Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Seit dem Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan werden wir Zeugen davon, wie die Taliban in kürzester Zeit Provinzen und Städte wiedererobert haben und dabei sind, das ganze Land unter ihre Kontrolle zu bringen. Wir werden Zeugen davon, mit welcher Verzweiflung unzählige Menschen versuchen, auf den internationalen Flughafen in Kabul zu gelangen, um einen Platz in einem rettenden Flugzeug aus dem Land heraus und in die Sicherheit und die Freiheit zu bekommen. Und wir werden Zeugen furchtbarer menschlicher Dramen, wenn zum Beispiel Eltern ihre Babys und Kleinkinder irgendwie über die Mauern des Flughafens in die rettenden Hände verbündeter Soldaten zu bringen versuchen oder wenn Menschen im Gedränge vor dem Flughafen in Panik zu Tode getreten werden.
Die Entwicklungen der letzten Tage sind furchtbar; sie sind bitter. Für viele Menschen in Afghanistan sind sie eine einzige Tragödie, ganz besonders für diejenigen, die sich für eine freie Gesellschaft, für Demokratie und Bildung eingesetzt haben und die nun um ihre Sicherheit fürchten müssen. Die Entwicklungen sind aber auch bitter für alle Verbündeten, die nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gegen den Terrorismus und für freiheitliche Strukturen gekämpft und gearbeitet haben.
Meine Gedanken sind bei den Soldatinnen und Soldaten, die ihren Einsatz mit ihrem Leben bezahlt haben, unter ihnen auch 59 Deutsche. Meine Gedanken sind auch bei all denen, die von ihrem Einsatz in Afghanistan bleibende Verletzungen an Leib und Seele davongetragen haben.
Gestatten Sie mir in dieser Minute auch ganz persönlich, gleichsam stellvertretend an einen Beamten des Bundeskriminalamtes zu erinnern, der im Sommer 2007 zusammen mit Kameraden bei einem Terroranschlag in Afghanistan ums Leben kam. Ich kannte ihn gut, weil er zuvor in meinem Personenschutzkommando gearbeitet hat. Er war, wie damals so viele seiner Kollegen und Kameraden, mit großem Idealismus nach Afghanistan in den Einsatz gegangen. Nur wenige Wochen später, zum Ende des Jahres 2007, wäre sein Afghanistan-Einsatz beendet gewesen, und er wäre in mein Personenschutzkommando zurückgekehrt.
Nach seinem Tod habe ich den Kontakt zu seinen Eltern nicht verloren; aber ich kann gleichwohl nur ahnen, wie groß ihr Schmerz und der Schmerz aller Angehörigen von in Afghanistan Gefallenen und ums Leben gekommenen zivilen Helfern gerade jetzt wieder sein muss, da nach der Machtübernahme der Taliban alles so vergeblich, so umsonst erscheint, auch der Tod ihrer Liebsten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass der Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan die afghanische Regierung und die afghanischen Sicherheitskräfte unter erheblichen politischen und militärischen Druck setzen würde, war natürlich allen bewusst. Sonst hätte die internationale Gemeinschaft sich in den letzten Jahren mit der Entscheidung, aus Afghanistan abzuziehen, nicht so schwergetan. Und dass der gesamte Einsatz mit der Haltung des militärisch Stärksten im Bündnis, der USA, buchstäblich steht und fällt, war uns immer klar. Auch dass es Kämpfe mit den erstarkten Taliban geben könnte, nachdem die internationalen Truppen abgezogen sein würden, haben wir, hat die internationale Gemeinschaft erwartet.
Unterschätzt aber haben wir, wie umfassend und damit im Ergebnis wie atemberaubend schnell die afghanischen Sicherheitskräfte nach dem Truppenabzug ihren Widerstand gegen die Taliban aufgeben bzw. dass sie einen solchen Widerstand gar nicht erst aufnehmen würden. Das wurde noch einmal beschleunigt in dem Moment, als die politische Führung Afghanistans aus dem Land geflohen war.
Wir alle zusammen, die wir in Afghanistan engagiert waren, also die gesamte internationale Koalition, wir alle haben die Geschwindigkeit dieser Entwicklung ganz offensichtlich unterschätzt. Und das gilt auch für Deutschland.
Auch wenn man in der aktuellen Diskussion manchmal einen etwas anderen Eindruck bekommen kann: Deutschland ist ja keinen Sonderweg gegangen, für den es sich jetzt, wie zum Beispiel bei der Enthaltung im Fall Libyens im UN-Sicherheitsrat im Jahre 2011, kritisieren lassen müsste. Nein, wir haben seit 2001 gemeinsam mit unseren Verbündeten gehandelt und tun es auch jetzt in der Evakuierungsoperation. Mit der sich rasant verschlechternden Sicherheitslage haben wir unsere Botschaft in Kabul gemeinsam mit anderen evakuiert. Wie andere Verbündete auch haben wir die Bundeswehr beauftragt, eine Luftbrücke nach Kabul einzurichten, um deutsche Staatsbürger, unsere afghanischen Ortskräfte und besonders gefährdete Afghanen auszufliegen. Deutschland war unter den ersten Alliierten, die mit militärischen Kräften vor Ort eingetroffen sind. In dieser Phase hat die Bundesregierung die Obleute und die Fraktionsvorsitzenden des Bundestages fortlaufend unterrichtet.
Seit Montag letzter Woche steht die Luftbrücke. Sie ist bereits jetzt die größte Evakuierungsoperation in der Geschichte der Bundeswehr. Über 4 600 Menschen wurden bislang von deutschen Kräften aus Afghanistan ausgeflogen und in Sicherheit gebracht – deutsche Staatsbürger, Afghanen, insgesamt Staatsangehörige aus etwa 45 Nationen. Fast die Hälfte der Ausgeflogenen sind Frauen. Viele andere Staaten beteiligen sich an der Luftbrücke. Dies ist ein internationaler Einsatz.
Die Bundeswehr ist mit fast 500 Soldatinnen und Soldaten und robusten Fähigkeiten am Flughafen Kabul und in Taschkent im Einsatz. Sie bringen nicht nur deutsche Landsleute und weitere Schutzbedürftige in Sicherheit, sondern unterstützen auch unsere amerikanischen Partner dabei, Menschen einen Zugang zu den Flugzeugen zu ermöglichen. Auch Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Kabul unterstützen dabei.
Ich habe am Sonntag mit Brigadegeneral Arlt telefoniert, der den Einsatz der Bundeswehr vor Ort leitet und mir die Bedingungen dieses Einsatzes schilderte. Ich denke, ich darf ihm und allen Soldaten, natürlich auch den Bundespolizisten in Ihrer aller Namen von dieser Stelle aus unsere Anerkennung und unseren größten Dank für die Professionalität und die Ausdauer aussprechen, mit denen die Bundeswehr und die verbündeten Truppen diese so überaus fordernde Lage bewältigen.
({0})
Mein Dank gilt auch unseren Kräften in Taschkent in Usbekistan genauso wie der usbekischen Regierung, die uns die Versorgung der ankommenden Menschen ermöglicht. Und wirklich nicht zuletzt danke ich den Mitarbeitern unserer Botschaft in Kabul und im Krisenstab der Bundesregierung, die rund um die Uhr arbeiten.
({1})
Wir bemühen uns weiterhin mit allen Kräften, vor allem den Afghanen zum Verlassen des Landes zu verhelfen, die Deutschland als Ortskräfte der Bundeswehr, der Polizei und der Entwicklungszusammenarbeit zur Seite gestanden und sich für ein sicheres, freies Land mit Zukunftsperspektiven eingesetzt haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele haben gefragt, warum wir die Ortskräfte nicht früher evakuiert haben. Ich kann diese Frage verstehen und möchte ausführlich auf sie eingehen. Das Bild ist differenziert. Seit 2013 haben wir gefährdete Ortskräfte der Bundeswehr und der Polizei und ihre Familienangehörigen über das Ortskräfteverfahren kontinuierlich nach Deutschland geholt, wenn sie von den Taliban bedroht wurden. Zwischen 2013 und August dieses Jahres sind im regulären Verfahren über 1 000 Ortskräfte mit ihren Familienangehörigen eingereist, insgesamt über 4 800 Menschen. Nach der Abzugsentscheidung der verbündeten Truppen haben in einem beschleunigten Verfahren 2 500 Ortskräfte und Familienangehörige Visa erhalten, und mit der Zuspitzung der Lage im Land wurde ein Visum nicht mehr erforderlich. – Das war die eine Seite.
Auf der anderen Seite waren wir immer von der Überzeugung geleitet, auch nach dem Abzug der internationalen Truppen für die Menschen in Afghanistan unsere deutsche Entwicklungszusammenarbeit fortsetzen zu wollen. Wir wollten ihnen auch unter schwieriger werdenden Bedingungen zur Seite stehen. Dafür sind wir auf Menschen vor Ort, also auf unsere Ortskräfte, angewiesen. Auch von ihnen waren sehr viele zur weiteren Arbeit in Afghanistan entschlossen. Und wenn ich das sage, dann will ich in keiner Weise die Verantwortung für getroffene Entscheidungen auf diese Menschen mit ihrer Haltung, zu helfen, abschieben. Aber ich möchte auf ein Dilemma bei Entscheidungen dieser Art hinweisen. Stellen wir uns für einen Moment vor, Deutschland hätte im Frühjahr nicht nur mit dem Abzug der Bundeswehr begonnen, sondern gleich auch mit dem Abzug von Mitarbeitern und Ortskräften deutscher Hilfsorganisationen. Manche hätten dies sicher als vorausschauende Vorsicht gewürdigt, andere dagegen als eine Haltung abgelehnt, mit der die Menschen in Afghanistan im Stich gelassen und ihrem Schicksal überlassen werden. Beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung.
Aber bitte gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang eine etwas zugespitzte persönliche Anmerkung: Hinterher, im Nachhinein präzise Analysen und Bewertungen zu machen, das ist nicht wirklich kompliziert. Hinterher, im Nachhinein alles genau zu wissen und exakt vorherzusehen, das ist relativ mühelos. Wir, die internationale Staatengemeinschaft, konnten aber nicht hinterher, im Nachhinein entscheiden, sondern mussten es in der damaligen Situation tun, in der es sehr gute Gründe dafür gab, den Menschen in Afghanistan nach dem Abzug der Truppen wenigstens in der Entwicklungszusammenarbeit weiter zur Seite zu stehen, ganz konkrete Basishilfe, von Geburtsstationen bis zur Wasser- und Stromversorgung, zu leisten.
({2})
Jetzt aber, da die Lage so ist, wie sie ist, konzentrieren wir uns mit ganzer Kraft auf die Evakuierungsflüge am Flughafen Kabul. Wir setzen uns für den Zugang für unsere Staatsangehörigen, Ortskräfte und schutzbedürftige Afghanen zum Flughafen ein. Darüber sprechen wir auch mit den Taliban.
Das Ende der Luftbrücke in einigen Tagen, zu dem der amerikanische Präsident Joe Biden gestern auch in den G-7-Beratungen kein neues Datum genannt hat – ich habe darüber gestern berichtet –, darf nicht das Ende der Bemühungen bedeuten, afghanische Ortskräfte zu schützen und den Afghanen zu helfen, die durch den Vormarsch der Taliban in noch größere Not gestürzt worden sind.
({3})
Deshalb wird in diesen Tagen intensiv auf allen Ebenen daran gearbeitet, wie wir auch dann Wege schaffen können, weiter diejenigen, die uns geholfen haben, zu schützen, unter anderem durch einen zivilen Betrieb des Flughafens in Kabul.
Außerdem geht es darum, humanitäre Hilfe für diejenigen zu leisten, die jetzt diese Hilfe mehr denn je brauchen. Die Vereinten Nationen und insbesondere ihre Hilfsorganisationen beabsichtigen, ihre Arbeit in Afghanistan fortzusetzen, solange die Lage es zulässt. Dafür bin ich sehr dankbar. Tausende Menschen sind seit dem Vormarsch der Taliban auf der Flucht im eigenen Land oder versuchen, in Nachbarländer zu fliehen. Daher gilt es nun, zum einen in Afghanistan selbst den Menschen zu helfen, die es brauchen, und zum anderen dafür zu sorgen, dass Flüchtlinge in der unmittelbaren Nachbarschaft, in den Nachbarstaaten Afghanistans, in der Region Sicherheit, Schutz und Perspektiven finden.
Dazu benötigen vor allem das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, die Welthungerhilfe, UNICEF, die Weltgesundheitsorganisation, das Welternährungsprogramm und die Nachbarn Afghanistans unsere Unterstützung. Die Bundesregierung beabsichtigt daher, neben den 100 Millionen Euro Soforthilfe weitere 500 Millionen Euro für die humanitäre Hilfe in Afghanistan und als Hilfe für die Nachbarstaaten, die Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen, bereitzustellen. Ich habe dazu mit dem Hohen Flüchtlingskommissar, Filippo Grandi, gesprochen, ebenso mit dem Premierminister Pakistans, Imran Khan, und dem türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdogan.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz der rasanten Machtübernahme durch die Taliban bin ich überzeugt, dass die internationale Gemeinschaft in den letzten 20 Jahren in Afghanistan auch Gutes bewirkt hat. Deutschland hat hierzu substanziell beigetragen und seinen Teil der Verantwortung übernommen, nicht zuletzt durch den parlamentarisch kontinuierlich breit unterstützten Einsatz der Bundeswehr. Wir haben das Ziel erreicht, das 2001 am Anfang des Einsatzes stand: Von Afghanistan sind seither keine internationalen Terroranschläge mehr ausgegangen. – Das war ein konkreter Beitrag zur Sicherheit unseres Landes und ist ein bleibendes Verdienst unserer Soldatinnen und Soldaten. Dafür gebühren ihnen der Dank und die Anerkennung unseres Landes.
({4})
Gleichwohl dürfen wir nicht die Augen vor der Gefahr verschließen, dass Afghanistan mit dem Abzug der Verbündeten wieder ein Hort internationaler Terrorgefahr werden kann. Das muss verhindert werden. Der internationale Einsatz in Afghanistan war für die Menschen in Afghanistan aber nicht vergebens, jedenfalls für viele individuelle Schicksale nicht. Das sehen wir allein schon, wenn wir auf ganz elementare Dinge schauen. So hat sich die Kindersterblichkeit in den letzten 20 Jahren halbiert. Fast 70 Prozent der Afghanen haben Zugang zu Trinkwasser; noch vor zehn Jahren waren es nur 20 Prozent. Über 90 Prozent der afghanischen Bevölkerung haben Zugang zu Strom; 2011 waren es nicht einmal 20 Prozent.
Aber klar ist: Die Taliban sind jetzt Realität in Afghanistan. Und viele Menschen in Afghanistan haben große Angst; davon zeugen nicht zuletzt die dramatischen Szenen am Flughafen. Diese neue Realität ist bitter; aber wir müssen uns mit ihr auseinandersetzen. Unser Ziel muss sein, dass so viel wie möglich von dem, was wir den letzten 20 Jahren an Veränderungen in Afghanistan erreicht haben, bewahrt wird. Darüber muss die internationale Gemeinschaft auch mit den Taliban sprechen; unkonditionierte Verabredungen allerdings kann und darf es nicht geben. Uns allen ist klar: Das wird schwer. Aber wir müssen es versuchen.
Wie wir dabei vorgehen, werden wir mit unseren europäischen und internationalen Partnern sehr eng abstimmen. In der EU, der NATO und den G 7 haben die Beratungen hierzu schon begonnen; auch mit Russlands Präsident Putin habe ich darüber gesprochen. Dieser Dialog muss fortgesetzt werden. Gleichwohl haben wir die deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan erst einmal gestoppt. Das war unerlässlich. Auch die EU, die Weltbank und der IWF haben beschlossen, Zahlungen an Afghanistan zunächst einzustellen. Auch das war unerlässlich.
Lassen Sie mich in drei Punkten zusammenfassen, was wir jetzt in und für Afghanistan tun.
Erstens. Wir setzen die Evakuierungsoperation so lange wie möglich fort, um auch Afghaninnen und Afghanen, die sich mit uns für Sicherheit, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Entwicklung eingesetzt haben, das Verlassen des Landes zu ermöglichen.
Zweitens. Wir unterstützen die Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen bei der Notversorgung der Menschen in Afghanistan, insbesondere das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen bei der Versorgung geflüchteter Afghanen in den Ländern der unmittelbaren Nachbarschaft. Hierfür werden wir uns auch innerhalb der Europäischen Union einsetzen.
Drittens. Wir scheuen nicht davor zurück, Gespräche mit den Taliban zu führen, um etwas von dem, was den Menschen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren zugutegekommen ist, bewahren zu können und um nach der Evakuierung weiterhin Menschen zu schützen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in wenigen Wochen werden wir der verheerenden Terroranschläge des 11. September 2001 auf die Vereinigten Staaten von Amerika gedenken. Die Angriffe wurden damals von Afghanistan aus geplant. Die Taliban hatten Ende der 90er-Jahre die Terrororganisation al-Qaida beherbergt und sie so in die Lage versetzt, Dschihadisten auszubilden und Anschläge zu planen. Es war die Bekämpfung des von Afghanistan ausgehenden Terrors, die uns, nachdem die USA nach Artikel 5 des NATO-Vertrages die NATO um Beistand gebeten hatten, dazu bewogen hatte, den Bundeswehreinsetz in Afghanistan zu beginnen – aus Solidarität mit unseren amerikanischen Verbündeten, aber auch zu unserer eigenen Sicherheit.
Der Satz des früheren Bundesverteidigungsministers Peter Struck, wonach unsere Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt werde, brachte dieses Ziel wie kein anderer auf den Punkt. Und diesen Auftrag hatte die Bundeswehr in der NATO erfüllt.
({5})
Was als Einsatz gegen internationale Terroristen begann, wurde bald zu einem größeren Bemühen. So wandte sich der frühere Bundesaußenminister Joschka Fischer zur Eröffnung der Afghanistan-Konferenz der Vereinten Nationen auf dem Petersberg bei Bonn am 27. November 2001 unter anderem mit folgenden Worten an die afghanischen Gäste – ich zitiere –:
Ich appelliere an Sie: Schließen Sie einen wahrhaft historischen Kompromiss, der das Schicksal Ihres geschundenen Landes und seiner Menschen dauerhaft und nachhaltig zum Besseren wendet. … Das Engagement der internationalen Gemeinschaft wird nicht mit dem kommenden Frühjahr enden. Die Menschen in Afghanistan sollen wissen, dass sie auch nach dem Kampf gegen die Terroristen der Al-Qaida und gegen das Taliban-Regime nicht allein gelassen werden.
In diesem Sinne machte es sich die internationale Gemeinschaft zum Ziel, freiheitliche Strukturen aufzubauen, Sicherheitskräfte auszubilden, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu stärken, Menschenrechte, allen voran die Rechte von Mädchen und Frauen, zu verteidigen, Journalisten, Künstler und Unternehmer zu fördern, um bürgerliche Freiheiten zu stärken. Das war aller Ehren wert.
Und doch müssen wir uns heute angesichts der Lage kritische Fragen stellen. Warum ist es zu dem von Joschka Fischer vor bald 20 Jahren so richtigerweise beschworenen historischen Kompromiss der Afghanen untereinander nie so gekommen, dass daraus langfristige Stabilität entstehen konnte? Waren unsere Ziele zu ehrgeizig? Kamen diese Ziele und die mit ihnen verbundenen Werte bei aller Unterstützung aus der afghanischen Zivilgesellschaft wirklich bei der Mehrheit der Menschen in Afghanistan an?
({6})
Hätten die großen kulturellen Unterschiede ernster genommen, historische Erfahrungen stärker gewichtet werden müssen?
({7})
Haben wir das Maß der Korruption bzw. ihre Wirkung bei den Verantwortlichen in Afghanistan unterschätzt?
({8})
Hat sich die internationale Gemeinschaft ausreichend für eine politische Befriedung und einen tatsächlich inklusiven politischen Prozess eingesetzt?
({9})
War es nicht mindestens extrem riskant, wenn nicht sogar falsch, in dem Abkommen der USA mit den Taliban zum Truppenabzug, das 2020 in Doha verhandelt wurde, feste Abzugsdaten zu verfügen? Wurde auch in diesem Zusammenhang die Kampfbereitschaft der afghanischen Streitkräfte überschätzt?
Ich stelle diese Fragen in dem Wissen, dass es vermessen wäre, schon heute fundierte oder gar abschließende Antworten zu geben.
({10})
Dafür werden wir Zeit brauchen, und diese Zeit sollten wir uns nehmen. Denn von den Antworten wird abhängen, welche politischen Ziele wir uns realistischerweise für zukünftige und für aktuelle weitere Einsätze im Ausland setzen dürfen. Dabei ist klar, dass jedes Engagement anders und daher einzeln zu bewerten ist. Und ebenso klar ist, dass eine solche Analyse gemeinsam mit unseren Verbündeten in der NATO und im Kreis der Europäischen Union erfolgen muss.
({11})
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, unsere unmittelbare Aufmerksamkeit liegt jetzt auf der Evakuierungsoperation. Angesichts der Gefahr im Verzug hat die Bundesregierung den Einsatz vor Zustimmung des Bundestages begonnen. Das vorliegende Mandat enthält alle erforderlichen militärischen Fähigkeiten und rechtlichen Möglichkeiten, um den Evakuierungsauftrag unter den schwierigen Bedingungen bestmöglich zu erfüllen.
Seit der ersten Entsendung von Bundeswehrangehörigen 2001 nach Afghanistan haben alle Mandatsanpassungen und Mandatsverlängerungen eine breite Unterstützung in diesem Parlament erhalten. Ich bitte Sie auch um Zustimmung zum vorliegenden Mandat für die Evakuierungsmission, wissend, wie bitter es ist, ein solches Mandat als Bundesregierung überhaupt einbringen zu müssen, aber auch in dem Bewusstsein, dass vieles in der Geschichte einen sehr langen Atem braucht. Deshalb dürfen und werden wir Afghanistan nicht vergessen. Auch wenn es in dieser bitteren Stunde nicht danach aussieht, so bin und bleibe ich der festen Überzeugung, dass keine Gewalt und keine Ideologie den Drang der Menschen nach Freiheit, nach Gerechtigkeit und nach Frieden dauerhaft aufhalten können.
Herzlichen Dank.
({12})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Fraktionsvorsitzenden der AfD, Dr. Alexander Gauland.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Afghanistan sind die Ergebnisse eines 20 Jahre dauernden westlichen Engagements binnen weniger Tage pulverisiert worden. Die Taliban konnten das Land zurückerobern, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, und die deutsche Regierung wusste von nichts. Der BND wusste von nichts; Außenminister Maas war völlig überrascht. Während die Taliban Kabul einnahmen, saß die Kanzlerin im Kino, und die Verteidigungsministerin buk öffentlich Flammkuchen.
Der Einsatz hat 59 Bundeswehrsoldaten das Leben gekostet und Hunderte die Gesundheit. Milliarden Euro wurden am Hindukusch verpulvert. Und wofür das alles? Die USA haben nach den Anschlägen des 11. September 2001 einen Krieg gegen den Terror eröffnet und Truppen an den Hindukusch geschickt. Es war der schiere Aktionismus einer attackierten Großmacht. Also musste ein Kriegsgrund nachgeliefert werden. Er hörte auf freundliche Namen wie „Demokratieexport“ oder „Nation Building“. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer begründete den Einsatz im Nachhinein mit Frauenrechten. Ohne die Bundeswehr, sagte sie – die Kanzlerin hat es ja heute wiederholt –, gäbe es wahrscheinlich bis heute keine Schulen für Mädchen und keine Frauen in höchsten Ämtern.
Mit anderen Worten, meine Damen und Herren: Um Geschlechtergerechtigkeit in die muslimische Welt zu tragen, mussten deutsche Männer dort ihr Leben lassen.
({0})
Wie viele afghanische Frauen in höchsten Ämtern oder Mädchen in Schulen wiegen eigentlich einen toten deutschen Soldaten auf?
({1})
Im März 2004 hatte der Verteidigungsminister Peter Struck – die Kanzlerin hat daran erinnert – erklärt: Die Sicherheit der Bundesrepublik wird auch am Hindukusch verteidigt. – Heute können wir angesichts der zu erwartenden Migrationsströme aus Afghanistan Herrn Struck nachträglich korrigieren. Richtig muss es heißen: Die Sicherheit Deutschlands ist auch am Hindukusch zuerst gefährdet und dann verloren worden.
({2})
Während die Bundeswehr dort offiziell den Terror, die Frauenunterdrückung und gewalttätige Stammesstrukturen bekämpfte, importiert die Politik die Träger solcher Strukturen nach Deutschland.
({3})
Die Soldaten hielten am Hindukusch ihre Knochen für eine Politik hin, die den Hindukusch nach Deutschland bringt.
({4})
Die Verbündeten waren immer um ein Jahr, eine Armee und eine Idee im Rückstand.
In Afghanistan ist die Idee der „One World“ und des Exports der westlichen Lebensart krachend gescheitert.
({5})
Unsere Werte, meine Damen und Herren, sind nicht universell.
({6})
Die Afghanen pfeifen in ihrer Mehrheit auf die Verwestlichung. Wer glaubt, man könne generationentiefe ethnisch-kulturelle Prägungen mit Aufklärungskursen und Gender-Mainstreaming therapieren, bezeugt nur eine monströse Ignoranz.
({7})
Es ist nicht einfach jede Kultur mit jeder anderen Kultur kompatibel. Viele Menschen wollen partout nicht leben wie wir – und wir auch nicht wie sie.
({8})
Deshalb, meine Damen und Herren, ist es töricht und mitunter lebensgefährlich, sie zu uns zu holen. Dennoch fordert die EU-Innenkommissarin Johansson, gefährdete Personen aus Afghanistan rasch nach Europa umzusiedeln, damit sie hier eine neue Heimat finden. Deren Zahl schätzt sie auf bis zu 5 Millionen; dieselbe Zahl hat der Bundesinnenminister verbreitet. Das, meine Damen und Herren, ist kompletter Wahnsinn!
({9})
Nach Einschätzung hochrangiger Militärs, die lange in Afghanistan gedient haben, bewegt sich die Zahl der Ortskräfte, also der Einheimischen, die tatsächlich loyal für die Bundeswehr gearbeitet haben, im unteren vierstelligen Bereich. Auf eine Anfrage der Grünen aus dem Jahre 2018 nannte die Regierung 576 Ortskräfte. Diesen Menschen und ihren Familien können und wollen wir Asyl geben, aber niemandem darüber hinaus.
({10})
Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz hat bereits erklärt, sein Land werde keinen einzigen Afghanen aufnehmen. Die meisten anderen Europäer werden ähnlich reagieren. Ein zweites 2015 verkraftet unser Land weder finanziell noch sicherheitspolitisch.
({11})
Die Lektion aus dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr lautet: Unsere Armee hat im Ausland nichts zu suchen.
({12})
Ausnahmen gibt es da, wo unmittelbare deutsche Interessen betroffen sind, etwa bei der Bekämpfung der Piraterie.
({13})
Ansonsten ist sie ausschließlich ein Instrument der Landesverteidigung. Statt im Orient die Frauenrechte gegen die Taliban zu verteidigen, soll sie lieber die deutschen Grenzen vor Gefahren schützen,
({14})
die sich aus dem Zustrom von Menschen ergeben, denen unsere Art, zu leben, völlig fremd ist.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
({15})
Jetzt erteile ich das Wort dem Fraktionsvorsitzenden der SPD, Dr. Rolf Mützenich.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die meisten Deutschen und Afghanen teilen in diesen Tagen den Schmerz und das Entsetzen über die Machtübernahme der Taliban.
({0})
Die Ereignisse werden für immer tief in unserem kollektiven Gedächtnis eingebrannt bleiben. Dazu gehören die Bilder und Schilderungen aus Kabul, wie auch die Fehler und Versäumnisse der internationalen Gemeinschaft, einschließlich der afghanischen Regierungen.
Für meine Fraktion sage ich klipp und klar: Wir werden die Geschehnisse schonungslos aufklären und Konsequenzen für die Ausrichtung internationaler Einsätze und die Arbeit der Ressorts ziehen.
({1})
Das kann man am besten in einer Enquete-Kommission mit Abgeordneten, Wissenschaftlern und Praktikern tun.
({2})
Deswegen, meine Damen und Herren, lade ich Sie ein, dieses Gremium nach der Konstituierung des neuen Deutschen Bundestages mit uns gemeinsam einzusetzen.
({3})
Wenn bereits heute, liebe Kolleginnen und Kollegen, einige glauben, Antworten auf die vielen Fragen geben zu können, so ist das vermessen. Angeblich gut klingende geschlossene Expertenzirkel wie ein Nationaler Sicherheitsrat können die Herausforderungen nicht meistern. Eine demokratische, von den Vielen getragene Außen- und Sicherheitspolitik ist anspruchsvoller, als manche meinen. So was kann man nicht delegieren. Unser Engagement ist nicht die Quersumme verschiedener Meinungen. Was wir vielmehr brauchen, ist ein Regierungschef mit Augenmaß, gestützt auf langjährige Erfahrung und Kompetenz, meine Damen und Herren.
({4})
Die Situation in Afghanistan bleibt auch in diesen Stunden brandgefährlich. Wir danken den Bundeswehrsoldaten für den noch nicht abgeschlossenen Rettungseinsatz. Für sie entscheiden wir heute über die Rechtssicherheit der notwendigen Maßnahmen. Ich bitte daher alle Fraktionen, sich hier heute nicht zu verweigern.
({5})
Gleichzeitig, meine Damen und Herren, danke ich den Polizistinnen und Polizisten und den Diplomaten vor Ort, die derzeit alles für die Ausreise derjenigen tun, die bedroht sind. In diesen Dank möchte ich die einschließen, die freiwillig in Afghanistan bleiben und ihre Arbeit fortsetzen wollen. Auch ihnen gilt unsere Anerkennung.
({6})
Wie Sie wissen, ist die deutsch-afghanische Geschichte von längerer Dauer und reichhaltiger als die bitteren Ereignisse der letzten Wochen. Vor 100 Jahren wurde die Deutsch-Afghanische Handelsgesellschaft gegründet. 270 000 Afghanen leben derzeit in Deutschland. Viele bekennen sich zu ihrer neuen Heimat, darunter Ärzte, Pflegekräfte und Industriearbeiter. Sie arbeiten mit in Vereinen und Nachbarschaftshilfen.
Und es gibt noch viele andere, scheinbar unbedeutende Geschichten, so etwa die langjährige Partnerschaft zwischen dem Kölner und dem Kabuler Zoo. Das Schicksal eines Löwen, den ein Talibankämpfer beim Abzug 2002 absichtlich verletzte, berührte damals, vor 20 Jahren, viele Menschen auch in Deutschland. Das Foto wurde zum Sinnbild für die Brutalität und die Sinnlosigkeit des Krieges; aber es stand auch für die Notwendigkeit der internationalen Hilfe und Zusammenarbeit.
({7})
Daran hat sich nichts geändert. Von uns wird es abhängen, ob wir aus den Fehlern, aber auch aus besseren Zeiten lernen wollen, meine Damen und Herren.
Lieber Herr Kollege Gauland, Peter Struck ein Zitat in den Mund zu legen, das anders ist als das, was er damals gesagt hat, verbitte ich mir. Vergreifen Sie sich nicht an meinem ehemaligen Kollegen Peter Struck!
({8})
Ich sage Ihnen: Gegenwärtig müssen wir uns jedoch auf die aktuellen Herausforderungen konzentrieren; die Bundeskanzlerin hat es gesagt. Die weitere Evakuierung und Politik schließen Gespräche mit den Taliban ein. Um das zu erkennen, braucht man keine Nachhilfe in Diplomatie. Ich hätte mir gewünscht, dass diese Einsicht bereits 2007 bestanden hätte, als Kurt Beck, wohlgemerkt in einer Schwächephase der Taliban, diese Möglichkeit erwogen hatte. Ich erinnere mich noch gut: Mit welchem Hohn und welcher Häme wurde er von denjenigen überschüttet, die heute leider schon wieder alles besser wissen. Es ist und bleibt ein Trauerspiel, aber auch ein Lehrstück über die Empörungsreflexe unserer Zeit.
Deswegen sage ich: Vielleicht wäre es angemessen, wenn die sogenannten Experten außerhalb des Parlaments ebenso wie diejenigen, die ihnen oft eine Bühne geben, einmal innehalten und ihre Fehler reflektieren würden, meine Damen und Herren.
({9})
Insofern warten auch noch viele weitere Aufgaben auf die deutsche Außenpolitik. Die Bundeskanzlerin hat einige Fragen aufgeworfen, aber auch Herausforderungen benannt. An vorderster Stelle steht, einen weiteren Bürgerkrieg in Afghanistan zu verhindern; darauf ist auch die deutsche Außenpolitik ausgerichtet. Der Außenminister ist neben der Krisenbewältigung bemüht, diese Übergangsregierung, die sich in Afghanistan zumindest anbietet, als Chance für die internationale Politik zu begreifen. Das ist die Kunst der Diplomatie; sie versucht, vielleicht nur den Bruchteil eines Momentes zu schaffen, damit die Menschen vor Ort zumindest eine Chance haben.
Dazu gehört, weiterhin humanitäre Hilfe zu leisten. 3,5 Millionen Binnenflüchtlinge, 2,6 Millionen Flüchtlinge in den Nachbarländern – für meine Fraktion sage ich: Diese Mittel werden wir aufbringen. Als Haushaltsgesetzgeber stellen wir sie auch in Zukunft bereit. Das Gleiche gilt für das Resettlement-Programm des UNHCR. Meine Damen und Herren, das ist gut investiertes Geld in Humanität.
({10})
Gleichzeitig spielen auch strukturelle Bedingungen eine große Rolle. Seit mehreren Jahren herrscht in Afghanistan eine große Dürre. Viele Dörfer sind unbewohnbar, und ohne langfristige Hilfe haben die Menschen dort keine Chance auf Rückkehr; auch das sollten wir wissen.
Aber auf der anderen Seite müssen wir auch das Gegeneinander von Indien und Pakistan sehen, die Afghanistan leider seit Jahrzehnten in ihrer Machtauseinandersetzung missbrauchen. Es handelt sich immerhin um zwei Atommächte. Deswegen sage ich: Ja, wir müssen mit diesen Nachbarländern nicht nur in Gespräche kommen, sondern auch in Verhandlungen; das schließt den Iran ein, meine Damen und Herren.
Schließlich haben wir sozusagen aktuell vor Augen geführt bekommen, dass auch die Umwälzungen der internationalen Beziehungen in Afghanistan mit Händen zu greifen sind. Das Foto einer afghanischen Delegation, die vom chinesischen Außenminister empfangen wurde, wird sich möglicherweise in zehn Jahren in den Schulbüchern als Beispiel für eine Umwälzung in den internationalen Beziehungen wiederfinden. Das ist erneut ein Beleg dafür, dass die Außenpolitik großer Mächte – dabei meine ich auch die USA – zuerst und allein den eigenen Interessen dient. Auch daraus müssen wir lernen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Angesichts dieser Komplexität wie die Grünen zu behaupten, ein Antrag hätte viele Probleme gelöst, ist Augenwischerei.
({11})
Die Forderungen Ihres Antrags waren zum Zeitpunkt der Abstimmung schon nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Das wissen Sie gut; denn 16 Innenminister – auch Innenminister der von Ihnen mitregierten Länder – hatten zu diesem Zeitpunkt bereits einen ganz anderen Beschluss gefasst. Ich kann nur sagen: Ich vermute, dass es Ihnen um etwas ganz anderes ging.
({12})
Sie wollten die Konfusion in Ihrer Afghanistan-Politik überspielen. Die letzte Abstimmung im März: 14 Jastimmen, 14 Enthaltungen, 32 Neinstimmen.
({13})
Aber die Heuchelei wird erst dann deutlich, wenn man sieht, dass Sie bis zum letzten Augenblick, bis zur letzten Stunde in den Regierungen vertreten waren, die Menschen nach Afghanistan abschieben wollten; das werde ich Ihnen nicht vergessen.
({14})
Deswegen mein Rat: Helfen Sie dabei, die Versäumnisse, egal ob auf Bundes- oder Landesebene, aufzuarbeiten,
({15})
und ziehen Sie mit uns die richtigen Konsequenzen für eine zukünftige gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Innenpolitik!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({16})
Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der FDP, Christian Lindner.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder, die uns aus Afghanistan erreichen, sind erschütternd; sie sind schmerzhaft. Menschen riskieren alles, um sich über den einzig verbliebenen Weg in Freiheit und Sicherheit zu bringen. Wie grenzenlos muss die Angst, wie grenzenlos muss die Verzweiflung sein, wenn eine Mutter oder ein Vater das eigene Kind über eine Mauer in die Hand eines fremden Soldaten gibt, völlig im Ungewissen, was danach passiert? Wir müssen Ursache und Wirkung der Ereignisse analysieren, die politische Verantwortung muss zugeordnet werden, und personelle Konsequenzen müssen folgen. Aber heute ist dafür nicht die Gelegenheit.
Die internationale Gemeinschaft hat eine humanitäre Verantwortung und moralische Verpflichtung, den Menschen zu helfen. Jetzt steht die Linderung von Leid im Zentrum, und dafür hat die Bundesregierung die volle Unterstützung der Fraktion der Freien Demokraten.
({0})
Auch unsere Gedanken sind bei den mutigen Soldatinnen und Soldaten sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Auswärtigen Dienstes, die in dieser Stunde in Kabul unter Einsatz ihres Lebens Menschen retten. Wir wünschen ihnen bei diesem heldenhaften Einsatz viel Erfolg und eine gesunde Heimkehr.
({1})
Die Menschen in Afghanistan brauchen schnelle Hilfe. Wir müssen großzügige und pragmatische Lösungen für diejenigen finden, die unserer Bundeswehr und den Hilfsorganisationen loyal zur Seite gestanden haben, und auch die besonders gefährdeten Gruppen wie Frauen- und Menschenrechtsaktivistinnen, auch Journalisten müssen in Sicherheit gebracht werden. Deutsche Bürokratie darf hier kein Menschenleben fordern.
({2})
Die Machtergreifung der Taliban lässt zudem eine Fluchtbewegung befürchten, die durch eine drohende Hungerkatastrophe verschärft wird. 14 Millionen Afghaninnen und Afghanen sind vom Hunger bedroht. Diese humanitäre Katastrophe müssen wir verhindern, indem wir die internationalen Organisationen stärken. Es war geplant, die Entwicklungszusammenarbeit mit Nachbarstaaten wie Tadschikistan einzuschränken. Auch dieses Vorhaben offenbart eine unzureichende Lageeinschätzung in der Region.
({3})
Es wäre ein Fehler, jetzt in der Nachbarschaft Afghanistans nicht zu helfen.
({4})
In diesen Staaten müssen Flüchtlinge unter menschenwürdigen Bedingungen Schutz finden. Wir müssen dazu auch die Mittel des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen stärken. Dieser Verantwortung darf sich niemand entziehen – auch nicht die Vereinigten Staaten, die geografisch weit entfernt sind, politisch aber unmittelbar Verantwortung zu tragen haben.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Dimension der Aufgabe und ihre Dringlichkeit sind Anlass für eine gemeinsame europäische Afghanistan-Politik. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben dazu Andeutungen gemacht, die uns aber noch nicht ausreichen. Wir bitten Sie herzlich, dass von Ihrer Regierung ausgehend umgehend die Initiative ergriffen wird für einen EU-Sondergipfel der Regierungschefinnen und ‑chefs. Wir stellen das in einem Antrag auch zur Abstimmung und werben um Zustimmung. Denn: Humanität heißt nicht, Flüchtende auf den gefährlichen Weg nach Europa zu zwingen; Humanität heißt, ihnen so schnell wie möglich und der Heimat so nah wie möglich Sicherheit zu bieten. Das ist eine europäische Aufgabe.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Erfolg der Evakuierungsmission liegt nun beklagenswerterweise in den Händen der Taliban. Diese Abhängigkeit hätte nie eintreten dürfen. Schon heute wissen wir ja, dass längst nicht alle, für die wir Verantwortung tragen, rechtzeitig ausgeflogen werden können. Wir müssen uns die Frage stellen: Wie konnte es dazu kommen? Frankreich hat schon am 10. Mai mit der Evakuierung afghanischer Ortskräfte begonnen. In Deutschland erklärte der Außenminister am 9. Juni hingegen hier im Bundestag auf eine Frage meiner Fraktion, dass es nicht die Grundlage seiner Annahme sei, dass die Taliban in wenigen Wochen das Zepter in der Hand haben. Am 23. Juni haben die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und meine Fraktion hier im Bundestag Anträge gestellt, in Details unterschiedlich, aber einig darin, die Aufnahme afghanischer Ortskräfte zu erleichtern. Die regierungstragenden Fraktionen haben seinerzeit abgelehnt. Die aktuelle Situation in Afghanistan ist eine Katastrophe, aber sie kommt nicht aus dem Nichts. Hunderte Menschen mehr hätten evakuiert werden können. Auch dieser Verantwortung muss die Regierung sich stellen.
({7})
Die Fäden der Verantwortlichkeit laufen beim Auswärtigen Amt zusammen. Die Rekonstruktion und Aufarbeitung ist nicht in einigen Sondersitzungen getan. Der Kollege der SPD hat eine Enquete-Kommission für die nächste Wahlperiode angeregt. Wir haben Zweifel, ob eine Enquete-Kommission das geeignete Instrument zur Aufklärung ist; denn die Vernehmung von Zeugen und auch die Sichtung von eingestuften Dokumenten wären so nicht möglich.
({8})
Mindestens für die Endphase des Abzugs ist das Mittel des parlamentarischen Untersuchungsausschusses empfehlenswert.
({9})
Frau Bundeskanzlerin, die Fragen, die Sie hier eben im Nachhinein aufgeworfen haben, hat Ihnen meine Fraktion in den vergangenen Jahren regelmäßig gestellt. Wir haben seit Jahren eine Exit-Strategie und eine Evaluation des Einsatzes gefordert. Tatsächlich ist der Einsatz ja nun auch vor allem an einem fehlenden eindeutigen Ziel gescheitert. Ob es ein militärischer Sieg über die Taliban war, das Auslöschen von Safe Havens für den internationalen Terrorismus oder Nation Building: Nie wurde offen darüber gesprochen, wofür sich Deutschland einsetzt. Und das war ein Fehler.
({10})
Wegen dieser fehlenden Strategie, der fehlenden Anpassung an politische und militärische Entwicklungen haben wir ja bereits bei den letzten Mandatsverlängerungen unsere Bedenken vorgetragen. Es ist fraglich, ob NATO und Bundeswehr überhaupt Nation Building von außen leisten können, wenn von innen Unterstützung fehlt. Zu einer vorausschauenden Politik gehört deshalb, die Grenzen des Machbaren zu erkennen. Sie wurden uns in Afghanistan aufgezeigt, und wir müssen gemeinsam in unserem westlichen Bündnis daraus die Lehren für künftige und aktuelle Einsätze ziehen.
Wir dürfen uns in Zukunft zudem nicht von dynamischen Entwicklungen überrollen lassen. Wir müssen sie eher vorhersehen und Strategien schnell anpassen. Wir schlagen einen Bundessicherheitsrat vor, der das Kanzleramt, das Verteidigungsministerium, das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung institutionell vernetzt.
({11})
Denn die letzten Tage und Wochen haben den Eindruck organisierter Unverantwortlichkeit verstärkt, und das muss Folgen für die Sicherheitspolitik unseres Landes haben.
({12})
Der CDU-Vorsitzende Armin Laschet hat dazu im Mai bereits einen sinnvollen Vorschlag in die Diskussion eingebracht. Es wäre vernünftig, wenn diesem Vorschlag von Herrn Laschet gefolgt würde, übrigens auch von der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag. Die Unterstützung der FDP wäre Ihnen sicher.
({13})
Einem Akteur indessen ist das Scheitern nicht vorzuwerfen: der Bundeswehr. Sie hat unter den Bedingungen das in ihrer Macht Stehende getan. Fast 150 000 Soldatinnen und Soldaten waren in den vergangenen 20 Jahren in Afghanistan im Einsatz; 59 – die Frau Bundeskanzlerin hat es gesagt – sind dort gefallen. Wir sehen, wie die Frustration der Veteranen steigt, weil sie das Gefühl haben, dass ihre jahrzehntelange Arbeit nicht gewürdigt wird, weil man ihre Verbündeten im Stich gelassen hat und weil sie das Gefühl haben, dass man sich für ihre Belange nicht interessiert. Wann war die Bundeskanzlerin zuletzt bei unseren Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan? Warum hat niemand die Heimkehrer in Deutschland empfangen? So sollte man nicht mit den Soldatinnen und Soldaten umgehen. Sie haben in Afghanistan ihre Pflicht erfüllt. Um es klar zu sagen: Dieses Land und dieses Parlament können stolz auf diese Bundeswehr sein.
({14})
Aber zum Respekt gehört auch, unserer Armee die bestmögliche Ausstattung zu gewähren. Nur so kann sie ihre Aufträge effizient und umfassend erfüllen. Man kann nicht auf der einen Seite die Handlungsunfähigkeit der Bundeswehr bemängeln und auf der anderen Seite die Anschaffung moderner Militärtechnik wie bewaffneter Drohnen blockieren. Das passt nicht zusammen.
({15})
Es ist beunruhigend, dass die Bundeswehr heute nicht in der Lage ist, so eine Evakuierungsoperation aus eigener Kraft zu leisten. Es ist beunruhigend, dass sich unsere Soldaten nicht ausreichend aus der Luft absichern können. Es ist daher Zeit, dass SPD und Grüne ihr bisweilen gestörtes Verhältnis zur Bundeswehr prüfen.
({16})
Ich komme zum Schluss. Ist es tatsächlich so, dass die Linkspartei diesem Mandat heute nicht zustimmen will?
({17})
– Ja? Dann, wenn Sie sich einem solchen Mandat verweigern, stelle ich fest: Stabiles Regieren wäre mit dieser Fraktion der Linkspartei nicht möglich.
