Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Lieber Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Einen wunderschönen guten Morgen! Es war der 21. Februar 2019 – das ist also noch gar nicht so lange her, nämlich genau zwei Jahre und vier Monate –, als wir das erste Mal hier im Plenum des Deutschen Bundestages über unsere Umsetzungsstrategie zur Digitalisierung debattiert haben. Innerhalb dieser ganz kurzen Zeit ist es uns gelungen, mehr als 90 Prozent unserer Vorhaben entweder erledigt oder deren Umsetzung begonnen zu haben. Das zeigt also, welchen Stellenwert die Digitalisierung von Anfang an hatte und noch hat. Über 90 Prozent in gut zwei Jahren ist auf jeden Fall eine hervorragende Zahl.
Wir haben im digitalen Maschinenraum wirklich hart gearbeitet. Besonders freut mich, dass die Fortschritte Stück für Stück bei den Menschen ankommen. Zum einen liegt das daran, dass wir, wie es sich gehört, die Vorhaben im Koalitionsvertrag abgearbeitet haben. Mit der Datenstrategie der Bundesregierung sind wir sogar noch über den Koalitionsvertrag hinausgegangen. Zum Thema Daten ist beispielsweise noch zu sagen, dass wir in Europa stehende Daten kaum, manchmal nur einmal nutzen. Dieses Wertschöpfungspotenzial wollen wir noch stärker heben. Wenn man sich anschaut, wie groß das Wertschöpfungspotenzial sein könnte, dann stellt man fest: Es sind alleine 425 Milliarden Euro nur in Deutschland bis zum Jahr 2025.
Zum anderen liegt das auch daran, dass wir wirklich von Tag eins an den Grundstein für diese Fortschritte gelegt haben. Wir haben neue Gremien geschaffen. Wir haben den Kabinettausschuss-Digitalisierung ins Leben gerufen, also das zentrale Steuerungs- und Koordinationsgremium der Digitalpolitik. Wir haben einen hauseigenen Think Tank mit dem Digitalrat, der ganz wesentlich zur Gestaltung unserer Digitalpolitik beigetragen hat, beispielsweise durch die Gründung der DigitalService4Germany GmbH.
Es gab natürlich auch einige wirklich große Projekte, die die absoluten Game Changer sind – vielleicht noch nicht am heutigen Tag, aber man kann es erahnen. Sie werden auf jeden Fall in den nächsten Wochen und Monaten ihre volle Wirkung entfalten, beispielweise beim Thema Alltagsdigitalisierung.
Wenn man, wie ich gerade, von Fortschritten spricht und davon, dass die Alltagsdigitalisierung bei den Menschen ankommen wird, dann muss das natürlich ganz besonders für uns, für die Verwaltung gelten. Das ist ein wahnsinnig komplexes Bund-Länder-Projekt. Da haben wir in dieser Legislaturperiode tatsächlich den gordischen Knoten durchschlagen. Wir haben bereits über 300 Verwaltungsdienstleistungen digitalisiert, haben dafür letztes Jahr 3 Milliarden Euro zusätzlich bekommen. Wir haben die Registermodernisierung beschlossen. Wir haben das Prinzip „Einer für Alle“ durchsetzen können. Das hört sich so einfach an, aber Helge Braun und ich wissen, dass viele nächtelange Sitzungen notwendig waren mit den Ländern – noch vor Corona physisch, danach natürlich digital –, um da zu einem Durchbruch zu kommen. Das ist sicherlich eine Blaupause für weitere Projekte.
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Das Allerwichtigste, worüber ich mich am meisten freue, ist, dass die Angebote tatsächlich einfacher, schneller, digitaler bei den Menschen ankommen. Da braucht es digitale Identitäten, weil ohne digitale Identität keine digitale Verwaltung funktioniert. Aber auch da gehen wir weiter. Wir sagen, wir machen das nicht nur national, sondern wir machen das europäisch. Deswegen sind wir gerade mittendrin beim Aufbau einer europaweiten verlässlichen Möglichkeit zur digitalen Identifizierung, einer sogenannten Wallet.
Ich freue mich, dass wir das in den unterschiedlichen Bereichen auf den Weg haben bringen können – ich gleich zu Beginn der Legislatur als zentrales Vorhaben meines Innovation Councils, dann aber auch zusammen mit der Bundeskanzlerin, die sich an die Spitze der Bewegung gestellt hat. Jetzt ist das erste Pilotprojekt gestartet, der Hotel-Check-In. Weitere Umsetzungen werden noch in diesem Jahr, in relativ kurzer Zeit kommen.
Das wird der Game Changer sein. Wir werden uns noch an diesen heutigen Tag erinnern und werden sagen: Jawohl, diese E-Wallet, diese eID, mit der sich jede Bürgerin, jeder Bürger nicht nur in Deutschland, sondern europaweit verlässlich ausweisen kann, wird uns allen das Leben extrem erleichtern. – Außerdem ist das ein ganz großer Wirtschaftsfaktor. Die nächsten Anwendungen werden wir noch in dieser Legislaturperiode bekommen, beispielsweise die Kontoeröffnung. Der Vorschlag der Kommission zur eIDAS-Reform zeigt ja auch, dass wir in Deutschland mit unseren Vorschlägen da die absolute Benchmark werden können.
Der Herr Präsident zeigt mir gerade an, dass ich nicht alle großartigen Dinge, die wir gemacht haben, aufzählen kann. Deswegen abschließend nur noch das Thema digitale Bildung. Dort sind wir wahnsinnig weit vorangekommen, weil wir als Bund gesagt haben, dass wir hier vielleicht nicht eine gesetzliche, aber eine moralische Verpflichtung haben. Daher sind wir unserem Anspruch gerecht geworden. Das Gleiche gilt für Themen wie Quantencomputing, künstliche Intelligenz, 5 G, GAIA-X als Exportschlager.
Diese Bundesregierung hat in der Digitalpolitik nicht nur gut, sie hat sehr gut gearbeitet. Die nächste Bundesregierung kann ganz einfach die Früchte ernten, deren Saat wir in dieser Legislaturperiode gelegt haben.
Vielen herzlichen Dank.
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Joana Cotar, AfD, ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Vier Jahre Digitalpolitik liegen jetzt hinter uns, oder das, was die Bundesregierung für Digitalpolitik gehalten hat. Zeit, Bilanz zu ziehen. Wo steht das digitale Deutschland nach weiteren vier Jahren Großer Koalition?
Lassen wir doch zu Beginn den Wissenschaftlichen Beirat beim Wirtschaftsministerium zu Wort kommen, also Ihre eigenen Leute, werte Regierung. In seinem von Herrn Altmaier beauftragten Gutachten kommt er zu dem Schluss – ich zitiere –:
Deutschland ist sowohl beim Ausbau der digitalen Infrastruktur als auch beim Einsatz digitaler Technologien und Dienstleistungen hinter viele andere OECD-Staaten zurückgefallen.
Wir haben noch nicht mal unseren kleinen Standard halten können. Wir sind zurückgefallen. Und das bescheinigt Ihnen keine böse Oppositionspartei, das bescheinigt Ihnen Ihr eigenes Haus, werte Regierung. Ein beschämendes Versagen in der Digitalpolitik. Setzen, sechs, meine Damen und Herren!
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Was haben wir für tolle Versprechen gehört! In jeder Regierungserklärung von Frau Merkel wurde besonderes Augenmerk auf die Digitalpolitik gelegt. Kein Wunder, in ihr liegt die Zukunft, sie entscheidet über die Konkurrenzfähigkeit unseres Landes. Aber den Worten sind keine Taten gefolgt.
Schauen wir uns doch mal ein paar Fakten an:
Laut der Bundesnetzagentur verfügen aktuell 14 Prozent der deutschen Haushalte über einen Glasfaseranschluss. Im EU-Durchschnitt sind es mehr als doppelt so viel, nämlich 33,5 Prozent, in Lettland fast 90 Prozent.
Scheuers neu gegründetes „Funklochamt“, das sich um eine flächendeckende Mobilfunkversorgung in Deutschland kümmern soll, hat bis auf zwei Geschäftsführer noch keinen einzigen Mitarbeiter. Die Löcher bleiben also bis auf Weiteres.
Im IMD-Ranking der wettbewerbsfähigsten Länder in der Digitalisierung haben wir im letzten Jahr einen Platz verloren und stehen nur noch auf Platz 18.
15 Monate nach dem ersten Lockdown verfügen nur 57 Prozent der Schulen über eine ordentliche digitale Ausstattung. An der Hälfte der Schulen gibt es kein WLAN für Schüler.
Unter den Top 50 der innovativsten Unternehmen der Welt hatten wir 2018 noch acht deutsche Unternehmen auf der Liste, 2021 sind es nur noch vier.
2017 versprach uns Herr Altmaier die anwenderfreundlichste Verwaltung Europas bis 2021. Nun, wir haben 2021, und das Gutachten aus dem Wirtschaftsministerium spricht von einem – ich zitiere – generellen „Organisationsversagen“:
Deutschland leistet sich in der öffentlichen Verwaltung Strukturen, Prozesse und Denkweisen, die teilweise archaisch anmuten.
GAIA-X droht an seiner Bürokratie zu ersticken. Wenn sich nicht bald zeitnah Erfolge einstellen, dann droht dem gesamten Projekt das gleiche Schicksal wie der De-Mail.
Mein Lieblingspunkt: Die Modernisierung der Bundes-IT sollte bis 2025 abgeschlossen sein. Nun dauert sie wohl bis 2032. Der Bundesrechnungshof warnt, dass der Bundesclient technisch veraltet sein könnte, bis die Bundesregierung ihn in elf Jahren in den letzten Behörden ausgerollt haben wird. Das ist so unfassbar, dass man darüber lachen könnte, wenn das Thema nicht so ernst wäre.
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Aber es gibt zwei digitale Bereiche, in denen Deutschland ganz groß ist: Zum einen ist das die Zensur im Internet und zum anderen die digitale Überwachung der Bürger. Was unsere Regierung nämlich in den letzten vier Jahren geschafft hat, ist zum einen die Verschärfung des NetzDGs und zum anderen die Einführung der Uploadfilter. Sie hat das IT-Sicherheitsgesetz 2.0 verabschiedet, das selbst die Fachleute als Antisicherheitsgesetz bezeichnet haben.
Und weil es so schön ist, hat sie dann den Einsatz von Staatstrojanern ausgeweitet: Alle 19 Verfassungsschutzämter können ihn jetzt nutzen, selbst dann, wenn kein Tatverdacht gegen eine Person vorliegt. Mitbeschlossen hat das die SPD – trotz des Versprechens von Saskia Esken, dass das auf keinen Fall kommt. Wer Ihnen, werte Genossen, noch ein Wort glaubt, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen.
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Fassen wir zusammen: Statt digital aufzuholen, wurde Deutschland in den letzten vier Jahren weiter abgehängt. Diese Regierung konnte es nicht. Diese Regierung hat es noch nicht einmal versucht. Es bleibt nur die Hoffnung, dass sich das in der nächsten Legislaturperiode wirklich gravierend ändert. Denn wenn wir weiterhin schlafen, sieht es schwarz aus für Deutschlands digitale Zukunft.
Vielen Dank. Wir sehen uns in der nächsten Legislaturperiode.
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Dr. Jens Zimmermann, SPD, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Cotar, wenn ich vom Verfassungsschutz überwacht werden würde,
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hätte auch ich Angst davor, wenn der mehr Befugnisse bekommt.
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Das ist leider eine Tatsache, Herr Kollege.
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Zur Bilanz dieser Legislaturperiode in der Digitalpolitik gehört auch, dass der Ton an den Volksempfängern auf der rechten Seite immer ein bisschen zu schrill ist.
Für die Digitalpolitik hat die Coronapandemie definitiv als ein Beschleuniger in unserer Gesellschaft gewirkt. Wir haben schon damals im Koalitionsvertrag vieles entsprechend vereinbart. So digital war ein Koalitionsvertrag noch nie, und wir haben an ganz, ganz vielen Stellen angepackt. Wir haben verbessert. Wir haben verhandelt. Das hat an vielen Stellen in der Coronakrise geholfen; aber wir haben natürlich auch ganz klar aufgezeigt bekommen, wo wir jetzt noch nacharbeiten müssen. Das bestreitet niemand. Aber diese Schwarzmalerei, dass alles hier so schlecht wäre, ist vollkommen daneben, meine Kolleginnen und Kollegen.
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Schauen wir uns einmal an, was wir bei der Infrastruktur alles auf den Weg gebracht haben: Wir haben 12 Milliarden Euro im Digitalfonds zur Verfügung gestellt. Wenn Sie mal mit offenen Augen durchs Land fahren, dann sehen Sie die Ergebnisse. In meinem Wahlkreis zum Beispiel stehen gerade an jeder Ecke Bagger und riesige Trommeln mit orangefarbenen Kabeln. Das sind die Glasfaserkabel, die überall im Land verbaut werden. Momentan ist das Problem, dass wir gar nicht genügend Baukapazitäten haben, um diese ganzen Glasfaserkabel unter die Erde zu bringen.
Das ist im Übrigen – das muss man auch sagen – eine Folge der schwarzen Null.
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Weil wir bei den Investitionen zu lange zu zurückhaltend waren, sind die Baukapazitäten jetzt nicht vorhanden. Das muss man auch analysieren. Aber das Geld ist da, es wird verbaut, und wir sind an der Stelle auf einem sehr, sehr guten Weg.
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Wenn ich mir das Thema digitale Souveränität anschaue, möchte ich sagen: Aus meiner Sicht war es eine Sternstunde dieses Parlamentes, als wir das Thema Sicherheit, gerade gegenüber Herstellern aus China, hier aus dem Parlament heraus auf die Tagesordnung gesetzt und dafür gesorgt haben, dass es jetzt einen klaren Beschluss gibt, dass nicht einfach alles an Hardware in kritischer Infrastruktur eingebaut werden kann. Das ist ein großer Erfolg dieses Hohen Hauses gewesen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir haben auch beim DigitalPakt Schule 5 Milliarden Euro in die Hand genommen. Herr Kretschmann in Baden-Württemberg hat sich damals hingestellt und gesagt, dass er das Geld überhaupt nicht will.
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Sich dann jetzt hier immer hinzustellen und zu sagen, das sei nicht genug – hier ist der Bund eigentlich nicht zuständig; auch das gehört zur Wahrheit –, ist nicht Ordnung.
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Natürlich haben wir uns auch sehr viele Gedanken über Regeln im Internet gemacht. Das ist das schwierige Thema Netzwerkdurchsetzungsgesetz, der Kampf gegen Hass und Hetze. Da ringen wir um die richtigen Lösungen. Aber eine Sache ist den demokratischen Fraktionen hier im Hause doch auch klar: Man kann es nicht einfach laufen lassen. Wir müssen vor allem an der Seite der Opfer stehen, und das sind leider immer noch viel zu viele im digitalen Raum, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich möchte mich zum Abschluss ganz herzlich bei unserem Ausschussvorsitzenden, bei Manuel Höferlin, bedanken, der unseren Digitalausschuss sehr gekonnt und immer sehr kollegial geführt hat. Ich glaube, das ist wirklich einen Applaus wert.
