicht mit Menschenrechten und Religionsfreiheit. Das sollten Sie sich merken, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Ihre eigenen Aussagen zeigen doch Ihr wahres Weltbild auf. Bernd Höcke meint, das Holocaustmahnmal sei ein „Denkmal der Schande“. Albrecht Glaser spricht von der Einschränkung von Grundrechten für den Islam.
({5})
Kay Gottschalk fordert, Geschäfte von Türken zu boykottieren. Auf den Social-Media-Accounts von Jens Maier wurden Muslime als „Schleiereulen“ und „Gesindel“ bezeichnet. Ich verzichte an dieser Stelle auf das Zitieren weiterer zahlreicher Beschimpfungen und Ausfälle Ihrer Kollegen.
({6})
Ich verzichte aber nicht darauf, darauf hinzuweisen, dass solche Aussagen nicht unkommentiert bleiben dürfen. Wer solche Aussagen duldet, der tritt die Grundprinzipien von Menschenrechten und Religionsfreiheit mit Füßen, und das im eigenen Land, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Lassen Sie uns doch genauer auf die Forderungen im Antrag eingehen.
Sie fordern einen regelmäßigen Bericht zur Religionsfreiheit. Dieser erste „Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit“ wurde im Juni 2016 von der jetzigen Koalition bereits vorgelegt. Im Koalitionsvertrag haben wir zudem festgelegt, den Religionsfreiheitsbericht im zweijährigen Rhythmus fortzuschreiben. Anscheinend haben Sie das nicht mitbekommen. Lesen bildet.
({8})
Sie fordern einen besonderen Fokus der Bundesregierung auf verfolgte Christen in der Welt. Wieso kommt in Ihrem Wahlprogramm kein einziges Wort dazu vor? Im Gegensatz zu Ihnen setzen sich die Union, die Koalition und alle Parteien hier im Bundestag seither mit aller Kraft für Millionen im Ausland verfolgter Christen ein.
({9})
Sie fordern die pauschale Kürzung von Mitteln für Entwicklungszusammenarbeit und die Isolation von über 100 Staaten, in denen es zur Diskriminierung von Christen kommt.
({10})
Doch mit Ihrer Keule treffen Sie genau diejenigen, die Sie schützen wollen. Unser beharrlicher Einsatz für Christen im Ausland setzt voraus, dass wir im Dialog bleiben.
Auch in Zukunft, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden wir verlässlich für Religionsfreiheit in Deutschland und in der ganzen Welt einstehen. Dazu gehört auch die Unterstützung des Kirchenbaus in allen Teilen unserer Welt. In dieser Legislaturperiode unterstreichen wir diese Bemühungen durch das neu geschaffene Amt des Beauftragten für internationale Religionsfreiheit. Es zeigt, wie wichtig es uns ist, den Kampf für die Rechte religiöser Minderheiten aufzunehmen. Wir sagen aber auch, dass wir uns Fanatismus und Terror entschieden entgegenstellen. Hier gilt der alte Grundsatz: Null Toleranz gegen jegliche Form der Gewalt. Egal ob es religiöser Fanatismus oder politischer Extremismus ist: Gewalt bleibt Gewalt. Sie sollten sich wirklich schämen, liebe Kolleginnen und Kollegen der AfD.
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Die Bekämpfung der Christenverfolgung in der Welt ist ein ernstzunehmendes und wichtiges Thema.
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Dieses Thema als Plattform der politischen Agitation nutzen zu wollen, ist ein Schlag ins Gesicht für die,
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um die es eigentlich geht.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Ich erteile das Wort dem Kollegen Volker Münz von der AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Nastic, ein Wort an Sie: Die Partei, die einen Schießbefehl ausgegeben hat, war die SED, die sich heute Die Linke nennt – Ihre Partei.
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Mit der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung von Christen in muslimischen Staaten findet seit Jahren eine ethnisch-religiöse Säuberung statt, und das christlich geprägte Europa schaut zu. Dies ist eine Schande, meine Damen und Herren.