({18})
Wir erwarten von Herrn Scholz und Frau Baerbock, dass sie sich dieser Feststellung anschließen, dass mit einer Linkspartei kein Staat zu machen ist, die in einer solchen Situation unsere Soldatinnen und Soldaten in Rechtsunsicherheit lässt.
({19})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johann Wadephul, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Weil der Kollege Gauland hier erneut den Eindruck erweckt hat, es sei dem afghanischen Volk sozusagen innewohnend, Frauen und Mädchen zu unterdrücken und zu missbrauchen, möchte ich dem einmal entgegentreten: Das ist ungeheuerlich, Herr Kollege Gauland!
({0})
Und jeder Einsatz von Soldatinnen und Soldaten, der Frauen und Mädchen ein menschenwürdiges Leben in Afghanistan ermöglicht hat, war richtig, war notwendig,
({1})
und dahinter stehen wir politisch, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Schauen Sie sich mal das mutige Beispiel der Bürgermeisterin Zarifa Ghafari an, die jetzt in Deutschland angekommen ist und die dem widerstanden hat. Es gibt dort diese mutigen Frauen,
({3})
und hinter denen haben wir gestanden und sollten wir weiterhin stehen.
({4})
Wir sollten uns nicht einreden lassen, dass Unterdrückung solcher imponierenden Persönlichkeiten irgendwie Afghanistan-immanent ist. Das ist falsch.
({5})
Diese Debatte ist keine Alltagsdebatte, sondern ist eine außerordentlich schwierige Debatte, auch für dieses Parlament, das die Bundeswehr regelmäßig in schwierigste Einsätze schickt. Die Lage in Kabul ist aber so gefährlich für die Frauen und Männer, die für uns dort jetzt im Auswärtigen Dienst und als Angehörige der Bundeswehr Dienst leisten, dass wir ihnen unsere Anerkennung zollen sollten. Was sie dort leisten, ist großartig. Die Soldaten haben geschworen, tapfer zu sein. Das sind sie. Unter größten Gefahren, unter kaum vorstellbaren Schwierigkeiten, unter ungeheurem Stress und schwersten seelischen Belastungen retten sie Tausende Menschen – Menschen, deren Verzweiflung kaum Grenzen kennt, Frauen, Kinder, Männer, die befürchten müssen, Opfer der Rache der Taliban zu werden. Um sie zu retten, steht die Bundeswehr Seite an Seite mit Soldatinnen und Soldaten der USA, Großbritanniens, Italiens und vieler anderer Verbündeter für eine Brücke der Hoffnung. Dafür sind wir ihnen unendlich dankbar. Wir stehen als Parlament und Nation in der Schuld dieser Frauen und Männer, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Ich danke der militärischen Führung, aber auch der Inhaberin der Befehls- und Kommandogewalt, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer. Sie hat in bester Auftragstaktik General Arlt und allen militärischen Führern vor Ort Handlungsfreiheit zugesichert
({7})
und gesagt, dass sie dafür politisch hier in Berlin einsteht. Die Frau Wehrbeauftragte hat das gewürdigt. Ich will mich dem anschließen. Ich glaube, das ganze Haus, auch die FDP-Fraktion, sollte an dieser Stelle der Verteidigungsministerin den Rücken stärken
({8})
und ihr Respekt und Anerkennung für ihren Dienst zollen.
({9})
Dass es so weit kommen musste, ist Folge dramatischer militärischer Entwicklungen. Diese Koalition hatte unter schwierigen Diskussionen das Mandat bis zum Januar des nächsten Jahres verlängert, weil wir in der Tat die Sorge hatten, dass es schnell zu einem Kollaps kommen könnte, auch wenn keiner erwartet hat, dass es so rasch und rapide geht, wie es jetzt gegangen ist. Aber wir wollten an der Seite der Afghaninnen und Afghanen stehen und müssen an dieser Stelle feststellen, dass wir ein Opfer auch der Handlungsunfähigkeit Europas geworden sind.
({10})
Wir sind – die Bundeskanzlerin hat das unterstrichen – an dieser Stelle schlicht und ergreifend nach wie vor auf die Vereinigten Staaten von Amerika allein angewiesen.
Für mich sind dreierlei Dinge wichtig:
Erstens. Wir brauchen jetzt politischen und rechtlichen Rückhalt für die Soldatinnen und Soldaten. Wir haben von Anfang an gesagt: Das Mandat ist notwendig. Ich wiederhole das, was der Kollege Lindner gesagt hat: Das, was die Linke sich hier leistet, das macht mich fassungslos.
({11})
Sie stellen Ihren ideologischen Hass gegen die Bundeswehr über das höchste Gebot, die Rettung von Menschen; und das ist unter keinem Aspekt moralisch und politisch zu rechtfertigen.
({12})
Ihre Scheinheiligkeit kennt keine Grenzen. Wer dieses Land regieren will – ich kann mich der Aufforderung nur anschließen –, der muss – –
({13})
– Sie haben ja einen Kollegen, den Kollegen Höhn, der sich entschlossen hat, für das Mandat zu stimmen. Ich muss dem Kollegen Höhn an der Stelle sagen: Ich weiß, wie schwierig so was in einer Fraktion ist. Meine volle Anerkennung! Es gibt also auch in der Linksfraktion noch Menschen, die Handeln und Denken übereinbringen können.
({14})
Also, es gibt Hoffnung für die Zukunft.
({15})
Das Zweite ist: Wir sind es nicht nur den Soldatinnen und Soldaten, sondern wohl allen über 150 000 Frauen und Männern, die 20 Jahre Dienst am Hindukusch geleistet haben, schuldig, nüchtern und umfassend aufzuarbeiten, was geschehen ist. Da schließe ich mich den Worten des Kollegen Mützenich an. Es geht um unser Handeln in den verschiedensten Phasen seit 2001. Es geht um die Bundeswehr, aber auch die anderen Ressorts. Das muss aufgearbeitet werden. Wie – das sage ich aus Respekt und Demut vor dem nächsten Bundestag, dem 20., der zu wählen ist –, das soll der nächste Bundestag entscheiden. Ich sage für die CDU/CSU-Fraktion: Wir vertreten politisch die Auffassung, dass alles schonungslos aufgearbeitet werden muss. Das schulden wir allen Soldaten; das schulden wir allen Mitarbeitern, die dort für uns tätig gewesen sind. Es ist vollkommen klar: Das muss geschehen.
({16})
Aber wir bleiben auch dabei, dass wir für dieses Land, für die Menschen und insbesondere für die Frauen und Mädchen viel erreicht haben: ein besseres, ein menschenwürdiges Leben, eine gewisse Teilhabe am politischen Leben – ich habe gerade die Bürgermeisterin erwähnt –; Bildung ist ermöglicht worden; ein Aufbau des Staates ist erreicht worden. Das gilt es jetzt zu sichern. Wir dürfen Afghanistan auch in der Zukunft nicht alleinlassen, sondern wir müssen uns verpflichtet fühlen, auch in den nächsten Jahren an der Seite dieses Staates zu stehen. Dazu fühlen wir uns verpflichtet, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({17})
Der nächste Punkt ist die Frage: Wie stellen wir uns für die Zukunft auf? Herr Lindner, es ist vollkommen richtig: Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt selbstverständlich – die Idee kam auch aus unseren Reihen –
({18})
den Vorschlag von Armin Laschet, einen nationalen Sicherheitsrat einzurichten. Ich glaube, das ist ganz richtig.
({19})
Die Bundeswehr braucht allerdings eine hinreichende Unterstützung. Heute hier maximalen Einsatz zu verlangen, aber bei Debatten über den Verteidigungsetat die 2-Prozent-Vereinbarung von Wales zu negieren und sie nicht erfüllen zu wollen und sich bei schwierigen Debatten über die Bewaffnung von Drohnen wegzuducken, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen, das geht nicht.
({20})
Wir müssen hinter der Bundeswehr stehen.
({21})
Wir müssen sie ausrüsten, wenn wir sie in so schwierige Einsätze schicken. Dafür steht die CDU/CSU-Fraktion.
({22})
Ich bitte Sie um Zustimmung für dieses Mandat.
Danke schön.
({23})
Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der Linken, Dr. Dietmar Bartsch.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder, die uns aus Afghanistan erreichen, sie sind furchtbar, herzzerreißend, sie sind erschütternd. Sie bringen das Desaster zum Ausdruck, das Sie in Afghanistan mit angerichtet haben.
({0})
Die Folgen dieses Desasters, meine Damen und Herren, werden wir erst in vielen Jahren erfassen können. Meine Fraktion – die Grünen auch – hatte Sie im Juni aufgefordert, die Familien – ich zitiere das – schnell und unbürokratisch zu evakuieren. Frankreich hat das im Mai gemacht. Sie haben das abgelehnt. Das war kurzsichtig, das war kaltherzig, und das war verantwortungslos.
({1})
Alle deutschen Staatsbürger hätten spätestens zu diesem Zeitpunkt aus Afghanistan evakuiert werden müssen, jede Ortskraft der Bundeswehr, des Auswärtigen Amtes, der GIZ, Menschenrechtsaktivisten, Journalistinnen und Journalisten. Sie alle hätten gerettet werden können, wenn Sie nach 20 Jahren realistisch auf den Vormarsch der Taliban geschaut hätten. Man hätte eben das größte Risiko annehmen müssen. Stattdessen Handlungsunfähigkeit. „Wir haben die Lage falsch eingeschätzt“, sagen Außenminister und Verteidigungsministerin fast gleichlautend. Auch der Bundesnachrichtendienst ist völlig blank, ebenso alle anderen. Nein, es ist ein Desaster, meine Damen und Herren. Es ist ein Desaster!
({2})
Herr Kollege Wadephul hat eben und sogar auch in der Öffentlichkeit von 20 guten Jahren für Afghanistan gesprochen. Meine Fraktion hat Menschenrechtsaktivisten eingeladen; wir haben dort auch viel Unterstützung gegeben. Aber ich kann nur sagen: 50 000 tote Zivilisten, viele Frauen und Kinder, 66 000 tote afghanische Soldaten und Polizisten, 3 600 tote Soldaten der Allianz, 2,5 Millionen afghanische Flüchtlinge, die das Land schon verlassen haben, 4 Millionen Kinder, die nicht zur Schule gehen, und nach 20 Jahren leben 72 Prozent der Afghanen unter der Armutsgrenze. 20 gute Jahre?
({3})
„Nichts ist gut in Afghanistan“, liebe Kolleginnen und Kollegen!
({4})
Als ich dieses Zitat von Margot Käßmann hier im Juni verwendet habe, da wurde ich noch beschimpft. Bleiben Sie eigentlich dabei?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 59 tote Bundeswehrsoldaten, viele verwundete Soldaten, Tausende unserer Soldaten haben Traumatisches erlebt, mit lebenslangen Folgen, viele erleiden einen Rückfall angesichts der aktuellen Entwicklung. Frau Bundeskanzlerin, ich glaube Ihnen zwar Ihre Betroffenheit – Sie haben das sehr persönlich geschildert –, aber wie wollen Sie von der Regierung den Angehörigen und denen, die jetzt traumatisiert sind, in die Augen schauen? Wofür haben die Soldaten ihre Gesundheit, gar ihr Leben gelassen? Wofür haben die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler 12,5 Milliarden Euro aufgebracht? Ich will mal dazusagen: 12 Milliarden Euro für das Militär und nur 500 Millionen Euro für zivile Projekte.
Ich will Sie daran erinnern, dass Sie vor fünf Monaten, am 4. März 2021, die Verlängerung des Einsatzes mit folgenden Worten begründet haben – ich zitiere aus dem Mandatstext –:
Durch den deutschen militärischen Beitrag im Rahmen der NATO-Mission … konnte die Leistungsfähigkeit der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte an den Standorten Masar-e Scharif und Kundus zur selbstständigen Wahrnehmung von Sicherheitsverantwortung weiter gesteigert werden.
Und weiter:
Das deutsche zivile Engagement hat zur Entstehung eines demokratisch kontrollierten Staatswesens, das sich zur Wahrung universeller Menschenrechte bekennt, zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung, zum Zugang zu Bildung sowie insbesondere zur Stärkung der Rechte von Frauen und Kindern beitragen können.
Was für ein Hohn! Was für eine naive Sicht! Und Union und SPD haben dem zugestimmt.
Herr Lindner, ich will Sie dran erinnern: Sie haben, wie immer, zugestimmt. Und jetzt sich hinzustellen und zu sagen: „Wir haben das besser gewusst“, das ist auch einigermaßen wohlfeil.
({5})
Herr Maas, Frau Kramp-Karrenbauer, Herr Seehofer, die letzten Wochen sind unentschuldbar. Die Folgen Ihrer Fehler gefährden Menschenleben. Sie sind in Ihren Ämtern gescheitert. Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, warum sind Sie nicht eingeschritten? Evakuieren und dann abziehen, das ist die logische Reihenfolge.
({6})
Dafür, dass Ihre Minister dabei versagt haben, die rechtzeitige und geordnete Evakuierung auf den Weg zu bringen, tragen Sie die politische Verantwortung. Sie haben diesen Krieg zwar von SPD und Grünen geerbt, aber viel zu wenig getan, um ihn zu beenden. Der gescheiterte Afghanistan-Einsatz ist der schwärzeste Punkt in Ihrer 16‑jährigen Kanzlerschaft, meine Damen und Herren.
({7})
Aber Ihre Regierung setzt auch jetzt auf Bürokratie anstatt zuallererst auf Rettung. Kurz vor dem Ende der Evakuierungsflüge – das kann ja schon heute sein, wie im Verteidigungsausschuss gesagt worden ist – ändern Sie die Möglichkeit, auszufliegen – jetzt! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, glauben Sie, dass sich die Taliban bei ihren Racheaktionen an unsere bürokratischen Regeln halten? Es braucht eine gleichberechtigte Rettung aller, meine Damen und Herren!
({8})
Marcus Grotian, Hauptmann der Bundeswehr und Gründer des Patenschaftsnetzwerkes Afghanische Ortskräfte, sagt:
Aufgrund von politischen Entscheidungen, die bürokratisch und fein säuberlich umgesetzt werden mussten, haben wir 80 Prozent der Ortskräfte in Afghanistan zurückgelassen.
Und weiter sagt er:
Alle anderen Länder evakuieren jetzt alle Ortskräfte. Wir evakuieren die, die man ausgewählt hat.
Ich sage: Das ist unmenschlich, und das ist auch nicht hinnehmbar. Wir stehen in der Schuld unserer afghanischen Partnerinnen und Partner.
({9})
Und weil das hier ja so kritisch genannt worden ist, will ich es ganz ausdrücklich sagen: Ich bedanke mich bei allen Kräften der Bundeswehr, die derzeit unter Einsatz ihres Lebens das Leben anderer retten. Herzlichen Dank auch den Diplomaten und den Mitarbeitern der GIZ und vielen anderen!
({10})
Von wegen ideologischer Hass – das Gegenteil ist der Fall!
({11})
Sie tragen die Verantwortung für deren militärische Situation.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 20 Jahre Krieg gegen den Terror sind gescheitert. Der Versuch, Demokratie zu exportieren, ist gescheitert. Die Taliban gehen wieder auf Menschenjagd, Frauen werden in die Burka gezwungen und trauen sich nicht mehr aus dem Haus. Und die Taliban sind jetzt besser ausgestattet als je zuvor. Sie haben dank erbeuteter US-Waffen eine Armee auf NATO-Niveau, modernste Technik. Die Taliban sind stärker als vor dem 20-jährigen Krieg, haben eine neue Generation von Kämpfern rekrutiert.
Deutschland hat in den letzten Jahren für 420 Millionen Euro Waffen und Material nach Afghanistan exportiert. Die letzte Lieferung wurde noch in diesem Jahr genehmigt. Dazu, was davon in den Händen der Taliban gelandet ist, liegen Ihnen wie beim Vormarsch der Taliban – und wieder Zitat – „keine Informationen vor“. Dass es bis heute keinen Rüstungsexportstopp in die Region gibt, ist der reine Wahnsinn. Rüstungsexporte aus Deutschland nach Pakistan und nach Katar: Das ist unverantwortlich!
({12})
Während die USA Staatsbürger und Afghanen nach Katar ausfliegen, fliegt der Emir aus Katar den Talibanchef mit der Luftwaffe von Doha nach Kandahar. Verlogener geht es nicht, meine Damen und Herren.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht jetzt ganz klar darum, in den letzten Stunden so viele Menschen aus der Hölle Afghanistan auszufliegen, wie es irgendwie möglich ist.
({14})
Das bedeutet nicht, sich nur auf Kabul zu konzentrieren. Wie sollen denn die Ortskräfte und Lehrerinnen aus Kandahar oder aus Kunduz den Weg dahin schaffen? Wenn Heiko Maas jetzt sagt: „Die Zeit wird nicht ausreichen, alle auszufliegen, die wir ausfliegen wollen“, heißt das doch: Wir überlassen diese Menschen den mörderischen Taliban.
({15})
Wir brauchen jetzt uneingeschränkte Solidarität mit unseren Mitbürgern in Afghanistan und den Ortskräften, den Politikerinnen, Menschenrechtsaktivisten, Frauenrechtlerinnen usw.
({16})
Danach, meine Damen und Herren, brauchen wir Aufarbeitung und Konsequenzen, auch personelle. Die, die daran beteiligt waren, sollten nie wieder Mitglieder einer Bundesregierung sein.
({17})
Der nächste Bundestag muss per Untersuchungsausschuss dringend alles aufklären und aufarbeiten, schonungslos – ich freue mich, Rolf Mützenich –, schonungslos, Herr Wadephul; sehr damit einverstanden.
Aber Ihre Politik, Soldaten letztlich ohne Strategie in Einsätze zu schicken, ist gescheitert. Und lassen Sie uns endlich Schluss machen mit den blutigen Profiten aus Rüstungsexporten.
({18})
Sie kleben wie ein Schandfleck an unserem Land, meine Damen und Herren.
Herzlichen Dank.
({19})
Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Annalena Baerbock, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder aus Afghanistan der letzten Wochen waren und sind kaum auszuhalten. Viele von Ihnen, viele von uns, haben Anrufe von Menschen bekommen, die für ein deutsches Unternehmen dort arbeiten und sagen: „Ich bin hier mit meinen kleinen Kindern und ich komme einfach nicht mehr raus“, von Menschen, die jahrelang für deutsche Hilfsorganisationen gearbeitet haben und fragen: Was sollen wir denn jetzt noch machen? Verzweifelte Menschen am Flughafen, und zwischendurch hört man Schüsse und sieht rennende kleine Kinder. Nach der gestrigen Entscheidung der G 7 und Ihrer Ansage, Herr Außenminister – wir kriegen nicht mehr alle Menschen raus –, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass diese Bilder furchtbare Realität werden. Und ehrlich gesagt, verstehe ich da einige dieser Debattenbeiträge der Großen Koalition an dieser Stelle gar nicht – getragen von der Haltung: Irgendwie ist es ja doch nicht so schlimm gelaufen.
Was können Sie diesen Menschen sagen? Das sind deutsche Staatsangehörige, die mit der Ansage des deutschen Außenministers – wir kriegen nicht mehr alle raus –, jetzt in Afghanistan bleiben, mit kleinen Kindern. Das sind Frauenrechtlerinnen und Frauenrechtler, über die noch vor einer Woche gesagt wurde: Die holen wir da jetzt raus. – Die werden jetzt dort bleiben, weil Sie gesagt haben: In zwei Tagen ist dieser Evakuierungseinsatz zu Ende.
({0})
Wenn wir unserer Verantwortung hier als Deutscher Bundestag – wir diskutieren hier ja als Parlament – nur mit einem kleinsten Ansatz gerecht werden wollen, dann müssen wir dieses Desaster jetzt aufklären und dürfen es nicht schönreden.
({1})
Das sind wir nicht nur den afghanischen Ortskräften, das sind wir nicht nur den über 100 deutschen Staatsangehörigen, die nach wie vor dort sind, das sind wir nicht nur den Frauenrechtlerinnen und Frauenrechtlern schuldig, die sich auf das Versprechen der Bundesregierung verlassen haben: „Wir holen euch raus“, sondern auch den Soldatinnen und Soldaten, den Bundespolizisten, den Diplomaten und Hilfsorganisationen, die unter widrigsten Umständen in den letzten 20 Jahren und zum Teil unter Lebensgefahr alles dafür getan haben, um Menschen zu schützen, um das Land aufzubauen, um Infrastruktur aufzubauen, Bildung, Wasserversorgung, eine Zivilgesellschaft. All denjenigen sind wir jetzt schuldig, zu sagen, wo die Fehler gelegen haben.
({2})
Stellvertretend für alle hier will ich auch Herrn Hauptmann Marcus Grotian nennen. Er und viele andere haben in den letzten Wochen in Eigenregie versucht, weil Sie Ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden sind, Ortskräfte außer Landes zu holen.
Natürlich stimmen wir als Grüne diesem Mandat jetzt zu. Aber das bedeutet doch nicht, dass wir damit alles getan haben. Wenn wir diesem Mandat zustimmen, wenn wir sagen, Soldatinnen und Soldaten haben bis zuletzt alles getan, dann sollten wir den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr auch ganz genau zuhören. Denn Herr Grotian hat auch noch gesagt – und damit trifft er den Kern des Problems –:
Wir sind von der eigenen Regierung moralisch verletzt, und das ist beschämend.
Es unterstreicht, in welch außenpolitisches Desaster Sie als Bundesregierung in den letzten Wochen nicht nur die deutsche Bundeswehr, sondern die Menschen in Afghanistan, die sich auf unsere Hilfe verlassen haben, geführt haben.
({3})
Natürlich ist Außenpolitik, Frau Bundeskanzlerin – Sie haben Joschka Fischer zitiert –, nie einfach. Das ist ganz oft ein Dilemma. Es ist oftmals die Wahl zwischen Pest und Cholera. Und trotzdem bedeutet das dann: Man muss in Krisensituationen eine Entscheidung treffen. Und das bedeutet dann auch, dass wir, wenn eine Verteidigungsministerin hier sagt: „Ich habe Fehler gemacht“, dann doch auch sagen müssen: Was ist der Kern dieser Fehler gewesen?
Und der Kern dieser Fehler ist nicht gewesen, dass man sich in einem Dilemma entscheiden muss, sondern dass Sie als deutsche Bundesregierung –
({4})
und das bezieht den Außenminister, die Verteidigungsministerin, den Innenminister, aber eben auch das Kanzleramt und den Vizekanzler mit ein – politisch in den letzten Wochen, als man handeln musste, entschieden haben, dass innenpolitische Motive höher gewertet werden als unsere deutsche außenpolitische Verantwortung.
({5})
Warum sonst haben Sie Alarmsignale und Warnungen von deutschen Diplomaten vor Ort einfach weggewischt?
Noch am 23. Juni haben wir hier in diesem Haus mit unserem Antrag zum Gruppenverfahren für Ortskräfte darum geworben, dass diese Ortskräfte herausgeholt werden, weil ihr Leben bedroht ist. Und im April, als US-Präsident Biden den Abzug angekündigt hat, haben wir auch hier an dieser Stelle darüber gesprochen, dass natürlich der Lagebericht zu Afghanistan durch das SPD-geführte Außenministerium angepasst werden muss. – Herr Mützenich, das wissen Sie ganz genau.
({6})
Warum haben Sie das nicht getan? Man kann ja jede Entscheidung begründen. Aber dann muss man auch dazu stehen. Warum haben Sie das nicht getan? Weil Sie weiter nach Afghanistan abschieben wollten. Das gehört zur Ehrlichkeit der Debatte mit dazu.
({7})
Noch wenige Tage vor dem Fall Kabuls erklärte Horst Seehofer als Innenminister gegenüber der EU in einem Brief – das können Sie nachlesen –, dass man bitte weiter nach Afghanistan abschieben soll. Ebenso erklärte der Vizekanzler Olaf Scholz in einem Interview zu diesem Zeitpunkt, dass man an den Abschiebungen weiter festhalten wolle.
({8})
Noch letzte Woche haben Sie im Innenausschuss – letzte Woche im Innenausschuss! – erklärt, mit den Visa habe es eigentlich nicht so viele Probleme gegeben; man hätte die ja über IOM in anderen Ländern beantragen können. Entweder wussten Sie nicht, wie die Lage in Afghanistan war, oder Sie verschließen ganz bewusst Ihre Augen.
({9})
Sie haben die politische Entscheidung dafür getroffen, dass Visaverfahren kaum mehr möglich waren. Sprechen Sie doch mal mit den Ortskräften, die diese Visa beantragt haben! Sie hätten nach Pakistan ausreisen müssen, wohin man gar nicht mehr ausreisen konnte. Da kann man doch nicht sagen: Es war theoretisch möglich. – Nein, die Menschen waren in einer Falle.
({10})
Wenn wir jetzt daraus politisch Konsequenzen ziehen wollen – und das haben Sie ja alle gesagt: wir müssen das aufklären –, dann bedeutet das doch auch, dass man bereit ist, sich an einen Tisch zu setzen und sich ehrlich zu fragen: Was ist wo schiefgelaufen? Wer wusste was? Warum wurden die Informationen der Dienste nicht ausgewertet?
({11})
Deswegen braucht es einen Untersuchungsausschuss.
({12})
Liebe SPD, lieber Herr Mützenich, Sie sind ja lange genug im Parlament. Nach außen klingt das irgendwie gleich: Untersuchungsausschuss oder Enquete-Kommission. Aber jeder, der in diesem Parlament hier sitzt, weiß ganz genau, was der Unterschied ist: Bei dem einen kann man Zeugen einladen und die Bereitstellung von Akten beantragen, bei dem anderen werden Schlussfolgerungen für die Zukunft getroffen. Wie sollen wir denn Schlussfolgerungen für die Zukunft treffen, wenn wir nicht bereit sind, über Fehler der Vergangenheit zu reden? Wenn Sie aufklären wollen, dann stimmen Sie der Einrichtung eines Untersuchungsausschusses jetzt noch zu!
({13})
Da Sie jetzt schon im Außenministerium, Verteidigungsministerium und Kanzlerinamt damit anfangen, mit dem Finger aufeinander zu zeigen und darüber zu diskutieren, wer wie wo schuld ist, haben wir im Auswärtigen Ausschuss ein Löschmoratorium beantragt, damit Akten jetzt nicht gelöscht werden.
({14})
Wir haben ja schon mal erlebt, dass plötzlich die Akten verschwunden sind. Dass Sie von SPD und CDU/CSU dem nicht zugestimmt haben, sondern das abgelehnt haben, zeigt, dass Sie an Aufklärung nicht interessiert sind.
({15})
Natürlich rufen Sie jetzt rein: Ja, das ist jetzt Opposition!
({16})
– Nein! Wissen Sie was?
({17})
Wenn wir über Mädchen- und Frauenrechte reden, dann reicht es doch nicht, zu sagen: Die müssen wir irgendwie stärken.
({18})
Wenn wir die Berichte hören, dass Taliban jetzt wieder durch das Land ziehen, wenn wir hören, dass sie erst von den Familien in den Dörfern bekocht werden und dann 10- bis 70-Jährige vergewaltigen, dann können wir doch nicht sagen: Wir warten auf die nächste Bundesregierung, das nächste Parlament, und gucken dann mal, wie wir aufklären. – Nein, unsere Verantwortung ist, das hier gemeinsam in diesem Moment zu beschließen.
({19})
Das bedeutet auch, hier in diesem Moment alles zu tun, was wir tun können. Das bedeutet, jetzt einen Afghanistan-Gipfel einzuberufen, an dem alle NATO-Staaten und die Anrainerstaaten beteiligt sind,
({20})
damit wir über die Unterstützung im Land reden können, damit wir über die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen vor Ort reden können. Es bedeutet auch, in Zukunft eine aktive Außenpolitik zu betreiben und sich nicht immer wegzuducken.
Ich wundere mich wirklich sehr – bei allem Respekt –, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie hier nach 16 Jahren Amtszeit – 16 Jahre von 20 Jahren! – am Ende sagen: Ich habe ganz viele Fragen. – Auch diese Fragen wurden in diesem Deutschen Bundestag 16 Jahre lang immer wieder diskutiert:
({21})
Warum gibt es keinen politischen Prozess? Was passiert, wenn immer nur Aufstandsbekämpfung betrieben wird? Was passiert, wenn eine US-Regierung sich vor allen Dingen auf Terrorismusbekämpfung konzentriert und die Zivilgesellschaft nicht unterstützt wird? Was passiert, wenn die Korruption nicht bekämpft wird? – Wir haben immer wieder gefordert: Wir müssen das evaluieren.
({22})
Das haben Sie von der Unionsfraktion immer wieder abgelehnt. Das ist eines der Probleme, weswegen wir heute so dastehen.
({23})
Frau Kollegin Baerbock, einen Moment. Sie haben jetzt die gesamte Redezeit Ihrer Fraktion schon weit überschritten, und deswegen bitte ich Sie, zum Ende zu kommen.
Außenpolitik ist immer eine Abwägung zwischen Dilemmas; aber Außenpolitik bedeutet auch, in schwierigen Momenten zu handeln und nicht den Kopf in den Sand zu stecken. Das sind wir nicht nur den Menschenrechten, sondern auch der Sicherheit in unserem Land schuldig.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriela Heinrich, SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine bittere Erkenntnis muss heute ausgesprochen werden: Wir werden nicht alle Menschen aus Afghanistan evakuieren können, die wir evakuieren müssten. Wir haben es nicht geschafft, unserer Verantwortung gegenüber allen Gefährdeten gerecht zu werden. Deshalb muss und wird die Hilfe zur Ausreise für diese Menschen weitergehen.
In der deutschen Presse kommt in diesen Tagen oft die Frauenrechtsaktivistin und ehemalige – einzige – afghanische Bürgermeisterin Zarifa Ghafari eindrucksvoll zu Wort. Sie bestätigt, dass in den letzten 20 Jahren durchaus etwas erreicht wurde: in der Bildung, bei Frauenrechten, im Gesundheitswesen. Mir ist wichtig, dafür Danke zu sagen, Danke an alle Soldatinnen und Soldaten. Sie haben sich für die Bundesrepublik Deutschland und auch für die Menschen in Afghanistan in Gefahr begeben, und sie tun es noch heute.
({0})
Ich danke auch den Polizistinnen und Polizisten, den zahlreichen zivilen Kräften, die sich beim Auswärtigen Amt, bei der GIZ und in den NGOs für Afghanistan eingesetzt haben, und natürlich auch all den Afghaninnen und Afghanen, die diese Hoffnungen teilten und an ihrer Verwirklichung mitgearbeitet haben.
Zarifa Ghafari sagt auch, dass all das Erreichte nun umsonst gewesen sei. Sie erhebt schwere Vorwürfe gegen die internationale Gemeinschaft, die die Menschen in Afghanistan jetzt im Stich gelassen hat; denn die Taliban werden jetzt das meiste wieder zunichtemachen.
Das westliche Engagement war lange nicht so erfolgreich wie erhofft. Die Korruption hat viele Ansätze zerstört. Die afghanische Regierungsarmee, die Regierung und alle Strukturen waren nicht stabil genug, um die Taliban abzuwehren. Sie konnten in kürzester Zeit das Land übernehmen. Und die nächste bittere Wahrheit ist: Die internationale Gemeinschaft, deren Regierungen, die Nachrichtendienste, aber auch viele Afghaninnen und Afghanen – wie auch Zarifa Ghafari – waren völlig überrascht davon.
Die Bundesregierung hat die Versäumnisse mehrfach benannt. Leider wissen wir auch noch nicht wirklich, wie es weitergehen soll. Wie werden wir etwa humanitäre Hilfe ins Land bringen können? Ein Mindestmaß an Staatlichkeit und ein Flughafen wären die Voraussetzungen dafür. Es ist zum jetzigen Zeitpunkt unklar, ob die Taliban Staatlichkeit herstellen werden, ob sie es können. Und trotzdem ist es richtig, gerade jetzt die Gespräche mit den Taliban zu führen, um weiteren Menschen, um dem Land helfen zu können, weil es sonst nicht gehen wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle diese bitteren Wahrheiten dürfen wir nicht einfach so zu den Akten legen – es ist heute mehrfach darüber gesprochen worden –; denn eines ist jetzt tatsächlich zentral: Aufarbeitung, Analyse und geändertes Handeln müssen folgen. Wir müssen uns intensiv mit unseren Zielen bei Auslandseinsätzen und auch mit der Zielrichtung unserer Entwicklungspolitik auseinandersetzen. Die SPD fordert für die nächste Legislatur eine Enquete-Kommission. Diese soll eine Gesamtevaluierung des zivilen, polizeilichen und militärischen Engagements in Afghanistan vornehmen. Wir brauchen darüber hinaus eine Aufarbeitung, wie es zu den gravierenden Fehleinschätzungen kommen konnte.
({1})
Am Ende aller Aufarbeitung werden wir womöglich gemeinsam mit unseren Verbündeten Außenpolitik, Sicherheitspolitik und auch Entwicklungspolitik anders ausrichten müssen: unter Einhaltung unserer Werte, aber ausgerichtet an dem Machbaren.
Vielen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Rüdiger Lucassen, AfD.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir müssen hier mal klarziehen, um was es geht: Das Parlamentsbeteiligungsgesetz verlangt eine nachträgliche Zustimmung des Bundestages zu einer bereits laufenden Evakuierungsoperation. Trotzdem ist diese nachträgliche Mandatierung hauptsächlich Symbolik. Die Bundesregierung hat vor zehn Tagen Fallschirmjäger und das KSK nach Kabul geschickt und damit Fakten geschaffen. Selbst wenn die Mehrheit in diesem Haus die Zustimmung verweigern würde: Die Fakten sind geschaffen, und das Votum des Bundestages ändert daran nichts.
Die Regierung macht in dieser Symbolik jetzt aber etwas Unverschämtes: Sie sagt: Wer dem Mandat nicht zustimmt, lässt unsere Soldaten im Stich. – Das ist dieselbe Regierung, die noch im März für die Verlängerung der Endlosmission gestimmt hatte,
({0})
dieselbe Regierung, die die Talibanoffensive verschlafen hat, und dieselbe Regierung, die Warnungen der deutschen Botschaft ignorierte, dieselbe Regierung, die die Evakuierung deutscher Staatsbürger 48 Stunden zu spät startete, und dieselbe Regierung, die für dieses gigantische Versagen alle anderen in der Verantwortung sieht, nur nicht sich selbst.
({1})
Sehr geehrte Bundesregierung, es steht Ihnen nicht zu, hier und heute zu bestimmen, wer hinter unseren Soldaten steht und wer nicht.
Für meine Fraktion steht außer Frage, dass wir immer und überall die Rettung Deutscher aus großer Gefahr unterstützen werden. Im Falle Afghanistans betrifft das auch die registrierten Ortskräfte. Aber genauso, wie wir uns für die Sicherheit Deutschlands und Deutscher im Ausland verantwortlich fühlen, kämpfen wir für die Sicherheit Deutschlands selbst. Und da sehen wir, dass die Bundesregierung damit beginnt, ihren katastrophalen Kontrollverlust aus dem Jahr 2015 zu wiederholen.
({2})
Meine Damen und Herren, ich werde dem Mandat der Bundesregierung zustimmen. Mein Symbol ist die Rettung Deutscher aus großer Gefahr. Aber ich verstehe auch jene meiner Fraktionskolleginnen und Fraktionskollegen, die das Mandat ablehnen, weil sie darin bereits den Kern einer erneuten Flüchtlingswelle nach Deutschland und Europa sehen,
({3})
sie setzen das Symbol für die innere Sicherheit Deutschlands. Sicherheit Deutschlands und Rettung Deutscher – für beides steht die AfD.
Meine Damen und Herren im Koalitionsblock, Sie sind der Politik Ihrer Kanzlerin verpflichtet – wir nicht; wir folgen bei den Abstimmungen unserem Gewissen.
Danke.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Hardt, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch die CDU/CSU-Fraktion ist für Aufklärung der Sachverhalte, a) was in den letzten Wochen und Monaten geschehen ist und b) was dieser Einsatz für uns insgesamt bedeutet.
({0})
Frau Baerbock hat uns ja aufgefordert, dem Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zuzustimmen. Einen solchen Antrag gibt es nicht.
({1})
Ich finde es auch gut, dass es ihn nicht gibt; denn dieser Deutsche Bundestag wird ja in zwei Monaten durch einen neuen Deutschen Bundestag ersetzt werden.
({2})
Ich glaube, dass die Kolleginnen und Kollegen, die dann gewählt sind – dazu sollten dann die das Wort ergreifen, die tatsächlich am 26. September eine Stimme bekommen –, dann auch diese notwendigen Schritte unternehmen.
({3})
Wir im Auswärtigen Ausschuss haben uns in zwei Sondersitzungen mit der Situation befasst.
Herr Kollege Hardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja. Wer möchte sie stellen?
Bitte sehr.
Danke schön, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Herr Kollege Hardt, wenn Sie der Rede meiner Kollegin Baerbock zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass sie nicht gefordert hat, dass Sie jetzt der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zustimmen sollen, sondern sehr konkret – –
({0})
– Nein. Der Antrag liegt, wie Sie sagen, nicht vor, weil wir hier über die nächste Legislaturperiode sprechen.
Aber sehr konkret lag im Auswärtigen Ausschuss, dem Sie ja auch angehören, heute ein Antrag für ein Löschmoratorium vor. Wir wissen aus vergangenen Untersuchungsausschüssen, dass Dinge schnell vergessen werden oder verschwinden oder gelöscht werden. Und diesen Antrag hat Ihre Fraktion abgelehnt. Warum?
({1})
Liebe Frau Kollegin Brugger, ich stelle erstens fest, dass ich Frau Baerbock schon so verstanden habe. Aber mit der Klarstellung jetzt ist das ja dann auch geklärt.
Wir haben zweitens diesem Antrag heute nicht zustimmen können, weil wir doch den Schaufenstercharakter nicht so glücklich fanden.
({0})
Wir wissen, dass wir in Deutschland in Archivgesetzen und anderen Gesetzen klare Regelungen haben, damit so etwas natürlich nicht passiert. In diesem Augenblick sollten wir uns konkret der Frage widmen, wie wir jetzt diesen Einsatz gut über die Bühne bringen. Und dann wird genügend Zeit sein, ohne Schaum vor dem Mund auch die Fragen möglicher Fehler und Versäumnisse zu klären.
({1})
– Ich finde es total interessant, dass Sie, wenn ich auf die Frage Ihrer Kollegin antworte, mich ständig so unterbrechen, dass mich kaum einer verstehen kann; aber das ist jetzt meine persönliche Meinung.
({2})
Ich würde jetzt gerne im Text fortfahren. – Wir haben im Auswärtigen Ausschuss natürlich ein total schweres Herz angesichts dessen, was wir im Augenblick erfahren, und ich glaube, ich spreche für alle Kollegen – –
Herr Kollege Hardt, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Haßelmann?
Bitte schön, Frau Haßelmann.
Herr Hardt, Sie wollten ja nicht, dass ich einen Zwischenruf mache; deshalb vielen Dank, dass Sie meine Zwischenfrage akzeptieren.
Es ist ja nicht das erste Mal, dass eine Fraktion ein Löschmoratorium beantragt. Deshalb hat es uns heute so sehr verwundert, dass weder die SPD noch die CDU/CSU bereit war, einem solchen Löschmoratorium zuzustimmen. Wir haben das alle gemeinsam schon einmal, in einer anderen schwierigen Lage, im Deutschen Bundestag beschlossen. Also tun Sie doch jetzt bitte nicht so, als sei das etwas ganz Besonderes, etwas Extremes, etwas vom Himmel Gefallenes!
({0})
Viele der Kolleginnen und Kollegen erinnern sich daran, dass wir das zur Beweissicherung und zur Untermauerung des Aufklärungswillens schon einmal im Parlament gemacht haben, und zwar gemeinsam. Deshalb müssen Sie sich, wenn Sie überall sagen: „Wir werden das aufklären“, natürlich daran messen lassen, dass Sie heute dem Löschmoratorium nicht zugestimmt haben. Damit könnten wir Akten und Vorgänge sichern.
({1})
Das haben Sie heute abgelehnt. Warum?
({2})
Liebe Frau Kollegin, wir haben so abgestimmt, wie wir abgestimmt haben, weil wir davon überzeugt sind, dass die gesetzliche Grundlage in Deutschland, wie offizielle Stellen mit Akten umzugehen haben, völlig ausreicht,
({0})
um sicherzustellen, dass in Zukunft diese Sachverhalte aufgeklärt werden können, wenn entsprechender Bedarf ist. Deswegen sind wir der Meinung, dass man einen solchen Beschluss in diesem Zusammenhang nicht fassen muss. – Das wäre meine Antwort.
({1})
Wir im Auswärtigen Ausschuss sind tief betroffen von dem, was wir hören, und den Bildern, die wir ertragen müssen. Ich glaube für die Kolleginnen und Kollegen sind es die schwersten Stunden ihrer parlamentarischen Arbeit. Jeder von uns hat ja Anrufe und E-Mails bekommen von Angehörigen von Afghanen, die um Hilfe bitten. Man versucht, etwas zu bewegen; aber wir wissen alle, dass uns ein Stück weit die Hände gebunden sind, die Situation vor Ort von Deutschland aus zu entschärfen.
Die Amerikaner leiten die Evakuierungsmission in Kabul. Sie machen einen hervorragenden Job – 6 000 amerikanische Soldaten, die uns Deutschen bei diesem Einsatz helfen. Deutschland hat die erfolgreiche Luftbrücke nach Taschkent eingerichtet. Es ist der Heldenleistung der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz in Taschkent und natürlich auch in Kabul, aber auch in Deutschland in den Stäben zu verdanken, dass das so gut gelingt. Ich wünsche, dass sie alle heil – heil an Leib, aber auch an Seele – von diesem Einsatz zurückkommen. Es ist eine enorm herausfordernde Aufgabe.
({2})
Wir alle waren davon ausgegangen, dass die afghanische Regierung dem Druck der Taliban standhält.
({3})
Und wir haben feststellen müssen, dass Afghanistan in kürzester Zeit kampflos übergeben wurde. Wir haben zu Anfang die Frage gestellt: Warum kämpfen afghanische Soldaten nicht? Ich glaube, es ist auch interessant, die Frage zu klären, welche Rolle die Regierung gespielt hat, ob es nicht doch große Verbände der afghanischen Streitkräfte gegeben hat,
({4})
die bereit und in der Lage gewesen wären, zu kämpfen, die aber von der politischen Führung in Kabul daran gehindert wurden.
Deswegen bin ich dafür, dass wir uns der Frage widmen, warum denn die Mitglieder der afghanischen Regierung sehr schnell und komfortabel das Land verlassen haben, der ein oder andere möglicherweise auch mit Geld auf Konten oder in den Taschen.
({5})
Möglicherweise haben sie ja die Situation etwas anders eingeschätzt und vorhergesehen, als sie uns das haben weismachen wollen.
({6})
Deswegen bin ich auch dafür, dass es eine internationale Untersuchung zur der Frage gibt, welche Verantwortung die afghanische Regierung trägt.
({7})
Man ist schnell dabei, zu sagen, dass wir, der Westen, jetzt die Menschen in Afghanistan im Stich ließen. In erster Linie hat die afghanische Regierung die Menschen im Stich gelassen,
({8})
weil sie 20 Jahre lang das Land nicht auf Vordermann gebracht hat, sondern im Gegenteil das Land zur eigenen Bereicherung und zum Füllen der eigenen Taschen genutzt hat.
Ich finde die Angriffe gegen den Bundesnachrichtendienst und andere Dienste schwierig, weil wir feststellen müssen, dass es eine einheitliche Fehleinschätzung gegeben hat. Möglicherweise ist ja doch etwas dran an der Vermutung, dass hinter den Kulissen zwischen Regierung und Taliban Absprachen gelaufen sind, die diese Situation so haben kommen lassen.
Zum Thema Ortskräfte ist viel gesagt worden. Ich bin dafür, dass wir die Frage weiter beleuchten und untersuchen.
Zur aktuellen Evakuierungsmission möchte ich nur anmerken: Die Zahl der Personen, die jetzt zur Evakuierung anstehen, ist viel größer als die Zahl, von der wir noch vor wenigen Wochen ausgegangen sind, weil wir der Meinung waren, dass zum Beispiel die gesamte zivile Entwicklungshilfe weiterlaufen würde. Es haben viele Organisationen nicht daran gedacht, ihre Menschen jetzt zurückzuführen. Es hat im Übrigen auch einige Hunderte Deutsche, wenn nicht sogar Tausende Deutsche gegeben, die in den letzten Wochen und Monaten aus privaten Gründen nach Afghanistan gereist sind, weil auch sie die Lage so eingeschätzt haben, dass sie reisen können. Sie müssen jetzt leider zurückgeführt werden, was entsprechend schwierig ist.
Über die aktuelle Bewertung der Ereignisse hinaus sind aber folgende Fragen für uns von zentraler Bedeutung: Warum haben wir es geschafft, den Terror in Afghanistan wirksam zu bekämpfen, sind aber gescheitert bei der Herstellung von Resilienz des afghanischen Staatssystems gegen solche Übergriffe von Islamisten, in diesem Fall der Taliban? Warum hat es nicht geklappt, Regierung, Zivilgesellschaft, Militär usw. usf. den Rücken so zu stärken, dass sie widerstehen können? Diese Frage ist ganz entscheidend für die Bewertung unserer zukünftigen Auslandseinsätze; Mali ist schon genannt worden.
({9})
Deswegen bin ich dringend dafür, dass wir diese Frage im nächsten Deutschen Bundestag klären, und zwar in der Form, dass wir fragen: Was können wir aus Afghanistan für die Zukunft lernen, damit wir so etwas in zukünftigen Einsätzen vermeiden?
Herzlichen Dank.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Aydan Özoğuz, SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Debatte spiegelt die Realität in Afghanistan ja ganz richtig wider. Es ist bedrückend; es ist erschütternd. Während wir hier debattieren, zeigt sich einmal mehr, welch schwierige und wertvolle Arbeit unsere Soldatinnen und Soldaten und alle weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Flughafen in dieser gefährlichen Situation leisten. Ihnen allen gebührt unser aller Dank und unsere hohe Anerkennung für die professionelle Arbeit.