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Ich will mich natürlich auch bei allen Mitgliedern bedanken, vor allen bei den Obleuten, bei Anke Domscheit-Berg, bei Mario Brandenburg, bei Dieter Janecek und natürlich auch bei meinem Koalitionskollegen Tankred Schipanski. Vielen, vielen Dank! Wir sind, glaube ich, nach wie vor eine verschworene Truppe im Digitalausschuss. Ich bin mir sicher – egal mit welchen Mehrheiten nach der nächsten Bundestagswahl eine Koalition gebildet wird –: Die Digitalpolitik wird noch wichtiger werden.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Kaum sind Sie gelobt worden, schon erhalten Sie das Wort. Manuel Höferlin ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir nähern uns dem Ende der Legislaturperiode, und das ist natürlich die Zeit, Bilanz zu ziehen: Was sollte, was musste in der Digitalpolitik passieren?
Eine flächendeckende Infrastruktur, eine digitale Infrastruktur von Weltklasse wollten Sie schaffen. Die Vermittlung von digitalen Fähigkeiten als Schlüsselkompetenz für alle Altersgruppen wollten Sie sicherstellen. Mehr Bürgernähe durch eine moderne digitale Verwaltung wollten Sie zeigen, und einen Rechtsrahmen wollten Sie schaffen, der Bürgerrechte garantiert und den Anspruch von Freiheit und Sicherheit gewährleistet.
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Viel Richtiges haben Sie in weiteren Papieren, zum Beispiel im Koalitionsvertrag und dann in der Digitalstrategie, aufgeschrieben. Nur eines frage ich mich bis heute: Warum haben Sie all das nicht umgesetzt?
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Die Probleme haben Sie erkannt, meine Damen und Herren – das ist das Dramatische –, aber Sie haben zu wenig gemacht. Immer wieder in den letzten vier Jahren höre ich von diesem Pult von Ihnen: Wir sind auf einem guten Weg. – Das ist der Standardsatz bei der digitalen Transformation. Statt digitaler Infrastruktur von Weltklasse haben Sie aber am Ende eher Schotterpisten oder normale Straßen hinterlassen. Wir sind beim Thema Breitband immer noch auf dem langsamen Weg.
Zur Schlüsselkompetenz der digitalen Fähigkeiten – wir haben es gerade gehört – hat die Coronapandemie unfreiwillig mehr beigetragen als die Planungs- und Durchsetzungsfähigkeit dieser Koalition, meine Damen und Herren. Das ist dramatisch.
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Die Verwaltung wurde von Ihnen nicht digitaler gemacht. Wenn ich höre, Sie hätten 300 Verwaltungsleistungen von 575 digitalisiert, muss man ehrlicherweise auch sagen, dass diese bei Ihnen schon als digitalisiert gelten, wenn nur eine Kommune in ganz Deutschland diese Leistung anbietet; alle anderen haben davon aber nichts. Das ist im besten Fall ein Taschenspielertrick. Das Thema „digitale Verwaltung“ ist eher ein Running Gag auf Familienfeiern.
Was Sie von Bürgerrechten im digitalen Raum halten, meine Damen und Herren, haben Sie in dieser Legislaturperiode immer wieder deutlich gemacht, nämlich sehr wenig. Zuletzt haben Sie das beim Staatstrojaner gezeigt.
Das alles zeigt: Sie haben kein Erkenntnisproblem, sondern – das ist eigentlich dramatisch – Sie haben ein Umsetzungsproblem. Das rührt daher, dass Sie Digitalpolitik nicht gestalten, sondern eher verwalten oder in Schriftstücken niederbringen. Digitalpolitik muss sich digital transformieren, nach der Gesellschaft und der Wirtschaft eben jetzt auch in der Politik.
Wir müssen vom Wollen ins Machen kommen mit einem viel größeren Tempo; sonst holen wir diese Zeit nicht mehr auf, die wir schon verloren haben. Wir brauchen andere Arbeitsweisen, und zwar kooperativer, hier im Haus übrigens auch mit den Ausschüssen, aber vor allen Dingen in der Regierung und in den Ministerien. Wir müssen schneller und agiler arbeiten, um schneller zum Erfolg zu kommen; wir müssen auch mutiger sein. Wenn selbst die Arbeitsebene Ihrer Häuser, meine Damen und Herren der Bundesregierung, dies in ihren Papieren niederschreibt, dann sollte Ihnen das wirklich zu denken geben.
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Als Sinnbild dieser Arbeitsweise – Sie wissen das – brauchen wir ein Digitalministerium, ein Ministerium für digitale Transformation, das diese neue Arbeitsweise auch vorlebt, das zentrale Projekte der digitalen Transformation umsetzt und koordiniert, das Beschleuniger und Transformator ist, das die Ressorts richtig koordiniert und gemeinsame Ziele umsetzt. Machen ist wie Wollen, nur krasser. Darum geht es. Die Weichen müssen wir stellen. Im September ist das hoffentlich der Fall. Nie gab es mehr zu tun, meine Damen und Herren.
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Lassen Sie mich als Ausschussvorsitzenden noch Ihnen allen danken. Ich fand es auch sehr angenehm in dieser Legislaturperiode. Wir haben noch viel zu tun. Ich freue mich darauf.
Danke.
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Anke Domscheit-Berg, Die Linke, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Es ist kaum zu glauben, aber diese Bundesregierung hat tatsächlich eine ganze Legislatur vor sich hin regiert, ohne eine Digitalisierungsstrategie vorzulegen. So liegt vor uns nun ein Flickenteppich. Auf der B 96 bei mir in Fürstenberg konnte man nach einem Unfall nicht mal per Handy den Notarzt rufen. In meinem Wahlkreis lassen sich Mittelständler Aufträge per USB-Stick im Brief schicken. Die Bundesregierung hat nämlich tatsächlich schon bei den Grundlagen der Digitalisierung versagt: beim Ausbau der digitalen Infrastruktur. Wir sind immer noch ein Land der Funklöcher und lahmen Netze. Die sind schlecht, aber teuer. Danke für nichts, Andi Scheuer!
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Das digitale Vollversagen wurde in der Pandemie besonders deutlich. Meldewege bei Covid-19 dauerten mitunter eine ganze Woche. Gesundheitsämter schicken sich munter Faxe hin und her. Ein digitales Covid-19-Impfzertifikat musste übers Knie gebrochen werden, weil es die elektronische Patientenakte mit integriertem digitalem Impfausweis halt immer noch nicht gibt. Bildungsungerechtigkeit wurde pandemiebedingt noch größer, denn viele arme Kinder waren mangels Endgerät von digitaler Bildung ausgeschlossen. Und ja, es gab den Digitalpakt, aber er war viel zu bürokratisch, er kam viel zu spät, und immer noch hat nur jede zweite Schule ein WLAN für Kinder. Das ist schon ohne Pandemie inakzeptabel.
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Leider ist auch die Verwaltung selbst kein Vorbild. Das Onlinezugangsgesetz kommt nicht voran, und die Fortschrittswebseite gaukelt Fortschritt im Prinzip nur vor. Denn nur bei 45 – nicht 315, Doro Bär – der 575 Dienstleistungen, die da als abgehakt angegeben werden, kann der Bund auch sagen, dass sie wirklich Ende zu Ende elektronisch erledigt werden können. Das sind weniger als 8 Prozent.
Nicht gekriegt haben wir ein Transparenzgesetz. Gekommen ist ein Open-Data-Gesetz, dem allerdings das Allerwichtigste fehlt: ein Rechtsanspruch. Statt mehr IT-Sicherheit haben wir mehr Überwachung bekommen. Das IT-Sicherheitsgesetz 2.0, an dem lange gearbeitet wurde, schadet leider mehr, als es nützt. Geheimdienste halten Sicherheitslücken immer noch geheim, statt sie zu schließen, und gefährden damit unser aller IT-Sicherheit. Ein Überwachungsgesetz nach dem anderen wurde verabschiedet. Bestandsdatenauskunft und Vorratsdatenspeicherung gibt es immer noch. Es gibt Staatstrojaner jetzt auch für 19 Geheimdienste und vieles mehr.
Was fehlt? Eine Evaluierung solcher Überwachungsgesetze. Eine Überwachungsgesamtrechnung kriegen wir auch nicht. Etliche dieser Gesetze sind mit höchster Wahrscheinlichkeit sogar verfassungswidrig.
Das Fazit der Linksfraktion: Diese Bundesregierung hat Murks geliefert.
Im Übrigen bin ich der Meinung, Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen haben nichts im Strafrecht verloren. § 219a gehört abgeschafft. Wenn wir es in dieser Legislatur nicht geschafft haben, muss das in der nächsten endlich fallen.
Vielen Dank.
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Tabea Rößner, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Groß waren die Versprechungen im Koalitionsvertrag. Deutschland sollte Digitalland und Weltspitze bei der digitalen Infrastruktur werden. Die bittere Bilanz: 71 Prozent der Deutschen sind von Ihrer Digitalpolitik enttäuscht. Weltweit und innereuropäisch ist Deutschland beim Digitalisierungsfortschritt maximal Mittelmaß, eher Schlusslicht. Schulen, Verwaltung, Gesundheitswesen – es hakt überall. Der Zustand der digitalen Infrastruktur ist desaströs, und das Ausland belächelt uns für unsere Funkloch-App und Weiße-Flecken-Karte. Ihre Untätigkeit mussten in der Pandemie verzweifelte Arbeitnehmer/-innen und Schüler/-innen vor ihren Bildschirmen ausbaden. Das ist beschämend!
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2013 wollte der damalige Minister Dobrindt – leider ist er jetzt weg – schnelles Internet in alle Züge und Bahnhöfe bringen. Heute lese ich: Das kommt erst 2026. Was für ein Desaster!
Ein weiteres Sinnbild der deutschen digitalen Misere: Die Corona-Warn-App. Sie wäre eine Erfolgsstory, hätte man gleich auf etablierten Datenschutz und IT-Sicherheitsstandards gesetzt. Stattdessen wurden Zeit, Geld und Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger verspielt.
Das Gleiche geschieht bei der Datenschutz-Grundverordnung. Statt sie als europäische Marke zu pushen, diffamieren Sie sie als Innovationsbremse, während Kalifornien und Israel sie begeistert kopieren.
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Zentrale Fragen zum Umgang mit Daten und KI wurden vertagt, und mit der Datenstrategie wurde das Scheitern in Stein gemeißelt: 234 Einzelvorhaben, von denen über die Hälfte kalter Kaffee sind, vage Absichtserklärungen und Prüfauftrage. Zu zögerlich, zu planlos, zu spät und ohne Vision.
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Leider zeigt sich das auch in der Verwaltung. Das E‑Government-Gesetz, in letzter Minute durchgebracht, lässt die Potenziale von Open Data ungenutzt, und der Haushaltsausschuss hat die Erneuerung der Bundes-IT wegen explodierender Kosten gestoppt.
Vor lauter Strategien und Gremien haben Sie Überblick und Ziel aus den Augen verloren. Freundlich gesagt: Sie haben ein Umsetzungsdefizit. Wer eine der größten Transformationen dieses Jahrhunderts gestalten möchte, muss das Thema doch auf die Topprioritätenliste setzen, klare Ziele benennen und innovationsfreundliche Strukturen schaffen.
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Stattdessen installieren Sie eine Digitalstaatsministerin ohne Budget, Verwaltungsapparat oder Entscheidungskompetenz. Ob Digitalchecks für Gesetze, Innovation Council oder die Bundeszentrale für Digitale Aufklärung – alles im Sande verlaufen, stattdessen Interessenkonflikte ohne Ende.
Deutschland soll als Verschlüsselungsstandort brillieren, gleichzeitig erhalten Sicherheitsbehörden immer mehr Zugriffsrechte. Mit Sicherheitslücken wird weitergedealt, und die IT-Sicherheit wird massiv gefährdet. Alle Warnungen wurden in den Wind geschlagen. Dabei brauchen wir dringend eine Antwort auf Datenskandale, auf gezielte IT-Angriffe auf demokratische Institutionen, Meinungsbildung und Wahlen.
Die Digitalisierung bietet viele Chancen für die ökologisch-soziale Transformation in einer lebendigen Demokratie für den Wirtschaftsstandort.
Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Wahrscheinlich können Sie nicht mehr alle Chancen aufzählen.
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Ja, aber für einen fairen Wettbewerb, diskriminierungsfreie Plattformen und einen gemeinwohlorientierten Ordnungsrahmen für neue Technologien sind Sie sicher auch. Zeit jedenfalls, sie endlich zu nutzen!
Ich danke Ihnen.
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Nadine Schön, CDU/CSU, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident, Sie sehen: Unser Herz ist voll, es gibt viel Diskussionsbedarf in der Digitalpolitik. Aber bei den Vorrednern der Opposition muss ich sagen: Ein Buzzword nach dem anderen, keine Vision, die zeigt, wohin Sie eigentlich wollen. Am Ende frage ich mich, wo Sie eigentlich in den letzten vier Jahren waren.
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Wenn man mit Leuten außerhalb von Deutschland spricht, dann nehmen sie anerkennend zur Kenntnis, dass wir in so vielen Bereichen vorangegangen sind. Nehmen Sie nur mal die GWB-Novelle. Mit der GWB-Novelle schaffen wir ein ganz modernes Wettbewerbsrecht, mit dem wir weltweit Beachtung finden. Zum ersten Mal sagen wir den großen Plattformen: Ihr müsst auch in Deutschland nach fairen Regeln spielen. Wir kontrollieren das, und wir machen andere Vorschriften. – Das ist die Blaupause für den Digital Markets Act der EU. Ganz Europa schaut darauf, was wir mit dieser GWB-Novelle gemacht haben. Weltweit findet das Beachtung. Und Sie stehen hier und erwähnen es noch nicht einmal mit einem Stichwort.
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Mit GAIA-X hat Peter Altmaier ein ganz konkretes Projekt auf den Weg gebracht, womit wir unsere eigene digitale Souveränität stärken. Nicht nur meckern, dass die großen Plattformen zu stark werden, sondern die eigenen Chancen nutzen, das müssen wir.
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Das haben wir in der Legislaturperiode mit GAIA-X gemacht.
Auch die eID ist angesprochen worden. Wir sind nicht mehr davon abhängig, große amerikanische Anbieter zu nutzen, um uns im Internet zu identifizieren.
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Wir haben eine eigene eID auf den Weg gebracht. Wir bringen den Personalausweis aufs Handy. Das wird in ganz vielen Wirtschaftsbereichen Innovationspotenziale freisetzen. Auch das haben wir gemacht.
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Wir setzen auf Innovation. Wir haben Milliarden in künstliche Intelligenz investiert, wir haben die Blockchain-Strategie auf den Weg gebracht, wir setzen auf Quantencomputing – und Sie stehen hier wieder und sagen: Es wird nichts gemacht.
Wir sorgen dafür, dass aus all dem, was an den Universitäten erforscht und erdacht wird – gerade in diesen neuen Technologien –, neue Geschäftsmodelle, neue Produkte und neue Unternehmen entstehen. Deshalb bringen wir den größten Wachstumsfonds, den es in Europa gibt, auf den Weg. Die Franzosen setzen 5 Milliarden Euro ein, wir insgesamt 30 Milliarden. Das hat unser Fraktionsvorsitzender im Koalitionsausschuss eingestielt, das bringen wir auf den Weg, und auch hier setzen wir Maßstäbe.