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Die Reaktionsmuster sind immer die gleichen, wie auch nach islamistischen Anschlägen in Deutschland: Auf Trauer und Empörung folgen Appelle an das friedliche Miteinander der Kulturen. Während die orientalischen Christen sich zu ihrem Glauben auch in Bedrängnis bekennen, findet in Europa eine Abkehr vom christlichen Glauben statt. Hier in Deutschland werden Kreuze aus öffentlichen Gebäuden abgehängt.
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Selbst die Oberhirten der beiden deutschen Amtskirchen haben in Jerusalem ihr Kreuz abgelegt – welch ein trauriges Signal, meine Damen und Herren.
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Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin von den Grünen?
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Es ist meine erste Rede. Trotz meiner ersten Rede lasse ich sie zu. Bitte schön.
Ich wusste nicht, dass es Ihre erste Rede ist. – Gut.
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Ein öffentliches Bewusstsein für das Schicksal der verfolgten Christen zu schaffen, ist wichtig. Ich erkenne den Einsatz von Volker Kauder ausdrücklich an.
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Es müssen jedoch auch konkrete Maßnahmen folgen. Konferenzen reichen nicht.
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In der Bibel steht geschrieben: Lasst uns Gutes tun an jedermann, besonders aber an unseren Glaubensgenossen.
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Und was tun wir? Was tut die Bundesregierung? Deutschland will das Elend der Welt in Deutschland retten. Während reiche arabische Staaten jegliche Solidarität vermissen lassen, nimmt Deutschland Millionen von Muslimen auf. Das ist nur scheinbar christlich.
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Damit übernehmen wir uns in unserer nationalen Überheblichkeit
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und lösen keine Probleme,
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sondern schaffen neue, sodass auch hier Christen und Juden, wie erst gestern in Berlin, von Muslimen drangsaliert werden, während die orientalischen Christen, die keine Fluchtmöglichkeiten in der Region haben, alleingelassen werden.
Die völkerrechtswidrigen Interventionen der USA und ihrer Verbündeten im Irak, in Libyen und aktuell in Syrien haben die Länder erst recht destabilisiert und die Lage der Christen verschlimmert. Ich fordere die Bundesregierung auf:
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Setzen Sie sich für einen Stopp der völkerrechtswidrigen Militärintervention gegen Syrien ein! Stoppen Sie die Waffenlieferungen aus Deutschland in Länder, in denen Christen verfolgt werden! Das gilt auch für die Türkei.
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Setzen Sie sich für Wirtschaftssanktionen gegen Verfolgerstaaten ein!
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Herr Kollege, auch wenn es Ihre erste Rede ist: Denken Sie an die Redezeit.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Der letzte Redner in der Debatte ist der Kollege Frank Heinrich von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte vermutet, dass das Thema Emotionen erzeugt. Dass es so weit kommt, war mir nicht bewusst.
Ich habe dieses Liederbuch – mit Verlaub, ich möchte es nur kurz zeigen –
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in einer Kirche in Nigeria auf dem Boden gefunden, sieben Tage nachdem das Dorf samt Kirche von marodierenden Banden und Boko Haram überfallen wurde. Es war vor der Kollekte; denn darin fand man noch einen nigerianischen Dollar. Dieses Buch ist mir in meinem Büro eine Mahnung, eine Erinnerung, dass Christen in vielen Regionen der Welt Not leiden, und da müssen wir helfen.
In der gleichen Region gibt es ein Projekt, in dem mir Christen, die mich auch dorthin geführt haben, erzählten, wie eine Moschee und ein christliches Gemeindehaus zerstört wurden, aber die Christen die Einzigen waren, die über Ressourcen und Spenden verfügten. Und so haben sie beides gemeinsam wiederaufgebaut, weshalb der christliche Prediger hinterher eingeladen wurde, beim Freitagsgebet der Moschee zu sprechen. Das ist ein deutliches, praktisches Zeichen für Religionsfreiheit; denn auch Muslime sind – das haben wir jetzt mehrfach gehört – von Boko Haram betroffen. Was gibt es Besseres oder Trotzigeres gegen das Wüten von Extremisten, die die Religion für sich vereinnahmen wollen?