({0})
Der am Ende überstürzte Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan hat die Situation für die afghanische Bevölkerung überall im Land noch einmal verschärft. Bei unserer letzten Mandatsverlängerung hatten wir uns ja mehr Zeit eingeplant. Es ist anders gekommen, und darüber wird natürlich zu reden sein.
Aber ich möchte an dieser Stelle auch anmerken: Viele von uns telefonieren in diesen Tagen mit Afghaninnen und Afghanen und deren Angehörigen und auch mit Deutschen, die dort sind. Sie alle wurden von dieser Entwicklung überrascht. Niemand hat es kommen sehen, dass die Taliban wirklich so schnell in Kabul einmarschieren.
({1})
Deswegen finde ich es etwas wohlfeil, wenn man jetzt sagt: Na ja, wir haben es immer schon gewusst. – So ist es eben leider nicht. Wir hätten gerne den Menschen noch viel mehr Möglichkeiten geschaffen, dort rauszukommen.
({2})
Meine Heimatstadt Hamburg ist schnell vorangegangen, denjenigen, die jetzt aus dem Land gebracht werden können, einen sicheren Hafen anzubieten. Ich freue mich über jedes Bundesland, das im Moment Solidarität mit diesen Menschen in großer Not zeigt.
({3})
– Das ist ganz praktische Politik für die, die da sind.
Frau Kollegin Özoğuz, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich gestatte im Moment keine. – Wir müssen als internationale Gemeinschaft jetzt wirklich schnell dem UNHCR finanzielle Mittel zukommen lassen; denn wir haben es schon einmal versäumt, dies rechtzeitig zu tun. Wir müssen den Menschen helfen, die sich in den Ländern um Afghanistan herum aufhalten. Wir müssen ihnen wirklich helfen, dass sie dort ordentlich aufgenommen und untergebracht werden können und zu essen bekommen.
({0})
Es gibt jetzt wenig Spielraum für Verhandlungen; aber immerhin gibt es Gespräche in Doha und Kabul. Wenn die Taliban aus Doha nach Afghanistan zurückkehren, könnte es ja schwieriger werden. Wir müssen also die verbleibende Zeit nutzen. Dafür braucht es gemeinsame, klare Konditionen der internationalen Gemeinschaft, gerade gegenüber den Taliban.
Auch wenn die Taliban derzeit über finanzielle Mittel verfügen, wie es den Anschein hat, können wir davon ausgehen, dass Afghanistan auf eine humanitäre Katastrophe zusteuert, spätestens im kommenden Winter. Sie werden auf Hilfe angewiesen sein. Wir müssen versuchen, bei den Taliban genau an diesem Hebel anzusetzen. Wir müssen versuchen, zu retten, was zu retten ist.
Ich denke in diesen Tagen ganz besonders an Masar-i-Scharif und an Herat. In meiner letzten Rede hier hatte ich betont, wie viele studierte Frauen sich gerade dort befinden. Heute suchen sie nach Burkas, verstecken sich, zerreißen Fotos. Das ist alles wirklich erschütternd.
({1})
Wir dürfen auch nicht vergessen, dass das Durchschnittsalter in Afghanistan bei 18,4 Jahren liegt. Wir haben durch unser 20-jähriges Engagement einer Generation Zugang zu Bildung an Schulen und Universitäten und Zugang zum Gesundheitswesen gegeben. Wir haben humanitäre Hilfe geleistet. Die Hälfte der Bevölkerung kennt die Talibanherrschaft nicht; sie kennt sie nur aus Erzählungen. Ja, es gibt etwas zu verlieren in Afghanistan. Wir dürfen gerade in dieser Lage bei unseren Bemühungen, einige der Errungenschaften zu erhalten, eben nicht nachlassen.
({2})
Es gilt nun, in der nächsten Bundesregierung schonungslos aufzuarbeiten, was ist, und auch Lehren für künftige Auslandseinsätze der Bundeswehr zu ziehen. Das sind wir uns selbst, unserem Land und allen, die in Afghanistan im Einsatz gewesen sind, schuldig.
Vielen Dank.
({3})
Zu einer Zwischenbemerkung erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Diether Dehm.
Vielen Dank, Herr Bundestagspräsident, dass Sie die Zwischenbemerkung zulassen; ich mache es auch sehr kurz. – Wenn ich Ihre Rede so höre – diese Frage hätte ich auch an die Grünen –, dann hört sich das für mich fast so wie ein Plädoyer für die Verlängerung des Mandats an. Mein Eindruck ist, dass Ihr Bedauern sich nur auf einen falsch geführten Krieg, auf mangelnde empirische Grundlagen der Informationen, die die Geheimdienste geliefert haben, und vielleicht auf technisches Versagen richtet. War es nicht von Anfang an ein Fehler, zu glauben, dass man Terrorismus auf diese Weise mit Militär bekämpfen kann? War das nicht von Anfang an, seit 20 Jahren, ein Fehler, der übrigens viele Menschen, darunter auch mich, aus der SPD herausgetrieben hat?
({0})
Frau Kollegin Özoğuz, Sie können antworten. Sie haben das Wort.
Lieber Herr Kollege, ich weiß nicht ganz genau, wie man Terrorismus wirklich anders bekämpfen sollte. Aber ich möchte schon deutlich sagen: Nein, ich habe meine Worte nicht nur darauf bezogen. Ich habe tatsächlich die Hoffnung gehabt, dass wir mehr Monate Zeit gehabt hätten, geordneter aus Afghanistan rauszugehen. Ich habe tatsächlich die Hoffnung gehabt, dass die afghanische Regierung und das afghanische Militär standhalten. Das ist nicht so gewesen.
Aber Ihre Kollegin hat ja beispielsweise gesagt: Wir sollen die Leute dort rausholen, aber ohne Militär. – Was ist denn das für eine Vorstellung? Das ist doch völlig absurd und geht doch überhaupt nicht.
({0})
Ich glaube, dass Sie da wirklich einem Traum nachhängen, der sich nicht realisieren lässt.
({1})
– Ja, zivil. Aber wir brauchen doch den Schutz der Soldatinnen und Soldaten. Ich finde, ehrlich gesagt, dass Sie das, was dort geleistet wird, sehr schnell schlechtreden, dass Sie all den Soldatinnen und Soldaten dort das absprechen, was sie in den letzten Jahren geleistet haben.
({2})
– Doch, Sie sprechen immer von einem Kriegseinsatz. Die Soldatinnen und Soldaten haben dort die letzten Jahre die Menschen ausgebildet und eine gute Arbeit gemacht. Ich glaube, das sind diejenigen, die jetzt am allermeisten darunter leiden, dass das nicht funktioniert hat. Deswegen sollten wir das Ganze ordentlich aufklären und uns an dieser Stelle nicht bloß vorwerfen, dass das nicht gut funktioniert hat.
({3})
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Armin Hampel, AfD.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer an den Bildschirmen! Frau Bundeskanzler Hase – anders kann ich Sie nicht bezeichnen –, die Märchenstunde, die Sie uns heute hier geliefert haben, toppt alles, was Sie uns bis jetzt an anderen Märchen erzählt haben.
({0})
20 Jahre lang nichts gewusst, 20 Jahre lang haben Sie all die, die Afghanistan als Kenner beobachtet und begutachtet haben, vergessen. Nach 20 Jahren kommen Sie darauf, die Fragen zu stellen, die Ihnen seit 20 Jahren viele Experten in diesem Lande und anderswo schon längst hätten beantworten können und Sie zu den richtigen Rückschlüssen hätten bringen können.
({1})
Mit der Entscheidung der Amerikaner, den Gucci-Paschtunen Karzai auf dem Petersberg zu inthronisieren, fing es an, mit den gefälschten Wahlen, die mit gefälschten Wahlscheinen durchgeführt wurden, mit einem inthronisierten Parlament, das kein Afghane verstand; und mit einer Verfassung, die erst recht keiner verstehen konnte, ging es weiter.
Danach kam die Katastrophe, die meinen Freund Peter Scholl-Latour, als er mich damals mal im ARD-Studio in Kabul – ich glaube, es war 2006 – besuchte, zu den Worten veranlasste: Lieber Paul, das, was wir hier am Hindukusch inszeniert haben, wird in einer Tragödie enden. So Peter Scholl-Latour schon 2006, Frau Bundeskanzler, ein Mann, auf den viele Deutsche gehört haben. In diesem Hause wurde er oft belächelt und verlacht.
Um gleich noch eine andere Mär auszuräumen: Nicht nur die Regierungskoalition, sondern auch Sie von der FDP und den Grünen haben immer fröhlich mitgestimmt, obwohl es die Geschichten, die die Wahrheit über Afghanistan und den Zustand der Koalitionstruppen schilderten, längst gab.
({2})
Alle haben Sie mitgemacht.
Wir haben heute Morgen im Frühstücksfernsehen von dem Vorsitzenden des BundeswehrVerbandes gehört, dass wir nur noch eine Beobachterrolle haben und keine aktiven Player mehr sind. Herr Außenminister, wer in dieser Bundesrepublik Deutschland kein aktiver Player mehr ist und mit den anderen Nationen aufgrund der vielen Fehler, die er gemacht hat, nicht auf Augenhöhe verhandeln kann, kann aus Afghanistan nur eine Konsequenz ziehen und sofort seinen Rücktritt antreten. Alles andere ist in diesem Hause inakzeptabel!
({3})
Ein Herr Möllemann ist wegen der Werbung für einen Einkaufschip zurückgetreten, kann ich dazu nur bemerken.
({4})
Jetzt kommen Sie in Ihrem Antrag mit einer Mogelpackung, Frau Bundeskanzler, indem Sie uns weismachen, wir wollten nur ausgesuchte Personenkreise einreisen lassen. Nein, Sie sagen ganz konkret: Wir wollen designierte Personen inklusive besonders schutzbedürftiger afghanischer Zivilisten. – Der Außenminister hat uns heute ausgeführt: Alle, die in irgendeiner Form einmal mit Deutschland oder mit Deutschen zu tun hatten, sollen mit. – Das öffnet die Schleusen, meine Damen und Herren. Deswegen werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen, sondern uns enthalten. Einige verhalten sich anders – Respekt vor ihrer Haltung.
({5})
Das ist der Punkt, warum wir Ihren Antrag ablehnen: Sie wollen die Schleusen aufmachen. Sie sagen zwar groß: 2015 soll sich nicht wiederholen. – Aber Sie schaffen die Voraussetzungen dafür, dass es sich wiederholt. Sie wollen die Menschen in großer Zahl ganz bewusst nach Deutschland holen. Das, meine Damen und Herren, lehnt meine AfD-Fraktion ab.
({6})
Nicht noch mal 2015! Rettung für die, die da sind, in sichere Herkunftsländer, aber kein Schleuserprogramm nach Deutschland.
({7})
Herr Hampel, kommen Sie bitte zum Schluss.
Bringt die Leute in Sicherheit; das ist wichtig.
Danke schön, Frau Präsidentin.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Norbert Röttgen für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lage, die wir heute debattieren, ist so dramatisch, so ernst, dass wir uns ihr in Ernsthaftigkeit stellen müssen – kritisch, selbstkritisch. Ich möchte dazu sagen: Mir ist überhaupt nicht nach wahlkampfgeprägten Vorwürfen zumute, dafür ist die Lage viel zu ernst.
Zunächst einmal geht es heute darum, dass der Deutsche Bundestag darüber abstimmt, ob die Rettungsaktion der Soldatinnen und Soldaten die parlamentarische Zustimmung erhält. Wenn der Bundestag diese verweigern würde, müssten die Soldaten ihre Rettung sofort einstellen. Darum möchte ich mich an Herrn Bartsch wenden. Sie haben gesagt, Herr Bartsch, es gehe um die Rettung von Menschen, von Menschenleben; Sie haben dafür Glück und Erfolg gewünscht. Ich schließe daraus, dass Sie diesem Antrag doch noch zustimmen werden; denn sonst wäre es eine zutiefst unehrliche Rede gewesen. Wer hier nicht zustimmt, verweigert die Rettung von Leben, von Menschenleben.
({0})
Das ist ein moralisches Versagen, das Sie dann mit der AfD-Fraktion teilen. Überlegen Sie sich, wie Sie sich gegenüber Menschen verantwortlich verhalten.
({1})
Das ist die Konsequenz.
Wir haben hier 20 Jahre lang über die Einsätze der Bundeswehr entschieden und über den Sinn dieser Einsätze diskutiert. Ich muss sagen: Der Sinn der Bundeswehreinsätze in Afghanistan über 20 Jahre ist jetzt auf dramatische Weise klar geworden. Ob die Bundeswehr in Afghanistan ist oder nicht, ob die NATO in Afghanistan ist oder nicht, das macht exakt den Unterschied aus zwischen einem relativ freien und sicheren Leben der Afghanen in Afghanistan oder der Herrschaft der Taliban, meine Damen und Herren. Das ist der Unterschied, den die Bundeswehr und die NATO ausgemacht haben.
({2})
Und das ist der Sinn und die Legitimation des Einsatzes, dem wir zugestimmt haben.
({3})
Dass der amerikanische Präsident diesen Einsatz mit dieser Wirkung, der Verhinderung der Talibanherrschaft, ohne Not, ohne zwingenden Grund beendet hat, darin sehe ich das moralische und politische Versagen des Westens, das die Folge dieser Entscheidung war.
Kollege Röttgen, ich habe die Uhr angehalten. Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Hampel?
Nein, möchte ich nicht. – Das ist das Versagen:
({0})
dass wir den Schutz entzogen haben, den wir den Afghanen gegeben haben.
Darum, Frau Kollegin Baerbock, hätte es Format gehabt – ich komme gleich noch zur selbstkritischen Anmerkung –, wenn Sie sich als Vorsitzende Ihrer Partei und Kanzlerkandidatin hier an diesem Pult auch im Nachhinein mit den Folgen und der Bedeutung der Entscheidung der großen Mehrheit der Mitglieder Ihrer Fraktion beschäftigt hätten, der Verlängerung des Bundeswehreinsatzes nicht zuzustimmen. Es ist eine Entscheidung gewesen, die Sie getroffen haben, die auf der Linie des amerikanischen Präsidenten liegt, die nur vorher getroffen wurde und die genau diese Ereignisse zur Folge hatte, die wir jetzt beklagen.
({1})
Auch diese Verantwortung, die Sie durch die Entscheidung in Ihrer Fraktion haben, muss reflektiert werden.
Herr Kollege – –
Und genauso muss ausgesprochen werden, dass die Regierung eine Lageeinschätzung haben konnte, die sie mit allen anderen geteilt hat, dass es eher das gute Szenario gibt. Aber selbstverständlich hätte die Regierung sich auch mit dem schlechten Szenario beschäftigen und sich auf dieses Szenario anders vorbereiten müssen. Auch das muss ausgesprochen werden. Beide Seiten müssen, glaube ich, hier thematisiert werden.
Herr Kollege Röttgen, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Nouripour?
Ja, bitte.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. Herzlichen Dank, Kollege Röttgen. – Ich bin in den letzten Jahren einer derjenigen gewesen, die diesem Einsatz immer zugestimmt haben. Ich war sehr oft in Afghanistan, kenne dort sehr viele Leute, und ich kann die Landessprache. Wir haben über jede einzelne Verlängerung immer eine lange Diskussion miteinander geführt. Es gab eine Mehrheit in meiner Fraktion, die dem Einsatz nicht zugestimmt hat. Sie hat sehr klar und deutlich gesagt, dass sie zwar weiß, dass wir an die afghanische Bevölkerung, an unsere Freunde und vor allem an unsere Freundinnen in Afghanistan, ein Signal setzen müssen, dass wir auf ihrer Seite stehen, dass sie aber kein Vertrauen in diese Bundesregierung und ihre Art und Weise hat, durch diesen Einsatz zu führen.
Ganz ehrlich: Wenn ich mir die letzten zwei Wochen, die Untätigkeit dieser Bundesregierung der letzten Wochen und Monate und den Sonderweg anschaue – Frau Merkel hat gerade ja behauptet, dass es ihn nicht gebe –, auf dem Deutschland so viel an den Zahlen herumgewerkelt hat, bis es jetzt nur noch 2 500 Ortskräfte sein sollen – Herr Grotian sagt, allein bei der Bundeswehr seien es 8 000 –, dann muss ich sagen: Es gab in meiner parlamentarischen Karriere noch nie einen Moment, in dem ich dieses Misstrauen meiner Fraktion so gut verstanden habe. Es gab noch nie so viele Belege dafür, dass es richtig war, dass meine Fraktion dieser Regierung mehrheitlich nicht vertraut hat.
({0})
Herr Kollege Nouripour, wenn ich es richtig weiß, dann haben Sie dem Antrag der Bundesregierung zugestimmt.
({0})
Sie haben also anders abgestimmt als die Mehrheit Ihrer Fraktion, und Sie haben die Motive offensichtlich nicht geteilt. Dass die Opposition die Bundesregierung für ihre Politik in allen möglichen Bereichen kritisiert, ist der Sinn von Opposition. Insofern bin ich dankbar, dass Sie den Punkt herausgearbeitet haben.
Wir wissen es jetzt dramatisch besser als vorher – das räume ich ein –: Es ging in Bezug auf diese Mandate und die Frage, ob die Bundeswehr und die NATO in Afghanistan aktiv sein sollten, nicht in erster Linie um eine Kritik der Opposition an der Regierung
({1})
– ja, auch, aber nicht in erster Linie und nicht entscheidend –, sondern es ging darum, zu verhindern, dass das passiert, was jetzt Realität ist,
({2})
dass nämlich die brutale Talibanherrschaft wieder da ist, dass der Fanatismus regiert. Darum ging es. Deshalb haben Sie sich, Kollege Nouripour, anders entschieden als die Mehrheit Ihrer Fraktion. Es war eine richtige Entscheidung, und ich respektiere Sie sehr dafür. Dass Sie jetzt das Votum der Mehrheit rechtfertigen, spricht auch für Sie, aber es ändert nichts am Sachverhalt.
Zumindest im Nachhinein ist klar – und ich glaube, die Mehrheit hat es auch im Vorhinein schon so gesehen –: Es gab diesen legitimierenden, befriedenden Sinn unseres Einsatzes. – Die Katastrophe ist, dass er beendet wurde. Die Mehrheit der Grünen hat für die Beendigung gestimmt, und das ist die historische Wahrheit, mit der wir es zu tun haben.
({3})
Ich glaube, dass wir die großen, weitreichenden Konsequenzen dieser Katastrophe noch nicht ermessen können.
({4})
Die USA sind in ihrem außenpolitischen Anspruch, den ihre neue Administration mit sehr viel Erwartung und Hoffnung formuliert hat, beschädigt. Die USA und die Administration werden nicht mehr da anknüpfen können, wo es geendet hat.
Wir haben diese Art des Rückzugs der USA ja übereinstimmend für falsch gehalten – die meisten hier jedenfalls, die Mehrheit –, aber wir sind ihr gefolgt. Wir mussten ihr folgen, weil es keine europäischen Fähigkeiten gibt, unsere eigene Politik selber abzusichern. Wir haben erneut europäische Ohnmacht erlebt.
Wenn es eine Konsequenz gibt, mit der wir uns beschäftigen müssen, wenn es ein nationales Gebot gibt, Konsequenzen zu ziehen und aus dem Versagen, das wir erlebt haben, zu lernen, dann ist es Folgendes: Wir müssen die europäische Ohnmacht, wenn es um unsere Werte und unsere eigenen Interessen geht, beenden.
({5})
Wir dürfen uns dieser Ohnmacht nicht weiter hingeben, sondern wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir das, was wir politisch und außenpolitisch für richtig halten, auch verwirklichen können – und nicht nur in den Fällen, in denen wir mit den USA übereinstimmen, sondern auch in den Dissensfällen. Das ist die Lehre, die wir daraus ziehen müssen.
Kollege Röttgen, Sie sind sehr gefragt.
Das ist doch mal eine freundliche Feststellung in dieser Debatte. Vielen Dank, Frau Präsidentin.
({0})
Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Ernst?
Nein, möchte ich nicht.
({0})
– Ja, ja. – Es geht um die Frage, wie wir damit umgehen. Wir brauchen einen politischen Willen der Europäer.
Es werden in den nächsten Monaten nicht die EU-27 sein, aber wir müssen handeln. Also muss die deutsche Außenpolitik mit anderen Staaten zusammen aktiv werden, sofort etwas tun.
({1})
Was wir brauchen – auch das ist eine unausweichliche Debatte –, sind besser ausgestattete, überhaupt vorhandene militärische Fähigkeiten als Teile deutscher und europäischer Außenpolitik. Wenn wir nicht in der Lage sind, in Extremfällen, in Ausnahmefällen, unsere politischen Ziele – Frieden, Verständigung, Vernunft, Menschenrechte – auch militärisch abzusichern, dann werden wir diese Ziele nicht verwirklichen können. Auch mit dieser Realität müssen wir uns beschäftigen.
({2})
Eine letzte Bemerkung. Ich weiß nicht, wie viel wir in den nächsten fünf Wochen über die Fragen, wer wir in dieser chaotischen, gefährlichen Welt sein wollen, was wir bewirken wollen, was wir dafür einzusetzen bereit sind, diskutieren werden. Ich bin mir aber sicher: Alle diese Fragen werden uns in den nächsten Jahren begegnen, und wir können und sollten ihnen nicht ausweichen, sondern wir müssen sie im Sinne unseres deutschen Selbstverständnisses in Europa und in der Welt beantworten.
Kollege Röttgen.
Das ist unser nationales Interesse: selber zu bestimmen, wie wir unsere Werte und Interessen vertreten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Marco Bülow.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist schlimm, welche Bilder wir aus Afghanistan bekommen, die zeigen, wie die Situation dort ist, und es ist schlimm, dass wir erst jetzt dazu so diskutieren wie heute. Es ist schlimm, dass der Kern der Außenpolitik – Frieden und Sicherheit – gerade in diesem Zusammenhang heute so wenig erwähnt wurde und eigentlich auch nicht mehr praktiziert wird, vor allen Dingen, weil es hier um eine Doppelmoral und ein Dilemma geht.
Ich versuche, das noch mal zu skizzieren. Dabei muss man natürlich auf den Einmarsch zu sprechen kommen. Natürlich sind die Truppen nicht einmarschiert, weil es um Menschenrechte ging. Natürlich sind sie nicht einmarschiert – auch das nicht –, weil es um den Kampf gegen Terror ging; auch das war nur symbolisch. Wenn es nämlich darum gegangen wäre, dann hätte die internationale Gemeinschaft in viele Länder einmarschieren müssen; zumindest hätte man dann viele Länder, die eine menschenverachtende Politik betreiben, die diktatorisch sind und Frauen unterdrücken, erst recht drangsalieren müssen.
({0})
Was machen wir aber? Häufig liefern wir Waffen in diese Regionen und an diese Länder. Das ist eine Doppelmoral. Wenn wir darüber diskutieren, dann muss das zusammen diskutiert werden.
({1})
Ich war immer gegen den Einsatz in Afghanistan – genau aus diesen Gründen. Deswegen könnte ich es mir leicht machen. Leicht kann man es sich aber nicht machen, weil es natürlich eine 20-jährige Geschichte gibt, weil in diesen 20 Jahren, auch wenn es als Feigenblatt begonnen hat, natürlich Strukturen aufgebaut wurden und weil Menschen sich dort für andere Menschen eingesetzt und teilweise ihr Leben geopfert oder zumindest aufs Spiel gesetzt haben. Deswegen kann man heute natürlich nicht einfach darüber hinweggehen, wie die Situation jetzt ist, und wir müssen natürlich über das Jetzt und die nächsten Tage reden.
Deshalb fällt es mir auf der einen Seite schwer, dem Antrag zuzustimmen, weil ich damit natürlich auch die 20 Jahre rechtfertigen würde.
({2})
Auf der anderen Seite kann ich ihn nicht ablehnen, weil viele Menschenleben auf dem Spiel stehen und weil es sich natürlich gehört, die Ortskräfte dort rauszuholen.
Ich muss dann aber auch fragen: Was ist denn in den anderen Ländern? Wir reden jetzt über Afghanistan; hier ist die Aufmerksamkeit sehr groß. Aber was ist denn in den anderen Ländern? Meine Informationen lauten, dass es eigentlich gar keine Pläne gab, Ortskräfte herauszuholen, wenn es zu so einem Super-GAU kommt, wie es gerade in Afghanistan geschehen ist, auch wenn es länger gedauert hätte. Das heißt, wir sollten unseren Blick vielleicht auch mal auf die anderen Einsätze richten, die es noch gibt, und bitte nicht nur auf Afghanistan. Ich befürchte auch, dass, wenn die große Empörungswelle vorbei ist, der Blick nicht mehr auf Afghanistan und die Menschenrechtsverletzungen dort gerichtet wird.
({3})
Wir haben es ja schon gehört: Dann kommt als Argumentation, wir bräuchten mehr Geld für die Bundeswehr, die schon 50 Milliarden Euro bekommt, und wahrscheinlich werden dann irgendwann sogar Waffen an die Taliban geliefert. Das ist dann vielleicht das Ergebnis. Das kann es nicht sein.
({4})
Letzter Punkt. Es ist spannend, dass ausgerechnet Norbert Röttgen vor mir geredet hat. Was war das für ein Demokratieverständnis, das wir im Juni beim Antrag der Opposition hier erlebt haben? Sie sagten im Fernsehen: Ja, so ist unser politisches System. Anträge der Opposition werden abgelehnt, weil das Showanträge sind. – Auch heute haben wir das gehört.
Nein, Opposition ist wichtig, und sie hat das Recht und die Pflicht, Anträge zu stellen. Wer das negiert und sagt, unser politisches System sei anders gestrickt, der hat kein Demokratieverständnis.
({5})
Das Wort hat Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Situation in Afghanistan ist beschämend für die gesamte westliche Welt.
({0})
Auf dem ganzen Globus feiern Islamisten den Sieg der Taliban. Norbert Röttgen hat es eben erwähnt: Die Bilder, die uns im Moment aus Kabul erreichen, werden uns noch Jahre oder Jahrzehnte begleiten und uns vorgehalten werden.
Wir haben hier in der ganzen Debatte schon sehr viel über die Schuldfrage gesprochen. Ich möchte zu diesem Punkt sagen: An der ganzen Situation im Moment trägt die Bundeswehr keine Schuld. Die Bundeswehr hatte von der Politik einen Auftrag. Den Auftrag haben unsere Soldatinnen und Soldaten erfolgreich ausgeführt. Über 20 Jahre hinweg ging von Afghanistan keine Terrorgefahr mehr für die westliche Welt aus. Die Bundeswehr hat damit auch einer ganzen Generation von Afghaninnen und Afghanen die Chance auf ein Leben in mehr Frieden und Sicherheit geschenkt. Die afghanische Armee, die von der Bundeswehr ausgebildet wurde, hat seit 2015 die Sicherheitsverantwortung in dem Land innegehabt, und in den letzten fünf Jahren ist es gelungen, zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ein strategisches Patt herzustellen. So wurde das Fenster für eine politische Lösung geöffnet.
({1})
Zu dieser politischen Lösung ist es am Ende nicht gekommen. Die Entscheidung darüber ist nicht in Europa, ist nicht in Deutschland gefällt worden. Sie ist im Wesentlichen in den USA gefällt worden; die Bundeskanzlerin hat eben auch in ihrem Beitrag darauf hingewiesen.
Jetzt, wo der Einsatz zu Ende ist, kommt es wieder auf die Bundeswehr an. Sie hat wieder einen Auftrag, und sie erfüllt den Auftrag mit Bravour. Innerhalb von wenigen Tagen ist es der Bundeswehr gelungen, die größte Luftbrücke ihrer Geschichte zu installieren und zu betreiben. In Kabul hebt im Moment alle 10 Minuten ein Flugzeug ab. Über 4 000 Menschen wurden bereits gerettet.
({2})
Ich möchte an dieser Stelle unseren Soldatinnen und Soldaten für ihren gefährlichen und hervorragenden Einsatz auch im Namen meiner Fraktion danken. Ich möchte genauso allen Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes und der Bundespolizei danken, die rund um die Uhr arbeiten, um Menschen zu retten.
Das Bittere ist: Es ist eine Sisyphusarbeit. Die Liste derer, die zu retten, zu evakuieren sind, wird immer länger. Gleichzeitig wird die Zeit für die Luftbrücke immer kürzer.
({3})
Aber ich kann Ihnen zusagen, dass wir als Union dafür sorgen werden, dass wir uns dafür einsetzen werden, dass auch nach dem Ende der Luftbrücke eine Rettung weiterhin möglich sein wird. Sie wird aber deutlich schwieriger.
Die Entscheidung über das Ende der Luftbrücke wird wieder nicht in Deutschland und wird wieder nicht in Europa getroffen, sondern sie wird in den USA getroffen. Deswegen ist eine der offensichtlichen Lehren aus dem ganzen Afghanistan-Einsatz und insbesondere aus dem Ende des Afghanistan-Einsatzes für mich heute schon, dass wir in Deutschland und in Europa besser in der Lage sein müssen, unsere Sicherheitsinteressen souverän wahrzunehmen.
Zu unseren Sicherheitsinteressen gehört auch die Rettung von deutschen Staatsbürgern im Ausland und von deren unterstützenden Ortskräften. Es kann doch keine Dauersituation sein, dass dies nur möglich ist, wenn US-Soldaten gleichzeitig mit vor Ort sind. Wenn wir diese Souveränität in Deutschland und in Europa erreichen wollen, dann müssen wir gleichzeitig die Bundeswehr dazu befähigen, diesen Einsatz durchzuführen.
Dabei wird es jetzt gleich sehr konkret. Was passiert denn im Moment, gerade in dieser Stunde, in Afghanistan? Unsere KSK-Soldaten – Kommando Spezialkräfte – sind in Kabul unterwegs, zu Fuß, zum Teil in Hubschraubern, in Fahrzeugen. Sie werden während ihres Einsatzes von Drohnen aus der Luft beschützt, die uns die Amerikaner zur Verfügung stellen. Ohne diese Unterstützung aus der Luft könnten sie den Einsatz nicht durchführen. Die Bundeswehr bittet uns seit Jahren um genau diese Fähigkeit.
({4})
Und, lieber Herr Scholz, es sind genau diese Drohnen, deren Beschaffung Sie im Moment mit Ihrer linken SPD blockieren.
({5})
Die Verträge sind verhandelt. Die Vorlage liegt im Bundesfinanzministerium. Sie brauchen nur auf „Senden“ zu drücken, und wir beschließen es nächste Woche im Bundestag. Wir würden damit unsere Bundeswehr in die Lage versetzen, zumindest in Zukunft solche Evakuierungseinsätze in größerer Souveränität auszuführen.
({6})
Aber Sie tun es nicht. Ich vermute, Sie werden meinen Appell nicht zum Anlass nehmen, uns die Vorlage zuzuleiten, weil Sie gleichzeitig mit einer Koalition mit der Linkspartei liebäugeln.
Meine Damen und Herren, die Linken sind die größten Heuchler in diesem Parlament.
({7})
In jeder einzelnen Ausschusssitzung, die wir in den letzten Wochen hatten, kamen die Linken mit der Forderung auf uns zu: Die Bundeswehr muss Menschen retten.
({8})
In jeder Ausschusssitzung kommen Sie mit Namen von konkret gefährdeten Personen.
({9})
Es ist natürlich richtig, dass Sie Ihre Kontakte dorthin nutzen, um uns zu helfen, gefährdete Personen zu identifizieren. Gleichzeitig aber lehnen Sie heute den Einsatz der Bundeswehr ab. Das ist heuchlerisch.
({10})
Meine Damen und Herren, ich möchte kein Deutschland erleben, in dem Sie Regierungsverantwortung haben.
({11})
Ich möchte kein Deutschland erleben, in dem man politisch darüber diskutieren muss, ob man deutsche Staatsbürger im Ausland mit der Bundeswehr retten darf oder nicht.
Kollege Brandl, ich habe, wie Sie sehen, die Uhr angehalten und frage Sie, ob Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Korte zulassen.
Ich würde meinen Punkt zu Ende führen, und dann kann er eine Zwischenintervention machen.
Nein, so ist das nicht. Das Wort erteile immer noch ich und nicht der Redner.
({0})
Also, lassen Sie jetzt die Frage zu? Ihre Redezeit läuft demnächst ab, wie Sie sehen.
Ich will meine Redezeit maximal ausnutzen.
({0})
Sehr geehrter Herr Kollege, danke, dass Sie nach vielem Nachdenken die Zwischenfrage zulassen.
Ich möchte zunächst einmal feststellen, dass meine Fraktion sich heute überwiegend enthalten wird. Das ist etwas anderes, als mit Nein zu stimmen.
({0})
Zweitens. Jetzt will ich Sie, die ganzen Schlauberger hier, mal eines fragen:
({1})
Meinen Sie nicht, dass es in einer Situation wie heute, nach 20 Jahren Desaster, in denen Sie, Sie und Sie jedem Einsatz, jeder Verlängerung zugestimmt haben – Die Linke hat nicht ein Mal zugestimmt, wohl wissend, was abgeht –, an der Zeit für etwas Nachdenklichkeit wäre – die Bundeskanzlerin hatte ja so einen ganz leisen Hauch von Nachdenklichkeit –, gerade für Ihre Fraktion, die dieses Desaster politisch zu verantworten hat?
({2})
Vielleicht sollten Sie nicht ausgerechnet die Fraktion, die konsequent Nein zu diesem Krieg gesagt hat, hier anpissen.
({3})
Wissen Sie, wir haben heute in der ganzen Debatte sehr viel Nachdenklichkeit und Selbstkritik von meiner Fraktion, auch von mir persönlich, erlebt. Ich hätte mir nicht vorstellen können – ehrlich gesagt, schäme ich mich auch für die westliche Welt –, dass wir in so eine Situation geraten würden.
({0})
Aber bei den Linken müssen Sie eines natürlich sehen: Warum stimmen Sie denn heute nicht zu? Sie wollen doch den Einsatz der Bundeswehr. Sie wollen, dass Menschen gerettet werden. Sie stimmen nur aus einem einzigen Grund nicht zu: damit Sie im Wahlkampf Ihre Anti-Bundeswehr-Propaganda aufrechterhalten können,
({1})
damit Sie auftreten und sagen können, Sie hätten jeden einzelnen Einsatz der Bundeswehr abgelehnt. Um das nicht zu beflecken und um dieses Argument zu haben, stimmen Sie heute der Rettung von deutschen Staatsbürgern aus dem Ausland nicht zu.
Ich sage Ihnen: Auch ich gehe heute in meinen Wahlkreis zurück. Ich werde Wahlkampf machen. Ich werde dafür kämpfen, dass Rot-Rot-Grün in Deutschland nicht möglich sein wird.
({2})
Ich habe heute auch Folgendes als bedenklich empfunden: Die SPD, Herr Mützenich, hat zumindest das Verhalten der Linken kritisiert. Aber von Frau Baerbock ist in dieser ganzen heutigen Debatte kein einziger Satz zum Verhalten der Linken gekommen. Und wenn man in Deutschland mit der Option spielt, mit den Linken eine Regierung zu bilden, dann muss man Regierungsverantwortung auch ernst nehmen.
({3})
Und ernst nehmen würde heute heißen, zuzustimmen.
Ich bedanke mich bei allen, die heute Regierungsverantwortung ernst nehmen und diesem Mandat zustimmen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Siemtje Möller für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nachdem sich hier einige anscheinend eher im Wahlkampfzelt aufgehalten haben, komme ich jetzt zurück zur Debatte, die diesen Fokus verdient.
Vor nicht einmal einem halben Jahr stand ich hier vor Ihnen und habe von der Begegnung mit Shajillah Hadeed in der afghanischen Provinz Balch erzählt. Ich habe gesagt: Die Menschen in Afghanistan – sie zählen auf uns. – Seither hat sich alles in Afghanistan geändert: Die Taliban haben das Land erneut unterworfen. Die afghanische Regierung hat das Weite gesucht. Die internationale Gemeinschaft bringt Staatsbürgerinnen, Staatsbürger und Unterstützungskräfte in Sicherheit. Und für 40 Millionen Menschen in Afghanistan beginnen wieder Jahre der Dunkelheit.
Natürlich schallt auch mir immer wieder sowohl aus der Bevölkerung als auch von den Streitkräften die große W-Frage entgegen: Wofür war ich denn 18-mal in Afghanistan? Was haben wir dort die ganze Zeit gemacht? Was hatten wir da eigentlich verloren? Und jetzt übertreffen sich hochgestellte Politikerinnen und Politiker sowie die breite Öffentlichkeit darin, mit immer noch markigeren Vokabeln den gesamten 20 Jahre währenden Einsatz in Schutt und Asche zu reden.
({0})
Dem möchte ich entgegenhalten: 20 Jahre haben unsere Soldatinnen und Soldaten, die Polizei und die zivilen Kräfte einen, nein, den Unterschied gemacht. Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Uniform, die zum Teil versehrt nach Deutschland zurückgekehrt sind, Helferinnen und Helfer, Mitarbeitende der Entwicklungsdienste, private und freiwillige Initiativen, die Afghanistan zu einer besseren Zukunft verhelfen wollten – sie alle haben Großes geleistet. Wegen ihnen gab es in Afghanistan zumindest einen kleinen Teil Sicherheit.
({1})
Sie waren es, ihr wart es, auf die wir uns und die Menschen in Afghanistan sich immer verlassen konnten und die mit Herz und Hingabe und unter Eingehen von hohen persönlichen Risiken 20 Jahre dafür gesorgt haben, dass sich gesellschaftliches, politisches und wirtschaftliches Leben entwickeln konnte.
Shajillah Hadeed, die beeindruckende Frau, die ich getroffen habe – sie war sich dieser Wirkung sehr bewusst. Sie bat inständig darum, dass die internationale Präsenz verlängert würde. Und gerade jetzt, in dieser akuten Situation, in der die Taliban Afghanistan erneut erobert haben, zeigt sich doch, welchen Effekt auch die geringe militärische Präsenz hatte. Liebe Afghanistan-Veteranen, liebe Angehörige, durch Ihren Beitrag haben wir, hat die Bundesrepublik einen großen Anteil an diesem Effekt gehabt.
({2})
Condoleezza Rice hat in einem lesenswerten Artikel gesagt: „The Afghan people didn’t choose the Taliban.“ Shajillah Hadeed hatte sich auch nicht für die Taliban entschieden. Sie war zur Wahl gegangen, genauso wie Millionen andere Afghaninnen und Afghanen. Für sie, für alle die Menschen, denen wir über 20 Jahre ein anderes Leben als unter einer Schreckensherrschaft ermöglicht haben, für sie hat es sich gelohnt! Sie waren es wert, und sie werden diese Freiheit nicht vergessen.
({3})
Ihnen allen, den Einsatzkräften und gerade auch den sich aktuell im Einsatz befindlichen Kräften mit und ohne Uniform, bin ich in Gedanken eng verbunden, und Ihnen danke ich von Herzen. Auf Sie und Ihren treuen Dienst können wir stolz sein. Kommen Sie alle unversehrt an Leib und Seele zurück, und retten Sie weiterhin so viele wie irgend möglich. Ich weiß: Sie geben Ihr Bestes.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte stimmen Sie dem vorgelegten Mandat zu.
({4})
Das Wort hat der Kollege Henning Otte für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Genau darum geht es: um die Verabschiedung eines Mandates, um damit unseren Kräften, die Menschen retten, die politische Rückendeckung und die Rechtsgrundlage zu geben. Denn wir alle haben doch die Bilder aus Kabul vor Augen, wo sich Menschen in Sicherheit bringen, wo sie bereit sind, alles aufzugeben und zu hinterlassen aus Angst vor Rache und vor Vergeltung – Bilder, die wir nicht vergessen werden und die mich als Familienvater auch persönlich umtreiben.
Aber ich habe auch die Bilder von Nine Eleven nicht vergessen, damals, vor 20 Jahren in New York. Das war die Initialzündung, der Anlass für das Engagement in Afghanistan. Dazwischen, in diesen 20 Jahren, liegen viel Licht und Schatten: Licht bei der Zerschlagung von al-Qaida, der Terrorstrukturen unter Bin Laden. Das war der Kernauftrag des militärischen Einsatzes unserer Bundeswehr, und das ist erfolgreich gelungen.
Licht, das waren die erfolgreichen Leistungen unserer Soldatinnen und Soldaten, die sich mit Tapferkeit und mit Kampfkraft für unsere Bundeswehr im Einsatz, im Krieg für mehr Sicherheit eingebracht haben. Und heute, gerade auch heute, denke ich an die 59 gestorbenen und gefallenen Soldaten unserer Bundeswehr und an die Kameradinnen und Kameraden, die an Leib und Seele verwundet sind. Licht gab es auch deswegen, weil aufgrund dieses Einsatzes für viele Jahre ein normales Leben für junge Menschen und vor allem für Frauen möglich war.
Licht und Schatten, so heißt es, liegen oft beieinander. Ein Schatten, ein großer Schatten ist das Versagen der afghanischen Regierung und die Flucht des Präsidenten Ghani. Schatten, das ist das Versagen der afghanischen Armee, die am Ende weitestgehend widerstandslos die Verteidigung aufgegeben hatte. Und Schatten, das ist die Machtübernahme durch die Taliban, ein Tiefpunkt internationaler Bemühungen, eine Krise auch für die NATO.
Aber wir sehen auch die Bilder erfolgreicher Rettungen – die Rettung durch unsere Kräfte, durch unsere Bundeswehr. Das ist die größte Evakuierungsoperation in der Geschichte der Bundeswehr, mit den A400M-Flugzeugen aus Wunstorf, mit den Fallschirmjägern, mit den Spezialkräften und mit leichten Hubschraubern. Das ist modernstes Einsatzgerät, und das ist Einsatzbereitschaft. Für die finanzielle, personelle und materielle Ertüchtigung haben wir uns in der Union immer eingesetzt. Das war wichtig, damit solche Aufträge auch jetzt zur Rettung deutscher Staatsangehöriger durchgeführt werden können, meine Damen und Herren.
({0})
Es ist vollkommen richtig, wenn auch in diesem Zusammenhang dargestellt wird, dass wir für solche gefährlichen Einsätze bewaffnete Drohnen brauchen. Herr Mützenich, es war die SPD, die sich unter der Führung von Frau Esken nicht dazu durchringen konnte. Und Herr Scholz war es, der die Vorlage nicht zugeleitet hat. Wir müssen unseren Soldatinnen und Soldaten diese Geräte auch zur Verfügung stellen, wenn sie jetzt Menschen in gefährlichen Einsätzen dort retten wollen, wo es geht. Wir retten auch befreundete Staatsangehörige. Damit zeigen wir Bündnissolidarität. Wir stehen für dieses Bündnis ein. Deutschland ist ein verlässlicher Partner, meine Damen und Herren.
({1})
Man wundert sich: Wie auch der Einwurf des Kollegen Dehm wieder zeigt, schieben sich die Linken und die AfD die Bälle gegenseitig zu. Sie sitzen an den Rändern dieses Parlamentes, dort, wo man nicht Politik für die Menschen macht, die in der Mitte der Gesellschaft stehen. Mit den Anwürfen im Zusammenhang mit dem Satz von Peter Struck, die Sicherheit Deutschlands würde auch am Hindukusch verteidigt werden – was damals ein richtiger Satz war –, versuchen Sie wieder, die innere Demokratie zu gefährden. Sie gefährden mit Ihrem national isolierten Blick auch die Verteidigung Deutschlands. Wir müssen jetzt dafür kämpfen, dass wir eine starke Mehrheit in der Mitte bekommen. Wir kämpfen dafür, dass die Union wieder die Regierung stellt.
({2})
Diese Doppelmoral – „Um Gottes willen!“ wurde eben von den Linken reingerufen –, auch heute einem Mandat nicht zuzustimmen, das die Voraussetzung dafür ist, dass weitere Menschenleben gerettet werden, gehört nicht in dieses Parlament.
({3})
Es geht darum, dass wir deutlich machen: Am Anfang war es ein rot-grünes Mandat; jetzt stimmt die Fraktion der Grünen beim Mandat nicht mehr mit. Da geht Ihnen offensichtlich die Luft aus.
({4})
Man muss beharrlich dranbleiben, und man muss Verlässlichkeit zeigen.
Verlässlichkeit nicht gezeigt hat allerdings der ehemalige US-Präsident Trump, der einseitig mit den Taliban Gespräche aufgenommen hat. Es war ein Fehler der amerikanischen Regierung, sich zurückzuziehen,
({5})
bevor ein Friedensvertrag der Taliban mit der afghanischen Regierung unterschrieben worden ist. Wir hätten dort mehr erwartet, auch von der afghanischen Regierung, auch von der afghanischen Armee. Aber dies ist der Grund, warum wir jetzt dieses Chaos haben. An der Bundeswehr hat es jedenfalls nicht gelegen, meine Damen und Herren.
({6})
Wir geben unseren Soldatinnen und Soldaten Rückendeckung, und wir wünschen, dass diese Rettungsaktion, auch wenn sich das Fenster bald schließt, erfolgreich weitergeführt werden kann.
({7})
Wir brauchen – das sage ich abschließend – auch Mut für unsere Politik in Europa, eine abgestimmte Außen- und Sicherheitspolitik, als eine Säule der NATO. Wir müssen den Wertekanon der NATO wieder stärken, und wir müssen auch unsere Bundeswehr mit dem ausstatten, was notwendig ist. Es geht darum, mehr Frieden und mehr Freiheit zu generieren. Dafür müssen wir als Deutschland einstehen.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
({8})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Wir kommen heute zusammen, um über drei große Herausforderungen zu sprechen, die uns miteinander bewegt haben: die Coronapandemie – dazu müssen wir heute Beschlüsse fassen –, das furchtbare Geschehen in Afghanistan, über das wir eben so lange gesprochen haben, und natürlich auch und erneut und richtigerweise die Frage, wie wir mit der schlimmen Katastrophe umgehen und was wir tun im Hinblick auf die Hochwasserschäden, die weite Teile unseres Landes betroffen haben.