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Wir machen das Leben der Menschen einfacher; denn darum geht es ja. Es geht ja nicht um irgendwelche Digitalisierungs-Buzzwords, sondern es geht darum, dass wir mithilfe der Digitalisierung die großen Herausforderungen dieser Zeit bewältigen und das Leben der Menschen einfacher machen. So einfach ist es.
Deshalb haben wir das Registermodernisierungsgesetz auf den Weg gebracht,
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gegen den erbitterten Widerstand der FDP.
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Lieber Manuel Höferlin, erst „Digital first. Bedenken second.“ zu plakatieren und dann, wenn es hier darum geht, konkrete Gesetze auf den Weg zu bringen, zu sagen: „Da gibt es aber das Volkszählungsurteil von 1983,
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das dürfen wir jetzt nicht machen“, das ist schon merkwürdig.
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Zum Glück waren Ihre Kollegen im Bundesrat, in den Ländern, innovativer.
Und das gilt auch für die Grünen, die nämlich hier stehen und sagen: Mit der digitalen Bildung geht es nicht voran. – Aber Winfried Kretschmann ist derjenige, der den DigitalPakt Schule mindestens um ein halbes Jahr verzögert hat, aus lauter Angst, wir würden in seine Kompetenzen eingreifen.
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Ich könnte die Reihe fortsetzen. Wir haben vieles auf den Weg gebracht. In der nächsten Legislaturperiode legen wir noch eine Schippe drauf. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit in all diesen wichtigen Bereichen in der Digitalpolitik. Wir bringen damit unser Land voran.
Danke.
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Elvan Korkmaz-Emre, SPD, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Viele Fragen, die wir für die alte, analoge Welt gelöst hatten, stellen sich heute in der digitalen Welt neu: Was ist die richtige Balance zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Selbstbestimmung und Gemeininteresse? Auf fast keinem anderen politischen Feld haben sich die Unterschiede zwischen den Werteorientierungen der Parteien in diesem Parlament so deutlich gezeigt wie bei der digitalen Agenda.
Datenschutz ist die Voraussetzung für alles. Andere Parteien sehen das anders. Doch für mich ist klar: Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht verhandelbar. Wer wie welche Daten von mir bekommt und wozu er sie verwendet, das muss ich selbst bestimmen können, ich ganz allein.
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Wenn wir ganz ehrlich sind: Wir haben die Voraussetzungen dafür auch noch nicht geschaffen. Doch erst die Sicherheit schafft das nötige Vertrauen, und im Vertrauen gewinnen wir die Freiheit, mit Daten auch das zu tun, was sich mit Daten eben tun lässt, nämlich ökonomische Potenziale heben, Ressourcen sparen, soziale Innovationen schaffen. Eine Kultur des Datenteilens macht Lieferketten effizienter, den Verkehr sicherer, meinen Strom günstiger und unsere Städte lebenswerter. Das ist die sozialdemokratische Idee von Digitalisierung.
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Gerade die Kommunen sind also die Orte mit den meisten Potenzialen. Doch auch da müssen wir vorsichtig sein. Wir wollen schließlich keine Smart Citys und analoge Dörfer; wir wollen gleichwertige Lebensverhältnisse. Auch das kann Digitalisierung: Verwaltung per Mausklick, Bürgerbeteiligung im Netz, bedarfsgerechte und effiziente Daseinsvorsorge. Das stärkt nicht nur die Städte, sondern gerade die Fläche kann von diesen Potenzialen profitieren. Doch wir müssen dafür sorgen, dass das Know-how schnell in die Rathäuser kommt. Der Mut zum Wandel ist auf jeden Fall schon da.
Als Sozialdemokratin ist es mir wichtig, dass alle, wirklich alle von der Digitalisierung profitieren.
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Das ist in vielen Bereichen leichter gesagt als getan. Und ja, es braucht Zeit; das haben meine Vorredner gesagt. Aber wir gehen das an. Wir haben in dieser Legislaturperiode etwa mit dem DigitalPakt Schule viele Milliarden Euro für die digitale Teilhabe bereitgestellt, und genau da müssen wir dringend weitermachen. Das hat auch die Coronapandemie schmerzlich gezeigt. Es kann nicht sein, dass der Bildungserfolg eines Kindes daran scheitert, dass es sich den Laptop mit den Geschwistern teilen muss.
Auch die soziale Teilhabe soll nicht in einem Funkloch versiegen. Genau deshalb sind wir unterwegs.
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Das klingt vielleicht komisch, aber die Lebensrealität ist nun einmal so digital geworden. Das ist nicht nur essenziell; das ist mittlerweile existenziell, und das geht auch nicht mehr weg. Ich glaube, darin sind wir Digitalpolitiker uns zumindest in fast allen Fraktionen auch einig.
Ich möchte mich ganz herzlich für die gute und konstruktive, aber stets kritische und diskussionsreiche Zusammenarbeit im Ausschuss Digitale Agenda bedanken. Lassen Sie uns in den nächsten Jahren zusammen dafür sorgen, dass wir hinter diese Einsichten nicht zurückfallen.
Vielen Dank.
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Tankred Schipanski, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich als digitalpolitischer Sprecher der Unionsfraktion und als letzter Redner hier die Debatte kurz zusammenfassen.
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Ich denke, die Debatte hat gezeigt, dass die Koalition sehr viele Digitalprojekte angestoßen hat, Projekte mit einem ganz klaren Nutzen und einem Mehrwert für die Menschen. Da hilft auch das Schlechtreden der Opposition nicht. Wir haben Digitalpolitik mit dem Dashboard digital-made-in.de greifbar und transparent gemacht. Schauen Sie da einfach mal rein; da sehen Sie die Fakten, wie es um unsere Digitalpolitik steht.
Wir haben in dieser Debatte gehört, wie die Coronapandemie einen starken Digitalisierungsdruck ausgelöst hat. Diese Welle, diesen Schwung, diesen Druck müssen wir auch in die neue Legislatur mitnehmen. Dabei haben wir als Union einige Bremsklötze identifiziert, die es in der nächsten Legislatur zu lösen gilt.
Lassen Sie mich drei dieser Bremsklötze herausgreifen, als Erstes die Organisation der Datenschutzaufsicht in Deutschland. Meine Damen und Herren, so wie bisher geht es hier nicht weiter: mit der völlig realitätsfernen Auslegung von Regeln durch 17 Landesdatenschutzbehörden, mit widersprüchlichen Entscheidungen, Rechtsunsicherheit, Innovationsfeindlichkeit. Das wird es in Zukunft mit der Union nicht mehr geben.
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Datenschutz ist kein Supergrundrecht; wir wollen ein hohes Schutzniveau beibehalten. Aber wir brauchen realitätsnahe Entscheidungen und daher ein Stück mehr Zentralisierung, Beratung, verbindliche Auskünfte. Ich denke, wir haben da richtig gute Vorschläge gemacht.
Zweitens wird die Digitalisierung durch den Föderalismus ausgebremst. Wir haben in der Pandemie gespürt, dass teilweise ein Zusammenwirken von Bund, Ländern und Gemeinden nicht möglich ist. Wir beabsichtigen daher eine Reform, um die Zusammenarbeit unserer staatlichen Ebenen im Bereich der Digitalisierung zu ermöglichen. Das OZG, das Onlinezugangsgesetz – wir haben das heute schon gehört –, überwindet solche föderalen Klippen mit einer klaren Regelung in Umsetzung des Artikel 91c Absatz 5 Grundgesetz. Ich denke, das ist ein guter und richtiger Weg.
Und als Drittes wollen wir die Abhängigkeiten von den USA und von China stärker lösen. Wir wollen mehr auf eigene Souveränität bauen. Wir haben von GAIA-X gehört, von der Mikroelektronikinitiative, und wir brauchen eine eigene Verkehrsdatenbank.
Ich denke, wir haben eine gute Bilanz in dieser Legislatur. Wir haben einen klaren Fahrplan für die nächste Legislatur. Ich darf mich an der Stelle auch noch mal für die fraktionsübergreifende gute Zusammenarbeit – lieber Jens Zimmermann, du hast das bereits gut gemacht – bedanken. Auch wenn wir nicht so viele Federführungen hatten, haben wir uns über andere Wege Gehör verschafft. Ich freue mich, dass wir den Schwung dieser Legislatur in die Zwanzigste mitnehmen können. Arbeiten Sie daran mit!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist Innovationsland und soll es auch bleiben. Diesem Ziel hat sich die Bundesregierung verpflichtet. Und, meine Damen und Herren, wir haben geliefert.
Erstens. Wir sind dem für 2025 anvisierten 3,5-Prozent-Ziel für Forschung und Entwicklung in dieser Legislaturperiode deutlich näher gekommen.
Zweitens. Wir haben eine klare Priorität auf Zukunftsthemen und ‑technologien gesetzt. Die Forschungsprogramme für Mikroelektronik, Quantentechnologien, zur künstlichen Intelligenz und die Nationale Wasserstoffstrategie sind hier nur einige wenige Beispiele.
Drittens. Wir haben unser Innovationssystem zielgerichtet erweitert. Die lang geforderte steuerliche Forschungsförderung ist eingeführt und eine Agentur für Sprunginnovationen auf den Weg gebracht.
Viertens. Wir haben die Digitalkompetenzen in allen Ausbildungsbereichen gefördert. Digitalisierung und Nachhaltigkeit sind als Lehrinhalte zukünftig für alle Auszubildenden selbstverständlich, egal ob sie Maurer oder Mechatroniker werden. Und auch der nationale Digitale Bildungsraum ist auf dem Weg. All das sind klare Erfolge unserer Hightech-Strategie.
Die Coronakrise hat an manchen Stellen sehr deutlich gezeigt, wie leistungsfähig unser Forschung- und Innovationssystem ist. Woher kam denn der erste PCR-Test, woher der erste in Europa zugelassene Impfstoff? – Aus Deutschland.
Ob Gesundheit oder Klimaschutz, ob Energie oder Mobilität, ob Zukunft der Wertschöpfung oder Sicherheit – wir haben es in der Hand, zu gestalten: für Freiheit und technologische Souveränität.
Ein gutes Beispiel an dieser Stelle ist die IT-Sicherheit. Drei deutsche Kompetenzzentren nehmen internationale Spitzenpositionen ein. Das Helmholtzzentrum für Informationssicherheit, CISPA, steht sogar seit Ende letzten Jahres im Computer Science Ranking weltweit auf Platz eins beim Thema Sicherheit.
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Dazu kommen weitere Institute, erfolgreiche Projekte oder auch Ausgründungen zur IT-Sicherheit. Mit unserem neuen Forschungsrahmenprogramm zur IT-Sicherheit nehmen wir jetzt neue Ziele in den Blick und erklimmen eine neue Stufe. Wir erschließen neue Felder der Wertschöpfung, zum Beispiel durch unsere führende Rolle in der Quantenkommunikation.
Wir setzen neue Maßstäbe in der IT-Sicherheit, damit niemand im Smarthome unbefugt ein Gespräch aufzeichnen kann, damit vernetzte Maschinen im Industrial Internet of Things sicher arbeiten
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und damit die Strom- und Wasserversorgung immer reibungslos funktioniert.
Ein starker Staat in der digitalen Welt ist technologisch auf der Höhe der Zeit.
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Das muss uns gelingen; denn auf diese Weise schaffen wir Vertrauen, und genau dieses Vertrauen brauchen wir; Vertrauen in neue Technologien. Nur dann wird es uns gelingen, Innovationen zu etablieren, ja, am Ende auch ein modernes Land zu bleiben. Der Dialog zwischen Wissenschaft und Bürgerschaft ist in diesen Zeiten existenziell. Wir brauchen Offenheit und Akzeptanz für eine Transformation, die schon in vollem Gange ist.
Spitzenpositionen in Zukunftsthemen, das ist doch unser gemeinsames Ziel: beim Wasserstoff, bei den Quantentechnologien oder auch bei der künstlichen Intelligenz. Das Zukunftspaket, das wir im letzten Jahr geschnürt haben, setzt genau an dieser Stelle an. Zum Ausruhen ist keine Zeit. Machen wir doch einfach weiter!
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Marc Jongen, AfD.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir ziehen heute Bilanz der sogenannten Hightech-Strategie 2025, und erwartungsgemäß – wir haben es gehört – steht Selbstlob der Bundesregierung auf dem Programm. In Ihrer Unterrichtung schreiben Sie, dass Deutschland zu den führenden Innovationsnationen gehöre. Das sei das Ergebnis einer Politik, die unter dem Dach der Hightech-Strategie die Zukunftsfähigkeit Deutschlands nachhaltig stärke. – Nein, werte Kollegen von den Regierungsfraktionen, das ist nicht das Ergebnis Ihrer Politik. Das ist das Ergebnis deutschen Erfinder- und Unternehmergeistes, der sich vielfach gegen Ihre Politik, gegen Bürokratie und staatlichen Dirigismus behaupten muss.
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In Wahrheit ist es doch so, dass Deutschland als Forschungs- und Innovationsland lange Zeit Weltspitze war, heute aber den internationalen Anschluss in vielen Bereichen bereits verloren hat – oft durch grün-linke Verhinderungspolitik; Beispiel Kernforschung.
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Auch in der Digitalisierung hinken wir hinter China und den USA weit hinterher. Die für Deutschland so wichtigen Sektoren Maschinen- und Autobau werden laut „Wall Street Journal“ durch die „dümmste Energiepolitik der Welt“ zunehmend ausgebremst.
Weil Deutschland seit vielen Jahren von der Substanz zehrt als Forschungs- und Industrienation, weil „made in Germany“ nicht mehr denselben Klang hat wie früher, deshalb ist doch eine solche Hightech-Strategie erst nötig geworden. Sie ist als solche Symptom einer strukturellen Krise, und diese Krise betrifft in erster Linie den Bildungsbereich. Das bleibt bei Ihnen deutlich unterbelichtet.
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Das Gutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation, kurz: EFI, hat es Ihnen aber ins Stammbuch geschrieben:
Als rohstoffarmes Land ist Deutschland auf bestens ausgebildete Menschen angewiesen, um durch Entwicklung und Nutzung technologischer Potenziale Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand zu gewährleisten. Darum sind ein leistungsfähiges, sozial durchlässiges Bildungssystem, Technik- und Wissenschaftskompetenz durch sehr gute MINT-Bildung … zentral.
Aber genau diese MINT-Kompetenzen unserer Schüler, also in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik, gehen immer weiter zurück. Ihr MINT-Aktionsplan, Frau Karliczek, ist weitgehend wirkungslos verpufft. Es gibt einen dramatischen MINT-Lehrkräftemangel. Wie will man hier auch wesentliche Fortschritte erzielen, wenn man zugleich ein Bildungsklima fördert, in dem Pseudowissenschaften wie Gender Studies gedeihen, die die Naturwissenschaften verleugnen und verhöhnen. Das passt nicht zusammen, meine Damen und Herren.