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In vielen Fällen – gerade in denen, die Sie in Ihrem Antrag erwähnen – sind es eben nicht nur Christen, die unter der Verfolgung durch Radikale leiden müssen. In Nigeria – ich war vor wenigen Wochen im extremen Norden von Kamerun – sind es im Vergleich weit mehr Muslime, die unter den muslimischen Extremisten zu leiden haben.
Später auf dieser Reise hatte ich ein Gespräch mit verschiedensten christlichen Leitern und Bischöfen aus der nordöstlichen, von Boko Haram kontrollierten Region, die etwa 11 Millionen Christen stellvertraten. Sie haben mir am Schluss sehr ruhig, sehr sachlich zwei Botschaften mitgegeben. Sie wussten, dass ich vorher Pastor war, aber sie haben mir zuerst eine Botschaft als Politiker mitgegeben: Vergessen Sie uns hier nicht! Wir sind nicht so in den Medien wie der Nordirak. – Und sie sagten zu mir als Christ: Vergessen Sie bitte nicht, auch für Boko Haram zu beten! – Das war eine völlig andere Haltung dieser Christen als die, mit der Ihr Antrag geschrieben wurde.
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Wir müssen uns um das Prinzip der Religionsfreiheit in diesen Ländern bemühen, für Christen, aber auch für Muslime, für Bahai und alle anderen religiösen Minderheiten, die teilweise heute genannt wurden, und weit darüber hinaus. Ich zitiere eine Pressemitteilung des Stephanuskreises unter anderem zu Ihrem Antrag heute – das ist uns schon ziemlich nah gegangen –:
Natürlich fühlen wir uns als Christen unseren Glaubensbrüdern und -schwestern ganz besonders verbunden.
Sie haben das gerade zitiert.
Anders als der AfD geht es uns im Stephanuskreis
– den wir in unserer Fraktion haben –
aber nicht darum, Christen anderen Gläubigen gegenüber zu bevorzugen. Täten wir das, würden Vorbehalte ihnen gegenüber nur weiter geschürt. Wir helfen ihnen am meisten, wenn wir in unsere Bemühungen auch andere unterdrückte Glaubensgruppen mit einschließen.
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Das hören wir auf unseren Reisen von den Christen in diesen Ländern. Deren Stimme scheinen Sie hier eben nicht wirklich zu vertreten.
Nein, es geht um das Prinzip der Religionsfreiheit, das wir auch im eigenen Land – Kollegin Jensen hat es vorhin gesagt – einfordern müssen, wenn wir, wie gestern, hören, was jüdischen Mitbürgern passiert, was Muslimen in unserem Land geschieht, was Christen teilweise auch in Flüchtlingslagern von muslimischen Mitbürgern, von Andersgläubigen an Prügel kassieren. Das tut die Union seit langem; das muss ich nicht wiederholen, es ist mehrfach heute gesagt worden. Der Beauftragte für Religionsfreiheit sitzt hier, wir haben Konferenzen dazu, und wir setzen uns vor Ort und in den Ländern immer wieder dafür ein. Dafür stehen wir als Union. Das ist mir auch persönlich in den Ländern, die ich als Menschenrechtler bereisen darf, wichtig. Da spreche ich dann in China mit Christen in Untergrundkirchen, im Irak mit Jesiden, die unter schrecklicher Folter durch den IS zu leiden haben, und in Pakistan bemühe ich mich um die Rechte der Ahmadiyya-Muslime.
Zum Schluss noch einmal die Pressemitteilung:
Wer sich in den Ländern, in denen keine Religionsfreiheit herrscht, exklusiv für Christen einsetzt, wird keinen Frieden unter den Gläubigen bekommen, sondern nur neuen Hass säen.
Dafür stehen wir nicht.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1698 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 20. April 2018, 9 Uhr, ein.
Kommen Sie gut nach Hause, schlafen Sie gut, damit Sie alle morgen fit sind. Die Sitzung ist geschlossen.
(Schluss: 0.04 Uhr)