Die Bilder von den Zerstörungen – viele Bürgerinnen und Bürger haben sie gesehen – in Rheinland-Pfalz, in Nordrhein-Westfalen, in Bayern und auch zu einem kleinen Teil in Sachsen sind schlimm. Noch schlimmer sind die Zerstörungen, wenn man sie real vor Ort sieht. Schlimm ist, was wir an menschlichem Leid erfahren mussten. Viele sind gestorben. Und das Leid der Angehörigen, die ihre Liebsten verloren haben – das muss gesagt werden –, können wir nicht lindern, und wir können auch nicht trösten.
Für uns ist aber wichtig, dass wir jetzt und an dieser Stelle tun, was wir tun können, nämlich Solidarität zeigen, dafür sorgen, dass denjenigen geholfen wird, denen jetzt geholfen werden kann, denjenigen, deren Häuser zerstört worden sind, den Gemeinden, den Landkreisen, den Ländern, die große Zerstörungen an der Infrastruktur zu beklagen haben und beheben müssen. Wir müssen alles dafür tun und die entsprechenden finanziellen Mittel einsetzen, damit wieder aufgebaut werden kann, was zerstört worden ist. Genau das beraten wir heute.
({0})
Mit der Soforthilfe, die der Bund mit den Ländern vereinbart hat, ist schnell gehandelt worden. Jetzt geht es um den Wiederaufbau all dessen, was zerstört worden ist. 30 Milliarden Euro werden dafür zur Verfügung gestellt: vermutlich 2 Milliarden Euro für die Infrastruktur des Bundes, 28 Milliarden Euro für all die anderen Zerstörungen, über die ich eben gesprochen habe. Ich finde, es ist ein ganz beeindruckendes Zeichen der Solidarität, das wir hier gemeinsam als gesamter Staat setzen, weil wir sagen: Das ist nicht alleine eine Angelegenheit all jener, die jetzt mit dieser Herausforderung zu kämpfen haben. Das ist eine Angelegenheit des ganzen Landes, und wir stehen an dieser Stelle zusammen.
({1})
Es ist auch bewegend, zu sehen, wie viel Solidarität von vielen gezeigt worden ist, die unmittelbar vor Ort geholfen haben, von der Feuerwehr, vom Technischen Hilfswerk, der Bundeswehr, die einen großen Einsatz gezeigt hat, aber selbstverständlich auch von vielen Bürgerinnen und Bürgern, die einfach vor Ort waren und versucht haben, irgendwie zu helfen. Dass wir dieses große und starke Zeichen der Solidarität sehen, ist auch eine ermutigende Botschaft für die Zukunft unseres Landes; denn es ist eben doch anders, als manchmal gesagt wird: Wir sind zur Solidarität, wir sind zum Gemeinsinn und wir sind zum Miteinander fähig und willens. Das zeigen die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes bei der Bekämpfung dieser Katastrophe.
({2})
Wenn wir diese Katastrophe jetzt aufarbeiten, wenn wir dafür Sorge tragen, dass wir all das tun, was notwendig ist, damit Zerstörtes wieder instand gesetzt werden kann, dann müssen wir natürlich auch darüber diskutieren, was das für uns ansonsten bedeutet. Denn eins ist ganz klar: Diese Katastrophe, dieses Unwetter, dieses Starkwetterereignis, dieses Hochwasser – das ist auch eine Folge des menschengemachten Klimawandels,
({3})
und es kann an dieser Stelle nicht zur Tagesordnung übergegangen werden. Wir müssen den menschengemachten Klimawandel bekämpfen.
({4})
Das ist eine globale Herausforderung, und deshalb werden wir weltweit zusammenarbeiten müssen.
Ich bin sehr froh darüber, dass das Bundeskabinett heute ein Zeichen gesetzt hat, indem es gesagt hat: Wir wollen diese Zusammenarbeit stärken, indem wir alle einladen, an einem Klimaklub teilzuhaben, in dem wir gemeinsam unsere Anstrengungen verstärken, dass wir diesen menschengemachten Klimawandel aufhalten können. Aber wir werden es auch mit unserer Politik hierzulande hinkriegen müssen, indem wir dafür sorgen, dass investiert wird, dass wir den Ausbau der erneuerbaren Energien mit dramatischem Tempo vorantreiben, dass wir mehr Windkraft auf hoher See, an Land und mehr Solarenergie bekommen, ein leistungsfähigeres Stromnetz, damit es klappen kann mit einer klimaneutralen Wirtschaft in Deutschland.
({5})
Und wir müssen gleichzeitig all denjenigen helfen, die sich auf solche Wetterereignisse vorbereiten.
({6})
Denn das gehört ja auch zur Wirklichkeit dazu: Es ist notwendig, dass wir bei den nächsten Katastrophen diese Zerstörungen verhindern. Deshalb müssen wir beim Wiederaufbau der Infrastruktur und bei all unserer Bautätigkeit Vorsorge dafür treffen, dass die Infrastrukturen, dass die Häuser, die Fabriken, dass alle auf ein solches Ereignis vorbereitet sind. Wir müssen dafür Vorkehrungen treffen; auch das ist Aufgabe der Politik der nächsten Jahre.
({7})
Gleichzeitig müssen wir natürlich alles dafür tun, unser Land so zu modernisieren, dass wir mit den Warninfrastrukturen, mit der Digitalisierung so weit vorbereitet sind, dass Katastrophenschutz besser gelingt, als wir das jetzt an der einen oder anderen Stelle leider beobachten mussten. Deshalb ist das auch die Mahnung: Wir werden investieren müssen in modernsten Katastrophenschutz. Wir müssen unsere Einrichtungen unterstützen, das THW, und nicht nur das. Wir müssen auch dafür sorgen, dass mithilfe der Warnmöglichkeiten alles dafür getan wird, dass Bürgerinnen und Bürger so schnell wie möglich geschützt werden können. Das ist auch eine der Lehren aus dieser Situation.
({8})
Ich bin sehr dankbar dafür – das will ich ausdrücklich sagen –, dass wir hier zum gemeinsamen Handeln zusammengefunden haben. Ich bin dankbar dafür, dass die Bundesregierung schnell und gemeinsam gehandelt hat. Ich bin sehr dankbar dafür, dass der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit – so sieht es ja aus – die notwendigen Maßnahmen unterstützen wird, die jetzt erforderlich sind. Und ich bin all denjenigen dankbar, die dafür Sorge tragen, dass wir auch in einer Zeit, in der viele, die in der Politik tätig sind, ganz andere Dinge im Kopf haben, die was mit dem 26. September zu tun haben, in der Lage sind, hier über Parteien hinweg und als Regierung gemeinsam zu handeln und das Notwendige auf den Weg zu bringen. Das sieht man ja auch an der Art der Beratung hier im Haus.
({9})
Ich möchte zum Schluss Dank sagen, Dank all denjenigen, die sich eingesetzt haben vor Ort, die tage- und nächtelang um das Leben vieler Bürgerinnen und Bürger gekämpft haben, Dank all den Hilfsorganisationen und der Bundeswehr, Dank denjenigen, die in den Verwaltungen alles dafür getan haben, mit Not- und Krisenstäben dafür zu sorgen, dass das Richtige getan wird. Und ich danke den Bürgerinnen und Bürgern für die Solidarität, die sie gezeigt haben. Das ist die Kraft, die wir auch für die Zukunft brauchen.
Schönen Dank.
({10})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Frau Bundeskanzlerin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die letzten Wochen und Monate der Regierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel versinken in einer Abfolge von Krisen, die durch Fehlentscheidungen, Nichthandeln und Regierungsversagen gekennzeichnet sind.
Die Juli-Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen ist in den Schlagzeilen wieder in den Hintergrund gerückt. Aber noch immer stehen am Rhein und im Ahrtal Menschen vor den Trümmern ihrer Häuser und ihrer Existenz, fehlt es in vielen Ortschaften an der notwendigen Unterstützung, liegt unverzichtbare Infrastruktur noch immer in Trümmern. Und es sind mehr als 180 Menschen in den Fluten und an ihren Folgen gestorben – Opfer eines Wetterereignisses mit sintflutartigem Starkregen, wie es die betroffenen Regionen seit Jahrhunderten immer wieder heimsucht, aber auch – und das muss rückhaltlos aufgeklärt werden – Opfer unzulänglichen Katastrophenschutzes und staatlichen Versagens, unterbliebener Vorkehrungen und verspäteter Warnungen.
({0})
Der Versuch, das Leid der Menschen in den Hochwassergebieten für die Forcierung des Klimaschutzdirigismus zu instrumentalisieren, ist ein besonders schäbiges Ablenkungsmanöver von eigener Ignoranz und Inkompetenz.
({1})
Wir diskutieren und beschließen heute über die finanzielle Seite des Wiederaufbaus. Sechs Wochen nach dem verheerenden Hochwasser ist das mehr als überfällig. Wir hätten schon längst darüber sprechen können, hätten sich die übrigen Fraktionen in diesem Haus gleich der Forderung unserer AfD-Fraktion angeschlossen, eine Sondersitzung zu beantragen, statt wieder einmal kleinkarierte, parteitaktische Ausgrenzungsspielchen über die Verantwortung für das Wohl der Bürger zu setzen.
({2})
Aber zu diesem Zeitpunkt – das muss man auch ganz klar sagen – stand der Kanzlerkandidat der CDU, Armin Laschet, noch kichernd im Katastrophengebiet. Vielleicht wollten Sie auch deshalb die Sondersitzung nicht.
({3})
Die Fehler und Versäumnisse, die Fälle von Staats- und Behördenversagen und die strukturellen Mängel, die diese Hochwasserkatastrophe ans Licht gebracht hat, dürfen nicht unter den Tisch gekehrt werden. Geld ausgeben und sich dafür auf die Schulter klopfen ist leicht. Die Bürger erwarten aber zu Recht Antworten, die sie bis heute nicht erhalten haben.
Sowohl deutsche Wetterdienste als auch das europäische Flutalarmsystem haben Tage vor der Katastrophe gewarnt. Warum wurden die Warnungen nicht rechtzeitig weitergegeben, damit die Menschen sich und ihr Eigentum in Sicherheit bringen konnten? Das Debakel des nationalen Warntages vor einem Jahr hat offenbar zu keinen Konsequenzen geführt. Sirenen, die stumm bleiben oder gar nicht da sind, Alarmsysteme, die nicht funktionieren: Das ist ein Skandal und beschreibt sinnbildlich den Zustand dieses Landes unter Ihrer Führung.
({4})
Und wozu brauchen wir den teuersten öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Welt, wenn der in der Stunde der Katastrophe nicht mal Alarmdurchsagen fertigbringt? Automatisierte SMS-Warnungen über die Mobilfunkanbieter stehen jetzt im Gesetzentwurf. In anderen Ländern sind sie längst Standard – warum nicht bei uns? An Coronaquarantänewarnungen bei Grenzübertritt haben Sie gedacht, an den Katastrophenschutz nicht.
({5})
Dazu kommen Ausrüstungs- und Organisationsdefizite und Personalmangel bei Zivil- und Katastrophenschutz. Hochwasserbetroffene wurden tagelang im Stich gelassen. Katastrophenschutz auf dem Niveau eines Entwicklungslandes ist eines Industrielandes vom Range Deutschlands unwürdig.
({6})
Es stimmt: Katastrophenschutz ist im Wesentlichen Länderaufgabe, in Rheinland-Pfalz übrigens seit zehn Jahren in der Hand einer grünen Ministerin. Das Staats- und Behördenversagen in der Flutkatastrophe offenbart aber ein grundsätzliches Problem aller politischen Ebenen.
({7})
In Deutschland ist der Staat stark beim Gängeln und Bevormunden der Bürger, beim Eintreiben und Verteilen von Steuergeldern; aber er ist schwach, wenn es um die Erfüllung seiner Kernkompetenzen geht – die Gewährleistung von Ordnung, Recht, innerer und äußerer Sicherheit – und bei der Abwehr konkreter Gefahren.
Wer das Weltklima in 50 Jahren retten und andere Länder über Kohle- und Atomausstieg belehren will, aber im eigenen Land nicht mal Warnsirenen zum Laufen bringt, der macht sich lächerlich.
({8})
Und wer den Bürgern weismachen will, Steuererhöhungen und Industriestilllegungen für das Klima könnten künftig Starkregen und regionales Extremwetter verhindern, spielt absichtlich falsch.
Wir müssen deshalb die Politik auf den Boden der Realität zurückbringen. Statt die ganze Welt zu beglücken, müssen wir erst einmal Deutschland wieder in Ordnung bringen und uns auf die konkreten Aufgaben und realen Gefahren konzentrieren. In Sachen Hochwasser- und Katastrophenschutz heißt das zum Beispiel: veraltete Abwassersysteme und Kanalisationen besser für Starkregen auslegen, Bebauungspläne anpassen, Rückhaltebecken und Überlaufflächen schaffen, Schutzbauten und Infrastruktur ertüchtigen und ausbauen und Alarmsysteme modernisieren, laufend überprüfen und funktionsfähig halten. Das ist natürlich mühseliger und weniger spektakulär, als große Reden über Klimaschutz und die Rettung des Planeten zu halten, aber es ist das, wofür die Politiker von den Bürgern gewählt und bezahlt werden: mit aller Kraft dem Wohl des Landes und seiner Bevölkerung dienen.
({9})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Flut vom 14. und 15. Juli hat unser Land schwer getroffen. Sie ist für die Bundesländer Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen eine Jahrhundertkatastrophe. Mehr als 180 Menschen haben in Deutschland ihr Leben verloren, und sie hinterlassen Familien und Freunde, einige auch kleine Kinder.
Wir sind in Gedanken zuallererst bei den Opfern der Katastrophe und ihren Angehörigen. Aber wir müssen auch an die denken, die zwar überlebt haben, aber die ihre gesamte Lebenserinnerung verloren haben. Eine Frau hat mich in ein Haus geführt – es war ein einziger Trümmerhaufen – und gesagt: Das war, nachdem mein Mann vor zwei Jahren gestorben war, das Letzte, was ich noch hatte: meine Wohnung, die Möbelstücke, das Familienalbum als Erinnerung – alles weg. – Ein Großteil des Elends in diesen Tagen spielt sich auch hinter den Mauern der vielleicht nicht zerstörten Häuser ab, wo man Freunde und andere im direkten Umfeld verloren hat. Das alles lässt sich nicht wieder heilen, auch nicht mit vielen Milliarden.
Die Verantwortung von Bund und Ländern ist es, zu tun, was wir tun können. Das heißt, wir müssen denen helfen, die durch die Flut vor den Trümmern ihrer wirtschaftlichen Existenz stehen. Wir haben deshalb direkt nach der Hochwasserkatastrophe gesagt: Jeder Einzelne wird beim Wiederaufbau, beim Neuanfang auf die Solidarität unserer Gesellschaft zählen können, und wir tun alles dafür, dass jede Stadt, jedes Dorf wiedererstehen kann. – Dieses Versprechen halten wir heute gemeinsam ein.
({0})
Deshalb haben wir in Nordrhein-Westfalen gleich in den ersten Tagen mit der Auszahlung der Soforthilfe begonnen. Auch das muss unbürokratisch sein. Auf dem Formular stehen der Name, der Schadensort und die Kontonummer, eidesstattlich versichert, dass alles stimmt. Keine langen bürokratischen Verfahren; denn der, der nichts mehr hat, der vielleicht nicht mal mehr eine EC-Karte hat, braucht Bargeld, braucht schnelle Unterstützung. Und so sind in wenigen Wochen 185 Millionen Euro an die Bürgerinnen und Bürger ausgezahlt worden, 65 Millionen Euro an die Kommunen und 26 Millionen Euro an Unternehmen.
Und die Unternehmen trifft es doppelt. Das eine ist: Das Unternehmen, kleiner mittelständischer Betrieb, ist zerstört; es hat Abnehmer, für die es ein Spezialprodukt herstellt, es ist vielleicht das einzige, das das kann. Da wird der Abnehmer sagen: Ja, ich muss mir jetzt das Produkt woanders besorgen. – Die erste Sorge des Unternehmens ist dann: Kommt der Abnehmer denn danach wieder zurück? Und ist dieser Betrieb in dieser Region danach noch wettbewerbsfähig? – Das Zweite ist: Gleichzeitig sind die Mitarbeiter des Betriebs hart getroffen; denn sie sind diejenigen, deren private Häuser zerstört worden sind.
Insofern brauchen wir Antworten. Wir brauchen Antworten für die Unternehmen: Die Insolvenzantragspflicht muss ausgesetzt werden, damit die betroffenen Unternehmen in dieser Zeit nicht auch noch Insolvenz anmelden müssen. Die Zeit bis Oktober war uns dafür etwas zu kurz. Deshalb haben wir mit der Bundestagsfraktion gemeinsam den Vorschlag entwickelt, sie bis in das nächste Jahr hinein auszusetzen. Entscheidend ist, dass das Geld jetzt schnell ankommt.
Deshalb danke ich dem Deutschen Bundestag für diese Sondersitzung, die es ermöglicht, dass dieser Gesetzentwurf am 7. September hier endgültig verabschiedet werden kann. Gemeinsam mit Malu Dreyer habe ich eine Sondersitzung des Bundesrates beantragt. Dieser kommt am 10. September auch extra deswegen zusammen, und dann sind auch wir mit einem Nachtragshaushalt, den der Landtag in Kürze beschließen wird, vorbereitet, sodass das Geld unmittelbar nach der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt bei den Menschen ankommen wird.
({1})
Entscheidend ist darüber hinaus – auch da ein Dank an den Bund dafür, dass wir das gemeinsam hingekriegt haben –, dass derjenige, der jetzt schon anfängt, es nachher verrechnen kann und es ihm nicht zum Nachteil wird, wenn er jetzt schon aktiv wird.
Entscheidend ist außerdem, dass gleichzeitig die Tonnen und Berge von Müll schnell beseitigt werden, damit der Wiederaufbau vorangehen kann. Auch da ist wieder die Solidarität aller Länder wichtig. Es hat mich am Tag nach der Katastrophe besonders beeindruckt, dass aus allen anderen 14 Ländern das Signal kam: Wir machen da mit; wir tragen es mit. – Am schnellsten kam dieses Signal übrigens aus den ostdeutschen Ländern.
({2})
– Das ist ein ostdeutsches Land; aber es gibt auch noch andere ostdeutsche Länder, die die Zusage gemacht haben, die selbst eine Flut erlitten haben. – Insofern ist es ein großes Signal der Einheit in Deutschland, dass die, die wissen, was Flut bedeutet, jetzt im Westen helfen: also eine Hilfe von Ost nach West – ein wunderschönes Signal.
({3})
Das, was wir heute beschließen, ist eine gigantische Summe – 30 Milliarden Euro –, die über die Jahre abgezahlt wird. Aber, ich glaube, es ist auch ein Signal gesamtgesellschaftlicher Solidarität und des Zusammenhalts. Deshalb, Frau Weidel: Ich weiß nicht, warum es Ihnen selbst bei einem solchen Thema nicht gelingt, mal sechs Minuten ohne Ressentiments zu sprechen,
({4})
zum Beispiel gegen die Bundeskanzlerin. Es muss doch möglich sein. Sie haben doch den ganzen Tag Zeit dafür, gegen die Bundeskanzlerin, gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, gegen den Staat als solchen zu wettern. Sie erwecken den Eindruck, als wenn dieses Land gespalten wäre.
({5})
– Er sagt auch noch: Es ist es auch! – Ich lade Sie einmal ein, in die Region zu kommen
({6})
und zu sehen, wie viel Solidarität, wie viel Engagement es da gab. Es stimmt nicht, dass unser Land gespalten ist; es stimmt nicht!
({7})
Herr Ministerpräsident.
Nein, nein. Wir haben es ja gehört. Wer es sechs Minuten nicht schafft, keine Ressentiments zu äußern, schafft das auch in einer Zwischenfrage nicht; nein.
({0})
Wir haben das doch erlebt: Leute sind losgefahren, Landwirte, mit Generatoren und Traktoren, Leute aus der ganzen Republik, die nicht danach gefragt haben, ob sie die Spritkosten erstattet bekommen oder nicht, die sich freigenommen haben, Urlaub genommen haben, um da zu helfen. Das ist das, was in unserer Gesellschaft lebendig ist. Es ist nicht Ihre Tonlage,
({1})
sondern das Engagement für die Mitmenschen. Und deshalb ist das eine gute Zeit.
({2})
Das gilt übrigens auch für die Helfer des Technischen Hilfswerks, meistens Leute, die einen Beruf haben, die sich eine Uniform anziehen, die in den Dienst gehen und dafür freigestellt werden,
({3})
und für Soldatinnen und Soldaten, die in diesen Tagen international gefragt sind, die bei der Coronapandemie geholfen haben. Hunderte und Tausende Soldatinnen und Soldaten waren und sind immer noch da und haben auch bei den großen Aufräumarbeiten, bei dem Freiräumen der Wege mit ihrem Material geholfen. Auch ihnen einen ganz besonderen Dank in diesen Stunden.
({4})
Jetzt wenige Sätze zu den Lehren aus der Flut:
Erstens. Der Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel hat
({5})
– es war zu erwarten, dass es da wieder Widerspruch gibt – die Wahrscheinlichkeit von Flutkatastrophen erhöht. Deshalb gibt es eine Vordringlichkeit, an diesem Thema in der nächsten Wahlperiode mit allem Ehrgeiz zu arbeiten,
({6})
vor allem mit dem Ziel, die Wirtschaft und die Arbeitsplätze klimaneutral zu gestalten, sie zu erhalten, aber einen Beitrag zum Kampf gegen den Klimawandel zu leisten.
({7})
Das Zweite. Ich habe lange mit Gerd Müller gesprochen, der ja jetzt die Leitung der Organisation für industrielle Entwicklung bei den Vereinten Nationen übernehmen soll. In Afrika sind 450 Kohlekraftwerke geplant. Das würde alles auffressen, was wir an Anstrengung unternehmen. Wir müssen unsere Anstrengungen leisten; wir müssen Vorbild sein. Aber wir brauchen auch globale Antworten. Zu glauben, dass das nur hier gelingt, ist falsch. Wir müssen Afrika und anderen Regionen mit unserer Kompetenz, mit einer europäischen Cleantech-Initiative helfen,
({8})
ebenfalls dort ihre Aufgabe zu erfüllen. Das ist das Ziel, das wir uns vornehmen müssen.
({9})
Zu diesem Punkt passt auch das Thema Klimaanpassung. Die Folgen des Klimawandels werden in Zukunft Städte und Dörfer überall in Deutschland erreichen können. Das Phänomen an diesem Hochwasser war, dass es nicht dort auftrat, wo man es erwartet hat. Wenn in Dresden die Elbe steigt, weiß man in Torgau, was das bedeutet. Wenn in Mainz der Rhein steigt, weiß man in Köln, wann das Hochwasser Köln erreicht. Aber hier sind aus kleinsten Bächen, die wenig Wasser führen, 8, 9 Meter hohe Wellen geworden. Insofern wird Klimaresilienz und Widerstandsfähigkeit ein wichtiger Punkt sein.
Wir haben im Mai bereits einen Antrag in den Bundesrat eingebracht. Das Bundesumweltministerium hat gesagt, es prüft. Es ist gut, dass geprüft wird; die Prüfung sollte nur bald mal zu einem Ergebnis geführt werden, damit wir beim Thema Klimaanpassung endlich ebenfalls vorankommen.
({10})
Drittes Thema: Bevölkerungs- und Katastrophenschutz. Auch hier haben wir, weil die Gefahrensituationen unterschiedlich sind, erlebt, dass unsere Alarmierungen und Warninformationen nicht ausreichen. Wenn es in den Meldungen heißt: „Es gibt Starkregenereignisse im Westen“, empfindet das noch nicht jeder für sich als Aufforderung, nun seine Wohnung zu verlassen. Deshalb muss das zielgenau sein. Deshalb hätten wir längst Cell Broadcasting gebraucht. Es ist gut, dass jetzt im Gesetzentwurf Cell Broadcasting, die Warnung auf das eigene Smartphone, enthalten ist.
({11})
Wir werden weitere Maßnahmen brauchen, die wir prüfen müssen, und wir werden auf die Erfahrung der Praxis hören. Der langjährige Präsident des THW, Herr Broemme, ist bereit, eine Analyse bis Ende November vorzunehmen – bei uns und möglicherweise auch in Rheinland-Pfalz – und aufzuschreiben, wo wir besser werden können, damit wir schon bei der Bildung der nächsten Bundesregierung ein Dossier haben mit Erfahrungen von einem, der ein echter Praktiker ist, und dann schon wissen, wie man sich in Zukunft besser aufstellen kann.
Der vierte und letzte Punkt – ich will es kurz machen, weil die Zeit zu Ende geht –: das Projekt Wiederaufbau. Wir müssen für den Wiederaufbau unser Planungsrecht auf den Prüfstand stellen. Wenn man jetzt in einem Dorf überlegt, ein Haus vielleicht nicht mehr an dieser Stelle, wo das Wasser nah ist, neu zu bauen, sondern etwas davon entfernt, wenn man Gebietstausch machen will, wenn eine Kommune ein Rathaus neu bauen will, dann geht das mit unserem bisherigen Planungsrecht und mit europaweiten Ausschreibungen nicht. Wir brauchen für die, die jetzt in ihre Wohnung oder ihr Haus zurückmüssen, Verfahren, die schneller sind. Deshalb ist die Frage der Beschleunigung im Planungsrecht eine ganz entscheidende.
({12})
Das gilt übrigens auch für den Kampf gegen den Klimawandel.
({13})
– Verehrte Kollegin aus Ostwestfalen,
({14})
wenn irgendwer sagt, wir müssen schneller werden, wir müssen eine Instanz wegnehmen, wir müssen bei Stromtrassen schneller bauen – wir haben in Nordrhein-Westfalen inzwischen sogar Klagen gegen Radschnellwege –, wenn jemand sagt, wir müssen beschleunigen, ist Ihre Fraktion immer die, die sagt: Nein, es wird nichts beschleunigt. – Das ist so.
({15})
Mit dem Tempo, das wir an den Tag legen, werden wir diese Aufgaben nicht lösen.
({16})
Wenn Sie schon nicht generell für Bürokratieabbau sind, aber vielleicht wenigstens der Meinung sind, dass nicht alle Vorschriften sinnvoll sind,
({17})
dann ist es vielleicht möglich, dass wir zumindest beim Thema „Kampf gegen den Klimawandel“ den Konsens erzielen,
({18})
dass bei Bahntrassen, bei Stromtrassen und bei vielen anderen mehr diese Blockadehaltungen durchbrochen werden und wir mehr Tempo machen müssen, damit wir all die Ziele erreichen, die wir uns vornehmen.
Vielen Dank.
({19})
Zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Gottschalk das Wort.
Frau Präsidentin! Es ist schon faszinierend, dass die CDU/CSU-Fraktion auf heiße Luft mittlerweile mit einem solchen Beifall reagiert; aber vielleicht ist das die reine Verzweiflung.
Wenn ich die Worte des Ministerpräsidenten, der seit über vier Jahren Nordrhein-Westfalen regiert – das wissen die Bürger auch –, höre, dann muss ich sagen: Das ist ein Hohn. Ich bin in der Nacht, als diese Flutkatastrophe für Sie ja offensichtlich im wahrsten Sinne des Wortes vom Himmel fiel, mit dem Auto durch unser schönes Nordrhein-Westfalen gefahren. Es gab nicht eine konkrete Warnung Ihres Hofsenders WDR. Und jetzt kommen Sie bitte nicht mit der Ausrede, das hätte man nicht gewusst.
Es gab am 17. Februar 1962 in Hamburg – ich komme aus dieser Stadt; da können Sie gerne zuhören – eine Sturmflut. Da hat der NDR Tanzmusik gespielt – so hat man das damals so schön genannt –, und Menschen sind hinter den Deichen abgesoffen. Da hat man – so viel zu den Lippenbekenntnissen der Parteien, die schon länger hier sind – gesagt: Das darf nie wieder passieren.
Meine Damen und Herren, trotz zahlreicher europäischer Warnsysteme, die Sie installiert haben, haben Sie nicht gewarnt. Können Sie mir die Frage beantworten, warum auf die Warnungen teurer, in Europa installierter Systeme – Sie haben die Opfer der großen Fluten im Osten angesprochen – nicht reagiert wurde? Können Sie mir das erläutern? Können Sie mir vielleicht auch folgende Frage beantworten: Sind denn schon aus europäischen Hilfsfonds entsprechende Mittel abgerufen worden?
Würden Sie mir bitte außerdem die Frage beantworten, was der Klimawandel verdammt noch mal damit zu tun hat, dass die Sirenen auf den Dächern nicht geheult haben? Es wäre als Landesvater – so war es früher – Ihre verdammte Pflicht gewesen, zu sagen: Es gibt Gefahren in der Natur. – Das wissen wir als Menschen, die von der Küste kommen. Da müssen wir Katastrophenschutzübungen machen. Wo waren Katastrophenschutzübungen? Bei mir im Nettetal heulen mindestens einmal im Monat noch die Sirenen, und die funktionieren tatsächlich.
Sie reden immer davon, dass Sie in Nordrhein-Westfalen digital werden wollen. Warum haben die Warn-Apps nicht funktioniert? Beantworten Sie den Opfern der Familien – es sind über 190 – diese Fragen, bevor Sie hier blumig irgendetwas versprechen, was Sie seit über vier Jahren in unserem Bundesland NRW nicht halten. Bitte beantworten Sie mir diese Fragen.
({0})
Sie können, aber Sie müssen nicht das Wort zur Erwiderung nehmen.
({0})
Bitte.
Das Problem ist – ich habe es ja vermutet –: Sechs Minuten Ressentiments, und jetzt diskutieren wir darüber, dass der NDR Tanzmusik spielt.
({0})
Es ist auch nett, dass Sie den WDR zu meinem Hofsender erklären. Auf die Idee käme in Nordrhein-Westfalen niemand.
({1})
Es gab keine Frage. Ich sage Ihnen – und ich habe es an vier Punkten deutlich gemacht –: Die Antworten müssen besser werden. Dafür brauchen wir Systeme, mit denen das gelingt. Das gelingt aber nicht, indem man den Eindruck erweckt, dass ein solcher Vorgang, bei dem es die Menschen, die in dieser Region leben, in Minuten erwischt hat, mit einer Meldung in einem Radiosender hätte verhindert werden können. Machen Sie den Leuten nichts vor!
Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen: In einer der Städte gibt es eine kleine Gemeindeverwaltung. Diese hat 30 Mitarbeiter. So kleine Städte haben meistens 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihrer kommunalen Verwaltung. Die Bürger sagen natürlich: „Ja, wo wart ihr? Wo habt ihr gewarnt?“, usw. Das wäre nicht jeder Gemeinde in diesem Moment möglich gewesen. Jetzt sind in diesen Gemeinden Leute Ihres Geistesschlags unterwegs. Querdenker sind dort unterwegs und hetzen die Leute auf.
({2})
Es ist besser, die Defizite zu erkennen und daraus zu lernen, als mit Ressentiments und dem Reden über Tanzmusik die Leute verrückt zu machen. Es ist nicht in Ordnung, was Sie hier machen.
({3})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Angesichts dieser Hochwasserkatastrophe und der vielen Menschen, die ihr Leben verloren haben, der fast 800 Verletzten und der Zehntausenden, die ihr Dach über dem Kopf verloren haben, will ich eines betonen: Wir alle haben großen Respekt vor denjenigen, die sich vor Ort gegenseitig Hilfe geleistet haben. Unser aufrichtiger Dank geht an alle Helferinnen und Helfer in Nordrhein-Westfalen und in Rheinland-Pfalz sowie an all die Rettungskräfte, die ihr Leben riskiert haben, um den Menschen zu helfen. Ich glaube, es ist wichtig, dies am heutigen Tage zu betonen.
({0})
Gerade weil diese Katastrophe so ein großes Ausmaß hatte, ist es jetzt umso wichtiger, dass die Menschen in den betroffenen Regionen eine Perspektive bekommen. Wir hätten uns gewünscht – das will ich an dieser Stelle deutlich sagen, Herr Bundesminister Scholz –, dass das viel schneller geht. Wir haben deshalb unmittelbar, noch im Juli, einen Gesetzentwurf für einen Wiederaufbaufonds vorgelegt, der in weiten Teilen durchaus deckungsgleich mit dem Gesetzentwurf ist, den Sie hier vorgestellt haben. Unser Gesetzentwurf trägt das Datum vom 23. Juli. Wir von der Opposition haben ihn vorgelegt. Schon vor einem Monat hätte man Klarheit für die Betroffenen schaffen können.
({1})
Sogar zu der heutigen Sondersitzung musste diese Bundesregierung doch in Wahrheit gezwungen werden. Deswegen sage ich deutlich: Angemessener wäre es gewesen, wenn der Deutsche Bundestag bereits Anfang August zusammengetreten wäre und diese Hilfen auf den Weg gebracht hätte. Denn Perspektive ist das, was die Menschen vor Ort brauchen.
({2})
Neben den finanziellen Hilfen, über die wir uns weitestgehend einig sind und die wir dann im September endgültig beschließen werden, will ja der Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen den Wiederaufbau auch durch schnellere Planungsverfahren deutlich erleichtern. Das ist gut, aber in Wahrheit nichts Neues, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD. Das alles sind Punkte, die wir hier in den letzten Jahren bereits diskutiert haben. Ich hätte mir gewünscht, dass man nicht erst angesichts einer solchen Katastrophe aufwacht, sondern dass die Vorschläge meiner Fraktion hier vernünftig diskutiert und von der Bundesregierung übernommen werden.
Frau Kollegin Haßelmann – Sie ist nicht mehr da –,
({3})
auch von den Grünen hätte ich mir mehr gewünscht, gerade weil wir uns bei der Bekämpfung des Klimawandels einig sind, nicht immer über den Weg, aber über das Ziel auf jeden Fall, und weil wir gemeinsam wissen, dass Klimafolgenbewältigung so wichtig ist.
Herr Ministerpräsident Laschet, Sie haben es gerade erwähnt: Schnelle Verfahren sind jetzt das Gebot der Stunde, gerade weil vorbeugender Hochwasserschutz so verdammt wichtig ist, um Menschenleben zu retten. Ich weiß, dass Ihre Landesregierung diesbezüglich in Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahren einiges gemacht hat. Aber gerade weil das eine nationale Anstrengung ist und Klimaschutz nur ein Baustein ist, sage ich: Liebe Kolleginnen und Kollegen, lasst uns bitte nicht immer nur über schnellere Planverfahren reden. Jetzt geht es darum, Perspektiven für Menschen zu schaffen, die ihre Häuser wieder aufbauen wollen, und darum, die öffentliche Infrastruktur so herzurichten, dass so etwas in Deutschland möglichst nicht wieder passiert. Das ist unsere nationale Aufgabe. Die müssen wir als Bundestag ernst nehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Der Hochwasserschutz im Binnenland wird – ich habe es gesagt – eine ganz, ganz wichtige Säule sein, um solche Flutkatastrophen in Zukunft zu verhindern. Eine weitere Säule wird natürlich der Katastrophenschutz sein, und zwar auch moderner Katastrophenschutz. Mit Verlaub, das Thema „Cell Broadcasting“ forciert meine Fraktion seit Jahren. Das haben wir immer wieder thematisiert. Bisweilen wurde gesagt, das sei aus Datenschutzgründen nicht möglich. Jetzt kommt es zum Glück, hoffentlich zeitnah; der Bundesinnenminister ist nicht mehr da. Auch das kann in Zukunft Menschenleben retten.
Zum Schluss will ich sagen: Herr Bundesfinanzminister Scholz, bitte wiederholen Sie bei der Auszahlung der Gelder nicht die Fehler, die bei den Coronahilfen gemacht wurden. Unbürokratische Hilfen müssen auch wirklich unbürokratisch sein. Hier haben viele Menschen viel Leid erfahren. Es kann nicht sein, dass die in den kommenden Monaten lauter Zettel ausfüllen müssen, sondern denen muss wirklich unbürokratisch geholfen werden. Ich höre, dass erste Unternehmer die Soforthilfe wieder zurückzahlen wollen, weil sie dadurch teilweise steuerliche Nachteile erfahren.
Kollege Dürr!
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – All das haben wir bei den Coronahilfen schon einmal durchdiskutiert. Das Gebot der Stunde ist schnelle und unbürokratische Hilfe. Wenn das Ihr Wunsch ist, Herr Scholz, dann haben Sie uns an Ihrer Seite. Bitte machen Sie das möglich für die Menschen in NRW und Rheinland-Pfalz.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir trauern um 182 Menschen, die beim jüngsten Hochwasser aus dem Leben gerissen wurden. Unsere Gedanken sind auch bei denen, die ihr Hab und Gut verloren haben. Wir danken den Menschen, die ihr eigenes Leben eingesetzt haben, um andere zu retten. Und wir danken den vielen Freiwilligen, die jetzt dabei sind, die Städte und Dörfer wiederaufzubauen. Und natürlich danken wir auch den Menschen, die so viel gespendet haben.
({0})
Auch wir als Fraktion Die Linke haben uns mit einer Spende von 100 000 Euro für die Flutopfer beteiligt. Allen Betroffenen muss unbedingt unbürokratisch geholfen werden, und zwar schnell und wirksam. Darum unterstützen auch wir als Linke die Einrichtung des Sondervermögens, meine Damen und Herren.
({1})
Aber es muss auch nachhaltige Veränderungen geben. Manche sagen – das haben wir heute auch wieder gehört –, Überschwemmungen und Hochwasser habe es immer schon gegeben. Ja, aber sie werden immer heftiger und treten immer häufiger auf. Erst gestern wurde eine Studie von internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern dazu vorgestellt. Grundaussage dieser Studie: Als Folge des Klimawandels werden Starkregenereignisse mit ihren schrecklichen Folgen immer häufiger auftreten. – Also muss grundsätzlich etwas getan werden.
({2})
Jetzt werden viele Vorschläge gemacht, die im Detail gut und richtig sind, doch über das Schlüsselproblem wird kaum gesprochen; denn Kapitalinteressen stehen dem Umweltschutz entgegen und damit den Überlebensinteressen der Menschen. Immobilienspekulanten wollen in Flusslandschaften bauen. Waldbesitzer nutzen ihre Wälder als Holzlager und nicht als Wasserspeicher. Und Herr Scheuer würde am liebsten jeden Tag 100 Kilometer Autobahn bauen, um der Autoindustrie zu gefallen. Wir müssen uns also zwischen der Profitgier einiger weniger und dem Überleben der Menschheit entscheiden. Wir wollen der Profitgier klare Grenzen setzen, meine Damen und Herren.
({3})
Viele Betroffene sind zu Recht verbittert. Sie fühlen sich von der Politik im Stich gelassen; denn es war eben nicht nur eine Naturkatastrophe. Es gab auch – das ist schon angesprochen worden – vielfach menschliches Versagen, das zu diesem 182-fachen Tod geführt hat. Diese Menschen hätten nicht sterben müssen, wenn die Zuständigen ihre Arbeit ordentlich gemacht hätten. Es war ja leider nicht das erste Hochwasser, bei dem wir Menschenleben zu beklagen hatten. Beim Oder-Hochwasser 1997 gab es 74 Tote; das Hochwasser an der Elbe und der Mulde im August 2002 riss 21 Menschen aus dem Leben. Viele Menschen fragen sich natürlich: Haben die Zuständigen nichts aus der Geschichte gelernt?
In dieser Situation, Herr Laschet – ich kann Ihnen das nicht ersparen –, fiel Ihnen nichts Besseres ein, als durch wirklich unpassendes Verhalten aufzufallen. Sie haben sich wie verrückt bei der Rede des Bundespräsidenten amüsiert. Das ist, glaube ich, beschämend, und das muss man auch so deutlich aussprechen.
({4})
Was ich Ihnen auch vorwerfe – darauf komme ich später noch mal zu sprechen –, ist, dass Sie sich politisch beliebig geäußert haben, auch in dieser Rede: Alles läuft in Watte. – Ich kann Ihnen für meine Fraktion versichern: Wir sind der Auffassung: Ein Mann wie Sie darf nicht Kanzler werden.
({5})
Der Influencer Rezo hat das in einem Youtube-Video analysiert. Schon über 2 Millionen Menschen haben das gesehen: Es ist sehenswert; wahrscheinlich haben Sie es auch gesehen.
Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul, hat zumindest rückblickend festgestellt: Es war ein Fehler, keinen landesweiten Krisenstab einberufen zu haben. Denn bereits am 14. Juli stiegen die Fluten im südlichen Rheinland rapide. – Wir müssen konstatieren: Diese Landesregierung aus CDU und FDP beherrscht einfachste handwerkliche Dinge nicht. Und was noch schlimmer ist: Sie haben keine Konsequenzen aus dieser Katastrophe gezogen.
Herr Laschet, am 15. Juli 2021 sagten Sie vormittags im WDR, dass jetzt mehr Tempo gemacht werden müsse beim Klimaschutz. Am Nachmittag machten Sie dann aber eine Kehrtwende und sagten: Jetzt ist nicht die Zeit, politische Forderungen zu stellen. – Doch! Ich sage: Gerade diese Katastrophe zeigt doch, dass grundsätzlich etwas geändert werden muss. Ich frage mich: Wo ist Ihr inhaltlicher und moralischer Kompass, Herr Laschet?
({6})
Aber leider hat auch die Bundesregierung keine intelligente Strategie entwickelt, um solche Katastrophen zu vermeiden oder zumindest einzugrenzen. Auch der zuständige Minister, Herr Seehofer, hat seit Jahren seine Aufgaben nicht erfüllt. Katastrophenschutz war für ihn nie ein zentrales Thema. Lieber hat er sich als Abschiebeminister profiliert. Ich sage Ihnen: Das war der falsche Schwerpunkt.
({7})
Es gibt ein Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Dieses Amt mit 400 Beschäftigten und 18 Hubschraubern muss bei Naturkatastrophen tatenlos zusehen. Das ist doch absurd. Sie hätten nur dann tätig werden dürfen, wenn unser Land militärisch angegriffen worden wäre. Für Naturkatastrophen sind in erster Linie die Bundesländer zuständig. Ich habe den Eindruck: Hier hat die Bundesregierung wirklich etwas verschlafen, nämlich das Ende des Kalten Krieges. Unser Überleben wird doch nicht durch feindliche Panzer bedroht, sondern durch Viren und Naturkatastrophen. Also müssen daraus die Schlussfolgerungen gezogen werden, meine Damen und Herren.
({8})
Herr Schuster, ehemaliger CDU-Innenpolitiker, ist jetzt der Präsident dieses Bundesamtes. Er würde gern das Grundgesetz ändern und Zuständigkeiten der Länder auf sein Amt übertragen. Das ist eine typische Reaktion von CDU-Politikern: Zentralisierung. Und dann hat er noch eine Idee. Er möchte das Bundesamt so organisieren wie das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum. Das ist doch völlig absurd! Beim Antiterrorkampf geht es um die Suche nach möglichen Terroristen, um Feindbilder, um Geheimdienstarbeit. Katastrophenschutz ist doch genau das Gegenteil. Hier wird kein Feind gesucht; hier braucht es keine Feindbilder. Wir wollen die Natur nicht bekämpfen. Die Natur ist nicht unser Feind. Wir müssen uns alle so verhalten, dass wir mit der Natur zusammen gut leben können. Das ist die Aufgabe, meine Damen und Herren.
({9})
In den Niederlanden hat man übrigens längst erkannt, dass es wichtig ist, möglichst viele Menschen in den Katastrophenschutz einzubeziehen und Nutzungskonflikte offen zu besprechen.
Aber ich komme noch einmal auf das grundlegende Problem zurück. Wenn Profit in Aussicht steht, dann lassen sich zum Beispiel Immobilienspekulanten viel einfallen, um Wasserstrategien zu durchkreuzen. Profit und Hochwasserschutz, das sind Widersprüche. Wir brauchen eine Politik, die die Profite im Interesse des Überlebens der Menschheit begrenzt. Das ist unsere Aufgabe, meine Damen und Herren.
({10})
Um es in aller Klarheit zu sagen: Wir sind dafür, mit den geplanten 30 Milliarden, die bekanntermaßen dann von Bund und Ländern erbracht werden, den Menschen zu helfen, die vom Hochwasser betroffen sind. Es muss schnell gehen, es muss wirksam sein, und es muss nachhaltig sein.
Meine Damen und Herren, ich will Sie auf etwas hinweisen, das mir in letzter Zeit aufgefallen ist, nämlich darauf, dass die Befürworterinnen und Befürworter der Schuldenbremse sehr ruhig geworden sind. Aber ich bin davon überzeugt, dass sie am 27. September, am Tag nach der Wahl, sofort an den Mikrofonen stehen und die Schuldenbremse einfordern werden.
({11})
Darum wollen wir als Linke wissen, und zwar vor der Wahl: Wer soll die Pandemierechnung, die Hochwasserrechnung oder auch die Autogipfelrechnung bezahlen? In den Wahlprogrammen von CDU und FDP steht nur, dass Sie die Vermögenden finanziell entlasten wollen. Wir als Linke wollen das verhindern. Wir wollen verhindern, dass wieder bei den Menschen gekürzt werden soll, die schon die Finanzkrise bezahlen mussten. Wir wollen die Vermögenden mehr heranziehen,
({12})
und zwar so, dass diese Gesellschaft gut gestaltet werden kann. Mit dem Geld wollen wir in das Überleben der Menschheit investieren. Es geht um nichts Geringeres. Ob das gelingen wird, entscheidet die Wahl am 26. September.
Herzlichen Dank.
({13})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und in Rheinland-Pfalz war die schlimmste Naturkatastrophe seit der Hamburger Sturmflut von 1962. Sie hat unvorstellbares Leid mit sich gebracht. Mindestens 183 Menschen sind gestorben, Zehntausende haben ihr Zuhause verloren, die Schäden an der Infrastruktur, an der Wirtschaft sind gigantisch. Ich möchte mich insbesondere bei den Helferinnen und Helfern, bei den Rettungsorganisationen, bei all den Menschen, die unterstützt haben, für ihre wertvolle Arbeit bedanken.