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Dabei studiert fast die Hälfte aller ausländischen Studenten in Deutschland MINT-Fächer. Chinesen machen dabei die größte Gruppe aus. Im Wintersemester 2016/17 waren es mehr als 37 000. Über 80 Prozent davon verlassen Deutschland aber wieder nach China oder in anglophone Länder. Wir bilden also hier unsere internationale Konkurrenz aus – zum Nulltarif wohlgemerkt. Hinzu kommen die Zehntausende gut ausgebildeten Deutschen, die Deutschland jährlich verlassen, weil sie im Ausland viel bessere Arbeitsbedingungen vorfinden. Es findet also ein stetiger Abfluss von natürlicher Intelligenz statt – unserem wichtigsten Rohstoff. Zugleich fabuliert Frau von der Leyen davon, dass wir auch wenig bis gar nicht ausgebildete Zuwanderer brauchen. Solange wir diesen Braindrain nicht stoppen, wird keine Hightech-Strategie fruchten, meine Damen und Herren.
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Wenn wir uns jetzt der künstlichen Intelligenz zuwenden, dann stellen wir auch hier fest: Die KI-Strategie der Bundesregierung will nicht greifen. 5 Milliarden Euro wurden bis 2025 bereitgestellt. Davon sind bisher nur rund 137 Millionen Euro abgerufen. Ich möchte daher unsere Forderung nach einem zentralen KI-Campus in Deutschland wiederholen. Ein solches Leuchtturmprojekt würde die internationale Sichtbarkeit der deutschen KI-Forschung wesentlich erhöhen und internationale Spitzenforscher anziehen.
Schließlich – ich komme zum Schluss –: Wer den blamablen Auftritt von Staatsministerin Dorothee Bär am Tag der Industrie gesehen hat, der wird uns zustimmen, dass die Digitalisierung in kompetente Hände gehört und ein eigenes Ministerium mit Budget und Kompetenzen in der nächsten Legislaturperiode benötigt, wie wir es in unseren Anträgen fordern.
Vielen Dank.
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Oliver Kaczmarek, SPD, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Schluss der Wahlperiode möchte ich auf die Forschungspolitik aus drei Perspektiven blicken.
Zum einen: Nach dem Wortbeitrag zur Hightech-Strategie eben müssen wir das Ganze wieder vom Kopf auf die Füße stellen. Natürlich leistet die Hightech-Strategie einen unverzichtbaren Beitrag für die Erreichung der großen Zukunftsmissionen, der Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht. Natürlich ist sie als Bündelungsstrategie unverzichtbar, um das 3,5-Prozent-Ziel zu erreichen. Es geht darum, mehr Ausgaben für Forschung und Entwicklung in Staat und Wirtschaft zu induzieren. Sie hat die gesamte Innovationskette im Blick. Und was uns besonders wichtig ist: Sie berücksichtigt Grundlagenforschung und Anwendungsbezug gleichermaßen. Frau Ministerin, Sie haben es angesprochen: Sie folgt dem Grundsatz „Forschung, die den Menschen dient“, und Forschung, die den Menschen dient, muss auch mit den Menschen kommuniziert und entwickelt werden. Hier haben wir große Fortschritte erreicht, und ich freue mich, dass wir in der Koalition gerade in dieser Woche einen weiteren Schritt gehen, die Hightech-Strategie zu ergänzen und der Wissenschaftskommunikation einen neuen Stellenwert zu geben.
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Zweiter Blick. Die Pandemie beschleunigt die soziale, ökologische und digitale Transformation – das ist eine Binsenweisheit. Wir müssen jetzt die richtigen Schlussfolgerungen aus dem ziehen, was wir in den letzten anderthalb Jahren erlebt haben. Die Entwicklung des Impfstoffes in Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte, gar keine Frage. Aber sie ist kein Zufallstreffer oder ein Lotteriegewinn, sondern sie ist das Ergebnis jahrelanger Forschungsförderung, jahrelanger Forschungspolitik, die begünstigt hat, dass in Deutschland Impfstoff entwickelt werden konnte. Die Erkenntnisse daraus machen Hoffnung für viele andere Anwendungen, beispielsweise in der Krebsprävention.
Aus Sicht der SPD ist es wichtig, dass wir die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.
Erstens: die Grundlagenforschung weiter stärken, sie nicht einem Transferzwang aussetzen, sondern Grundlagenforschung in ihrer eigenen Mission betonen.
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Zweitens: die Medikamentenforschung verstärken. Long Covid ist ein Phänomen, das wir noch viel stärker erforschen müssen. Wir müssen Medikamentenentwicklung vorantreiben, aber wir müssen Medikamentenentwicklung auch mit Produktionskapazitäten zusammendenken; denn diese haben uns nach der Impfstoffentwicklung gefehlt. Das ist eine Lehre und wichtige Schlussfolgerung aus der Coronapandemie: Wir müssen Medikamentenforschung und ‑entwicklung und Produktionskapazitätenausweitung zusammendenken.
Drittens: den Transfer von Forschungsergebnissen in die medizinische Versorgung stärken. Ich glaube, das Netzwerk Universitätsmedizin hier in Berlin unter der Führung der Charité ist ein Beispiel dafür, wie Transfer gelingen kann. Das müssen wir auch auf andere Felder ausweiten.
Der dritte Blickwinkel. Sie waren es in den letzten 23 Jahren gewohnt, dass mein Kollege René Röspel die Forschungspolitik der SPD kommentiert hat. Ich finde, es ist einen Blick wert: Wie war das eigentlich vor 23 Jahren, 1998, und was hat sich seitdem in der Forschungspolitik getan? 1998 war Deutschland geprägt vom Reformstau, den die Kohl-Ära uns hinterlassen hat. Es gab keinen Pakt für Forschung und Innovation. Es gab keine Exzellenzstrategie, keinen Hochschulpakt, kaum Aufwuchs im Bundeshaushalt. Es standen damals gerade mal umgerechnet 7,2 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung zur Verfügung. Heute stehen 21 Milliarden Euro zur Verfügung – eine Kraftanstrengung, die in verschiedenen Regierungskoalitionen erreicht worden ist. Das war wirklich eine große Kraftanstrengung, die für die Forschung in Deutschland etwas gebracht hat.
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Wenn ich mir überlege, wie die Situation vor 23 Jahren aussah und wie sie in 23 Jahren aussehen soll, wo wir die Klimaneutralität schon geschafft haben wollen für dieses Land, dann sage ich: Wir haben kaum Zeit. Wir brauchen eine Forschungspolitik, die zum einen der Wissenschaft ganz klar den Rücken stärkt, die zum anderen nicht in einem vagen Weiter-so verbleibt, sondern ganz konkrete Ziele und Entwicklungsziele benennt und die nicht dem Wunsch einiger nach Steuersenkungen für Besserverdienende oder steigenden Rüstungsausgaben geopfert wird. Wir brauchen in den nächsten 23 Jahren Forschungspolitik einen mindestens genauso großen Schritt wie in den letzten 23 Jahren.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Thomas Sattelberger, FDP.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Letzte Sitzungswoche hat uns der sonst von mir sehr geschätzte Wolfgang Stefinger mit der Aussage überrascht, Deutschland sei laut Bloomberg Spitzenreiter bei Innovationen. – Leider hat er sich im Jahr geirrt. Im Bloomberg-Index 2021 ist Deutschland wieder einmal deutlich zurückgefallen; Sie dürfen es gleich korrigieren. Lieber Herr Stefinger, nicht schönreden, sondern Warnsignale ernst nehmen.
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Das gilt übrigens auch für die Hightech-Strategie, die statt einer Strategie nur eine einfältige Auflistung diverser Vorhaben ohne messbare Erfolgskriterien ist.
Ich wurde jüngst in einer Antwort des BMBF zur KI-Strategie mit dem Desaster konfrontiert. Agiles Projektmanagement? Fehlanzeige! Welche Projekte sind in der Umsetzung? Da musste das BMBF zuallererst in allen anderen Ministerien nachfragen. Und dann das Ergebnis: Der Mittelabfluss aus den 5 KI-Milliarden tröpfelt einschließlich der Verpflichtungen in einer Höhe von 15 Prozent seit 2019 so träge wie der beim DigitalPakt Schule. Wir erfahren übrigens auch nicht, liebe Frau Karliczek, warum die Entwicklung von Impfstoffen in den Vorjahren nie in der Hightech-Strategie auftauchte und sie erst 2021 als strategisches Flaggschiff daherkommt. Sie schwärmen von der Cyberagentur und der Agentur für Sprunginnovationen, während dort doch schon längst die Hütte brennt und Ihnen die Führungskräfte davonlaufen. Fälschlicherweise steht im Bericht: Es könnten mittel- bis langfristig Fachkräfte fehlen. – In Wahrheit lodert schon heute in der Wirtschaft der Dachstuhl, weil eine riesige Expertenlücke klafft.
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Realitätssinn dagegen bei der EFI-Kommission: Gentechnologie nicht weiter ideologisch zerreden, liebe Grüne, Quantentechnologie nicht weiter verschlafen, Technologieoffenheit statt Silodenken, keine einseitige Ausrichtung auf Elektromobilität, sondern auf sämtliche nicht fossile Antriebstechnologien.
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Seit Jahren mahnt die EFI Transfer und Ausgründungen aus dem Wissenschaftssystem an. Doch die Zahl der Hightech-Ausgründungen stagniert seit sieben Jahren auf historisch tiefem Niveau. Die Innovationsausgaben aller Akteure steigen, ja, der Umsatz mit Innovationsprodukten jedoch fällt sogar. – Hallo? Ahnung von Volkswirtschaft? Innovationspolitik in dieser Legislatur? Von wegen. Drei Jahre lang haben Sie, Frau Karliczek, die unternehmerische Dynamik eingeschläfert, und das nennen Sie dann Hightech-Strategie. Ab Herbst, liebe Frau Karliczek, machen wir uns ran an den Speck.
Danke schön.
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Dr. Petra Sitte, Die Linke, ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Sattelberger, ja, es stimmt: Die Koalition überrascht uns immer wieder; das ist so erstaunlich. Die großen Herausforderungen unserer Zeit – so einer der Lieblingssätze der Koalition – lassen sich nur mit Innovationen angehen. – Was für eine kolossale Feststellung, und das im Rahmen dieser Debatte. Sie versprechen damit vor allem – jetzt wird es ernst –, dass die bestehende Lebensweise fortgesetzt werden könne. So ist es genau nicht.
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Wandel kann nicht nur technisch-technologisch gemeistert werden, er muss auch sozialer Natur sein.
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Soziale Sicherungssysteme müssen gestärkt und Verwaltungen gestaltet werden. Technisch-technologische Innovationen verändern Arbeits- und Lebenswelt massiv.
Nehmen sie nur Digitalisierung und künstliche Intelligenz, die mehr und mehr, bisweilen sogar unbemerkt, unseren Alltag durchdringen. Daher bedürfen Innovationen heute mehr denn je einer Einbettung in die Gesellschaft, und vor allem bedürfen sie mehr demokratischer Mitsprache.
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Klar ist: Anwendungen müssen sich an den Bedürfnissen der Menschen ausrichten; das fordern wir den Hightech-Strategien ab, seit es sie gibt. Inzwischen finden wir zwar ein paar warme Worte zu sozialer Innovation und Beteiligung in den Berichten, aber es muss deutlich mehr passieren. Es muss mehr her als Überschriften.
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Was mir in dem Zusammenhang wichtig ist: Es geht nicht nur darum, um Akzeptanz für technologische Entwicklungen zu werben. Nein, es geht auch darum, Menschen an strategischen Entscheidungen der Innovationspolitik stärker zu beteiligen. Dafür wären beispielsweise die bereits erwähnten Empfehlungen des Hightech-Forums allemal gut gewesen.
Der Bericht zur Hightech-Strategie bleibt uns insgesamt eine Umsetzungsperspektive schuldig. So viele Institutionen und Programme auch aufgezählt und geschaffen wurden, der strategische Ansatz versandet dabei, weil vieles gar nicht konsequent verfolgt wird, sondern in befristeten Projekten angelegt ist.
Ärgerlich ist auch, dass Ergebnisse von Gremien von Ihnen ignoriert werden, und zwar von Gremien, die Sie selbst eingesetzt haben. So hat die Datenethikkommission eine dicke Schwarte vorgelegt und uns konkrete Handlungsempfehlungen gegeben. Dazu findet man hier nichts. Umsetzung? Fehlanzeige!
Die Cyberagentur – Herr Sattelberger hat sie gerade erwähnt –, gegründet mit höchst fragwürdigem Konzept in meinem Wahlkreis, in Halle – einige bei uns haben schon feuchte Augen bekommen –, hat ihren Geschäftsführer und andere Mitarbeiter schon verloren. Sie haben entnervt aufgegeben, weil ihnen die ministeriale Mikrosteuerung, wie es ausgedrückt wurde, auf den Keks geht. Die Bestimmung von Forschungsbedarfen sollte vorgenommen werden. Dafür braucht man Freiräume! So kann man die eigenen Ideen natürlich trefflich austrocknen.
Schließlich verlieren Sie selbst den Überblick. Sie beziehen sich in Ihrem Bericht auf die Open-Access-Strategie. Und ich denke: Wie? Open-Access-Strategie? Noch nie hier gesehen, die gibt es gar nicht. – Das ist doch extrem peinlich.
Meine Damen und Herren, wir haben gestern hier über Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft diskutiert, und Sie singen in dem Bericht jetzt das Hohelied auf wertvolle Fachkräfte.
Es ist notwendig, hier nicht nur ständig zu reden und von schönsten Ferienerlebnissen zu sprechen. Machen ist die Devise!
Danke.
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Frau Kollegin Sitte, die Mund-und-Nasen-Abdeckung tragen!
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Dr. Anna Christmann, Bündnis 90/Die Grünen, hat als Nächstes das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Deutschland verliert an Erneuerungskraft. Das liegt vor allem an einer falsch angelegten Innovationspolitik – die sich hoffentlich nach der Wahl ändert.“ Das sagen nicht die Grünen, das attestierte Sebastian Matthes in der letzten Woche im „Handelsblatt“. Er begründet das unter anderem mit der Entwicklung von Patenten in wichtigen Zukunftsfeldern. Die Bertelsmann-Stiftung hat dargestellt, dass Deutschland 2010 noch in 47 Kategorien zu den Top drei weltweit gehörte; 2019 war das nur noch in 22 Feldern so.
Mit diesem Urteil hätten Sie sich heute kritisch auseinandersetzen können, Frau Ministerin. Stattdessen erleben wir auch heute wieder eine Lobhudelei auf die Hightech-Strategie, eine in die Jahre gekommene Hochglanzbroschüre mit vielen Bekenntnissen, aber ohne wirklich messbare Ziele. Genau das ist die benannte falsch verstandene Innovationspolitik.
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Dabei brauchen wir so dringend eine echte Strategie für die Innovationskraft unseres Landes. Wir brauchen eine Zukunftsstrategie für nachhaltige Innovationen, damit Kreislaufwirtschaft, Energiewende und globale Gesundheit durch Forschung und Entwicklung messbar vorangetrieben werden. Die Hightech-Strategie ist nicht eine solche Strategie. Deswegen muss sie dringend weiterentwickelt werden; und das haben wir als Grüne vor.
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Denn wir brauchen agile Strukturen, die ressortübergreifend wichtige technische und soziale Innovationen vorantreiben, so wie es ja auch das EFI-Gutachten empfiehlt. Das können dann Agenturen oder die von EFI genannten Projektsteuerungen sein, die konkrete Missionen vorantreiben.