({0})
Umso wichtiger ist es, dass wir heute gemeinsam umfassende Hilfe für den Wiederaufbau auf den Weg bringen. Ich hoffe, dass es den betroffenen Regionen und den Menschen dort wenigstens ein bisschen Trost und Hoffnung spendet, dass unser ganzes Land, Bund und Länder, die Bundesregierung, die demokratischen Parteien hier im Bundestag hinter ihnen stehen. Unser Versprechen aus dem Bundestag an diese Menschen muss sein: Wir werden Sie in den mühevollen Jahren des Wiederaufbaus nicht alleine lassen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Flutkatastrophe in unserem Land war dieses Jahr kein isoliertes Naturereignis. Wir erleben in diesem Jahr eindrücklich, in welche Lage wir uns als Menschen bereits gebracht haben: Hitzewellen in Kanada und den USA, Brände in der Türkei, in Italien, in Griechenland, in Kanada, in Sibirien. Erstmals seit der Geschichte der Wetteraufzeichnung hat es auf dem höchsten Punkt des Grönländischen Eisschildes geregnet. Ja, Extremwetterereignisse gab es immer. Aber die Heftigkeit, die Häufung, die Zahl dieser Extremwetterereignisse weisen darauf hin: Die Klimakrise ist bereits da und schlägt mit voller Heftigkeit zu. Daran kann es keinen ernsthaften naturwissenschaftlichen Zweifel mehr geben.
({2})
Das ist die bittere Hypothek, die wir bereits jetzt unseren Kindern und nachfolgenden Generationen hinterlassen. Und leider muss man sagen: Das ist erst der Anfang. Wenn man naturwissenschaftlich ehrlich ist, lautet die Frage nicht mehr: „Wie wird es in den nächsten Jahrzehnten besser?“, sondern: „Wie verhindern wir, dass es Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt schlimmer wird?“ Es geht darum, die Klimakrise so zu begrenzen, dass die Anpassung an die neuen Bedingungen, unter denen wir leben müssen, überhaupt noch eine Chance hat, zu gelingen. Das sind wir unseren Kindern und Enkelkindern schuldig.
({3})
Dafür müssen wir jetzt handeln, entschlossen und eigentlich gemeinsam. Das ist die existenzielle Dringlichkeit, die uns in diesen Tagen doch vor Augen geführt wird. Nur wer das Klima schützt, schützt das Überleben und die Freiheit in der Zukunft.
Doch leider, sehr geehrte Damen und Herren von Union und SPD, sind Sie beim Klimaschutz weit weniger entschlossen, als Sie es hier bei den Aufbauhilfen waren. Nach aktuellen Prognosen werden wir dieses Jahr die Klimaziele klar verfehlen. Das Umweltbundesamt rechnet deutlich vor: Auch die Klimaziele für 2030 werden wir verfehlen, und bereits die Klimaziele für 2040 sind gefährdet. Diese Zahlen zeigen das Versagen der jetzt regierenden Bundesregierung, dieser Koalition aus SPD und Union.
({4})
Und das Allerschlimmste ist: Sie sagen, dass Sie diese Politik, dieses Politikversagen sogar fortsetzen wollen. Herr Laschet und Herr Scholz verteidigen einen Kohleausstieg, von dem völlig klar ist, dass mit ihm die Klimaziele, die hier, im Deutschen Bundestag, im Juni beschlossen worden sind, nicht erreichbar sind. Wissen Sie, Herr Scholz, es macht es auch keine Spur besser, dass in dem Moment, da Sie die Lausitz verlassen haben, Sie plötzlich etwas anderes erzählt haben. Das zeigt überdeutlich Ihre Unernsthaftigkeit bei diesem existenziellen Thema.
({5})
Das zeigt Ihr taktisches Verhältnis zu diesem wichtigen Menschheitsthema.
({6})
Auch beim Ausbau der erneuerbaren Energien schaut es nicht besser aus. Sie haben ihn mit den Beschlüssen im Deutschen Bundestag über die letzten Jahre aktiv abgewürgt.
Herr Laschet, ich höre ja gerne, dass die Dinge schneller gehen sollen. Aber vor Kurzem habe ich mit Projektierungsingenieuren gesprochen. Die haben mir erzählt, dass sie, als Rot-Grün regiert hat, für eine Windkraftanlage sechs bis neun Monate gebraucht haben, aber jetzt, nach 16 Jahren CDU-Regierung, brauchen sie sechs bis neun Jahre. Und Sie sprechen hier von Beschleunigung! Warum haben Sie denn die letzten 16 Jahre nichts gemacht?
({7})
Es ist eigentlich noch schlimmer: Sie haben ja etwas gemacht. Sie haben die Planungszeiten von sechs bis neun Monaten auf sechs bis neun Jahre erhöht.
({8})
Und dann reden Sie hier von Beschleunigung.
Es ist längst an der Zeit, wirklich zu handeln und unser Land in den nächsten zwei Jahrzehnten klimaneutral zu machen. Das ist wahrscheinlich die größte Gestaltungsaufgabe, vor der wir je standen. Klar haben da Menschen Sorgen, weil sich Dinge grundlegend ändern müssen. Wir können niemandem versprechen, dass sich nichts ändert. Aber wir können versprechen, dass niemand überlastet wird. Und wir sehen die Chancen. Allein durch neue Technologien, durch gut gemachten Klimaschutz, durch Innovationen können 5 Millionen neue Arbeitsplätze in Europa entstehen. Deshalb: Retten wir unsere Lebensgrundlagen, sehen wir die Chancen, setzen wir auf Klimaschutz, setzen wir auf erneuerbare Energien, setzen wir auf modernste Technologie! Dann haben wir die Chance, das in den Griff zu bekommen. Aber dafür brauchen wir eine andere Bundesregierung; dafür brauchen wir eine andere politische Führung.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat die Ministerpräsidentin des Bundeslandes Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Herren und Damen Abgeordnete! Ich bin sehr dankbar, liebe SPD-Fraktion, dass ich hier ein paar Worte sprechen darf. Eine Hochwasserkatastrophe dieses Ausmaßes hat Deutschland noch nie erlebt. Ich muss für mich persönlich sagen: Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie eine solche Zerstörung gesehen. Noch nie gingen solche Regenmengen in so kurzer Zeit nieder, noch nie wurden solch extreme Pegelstände verzeichnet.
Ich will Ihnen sagen: Rheinland-Pfalz kennt die Gefahren von Hochwasser. Wir geben seit Jahren viel, viel Geld für Hochwasserschutz aus und im Übrigen auch für Klimaanpassungsmaßnahmen, seit wir Starkregenereignisse haben: 1,2 Milliarden Euro in den letzten 20 Jahren. Aber diese Flutkatastrophe hat Rheinland-Pfalz tief, bis ins Mark getroffen. Bei uns haben 134 Menschen durch die reißenden Wassermassen ihr Leben verloren, 766 Menschen wurden verletzt, und noch heute vermissen wir 4 Personen. Insgesamt sind rund 65 000 Rheinland-Pfälzer und Rheinland-Pfälzerinnen durch die Flutkatastrophe zu Schaden gekommen, allein im Ahrtal 42 000. Unser ganzes Land trauert mit den Hinterbliebenen, und wir wünschen den Verletzten gute Besserung. Wir stehen tatkräftig denen zur Seite, die ihre Existenz verloren haben und tiefe Wunden an ihren Seelen erlitten haben.
Meine sehr verehrten Herren und Damen, das menschliche Leid ist riesig und die materielle Zerstörung immens. Um Ihnen ein paar Beispiele zu nennen: Von 75 Brücken sind allein im Ahrtal 62 Brücken beschädigt oder zerstört. 40 Schulen, 55 Tageseinrichtungen für Kinder und 5 Krankenhäuser müssen wieder instand gesetzt werden. Bis zu 3 000 Unternehmen sind von der Flutkatastrophe unmittelbar betroffen. Die Ahr ist eines unserer herausragenden Weinanbaugebiete. Von 65 Weinbaubetrieben im Haupterwerb sind nur 3 verschont geblieben. Rebflächen in einer Größenordnung von 32 Fußballfeldern sind völlig zerstört.
Inmitten der ganzen Verwüstung ist es überwältigend, zu erleben – das haben schon mehrere hier angesprochen –, wie viele Menschen vor Ort im Einsatz sind, wie viele ihre ganze Kraft, geeignetes Gerät, aber auch Know-how zur Verfügung gestellt und Millionen gespendet haben. Man kann sagen: Handwerker helfen Handwerkern, Winzer helfen Winzern, Menschen helfen einfach Menschen, und sie kommen von überallher, und es hört auch nicht auf. Das ist schön so. Dafür will auch ich mich wirklich von ganzem Herzen bedanken.
({0})
Allen Hilfswerken, der Blaulichtfamilie, der Bundeswehr, den Betrieben, den Landwirten, den Lohnunternehmern und natürlich allen ehrenamtlichen Helfern und Helferinnen spreche ich meinen großen Respekt aus. Sie sind mit ihrem Gerät, mit ihrer Hacke, mit Gummistiefeln gekommen und haben einfach angepackt. Sie haben bei den Leuten angeklopft und haben gefragt: Kann ich hier bitte helfen? Das ist wirklich eine großartige Leistung. Auch hier will ich sagen: In solchen Krisen hat sich immer wieder gezeigt, dass Deutschland am Ende doch ein sehr solidarisches Land ist und die Menschen zusammenstehen, gerade in dieser großen Not.
({1})
Meine sehr verehrten Herren und Damen Abgeordnete, die Betroffenen fragen die Politik: Werden wir hier je wieder ein sicheres Zuhause haben? Wann wird mein Haus, mein Betrieb wiederaufgebaut sein? Ich verstehe die Ungeduld, und ich verstehe auch die Verzweiflung. Es ist eine Herkulesaufgabe, vor der wir stehen. Meine Landesregierung ist eng mit Fachleuten, mit den Kommunen und den Menschen vor Ort im Gespräch, und gemeinsam wollen wir in den nächsten Wochen entscheiden: Wie sieht in Zukunft Hochwasserschutz aus? Was muss bei der Bebauung beachtet werden? Wie bringen wir die unterschiedlichen Interessen bestmöglich in Einklang? Wir wollen den Betroffenen eine ganz konkrete Hoffnung, einen klaren Fahrplan für die Zukunft ihrer Heimat geben. Der Ministerrat hat nach der Katastrophe umgehend gemeinsam mit dem Bund unbürokratisch Soforthilfen in dreistelliger Millionenhöhe an Privathaushalte, Betriebe, aber auch an Kommunen ausgezahlt. Mit der Aufbauhilfe 2021 geben Bund und Länder den Menschen die Sicherheit, dass sie langfristig unterstützt werden. Denn die Menschen sagen uns immer wieder: Wir haben Angst, dass wir verlassen werden, dass wir keine dauerhafte, langfristige Hilfe erhalten.
Das Aufbauhilfegesetz ist die Grundlage dafür, dass wir eine gute Zukunft für die betroffenen Regionen schaffen können. Die materiellen Schäden sind so immens, dass einzelne Bundesländer die Situation alleine schlicht und ergreifend nicht bewältigen können. Um Ihnen noch mal ein Bild zu geben: Allein das Beseitigen der Müllberge, von Schlamm, von Hausrat, von Schrott kostet in Rheinland-Pfalz weit über eine halbe Milliarde Euro. Aufbauhilfen in Höhe von 30 Milliarden Euro sind eine bisher nie dagewesene Summe für solche Ereignisse. Ich bin mir mit der Bundeskanzlerin und mit dem Bundesfinanzminister darin einig, dass in dieser Situation der investierende Staat, der ermöglichende Staat gefragt ist.
({2})
Die Gelder sollen den Menschen die Möglichkeit geben, ihre Heimat wiederaufzubauen. Schnelle, passgenaue Hilfen stehen an allererster Stelle. Doch auch beim Hochwasserschutz, bei der Besiedlung und beim Bauen wird Nachhaltigkeit und vor allem seine Bedeutung ein ganz wichtiger Maßstab sein.
Ich weiß, dass die betroffenen Menschen sich wünschen, sofort Geld aus dem Aufbaufonds zu bekommen, um ihr Haus wiederaufzubauen, ihre verwüstete Wohnung zu sanieren und ihren Betrieb wiederaufzubauen. Ich versichere Ihnen: Wir arbeiten rund um die Uhr daran. Aber bei 30 Milliarden Euro Steuergeld – auch das will ich sagen – müssen wir sicherstellen, dass das Geld dort ankommt, wo es gebraucht wird.
({3})
Als Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz danke ich Ihnen, sehr verehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages, dass Sie mit dieser heutigen Sondersitzung so schnell und so zügig die Gesetzgebung auf den Weg gebracht haben. Ich danke der Bundesregierung für ihre Unterstützung und für die wirklich sehr gute Zusammenarbeit in diesen Wochen. Der Vizekanzler war sehr schnell in unserer Region, die Bundeskanzlerin war da, und wir waren im permanenten Austausch und Kontakt, damit wir diesen großen Fonds auf den Weg bringen können.
Ich will natürlich auch meinen Ministerpräsidentenkollegen und meiner Ministerpräsidentinkollegin ganz herzlich danken; denn Sie müssen realisieren: Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass sich die Bundesländer, die gar nicht betroffen sind, trotzdem solidarisch an einem Aufbaufonds dieses Volumens beteiligen. Herr Laschet hat es schon gesagt: Das hat für sie niemals infrage gestanden.
({4})
Die klare Solidarität und tatkräftige Unterstützung, die Rheinland-Pfalz aus dem Kreis der Länder und des Bundes erfährt, berührt uns sehr. Der kooperative und solidarische Föderalismus zeigt sich auch heute noch einmal als wichtiges Rückgrat der Bundesrepublik Deutschland.
Ich will zum Abschluss noch ganz kurz drei Dinge sagen: Die Aufgaben der Zukunft sind zum Teil klar beschrieben. Wir werden selbstverständlich die Abläufe der Flutnacht analysieren. Wir werden und müssen auch den Hochwasser- und Katastrophenschutz weiterentwickeln. Und schließlich ist bei den meisten hier im Haus unbestritten – von der Wissenschaft und vielen Kollegen hier im Bundestag wurde es gesagt –, dass der Klimawandel die Entstehung von Extremwetterereignissen begünstigt. Wir müssen noch viel mehr Anstrengungen unternehmen, um ihn zu begrenzen. Das geht nur gemeinsam, als Verantwortungsgemeinschaft aller Bundesländer und des Bundes, aber natürlich auch darüber hinaus. Von den Fluten am 14. und 15. Juli 2021 waren nicht nur Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Sachsen betroffen, sondern auch unsere europäischen Freunde. In Belgien waren 36 Todesopfer zu beklagen. In Luxemburg wurde die historische Altstadt getroffen. In den Niederlanden wurde für die Region Limburg der Notstand ausgerufen. Der Klimaschutz ist eine Menschheitsaufgabe, die keine Grenzen und keine Nationen kennt. Und vor allem: Der Klimaschutz duldet keinen Aufschub.
({5})
Ich bedanke mich bei Ihnen ganz herzlich. Ich freue mich darauf, dass wir auch dieses Thema miteinander gestalten können. Die Gesetzgebung, die der Bundestag heute auf den Weg bringt, ist das starke Signal an alle Betroffenen, dass wir an ihrer Seite bleiben.
Vielen herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Peter Boehringer für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Unwetterkatastrophe im Juli hat Teile Deutschlands hart getroffen; über 190 Todesopfer sind zu beklagen. Klar ist: In den Tagen nach der Flut wurde viel zu wenig Hilfe in die betroffenen Regionen geschickt. Die Politik hat die Menschen dort zunächst sehr alleingelassen.
Die AfD-Fraktion hatte schon am 19. Juli, also vor vollen fünf Wochen, eine sofortige Sondersitzung des Bundestages und, damals schon, die Freigabe signifikanter Hilfsgelder gefordert. Diese Sondersitzung lehnten alle anderen Fraktionen ab – nur um sich heute, näher am Wahltermin, als großzügige Retter präsentieren zu können. Dabei hatte das BMF zunächst nur vage Zusagen über völlig ungenügende 400 Millionen Euro gegeben, die der Bund in Kofinanzierung mit den Ländern freigeben wollte.
Die heute zur Debatte stehende Summe ist dagegen gewaltig: Nun sind es urplötzlich 30 Milliarden Euro, davon 16 Milliarden Euro vom Bund. Die AfD-Fraktion begrüßt zwar das Umdenken der Bundesregierung, wir kommen aber nicht umhin, festzustellen, dass es ohne den Bundestagswahltermin wohl nicht zu einer Versiebzigfachung der Hilfsmittel gegenüber dem ursprünglichen Ansatz gekommen wäre. Nur in Wahlzeiten denkt die Bundesregierung auch mal an die eigenen Leute.
({0})
Das allein wäre ja schlimm genug, richtig ärgerlich wird es allerdings – wir haben das heute oft gehört –, wenn die Bundesregierung und viele Vertreter der Altparteien diese Katastrophe dann noch für ihre politische Klimaagenda instrumentalisieren. Es gibt – entgegen dem, was wir eben fast wörtlich gehört haben – keinen Zusammenhang zwischen diesem Extremwetterereignis
({1})
und den von Menschen verursachten CO2-Emissionen. Sogar die Bundesbehörde Deutscher Wetterdienst sagte ganz klar – Zitat – : „Ein solches regionales … Ereignis … ist Wetter“,
({2})
und: „Die Behauptung, der Klimawandel ist schuld, ist … nicht haltbar.“ Das war ein Zitat Ihrer eigenen Behörde. Das hielt Frau Merkel aber nicht davon ab, nach dem Wetterphänomen der Flut ideologisch abwegig zu fordern: „Wir müssen schneller werden im Kampf gegen den Klimawandel.“ Herr Söder nannte die Überschwemmungen faktenfrei einen Klima-„Weckruf der Natur“, obwohl es in der Geschichte des Ahrtals – Frau Dreyer, Sie sollten das auch wissen! – lange vor der Industrialisierung viele höhere Hochwasser gegeben hat. Auch der zweitgrößte Alarmist der CSU, Herr Seehofer, erklärte in der „Bild“: „Diese extremen Wetterkapriolen sind die Folgen des Klimawandels“, obwohl gerade die offiziellen Klimamodelle eher eine Abnahme von Überschwemmungen in Europa voraussagten; das war die Voraussage, seither und eigentlich immer noch. Auch Kollegin Göring-Eckardt schwadroniert frei: „Das sind … Auswirkungen der Klimakatastrophe“, ebenso eben Herr Hofreiter. Herr Laschet – wenn er noch da ist – meinte gut gelaunt-lachend bei seinem Interview im Flutgebiet: Wir brauchen beim Klimaschutz mehr Tempo. Und auch Herr Scholz hat eben diesen Klimamythos bedient. Es sind also alle beieinander.
Meine Damen und Herren, hören Sie bitte endlich auf! Diese antiwissenschaftliche Instrumentalisierung eines Wetterereignisses aus rein ideologischen Gründen ist schäbig, auch gegenüber den Opfern.
({3})
Nun also 16 Bundesmilliarden für deutsche Flutopfer. Dem verschließt sich die AfD natürlich nicht. Wir erwarten allerdings einen sehr signifikanten Beitrag der EU aus deren Naturkatastrophenfonds, der wie alle EU-Töpfe ja vor allem durch deutsches Geld gespeist wird. Das Bundesfinanzministerium erwartet bislang – wir haben nachgefragt – nur lächerliche 500 Millionen Euro aus diesem Solidaritätsfonds; das entspricht etwa 1,5 Prozent der Schäden. Das ist zu wenig. Italien etwa wurden bei Erdbeben und Hochwasser der letzten Jahre über 5 Prozent – mehr als das Dreifache – seiner Schäden von der EU erstattet. Es ist wie immer in der EU: Deutschland würde viel besser fahren, wenn wir nie in solche Töpfe einzahlten und alles national regelten.
({4})
Weiterhin muss die Bundesregierung sicherstellen, dass alle Mittel aus dem Aufbaufonds tatsächlich in den Flutgebieten, bei den Geschädigten direkt ankommen und nicht etwa für versteckte CO2-Ideologieprojekte zweckentfremdet werden. Eigentlich ist das eine triviale Forderung, aber wir haben hier schlechte Erfahrungen gemacht; darum haben wir diese Forderung in unseren Antrag aufgenommen.
Ja, und zuletzt? Keiner hat bis jetzt zu Artikel 12 des heutigen Aufbauhilfegesetzes – so heißt das Flutgesetz ja – geredet. Schon zum wiederholten Mal schmuggelt die Bundesregierung sachfremd eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes in ein völlig anderes Gesetz.
({5})
Warum tun Sie das eigentlich? Glauben Sie, dass es niemand merkt, dass niemand merkt, wie in diesem Land Schritt für Schritt der juristisch verfügte Gesundheitsnotstand zur Normalität gemacht wird?
({6})
Herr Spahn ist nicht einmal anwesend.
Wie sehr Sie inzwischen die realen Gefahren aus den Augen verlieren, sieht man daran, dass Sie ernsthaft einen Impfbus ins Ahrtal entsendet haben – als ob die Menschen da draußen nicht ganz andere Sorgen als Corona hätten, als ob da draußen wirklich die Pest wüten würde, was natürlich nicht der Fall ist.
({7})
– Falls ich Sie jetzt falsch angeschaut habe, Frau Dreyer: Wahrscheinlich war es ein Bundesbus. Das macht es aber nicht besser.
({8})
– Okay.
Im Übrigen bleibt noch festzuhalten: Ungeimpfte stellen keinerlei Gefahr für Geimpfte dar. Und: Auch Geimpfte können die Krankheit übertragen. Es darf darum in diesem Land bei Grundrechten keine Zweiklassengesellschaft geben.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Christian Haase für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Bilder werden uns nicht so schnell aus dem Kopf gehen, die Bilder von der Flut aus Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und anderen Ländern, Bilder von Naturgewalten, die blanke Zerstörung und unendliches Leid für die Betroffenen hinterließen, Bilder, die nur erahnen lassen, dass hier viel Zeit und Geld gebraucht werden wird, um zumindest die materiellen Schäden wieder instand zu setzen.
Meine Damen und Herren, diese Mammutaufgabe kann uns nur gemeinsam gelingen, und damit meine ich sowohl die betroffenen Menschen als auch die verschiedenen Entscheidungsebenen: in den Kommunen, beim Bund und bei den Ländern.
Aber auch in der Not gibt es Positives: Noch größer als die Flutwelle war die Welle an Solidarität und Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung und von Rettungs- und Hilfsdiensten aus dem ganzen Land. Ich möchte hier von vier Aktionen aus meinem Wahlkreis berichten: Bauunternehmen sind in die Katastrophengebiete gefahren, für mehrere Tage, mit Power und schwerem Gerät. DRK, THW und Feuerwehr aus den Kreisen Höxter und Lippe sind vor Ort im Einsatz gewesen. Bundeswehrkräfte aus der Region haben im wahrsten Sinne des Wortes Pionierarbeit geleistet. Transporte mit Sachspenden und gesammelten Geldspenden wurden übergeben. In den Gesprächen mit mir wurde über Betroffenheit, über das Ausmaß der Schäden, aber auch über Dankbarkeit für jede helfende Hand berichtet. Die Kräfte haben vor Ort pragmatisch zusammengearbeitet, Eindrücke gemeinsam verarbeitet und kurze Entscheidungswege genutzt.
Meine Damen und Herren, ich sehe da keinen Riss in der Gesellschaft, wie er von manchen in diesem Hohen Hause heraufbeschworen wird. Ich sehe funktionierende Rettungs- und Katastrophenhilfe, engagierten Mittelstand und eine solidarische Zivilgesellschaft. Unser Dank gilt allen Helferinnen und Helfern.
({0})
Meine Damen und Herren, seit Langem setze ich mich für die Einführung einer allgemeinen einjährigen Dienstpflicht für junge Erwachsene ein. Soziale und karitative Einrichtungen können jede Unterstützung gebrauchen, genau wie die Organisation des Zivil- und Katastrophenschutzes. Gleichzeitig bringt es auch etwas für die teilnehmenden jungen Leute: erstens gebraucht zu werden und zweitens der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Davon bin ich tief überzeugt. Auch darüber sollten wir nach der Schadensbeseitigung reden.
({1})
Kommen wir nun zum Fluthilfefonds. Er setzt genau dort an, wo nun eine doppelte Herausforderung ansteht; es ist der Kraftakt aus Bewältigung der akuten Lage und langfristigen Entscheidungen, den Kommunen vor Ort nun stemmen müssen. Die mit dem Aufbauhilfefonds zugesagten Mittel in Höhe von 30 Milliarden Euro sind ein wichtiges Signal für die Menschen und die Kommunen vor Ort. Wir möchten euch sagen: Ihr seid nicht allein, wir lassen euch nicht im Stich, wir kriegen das zusammen hin.
({2})
Ich danke Armin Laschet, dass er in seinem 100-Tage-Programm das Thema Planungsbeschleunigung auf die Agenda gehoben hat.
({3})
Den betroffenen Kommunen kann nur Geld helfen, dessen Einsatz nicht an komplizierten Rahmenbedingungen scheitert. Wenn eine Brücke, die jetzt vielleicht einen Durchlass von 2 Metern hat, demnächst einen Durchlass von 3 Metern haben muss, dann dauert die Realisierung in Deutschland in der Regel zehn Jahre. Sie können sich vorstellen, dass wir uns das an dieser Stelle nicht leisten können.
Abschließend: Es ist toll, wie schnell und unbürokratisch die Soforthilfen ausgezahlt, abgewickelt wurden. Nordrhein-Westfalen hat schnell einen Sonderbeauftragten zur Koordinierung eingesetzt. So muss es sein: Hand in Hand, besonders auf der planerischen Ebene. Unser Land ist stark. Gemeinsam bekommen wir das hin. In Nordrhein-Westfalen haben wir die kommunalfreundlichste Regierung seit Jahrzehnten, und auch der Bund hat da in den letzten Jahren nicht zurückgestanden. Armin Laschet wird die kommunalfreundliche Politik des Bundes fortsetzen.
({4})
Herzlichen Dank.
({5})
Das Rednerpult wird vorbereitet für den Kollegen Otto Fricke, FDP.
({0})
Und jetzt hat er das Wort.
Geschätzter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Um es vorweg zu sagen: Es ist gut, dass die Bundesregierung in der Lage war, dieses Gesetzespaket, dieses Artikelgesetz mit 14 Artikeln – wir hoffen, es werden noch ein bisschen mehr –, hinzubekommen. Denn was ist die Aufgabe von uns allen Politikern? In einer sozialen Marktwirtschaft am Ende doch immer, dafür zu sorgen, dass da, wo Privat nicht helfen kann, obwohl so viel getan wurde, der Staat hilft.
Es ist viel darüber geredet worden, dass den Betroffenen geholfen werden muss. Es gibt aber eine zweite Gruppe, an die wir auch denken müssen – Frau Ministerpräsidentin und Herr Finanzminister, wenn Sie vielleicht auch den Volksvertretern zuhören würden; das wäre mir sehr wichtig; Sie wollen ja später sicherlich auch mal dem Volk zuhören –, nämlich an diejenigen, die jetzt Angst haben, dass sie in Zukunft von einem solchen Ereignis betroffen sein werden. Da wir einen Klimawandel haben, müssen wir, neben der Frage der Hilfe für die akut Betroffenen, auch denen, die in Zukunft betroffen sein könnten, klarmachen: Wir denken auch an sie. Hier haben sie die FDP an ihrer Seite.
({0})
Meine Damen und Herren, wann immer wir uns in der letzten Zeit mit der Frage der Probleme und Krisen in unserem Staat beschäftigt haben, hatte ich als alter Shakespeare-Fan immer so ein bisschen das Gefühl, dass der Grundsatz, wie es in dem Stück „Die lustigen Weiber von Windsor“ ironischerweise ausgerechnet Frau Fluth sagt, „Besser drei Stunden zu früh als eine Minute zu spät“, bei dieser Großen Koalition leider nie gegolten hat. Man kann das aktuell ganz deutlich am Cell Broadcasting sehen. Über Jahre hinweg haben alle gesagt: Jetzt macht das doch mal. – In dieser Regierung – das hat man auch bei Afghanistan wieder gemerkt – hat jedes Haus irgendeinen anderen Grund, warum irgendetwas irgendwo doch nicht funktionieren kann. Ich hoffe, dass wir das jetzt durchbekommen.
Schauen Sie sich den Katastrophenschutz an. Ich habe das Gefühl: Alle waren guten Willens. Es waren viele zuständig, aber keiner entscheidend verantwortlich. Auch das müssen wir in Zukunft klarer regeln. Wie das dann konkret zwischen Ländern und Bund aussieht, das wird hoffentlich die nächste Regierung gemeinsam mit den Ministerpräsidenten und dann durch den Gesetzgeber klären.
({1})
Nächster Punkt. Bei der Frage, wie das nun finanziert wird, könnten Sie sagen: Jetzt kommt der kleingeistige Haushälter und fängt an, nachzurechnen. – Nein, der fängt nur dann an, nachzurechnen, wenn so eine Aussage kommt wie die von Ihnen, Frau Ministerpräsidentin. Denn man muss eben auch gucken, dass es dort ankommt, wo es hingehört und wo es gebraucht wird. Deswegen bin ich froh, dass das passiert. Bei der Frage – ich sage das nur mal am Rande –, warum der Bund die Bundesstraßen alleine finanziert, das Land aber die Landstraßen hälftig vom Bund mitfinanziert bekommt, könnte man auch diskutieren, ob diese Aufteilung richtig ist. Aber stellen wir das mal dahin.
Ich möchte einen zweiten Punkt noch mal verdeutlichen im Hinblick auf „Besser drei Stunden zu früh als eine Minute zu spät“. In diesem Gesetzentwurf befinden sich zwei Artikel, die sich mit dem Bundesfernstraßengesetz und mit dem Allgemeinen Eisenbahngesetz beschäftigen. Die sind im Grundsatz gut, weil sie auf einmal das ermöglichen, was in diesem Hohen Hause von der Großen Koalition und insbesondere von den Grünen sonst immer verwehrt wurde, nämlich Planungsbeschleunigung. Und zwar wie? Indem gesagt wird: Dort, wo durch diese Katastrophe die Situation entstanden ist, dass man Fernstraßen und Eisenbahn erneuern muss, da kann man dann planungsmäßig beschleunigen, selbst wenn es eine gewisse Grundrissveränderung etc. gibt.
Ich habe hier an die Koalition und die Bundesregierung noch mal eine Bitte, weil ich weiß, an welcher Stelle das entschieden wird. Diese Artikel sagen bisher nur, dass diese Möglichkeiten an der Stelle bestehen, wo die Katastrophe zugeschlagen hat. Aber es kann doch nicht sein, dass das im Ahrtal möglich ist und drei, vier Täler weiter, wo die Katastrophe dieses Mal nicht so stark zugeschlagen hat, das nicht möglich ist. Wir haben aber einen Klimawandel und wissen, dass Katastrophen häufiger zuschlagen werden. Deswegen bitte ich darum, dass Sie, liebe Koalition, liebe Regierung, noch mal in sich gehen und sagen: Das gilt überall dort, wo genau diese Gefahren auch in Zukunft bestehen werden. Wir denken nicht nur an die, die schon Opfer gewesen sind, sondern wir wollen verhindern, dass auch andere noch Opfer werden. Denn dann sind wir drei Stunden zu früh und nicht eine Minute zu spät.
Herzlichen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Ihnen, Frau Ministerpräsidentin Dreyer, ausdrücklich dafür dankbar, dass Sie hier das menschliche Leid geschildert haben. Denn das, was man in den Flutregionen erleben musste, was man an Bildern sehen musste, was die Menschen erlebt haben, wird uns in den Regionen noch lange beschäftigen. Was wir hier tun können – ich bin froh, dass die Bundesregierung diesen Schritt geht; wir gehen ihn mit –, ist, dass wir das deutliche Signal setzen: Wir wollen wenigstens die finanziellen Folgen abmildern und Wiederaufbau leisten. Das ist ein gutes Signal in die Regionen.
({0})
Man muss aber auch sagen: Die eigentliche Herausforderung ist, zu verhindern, dass wir nächstes oder übernächstes Jahr hier wieder stehen und über die gleichen Fragen diskutieren müssen. Neben der akuten Aufbauhilfe, die wichtig und entscheidend ist, ist es ganz wichtig, auch die nötigen Konsequenzen zu ziehen.
({1})
Viele hier haben das Thema Warnung angesprochen. Ich glaube nicht, dass es mit Cell Broadcasting und Sirenen getan ist. Wir brauchen eine andere Aufstellung des Katastrophenschutzes. Wir müssen dafür sorgen, dass die Botschaften und Warnungen bei den Menschen ankommen. Denn ich habe in den Flutgebieten überall gehört: Wenn wir gewusst hätten, wie schlimm es wird, dann hätten wir noch viel mehr tun können, noch viel mehr retten können. – Das muss anders werden.
({2})
Meine Damen und Herren, wir brauchen Hochwasservorsorge. Da geht es vor allen Dingen darum, dass wir jeden Kubikmeter Wasser nicht nur an den großen Flüssen, sondern auch in den Mittelgebirgen, in der Landschaft, im Gelände halten. Das bedeutet vor allen Dingen mehr Natur. Das bedeutet weniger Zersiedlung, Bebauung und Betonierung. Das bedeutet Wiedervernässung. Das bedeutet an dieser Stelle gesunde und erhaltenswerte Wälder. Herr Laschet – er ist jetzt nicht mehr hier –
({3})
hat sich in Nordrhein-Westfalen in der Vergangenheit leider nicht mit Ruhm bekleckert; auch das muss man sagen. Hier ist Hochwasservorsorge sträflich vernachlässigt worden. Das muss sich ändern, auf allen politischen Ebenen.
({4})
Meine Damen und Herren, worum es natürlich ganz zentral geht, ist, dass wir alles dafür tun, dass die Wahrscheinlichkeit und die Zahl der Extremwetter und ihr Ausmaß reduziert werden. Dafür brauchen wir endlich engagierten Klimaschutz.
({5})
Wir haben im Moment diese Katastrophe bei gut 1 Grad Temperaturerwärmung auf der Welt. Was wird sein, wenn, wie uns die Wissenschaft sagt, wir am Ende des Jahrhunderts – das werden unsere Kinder erleben – 3 bis 4 Grad haben werden, wenn wir so weitermachen? Das darf nicht sein!
Herr Scholz und Herr Laschet – wenn er da wäre –, wer soll Ihnen eigentlich die Ankündigungen, die wir jetzt wieder zum Klimaschutz gehört haben, glauben? Die Union regiert hier seit 16 Jahren, die SPD noch länger. Es hat hundert Weckrufe und Anlässe gegeben, mehr für den Klimaschutz zu machen. Sie haben es nicht getan.
Meine Damen und Herren, ich habe es aufgegeben, zu hoffen, dass Sie dies zum Anlass nehmen werden, ernsthaft etwas für den Klimaschutz zu machen. Deshalb braucht es hier in der Bundesrepublik Deutschland eine andere Verantwortung.
Danke schön.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz, in Nordrhein-Westfalen, in Sachsen und auch in Bayern hat uns zutiefst erschüttert. Wir mussten fassungslos mitansehen, wie über 180 Menschen verstarben. Wir sind in Gedanken bei den Familien und möchten ihnen hier vom Deutschen Bundestag aus unsere tiefe Anteilnahme aussprechen.
Wir mussten zusehen, wie unzählige Menschen alles verloren haben, wie binnen kürzester Zeit Lebenswerke zerstört wurden, die die betroffenen Personen über eine lange Zeit aufgebaut hatten. Das hat nicht nur finanzielle Lücken gerissen, sondern auch die Menschen vor Ort zutiefst seelisch belastet. Die Flut war extrem. Dort, wo Messeinrichtungen funktioniert haben und noch standen, lag der Messwert bisweilen bei mehr als 50 Prozent über dem Höchstwert der letzten 75 Jahre.
Ich kann nur sagen: Wir als Deutscher Bundestag lassen Sie nicht alleine; denn wir werden mit diesem Fluthilfefonds helfen. Dieses Signal senden wir heute vom Deutschen Bundestag aus.
({0})
Selbstverständlich machen wir eine Sondersitzung, um nach der ersten Stufe der Soforthilfe diese zweite Stufe der Hilfe auf den Weg zu bringen. Wir werden schnell handeln: Heute haben wir die erste Lesung, am 7. September beschließen wir das Gesetz, und am 10. September wird es im Bundesrat beraten. Also: Auch hier gibt es eine schnelle Hilfe.
Ich möchte Danke sagen: Danke an die vielen Helferinnen und Helfer von Polizei, Bundeswehr, Verwaltung, Hilfsorganisationen, THW, Rotem Kreuz, Johannitern und vielen, vielen anderen. Ich möchte aber auch Danke sagen für die vielen privaten Initiativen von Handwerkern, von Privatleuten. Dieses Engagement hat gezeigt, dass in unserem Land zusammengehalten wird und dass wir dort helfen, wo es dringend notwendig ist. Danke von ganzem Herzen an alle Beteiligten und Gottes Segen für die Betroffenen!
So wie die Flut das uns bekannte Maß massiv überschritten hat, so muss auch unsere Hilfsbereitschaft einen deutlich größeren Schritt als bisher machen. Bisher hatten Hilfsfonds immer eine Höhe von 8 Milliarden Euro; so war auch der letzte Fonds gestaltet. Heute bringen wir einen Fluthilfefonds mit 30 Milliarden Euro für die Länder Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Bayern auf den Weg. Übrigens ist auch wichtig, die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht bis 31. Januar 2022 und einen Pfändungsschutz für Privatleute zu erwähnen. Auch das ist ein wichtiges und notwendiges Signal.
Wir werden sicherstellen, dass das Geld aus diesem Fonds bei den Privathaushalten und bei den Unternehmern, bei den Vereinen und bei den sonstigen Betroffenen schnell und unbürokratisch ankommt. Es ist für alle, die durch das Hochwasser im Juli geschädigt wurden.
Hier möchte ich aus bayerischer Sicht noch eine Besonderheit mit einbringen – das sei mir in der Debatte erlaubt –: Es gibt eine Stadt in Bayern, Landshut, die am 29. Juni ein Hochwasser erlebt hat, also unmittelbar vor dem Hochwasser im Juli. Ich bitte darum, diese Schäden, die in einem engen Zusammenhang mit der gesamten Fluthilfe stehen, aufzunehmen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden mit diesem Fonds die Infrastruktur wiederaufbauen. Wir flankieren das mit der Regelung, dass es bei dem Wiederaufbau zu keinem neuen Planfeststellungsverfahren kommen muss, auch wenn nicht eins zu eins aufgebaut wird, auch dann nicht, wenn vielleicht ein Stück mehr Hochwasserschutz, ein Stück mehr Klimaschutz in die neuen Gebäulichkeiten, in die neue Infrastruktur kommt. Das ist wichtig für die Planungsverfahren, die sonst sehr, sehr lange dauern. Wir müssen hier natürlich den Hochwasserschutz verbessern.
Lieber Herr Kollege Krischer, ich will jetzt noch am Schluss sagen: Sie machen NRW dafür verantwortlich, dass kein Hochwasserschutz gemacht worden ist. Der Ministerpräsident ist seit vier Jahren im Amt. Sie wissen, wie lange die Planungsverfahren dauern. Wer hat denn vorher die Verantwortung getragen? Rot-Grün war das.
({2})
Sie haben in Nordrhein-Westfalen gar nichts gemacht.
({3})
Gar nichts! Die Folgen Ihres schlechten Handelns sind jetzt in diesem Land zu spüren.
({4})
Armin Laschet packt das an und setzt es um. Auch das muss man in dieser Debatte einmal sagen. Also seien Sie nicht so scheinheilig, und kehren Sie vor Ihrer eigenen Türe. Sie blockieren die vielen Planungsverfahren. Sie haben verhindert, dass in NRW etwas vorangegangen ist.
Herzlichen Dank.
({5})
Dr. Lukas Köhler, FDP, ist der nächste Redner.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Präsident, Sie haben heute in Ihrer Begrüßung drei Themen angesprochen. Sie haben auf all diese drei in ihrer Dimension jeweils schrecklichen Ereignisse hingewiesen. Ich glaube, man kann traurigerweise einen roten Faden finden, der sich durch diese drei Themengebiete zieht. Das ist die Frage: Wie handlungsfähig ist eigentlich der Staat in Deutschland? Diese Handlungsfähigkeit steht leider im Moment nicht nur im Bereich der epidemischen Lage, nicht nur im Bereich von Afghanistan, sondern leider auch im Bereich des Klimaschutzes, aber vor allen Dingen in der Klimaanpassung so infrage, dass es eine neue Denkweise braucht. Es gibt so viel zu tun in unserem Land, dass wir nicht mehr die Augen vor der Notwendigkeit verschließen können, da möglichst schnell, vor allen Dingen möglichst effizient zu werden.
({0})
Diese Frage der Handlungsfähigkeit ist damit ganz eng verknüpft: Wie gehen wir eigentlich vor? Es geht ein Gespenst in Deutschland um, und dieses Gespenst heißt Effizienz. Es scheint in Deutschland die Angst zu geben, dass wir effizient und schnell handeln. Das Schlimmste – keine Sorge, ich ende nicht mit den Worten: Proletarier aller Länder, vereinigt euch! –
({1})
an dieser Idee, dieser Angst ist, dass wir uns zurücknehmen, und zwar unbewusst, ohne dass wir dem Staat wirklich schaden wollen. Ich denke nicht, dass es an den Beamtinnen und Beamten liegt. Es liegt vor allen Dingen nicht an den vielen tollen Helferinnen und Helfern. Frau Dreyer, Sie haben sehr schön dargestellt, wie viel Solidarität es in Deutschland gibt. Dafür müssen wir dankbar sein.
Ich glaube, diese Leute wollen, dass es in Deutschland schnell vorwärtsgeht. Das sind aber auch alles Leute, die erwartet hätten, dass mehr als null Euro abgerufen werden, wenn die Bundesregierung wie im letzten Jahr 30 Millionen Euro für Klimaanpassung in den Haushalt einstellt. Diese Leute hätten erwartet, dass die Verwendung der Gelder, die wir auch im Vorfeld für Klimaanpassung ausgeben wollten, effizient evaluiert worden wäre. Sie würden erwarten, dass sie nicht erst solidarisch werden müssen, wenn es zu spät ist, sondern sie hätten erwartet, dass es eine Bundesregierung hinbekommt, dass wir in Deutschland effizient, schnell und handlungsfähig werden.
Wir legen einen Antrag vor und zeigen, wie das gehen kann. Wir legen zehn Punkte vor. Wir legen richtungsweisende Ideen vor, wie wir schnell und effizient handlungsfähig werden.
({2})
Dazu gehört die Digitalisierung. Dazu gehört die Frage, wie wir den Ausbau beschleunigen. Die Planfeststellungsverfahren, Herr Laschet, die Sie angesprochen haben, sind ja richtig. Aber warum haben wir davon nichts gesehen? Sie hatten vier Jahre Zeit. Sie hätten noch viel länger Zeit, da schneller zu werden. Nichts davon hat geklappt, nichts ist passiert.
Ich glaube, wir können und wir müssen Klimaschutz und Klimaanpassung miteinander denken; wir müssen sie verbinden. Dazu braucht es aber einen klaren Plan. Den sehe ich leider noch nicht. Ich hoffe darauf, dass Sie unserem Antrag zustimmen, weil Sie dann einen haben.
Vielen Dank.
({3})
Sebastian Hartmann, SPD, ist der nächste Redner.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Den 14. Juli werden wir nicht so schnell vergessen, als ein unvorstellbares Unwetter Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und auch meine Heimat, den Rhein-Sieg-Kreis, direkt getroffen hat, als in meiner nächsten Nachbarkommune und in dem angrenzenden Ort neun Menschen ums Leben gekommen sind, viele Menschen verletzt worden sind und Hunderte von Menschen traumatisiert zurückgeblieben sind.
Es ist ein starkes Signal, Herr Vizekanzler, dass wir alles das, was wir mit Geld aufwiegen können, auch in Geld bezahlen, ein starkes Signal, dass wir hier im Deutschen Bundestag über die Grenzen der demokratischen Fraktionen hinweg das Geld mobilisieren, das man in dieser Situation mobilisieren kann.
({0})
Aber, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir müssen feststellen, dass das ein Katastrophensommer ist. Genauso wie der Kollege aus Bayern angesprochen hat, dass auch wenige Tage zuvor in Bayern ein Unwetter war, so gab es auch 40 Tage davor schon in der Stadt Hennef in meiner Heimat, dem Rhein-Sieg-Kreis, mit einem Starkregenereignis ein solches Unwetter. Ich hätte mir die Worte Armin Laschets, der leider nun nicht mehr da ist, auch gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Hennef in meinem Wahlkreis gewünscht, die eigentlich nur Absagen und lange und bürokratische Verfahren bekommen haben. Lassen Sie uns auf Ebene der Länder und lassen Sie uns im Bund deutlich machen: Da, wo solche Unwetter stattfanden, ob in Bayern oder im Rhein-Sieg-Kreis, müssen auch die Landesregierungen – ich appelliere an Nordrhein-Westfalen – einfache Verfahren ermöglichen, weil die Bürgerinnen und Bürger vor dem blanken Nichts stehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Ein zweiter Punkt wird bei diesem Unwetter nie vergessen werden: auf der einen Seite die unermessliche Zerstörung an Infrastruktur, an Gebäuden und das, was noch alles verloren gegangen ist. Auf der anderen Seite ist mir ein Bild in Erinnerung geblieben, als die Bundeskanzlerin und Sie, Frau Ministerpräsidentin Malu Dreyer, gemeinsam die Ahr besucht haben. Sie haben sich gegenseitig gestützt. Das ist ein Symbol der Solidarität in der Krise, liebe Kolleginnen und Kollegen. Über jede Partei- und jede Fraktionsgrenze hinweg tun wir das, was möglich ist, um die Not vor Ort zu lindern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Solidarität in der Krise bedeutet auch, dass wir den Helferinnen und Helfern Dank und Anerkennung aussprechen, egal ob man über Jahrzehnte in Hilfsorganisationen engagiert war oder sich spontan auf den Weg gemacht hat. Es sind viele Mitbürgerinnen und Mitbürger, die nicht nur ihr Leben riskiert haben, sondern alles aufs Spiel gesetzt haben, als es darum ging, anderen Menschen zu helfen. Sie haben einen Anspruch darauf, dass wir als Staat alles für einen modernen Bevölkerungsschutz mobilisieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deswegen lassen Sie uns heute nicht nur die Hilfen auf den Weg bringen, sondern lassen Sie uns auch in Zukunft deutlich mehr in Warnung, in Sensibilisierung und in einen modernen Katastrophenschutz in Deutschland investieren. Denn wir verlassen uns auf die Helferinnen und Helfer in der Not – viele von ihnen im Ehrenamt. Sie müssen sich auf uns auch verlassen können. Wir zeigen diese Solidarität auf allen staatlichen Ebenen.
Herzlichen Dank.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 hat mein Wahlkreis, meine Heimat, sein Gesicht für immer verloren. Zehntausende Menschen im Ahrtal, in meiner Heimat, haben ihre Heimat verloren, ihre Wohnungen verloren, und 134 Menschen haben ihr Leben verloren. Obwohl ich mitten aus dieser Katastrophe komme, will ich heute die Gelegenheit nutzen, um mit Ihnen zusammen nach vorne zu gucken und auch das Gute zu sehen.
Ich möchte an erster Stelle den vielen, vielen Tausend Helfern danken, die zu uns ins Ahrtal gekommen sind und wirklich mit angepackt haben: die die die Ärmel hochgekrempelt haben, die mit Schaufeln, Eimern und Schubkarren kamen, die die Leute in den Arm genommen und getröstet und die Keller leergeräumt haben. Ihnen allen ein ganz, ganz großes Dankeschön! Ohne sie hätten wir das nicht geschafft.
({0})
Es gab da die Helfer mit den Helfer-Shuttles, es wurden Plattformen organisiert, die Betriebe – große und kleine – mit den schweren Maschinen waren da. Das waren Bauunternehmer genauso wie Gartenbauer und Bauern. Und ich möchte auch die Winzer nennen. Die Solidarität der Winzer untereinander kann man sich gar nicht vorstellen. Die waren alle da, und ich bin mir sicher: Sie werden die Lese dieses Jahr zusammen einbringen, obwohl sie alle zu Hause natürlich auch ihre Weinberge haben. Auch ihnen ein riesengroßes Dankeschön!
({1})
Natürlich denke ich auch an alle Handwerker. Wir sagen hier immer: Man findet in Deutschland keinen Handwerker mehr. – Wir im Ahrtal haben aber erlebt, dass unglaublich viele Handwerker da waren – angefangen von Elektrikern, dann kamen die Dachdecker, die Klempner, die Heizungsbauer. Ich bin ihnen allen so dankbar, dass sie bei mir in der Heimat, im Ahrtal, waren, und ich hoffe, dass sie noch lange dableiben werden und dass auch die Nächsten kommen: die Estrichleger, die Putzer, die Maler und alle, die wir noch brauchen. Auch ihnen ein herzliches Dankeschön!
({2})
Die Kollegen haben es schon gesagt: Es gab die professionellen Helfer. – Ich brauche es nicht mehr zu wiederholen, aber vielleicht ein Wort zur Bundeswehr: Sie hat bei uns einen Riesenjob gemacht. Sie ist so beliebt, wie sie es, glaube ich, in der ganzen Region noch nie war, und wir waren immer schon aufseiten der Bundeswehr. Auch ihr einen ganz großen Dank! An dem Material, was sie da gefahren hat, konnte man wirklich die Ausbildung sehen, die unsere Leute bei der Bundeswehr genossen haben.
({3})
Diese Menschen, die da ins Tal kommen, zeigen wirklich die beste Seite von Deutschland, die wir sonst leider viel zu oft nicht sehen. Ohne die Helfer hätte es bei uns nicht funktioniert, und ohne sie hätten wir alle in der Region noch ein Stück Hoffnung mehr verloren.
Wenn ich jetzt mal auf unsere Leute in den Dörfern und im Tal gucke: Beeindruckend ist der Zusammenhalt in den Orten, mit welchem Mut, mit welcher Zuversicht, mit welcher Tatkraft die Leute ans Werk gehen. Jeden Tag sind sie am Arbeiten, und abends wird sich zusammengesetzt. Man hat sich gefunden; man hat praktisch neue Marktplätze geschaffen. Da setzt man sich zusammen, bespricht den Tag, überlegt: Was kann man noch tun? Wer braucht Hilfe? Wie viele Helfer kriegen wir morgen? Wo schicken wir sie hin? – Sie sitzen zusammen und essen und trinken, und, ja, sie lachen sogar zusammen. Es ist einfach großartig, das zu sehen. Das ist typisch Rheinland, und dafür mag ich meine Leute.
({4})
Das alles machen sie trotz der vielen Tage ohne Wasser, ohne Strom, ohne Telefon. Natürlich waren die Straßen kaputt, und es gab Dorfteile, die man nicht erreicht hat. Ohne Küche, ohne Toilette: Das müssen Sie sich vorstellen! Kein Arzt, keine Apotheke, und Sie können natürlich nicht einfach mal einen Pflegedienst anrufen. Alles wurde in den Orten geregelt, solange noch niemand von außen kommen konnte.
Ja, wir nehmen heute für die erste Lesung viel Geld in die Hand, und ich bin wirklich dankbar dafür, dass wir das machen. Geld allein wird aber nicht reichen. Wichtig ist, dass wir das Tempo erhöhen. Die Leute in meiner Heimat wollen wissen – wir brauchen die Information –, wer wann was von der Entschädigung, von den 30 Milliarden Euro, die wir jetzt ins Schaufenster stellen, bekommt. Sonst werden viele die Hoffnung, aber auch das Vertrauen in unseren Staat verlieren.
Die Einsatzleitung in Rheinland-Pfalz hat viel Kritik auf sich gezogen, und ich muss hier sagen – Frau Dreyer, Sie sind da –: Mit Recht hat sie viel Kritik auf sich gezogen. Vieles läuft einfach vollkommen unkoordiniert, schleppend und auch von oben herab.
Wenn wir das jetzt beschlossen haben, wird der Einsatz der Flutmittel wieder durch die Landesregierung – wieder durch Frau Dreyer – koordiniert werden. Deswegen hier an der Stelle meine dringende Bitte, Frau Dreyer: Das muss nun wirklich effizienter gehen, und es muss flexibler erfolgen.
Sie haben den Helfern gedankt, und ich muss sagen: Das finde ich wirklich großartig und gut von Ihnen. Aber wo ist Ihre Verantwortung? Was müssen Sie tun? Darauf haben Sie keine Antwort gegeben, sondern Sie haben nur darauf verwiesen, was die Ehrenamtlichen und die Freiwilligen bis jetzt alles getan haben.
({5})
Wir brauchen im Ahrtal jetzt wirklich nicht Verwaltung pur, wir brauchen auch nicht die Goldrandlösung, und wir brauchen auch kein Schaulaufen von Ihren Ministern oder von Ihnen, wobei keiner offen reden kann. Ich erlebe das fast wöchentlich mit Ihnen: Keiner darf offen reden, keiner darf den Finger in die Wunde legen. Das ist Ihre Politik. Sie machen damit Parteipolitik auf dem Buckel der Leute, die im Ahrtal sind.
({6})
Wir brauchen Verwaltungen, die wirklich Dienstleister für die Menschen sind, die schnell entscheiden und die lösungsorientiert entscheiden. Wir brauchen Unterstützung, und wir brauchen keine Bevormundung.
({7})
Vor Ort wissen wir sehr gut, warum wir genau da wohnen und warum wir auch da leben wollen. Deswegen brauchen wir auch keinen Grünen, auch keinen Herrn Habeck, der zu uns ins Tal kommt und der dann von oben herab sagt: Euch da unten, euch vor Ort, sollte man die Hoheit wegnehmen, wenn ein Bauvorhaben genehmigt wird.
({8})
Das müssen wir auf eine Ebene höher ziehen. – So einen brauchen wir im Ahrtal nicht.
({9})
Ich bin natürlich für den vorliegenden Gesetzentwurf. Ich begrüße ihn sehr und danke, dass wir hier einen Konsens haben, dass wir das beschließen. Ich danke auch allen Kollegen, die sich gemeldet und wirklich geholfen haben – auch in den Flutgebieten –,
({10})
und ich hoffe, ihr helft auch noch weiter; denn es wird ein langer Ritt. Wir sind heute erst am Anfang und nicht am Ende.
Vielen Dank.
({11})
Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Detlef Seif, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident, mit Ihrer Zustimmung zitiere ich zunächst aus dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ bzw. der „Kölnischen Rundschau“ – Redakteurin Ramona Hammes –:
Die Flutnacht, die Sabine Pohlen mit ihrem Mann Peter Schröder in der ersten Etage ihres Hauses verbracht hat, ist schlimm gewesen. Doch das ganze Ausmaß des Schreckens offenbart erst der folgende Tag für die Familie. Nach Stunden der Suche und der quälenden Ungewissheit wird für sie feststehen: Ihr Vater ist tot. Ihre Nachbarin ist tot. Ein junges Mädchen aus der Verwandtschaft ist tot. Ihr Haus ist zerstört. Das Haus ihres Vaters ist zerstört.
Dieses Einzelschicksal macht in besonderer Weise die traurige und belastende Gesamtsituation deutlich.
Allein im Land Nordrhein-Westfalen starben 47 Menschen, darunter 4 Feuerwehrleute im Einsatz. In meinem Wahlkreis gibt es den Tod von 26 Menschen zu beklagen. Nahezu alle Kommunen im Kreise Euskirchen sind schwer betroffen; das kann man in der Medienberichterstattung nicht nachvollziehen, weil immer nur die Dinge gezeigt werden, die besonders schlimm sind und bei denen man auch was fürs Auge hat. Durch den gesamten Kreis Euskirchen zieht sich eine Schneise der Verwüstung, die man sich gar nicht vorstellen kann.
Tausende Menschen sind psychisch extrem belastet, viele sind traumatisiert – sei es, weil sie einen lieben Menschen verloren haben oder sahen, wie ein Mensch ums Leben gekommen ist, oder sei es, weil sie vor dem Wasser geflüchtet sind und stundenlang irgendwo kauerten und Todesangst hatten.
Die Geschäftstätigkeit in den Einkaufsbereichen von Euskirchen – das ist bei uns das Mittelzentrum –, von Bad Münstereifel, von Schleiden, von Gemünd und von Kall wurde quasi über Nacht weggespült. Viele Menschen wurden obdachlos. Vielen Unternehmern und Handwerkern wurde die Existenzgrundlage unter den Füßen weggezogen. Die Infrastruktur ist in weiten Teilen zerstört.
Die Kinder und Jugendlichen tun mir besonders leid. Gebeutelt durch die Pandemie, haben sie sich auf die Schulferien gefreut und finden sich in einem Katastrophenszenario wieder.
Beeindruckt haben mich – das wurde ja vorhin vielfach wiederholt, aber ich sage es an der Stelle auch noch mal – die vielen Helfer aus nah und fern. Vielen Dank an alle Helfer für die großartige Unterstützung und Solidarität!
({0})
Jetzt ist schnelle finanzielle Hilfe für die Betroffenen gefragt. Die Soforthilfe war goldrichtig; aber sie gibt natürlich nur einen ersten, einen kleinen finanziellen Spielraum. Jetzt steht der Wiederaufbau an. Bis zu 80 Prozent des Schadens von Privathaushalten, Unternehmen, Landwirten und Einrichtungen wie Vereinen und Stiftungen sollen reguliert werden. Ich setze mich dafür ein, dass das in Härtefällen durchaus bis zu 100 Prozent sein sollen.
Was wir auf den Weg bringen – hier und heute –, ist eine wirklich große und starke Hilfe. In Gesprächen mit Betroffenen stelle ich aber immer wieder fest: Die wissen gar nichts von dem, was wir hier auf den Weg bringen. Die haben sich teilweise eingeigelt. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir vor Ort, auch die Kommunen, jedem Betroffenen klarmachen: Hier kommt eine starke staatliche Hilfe. – Wer nicht versichert ist und vor den Trümmern seiner Existenz steht, der braucht jetzt ein klares Signal, und wir sollten das zu ihm bringen, wenn er zurzeit mental nicht in der Lage ist, es aufzunehmen.
Meine Damen und Herren, finanzielle Unterstützung führt aber nicht automatisch zum Wiederaufbau. Es liegen große Herausforderungen vor uns. Die Betroffenen müssen erst Unternehmen und Handwerker finden, und es besteht ein hoher Materialbedarf. Das setzt ganz große Anstrengungen voraus.
Hier ein Hinweis an die Grünen, die ja auch einen Antrag eingebracht haben: Wenn Sie sagen, dass wir hier besonders hohe Standards beim Klimaschutz umsetzen und auch städtebauliche Sanierungsmaßnahmen auf den Weg bringen sollen, kann das am Bedarf der Betroffenen vorbeigehen. Bald ist Winter. Tausende Heizungen sind zerstört. Gehen Sie mal in die betroffenen Gebiete, und reden Sie mit den Menschen. Die Gebäude müssen schnell wieder nutzbar gemacht werden.
Modernisierung ohne zeitlichen Verzug: in Ordnung. Aber wenn zeitlicher Verzug damit verbunden ist, bitte einen anderen Weg gehen. Das muss auf freiwilliger Basis laufen, und dann ist das auch in Ordnung. Ein Modernisierungszwang würde die Betroffenen hier zusätzlich unter Druck setzen und zu deutlichen Verzögerungen führen. Das ist klipp und klar abzulehnen. Jetzt sind schnelle Lösungen gefragt und keine Dogmen.
Vielen Dank.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben heute die Zahl von 100 Millionen verabreichten Impfdosen überschritten. 100 Millionen Impfungen wurden in sechs Monaten in Deutschland durchgeführt. 65 Prozent der Menschen in Deutschland sind damit mindestens einmal geimpft. Wir haben ein Impfangebot für jeden Menschen in Deutschland, der das nutzen will. Wer hätte vor wenigen Monaten gedacht, dass wir an dieser Stelle sagen können, dass es uns gelingt, in diesem Sommer für jeden Menschen ein Impfangebot zur Verfügung zu stellen? Viele hatten Zweifel. – Es war möglich, meine Damen und Herren!
({0})
Wir haben noch vor Monaten darüber diskutiert, ob es in dieser Pandemie überhaupt eine Chance auf eine schnelle Impfung gibt. Ich kann mich an Gespräche erinnern mit herausragenden Managern von großen Pharmakonzernen, die Zweifel daran hatten, ob das in so einer kurzen Zeit überhaupt möglich ist und ob der Impfstoff in der gewünschten Qualität und Quantität überhaupt zur Verfügung stehen kann.
Ich sage Ihnen sehr deutlich: Ich empfinde es als einen großen Segen, dass es gelungen ist, mit klugen Forscherinnen und Forschern gerade in Deutschland dafür zu sorgen, dass Impfstoffe in ausreichender Art und Weise zur Verfügung stehen und dass neue Technologien zur Anwendung kommen. Ich verweise auf die mRNA-Technologie, die hier bei uns entwickelt worden ist. Ich bin froh und dankbar, dass diejenigen, die für das Impfen werben, eine höhere Akzeptanz und Zustimmung in der Bevölkerung haben als diejenigen, die dagegen polemisieren und damit die Bevölkerung in Gefahr bringen.
({1})
Wir wollen jetzt wieder mehr Normalität erreichen. Es war immer das Ziel, durch das Impfen schneller zurück in die Normalität zu kommen. Und jetzt gilt es eben, dass wir die Balance herstellen zwischen Sicherheit auf der einen Seite und Eigenverantwortung auf der anderen Seite. Wir haben nach wie vor ein dynamisches Infektionsgeschehen; die Infektionszahlen steigen, aber wir impfen Gott sei Dank auch weiterhin.
Es gilt, dass wir alles nutzen, um uns vor diesem Infektionsgeschehen auch weiterhin zu schützen. Deswegen brauchen wir beides: Wir brauchen die Verlängerung der epidemischen Lage, um das Risiko zu beherrschen, das mit dem Infektionsgeschehen verbunden ist, und wir brauchen die Änderung des Infektionsschutzgesetzes, um deutlich zu machen, dass die Inzidenz als Maßstab zur Beurteilung des Infektionsgeschehens ihre Bedeutung verloren hat. Wir wollen Normalität erreichen, und dazu gehört mehr Eigenverantwortung, dazu gehören Impfen und Testen. Das ist der Weg in die Normalität, meine Damen und Herren.
({2})
Wir wollen die Inzidenz als Maßstab ersetzen, und wir wollen einen neuen Maßstab einführen: Hospitalisierung, das heißt die Intensivbettenauslastung. Wir wollen die Krankenhauseinweisung zum entscheidenden Kriterium machen. Wir wollen eine Krankenhausampel erstellen, die anzeigt, wie stark das Gesundheitswesen belastet ist. Das ist der richtige Weg in die Normalität. Wir wollen das gesellschaftliche Leben wieder umfänglich ermöglichen. Wir wollen, dass die Schulen offen bleiben. Sie müssen offen bleiben, aber sie müssen auch sicher sein. Und deswegen muss neben dem Impfen auch das Testen in den Schulen weiterhin gewährleistet werden.
Jetzt geht es darum, dafür zu sorgen, dass wir die Normalität mit Vorsicht und Umsicht erreichen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass diese Balance zwischen Normalität und Vorsicht und Umsicht nicht immer von allen geteilt wird. Wir haben eine Debatte in der Öffentlichkeit, bei der man manchmal nur mit Befremden zur Kenntnis nehmen kann, wie nach wie vor Risiken und Gefahren ignoriert, negiert und geleugnet werden.
({3})
– Ich habe gestern wieder eine Veranstaltung gehabt, und auch da musste ich wieder damit zurechtkommen, dass – wie immer, wenn man in solche Veranstaltungen geht – jemand dabei ist, der von „Diktatur“ redet oder der „Mörder“ ruft und alles, was man in diesem Zusammenhang so kennt.
({4})
Dann erhält man auch Anrufe, und man bekommt zurzeit viele E-Mails.
({5})
– Ich höre ja Ihre Zurufe.
({6})
Und ich stelle hier Deckungsgleichheit fest. Ich frage mich manchmal: Sind Sie eigentlich der politische Arm der Querdenker, oder sind die Querdenker die Straßenabteilung der AfD?
Ich halte es, ehrlich gesagt, für unmöglich, was Sie hier an dieser Stelle immer wieder betreiben. Sie leugnen Corona. Sie leugnen, dass man mit Impfen dagegen etwas unternehmen kann.
({7})
Und ich sage Ihnen: Einer der größten Gegner des Impfens in den USA, Dick Farrel, der so geredet hat, wie Sie das immer tun, ist in den vergangenen Tagen an Corona gestorben. Ich bedaure das ausdrücklich.
({8})
Das zeigt aber noch einmal die Gefährlichkeit dieser Pandemie.
({9})
Das Leugnen, das ist das Risiko, was Sie den Menschen auferlegen wollen.
Herr Kollege Dobrindt, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?
Ja.
Bitte, Frau Kollegin.
Lieber Kollege Dobrindt, Sie haben in Ihrer Rede sehr viel von Normalität gesprochen und davon, dass man auf der anderen Seite auch nicht unvorsichtig sein darf. Gleichzeitig werben Sie dafür, die Inzidenz als Kriterium vollständig aufzugeben und nur noch auf die Hospitalisierungsrate, also die Zahl der Menschen, die ins Krankenhaus eingewiesen werden, zu setzen.
Nun wissen wir alle, dass die Menschen nicht sofort nach einer Infektion, sondern erst nach geraumer Zeit ins Krankenhaus eingewiesen werden, sodass man das – und da wird mir wahrscheinlich auch der Herr Lauterbach von Ihrem Koalitionspartner beipflichten – wohl nur schlecht als Frühindikator dafür werten kann, wie sich die Infektion in den nächsten Wochen und Monaten entwickelt.
Welchen Indikator planen Sie denn heranzuziehen, um frühzeitig neue Entwicklungen und Gefahren erkennen und identifizieren zu können, wenn Sie jetzt die Inzidenz vollständig aufgeben?
Ich glaube, dass Sie da etwas nicht richtig verstanden haben. Das Robert-Koch-Institut hat auch heute schon Messinstrumente, bei denen mit der Hospitalisierung, das heißt mit der Belastung des Krankenhauswesens, sehr klar Rückschlüsse auf die Infektionslage gezogen werden können. Die Belastung des Krankenhauswesens ist ja gerade ein Ausdruck dafür, dass das Inzidenz- und Infektionsgeschehen entsprechend berücksichtigt wird. Deswegen bleiben wir dabei: Wir gehen diesen neuen Schritt, der mehr Freiheiten ermöglicht, der zusammen mit dem Impfgeschehen einen aussagekräftigen Wert bildet und der darüber eine Aussage trifft, ob man in Deutschland eine akute Gefährdung in einer Region hat oder nicht. Es geht schlichtweg darum, dass das Gesundheitssystem nicht überlastet wird, und das stellen wir mit dieser Regelung fest.
({0})
Herr Kollege Dobrindt, auch der Kollege Dr. Schinnenburg aus der FDP-Fraktion würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Einverstanden?
Ja.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Herr Kollege, was muss noch passieren, damit Sie dafür sind, die epidemische Lage von nationaler Tragweite zu beenden? Sie haben zu Recht gesagt, dass die Impfungen sehr erfolgreich waren. Wir alle haben erlebt, dass die Inzidenzen viel niedriger sind und dass das Gesundheitswesen nicht im Entferntesten gefährdet ist. Also meine Frage: Welche Parameter müssen eintreten, damit Sie endlich die epidemische Lage von nationaler Tragweite aufheben, die drastische Folgen für die Freiheit der Menschen, für unsere Wirtschaft und für Kulturschaffende hat?
Lieber Herr Kollege, ich hatte eigentlich die Hoffnung, dass Sie im Laufe der letzten Wochen und Monate dazugelernt hätten. Wir stellen fest, dass die Infektionszahlen weiter steigen. Wir können sie heute anders bewerten, weil wir einen Impffortschritt in erheblichem Maße haben. Aber das Infektionsgeschehen ist deswegen nicht weg. Sie wollten schon die zweite Infektionswelle leugnen und die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite per Antrag hier im Parlament aussetzen. Es wäre ein Fehler, auf diese Feststellung zu verzichten. Die Sicherheit geht an dieser Stelle weiterhin vor.
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir gehen heute diesen Weg in Richtung Normalität. Wir gehen ihn ausschließlich mit Vorsicht und Umsicht, und wir bringen an dieser Stelle den Gesundheitsschutz und die Lockerungen ohne Leichtsinn in die bestmögliche Balance. Das ist unser Weg in die Freiheit.
Danke schön.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Landsleute! Nahezu am Ende dieses Sondersitzungstages geht es um die epidemische Lage und Corona. Die Inzidenzwerte steigen deutschlandweit von 56 in der Vorwoche auf 60 in dieser Woche. Welche Aussagekraft und Rechtfertigung für die sogenannte epidemische Notlage leiten Sie denn daraus ab, werte Bundesregierung?
Kommen wir zu meinem Heimatland Sachsen. Dort liegt die Inzidenz trotz geringster Impfquote bei 16,2.
({0})
Was oder wer ist für diese Zahlen verantwortlich, Herr Wanderwitz? Die Diktaturanfälligkeit, mit der Sie als Ostbeauftragter meine Landsleute in Sachsen charakterisieren? Ganz sicher ist es nicht die erfolglose Politik von CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer.
Nun, wertes Bundeskabinett, es sieht so aus, als wäre bei Ihnen so etwas wie Einsicht und Vernunft zu bemerken.
({1})
Diese scheinen sich in unserem föderalen System, in diesem Fall von den Ländern hin zum Bund, zu verbreiten. Das ist spät, aber immerhin! Als ersten Schritt in Richtung Vernunft übernehmen Sie jetzt die Zahl der sogenannten Hospitalisierungen als Richtmarke – endlich, kann man da nur sagen. Die Forderung, sich daran zu orientieren, wurde von uns schon vor Monaten erhoben, Herr Dobrindt.
({2})
Oder könnte es eventuell auch daran liegen, dass wir uns im Wahlkampf befinden und dass Ihnen mit Ihrem CDU-Kanzlerkandidaten die Felle davonschwimmen? Wir haben ja heute seine lasche Rede gehört.
({3})
Und könnte es sein, Herr Lauterbach, dass Sie mit Ihrer Panikmache und Angsterzeugung weiter Wählerstimmen für die SPD einfangen wollen? Und ganz nebenbei, Frau Baerbock: Denken Sie, Sie schaffen es mit Ihrem Lastenrad, vor den Herausforderungen in Deutschland davonzufahren? Auch Ihre Partei hat schließlich dazu beigetragen, dass unsere Gesellschaft vor einem Trümmerhaufen steht, der sich einmal Handwerk und Mittelstand, deutsche Wertarbeit, made in Germany – kurz: die soziale Marktwirtschaft –, nannte.
({4})
Lassen Sie sie mich zum Thema Impfungen kommen. Die soeben veröffentlichte Oxford-Studie zeigt uns: Durchgeimpfte Personen können sich infizieren, und die Viruslast ist vergleichbar mit der von Ungeimpften.
({5})
Können Sie unter Umständen nachvollziehen, dass unsere Bürger ganz klar von ihrem Recht Gebrauch machen, sich jetzt nicht impfen zu lassen? Die Alternative für Deutschland bleibt dabei: Eine Impfentscheidung muss die individuelle Entscheidung eines jeden Bürgers bleiben.
({6})
Wir sehen unter den gegebenen Umständen keine Notwendigkeit, die Grundrechte weiter einzuschränken, und lehnen eine Impfpflicht ab.
({7})
Und nehmen Sie bitte zur Kenntnis: Bürger, die sich nicht impfen lassen wollen, sind keine „Impfverweigerer“. Sie nehmen das ihnen gegebene Grundrecht in Anspruch, selbst über ihre Gesundheit und damit über ihr Leben zu entscheiden.
({8})
Und, Herr Spahn, Grundrechte sind unverhandelbar.
({9})
Werte Kollegen, als Familienvater sage ich darüber hinaus: Es darf im Fall von Covid-19 keine staatliche Impfpflicht bei Kindern geben.
({10})
Unsere Kinder müssen doch vor den gesundheitlichen Spätfolgen bewahrt werden. Das ist die Aufgabe von Politik und Politikern, Herr Dobrindt. Haben die ganzen selbsternannten Virologen hier im Bundestag mittlerweile den Respekt vor der Zukunft der Kinder in unserem Land verloren? Das frage ich Sie.
({11})
Und die politische Einflussnahme nimmt kein Ende. Lange weigerten sich die Experten der STIKO, für alle Minderjährigen ab zwölf Jahren eine Coronaimpfempfehlung auszusprechen. Die Politiker der Union wie die Herren Spahn und Söder wollten das nicht gelten lassen und übten immer wieder Druck auf die STIKO aus. Im Ergebnis setzte sich Bundesgesundheitsminister Spahn über die Expertenposition hinweg
({12})
und beschloss am 2. August mit den Gesundheitsministern der Länder ein sogenanntes Impfangebot für alle Minderjährigen ab zwölf Jahren.
Was kommt als Nächstes? Die Bürger unseres Landes sollen sich bald die Teilnahme am Alltag mit kostenpflichtigen Tests erkaufen. Auch das wird wieder zulasten von lokaler Wirtschaft und Einzelhandel gehen,
({13})
von der Kultur ganz zu schweigen. Damit spalten Sie das Land weiter, Herr Dobrindt.
({14})
Werte Bundesregierung, bitte wirken Sie in Ihrer Kommunikation mit unseren Bürgern endlich einmal deeskalierend.
({15})
Insbesondere bitte ich den Kollegen Karl Lauterbach: Verbreiten Sie endlich mal Mut und Zuversicht in unserem Land,
({16})
anstatt wöchentlich eine neue Apokalypse heraufzubeschwören. Die AfD-Fraktion lehnt eine Verlängerung der epidemischen Lage in Deutschland ab.
Vielen Dank.
({17})
Bärbel Bas, SPD, ist die nächste Rednerin.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir können es durchaus dem Impffortschritt verdanken, dass wir in vielen Bereichen – das spüren wir alle – wieder mehr Freiheiten zurückgewonnen haben. Das ist zum einen ein wirklich gutes Ergebnis, und wir müssen daran festhalten, die Impfkampagne weiter voranzutreiben. Auf der anderen Seite erleben wir eine Delta-Variante, die sehr deutlich zeigt, wie schnell – innerhalb von einer Woche – sich Infektionszahlen verdoppeln können. Und die Verdopplung findet überwiegend bei Menschen statt, die nicht geimpft sind. Das sind insbesondere – weil das gerade auch angesprochen wurde – unsere Kinder im Alter von 12 bis 16, die im Moment noch nicht ausreichend geimpft sind. Aber wir haben eben auch Kinder, für die es noch gar keinen Impfstoff gibt, nämlich Kinder unter 12.
({0})
Wenn ich mit Eltern rede – ich will das mal ganz deutlich sagen –, dann höre ich: Sie haben Angst davor, dass wir keine Maßnahmen mehr ergreifen, einfach sehenden Auges hohe Infektionszahlen in Kauf nehmen und am Ende sich die Kinder infizieren. Das sind die Gespräche, die ich mit Eltern führe.
({1})
Diese Eltern sagen, sie möchten, dass der Präsenzunterricht abgesichert wird, dass wir ausreichend Luftfilteranlagen haben, dass Kinder ausreichend Masken bekommen, dass der Schulbetrieb sicher gemacht wird und dass natürlich auch ein Impfangebot da ist.
Jetzt will ich Ihnen mal eine kleine Anekdote aus meinem Wahlkreis erzählen. Meine Stadt Duisburg macht schon seit Wochen sehr stark mobile Angebote. Diese werden von Eltern und ihren Kindern auch stark in Anspruch genommen. Ein Shuttlebus fährt von der Schule zum Impfzentrum, natürlich nur diejenigen, die das wollen; denn die Eltern müssen einer Impfung zustimmen.
({2})
Meine Stadt Duisburg hat jetzt das Land NRW gefragt, ob die 27 000 Euro für dieses Shuttle übernommen werden. Soll ich Ihnen mal verraten, was das Land Nordrhein-Westfalen geantwortet hat? Machen wir nicht. – 27 000 Euro!
({3})
Wer ablehnt, dass mobile Möglichkeiten genutzt werden, damit das Impfen vorankommt, muss sich nicht wundern, dass im Bundesland NRW die Zahlen gerade durch die Decke gehen.
({4})
Eines möchte ich auch sagen: Seit Wochen haben wir uns beim Infektionsschutzgesetz darüber gestritten, ob neben dem Inzidenzwert auch andere Werte herangezogen werden sollen. Wir haben auch entsprechende Vorschläge gemacht, aber es ist bis letzten Freitag von der Union immer abgelehnt worden. Und, o Wunder – ich weiß nicht, was am Wochenende passiert ist –, plötzlich gibt es am Montag eine Pressekonferenz des Bundesministers, bei der er sagt: Wir gehen jetzt von dem 50er-Wert weg. Die Inzidenz ist nach wie vor wichtig, aber wir brauchen andere Indikatoren. – Ich habe mich sehr gefreut. Herzlichen Glückwunsch! Nur: Leider fehlten die Vorschläge dazu. Die haben wir seit Wochen belegbar eingefordert. Wir hätten das heute beschließen können. Ich bedauere wirklich sehr, dass es sowohl vom Bundesgesundheitsministerium als auch vom Kanzleramt nie gewollt war. – Das muss man hier auch noch mal ausdrücklich sagen.
Wir brauchen trotzdem jetzt, weil die Infektionszahlen so sind, wie sie sind, und der Impffortschritt noch nicht so weit ist, wie wir uns das wünschen, eine Verlängerung der epidemischen Lage. Deshalb stimmen wir als SPD-Fraktion dieser Verlängerung auch zu.
({5})
Herzlichen Dank.
({6})
Christine Aschenberg-Dugnus, FDP, ist die nächste Rednerin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich zu Beginn ganz deutlich zu sagen: Die Verlängerung der epidemischen Lage wäre eine Fortführung der automatischen und undifferenzierten Grundrechtseingriffe der Bundesregierung. Bei diesem Weiter-so zulasten der Bürgerrechte der Bevölkerung machen wir als FDP-Bundestagsfraktion nicht mit.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst Ihr Minister Jens Spahn hat in der letzten Sitzung des Gesundheitsausschusses – das war Anfang August – gesagt, dass eine Verlängerung der epidemischen Lage nicht geboten ist. Aha! Und Ihr Ausschussvorsitzender Erwin Rüddel hat sich ähnlich geäußert. Noch mal: Aha!
Meine Damen und Herren, die Pandemie hat sich durch den Impffortschritt weitgehend positiv verändert, und deswegen muss sich auch die Pandemiepolitik verändern:
({1})
Weg von den pauschalen Maßnahmen und Eingriffen in die Bürgerrechte für alle! – Und was kommt von der Bundesregierung? Neben dem vorliegenden Antrag auf Feststellung des Fortbestehens der epidemischen Lage erreichte uns vor drei Stunden eine Antragsänderung, in der die Absicht bekundet wird, die Inzidenz jetzt nicht mehr zum zentralen Maßstab der Coronamaßnahmen zu machen. Wohlgemerkt: Lediglich eine Absichtserklärung! Ich kann die Kollegin Bas sehr gut verstehen: Das reicht nicht aus. – Und wir als FDP-Bundestagsfraktion fordern das bereits seit März dieses Jahres, meine Damen und Herren.
({2})
Das zeigt wieder einmal: Es ist wie so oft bei den Maßnahmen der Bundesregierung: zu spät und leider inhaltlich leer.
Ich möchte hier auch noch mal ganz deutlich betonen: Selbstverständlich ist die Pandemie nicht vorbei. Das behauptet doch auch niemand, das steht völlig außer Frage. Aber die Voraussetzung für die Feststellung einer epidemischen Lage ist nicht mehr gegeben.
({3})
Denn eine drohende Überlastung des Gesundheitswesens liegt nicht vor. Von diesem Zustand sind wir dank des Impffortschritts, den bisher alle Redner positiv erwähnt haben, weit entfernt. Anfang Mai hatten wir leider noch 5 000 Menschen, die intensivmedizinisch behandelt werden mussten. Derzeit sind es 800 Menschen. Zudem sind die vulnerablen Gruppen, bei denen eben sehr häufig eine Behandlung im Krankenhaus notwendig ist, überwiegend durchgeimpft: Bei den über 60-Jährigen sind es 83 Prozent, in meinem Heimatland Schleswig-Holstein sogar über 87 Prozent.
Übrigens, meine Damen und Herren, hat die Bundesregierung wiederholt ausgeführt, dass eine Rückkehr zur Normalität dann zu gewährleisten ist, wenn allen Bürgerinnen und Bürgern ein Impfangebot gemacht wurde. Ja, was ist denn jetzt mit Ihrem Versprechen? Ich sehe davon nichts.
({4})
Wir müssen endlich den Ausnahmezustand beenden, der die Regierung ermächtigt, am Parlament vorbei pauschale Maßnahmen zu erlassen. Wir müssen schnellstmöglich zu dem Zustand zurückkehren, den unsere Verfassung vorsieht, und der lautet: Die wesentlichen Entscheidungen gehören hier ins Parlament, meine Damen und Herren.
({5})
Selbstverständlich muss sichergestellt sein, dass Rechtssicherheit für die betroffenen Akteure im Gesundheitswesen auch nach Beendigung der epidemischen Lage gewährleistet ist. Dazu ist die Bundesregierung in der Pflicht, Lösungen anzubieten, ohne dabei pauschal auf die Verlängerung der epidemischen Lage zu verweisen. Die Bundesregierung entzieht sich hier seit Monaten ihrer Verantwortung.
({6})
Letzter Punkt. Ebenso hat es die Bundesregierung versäumt, eine umfassende Datenbasis für das gesamte Pandemiegeschehen zu erheben. Diese brauchen wir in Zukunft für eine genaue Gefahrenprognose, meine Damen und Herren. Entsprechende Vorschläge vom Leibniz-Institut liegen seit 2020 vor; leider wurden sie von der Bundesregierung ignoriert.
Im Ergebnis – ich komme zum Schluss – werden wir einer Verlängerung der epidemischen Lage selbstverständlich nicht zustimmen.
({7})
Für unseren Antrag, der die hier genannte Kritik aufgreift und Planungs- und Rechtssicherheit bietet, bitten wir um Zustimmung.
Vielen Dank.
({8})
Jan Korte, Die Linke, ist der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu den Ausführungen meiner Vorrednerin sage ich: Ich teile davon sehr vieles. Das war gar nicht schlecht, zumindest für die FDP.
({0})
Deswegen will ich das gar nicht wiederholen.
Zunächst einmal möchte ich für die Fraktion Die Linke hier klarstellen, dass wir der Verlängerung der epidemischen Lage keinesfalls zustimmen werden. Ich möchte das auch begründen.
({1})
Wir haben völlig andere Gründe als die Rechten hier von der AfD. Wenn wir Ihre Politik befolgt hätten, dann würden die Kühllaster vor den Krankenhäusern stehen. Das ist die Sachlage. Deswegen will ich auf das, was von Ihrer Seite kommt, nicht weiter eingehen.
({2})
Nun möchte ich begründen, warum Die Linke Ihrem Antrag keinesfalls zustimmen wird. Zunächst einmal – und das muss man so klar analysieren – ist dieser Antrag der Ausweis und der Beweis für das vollständige Scheitern der Politik der Bundesregierung in dieser Pandemie,
({3})
nichts anderes ist es, was Sie hier vorgelegt haben. Denn Sie haben den zweiten Sommer in der Pandemie vollständig verpennt. Sie haben nichts gemacht, nichts vorgelegt, nichts geplant, keine Vorsorge getroffen. Das ist wirklich skandalös! Und jetzt stellen Sie sich hin und sagen: Wir müssen weiter die Grund- und Freiheitsrechte einschränken. – Und ausgerechnet diese Bundesregierung – das muss man sich auch mal vorstellen; wenn es nicht so traurig wäre, wäre es ja schon fast heiter –, also ausgerechnet Sie, die es wirklich ohne Ende verbockt haben – das darzustellen, dafür reichen neun Minuten gar nicht aus, und das ist schon eine recht üppige Redezeit –, wollen noch mehr Kompetenzen haben.
({4})
Das kann wirklich nicht wahr sein.
({5})
Eins will ich sagen – darauf ist die Kollegin gerade richtigerweise eingegangen –: Das, was Sie hier abermals einfordern, Herr Minister, bedeutet nichts anderes als eine Schwächung und eine Aushebelung des Parlamentes und eine Höherwertung der Bundesregierung. Das können Sie doch nicht allen Ernstes tun. Dass Sie sich auch nicht schämen, das hier dem Parlament überhaupt vorzulegen, nach dem, was Sie versaubeutelt haben! Das ist unfassbar, um das in aller Klarheit zu sagen.
({6})
Das Kernproblem ist doch – darüber muss man doch mal nachdenken –, dass die Bundesregierung logischerweise hinter verschlossenen Türen ihre Entscheidungen fällt – mit wem auch immer, keine Ahnung; wissen wir ja bis heute nicht –, während das Parlament das öffentlich macht und es so nachvollziehbar ist. Damit kann man im Übrigen auch für das Impfen, glaube ich, eine höhere Akzeptanz herstellen.
({7})
Also geht es heute um die Bekämpfung der Pandemie, aber auch um eine sehr demokratische Grundsatzentscheidung. Deswegen werden wir dem auf keinen Fall zustimmen.
Die zweite politische Komponente des Ganzen ist – wenn wir von den Grundrechten einmal abstrahieren wollen –, um das hier in aller Klarheit zu sagen: Jede Vollmacht, die man dieser Bundesregierung im Allgemeinen und Ihnen, dem Gesundheitsminister, im Speziellen abnehmen kann, ist ein großer Erfolg im Kampf gegen die Pandemie – um das hier auch in aller Deutlichkeit auf den Punkt zu bringen.
({8})
Denn das Erschreckende ist ja: Diese Bundesregierung kann ja nicht mal drei Wochen im Voraus planen. Das macht mich wirklich fassungslos.
Jetzt werde ich Ihnen etwas verraten, nämlich ein Geheimnis, aber das eigentlich alle außer Ihnen offensichtlich kennen: Es gibt im Sommer recht präzise festgelegte Sommerferien. Wann sie stattfinden werden, weiß man schon ein Jahr vorher. Das wollte ich Ihnen einfach mal mitteilen, dann sind Sie vielleicht nicht so überrascht, dass es am Ende von Ferien Reiserückkehrer gibt, und dann müssen Sie nicht wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen hier herumrennen und sagen: Wir müssen jetzt mal testen. – Das ist alles viel zu spät. Das ist doch absurd, was Sie hier vorlegen.
({9})
Und ich habe eine weitere Topinformation für Sie, die ich Ihnen gebe – vielleicht für den nächsten Pandemiesommer; denn wenn Sie so weitermachen, wird es den geben –: Nach den Sommerferien fängt die Schule in der Regel wieder an.
({10})
Auch das wollte ich Ihnen mal sagen. Das ist ja vielleicht ganz gut zu wissen.
({11})
Zum zweiten Mal haben Sie im Sommer nichts gemacht, um das Ganze entsprechend vorzubereiten.
In Schweden, um mal ganz praktisch zu werden, gibt es in jedem Klassenraum bereits seit dem letzten Jahr einen Luftfilter.
({12})
Gehen Sie mal in die Schulen in diesem Land. Ich mache das jeden Morgen, wenn ich die Kids dahin bringe.
({13})
Gucken Sie sich das doch mal an. Was ist das denn? Darüber haben wir doch schon letztes Mal gesprochen. Im Juli haben Sie 200 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Das bringt überhaupt nichts. Gucken Sie sich doch mal die Schulklassen an! Sie sollten vielleicht mal hingehen und sich anschauen, wie es da aussieht, zumindest in den öffentlichen und staatlichen Schulen, auf die meine Kinder selbstverständlich gehen. Aber das ist offenbar völlig jenseits von Ihrer Welt, in der Sie sich sozial bewegen.
Wo war denn eigentlich in der Sommerpause der Schulgipfel? Wann haben Sie sich denn darum gekümmert, endlich die pädagogische Unterversorgung anzugehen? Wann waren Sie dabei, kreative Lösungen mit den Ländern, mit den Kulturministern und vor allem mit den Lehrerinnen und Lehrern, Gewerkschaftern und den Schülervertretern anzugehen? Nichts haben Sie gemacht. Ich sehe gerade, dass die Bildungsministerin – von ihr hört man ja sehr wenig – da ist: Was machen Sie eigentlich die ganze Zeit? Was machen Sie denn eigentlich in den Sommerferien, die ja bekanntermaßen sechs Wochen dauern? Da könnte man doch mal die Kollegen zusammentrommeln und überlegen, wie wir die Schulen sicher machen, statt die Kinder wieder dahin zu schicken, ohne dass irgendetwas passiert ist. Das ist aberwitzig.
({14})
Jetzt werden Sie natürlich zu Recht sagen: Bildung ist Ländersache. – Ja, d’accord. Ich habe auch überhaupt nichts gegen den Föderalismus. Aber eines muss man von der Bundesbildungsministerin doch erwarten können, nämlich dass sie ihre Länderkolleginnen und ‑kollegen zusammentrommelt, um zu überlegen, ob das Ganze denn wirklich so Sinn macht. Ich finde, wir brauchen – und das hätten Sie doch mal anschieben müssen – eine neue Föderalismuskommission im Bereich des Bildungssystems, um mit dieser elendigen Kleinstaaterei aufzuhören. Das hätten Sie doch mal anschieben können, verdammt noch mal.
({15})
Herr Kollege Korte, der Kollege Weiler würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie es?
Wer?
Der Kollege Weiler, CDU/CSU.
Das geht noch so gerade eben.
({0})
Erst mal vielen Dank, Herr Korte, dass ich die Frage stellen kann. – Ich muss sagen: Ich bin ja auch jemand, der die Pandemie schon im Juli beenden wollte. Ich gebe zu: Das will ich immer noch. – Ich stehe auch heute dazu und werde auch gleich dagegenstimmen.
Aber mir wird wirklich schlecht, wenn ich höre, was Sie sagen. In Thüringen, meinem Bundesland, regiert ein linker Ministerpräsident. Dort hätte man die Möglichkeit, die Maskenpflicht gerade für Schüler zu beenden. Man hätte auch die Möglichkeit, das Homeschooling für Schüler zu beenden; denn das belastet die Eltern sehr. Das wissen Sie, glaube ich, auch. All das wird nicht getan. Sogar die Thüringer CDU verlangt, dass man das Homeschooling beendet und dass die Schüler wieder in eine normale Unterrichtssituation kommen. Aber die linke Regierung möchte das nicht; sie lehnt es ab. Minister Holter lehnt das ab, und Sie halten jetzt hier so eine Rede. Das ist schon mehr als merkwürdig.
Danke schön.
({0})
Genau, die Präsenzpflicht in Thüringen ist festgelegt; das hat der Kollege Lenkert gerade richtig gesagt.
({0})
Zunächst einmal möchte ich zu Thüringen etwas sagen. Als unser Ministerpräsident Bodo Ramelow in Thüringen versucht hat, das Chaos der Bundesregierung zu umgehen und das Land durch die Pandemie zu steuern, und zwar, wie ich finde, recht vernünftig – ich will das nur noch mal sagen –,
({1})
– waren Sie als CDU in Thüringen ja eher damit beschäftigt, die Scherben aufzukehren, weil Sie gemeinsam mit den Rechtsradikalen den Kollegen Kemmerich zum Ministerpräsidenten gewählt haben.