Als Grüne machen wir in unserem Beschluss zum Zukunftsland klare Vorschläge: mit einer Zukunftsstrategie, einer Innovationsagentur – D.Innova – und einem neuen Ausgründungsstandard, der es einfach macht, Spin-offs zu gründen, und das nicht mit hohen Lizenzzahlungen verhindert.
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Dieser Aufbruch ins Zukunftsland ist nach den letzten 16 Jahren dringend notwendig.
Was hat die Union vor? Ich habe mal ins Wahlprogramm geguckt. Da steht: Forschungs-, Innovations- und Gründerkultur soll ein nie gekannter neuer Stellenwert in der neuen Bundesregierung eingeräumt werden. – Da kann ich nur sagen: Nach den letzten 16 Jahren ist es kein besonders hoher Anspruch, dem jetzt einen höheren Stellenwert einzuräumen. Es stellt sich mir die Frage, warum Sie die dann folgenden spärlichen Vorhaben nicht längst umgesetzt haben.
Die Agentur für Sprunginnovationen muss nun schon lange darauf warten, endlich entfesselt zu werden. Aber statt zu handeln, nehmen Sie sich das wortreich für die nächste Wahlperiode oder irgendwann mal vor. Das hätte längst passieren müssen.
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Sie wollen eine „Mission Quantencomputer“ zum Erfolg machen, teilen die 2 Milliarden Euro aber auf zwei Ressorts auf, damit jeder seine eigene Suppe kochen kann, statt gemeinsam ressortübergreifend ein erfolgreiches Projekt daraus zu machen.
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Da halte ich es am Ende mit Mariam Lau in der „Zeit“:
Bleibt die Frage, warum die Union, der es in 16 Regierungsjahren nicht gelungen ist, auch nur für flächendeckenden Netzempfang zu sorgen, plötzlich die „Mission Quantencomputer“ ... ins Werk setzen können soll.
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Allen, die sich das auch fragen, machen wir als Grüne ein Angebot für einen echten Aufbruch in der Innovationspolitik. Dass wir es können, zeigen wir in den Ländern. Theresia Bauer war dreimal Wissenschaftsministerin des Jahres, Katharina Fegebank einmal. Es wird Zeit, dass diese erfolgreiche Wissenschafts- und Innovationspolitik auch im Bund ankommt. Wir sind dafür bereit.
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Andreas Steier, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein gutes Signal, dass die letzte Sitzungswoche vor den Sommerferien ganz im Lichte von Forschung und Innovation steht. Die Coronapandemie hat uns noch einmal deutlich gezeigt, wie wichtig Forschung und Innovation in Deutschland und die Vernetzung auf europäischer und internationaler Ebene sind.
Unser Erfolg: Wir können die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Pandemie nur deshalb so gut bewältigen, weil wir früh hier in Deutschland in Forschung und Innovation investiert haben und kluge, schlaue Köpfe, anders als meine Vorredner es gesagt haben, hier in Deutschland gebunden haben.
Unser Ziel ist jetzt: Bis 2025 werden wir die jährlichen Ausgaben für Forschung und Innovation weiter steigern, von 3,1 auf 3,5 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes. Unser Fahrplan ist die Hightech-Strategie 2025 – ressortübergreifend und in Missionen gebündelt. Die Strategie zeigt uns den Weg zu internationaler Stärke in Schlüsseltechnologien wie künstlicher Intelligenz, Quantentechnologie oder Wasserstoff. – Darauf können wir stolz sein.
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Drei Eckpunkte sind mir dabei besonders wichtig:
Erstens. Innovation ist eine Querschnittsaufgabe. Deshalb gehen wir die großen gesellschaftlichen Herausforderungen auch in der Breite an, vom jungen Gründer über den innovativen Mittelständler bis zum industriellen Forschungsverbund.
Zweitens. Wir fördern die Entwicklung von Zukunftstechnologien, und wir stärken die digitalen Kompetenzen der Menschen hier vor Ort. Zum Beispiel geben wir 5 Milliarden Euro für die KI-Strategie bis 2025, zusätzliche KI-Professuren, 400 Millionen Euro für das Rahmenprogramm Mikroelektronik und 6,5 Milliarden Euro für den DigitalPakt Schule.
Drittens. Der Transfer von der Grundlagenforschung in die Anwendung ist besonders wichtig; denn damit Wissen auch wirklich zu Wertschöpfung und damit zu Wohlstand führt, braucht es ein starkes lnnovationssystem. Hier setzen wir die richtigen Schritte: Im Rahmen des Zukunftsfonds stehen 10 Milliarden Euro zur Förderung von jungen Start-ups zur Verfügung; das ist gut, gerade in der Wachstumsphase. Die Agentur für Sprunginnovationen und das Programm EXIST sind weitere wichtige Maßnahmen.
Für mich ist klar: Transfer kann nur dann gelingen, wenn wir wirklich eine entsprechende Kultur in der Forschung schaffen, so wie wir sie in dem Pakt für Forschung und Innovation angelegt haben, wenn wir bereit sind, den Wettbewerb und unternehmerisches Denken zu fördern, und wenn wir Eigeninitiative vor Ort wirklich belohnen.
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Zudem beraten wir hier das Forschungsrahmenprogramm „Digital. Sicher. Souverän.“. Klar ist, Anwendungen wie künstliche Intelligenz oder Quantentechnologie können nur dann gelingen, wenn wir den großen Datenschatz auch nutzen. Wichtig ist dabei natürlich, die richtige Balance zu finden. Auf der einen Seite brauchen wir Wertschöpfung mit Daten, auf der anderen Seite müssen wir aber auch den Schutz der Daten, des Eigentums sicherstellen. Hier setzt das neue Programm zur Forschung für eine sichere digitale Welt an, und zwar auf Basis unserer Werte. Bis 2026 stehen mindestens 350 Millionen Euro bereit.
Fazit: Wir haben in dieser Legislaturperiode viel erreicht. Mit den Lehren aus der Pandemie können wir mit neuem Mut auch in die Zukunft, in die Forschungspolitik investieren. Innovationen entstehen dann am besten, wenn wir genügend Freiräume für unsere Forscher hier vor Ort schaffen, wenn der Staat das Engagement insbesondere der innovativen Köpfe fördert und wenn wir viele schlaue Köpfe hier in Deutschland finden können. Da sind wir auf einem guten Weg. Wir von der CDU/CSU werden uns auch in der nächsten Legislaturperiode weiterhin für unsere Forschungs- und Innovationspolitik in Deutschland einsetzen.
Vielen Dank.
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Dr. Wiebke Esdar, SPD, ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Beim Tag der deutschen Industrie am Dienstag betonte die Bundeskanzlerin – ich zitiere –:
Wir werden in den nächsten Jahren gigantische Summen ausgeben müssen. … Es gibt viele Bereiche, in denen wir ohne staatliches Geld gar nicht mehr in die Vorhand kommen.
Und da, meine Damen und Herren, stimme ich ihr zu. Im Gegensatz zum Wahlprogramm der CDU/CSU brauchen wir nämlich mehr Investitionen in Forschung und Innovation.
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Die Coronakrise hat uns doch ganz deutlich gezeigt, wie wichtig es ist, dass der Staat Forschung fördert. Dass die Entwicklung von BioNTech, dem ersten Impfstoff, der in Europa zugelassen wurde, in Deutschland stattgefunden hat – mein Kollege Oliver Kaczmarek hat darauf verwiesen –, aber auch die Entwicklung des PCR-Tests ist ja kein Zufallsprodukt. Wir wissen doch – das haben die letzten Monate gezeigt –, dass wir eine starke Wissenschaft brauchen, um die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern. Die Bewältigung der Klimakrise, die immer größer werdende soziale Ungleichheit, die zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt: Das sind die riesigen Herausforderungen.
Wir wissen zudem, dass die Wirtschaftskrise dazu geführt hat, dass viele Innovationsprojekte in den Unternehmen momentan stark ins Hintertreffen geraten sind. Im EFI-Gutachten wurde ein deutlicher Rückgang der Innovationsausgaben vorhergesagt. Darum wird es darauf ankommen, dass wir staatlich an dieser Stelle noch mehr unterstützen. Wir können auch ganz deutlich sagen, dass wir in den letzten Jahren da schon erfolgreich waren.
In Deutschland haben wir 2020 3,18 Prozent des BIP in Forschung und Entwicklung bzw. in Innovationen investiert. Dem Ziel, bis 2025 auf 3,5 Prozent zu kommen, kommen wir damit also immer näher. Wir haben den Zukunftsfonds, wir haben die Agentur für Sprunginnovationen. Wir haben die Mitarbeiterbeteiligung bei Start-ups vervierfacht, wir haben eine steuerliche Forschungsförderung in dieser Legislatur beschlossen. Wir wollen ein starker Wissenschafts- und Innovationsstandort bleiben. Dafür brauchen wir einen klaren Finanzierungsplan und eine sozial gerechte Steuerpolitik.
Die Antwort kann also nicht sein, generelle Steuersenkungen zu versprechen. Wir wollen kleine und mittlere Einkommen entlasten, um die Binnennachfrage und die Kaufkraft zu stärken. Aber bei den oberen 10 Prozent der Einkommen, bei den Millionenerbschaften, bei besonderen Vermögen wollen wir nicht nur, sondern da muss der Staat die Steuern erhöhen.
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Herr Präsident, meine Damen und Herren, für die Menschen in Bielefeld und Werther, in Deutschland, in Europa, in der ganzen Welt wird es jetzt darauf ankommen, dass wir nicht nur die Kosten dieser Coronakrise fair verteilen, sondern auch, dass wir aus dieser Krise herauskommen, indem wir sozialen und technologischen Fortschritt möglich machen. Das muss immer konkret sein: beim Klimaschutz, beim sozialen Zusammenhalt, aber auch bei der Digitalisierung der Arbeitswelt. Darauf wird es in den nächsten Monaten ankommen. Dabei kann uns die Hightech-Strategie helfen.
Herzlichen Dank.
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Wolfgang Stefinger, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben derzeit einige gesellschaftliche Umbrüche und rasante technologische Entwicklungen. Mit unserer Hightech-Strategie begleiten wir diese Umbrüche und Entwicklungen. Dabei haben wir unter anderem die Bereiche Gesundheit und Pflege, Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Energie, Mobilität, Stadt und Land, Sicherheit, Wirtschaft, Arbeit 4.0 im Blick.
Ja, es sind zum Teil große Veränderungen. Die Veränderungen – das merken wir alle – betreffen alle Lebensbereiche. Veränderungen hat es immer gegeben. Ich meine, es lohnt, wenn wir uns mal stichpunktartig die Industriegeschichte unseres Landes vor Augen führen: Marshallplan, Wirtschaftswunder, Vollbeschäftigung, Exportweltmeister – symbolträchtige Begriffe, die untrennbar verbunden sind mit der Union, aber auch mit einer Reihe von anderen Begriffen wie Pioniergeist, Ideenreichtum, Zuversicht und Mut. Ich bin davon überzeugt, dass es uns auch heute daran nicht mangelt. Es bleibt richtig, lieber Herr Sattelberger, dass Deutschland zu den innovativsten Ländern der Erde gehört. Was Sie nämlich gerade nicht erwähnt haben, ist, dass auch laut dem aktuellen Bericht 2021 Deutschland in Sachen Hightech unter den besten drei Ländern der Welt ist.
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Es gibt viele innovative Unternehmer und herausragende Forscher, Ingenieure und Entwickler in unserem Land. Politik kann keine Innovation verordnen, aber sie kann günstige Rahmenbedingungen schaffen. Wir fördern daher mit zahlreichen und zielgerichteten Programmen die Innovationskraft und die Technologieoffenheit unseres Landes.
Wir von der Union sind davon überzeugt, dass wir die Herausforderungen unserer Zeit nur mit Innovationen und mit Technologieoffenheit lösen können. Schauen wir uns ein Beispiel aus der Industrie an: Eine Firma, die hierzulande jeder kennt – thyssenkrupp – hat im Jahr 2019 23 Millionen Tonnen CO2 ausgestoßen; das ist mehr, als Berlin im gleichen Zeitraum ausgestoßen hat. Nun werden diese Emissionen bei thyssenkrupp dank neuer Technologien bis 2030 um 30 Prozent reduziert. Bis 2050 möchte das Unternehmen klimaneutral sein. Mit der Technologie des Grünen Wasserstoffs ist das denkbar und auch machbar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, CDU und CSU haben in den vergangenen 16 Jahren zahlreiche Maßnahmen auf den Weg gebracht, um Technologien, Innovationen und Hightech zu fördern. Ich sage und verspreche auch: Wir unterstützen unsere Industrie weiter auf dem Weg zur klimaneutralen Industrie. Während andere nämlich vom Klimaschutz reden, haben wir seit Jahren gehandelt, und wir werden dies auch weiter tun.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen – Herr Präsident, ich komme zum Schluss –, wir wollen und werden weiter dafür sorgen, dass das Leben der Menschen durch Innovation und Technik Tag für Tag und Stück für Stück besser und einfacher wird. Dafür standen wir die letzten Jahre, und dafür stehen wir auch in der Zukunft.
Vielen Dank und alles Gute.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Fußball-Deutschland erlebte beim Spiel der Nationalmannschaft gegen Frankreich eine Schrecksekunde, als ein Paraglider bei seinem Demonstrationsflug beinahe eine Katastrophe ausgelöst hätte. Dieser Vorgang ist nach geltender Rechtslage Ausfluss einer gemeinnützigen Betätigung von Greenpeace.
Eben die Frage, was eigentlich gemeinnützig im Sinne des Steuerrechtes sein könne, hatte die Steuerverwaltung auch im Falle von Attac zu entscheiden. Das politische Netzwerk Attac entstand in Deutschland mit einer „Erklärung für eine demokratische Kontrolle der Finanzmärkte“. Diese Resolution wurde von verschiedenen linksgerichteten Organisationen und von Politikern von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD unterzeichnet.
Nach den Feststellungen des Hessischen Finanzgerichts betätigte sich Attac wie folgt: Der Verein „erhob konkrete steuerpolitische Forderungen zur Einnahmeverbesserung des Gesamtstaats, übte Kritik an dem Gesetzesvorschlag der Bundesregierung, wandte sich mit einem Online-Appell an Bundeskanzler/in und Bundesminister/innen …, veranstaltete Unterschriftensammlungen und forderte ‚die Politikʼ auf, Beteiligungsgesellschaften wie Investmentfonds nicht mehr steuerlich zu begünstigen“, und forderte, staatliche politische Projekte „der demokratischen Kontrolle der Öffentlichkeit zu unterwerfen“. – Zitat Ende.
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Zutreffend musste dann auch der BFH 2019 zu dem Schluss kommen, dass es bei den von Attac betriebenen inhaltlichen Kampagnen nicht um die Vermittlung von Bildungsinhalten ging, sondern um eine – Zitat – „öffentlichkeitswirksame Darstellung und Durchsetzung eigener Vorstellungen zu tagespolitischen Themen und damit um die Einflussnahme auf die politische Willensbildung und auf die öffentliche Meinung“.
In seiner zweiten Entscheidung im Rahmen der Revision am 10. Dezember 2020 wurde der BFH dann noch deutlicher: „Die Einflussnahme auf die politische Willensbildung und die Gestaltung der öffentlichen Meinung ist kein eigenständiger gemeinnütziger Zweck i. S. von § 52 AO.“ Und: Der Kläger könne das BFH-Urteil „nicht durch sein Begriffsverständnis von politischer Bildung in Frage stellen“. – Zitat Ende.