({2})
Ich finde es schon relativ witzig, dass Sie dann über die angebliche Schlechtigkeit der Regierung in Thüringen reden. Das finde ich relativ absurd.
({3})
Wenn Sie zugehört haben – ich war gerade exakt an dem Punkt; deswegen ist es auch gut, das in der Antwort jetzt ein wenig ausführen zu können –: Ich habe gerade die Bundesbildungsministerin angesprochen und relativierend gesagt, dass wir die Bildung föderal organisiert haben.
({4})
Ich habe gesagt – darauf haben Sie ja angespielt –: Deswegen ist es logischerweise Ländersache. – Mein Vorschlag – das wüssten Sie, wenn Sie zugehört hätten – war ja, eine Föderalismusreform zu machen. In diesem Punkt bin ich relativ fair zu der Ministerin gewesen und habe gefragt, ob das nicht sinnvoll wäre, um gerade diesen Missstand in den Ländern zu beheben und weg von der Kleinstaaterei zu kommen. Denn das Bildungssystem – um das in aller Klarheit zu sagen – war auch schon vor der Pandemie unsozial und ungerecht.
({5})
Deswegen – ich fasse zusammen – freue ich mich, dass offenbar erste Teile der CDU/CSU-Fraktion unserem Vorschlag folgen, dass wir einen großen Bildungsgipfel machen müssen, um das Bildungssystem in diesem Land vernünftig aufzustellen und auf die Höhe der Zeit zu bringen. Dazu lade ich Sie herzlich ein.
({6})
Herr Kollege, jetzt haben Sie gleich noch eine Zwischenfrage aus der SPD-Fraktion provoziert. Mit den Namen ist es durch die Maskenpflicht schwierig.
Das ist der Seeheimer Kreis, der jetzt fragt. – Bitte.
Nachdem Herr Wiese jetzt die Maske abgelegt hat, weiß ich es auch.
Vielen Dank für die Möglichkeit, die Zwischenfrage zu stellen; denn ich bin von den Ausführungen etwas irritiert. Das gilt übrigens auch für die Kollegin der FDP. Aber da Sie es noch mal wiederholt haben, möchte ich Sie gern fragen.
Die Bundesregierung hat gemeinsam mit den Ministerpräsidenten einen MPK-Beschluss gefasst. Dort heißt es unter Ziffer 10:
Die oben genannten Maßnahmen und deren situationsgerechte Anpassung in den Herbst- und Wintermonaten …
setzen weiterhin
eine epidemische Lage von nationaler Tragweite voraus … Die Bundeskanzlerin und die Regierungschefinnen und ‑chefs der Länder teilen die Einschätzung, dass sich Deutschland insgesamt weiterhin in einer pandemischen Situation befindet und dass die entsprechenden Rechtsgrundlagen für die von den jeweils zuständigen Behörden zu ergreifenden Maßnahmen weiterhin erforderlich sind, um der Situation zu begegnen.
Jetzt kommt der letzte Satz:
Vor diesem Hintergrund bitten sie den Deutschen Bundestag zu erwägen, die epidemische Lage von nationaler Tragweite
zu verlängern.
({0})
Dieser Beschluss, Herr Korte, ist mit 16 : 0 Stimmen gefasst worden. Darum frage ich mich jetzt: Spricht Bodo Ramelow, der die Verlängerung der Feststellung der epidemischen Lage heute möchte, für die Linkspartei, oder sprechen Sie für die Linkspartei? Denn da gibt es hier gerade eine kleine Differenz. Das gilt übrigens auch für die FDP;
({1})
denn die Landesregierungen haben 16 : 0 abgestimmt.
({2})
Ich glaube, dass Sie ein Problem haben, zu unterscheiden, welche Aufgabe die Exekutive hat und welche Aufgabe ein Parlament hat.
({0})
Ich glaube, das ist ein großes Problem, was Sie hier gerade aufzeigen. Wenn die Ministerpräsidenten vom Bundestag etwas fordern, dann ist es Aufgabe jedes Parlamentariers – übrigens auch Ihre –, zu prüfen, ob man das sinnvoll findet. Ich sage Ihnen als Abgeordneter, als Parlamentarier – das hat noch gar nichts mit Linkssein zu tun –, dass ich diesem Ansinnen nicht zustimmen kann, weil ich dafür bin, dass der Bundestag über Einschränkungen von Grundrechten entscheidet und sonst keiner.
({1})
Das ist meine Position. Die teilen Sie offenbar überhaupt nicht, und deswegen, finde ich
({2})
– das gehört noch zur Antwort –, war das ein Eigentor, Kollege Wiese, das Sie gerade gemacht haben.
({3})
– Ja, aber das ist doch schon eine berechtigte Frage. Parlamentarier haben doch eine andere Aufgabe als beispielsweise eine Bundesregierung oder eine Landesregierung.
({4})
Das ist ja nicht besonders schwer zu begreifen.
({5})
Und dass Sie letztendlich so weit runtergekommen sind, dass Sie nur noch abnicken, was von der Bundesregierung gesagt wird, entspricht doch nicht der Idee des freien Mandats, liebe Kolleginnen und Kollegen. Für uns gilt es.
({6})
Wenn es keine weiteren Zwischenfragen mehr gibt, würde ich den Kollegen Korte jetzt bitten, seine Rede fortzusetzen. Ihre Position, dass Sie die Bitte Ihres Ministerpräsidenten nicht erfüllen wollen, ist klar geworden.
({0})
Nicht alle in Gänze.
Aber diese.
Ja.
Nur dass wir es klar haben – mit vielen Worten.
Das ist schwierig, Herr Präsident.
({0})
Aber wir Linke haben es an diesem Tag ja insgesamt nicht so leicht.
Jetzt will ich noch eine zweite Sache ansprechen, die Sie in diesem Pandemiesommer verpennt haben. Ich möchte Sie fragen: Haben Sie eigentlich nach diesem ganzen Desaster im Gesundheitswesen einen Plan, wie wir ein solidarisches Gesundheitssystem in der Bundesrepublik schaffen könnten?
({1})
Diesen Plan haben Sie nicht. Sie machen so weiter wie vorher.
Im Mai 2020 hat die Leopoldina, von der insbesondere die Bundeskanzlerin sehr viel hält, Folgendes gesagt – ich darf zitieren –:
Um in der jetzigen Situation handeln und zukünftigen Herausforderungen begegnen zu können, muss das bestehende Gesundheitssystem weiterentwickelt werden: Benötigt wird ein patientenorientiertes, qualitätsgesichertes und nicht
– das ist entscheidend –
primär gewinnorientiertes System, das alle Mitarbeitenden wertschätzt …
({2})
Sie haben nichts vorgelegt. Sie machen einfach so weiter, als ob es keine Pandemie gegeben hätte.
In Ihrer Amtszeit, im Pandemiejahr 2020 – ziehen Sie sich das mal rein! –, sind in der Bundesrepublik 20 Krankenhäuser dichtgemacht worden. Diese Politik kann doch nicht vernünftig sein! „Wo ist Ihr Plan, um dem entgegenzuwirken?“, frage ich Sie, Herr Minister.
({3})
Denn eins ist klar: Krankenhäuser sind einzig und allein dafür da, Menschen gesund zu machen, und nicht dafür, Profit für irgendjemanden abzuwerfen – um auch das deutlich zu sagen.
({4})
Hier gibt es keine Strukturänderung. Das kann nicht sein!
Vorletzter Punkt, den ich ansprechen möchte – auch hier haben Sie leider vollständig versagt; ich glaube, es ist sogar noch schlimmer: hier haben Sie vorsätzlich gehandelt –: Der Kampf gegen die Pandemie wird nur international zu gewinnen sein. – Das ist eine Binsenweisheit; aber man muss ja mal aussprechen, wie es ist. In Afrika leben 1,3 Milliarden Menschen, von denen laut WHO gerade einmal 2 Prozent geimpft worden sind. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Virus dort so mutieren wird, dass alle Impfstoffe, die wir haben, dagegen völlig wirkungslos sind – ganz abgesehen davon, dass das nichts mit internationaler Solidarität zu tun hat.
Ich will noch eines sagen, da hier zum Teil so ein Unsinn erzählt wird; ich weiß gar nicht, von wem das gerade kam. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass BioNTech mit Steuergeldern – das sind ja nicht Ihre Gelder, sondern Steuergelder – in Höhe von 375 Millionen Euro unterstützt wurde, um erfreulicherweise diesen Impfstoff zu entwickeln. Ohne den Staat, ohne Steuergelder wäre hier gar nichts entwickelt worden – um das auch mal in aller Klarheit zu sagen, weil hier so ein Unsinn über den Markt usw. erzählt wird.
({5})
Das Unternehmen hat, glaube ich, über 2 Milliarden Euro Gewinn gemacht. Deswegen hat Die Linke schon im letzten Jahr die Forderung nach der Freigabe der Patente erhoben.
({6})
Der US-Präsident hat sich unserer Forderung angeschlossen. Und an der Speerspitze der Verhinderer steht diese Bundesregierung. Sie sind die Marionette der Pharmalobby – um das hier mal in aller Klarheit zu sagen. Das ist die Sachlage.
({7})
Sie haben keine Impfkampagne auf den Weg gebracht; das haben Sie vollständig versemmelt. Und die soziale Dimension, die Frage, warum gerade in sozial benachteiligten Stadtteilen so wenige geimpft sind, gehen Sie überhaupt nicht an. Die Menschen, die an der Basis dieser Gesellschaft leben, sind Ihnen völlig egal.
({8})
Das kann nicht sein.
Immerhin haben Sie bei Ihrer tollen Kampagne jetzt eins hingekriegt, dass nämlich auf der Homepage der Bundesregierung – vor acht Tagen wurde das eingestellt – ein Hinweis auf Impfmythen zu finden ist. Ansonsten haben Sie wirklich alles vollständig versemmelt. Deswegen ist es ausgeschlossen, dass wir Ihrem Antrag zustimmen werden. Es wird wirklich höchste Eisenbahn, dass Sie abgewählt werden.
Danke.
({9})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Koalition, Sie haben mich so weit gebracht, dass ich zum Äußersten greifen muss, nämlich mich selbst zu zitieren.
({0})
Am 11. Juni habe ich hier an dieser Stelle gesagt: Dass Sie es auch heute nicht schaffen, auf verfassungsrechtlich sichere Füße zu stellen, was zur Gefahrenvorsorge noch notwendig ist, wirft die Frage auf, was Sie in Ihren 14 Ministerien eigentlich überhaupt auf die Reihe kriegen. – Und die Frage ist bis heute nicht beantwortet.
({1})
Ich habe damals hoch darauf gewettet, dass Jens Spahn ein weiteres Mal nichts anderes zustande bringen wird, als eine erneute Verlängerung der epidemischen Lage. Die Wette habe ich leider wieder gewonnen. Und die SPD, vom Vizekanzler Olaf Scholz über die Justizministerin bis zur Fraktion, macht wieder mit.
({2})
– Ich kann Ihnen das gerne erklären: Ministerpräsidenten brauchen eine verfassungskonforme Rechtsgrundlage für die Maßnahmen, die noch notwendig sind. Dafür haben wir heute Vorschläge gemacht. Gucken Sie in unseren Antrag! Ministerpräsidenten sind aber nicht dafür zuständig, dafür zu sorgen, dass Sie hier im Bund die Verfassung einhalten, dass Sie hier im Bund von gesetzersetzenden Verordnungsermächtigungen weggehen.
({3})
Das ist Ihr Job und nicht der Job der Ministerpräsidenten.
Im Gesundheitsausschuss haben Sie nicht nur in Zweifel gezogen, dass es erforderlich ist, die epidemische Lage weiter zu verlängern, Sie haben auch gesagt, die wichtigsten Regelungen zur Pandemiebekämpfung seien mittlerweile erfolgt. Da staunt der Laie, und der Fachmann wundert sich; denn im Infektionsschutzgesetz hat sich seit Juni überhaupt nichts getan.
Vor zwei Tagen eröffneten Sie uns dann die Erkenntnis – Herr Dobrindt, der schon weg ist, hat es ja heute wiederholt –
({4})
– ah, da ist er ja –,
({5})
dass die Inzidenzwerte im Infektionsschutzgesetz nicht mehr aussagekräftig sind. Wir Grüne haben bereits im letzten Herbst beantragt, dass diese Werte durch andere Kriterien ergänzt werden müssen, und Sie sind bis heute nicht in der Lage, solche Kriterien vorzulegen.
({6})
Herr Spahn gibt eine Garantie ab, dass es für Geimpfte und Genesene keinen Lockdown und keine Ausgangssperren mehr geben werde. Das sei geltende Rechtslage, sagt er. Herr Spahn, Sie kommen nach mir dran. Bitte lesen Sie mir die Stelle im geltenden Infektionsschutzgesetz vor, an der man Ihre sogenannte Garantie findet. Sie beschließen heute nämlich ausdrücklich das Gegenteil von dem, was Sie in die Kameras sagen. Sie verlängern das Sonderrecht der epidemischen Lage, und damit können grundsätzlich alle in § 28a Infektionsschutzgesetz aufgezählten Maßnahmen weiter verhängt werden, von der Ausgangsbeschränkung bis zur Betriebsschließung.
({7})
Bei Überschreitung der 50er-Inzidenz – und da sind wir heute – sind sogar umfassende Schutzmaßnahmen zu ergreifen; sie müssen ergriffen werden. Eine Unterscheidung für Genesene, Geimpfte oder Getestete steht nach der geltenden Gesetzeslage im Belieben dieser Bundesregierung. Was Sie beschließen, hat nichts – nichts! – mit dem zu tun, was Sie versprechen oder sonst sagen.
({8})
Die epidemische Lage war ein Notbehelf. Sie wurde erstmals festgestellt, als Masken knapp waren – außer für Herrn Nüsslein –,
({9})
als wir keine flächendeckenden Tests und keinen Impfstoff hatten.
Wir haben den Verlängerungen zugestimmt, weil wir wegen Ihres gesetzgeberischen Komas andernfalls ganz ohne Rechtsgrundlagen dagestanden hätten. An die epidemische Lage haben Sie aber Sonderrechte für den Bundesgesundheitsminister geknüpft, die verfassungsrechtlich höchst problematisch sind. Und es hat sich gezeigt: Diese Regierung ist nicht in der Lage, von diesen Sonderrechten verantwortungsvoll Gebrauch zu machen.
({10})
Im Juni habe ich hier klar gesagt: Wir brauchen für die Sommerzeit Einreiseregelungen. Wissen Sie, wann die in Kraft getreten sind? Am 1. August. Da waren in Berlin, in Brandenburg, in Nordrhein-Westfalen, in Schleswig-Holstein und in Hamburg die Sommerferien schon fast vorbei.
Auf der einen Seite lassen Sie so eine wichtige Regelung schleifen, auf der anderen Seite hat jemand aus einem Virusvariantengebiet faktisch überhaupt keine Chance mehr, nach Deutschland einzureisen, egal ob da seine Familie lebt oder nicht und egal ob er getestet, geimpft und bereit ist, sich in Quarantäne zu begeben. Die Reisewelle lassen Sie tatenlos durchlaufen; dafür sperren Sie Einzelne ohne jedes vernünftige Maß aus.
Zu spät, chaotisch, ineffizient – das durchzieht die Geschichte Ihrer Verordnungen. Und damit muss heute Schluss sein.
({11})
Wir lehnen daher die erneute Verlängerung der exekutiven Sonderrechte für einen unfähigen Gesundheitsminister ab. Sie haben die Gelegenheit, unserem Antrag zuzustimmen. Darin ist ein Vorschlag enthalten, wie man eine Anpassung des Infektionsschutzgesetzes vornehmen kann.
({12})
Ich komme zum Schluss: Afghanistan, Pandemiebekämpfung, Klimaschutz – Sie reagieren immer gleich: Sie enttäuschen Vertrauen. Sie werden Ihrer Verantwortung nicht gerecht. Sie sind nicht mehr regierungsfähig.
({13})
Jetzt erteile ich das Wort dem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ende Dezember letzten Jahres in einer der schwersten Phasen dieser Pandemie mit vielen Todesopfern, die wir täglich zu beklagen hatten – Hunderte Todesopfer –, haben wir die größte Impfaktion in der Geschichte Deutschlands gestartet. Ihr ging die schnellste Impfstoffentwicklung in der Geschichte der Menschheit voran. Das hat es noch nie gegeben, dass die Menschheit in einer Pandemie einen Impfstoff zur Verfügung hat.
Mittlerweile sind 60 Prozent unserer Gesamtbevölkerung vollständig geimpft, fast 65 Prozent mindestens einmal. Bei der über 60-jährigen Bevölkerung, den besonders Verwundbaren, liegt die Impfquote sogar bei über 85 Prozent. Das Robert-Koch-Institut hat errechnet, dass wir dank der Impfungen bisher schon fast 38 000 Todesfälle in Deutschland haben verhindern können. Wie wir heute ohne Impfstoffe dastünden, mag man sich kaum ausmalen.
Heute haben wir in Deutschland die Marke von 100 Millionen Impfungen in acht Monaten erreicht. Das ist auch eine große logistische Leistung; es ist vor allem ein großer gemeinsamer Erfolg unseres Landes, unserer Bürgerinnen und Bürger. Da möchte ich einfach mal ein großes Dankeschön sagen für das, was wir in den letzten acht Monaten zusammen erreicht haben.
({0})
Herr Minister, der Kollege Dehm würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ich habe ja gerade erst angefangen, da gibt es schon Zwischenfragen. Ich würde sagen: Ich mache noch ein bisschen weiter, und dann versuchen Sie es noch mal.
({0})
Die Bundesregierung hat den Bürgerinnen und Bürgern versprochen, dass im Sommer jeder Impfwillige ein Impfangebot erhält. Dieses Versprechen haben wir eingehalten – früher als manch einer dachte. Die Impfkampagne ist eine Gemeinschaftsaufgabe, und dieser Erfolg ist ebenfalls ein gemeinsamer Erfolg.
Ich möchte mich bei all denjenigen bedanken, die diesen Erfolg möglich gemacht haben: in den Impfzentren, in den Apotheken, in den Praxen. Danke all denjenigen, die kreative und niedrigschwellige Impfangebote machen am Arbeitsplatz, auf dem Sportplatz, auf dem Marktplatz, auf dem Kirchplatz. Das ist aufwendig.
({1})
– Ja, Sie mögen Witze machen. Ich bin sehr, sehr dankbar für jeden – und wenn es mit der Bratwurst funktioniert, umso schöner –, der sich darum bemüht, dass wir die Impfquote hochkriegen.
({2})
Wissen Sie, Sie haben gerade über „made in Germany“ gesprochen. Dieser Impfstoff, mRNA-Technologie, ist „made in Germany“. Wie wäre es denn, wenn Sie die Energie, die Sie ständig in Ihre blöden Sprüche stecken, mal ins Werben fürs Impfen stecken würden? Das wäre mal eine kluge Alternative.
({3})
„Impfen für Deutschland“ – wie wäre es denn mal damit? Impfen für Deutschland wäre mal eine kluge Alternative, die wir von Ihnen in dieser Pandemie bräuchten.
({4})
Ja, ob man sich impfen lässt oder nicht, das ist eine persönliche, eine freie Entscheidung.
({5})
– Doch. Jetzt passen Sie noch mal auf, das ist nämlich noch mal ein Unterschied: Ja, es ist eine sehr persönliche, eine freie Entscheidung, ob man sich impfen lässt oder nicht. Doch wie die meisten Entscheidungen im Leben – und das fängt schon in der Familie an – ist es keine Entscheidung, die nur für einen selbst etwas bedeutet oder einen Unterschied macht. Ja, ob man sich impfen lässt oder nicht, ist eine persönliche Entscheidung, aber die Entscheidung, die man trifft, hat auch Folgen für die Menschen um einen herum, also auch für andere.
Wissen Sie, da haben wir ein anderes Verständnis von Freiheit. Für Sie heißt Freiheit: Jeder macht, was er will, jeder denkt nur an sich. – Für uns heißt Freiheit: Verantwortung für sich selbst, aber immer auch für andere und für die Gemeinschaft. – Das ist der große Unterschied, den wir gerade auch in dieser Frage sehen.
({6})
Ja, wer sich impfen lässt, wer sich für die Impfung entscheidet, der schützt sich selbst, aber er schützt eben auch diejenigen, die sich nicht impfen lassen können: Kinder unter zwölf Jahren beispielsweise.
({7})
Daher möchte ich all den Bürgerinnen und Bürgern danken, die sich für eine Impfung entschieden haben. Alle anderen möchte ich bitten: Bitte machen Sie mit! Bitte lassen Sie sich impfen! Keine Impfung ist nur für sich allein. Wir kommen nur gemeinsam durch diese Pandemie. Wenn Sie noch zögern, wenn Sie noch überlegen, dann schauen Sie nicht auf das, was in sozialen Medien verbreitet wird, sondern suchen Sie das Gespräch mit Ihrem Arzt, Ihrer Ärztin, informieren Sie sich und überlegen Sie, ob Sie sich impfen lassen möchten.
({8})
Herr Minister, darf ich Sie noch einmal fragen: Lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Ja. – Von wem überhaupt?
Von Herrn Dehm.
Von Herrn Dehm? Bitte schön.
Dann hat der Kollege Dehm jetzt das Wort zu einer Zwischenfrage.
Herzlichen Dank, Herr Bundesminister. – Zum Thema „freie Entscheidung“: Wir leben in einem freien Land mit einem freien Markt und können nicht darüber entscheiden, welche Impfstoffe wir wollen. Wenn zum Beispiel ich, der mit Sputnik V in Moskau und in San Marino geimpft wurde,
({0})
Tausende von Kilometern gefahren ist, nach Österreich einreisen möchte, dann kann ich das nicht. Ich habe also nicht dieselben Rechte wie ein ungarischer Bürger, der ebenfalls mit Sputnik V geimpft ist und nach Österreich einreisen will, weil die EU ja beschlossen hat: Derjenige, in dessen Heimatland der Impfstoff zugelassen ist, der darf, und derjenige, in dessen Heimatland er nicht zugelassen ist, darf nicht.
Nun ist die britische Presse voll davon, dass Sputnik V ein sehr wirkungsvoller Impfstoff ist, gerade auch gegen Mutanten. Bei Ihnen ist die Zulassung lange vertrödelt worden. Wir hatten Impfnotstand. Wir hatten auch zu wenig Serum. Es war nicht nur eine Erfolgsgeschichte. Jetzt möchte ich Sie fragen: Würden Sie dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder darin zustimmen, was er vor sechs Wochen sagte: „Die Zulassung von Sputnik V ist in Deutschland und von der EU aus ideologischen Gründen vertrödelt wordenׅ“?
({1})
Da ich selbst in Gesprächen mit den russischen Kolleginnen und Kollegen auf allen Ebenen war und bin, kann ich Ihnen klipp und klar sagen: Nein, es hat einen ganz einfachen Grund.
({0})
– Jetzt warten Sie doch mal eine Sekunde, Herr Dehm. – Europäische Zulassungen sind, anders als in Russland, keine politischen Zulassungen.
({1})
Bei uns wird nach den eingereichten Studien und Daten entschieden.
({2})
Dann, wenn die Daten eingereicht werden, wird es die Zulassung auch geben. Das Verfahren läuft ja. In dem Moment, in dem die Daten da sind – die richtigen, die guten Daten, die Daten, die was zeigen –, wird es eine Zulassung geben.
Aber ich will Ihnen noch was sagen, weil Sie sagen, Sie waren in Russland und haben sich impfen lassen: Ich weiß, wer aus Deutschland das gemacht hat. Diejenigen, die Geld hatten, haben sich in Russland die Impfung gekauft.
({3})
Sich nach der Rede, die wir hier gerade von Herrn Korte gehört haben, als jemand mit viel Geld, der gezeigt hat, dass es einen Unterschied macht, ob man Geld hat oder nicht,
({4})
wenn es darum geht, ob man früher geimpft wird, der Solidarität im Land den Rücken zu kehren
({5})
und mit Geld für sich einen Unterschied zu machen, hierhinzustellen und für die Linkspartei solche Reden zu halten, das, meine Damen und Herren, nenne ich Doppelmoral, und zwar der feinsten Art,
({6})
der allerfeinsten Art, wie es sie hier im Deutschen Bundestag nur geben kann.
Herr Minister Spahn, jetzt würde gern noch der Kollege Sichert von der AfD eine Zwischenfrage stellen.
({0})
Eine machen wir noch.
Also: noch eine Zwischenfrage des Kollegen Sichert.
Vielen Dank. – Sie haben eben in Ihrer Rede gesagt, dass man doch auch diejenigen, die nicht geimpft werden können, besonders schützen müsste. Nun habe ich die Tage ein Gespräch mit einer Dame gehabt, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden kann und auch keine Maske tragen darf. Diese Frau hat sich – zu Recht – massiv darüber beschwert, dass sie in Deutschland inzwischen wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt wird. Sie wird aus Geschäften geworfen, weil sie eben keine Maske tragen darf. Die Geschäfte akzeptieren teilweise ihre Atteste nicht, und da die Geschäfte jetzt überall immer mit Tests arbeiten, muss sie sich ständig testen lassen, weil sie sich einfach nicht impfen lassen kann. Sie fühlt sich massiv diskriminiert durch diese Politik, die Sie hier betreiben.
Sie reden jetzt viel von der Impfung. Wir wissen aus Israel, wo hauptsächlich BioNTech eingesetzt wird, dass die Wirkung dort minimal ist. Im Juli und August waren 80 Prozent der über 20-Jährigen, die sich neu mit Corona infiziert haben, Geimpfte, teilweise auch schon zum dritten Mal Geimpfte.
({0})
Wie lange soll diese epidemische Notlage jetzt noch weitergehen, wenn wir aus Ländern wie Israel usw. sehen, dass kein Ende abzusehen ist, auch mit einer Impfung nicht?
Zuerst einmal gibt es wirklich sehr, sehr selten die Situation, dass jemand wegen Vorerkrankungen nicht geimpft werden kann. Die Ständige Impfkommission kann zum Beispiel in ihren Empfehlungen jenseits des Hinweises auf medizinische Einzelfälle keine Vorerkrankungen definieren, weil es – das zeigen alle Daten – keine ersichtlichen Vorerkrankungen gibt.
Es wurden mittlerweile Hunderte Millionen Impfungen auf der Welt durchgeführt. Es hat sich gezeigt, dass keine bestimmte Vorerkrankung gegen eine Impfung spricht – so die Ständige Impfkommission. Wenn das im Einzelfall tatsächlich eine medizinische Entscheidung des Arztes ist, dass derjenige nicht geimpft werden kann – das gilt auch für die unter Zwölfjährigen oder Personen, für die es noch keine Empfehlungen gibt, wie Schwangere; das haben wir ja gesagt –, dann werden die Kosten für die Tests auch nach dem 11. Oktober weiter übernommen; das lässt sich ja regeln.
Das Problem ist nur, dass Sie diese sehr seltenen Einzelbeispiele, die wir ja auch adressieren wollen und wo wir helfen wollen, immer wieder nutzen, um damit in der Debatte zu verallgemeinern.
Das Gleiche gilt für die Studien, die Sie gerade genannt haben. Sorry, aber das ist einfach Unsinn. Wir sehen jeden Tag in diesem Land, wir sehen jeden Tag auf der Welt, dass Impfungen schützen.
Sie werfen immer zwei Dinge durcheinander. Ich hatte in diesen Tagen eine Diskussion daheim im Wahlkreis. Dort sagte Ihr Kandidat: Impfen nützt nichts. – Es geht einmal um die Frage, ob man geimpft ist oder nicht geimpft ist und wie man miteinander umgeht. Darüber kann man, auch mit vielen Emotionen, diskutieren. Zum anderen geht es um die Frage, wie man über Impfungen insgesamt und ihre Wirkungen redet. Wer sagt, dass eine der wirksamsten und sichersten Impfungen, auch was die Impfreaktionen und Nebenwirkungen angeht, die es in der Menschheitsgeschichte jemals gegeben hat – made in Germany übrigens –,
({0})
nichts nützt und nicht wirkt, der führt die Leute einfach nicht nur an der Nase herum, sondern betreibt auch ein ganz gefährliches Spiel in dieser Pandemie. Das ist das Problem.
({1})
Sie wollen immer Patrioten sein, aber Sie machen jeden Tag das Gegenteil, indem Sie die Leute mit dem, was Sie hier erzählen, verunsichern. Dazu vermengen Sie auch immer legitime Themen. Man muss, finde ich, über die Frage, wie das Verhältnis von „geimpft“ zu „ungeimpft“ aussieht, diskutieren. Das ist ein emotionales Thema in jeder Familie. Die Frage ist immer nur, wie: faktenbasiert, indem man versucht, vernünftig auf die Dinge einzugehen, oder indem man am Ende jedem kleinen Ding hinterherhechelt, das man bei Social Media irgendwie posten kann. Das ist eben der Unterschied. Wir versuchen, das auf vernünftiger Basis zu machen.
({2})
Ich möchte auf unser Ziel zurückkommen – das ist auch für die Kolleginnen und Kollegen der FDP wichtig; es wäre schön, wenn Herr Kubicki da wäre, nach allem, was er jeden Tag öffentlich sagt –:
({3})
Unser Ziel ist seit Beginn dieser Pandemie das gleiche, und zwar eine Überlastung unseres Gesundheitssystems zu vermeiden. Dank der Impfungen liegt die Sieben-Tage-Inzidenz bei der besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppe der über 60-Jährigen gegenwärtig bei 13, also deutlich niedriger, und nur sehr wenige Geimpfte erkranken noch so stark, dass sie ins Krankenhaus müssen. Mehr als 90 Prozent der wegen Corona auf den Intensivstationen behandelten Patienten sind nicht geimpft. Die Impfung wirkt, die Impfung schützt. Allein diese Zahlen zeigen es.
({4})
Damit wir aber auch sicher durch die vierte Welle kommen, brauchen wir eine Impfquote, die sicherstellt, Frau Kollegin Aschenberg-Dugnus, dass unser Gesundheitssystem nicht überlastet wird. Wenn Sie, Frau Aschenberg-Dugnus, fragen, wo das herkommt, dann schauen Sie einfach in die Modellierung des Robert-Koch-Instituts, das ja anhand der Zahl der Ungeimpften und auf Grundlage einer viel, viel ansteckenderen Delta-Variante aufzeigen kann, dass sich jeder, der nicht geimpft und dadurch ohne Schutz ist, im Herbst und Winter infizieren wird, wenn wir das in den Inzidenzen sich so entwickeln lassen.
Wir sehen: Das ist nicht nur irgendeine theoretische Annahme. Wenn wir die Impfquote nicht weiter erhöhen, wenn wir nicht mit 3-G- und AHA-Regeln in Herbst und Winter hineingehen, dann droht ganz konkret eine Überlastung des Gesundheitswesens. Das ist der Grund, warum wir ebendiese Vorsichtsmaßnahmen weiterhin ergreifen.
Wir erleben im Moment eine Pandemie der Ungeimpften.
({5})
– Ja, dazu komme ich. Das eine hat mit dem anderen zu tun.
({6})
– Machen Sie sich keine Sorgen.
({7})
Wir erleben gerade eine Pandemie der Ungeimpften. Das ist genau der Grund, warum wir eine Verlängerung der epidemischen Lage brauchen und die Länder um Zustimmung bitten, Frau Rottmann. Alles, was Sie immer anfügen – einreisen, impfen, testen –, hat der Deutsche Bundestag schon längst von der epidemischen Lage gelöst.
({8})
Das hat überhaupt nichts mehr damit zu tun. Es geht darum, dass die Länder und die Behörden vor Ort – das fängt bei 3 G und Maskentragen in Bus und Bahn an – eine Rechtsgrundlage über den § 28a IfSG brauchen, um handeln zu können, um eine Überforderung des Gesundheitswesens zu vermeiden, solange wir noch eine so hohe Zahl an Ungeimpften haben. Darum geht es.
({9})
Sie fragen: Was ist die Rechtsgrundlage bei den Geimpften und Genesenen? Das kann ich Ihnen sagen: § 28c IfSG.
({10})
Das ist eine Verordnung der Bundesregierung, der Bundesrat und Bundestag zugestimmt haben. Da steht klipp und klar: Impfen macht einen Unterschied. Man schützt sich und andere. Wer geimpft oder genesen ist, wird keine Kontaktbeschränkungen und keine Ausgangssperren mehr erleben. Wir impfen Deutschland zurück in die Freiheit, und das sieht man an dieser konkreten Regelung. Das ist genau die konkrete Regelung, die es möglich macht.
({11})
Ja, die Lage hat sich verändert. Die 50er-Inzidenz galt als Maßstab, als Schwellenwert für eine ungeimpfte Bevölkerung. Deswegen ist es richtig, das Infektionsschutzgesetz anzupassen, und das können wir jetzt mit einer ersten, zweiten und dritten Lesung im Gesetzgebungsverfahren tun. Das heißt übrigens nicht, dass die Inzidenz, dass die Infektionszahlen überhaupt keine Rolle mehr spielen. Natürlich korrelieren die Krankenhausaufnahmen mit den Infektionszahlen. Aber das hat sich eben stärker dadurch relativiert, dass die Impfquote so hoch ist und viele geschützt sind. Deswegen werden wir – so ist es vereinbart – die Hospitalisierungsinzidenz neu aufnehmen. Wir schauen also darauf: Wie stark ist, vor allem auch regional, das Gesundheitswesen durch Covid-19-Patienten belastet?
All das zeigt uns – damit sind wir bei dem Antrag –: Die Pandemie ist leider noch nicht vorbei. Sie ist noch nicht überstanden, sosehr wir alle uns das auch wünschen mögen. Das wurde im Übrigen in vielen, auch interdisziplinären Fachgesprächen mit Expertinnen und Experten während des Sommers sehr deutlich; diese sind auf unserer Homepage transparent nachvollziehbar. Delta, hochansteckend, hat die Situation noch einmal erschwert.
Wir, Bund und Länder, haben gesagt: Wir haben eine gute Chance, ohne weitere Beschränkungen durch Herbst und Winter zu kommen: mit 3 G – geimpft, genesen, getestet im Innenraum –, mit den AHA-Regeln, vor allem mit Maske in Bus und Bahn sowie im Einzelhandel, wo man den Coronastatus des anderen nicht kennen kann, und durch Impfen, Impfen, Impfen. Das ist das Ziel. Wir alle haben es jetzt selbst in der Hand, wie wir durch Herbst und Winter kommen, vor allem dadurch, indem wir alles daransetzen, dass es im September gelingt, die Dinge beim Impfen zu verbessern und auch in den anderen Fragen die Dinge im Griff zu behalten.
Das, finde ich, ist jetzt die entscheidende Botschaft: Ja, die epidemische Lage besteht noch, auch in Deutschland. Da gibt es nichts zu verharmlosen, da gibt es aber auch keinen Grund für Alarmismus, sondern das ist einfach die Sachlage. Und damit gehen wir um mit Maß und Mitte.
({12})
Es ist ja bemerkenswert, dass von links und rechts geschrien wird und die Mitte sagt: Wir wollen das mit Maß und Mitte regeln, indem wir zwischen Einschränkung individueller Freiheit und Schutz des anderen abwägen.
({13})
Das ist unsere Politik seit 18 Monaten. Mit dieser Politik haben wir Deutschland bis hierhin ziemlich gut und ziemlich erfolgreich durch diese schwerste Krise der Bundesrepublik Deutschland geführt.
({14})
Meine Damen und Herren, das waren 18 harte, das waren 18 schwere Monate für die Bundesrepublik und für die Bürgerinnen und Bürger.
({15})
Aber wenn wir, auch im Vergleich mit anderen Ländern in Europa, auf die Todeszahlen schauen, darauf, dass unser Gesundheitssystem immer alle Patienten versorgen konnte, und wenn wir auf die wirtschaftliche Lage schauen – solche finanziellen Hilfen wie in Deutschland waren in kaum einem anderen Land möglich –, dann müssen wir sagen: Ja, es gibt immer Dinge, die man besser machen kann, aber alles in allem ist dieses Land gemeinsam bis hierhin gut durch diese Pandemie gekommen. Und jetzt werden wir es durch das Impfen rausführen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({16})
Detlev Spangenberg, AfD, ist der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Koalition beantragt die erneute Feststellung der epidemischen Lage. Die AfD-Fraktion beantragt dagegen das sofortige Ende dieser epidemischen Lage und keine Fortsetzung.
Ich will kurz auf Ihre Begründung eingehen, warum Sie das machen wollen. Laut Infektionsschutzgesetz liegt eine epidemische Lage von nationaler Tragweite vor, wenn eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit in der gesamten Bundesrepublik Deutschland besteht, weil die WHO eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite ausgerufen hat und die Einschleppung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit in Deutschland droht oder eine dynamische Ausbreitung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit droht oder stattfindet.
Meine Damen und Herren, für das Gesundheitswesen und den Öffentlichen Gesundheitsdienst besteht keine Gefahr der Überlastung. Sodann ist ein Argument schon einmal weg.
Es droht auch nicht die Einschleppung einer neuen bedrohlichen übertragbaren Krankheit. Dieser Virus ist seit 2020 in Deutschland präsent. Hier droht keine Einschleppung, er ist ja schon da. Herr Dobrindt, Sie haben keine Ahnung davon. Wir haben nie bestritten, dass es einen Virus hier gibt. Ich weiß nicht, was Sie für ein dummes Zeug hier erzählen. Also, er ist bereits da.
({0})
Es findet somit auch keine dynamische Ausbreitung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit über mehrere Länder statt, so wie es im Infektionsschutzgesetz als Voraussetzung steht.
Wir leben mit Viren, das wird auch künftig so bleiben, so vorgestern noch mal Frau Professor Protzer im Deutschlandfunk. Meine Damen und Herren, das scheinen einige noch gar nicht begriffen zu haben. Sie reden, meine Damen und Herren von der Koalition, von einer vierten Welle. Es handelt sich somit um ein Auf und Ab einer vorhandenen Infektionskrankheit. Das wird sich auch nicht ändern. Bei der weltweiten Entstehung und Ausbreitung von Mutationen bzw. Varianten des Virus handelt es sich auch nicht um eine neue Krankheit. Das sind Mutationen. Das sind keine neuen Krankheiten.
Und die Tatsache allein, dass die WHO die Ausrufung einer gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite aufrecht hält, ist für den Bundestag laut Infektionsschutzgesetz nicht maßgeblich. Das stellt man auch fest, wenn man den Gesetzestext genau liest. Das ist nämlich eine Und-Regelung: Die Feststellung der WHO und die drohende Einschleppung in die Bundesrepublik, beides muss erfüllt sein. Wir haben aber keine drohende Einschleppung; das habe ich eben ausgeführt.
Das heißt, meine Damen und Herren, es ist nicht akzeptabel und auch nicht vertretbar, eine Volkswirtschaft, das gesamte öffentliche Leben, die persönlichen Freiheiten auf einer dramatischen Fehleinschätzung basierend zu ruinieren. Das ist nicht vertretbar, meine Damen und Herren.
({1})
Sie behaupten, eine drohende Überlastung des Gesundheitssystems sei weiterhin nicht ausgeschlossen. Ich muss sagen: Bei circa 4 Prozent mit Coronapatienten belegten Intensivbetten kann von einer Überlastung keine Rede sein. Das ist aus unserer Sicht unverantwortliche Panikmache.
({2})
Laut Medienberichten haben sich in diesem Monat – das wurde schon gesagt – sowohl Minister Spahn wie auch der Ausschussvorsitzende Erwin Rüddel für ein Auslaufen der epidemischen Lage ausgesprochen. Offenbar sind beide nicht von einem Fortbestehen der epidemischen Lage überzeugt. Der Ausschussvorsitzende Rüddel sagte in der Presse, die epidemische Lage von nationaler Tragweite sei an eine mögliche Überlastung der Krankenhäuser gebunden, er könne sich aber nicht vorstellen, dass sich die Lage noch einmal so dramatisch verändere, dass die Überlastung des Gesundheitswesens drohe; damit entfalle die Begründung für eine Verlängerung. Sehr geehrter Herr Rüddel, ich danke Ihnen für diese klare Aussage.
Lassen Sie mich zum Schluss noch ganz kurz Folgendes sagen: Ich möchte mich noch mal im Namen meiner Kollegen im Gesundheitsausschuss bei Ihnen bedanken für Ihre objektive und wirklich fulminante Führung des Ausschusses. Sie haben die Angriffe einiger Kollegen im Ausschuss auf die AfD souverän und sehr neutral und objektiv zurückgewiesen. Dafür danke ich Ihnen noch mal. Recht herzlichen Dank für diese Arbeit.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Wiese, SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist sicherlich so, dass die aktuelle Situation im August 2021 nicht vergleichbar ist mit der Situation 2020. Es ist aber trotz des wirklich positiven Impffortschritts richtig – man muss sich mal vor Augen führen, was in den letzten Monaten erreicht worden ist –, sehr verantwortungsvoll mit der aktuellen Situation umzugehen. Wir sollten uns nicht zurücklehnen und sagen, wie wir es hier heute bei einigen Reden gehört haben: Jetzt wird alles gut, jetzt ist alles überwunden, jetzt können wir machen, was wir wollen.
({0})
Nein, ich glaube, es ist wichtig, nach wie vor einen Fokus auch auf die Prävention und den Schutz vulnerabler Personen zu richten. Es ist nach wie vor wichtig, zu schauen, wie sich die Infektionszahlen entwickeln, weil ein großer Teil der Bürgerinnen und Bürger sich noch nicht entschieden hat, sich impfen zu lassen. Es ist richtig, dass wir weiter in vielen Kampagnen vor Ort für das Impfen werben. Ich bin all denjenigen dankbar, die sich daran beteiligen. Und es ist richtig, darauf zu schauen, was an den Schulen passiert.
Wenn ich mir das Infektionsgeschehen vor Ort anschaue – auch bei mir zu Hause ist es leider wieder angestiegen –, dann stelle ich fest, dass momentan fast 90 Prozent der Neuinfektionen auf Reiserückkehrer zurückzuführen sind, die nicht geimpft sind. Von daher müssen wir weiter für das Impfen werben, und wir müssen feststellen, dass wir nach wie vor eine Situation haben, in der es vertretbar und richtig ist, die epidemische Lage aufrechtzuerhalten. Denn wenn wir die epidemische Lage nicht aufrechterhalten würden, wenn wir sie nicht verlängern würden, dann könnten einfache Schutzmaßnahmen wie zum Beispiel die Maskenpflicht im Nah- und Fernverkehr oder letztendlich auch die Verpflichtung zur Erstellung und Anwendung von Hygienekonzepten, gerade auch in Betrieben, nicht mehr angewandt werden. Das aber sind, glaube ich, Maßnahmen, die helfen. Darum ist es richtig und vertretbar, diese epidemische Lage heute noch mal zu verlängern.
({1})
Ich bin ein bisschen irritiert – ich sage das noch mal, auch wenn ich das dem Kollegen Korte schon gesagt habe –: Die Ministerpräsidentenkonferenz hat 16 : 0 entschieden. Wir nicken hier nicht etwas ab, nein, wir halten es für vertretbar, wir halten es für richtig und wir halten es für verantwortungsvoll, an dieser epidemischen Lage festzuhalten.
({2})
Ich muss sagen: Bei der ersten Entscheidung heute Morgen habe ich dem Kollegen Matthias Höhn Respekt gezollt. Jetzt zolle ich Bodo Ramelow Respekt und nehme ihn vor Ihrer Fraktion in Schutz; denn er hat bei der Ministerpräsidentenkonferenz recht gehabt.
({3})
Übrigens haben auch der Ministerpräsident von Baden-Württemberg und die Regierungsbeteiligungen der FDP, die nicht widersprochen haben, recht gehabt. Denn schauen wir einmal in die Ministerpräsidentenerklärung: Darunter kann man eine Protokollerklärung abgeben, wenn man anderer Auffassung ist. Da steht nichts von dem, was die FDP kritisiert hat. Da steht nichts von den rechtlichen Bedenken, die Frau Rottmann vorgebracht hat. Da steht nichts von dem, was Sie von der Linken gebracht haben. Da steht eine Protokollerklärung von Niedersachsen und eine richtige von Thüringen zur Bildungspolitik. Aber da steht nichts von den Bedenken, die Sie hier alle vorgebracht haben. Ihre Parteikollegen haben zugestimmt. Das gehört zur Ehrlichkeit heute hier in der Debatte mit dazu.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist richtig – und ich begrüße das ausdrücklich –, dass der Bundesgesundheitsminister eine Frist bekommt und bis zum 30. August vorlegen muss, dass zukünftig nicht mehr alleine der Inzidenzwert der Maßstab ist. Wir als SPD haben das lange gefordert. Ich halte das auch für richtig. Wir hatten schon einige Erklärungen in § 28a Absatz 3 Infektionsschutzgesetz. Aber es gibt den Widerspruch zu der klaren Formulierung im Hinblick auf die Inzidenz von 50. Darum ist es richtig, sich hier auf den Weg zu machen und andere Kriterien heranzuziehen.
Ich muss allerdings sagen – und da schließe ich mich meiner Kollegin Bärbel Bas an –: Wir hätten das schon haben können. Bis letzte Woche Freitag wollte das Gesundheitsministerium keine Änderung, das Kanzleramt wollte keine Änderung, die Unionsfraktion wollte keine Änderung. Irgendwas ist übers Wochenende passiert, was gut gewesen sein muss. Darum bringen wir das jetzt, Herr Minister, gemeinsam auf den Weg.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Stephan Thomae für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Gewiss, die Pandemie ist noch lange nicht vorbei. Eine Welt ohne Virus werden wir lange nicht haben. Corona bleibt noch für lange Zeit ein Teil unserer Wirklichkeit. Aber gerade weil das so ist, können wir doch nicht warten, bis Corona von dem Planeten weg ist. Wir müssen doch gleichwohl zu einem Stück Normalität zurückkehren, zu einem einigermaßen normalen Leben, meine Damen und Herren.
({0})
Wenn nun die Regierung heute die Verlängerung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite beantragt, dann heißt das, dass die Ermächtigung an die Bundesregierung und an die Landesregierungen fortgesetzt werden soll, robuste, massive Grundrechtseingriffe im Verordnungsweg, also am Bundestag und an den Landtagen vorbei, zu erlassen: Eingriffe in die Berufsfreiheit, in das Recht auf Bildung, in die Gewerbefreiheit, in die Reisefreiheit, in die allgemeine Handlungsfreiheit.
Wir meinen: Diese Verordnungsermächtigung muss jetzt einmal enden. Wir wollen den gesetzgeberischen Normalzustand wiederherstellen. Darum geht es uns, meine Damen und Herren.
({1})
Denn wenn wesentliche Rechte der Menschen betroffen sind, dann ist hier der Ort, an dem das Parlament über die Einschränkungen und Eingriffe befinden muss; denn hier in diesem Bundestag findet die öffentliche Debatte statt. Hier wird das Für und Wider öffentlich im vollen Scheinwerferlicht abgewogen, hier kreuzen Koalition und Opposition die Klingen, hier werden Ausschussberatungen durchgeführt und Sachverständige angehört. Das ist doch der Wesenskern parlamentarischer Demokratie. Wir sind der Spiegel der Gesellschaft, wo sich alle Alters- und Berufsgruppen im Deutschen Bundestag wiederfinden, wo Stadt und Land, wo alle Himmelsrichtungen des Landes zusammenkommen.
Deswegen geht es bei der Beendigung der Feststellung der epidemischen Lage nicht darum, das Ende der Pandemie zu verkünden; das können wir gar nicht. Es geht nur darum, klarzumachen, dass das Parlament wieder darüber zu befinden hat – und nicht allein die Regierungen –, welche Voraussetzungen für die Verhängung bestimmter Maßnahmen gelten sollen – Erkrankungen, die Art der Hospitalisierungen, Intensivbehandlungen, der Impffortschritt, die Altersgruppen, die erkranken – und welche Rechtsfolgen daran geknüpft werden, also ob Schulen, Betriebe oder der Einzelhandel geschlossen werden sollen. Darum geht es. Das Parlament soll wieder Herr des Verfahrens werden. Es soll ein Ende haben, dass der Bundesminister Spahn der Herr der Inzidenzen ist, meine Damen und Herren. Darum geht es uns.
({2})
Das Parlament hat sich schon mit wesentlich kleinteiligeren Fragen beschäftigt. Wenn es um Grundrechtseingriffe geht, um das Wesentlichste, worum es eigentlich gehen kann, dann gehört das doch ins Parlament. Hierum geht es: um den Schutz der Grundrechte. Dafür muss das Parlament zuständig sein und wieder werden. Deswegen sind wir gegen eine Fortsetzung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite.
Ich danke Ihnen.
({3})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Dr. Janosch Dahmen das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich höre aus den Fraktionen der Regierungsparteien viele mahnende Worte, die uns sagen wollen, dass die Gefahr durch das Virus noch nicht gebannt ist. Dem kann ich mich zwar ausdrücklich anschließen, aber was mich doch stark irritiert, ist die enorme Lücke zwischen dieser Analyse einerseits und den praktischen Maßnahmen andererseits, die die Bundesregierung daraus ableitet.
({0})
Auf der einen Seite schätzen Sie die Lage als so bedrohlich ein, dass Sie die Feststellung einer Verlängerung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite heute hier unbedingt für notwendig halten – meine Kollegin Manuela Rottmann hat unsere verfassungsrechtlichen Bedenken aus den letzten anderthalb Jahren gerade eben vorgetragen –, und auf der anderen Seite werden die Maßnahmen der Bundesregierung zur Pandemiebekämpfung der gebotenen Vorsicht und anhaltenden Bedrohungslage in keiner Weise gerecht.
({1})
Anders gesagt: Die Bundesregierung will zwar weiterhin weitreichende Durchgriffsrechte, die durch die Verlängerung der epidemischen Lage bestehen bleiben, traut sich aber aus Angst vor Wählerstimmen offenbar nicht, die notwendigen Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen: Beim Infektionsschutz geht es nicht um Wählerstimmen, sondern um Menschenleben, und deshalb hat die Bevölkerung auch vier Wochen vor einer wichtigen Wahl das Recht auf ein funktionierendes Krisenmanagement, das verantwortlich handelt und die Gesundheit der Menschen schützt.
({2})
Und nun zu den Kollegen der FDP: Sie müssen sich nach anderthalb Jahren Pandemie endlich einmal zwischen Verantwortung und Populismus entscheiden.
({3})
Auf der einen Seite tragen Sie verfassungsrechtliche Bedenken vor, die wir teilen und die wir eben noch mal vorgetragen haben. Auf der anderen Seite trauen Sie sich noch nicht mal, sich in Ihrem Antrag zu so basalen Dingen wie AHA+A oder Maskentragen zu bekennen. Selbst heute im Parlament sind Masken für Sie nicht mehr erforderlich; das scheint also alles vorbei zu sein. Man fragt sich, ob Sie sich der Gefahr ganz links von Ihnen eigentlich noch bewusst sind.
({4})
Es reicht nicht, zu sagen, was nicht geht. Verantwortung für dieses Land bedeutet auch, zu sagen, was jetzt erforderlich ist.
({5})
Und deshalb sage ich in Richtung Bundesregierung: Was wir jetzt brauchen, sind Maßnahmen, die einerseits wirksam und zielgerichtet sind, um die vierte Welle einzudämmen, und die andererseits nach anderthalb Jahren endlich auch rechtssicher sind.
({6})
Und ich sage Ihnen gerne auch, an welchen Stellen das Krisenmanagement diesen Anforderungen nicht gerecht wird:
Erstens haben sich die Grenzwerte der Inzidenz zwar als Indikator verändert, aber die Inzidenz deshalb einfach ganz aus dem Gesetz zu streichen, ist schlichtweg fahrlässig.
({7})
Die Sieben-Tage-Inzidenz ist weiter ein wichtiger Indikator zur Einschätzung der Infektionsdynamik. Außerdem – das hat der Minister eben selbst noch mal vorgetragen – besteht eine enge Korrelation zwischen Inzidenz und der Krankenhausbelegung. Es ist schlichtweg falsch, dass man den Fehler, den wir seit anderthalb Jahren erleben, dass man immer nur eine Strategie und einen Indikator hat, wiederholt, anstatt mal mehrere Faktoren zusammenzutragen und zu einer wirklich realistischen Lageeinschätzung und zu zielgerichtetem Handeln zu kommen.
({8})
Die Bürgerinnen und Bürger haben nach anderthalb Jahren Pandemie einen Anspruch auf nachvollziehbare Regelungen, auf Schutz, auf Planbarkeit, und das liefern Sie zum wiederholten Mal hier in diesem Parlament nicht ab.
Zweitens. Es ist richtig, 3 G überall als Grundregel einzuführen; aber wir brauchen für den Fall einer Zuspitzung der Lage auch Grenzwerte, bei deren Überschreitung aus 3 G dann automatisch 2 G wird. Ich schaue dieser Tage mit Sorge nach Nordrhein-Westfalen, wo die Lage mancherorts völlig außer Kontrolle gerät. Aber statt gegenzusteuern, wird im Laschet-Land jetzt die Kontaktnachverfolgung aufgelöst. Sie weichen die Quarantäneregeln auf. Man kann doch diese Warnzeichen nicht ignorieren, den Kopf in den Sand stecken und der vierten Welle einfach Tür und Tor öffnen.
({9})
Verantwortungsvolles Krisenmanagement geht anders, liebe Kolleginnen und Kollegen. Machen Sie in der Bundesregierung Ihre Hausaufgaben! Legen Sie diesem Parlament am 7. September, wenn wir wieder zusammenkommen, endlich eine rechtssichere und wirksame Gesetzesgrundlage vor, damit dieses Land besser geschützt ist.
({10})
Zum Abschluss noch ein letzter Hinweis: Die Menschen im Land merken, wenn sich die Politik vor einer Wahl vor unpopulären Entscheidungen drückt. Und ich sage Ihnen: Wer Verantwortung übernehmen will, der sollte die Wahrheit aussprechen und zielgerichtet handeln. Ansonsten gilt: Wer sich wegduckt, wird abgewählt. Meine Damen und Herren, handeln Sie verantwortungsvoll, und führen Sie keinen Wahlkampf, der Menschen und Menschenleben gefährdet.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit Verlaub, Herr Kollege Dahmen, aber es ist doch das Land Baden-Württemberg, das heute über seinen Gesundheitsminister angekündigt hat, dass mit der Kontaktnachverfolgung Schluss ist.
({0})
Ich verstehe das immer nicht: Wir können hier Debatten führen, wie wir wollen, je näher Wahltermine rücken, desto mehr hat man das Gefühl, dass sie in erster Linie parteipolitisch motiviert sind und dass immer nur in die Richtung argumentiert wird, die einem gerade in den Kram passt oder auch nicht in den Kram passt. Ich finde, diese Diskussionsform passt nicht zu dem Thema.
Kommen wir zur Fragestellung. Ja, am Anfang war die Feststellung der epidemischen Lage eine Notlösung. Ich kann mich an eine Debatte erinnern, in der Herr Thomae von der FDP, glaube ich, kritisiert hat: Warum ist die denn nicht definiert? – Dann haben wir ein paar Definitionen gebracht. Aber das ist nicht mehr die Lage heute. Heute ist nach § 5 Absatz 1 Satz 6 Infektionsschutzgesetz die epidemische Lage von nationaler Tragweite wie folgt definiert:
wenn eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit in der gesamten Bundesrepublik Deutschland besteht, weil 1. die Weltgesundheitsorganisation eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite ausgerufen hat und die Einschleppung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit in die Bundesrepublik Deutschland droht oder 2. eine dynamische Ausbreitung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit über mehrere Länder in der Bundesrepublik Deutschland droht oder stattfindet.
Und diese Voraussetzungen sind weiter gegeben.
Wir haben in Deutschland einen Anstieg der Zahl der Covid-19-Fälle, und zwar in allen Bundesländern. Der Anstieg ist an den entsprechenden Indikatoren messbar. Und ich bin bei Ihnen, Herr Dahmen, und bei allen anderen, auch bei Jens Spahn, wenn er sagt: Natürlich bleibt die Inzidenz ein Thema. Es geht aber auch um die Zahl der Neuinfektionen insgesamt, um den R-Wert, um die Quote der positiven PCR-Tests bezogen auf alle PCR-Tests, um die Sieben-Tage-Inzidenz, um die Zahl der Hospitalisierungen sowie um die Zahl der notwendigen Behandlungen auf den Intensivstationen; von den Patienten auf den Intensivstationen werden heute 47 Prozent beatmet. Und ja, in die Bewertung gehört auch, welche weiteren Effekte und Maßnahmen es im Schulbereich, im Kulturbereich, im Bereich des Handels und des Gewerbes, im Bereich des Verkehrs und im Bereich der Gastronomie gibt. – Das ist der Schlüssel, um zu begreifen, dass man die Feststellung der epidemischen Lage aufrechterhalten muss.
Aber auch dem Antrag der Grünen sind die Konsequenzen zu entnehmen, die im Mittelpunkt des Bewertungsmaßstabs stehen müssen. Sie legen dar, dass „die Hospitalisierung bedingt durch die steigende Impfquote besonders bei den vulnerablen Menschen aktuell nicht mehr in dem Ausmaß“ zunimmt, „wie dies noch in den Infektionswellen 1 bis 3 zu beobachten war“. Mit anderen Worten: Die Mechanik zwischen den Inzidenzwerten und der Hospitalisierungsquote hat sich geändert, und sie hat sich mit der Veränderung des Verhältnisses von Geimpften zu Ungeimpften in der Bevölkerung verändert. Deswegen ist der Schritt hin zur Hospitalisierung als Maßstab auch richtig. Und ja, es ist notwendig, die Inzidenz weiterhin im Blick zu haben, weil daraus – aber mit einer anderen Dynamik als bisher – Hospitalisierung folgt. Zum Vorschlag, die Maßnahmen allein an die Intensivstationsbelegung zu koppeln: Das wäre mir zu spät, weil die Intensivstationsbelegung die letzte Eskalationsstufe ist.
Man kann sich jetzt darüber streiten, ob es auch ein Weg gewesen wäre, den Ministerpräsidenten zu widersprechen und zu sagen: Eure Probleme gehen uns nichts an. Wir könnten als Deutscher Bundestag natürlich sagen: Mit Testen, Impfen und entsprechenden Einreiseregelungen können wir alle unsere Hausaufgaben machen ohne die Feststellung des Fortbestehens der epidemischen Lage. Wir können die wirtschaftlichen Hilfen ohne die Feststellung des Fortbestehens der epidemischen Lage bereitstellen. Wir können die Kosten für Ausfallbelegungen in den Krankenhäusern, in der Pflege und in der Rehabilitation übernehmen; auch dafür brauchen wir die Feststellung des Fortbestehens der epidemischen Lage nicht. Aber die Ministerpräsidenten haben uns dennoch darum gebeten, weil sie genau wissen, dass sie weiterhin Maßnahmen der Gefahrenabwehr, des Gesundheitsschutzes und der Begleitung durch die Gesundheitsämter brauchen und dass sie diese Maßnahmen, wenn sie sie nicht aus dem Infektionsschutzgesetz des Bundes schöpfen können, notwendigerweise erst mal einzeln durch alle 16 Länderparlamente durchbringen müssten, und das in dieser Zeit der sitzungsfreien Perioden auch in den Länderparlamenten. Deswegen finde ich, es gehört sich schon allein aus Kollegialität gegenüber den Ministerpräsidenten, zu sagen: Wenn das deren einstimmiger Wunsch ist, wenn sich vernehmen lässt, dass keine Partei dagegen votiert, dann machen – –
Herr Henke, Sie können weitersprechen, aber Sie tun das auf Kosten Ihrer Kollegen.
Das will ich natürlich nicht riskieren. Das vermeide ich.
Ich schließe mit der Bemerkung, dass wir vor diesem Hintergrund gut daran tun, beide Schritte zu gehen: die Konkretisierung der Kriterien, an denen wir die Entwicklung messen, und gleichzeitig die Feststellung des Fortbestehens der epidemischen Lage.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Stephan Brandner für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dritter Tagesordnungspunkt heute, drittes Mal Staatsversagen: nach dem Afghanistan-Desaster und der Hochwasserkatastrophe nun das Staatsversagen, das die Coronakrise betrifft. Auch hier lässt sich die Politik der verbrauchten Parteien, also der Einheitsfront aus CDU/CSU, SPD, Linke, Grüne und FDP, mit folgenden acht Worten beschreiben: Pleiten, Pech, Pannen, Tricksen, Tarnen, Täuschen, Lügen, Betrügen.
({0})
Das umfasst Sie alle von den Altfraktionen, auch wenn Sie gelegentlich mal und auch heute so ein bisschen Opposition spielen; denn vollständig und kritiklos haben Sie alles umgesetzt, was das Merkel’sche Bundesseuchenkabinett verkündet und von Ihnen verlangt hat. Und weil Sie alle irgendwo im Lande in irgendwelchen Ländern an der Regierung beteiligt sind, hängen Sie da alle mit drin. Das hat sich ja vorhin gezeigt, als Herr Korte – wo ist er überhaupt? – ausgeführt hat und Frau Rottmann und Herr Wiese gar nicht mehr wussten, wo die Zuständigkeiten sind. Auch die FDP ist natürlich ganz vorne dabei. Sie ist an drei Landesregierungen beteiligt und hat trotzdem vor Merkel und Co immer gekuscht; immer die Jasager auf Ihrer Seite.
Ganz anders wir von der AfD: Seit Beginn der – im Übrigen auch in ihren Ausmaßen von Ihnen allen verschuldeten – Coronakrise, die eigentlich mehr eine Lockdown- und Grundrechtskrise geworden ist, haben wir gesagt: Freiheit, Demokratie, Grundrechte sind nicht disponibel. Das Grundgesetz ist sakrosankt, vor allem in Krisenzeiten.
({1})
Pauschale und umfassende Einschränkungen, ja teils sogar das komplette Abschaffen von Grundrechten, darf und wird es mit uns von der AfD nicht geben.
Sie aber vergreifen sich seit etwa anderthalb Jahren an nahezu allen Grundrechten. Künftig planen Sie sogar, die Gewährung von Grundrechten davon abhängig zu machen, ob man sich impfen lässt oder die finanziellen Mittel für einen Test aufbringen kann. Sie spalten unsere Gesellschaft.
({2})
Tino Chrupalla hatte vorhin schon darauf hingewiesen: Sie lassen essenzielle Prinzipien unseres Grundgesetzes erodieren und vertreten offenbar nun die Ansicht, Grundrechte müsse man sich verdienen, erimpfen, erkaufen. Grundrechte stehen aber jedem zu. Haben nicht sogar Herr Spahn – ist er noch da? ja, da ist er – und Herr Kretschmer aus dem sächsischen Lande einmal gesagt, eine Impfpflicht würde es nicht geben? Herr Spahn, Ihr Wort haben Sie gegeben von hier vorne.
({3})
Trotzdem halten wir es für notwendig, einen Antrag einzubringen, den ich jetzt noch kurz vorstelle. Denn wie nennen Sie es, wenn Sie Ungeimpfte nicht in Restaurants, nicht in Hotels, nicht in Läden und nicht ins Theater lassen und die Ungeimpften demnächst womöglich nicht einmal mehr ihren Beruf ausüben können? – Hoffentlich dürfen Ungeimpfte noch wählen gehen am 26. September – Und wie nennen Sie es, wenn ein grüner Minister formulierte: „Die Nicht-Geimpften müssten in letzter Konsequenz zu Hause bleiben“? Oder wie nennt man es, wenn Herr Spahn sagt: „Wir impfen Deutschland zurück in die Freiheit?“ Wir nennen das Impfpflicht und die Parlamentarische Versammlung des Europarates wahrscheinlich auch. Und das geht nicht. Jeder ist frei darin, sich impfen zu lassen, wogegen, wann und wie oft er möchte. Aber einen Zwang lehnen wir ab.
({4})
Es geht nicht, Menschen, die berechtigte Sorgen über Langzeitfolgen haben, vom gesellschaftlichen Leben auszuschließen; das ist Deutschlands nicht würdig; das ist einer Demokratie nicht würdig; was Sie da aufbauen, ist eine Virokratur.
Und nun wollen Sie sich, nachdem Sie die STIKO auf Kurs gebracht haben, auch noch an den Kindern vergehen. Nach dem Bratwurstimpfen – ich habe es vorhin schon erwähnt – gibt es wahrscheinlich demnächst Impfungen an Schulen, Impfungen im Freibad, im Zoo oder im Hüpfburgenpark.
({5})
So würde man Kinder zu einer Impfung locken, deren langfristige Folgen nicht absehbar und auch nicht erforscht sind. Wie weit ist da noch der Weg zur Impfpflicht? Wir sagen, der Weg ist sehr kurz; deshalb unser zweiter Antrag. Eine Impfpflicht – ich habe es gerade schon erwähnt – für Erwachsene lehnen wir ab, für Kinder erst recht.
({6})
Meine Damen und Herren, Sie haben – damit komme ich, um Ermahnungen vorzugreifen, jetzt zum Ende – aus einem Volk der Dichter und Denker ein Volk der Kuscher und Pfuscher gemacht.
({7})
Unser Grundgesetz haben Sie zu einer leeren Hülle verkommen lassen. Wir von der AfD stehen auch da für das klare Gegenteil von Ihnen; wir stehen für Freiheit, für Demokratie, für Grundrechte. Wir labern nicht über das Grundgesetz, wir leben das Grundgesetz,
({8})
überall, jeden Tag, und das macht uns von der AfD so unverzichtbar.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Dittmar für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befinden uns mitten in der vierten Welle mit einem äußerst dynamischen, exponentiellen Infektionsgeschehen. Aber diese Welle verläuft anders; es sind vorwiegend junge Menschen betroffen. Mehr als die Hälfte der über 50 000 Neuinfektionen der letzten sieben Tage betrafen Menschen unter 30. Die Krankheitsverläufe sind in vielen Fällen weniger schwer. Das schlägt sich in der Hospitalisierungsrate nieder, also in der Anzahl der Menschen, die wegen ihrer Covid-Erkrankung im Krankenhaus behandelt werden müssen – von denen im Übrigen 94 Prozent keinen Impfstatus haben. Von den derzeit 1 200 stationär behandelten Patienten werden 800 intensivmedizinisch betreut.
Das ist deutlich weniger als im Oktober 2020 bei vergleichbaren Inzidenzen. Deshalb ist es nur folgerichtig, die Infektionsschutzmaßnahmen eben nicht mehr maßgeblich an der Sieben-Tage-Inzidenz festzumachen. Ich sage aber auch: Die Inzidenz ist unbestritten ein sehr wichtiger Frühindikator, um die Infektionsdynamik vor allem in den verschiedenen Altersgruppen abzubilden. Aber die Inzidenz verliert mit zunehmender Impfquote an Aussagekraft, was die Belastung des Krankenhaussektors angeht. Deshalb ist es richtig, jetzt die Hospitalisierungsrate stärker mit in den Fokus zu nehmen. Glückwunsch Herr Minister, dass auch Sie jetzt zu dieser Erkenntnis gekommen sind! Mit Spannung sehe ich den Vorschlägen aus Ihrem Hause entgegen.
({0})
Meine Damen und Herren, aber eine Sorge habe ich schon. Es ist richtig, dass die Krankheitsverläufe bei den jungen Infizierten in der Regel milder verlaufen. Aber richtig ist leider auch, dass dieser Verlauf einer Covid-19-Erkrankung auf die Entwicklung eines Long-Covid-Syndroms keinen Einfluss hat, und bedauerlicherweise wissen wir über die Verbreitung von Long Covid immer noch viel zu wenig.
({1})
Für Deutschland ist bislang weitgehend unbekannt, wie viele Menschen infolge ihrer Covid-19-Erkrankung konkret an Spät- und Langzeitfolgen leiden. Wir wissen nicht, wie schwer diese Beeinträchtigung ist. Die wenigen Studien, die derzeit laufen, reichen nicht aus, um daraus geeignete Präventionsmaßnahmen ableiten zu können.
({2})
Wir brauchen deshalb dringend – dringend – eine verbesserte Daten- und Forschungslage zu Long Covid in den unterschiedlichen Altersgruppen, und wir brauchen weitere Anstrengungen für eine adäquate Diagnostik, Therapie und Rehabilitation. Frau Karliczek, Herr Minister Spahn, geben Sie hier endlich Gas!
({3})
Liebe Bürgerinnen und Bürger, entscheidend ist und bleibt es aber, die Infektion überhaupt zu vermeiden. Und dafür gibt es einen ganz einfachen Weg: Impfen, Impfen, Impfen! Eine Impfung schützt Sie selbst und andere. Unsere Impfstoffe sind sicher, sie sind regulär zugelassen, sie wurden mittlerweile millionenfach – heute die hundertmillionste Impfung auch in Deutschland – verimpft. Und wenn Sie immer noch unsicher sind, suchen Sie das Gespräch mit Ihrem behandelnden Arzt, Ihrer behandelnden Ärztin.
Ich sage hier auch: Ich bin sehr dankbar, dass es zwischenzeitlich auch eine allgemeine Impfempfehlung der STIKO für Kinder und Jugendliche ab zwölf gibt. Das Angebot wird rege angenommen. Zwischenzeitlich sind fast 30 Prozent dieser Altersgruppe erstgeimpft.
Ich sage auch: Klare Vorgaben wünsche ich mir für die Booster-Impfung. Im Moment sind hier die Verfahren von Region zu Region, von Impfzentrum zu Impfzentrum sehr unterschiedlich. Hier brauchen wir dringend eine bundeseinheitliche Verfahrensweise und keinen Flickenteppich.
Meine Kolleginnen und Kollegen, Covid-19 ist noch nicht zu Ende. Steigende Infektionszahlen, steigende Positivrate bei den Tests, steigende Hospitalisierung, eine Impfquote, die noch nicht ausreicht, um die besonders gefährdeten Gruppen effizient zu schützen, all das zeigt uns, dass weiterhin Maßnahmen wie Maskenpflicht – zum Beispiel im ÖPNV, in Innenräumen –, Abstandsregeln, Kontaktnachverfolgung nötig sind. Dies muss in einem rechtssicheren Raum geschehen. Deshalb werbe ich um Ihre Zustimmung zu unseren Antrag.
Kollegin – –
Danke für die Aufmerksamkeit. Passen Sie auf sich auf, und bleiben Sie gesund!
({0})
Das Wort hat Dr. Thomas Sattelberger für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Die Schulen waren die vergessenen Orte der Pandemie“, so Professor Ludger Wößmann, einer unserer wichtigsten Bildungsforscher, in Sorge um eine verlorene Generation. Wir Freien Demokraten sehen das genauso; deshalb unser Antrag. Es gibt massive Lernrückstände. Schlimmer noch: Wir wissen nicht, wie wir die mannigfaltigen psychischen Probleme jugendlicher Entwicklung auffangen. Laut COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf leidet seit Corona jeder und jede Dritte der 7- bis 17-Jährigen an Angstzuständen, depressiven Symptomen und psychosomatischen Beschwerden. Wir Freien Demokraten haben für offene Schulen gekämpft; denn deren Lockdown war für die junge Generation menschlich ein Desaster.
({0})
Die Bundesregierung hatte und hat keinen Plan für Schulen; sie kennt nur das Prinzip „Augen zu und durch“. Fragen Sie die Bundesschülerkonferenz, den Deutschen Lehrerverband, den Bundeselternrat! Alle schlagen die Hände über dem Kopf zusammen. Ein Beispiel sind die mobilen Luftfilter, vor deren angeblichen Gesundheitsgefahren die CDU-Kollegin Tiemann im November 2020 noch von diesem Pult aus gewarnt hat.
Kollege Sattelberger – –
Jetzt, neun Monate später, –
Kollege – –
– legt die Bundesregierung ein Förderprogramm auf, bodenlos, zu spät und zu wenig.
({0})
Kollege Sattelberger, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Rottmann?
Im Augenblick nicht. – Zwei Drittel der Schulen sind heute ohne Luftfilter. So durchschlägt man keine gordischen Knoten! Schulen müssen ab sofort unbürokratisch Luftfiltergeräte selbst anschaffen dürfen.
({0})
Und jetzt und in der kommenden Legislatur überfällig: eine Grundgesetzänderung weg vom Kooperationsverbot hin zum ‑gebot, ein DigitalPakt 2.0 mit systematischer Entschlackung der Verwaltungsprozesse und eine Bildungspolitik, liebe Frau Karliczek, nicht auf Schläfrigkeit getrimmt, sondern auf Agilität.
({1})
Doch zuallererst brauchen wir angesichts einer möglichen vierten Welle schnellstmöglich eine Sondersitzung von Kultusministerkonferenz und Bundesregierung mit einem Ergebnis: eine staatliche Garantie für pandemiefesten Präsenzunterricht an allen Schulen.
({2})
Junge Menschen haben Handeln verdient anstatt einer Kettenverlängerung Ihrer epidemischen Lage.
Schön, dass Sie da sind, Frau Ministerin! Zum letzten Mal: Frau Karliczek, ran an den Speck!
({3})
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Rottmann das Wort.
Herr Sattelberger, ich hätte Sie gerne gefragt, wie es zusammenpasst, dass Kollege Thomae richtigerweise sagt: „Es wird im Parlament entschieden, welche Maßnahmen ergriffen werden“, in Ihrem Antrag aber keine Entscheidung getroffen wird. Da steht nur „niedrigschwellige Maßnahmen“ wie Tests an Schulen und Kontaktverfolgung. Christian Lindner fordert ein Ende der Maskenpflicht. Das finde ich in Ihrem Antrag gar nicht; deswegen frage ich. Es ist richtig, dass das Parlament entscheidet. Aber die FDP drückt sich um die Entscheidung herum, welche Maßnahmen sie noch beibehalten will, und das, finde ich, ist so ein bisschen wie: Wasch mich, aber mach mich nicht nass!
({0})
Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Liebe Kollegin, Ihr Eindruck trügt Sie.
({0})
– Ich kann auch ohne Mikrofon. Wie in Betriebsversammlungen.
Ohne Mikrofon haben wir es nicht im Protokoll. Vielleicht drücken Sie bitte noch einmal drauf.
Gerne. – Liebe Kollegin, das war für mich gerade eine Wischiwaschi-Frage. Ich habe Fokus gehalten. Ich habe eine sehr klare Forderung gestellt zum Thema Schulpolitik.
({0})
Ich möchte, dass die KMK zusammenkommt.
({1})
Wir haben klare Forderungen dazu, dass wir die epidemische Lage von nationaler Tragweite so nicht weiter mittragen wollen.
({2})
Ich verstehe nicht, wo Ihr Problem liegt.
({3})
Wir setzen die Debatte fort. Das Wort hat der Kollege Thorsten Frei für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist wirklich eine eigentümliche Debatte, die wir hier führen, eine Debatte, die wir in der Art und Zielrichtung von den Oppositionsfraktionen schon in der Vergangenheit immer wieder gehört haben. Aber die Wahrheit ist doch, dass dieses Parlament sich intensiv um die Bewältigung der Covid-19-Pandemie kümmert – in gesundheitlicher, in sozialer, in wirtschaftlicher Hinsicht – und dafür auch die richtigen Rahmenbedingungen setzt. Es gab seit Ausbruch der Pandemie keine einzige Sitzungswoche, in der wir nicht Debatten zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie gehabt hätten. In der letzten Sitzungswoche im Juni hatten wir neun Debatten mit acht Stunden Dauer, wo wir wesentliche Fragen zur Bekämpfung der Pandemie beantwortet haben.
Und was folgt daraus? Natürlich sitzt das Parlament im Cockpit! Ich will gar nicht davon sprechen, wie viele Anträge hier im Parlament zu diesem Thema gestellt wurden. Wir haben seit Ausbruch der Pandemie 160 Gesetze dazu verabschiedet. Damit ist doch klar, dass der Bundestag die wesentlichen Entscheidungen trifft. Wir geben das im Bundesinfektionsschutzgesetz vor. Wir haben die Generalklausel im § 28a konkretisiert. Und wir haben dort, wo die Not groß war und es dringend und notwendig war, dass der Bund ganz konkrete Vorgaben macht, mit der Bundesnotbremse von April bis Juni die unmittelbaren gesetzlichen Voraussetzungen für die Eingriffsmaßnahmen geschaffen. In diesem Sinne frage ich Sie: Was wollen Sie eigentlich?
Im Übrigen: Wenn ich mir die Rede von Herrn Dahmen anhöre, dann habe ich den Eindruck: Er weiß schon ganz genau, was wir in den nächsten Tagen in den § 28a reinschreiben wollen. Genau so hört sich das an.
({0})
– Herr Dahmen, da kann ich Ihnen nur sagen: Hätten Sie der Rede der Kollegen meiner Fraktion und des Bundesgesundheitsministers zugehört, dann wüssten Sie das.
({1})
Wir stellen heute den Antrag, die Fortgeltung der epidemischen Lage nationaler Tragweite erneut festzustellen. Es ist richtig, dass wir uns in diesem Moment die Situation anschauen und fragen: Erfordert es die Instrumentarien, die beispielsweise im § 28a enthalten sind? Und wir kommen zu der Antwort: Ja, diese Instrumentarien brauchen wir!
Der Auffassung sind im Übrigen nicht nur die Ministerpräsidenten. Der Auffassung sind auch alle 16 Gesundheitsminister. Und warum sind sie es? Weil wir in der Situation sind, dass wir eine vierte Welle haben. Wir haben derzeit eine Verdopplungszeit von elf Tagen. Es ist doch überhaupt nicht von der Hand zu weisen, dass wir in einer vierten Welle sind, deren Ende, Konsequenzen und Maßnahmen wir heute im Zweifel noch nicht absehen können.
Deswegen ist es richtig, dass wir die Instrumente, die wir für flexible Handlungsweisen brauchen, heute auf den Tisch legen. Da dürfen Sie nicht so tun, als ob die Feststellung der epidemischen Lage sofort ein Grundrechtseingriff wäre; das ist sie doch überhaupt nicht. Sie ermöglicht den Einsatz bestimmter Schutzmaßnahmen, und zwar dann, wenn erstens die Voraussetzungen des § 28a gegeben sind und wenn sie zweitens erforderlich, geeignet und angemessen sind; das ist jeweils zu prüfen. Das überprüfen im Übrigen auch die Gerichte. Deswegen verstehe ich hier manche Debattenbeiträge nicht, die haarscharf am Thema vorbeigehen.
({2})
Der Kollege Dobrindt hat es in seiner Rede sehr, sehr gut dargelegt: Wir haben heute eine andere Lage. Wenn Frau Dr. Rottmann sagt: „Das haben wir im letzten Herbst schon machen wollen“, dann muss ich sagen: Der letzte Herbst, das war eine andere Zeit. Im letzten Herbst gab es noch keine Impfungen. Heute haben wir die einhundertmillionste Impfdose verimpft. Das ist doch eine völlig andere Situation.
Im Übrigen wird immer wieder so getan, als ob in der Vergangenheit immer nur die Neuinfektionsinzidenz maßgeblich gewesen wäre. Schauen Sie doch mal ins Gesetz; da steht das Wörtchen „insbesondere“ drin. Natürlich waren auch andere Indikatoren maßgebend. Die Neuinfektionsinzidenz wird weiter wichtig sein; aber sie hat nicht mehr die gleiche Aussagekraft.
Deswegen sagen wir zu Recht: Die Frage der Hospitalisierung ist die entscheidende Kenngröße, wenn es darum geht, zu beurteilen: Ist unser Gesundheitswesen an der Belastungsgrenze oder nicht? Diese Grundfrage war schon immer die entscheidende. Heute, angesichts einer Durchimpfung von 60 bzw. 65 Prozent, wo viele Millionen Menschen vollständig geimpft sind, ist dies die Kenngröße, die uns hilft, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Deswegen werden wir eine Änderung des § 28a vorlegen. Ich bin davon überzeugt: Die Kombination aus diesen Maßnahmen –
Kollege Frei.
– müsste jedem die Zustimmung zu unserem Antrag ermöglichen.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Martina Stamm-Fibich das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute über die Verlängerung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite – ein Begriff, so sperrig wie das Leben mit Corona. In den letzten Wochen hatten wir ja fast vergessen, dass es dieses sperrige Leben gibt, weil wir im Sommer wieder mal ein bisschen durchatmen konnten. Aber die Inzidenzen steigen wieder, und deshalb thematisieren wir das Pandemiegeschehen wieder.
Ich denke, zu der Antragsbegründung muss man nichts mehr sagen. Dass die Erforderlichkeit da ist, wurde ausreichend begründet. Ein Grund, weshalb wir aber über die Verlängerung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite sprechen, ist: Wir müssen über das Impfen sprechen – oder besser darüber, dass eben nicht ausreichend geimpft wird. Wir haben schon gehört: 94 Prozent der Covid-Patientinnen und ‑Patienten auf Intensivstationen und 90 Prozent der hospitalisierten Patientinnen und Patienten sind nicht geimpft.
Wir wissen alle: Eine Impfung bietet keinen hundertprozentigen Schutz. Aber sie schützt bis zu 95 Prozent vor einer Ansteckung und vor allem vor schweren Verläufen, die im Krankenhaus enden. Jede einzelne Impfung rettet Leben, entlastet das Gesundheitssystem und sorgt für weniger Einschränkungen. Jeder geimpfte Erwachsene schützt auch diejenigen, über die wir heute ganz wenig oder noch gar nicht gesprochen haben, nämlich unsere Kinder in diesem Land, für die es aktuell noch keinen zugelassenen Impfstoff gibt.
({0})
Klar ist: Kinder stecken sich seltener an und haben mildere Verläufe. Bis zu einem Drittel der Ansteckungen bei Kindern verläuft sogar asymptomatisch. Aus medizinischer Sicht stehen Kinder gut da, aus sozialer Sicht aber eben nicht. Denn tritt ein Coronafall in Kita oder in Schule ein, bedeutet das immer noch Quarantäne. Wir alle wissen, was das für die Kinder bedeutet.
({1})
Das sind eben starke Einschränkungen. Wir wissen, dass es für benachteiligte Kinder gravierende Defizite gibt. Kinder leiden nicht primär an den medizinischen Folgen, sondern an den sozialen Folgen dieser Pandemie. Die meisten Kinder stecken sich nicht bei Kindern, sondern bei ihren Eltern an. Deshalb ist jeder geimpfte Erwachsene nicht nur für sich selbst geimpft, sondern auch für die Kinder, die aktuell nicht geimpft werden können.
In Zukunft haben wir hoffentlich auch für diese ein Impfangebot. Es gibt im Augenblick Studien zu Kindern ab sechs Monaten bis unter zwölf Jahren. Wir hoffen noch im September auf Ergebnisse. Dann kann auch mit einer Beantragung der Zulassung begonnen werden.
Um die Menschen zu erreichen, müssen wir alles tun, um eben die Bequemlichkeit, die bei einigen vorherrscht, zu überwinden. Wir müssen niedrigschwellige Impfangebote machen. Wir müssen vor allem denjenigen, die dem Impfen skeptisch gegenüberstehen, alle Fakten, die wir haben, noch besser erklären und klarer kommunizieren. Das gilt nach der heutigen Debatte vor allem für die allgemeinen Kommentare zum Thema Impfen. Ich schaue an dieser Stelle wieder mal ganz bewusst auf den rechten Teil im Plenum.
Wenn ich es könnte, liebe Kolleginnen und Kollegen, würde ich jetzt sogar bis ins bayerische Wirtschaftsministerium gucken, weil da auch welche sitzen, die meinen, sie könnten in dieser sehr angespannten Situation bei Impfgegnern auf Stimmenfang gehen. Ich bitte Sie: Tun Sie einmal das Richtige in diesem Land, und hören Sie mit diesen unsäglichen Antiimpfkampagnen auf!
({2})
Stand heute haben wir 59,4 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. Wenn wir die epidemische Lage von nationaler Tragweite nicht noch mal verlängern wollen, dann muss diese Zahl jetzt steigen. Wir müssen alles dafür tun; wir müssen den Impfskeptikern sagen: Vielleicht können aus euch Impfwillige werden.
Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Zum Schluss: Wir sind es jetzt vor allem den Kindern in diesem Land schuldig, dass wir alles dafür tun, dass die Impfquote steigt.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind jetzt fast am Ende einer nunmehr zweistündigen und sehr intensiven Debatte. Es ist vieles gesagt worden; das muss ich alles nicht wiederholen. Ich will mich auf zwei Punkte konzentrieren.
Zwei Dinge haben mich echt geärgert. In der Diskussion hier ist so getan worden, als ob wir mit der Fortgeltung der epidemischen Lage automatisch Grundrechtseingriffe vornehmen würden. Da ist, Frau Rottmann, von einer Ausgangssperre gesprochen worden, die den Menschen wieder drohen würde.
({0})
Es ist von der FDP von systematischen, nicht berechtigten Grundrechtseingriffen gesprochen worden, die am Parlament vorbei vorgenommen werden würden.
Ich kann Ihnen sagen, meine Damen und Herren: All das ist falsch. Unser Antrag auf Fortgeltung der epidemischen Notlage ist kein Ermächtigungsgesetz. Es werden damit auch keine unmittelbaren Beschränkungen in Kraft gesetzt. Es sind ja noch nicht einmal Grundrechtseingriffe, die dadurch automatisch erfolgen. Das, was wir machen, ist, dass wir den Ländern die Möglichkeit geben, flexibel, zielgenau, aber eben auch konsequent auf die pandemische Lage zu reagieren.
Meine Damen und Herren, das muss man schon mal sehen: Wenn wir uns anschauen, wie sich Delta in den letzten Wochen entwickelt hat, dann sehen wir doch, dass Corona eben nicht vorbei ist. Wir sehen, dass sich die Lage vor Ort sehr, sehr schnell verändern kann.
Wenn ich höre: „Das muss jetzt alles der Gesetzgeber machen“, dann kann ich nur sagen: Wir sehen doch, wie schnell wir an der einen oder anderen Stelle reagieren müssen. Wir sehen, dass die Länder in der Vergangenheit damit sehr verantwortungsvoll umgegangen sind.
Es ist doch nicht so, dass es den Ländern oder auch uns irgendwie Spaß machen würde, solche massiven Grundrechtseingriffe vorzunehmen, sondern ganz im Gegenteil: Wir halten uns an das Verhältnismäßigkeitsgebot. Wir gucken uns sehr genau an: Wo ist es erforderlich, solche Eingriffe vorzunehmen, um das Leben, um die Gesundheit zu schützen?
Meine Damen und Herren, das ist unser oberstes Ziel: Wir wollen einen Lockdown verhindern. Deswegen brauchen wir diese Fortgeltung, damit wir vor Ort zielgenau handeln können, damit wir alle möglichst wieder in Freiheit und in Normalität leben können. Darum geht es hier heute Abend.
({1})
Der zweite Punkt, den ich noch hinzufügen möchte, der mich auch geärgert hat, weil hier von der AfD, aber auch von der FDP wieder so getan wurde, als ob wir hier eine Impfpflicht einführen würden: Das Gegenteil ist der Fall.
({2})
Über das von der AfD brauche ich gar nicht zu reden; das lohnt sich nicht. Aber bei der FDP hat es mich schon ein bisschen gewundert.
Wenn wir sagen, dass Tests ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr kostenlos für diejenigen angeboten werden, die keine medizinische Indikation haben, sich nicht impfen zu lassen, dann gilt das für diejenigen, die frei und selbstbestimmt gesagt haben: Ich möchte mich nicht impfen lassen. – Das soll jeder halten, wie er es möchte. Das ist Ausdruck von individueller Freiheit.
Aber Ausdruck von individueller Freiheit ist es auch, dass man dann die Konsequenzen seiner Entscheidung trägt. Ich finde es absolut richtig, dass nicht die Steuerzahler – alle miteinander – zahlen, wenn jemand sagt – aus welchen Gründen auch immer –: Ich möchte mich nicht impfen lassen. – Vielmehr ist das die Konsequenz einer freiheitlichen, einer selbstbestimmten Entscheidung. Deswegen ist es richtig, dass die Kostenlosigkeit von Tests im Oktober endet, meine Damen und Herren.
({3})
Lassen Sie mich ganz am Ende noch zwei Dinge sagen: Erstens. Stimmen Sie unserem Antrag zur Fortgeltung der epidemischen Lage zu. Das ist gut, das ist richtig. Wir brauchen das, um in den Ländern zielgenau handeln zu können.
Als Zweites möchte ich an alle draußen appellieren: Lassen Sie sich impfen. Das ist der Weg zur Normalität, das ist der Weg zur Freiheit, dazu, dass wir hier bald wieder auch ohne Masken sitzen können.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Heike Baehrens für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Pandemie ist noch nicht überstanden. Trotz der Erfolge beim Impfen nimmt die Zahl der Infektionen zu. Wir befinden uns am Ende der Legislaturperiode. Auch in dieser Phase des Übergangs müssen die Regierungen von Bund und Ländern schnell und rechtssicher handeln können, um die Virusverbreitung zu stoppen. Darum ist es richtig, heute diese Verlängerung zu beschließen. Denn wir wissen es doch inzwischen alle: Das Virus verzeiht kein Zögern und keine Halbherzigkeit.
Wir als SPD wollen so wenig Einschränkungen des öffentlichen Lebens wie möglich. Wir wollen, dass unsere Kinder in die Schule und in die Kindertagesstätten gehen können. Wir wollen, dass wieder Gemeinschaft gelebt werden kann und wir vor allem auch unsere Kranken oder Pflegebedürftigen besuchen können. Darum wollen wir den Infektionsschutz auf das Maß des Notwendigen konzentrieren. Darum sorgen wir heute hier für rechtliche Klarheit – für eine Klarheit, die von den Bundesländern einmütig gefordert wurde. Denn wir wollen die vierte Welle so klein wie möglich halten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Impfen ist das A und O in der aktuellen Situation; das ist heute oft gesagt worden. Die Meldungen über verfallenden Impfstoff in unseren Arztpraxen sind da schwer erträglich; dies umso mehr, weil überall im Globalen Süden noch immer absoluter Mangel herrscht. Weniger als 2 Prozent der Menschen in Ländern mit niedrigen Einkommen konnten sich bisher impfen lassen. Geht uns das etwas an? Ja, das betrifft uns direkt. Denn während hier die Erwartungshaltung auf eine Drittimpfung geschürt wird, breitet sich das Virus ungezügelt in den Ländern aus, in denen nicht einmal das Gesundheitspersonal Zugang zu Impfstoffen hat.
({0})
Ja, das fällt auch auf uns zurück; denn je länger das Virus unkontrolliert irgendwo auf der Welt wütet, umso eher kann es mutieren und damit für immer neue Infektionswellen sorgen. Darum ist es gut, dass sich Deutschland von Anfang an für eine solidarische Bewältigung der Pandemie eingesetzt hat, dass wir uns stark für den WHO-Verteilmechanismus Covax engagieren, dass wir Millionen Impfstoffdosen aus unseren eigenen Kontingenten abgeben.
Aber ich sage heute hier auch: Das reicht nicht. Wir brauchen da mehr Tempo, wir brauchen einen größeren Akt der Impfstoffsolidarität, und es müssen endlich Produktionskapazitäten weltweit aufgebaut werden.
({1})
Pharmaunternehmen sind da gefordert, den notwendigen Know-how-Transfer so schnell wie möglich zu leisten. Aber, ehrlich gesagt, all unsere Bemühungen bleiben aus meiner Sicht halbherzig, wenn sich Deutschland als letztes EU-Mitglied weiterhin gegen eine zeitweilige Aussetzung der Patentrechte sträubt.
({2})
Da brechen wir unser Versprechen, dass der Impfstoff ein öffentliches, globales Gut sein muss, das allen Menschen dieser Welt zur Verfügung stehen muss.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir verlängern heute die epidemische Lage in Deutschland, um die vierte Welle zu brechen, aber auch weiterhin ist Solidarität gefragt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})