§ 57 Absatz 2 Abgabenordnung erlaubt derzeit den Zusammenschluss steuerbegünstigter Körperschaften zu einer Art steuerbegünstigter Konzernkörperschaft. Zudem ist es nach § 58 Abgabenordnung steuerbegünstigten Körperschaften erlaubt, eigene steuerbegünstigte Einnahmen an andere steuerbegünstigte Körperschaften weiterzuleiten. Dabei stellt sich die Frage, ob dies vereinbar ist mit dem Prinzip der Unmittelbarkeit der Verfolgung steuerbegünstigter Zwecke durch eine Körperschaft, die von Mitgliedern und Spendern konkrete Zuwendungen auf einen konkreten Zweck bezogen erhält. Denn die unmittelbare Zweckverfolgung ist Voraussetzung zur Erlangung des Status der gemeinnützigen Organisation.
Angesichts einer durch ein Bundesobergericht geklärten Rechtslage konnte man erwarten, dass nunmehr bundesweit die Finanzämter ihre Gemeinnützigkeitsfälle darauf überprüfen – insbesondere auch durch tatsächliche Nachschau –, ob sich darunter vergleichbare Organisationen befinden, die zu Unrecht Steuerbegünstigungen erhalten, zumal diese Privilegien gewaltig sind: keine Körperschaftsteuer, keine Grundsteuer, keine Erbschaft- und Schenkungsteuer, eine ermäßigte Umsatzsteuer.
Zudem haben gemeinnützig anerkannte Organisationen die Berechtigung zur Erteilung von Spendenbescheinigungen an natürliche Personen und Unternehmen. Beide Gruppen können jährlich bis zu 20 Prozent ihrer Einkünfte bzw. Gewinne solchen Organisationen zuwenden und solche Beiträge und Spenden von ihrer steuerlichen Bemessungsgrundlage abziehen.
Bei so viel Subventionen blüht der Missbrauch.
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Daher kann man dann motorisierte Paraglider zum Einsatz bringen, Demonstrationen veranstalten mit Großgerät zur Lärmerzeugung und Reisekostenerstattung für die Teilnehmer, Flugblätter drucken, Werbeauftritte finanzieren, Geschäftsführergehälter in gemeinnützigen Organisationen zahlen in Höhe von Vergütungen, die für Bundestagsabgeordnete gezahlt werden usw. usw. Ein gewisser Transfer von Abgeordneten zu solchen Geschäftsmodellen ist nicht zu übersehen. Mit solchen Steuersubventionen wird eine ganze Kulisse sogenannter zivilgesellschaftlicher Organisationen errichtet, die dann schlechter Politik direktdemokratische Legitimation verleihen sollen.
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Dies alles ist wohl der Grund, weshalb der Bundesfinanzminister mit den Länderfinanzministern eine Art Nichtanwendungserlass bis Ende 2021 vereinbart hat. Das ist ein Skandal und eine Aushebelung der Rechtsprechung, meine Damen und Herren.
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Seine Absicht war dabei wohl, in dieser Legislaturperiode die Missbräuche von Greenpeace, Attac und Co gesetzgeberisch zu legalisieren. Das ist glücklicherweise bis heute nicht gelungen.
Wir beantragen daher, der bestehenden Rechtslage schnellstens Geltung zu verschaffen und zusätzlich den Katalog der Förderungszwecke in § 52 Abgabenordnung zu durchforsten. Er enthält Gummiklauseln wie zum Beispiel in Ziffer 25 – ich zitiere – „die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements zugunsten gemeinnütziger, mildtätiger und kirchlicher Zwecke“.
Hier ist dringend gesetzgeberische Klarstellung erforderlich.
Auch erschlichene oder missbräuchliche Gemeinnützigkeit, meine Damen und Herren, ist Steuerhinterziehung, auch und gerade wenn sie durch linke Kampforganisationen begangen wird.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Christian von Stetten, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Abschluss und am letzten Tag der regulär letzten Sitzungswoche in dieser vierjährigen Legislaturperiode beschäftigen wir uns heute im Deutschen Bundestag noch einmal mit dem Gemeinnützigkeitsrecht.
Ich gebe zu: Wenn es nach mir gehen würde, würden wir uns hier häufiger über die ehrenamtlich Tätigen in unserem Land unterhalten, über die gemeinnützigen Organisationen, über diejenigen, die unser Leben und unser Vereinsleben am Laufen halten und die in sozialen Organisationen tätig sind. Fast 600 000 Organisationen gibt es, in denen jeder zweite Bundesbürger engagiert ist. Sie sehen: Das Gemeinnützigkeitsrecht betrifft eigentlich jeden; deswegen hat es das Recht verdient, hier viel häufiger diskutiert zu werden.
Selbstkritisch müssen wir als Große Koalition feststellen, dass der Herr Bundesfinanzminister Olaf Scholz den mehrfach angekündigten Gesetzentwurf zur Reform des Gemeinnützigkeitsrechtes bis heute nicht vorgelegt hat. In der Tat, Herr Glaser, hat uns der Bundesfinanzminister bereits 2019 im Deutschen Bundestag mitgeteilt, dass noch in dieser Legislaturperiode ein solcher Gesetzentwurf auf den Weg gebracht wird. Darin soll dann auch über die Frage entschieden werden, wie die politische Betätigung von gemeinnützigen Vereinen steuerlich behandelt werden soll.
Dieser Gesetzentwurf fehlt bis heute. Wir haben uns aber des Öfteren schon darüber unterhalten, zum Beispiel auch über die Deutsche Umwelthilfe. Es gab Kollegen, die der Auffassung waren, dass die Deutsche Umwelthilfe überhaupt gar keine gemeinnützige Organisation ist, sondern ein politisch aktiver Abmahnverein mit 350 Mitgliedern, aber 100 gut bezahlten Mitarbeitern, die allein durch Abmahnungen mehr als 2 Millionen Euro im Jahr einnehmen. Da ist die Frage schon berechtigt, ob es sich hier noch um eine gemeinnützige Organisation handelt, der wir zusätzliche steuerliche Privilegien geben sollten.
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Ich bin der Auffassung: eher nicht. Ich bin auch der festen Überzeugung, dass Vereine und Organisationen, wenn sie sich politisch betätigen, den gleichen Veröffentlichungspflichten und Offenlegungspflichten wie Parteien unterliegen sollten; denn sonst verlagern wir die Situation. Das müssen wir mal klarstellen.
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Bei der Bestimmung, wann es sich um politische Betätigung von gemeinnützigen Vereinen handelt, hat der Bundesfinanzminister die erhoffte und notwendige Klärung bisher vermissen lassen. Das werden wir dann vielleicht in der nächsten Legislaturperiode angehen. Meiner Fraktion war es aber wichtig, dass wir trotz der Nichtvorlage des Gesetzentwurfs zum Gemeinnützigkeitsrecht die wesentlichen Entlastungen und die steuerlichen Aspekte für die ehrenamtlich Tätigen und die Vereine und Organisationen noch in dieser Legislaturperiode verabschieden können. Deswegen haben wir diese wichtigen Punkte in das Jahressteuergesetz 2020 aufgenommen. Dem konnten Sie, Herr Glaser, als Fraktion leider nicht zustimmen; Sie haben sich kraftvoll enthalten. Da hätten Sie mal zustimmen können, da hätten Sie etwas Gutes tun können.
Wir haben trotzdem eine Mehrheit dafür bekommen. Wir konnten zum Beispiel die Ehrenamtspauschale von 720 auf 840 Euro erhöhen. Wir konnten die Übungsleiterpauschale von 2 400 Euro auf 3 000 Euro erhöhen. Damit setzen wir wichtige Forderungen der Ehrenamtlichen um. Wir haben den Zuwendungsnachweis vereinfacht. Das heißt, für Spenden bis 300 Euro müssen die Ehrenamtlichen keine Spendenquittungen mehr ausstellen, sondern es reicht der Einzahlungsbeleg. Für kleine Vereine, die Einnahmen von höchstens 45 000 Euro im Jahr haben, haben wir die zeitnahe Mittelverwendung abgeschafft. Ebenso haben wir den Freibetrag bei wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben von 35 000 auf 45 000 Euro im Jahr erhöht.
Wir werden in der nächsten Wahlperiode – dann vielleicht mit einer anderen Farbe im Finanzministerium – weitermachen. Dazu lade ich schon heute alle ein. Wir können die Regelungen gemeinsam verabschieden. Wir können die Haftungsrisiken für ehrenamtlich tätige Vorstandsmitglieder weiter beschränken. Das ist dringend notwendig; denn es ist ja schon fast verrückt, dass Vereine keine Vorsitzenden mehr bekommen – nicht weil sich niemand mehr engagieren möchte, sondern weil niemand mit einem Fuß im Gefängnis stehen möchten für seine ehrenamtliche Tätigkeit. Das können wir in der nächsten Wahlperiode ändern.
Wir können auch die bürokratischen Vorschriften bei den Aufzeichnungspflichten des Mindestlohns für Sportvereine streichen. Wir können über höhere Freibeträge weiterdiskutieren. Wir können die Feuerwehren, die Hilfsorganisationen und die Mitarbeiter des THWs deutlich besserstellen. Wir können generell dafür sorgen, dass in unserem Land ehrenamtlich Tätige mehr Beachtung finden, dass wir ihnen einen höheren Stellenwert beimessen, dass wir ihnen mit mehr Respekt begegnen.
Es wäre gut, wenn wir als Parlament das alles in der nächsten Legislaturperiode mit einer Regierung, die dies umsetzen möchte, gemeinsam umsetzen können. Ich bedanke mich.
In dieser Legislaturperiode haben wir viel fürs Ehrenamt getan. Es wäre noch etwas mehr möglich gewesen. Wir werden leider Ihre Anträge ablehnen.
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Ihnen, FDP.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD hat einen Antrag zum Thema Gemeinnützigkeit vorgelegt. Was die vielen Millionen von Menschen leisten, die sich hierzulande in Vereinen und Verbänden ehrenamtlich engagieren, ist von unschätzbarem Wert – angefangen bei den Tafeln über den Sport bis hin zum Einsatz für den Erhalt einer 280 Jahre alten Windmühle.
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Es gibt also gute Gründe, weshalb gemeinnützige Tätigkeiten und Spenden dafür steuerlich begünstigt werden. Und es gibt gute Gründe, warum die Hürden für eine rückwirkende Aberkennung der Gemeinnützigkeit hoch sind. Eine pauschale, überhastete Aberkennung darf es nicht geben. Jeder Einzelfall muss durch die Finanzverwaltung sorgfältig geprüft werden. Dem steht das Urteil des Bundesfinanzhofs ja auch nicht entgegen.
Der informelle Nichtanwendungserlass ist eine reine Erfindung der AfD.
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Den Rechtsbegriff gibt es nicht, und einen Beleg dafür bleiben Sie uns ja auch noch schuldig.
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Sie versuchen mit Ihrem Antrag, als Legislative völlig grundlos direkt in die Exekutive einzugreifen. Das höhlt unser Rechtsstaatsprinzip aus,
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und unsere Gewaltenteilung wird durch so was beschädigt.
Der Antrag der AfD zeigt: Ihnen geht es nicht um eine maßvolle und differenzierte Umsetzung des Urteils des Bundesfinanzhofs. Ihnen geht es lediglich darum, dieser Partei missliebige Organisationen, die nicht auf Ihrer Linie sind, empfindlich zu treffen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Glaser?
Nein, dies ist meine letzte Rede, und da möchte ich von der AfD eher nicht gestört werden.
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Aus Ihrem Antrag, insbesondere der Begründung spricht ja der blanke Neid – wenn ich das so sagen darf –, dass von Parteien mehr Transparenz verlangt wird als von gemeinnützigen Organisationen. Ihr Antrag ist schlicht überflüssig, und wir lehnen Ihren Antrag deshalb ab.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die letzte reguläre Sitzungswoche geht zu Ende, und dies ist meine letzte Rede im Deutschen Bundestag.
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Ich bin stolz und dankbar, dass ich eine der 709 Abgeordneten sein durfte. Wir alle haben eine ereignisreiche Wahlperiode hinter uns, und das trifft auch und vielleicht besonders auf uns Haushälter zu. Als Mitglied des Haushaltsausschusses habe ich parteiübergreifende, konstruktive und sehr kollegiale Zusammenarbeit erlebt. Ich will mich daher bei allen Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuss und im Rechnungsprüfungsausschuss, besonders bei meinen Co-Berichterstattern und den Obleuten, von Herzen dafür bedanken. Allen Mitgliedern meiner Fraktion danke ich für das tolle Miteinander. Mein besonderer Dank gilt Otto Fricke, Frank Schäffler und Christian Dürr, die ich hier stellvertretend für unsere AG Haushalt und meinen Arbeitskreis nenne, für die stets herzliche Atmosphäre, die oft auch launig war, und dafür, dass ich diese Rede heute noch halten konnte.
Obwohl wir Freien Demokraten eine Fraktion von 80 Individualisten sind, sind wir doch ein echtes Team gewesen in diesen Jahren. Ich werde unsere Landesgruppe Nord vermissen ebenso wie die Kolleginnen und Kollegen vom Schriftführerdienst, den ich immer gern geleistet habe. Und mein Dank geht auch an all die guten Geister, besonders an meine eigenen Mitarbeiter, die hinter den Kulissen immer dafür sorgen, dass der Parlamentsbetrieb reibungslos läuft. Und von dieser Stelle grüßen möchte ich ausnahmsweise meine 95-jährige Mutter und meine Familie.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele schwere Herausforderungen stehen dem kommenden Deutschen Bundestag bevor; nie gab es mehr zu tun. Mein Herzenswunsch ist, an diesem Rednerpult auch in Zukunft immer Stimmen zu hören, die sich für eine liberale Politik einsetzen. Es war mir eine Ehre!
Vielen Dank.
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Frau Kollegin Ihnen, ich danke Ihnen für Ihren Dienst an der parlamentarischen Demokratie als Mitglied dieses Hauses. Wir wünschen Ihnen für Ihren neuen Lebensabschnitt alles Gute.
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Jetzt erteile ich das Wort – wahrscheinlich sind Sie noch gar nicht entlassen – zu einer Zwischenbemerkung dem Kollegen Albrecht Glaser, AfD.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Verehrte Frau Kollegin Ihnen, Sie haben behauptet, es gebe keinen informellen Nichtanwendungserlass. Das ist natürlich richtig, weil das kein Terminus technicus ist; deshalb steht es in meinem Manuskript auch in Anführungszeichen. Aber worum es geht, ist, dass das, was man sonst in einem formalen Nichtanwendungserlass regelt, der dann auch im Bundessteuerblatt II verkündet wird, hier gewissermaßen im Dunkeln geregelt worden ist. Davon sprach ich. Belege gibt es, weil uns dazu Auskünfte von Finanzministern in Landtagen vorliegen, die uns von der Vereinbarung des Bundesfinanzministers mit allen Länderfinanzministern berichten.
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Ergo ist das genauso gedealt, wie ich das Ihnen vorgetragen habe, und deshalb verwahre ich mich gegen den Vorwurf.
Lieber Herr von Stetten, wenn ich das noch etwas schlitzohrig nachtragen darf: Das Jahressteuergesetz enthält natürlich viele Punkte. Den Detailentscheidungen zum Ehrenamt haben wir genauso zugestimmt, wie Sie das vorgetragen haben. Aber das Gesamtpaket, das Jahressteuergesetz, ist von uns abgelehnt worden. Diese Differenzierung wollen Sie bitte machen. Wir stehen in der Sache, was die Entscheidungen zur Regelung der echten ehrenamtlichen Tätigkeit betrifft, vollends an Ihrer Seite.
Herzlichen Dank.
({1})
Frau Kollegin Ihnen, Sie können, wenn Sie wollen, antworten.
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Dann hat als nächster Redner das Wort der Kollege Michael Schrodi, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Anträge der AfD sind mal wieder typisch für diese Fraktion. Es paaren sich gefährliches Halbwissen, bewusste Verdrehungen und auch Verhetzungen. Ich beziehe und konzentriere mich auf den Antrag zur Gemeinnützigkeit und möchte eines vorausschicken: Ich bin froh, dass die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes weiterhin gemeinnützig ist.
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Sie ist ein wichtiger Bestandteil der Erinnerungsarbeit, aber auch ein wichtiger Bestandteil im Einsatz für Demokratie und im Kampf gegen rechte Hetze, die auch in diesem Haus, hier auf der rechten Seite, verbreitet wird.
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Vor allem ist Ihr Antrag von der AfD ein Angriff auf die Zivilgesellschaft,
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eine Attacke auf diejenigen, die nicht in Ihr reaktionäres Weltbild passen, letztlich ein Angriff auf unsere plurale, liberale Demokratie; denn die braucht neben demokratischen Parteien auch eine starke Zivilgesellschaft. Wir wollen diese starke Zivilgesellschaft!
Anlass für Ihren Antrag ist das Urteil des Bundesfinanzhofs zur Organisation Attac vom 10. Januar 2019, in dem festgehalten wurde, dass gemeinnützige Körperschaften über den Zweck der Volksbildung kein allgemeinpolitisches Mandat haben. Attac wurde dementsprechend die Gemeinnützigkeit entzogen; das ist bis heute so. Übrigens, wir halten das Urteil insofern für wichtig, da klargestellt wird, dass es, was das allgemeinpolitische Mandat betrifft, eine klare Trennung zwischen Parteien, ihrem Verfassungsauftrag und gemeinnützigen Organisationen gibt. Ihre Behauptung, das Bundesfinanzministerium habe über einen sogenannten Nichtanwendungserlass eine Nichtanwendung dieses Urteils auf vergleichbare Organisationen beschlossen, wird allein durch die Tatsache widerlegt, dass der Organisation Campact im Oktober 2019 aus dem gleichen Grund wie Attac die Gemeinnützigkeit entzogen wurde. Das will ich jetzt nicht politisch bewerten; aber das ist geschehen.
Was Sie zudem mit Ihrem Antrag verschweigen, ist, dass der Fall Attac und der Fall Campact sehr speziell sind. Es sind zwei Sonderfälle mit der Konstruktion: Förderung der Volksbildung und kein allgemeinpolitisches Mandat. Die große, überwiegende Mehrheit der gemeinnützigen Organisationen sind davon überhaupt nicht betroffen. Sie suggerieren aber genau das Gegenteil. Das machen Sie auch bewusst, allein schon mit dem Titel „Keine Gemeinnützigkeit für politische Agitation“. Sie meinen damit all die gemeinnützigen Organisationen, die Ihnen missfallen. Sie wollen die Zivilgesellschaft verunsichern, damit sie sich nicht einmischt, obwohl sie das darf. Das verurteilen wir aufs Schärfste, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Denn der Bundesfinanzhof hat ganz klar festgestellt: Zur Verfolgung und Verwirklichung der gemeinnützigen Zwecke ist die Einflussnahme auf die politische Willensbildung selbstverständlich erlaubt – das lassen Sie bewusst in Ihrer Rede weg – und sogar auch notwendig. Um zu verdeutlichen, was das heißt: Die Arbeiterwohlfahrt ist eine gemeinnützige Körperschaft, ein Wohlfahrtsverband, und mischt sich natürlich in sozial- und gesellschaftspolitische Fachdiskussionen ein, zum Beispiel mit der Forderung zur steuerlichen Umverteilung bei Vermögens- und Einkommensungleichheit. Sehr gut finde ich das.
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Die Caritas tut das auch, zum Beispiel 2019 mit der großen Kampagne „Sozial braucht digital“, und stellt sozialpolitische Forderungen auf.
Das alles ist Teil einer pluralen, offenen Demokratie und Gesellschaft. Sie aber nennen dieses Engagement parteipolitisch geprägte Agitation.
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Das diskreditiert die Arbeit von Hunderttausenden Ehrenamtlichen, die sich für unsere Gesellschaft engagieren, und das ist unerhört, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Eines sei Ihnen auch noch gesagt – das müssen wir klarstellen, und ich sage es hier deutlich –: Auch Fußballvereine zum Beispiel, die großartige Integrationsarbeit leisten, dürfen sich zu einer Demo gegen Rassismus äußern, respektive dürfen dazu aufrufen, sie dürfen auch zu einer Demo gegen die Diskriminierung Homosexueller aufrufen. Das verhindert weder die UEFA noch die AfD, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Leider, Herr von Stetten, haben Sie eines nicht ganz richtig gesagt: Wir haben im Gemeinnützigkeitsrecht einiges auf den Weg gebracht. Wir wollten noch mehr. Wir wollten auch klarstellen, dass es unschädlich ist, dass sich genau solche Organisationen auch politisch einmischen und ihre Meinung sagen; das zu regeln, haben Sie leider im Jahressteuergesetz verhindert. Mit dem Bundeskanzler Olaf Scholz werden wir das in der nächsten Legislaturperiode nachholen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Dieser Antrag der AfD ist aber nicht der erste, Herr von Stetten, mit dem versucht wird, unliebsame Organisationen mit der Androhung einzuschüchtern, ihnen die Gemeinnützigkeit zu entziehen.
Liebe Frau Ihnen, wenn ich zum Beispiel den Antrag der FDP zur Tierschutzorganisation PETA sehe, muss ich Sie leider fragen: Was ist da eigentlich aus der alten Bürgerrechtspartei FDP geworden?
({9})
Und da ist die CDU, die einen Parteitagsbeschluss fasst, worin sie beschließt, einer Umweltorganisation die Gemeinnützigkeit zu entziehen. Wenn Sie im Ausschuss bei der Anhörung dabei gewesen wären, hätten Sie gehört: Diese bewegt sich genau innerhalb ihres Zwecks und ist natürlich zu Recht gemeinnützig – auch wenn es Ihnen nicht passt.
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Und auch Herr Merz versteht wohl das Gemeinnützigkeitsrecht eher als Strafrecht. Gut ist: Es gibt die Gewaltenteilung, und über die Gemeinnützigkeit entscheidet nicht Herr Merz, nicht die CDU/CSU und zum Glück auch nicht die AfD.
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Wenig überraschend hingegen ist, dass AfD, FDP und auch CDU/CSU mit manchen gemeinnützigen Organisationen und Lobbyorganisationen kein Problem haben, zum Beispiel „Stiftung Familienunternehmen“, die mit aggressiven Kampagnen die Interessen der Vermögenden vertreten.
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Das scheint politisch opportun zu sein. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sagen ganz klar: Eine liberale Demokratie braucht eine starke Zivilgesellschaft, die sich einmischt, auch wenn es einmal nicht passt. Auch uns passen manche Dinge nicht, die uns vorgeworfen werden.
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Das müssen wir aushalten. Wir werden mit Olaf Scholz deshalb das Gemeinnützigkeitsrecht auch in der nächsten Legislaturperiode in dem Sinne stärken, dass wir die Zivilgesellschaft stärken.
Und wenn Sie von der AfD nach Finanzskandalen suchen – Sie finden Sie in Ihrem Laden:
({14})
verdeckte Geldflüsse der Milliardäre Flick, Kohle aus der Schweiz,
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illegale Parteispenden an Frau Weidel; gegen Herrn Meuthen soll der Staatsanwalt wegen verdeckter Wahlkampfhilfe ermitteln. Räumen Sie doch Ihren Saustall auf, bevor Sie hier die Zivilgesellschaft angreifen, die einen wichtigen Beitrag leistet für eine funktionierende Demokratie! Wir lehnen diesen Antrag, Herr von Stetten, nicht leider, sondern mit voller Überzeugung ab.
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Nächster Redner ist der Kollege Niema Movassat, Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist meine letzte Rede im Bundestag. Ich habe mich entschieden, nach zwölf Jahren nicht erneut zu kandidieren, weil es Zeit für etwas Neues ist. Und wenn ich mir jetzt etwas wünschen dürfte, dann wäre es, dass die AfD heute für immer ihren letzten Tagesordnungspunkt in diesem Hohen Hause erlebt.
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Die AfD hat heute – wie immer – totalen Murks vorgelegt. So will sie die Antifa verbieten. Aber ich muss die AfD enttäuschen: Es gibt nicht „die Antifa“. Das ist kein Verein; daher kann man da auch nichts verbieten.
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Es ist schon bemerkenswert, dass Sie sonst immer das Ende der Meinungsfreiheit heraufbeschwören, aber selbst Meinungen verbieten wollen. Antifaschisten, Künstlern und Nichtregierungsorganisationen, die Ihnen nicht in den Kram passen, wollen Sie die Gemeinnützigkeit entziehen, ihnen öffentliche Gelder wegnehmen oder sie gar verbieten. Sie, die AfD, sind die wahren Feinde der Meinungsfreiheit!
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Die AfD ist ja nicht mal in der Lage, selbst Argumente zu entwickeln. Sie zitieren ellenlang aus dem Verfassungsschutzbericht – gerade Sie! Andere haben für das Abschreiben schon Doktortitel verloren. Großflächiges Abschreiben zeigt, dass man argumentativ selbst sehr nackt ist.
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In ihrem Antrag spricht die AfD davon, dass Antifaschismus und Antikapitalismus Szenebegriffe seien. Wenn Antifaschismus ein Szenebegriff sein soll, dann kann ich nur hoffen, dass die Szene gegen Faschismus groß genug ist, damit die AfD niemals eine relevante Rolle in diesem Land spielt.
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Deshalb bin ich froh, dass wir Gruppierungen wie die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, VVN, haben, die auch weiter gemeinnützig sind. Solche Organisationen, aber auch „Aufstehen gegen Rassismus“ und viele andere setzen sich gegen Rassismus und Faschismus ein. Und das ist gut so!
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In Ihrem Antrag schreiben Sie, für Linksextremisten sei der Kapitalismus eine zu überwindende Gesellschaftsordnung. Hätten Sie nur ein wenig Ahnung, wüssten Sie, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes den Kapitalismus nicht in die Verfassung geschrieben haben. In ihrem Ahlener Programm trat sogar die CDU noch für einen christlichen Sozialismus ein. Alle waren sich 1949 einig: Wir geben keine Wirtschaftsordnung vor. Damit ist auch ein demokratischer Sozialismus mit einem starken Rechtsstaat vereinbar mit dem Grundgesetz.
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Und dafür steht Die Linke.
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Wir sind für eine Wirtschaftsordnung, die dem Menschen dient. Gegenwärtig haben wir eine Wirtschaftsordnung, in welcher die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Und Sie von der AfD finden das ja auch super.
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Deshalb wollen Sie kapitalismuskritische Vereine verbieten. Sie heucheln immer, dass Sie sich für die Probleme der Bevölkerung interessieren würden. Aber Ihre Politik ist zutiefst unsozial. Schauen wir uns das mal an.
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Erstens. Teile Ihrer Partei lehnen den Mindestlohn ab. Kämen Sie damit durch, würden noch viel mehr Menschen zu wenig Lohn zum Leben haben.
Zweitens lehnen Sie die Mietpreisbremse ab und wollen den sozialen Wohnungsbau stoppen. Das bedeutet: noch höhere Mieten in diesem Land.
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Drittens. Sie sagen nichts zu einer Mindestrente; Sie wollen das Rentenniveau nicht erhöhen. Mit Ihrem Rentenkonzept werden viele Rentnerinnen und Rentnerinnen ärmer.
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Viertens. Sie finden Hartz IV und Sanktionen gegen die Menschen gut. Arme Menschen sind Ihnen egal.
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Der unsozialen Politik der AfD setzte Ihre Abgeordnetenhausfraktion hier in Berlin die Krone auf. Hier wollten Sie auch noch das kostenlose Schülerticket und das kostenlose Mittagessen in der Schule abschaffen. Schämen Sie sich nicht für solch unsoziale Vorstöße?
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Ihre Politik dürfte vielen Großkonzernen und Superreichen ganz recht sein. Denn der beste Beweis dafür sind die zahlreichen, teils illegalen Großspenden an Ihre Partei. Dass Sie beim Handaufhalten ungeniert Recht und Gesetz verletzen, das wundert mich nicht.
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Denn gegen 10 Prozent aller AfD-Abgeordneten bundesweit läuft ein Strafverfahren, seit Neuestem auch gegen Ihren Parteichef Herrn Meuthen. Wäre die Kriminalitätsrate in der Gesamtbevölkerung so hoch wie in der AfD, dann könnten wir alle wirklich nicht mehr vor die Haustür gehen.
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Sie kennen keinen Anstand. Und deshalb ist es ein Hohn, wenn ausgerechnet die AfD in ihrem Antrag etwas vom Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung schreibt.
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Ja, unsere Demokratie braucht Schutz – vor allem vor der AfD.
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Die geistigen Vorväter der AfD haben die Demokratie abgeschafft und Millionen Menschen ermordet. Das darf nie wieder geschehen. Und dafür brauchen wir die wehrhafte Demokratie. Dass Sie die ganze Zeit so laut schreien, zeigt ja nur, dass Sie voll getroffen sind.
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Die AfD ist eng mit der rechtsextremen Szene verflochten. Herr Gauland hat die NS-Zeit einen Vogelschiss der Geschichte genannt. Es war Herr Höcke, der das Holocaustdenkmal als Schande bezeichnet hat. Es war der Pressesprecher der AfD, Christian Lüth, der Ihre wahren Absichten auf den Tisch legte. Er sagte, dass er Geflüchtete vergasen will und dass er sich wünscht, dass noch mehr Geflüchtete kommen, damit die AfD stärker wird.
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Meine Damen und Herren, die AfD hat hier vier Jahren lang Hass und Hetze verbreitet. Aus Ihren Worten wurden Schüsse – in Kassel, in Halle, in Hanau. Sie tragen aufgrund Ihrer Hetze eine Mitverantwortung für diese rechtsextremen Anschläge.
({20})
Umso wichtiger ist es, dass wir klare Kante gegen Rassismus, gegen Hass und Hetze zeigen!
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Ich möchte abschließend den Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen danken. Danke, dass Sie klare Kante gegen die da rechts außen gezeigt haben.
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Ich bin stolz darauf, dass dieser 19. Bundestag eine Normalisierung der AfD verhindert hat, indem kein Kandidat der AfD zum Vizepräsidenten gewählt und ein Rechtsaußen-Ausschussvorsitzender abgewählt wurde.
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Mein Dank geht auch an die demokratischen Kolleginnen und Kollegen im Rechtsausschuss für eine inhaltlich oft kontroverse, aber stets kollegiale Zusammenarbeit. Mein Dank gilt auch allen Mitarbeitern, ohne die all das, was wir hier tun, nicht funktionieren würde.
Meine Damen und Herren, die Demokratie ist dann stark, wenn sie viele überzeugte Demokraten hat, die mit den Feinden der Demokratie nicht kooperieren.
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Möge auch der 20. Deutsche Bundestag dies beachten. Es war mir eine Ehre, Mitglied dieses Bundestags zu sein.
Tschüs und auf Wiedersehen!
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Herr Kollege Movassat, ich danke auch Ihnen für Ihren Dienst in der parlamentarischen Demokratie
({0})
und wünsche Ihnen für Ihren neuen Lebensabschnitt alles Gute.
Und, Herr Kollege Dr. Baumann, für den Zwischenruf „Sie sind der Hetzer“ rufe ich Sie zur Ordnung.
({1})
– Vorsicht! Solche Entscheidungen des Präsidenten kommentiert man nicht. Das ist die nächste Ordnungswidrigkeit. Ich lasse es jetzt bei der Belehrung, Herr Fraktionsvorsitzender Gauland und Herr Brandner, bewenden.
Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Manuela Rottmann, Bündnis 90/Die Grünen.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist innerhalb der Union in Mode gekommen, fast wöchentlich für konkrete gemeinnützige Organisationen die Entziehung der Gemeinnützigkeit in den Raum zu stellen. Das ist auch häufig in der FDP der Fall. Deswegen habe ich mich gefreut, Frau Ihnen: Was Sie heute gesagt haben, das kann ich alles unterschreiben. Aber es ist nicht die Mehrheitsmeinung in der FDP.
({0})
Das Urteil des Bundesfinanzhofs zur Gemeinnützigkeit von Attac hat eine erhebliche Verunsicherung ausgelöst, ob und wie gemeinnützige Organisationen ihre Ziele auch durch Einflussnahme auf die politische Willensbildung verfolgen dürfen. Es gab Zusagen, das rechtssicher zu klären. Das ist gescheitert. Olaf Scholz konnte die Zusage nicht einhalten. Die Union hat nicht mitgemacht.
Im Kern ist das auch eine verfassungspolitische Debatte, die vielleicht überhaupt nicht gut aufgehoben ist in den Händen von Bundesfinanzministern oder Finanzgerichten. Unser Grundgesetz geht nicht von politisch neutralen Organisationen oder Vereinen aus, sondern selbstverständlich davon, dass Vereinigungen in die politische Meinungsbildung eingreifen.
({1})
Berufs- und Wirtschaftsverbände tun das auch ungehindert. Sie nutzen ebenfalls Steuerprivilegien. Ein Wort der Kritik daran habe ich weder von Union noch FDP jemals gehört.
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Im Gegenteil, für den Deutschen Industrie- und Handelskammertag wurde noch schnell ein extra Gesetz gezimmert, um ihm die politische Betätigung nach einem klaren Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zu ermöglichen. Wenn dann nur die politische Betätigung gemeinnütziger Organisationen infrage gestellt wird, dann weiß ich doch, woher der Wind weht. Alle nichtökonomischen Interessen sollen leisetreterisch vertreten werden, ganz vorsichtig, da soll man unsicher sein. Aber das große Geld soll weiter mit riesigen Anzeigenkampagnen in jeden Wahlkampf eingreifen können.
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Der Bundesfinanzhof hat ein verfassungsrechtliches Problem übersehen: Wer einseitig die politische Betätigung nur von gemeinnützigen Organisationen beschränkt, der greift damit auch in das Recht der Bürgerinnen und Bürger auf gleiche politische Teilhabe ein. Und Sie irren sich, wenn Sie glauben, eine stärkere Beschränkung gemeinnütziger Organisationen träfe nur solche, die Ihnen politisch fernstehen. Ich zitiere mal aus der Satzung eines gemeinnützigen Vereins:
Der Satzungszweck wird verwirklicht insbesondere durch: …
2. Verhandlungen und Gespräche mit Volksvertretern und Politikern, mit Journalisten und Vertretern von Behörden und Verbänden, …
8. Schulung, insbesondere von interessierten Politikern, …
10. Organisation von Bürgerbeteiligung insbesondere durch Unterschriftensammlungen oder durch Vorbereitung von Volksbegehren und Volksentscheiden.
Und so weiter. Das ist nicht die Satzung von Attac. Das ist die Satzung des Bundes der Steuerzahler in Bayern.
Wenn Sie die Satzung dieses Vereins und seine Geschäftsführung neben die von Attac legen, dann wissen Sie, dass der Bundesfinanzhof, sollte es jemals zu der Frage kommen, ob der Bund der Steuerzahler noch gemeinnützig ist, nicht anders entscheiden könnte als im Fall von Attac.
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„Zu politisch“ fällt Ihnen immer nur ein, wenn es um von Ihrem Parteiprogramm abweichende Ziele geht.
Wir Grüne wollen dem Bund der Steuerzahler weder die Gemeinnützigkeit entziehen noch ihm verbieten,
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auf die Willensbildung in Parlamenten Einfluss zu nehmen. Wir haben nämlich keine Angst vor Argumenten.
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Im Gegenteil, wir wollen allen gemeinnützigen Organisationen Rechtssicherheit darüber verschaffen, dass die Teilnahme an der politischen Willensbildung legitim zur Verfolgung gemeinnütziger Zwecke ist.
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Dabei muss es aber transparenter als bisher zugehen. Wir brauchen endlich ein Gemeinnützigkeitsregister. Für große Organisationen, die sich an der politischen Willensbildung beteiligen, brauchen wir auch eine Pflicht zur Offenlegung der Herkunft der Mittel, die sie dafür einsetzen. „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“, heißt es im Grundgesetz. Das Grundgesetz räumt den Parteien also kein Monopol auf die politische Einflussnahme ein. Parteien unterscheiden sich ja auch von anderen Organisationen; denn sie nehmen an Wahlen teil. Daraus ergeben sich besondere Pflichten. Die größte Leistung der AfD in den letzten vier Jahren war, dass sie fast jede Woche gezeigt hat, dass es Handlungsbedarf gibt, diese Pflichten noch weiter zu schärfen: „Deutschland-Kurier“, Parallelaktionen. Da gibt es noch viel zu tun.
In Russland, in Polen und in Ungarn können regierungskritische Organisationen fast nicht mehr arbeiten.
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Sich hier darüber nur zu beklagen, finde ich aber ein bisschen verlogen. Deutschland muss es anders machen. Deutschland muss ein klares Signal zugunsten einer kritischen Zivilgesellschaft nach ganz Europa senden, aus dem eigenen Land heraus,
({9})
das Signal, dass in unserem Land niemand Angst vor einer kritischen Zivilgesellschaft hat und dass hier auch Organisationen für Klimaschutz, für Antirassismus, für den Kampf gegen Diskriminierung an der politischen Debatte teilnehmen können,
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ohne Sorge vor dem Verlust der Gemeinnützigkeit, ohne diese Sorge – genauso wie Wirtschaftsverbände.
Vielen Dank.
({11})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Olav Gutting das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst könnte man ja denken, am letzten Tag der Sitzungen vor der Sommerpause gäbe es vielleicht Wichtigeres, als über die Verbotsfantasien der AfD zu sprechen.
({0})
Aber ich denke schon, dass das ein unglaublich wichtiges Thema ist. Es ist ein ganz wichtiges Thema, weil es natürlich um die Meinungsfreiheit, aber auch um die Grundfesten unseres Rechtsstaates geht. Es geht nämlich darum, ob sich Bürgerinnen und Bürger darauf verlassen können, dass die Gesetze und Regeln für alle in diesem Land gelten.
({1})
Bevor ich tiefer einsteige, möchte ich noch einmal kurz auf die Forderungen nach dem bundesweiten Verbot der Antifa der AfD eingehen. Ich glaube, es ist allen klar: Es ist ein populistischer Antrag.
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Er bringt uns leider auch kein Stück weiter.
({3})
– Nein, es bringt uns nicht weiter. – Mit dieser Fokussierung auf Antifa und auf Linksextremismus versperren Sie die Sicht, und Sie schaden auch der Sache. Sie wissen ganz genau, dass die Bundesregierung und die Verfassungsschutzorgane alle gefährlichen Extremismusbereiche beobachten.
({4})
Da fragt man sich dann schon: Was wollen Sie mit diesem Antrag bezwecken?
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Wollen Sie zwischen schlechtem und zwischen weniger schlechtem Extremismus unterscheiden? Wollen Sie suggerieren, dass der Nährboden für Terrorismus ausschließlich bei Linksextremismus entsteht?
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Die Fragen haben wir Ihnen schon vor einem Jahr gestellt, als wir diesen Antrag schon mal beraten haben. Auch damals haben Sie diese Fragen nicht beantworten können. Sie wollen extremistische Strömungen bekämpfen, tolerieren aber in Ihren eigenen Reihen den Rechtsextremismus. Was für eine Heuchelei!
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Zu Ihrem zweiten Antrag. Sie wollen bei politischer Agitation die Gemeinnützigkeit entziehen. Dazu muss man sagen: In einem Rechtsstaat, wie wir ihn haben – Gott sei Dank –, kann man politisch unliebsame Organisationen und Vereine genauso wenig wie Parteien und Vereinigungen einfach auf die Seite wischen. Man kann sie nicht entfernen,
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man kann sie nicht einfach durch gesetzliche Maßnahmen mundtot machen. Solange sich Vereine an das Gemeinnützigkeitsrecht halten und sich innerhalb der satzungsmäßigen Zwecke bewegen, darf ihnen die Gemeinnützigkeit auch nicht entzogen werden.
Ich will Sie hier nicht mit Paragrafen langweilen. Entscheidend für die Einstufung als gemeinnützige Organisation ist, ob deren Tätigkeit darauf gerichtet ist, „die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos zu fördern.“ Wir müssen uns noch mal klarmachen: Diese Entscheidung trifft das jeweilige Finanzamt vor Ort und nicht der Deutsche Bundestag, wie hier manche immer wieder suggerieren.
({9})
Was wir allerdings in letzter Zeit auch erlebt haben, sind im Bereich mancher Organisationen wirklich Exzesse. Man hat das Gefühl, dass in unserer reizüberfluteten, ja teilweise überdrehten Gesellschaft jedes Wort, jeder Satz, jede Tat ein Superlativ sein muss. Wir erleben, dass einige, um Aufmerksamkeit zu erheischen und sich von anderen Organisationen abzuheben, schlicht zu weit gehen. Wenn es Organisationen – und ich kann hier Greenpeace nennen – gibt, die glauben, dass sie nur noch dann öffentlich wahrnehmbar sind, wenn sie sich zu einem von den Medien begleiteten Rechtsbruch aufmachen, dann, glaube ich, müssen wir ein Stoppschild setzen und mit rechtsstaatlichen Mitteln sagen: Das kann nicht sein, es darf nicht zu Rechtsbruch kommen. Organisationen, die mit Kriminellen zusammenarbeiten, die sie in ihren eigenen Reihen haben, die Straftaten planen, müssen selbstverständlich ihre Gemeinnützigkeit verlieren.
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„Gemeinnützig“ bedeutet nicht „gemeingefährlich“ – da sind wir uns doch einig.
Aber auch die politische Betätigung hat ihre Grenzen. Und da bleibt tatsächlich – Sie haben das Thema aufgebracht – die Frage an den Finanzminister: Wie geht das BMF mit dem veröffentlichten Attac-Urteil um, das ja die Entziehung der Gemeinnützigkeit im Falle von Attac bestätigt hat? Und wird dieses Urteil nun in vergleichbaren Fällen tatsächlich angewendet, oder gibt es – und diese Frage steht im Raum – tatsächlich eine Agenda, um dafür zu sorgen, dass vergleichbare Organisationen eben keine Konsequenzen seitens der Finanzämter zu fürchten haben?
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Das sollte jedenfalls nicht sein; denn nicht der Finanzminister und das BMF bestimmen darüber, welche Organisation gemeinnützig ist und welche nicht. Wir brauchen eine konsequente Anwendung der Regeln, und nur dann kann ein Rechtsstaat bestehen.
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Diejenigen, die sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen, diejenigen, die sich engagieren und an die Regeln halten, wollen wir unterstützen; der Kollege Christian von Stetten hat ja schon die Erfolge dieser Legislaturperiode in diesem Bereich hervorgehoben. Wir stärken das Ehrenamt und haben gerade mit dem letzten Jahressteuergesetz hier noch mal ein deutliches Zeichen gesetzt.
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Die drei heute vorliegenden Anträge von der AfD tragen dazu nichts bei, und deswegen lehnen wir diese ab.
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Für die FDP-Fraktion hat nun Linda Teuteberg das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatten über die Themen der Anträge, die bei diesem Tagesordnungspunkt zu beraten sind, nämlich die Frage der Gemeinnützigkeit politischer Organisationen und Fragen des Linksextremismus, sind voll von Missverständnissen und Doppelmoral.
Zu den Missverständnissen gehört, dass es eine scharfe Trennlinie zwischen Gemeinnützigkeit und politischem Engagement gäbe. Nein, anders wird ein Schuh daraus. Aus guten Gründen sieht unser Grundgesetz die politischen Parteien als besondere Organisationsform für das politische Engagement mit allgemeinpolitischem Mandat vor. Auch das ist ein gemeinnütziges Engagement, aber eben ein besonderes, das aus guten Gründen, aus historischer Erfahrung, durch die Verfassung besonders erwähnt und geschützt wird. Und aus guten Gründen gibt es deshalb auch hohe Anforderungen, die an Parteien gestellt werden. Sie betreffen vor allem die demokratische Verfasstheit der Parteien und weitgehende Rechenschafts- und Transparenzpflichten – Pflichten, die andere Vereine so nicht haben, das allerdings aus gutem Grund.
Ein Beispiel für die Doppelmoral in der Debatte darüber ist ein Treffen von NGOs 2019 in der Brandenburger Landesvertretung – Zivilgesellschaft im Regierungsgebäude: schon interessant und bezeichnend –, die nicht verlegen waren, konkrete Formulierungshilfen für ihre Vorstellungen von Gemeinnützigkeitsrecht zu geben. Dabei ging es um Steuerbegünstigungen,
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die sonst, wenn es um andere geht, gern als Teufelszeug geschmäht werden, frei nach dem Motto: Lobbyisten sind immer nur die anderen.
Wir brauchen eine versachlichte Debatte über dieses Thema, eine sinnvolle Reform des Gemeinnützigkeitsrechts – in der nächsten Legislaturperiode nämlich –, und daran gibt es einige Anforderungen. Zum einen darf das Gemeinnützigkeitsrecht kein Schlupfloch für intransparente Parteienfinanzierung sein, die am Parteienrecht vorbei funktioniert. Es muss aber sinnvolle Rahmenbedingungen für vielfältiges ehrenamtliches Engagement jenseits der Parteien geben – auch dies muss das Gemeinnützigkeitsrecht leisten –, und es muss sinnvoll differenziert werden zwischen einerseits dem Brauchtum, das das Grundgesetz eher überwinden will, wie exklusive Männerklubs, und andererseits zum Beispiel Chören, die sich in Ausübung ihrer Kunstfreiheit dafür entscheiden, entweder Männer- oder Frauenchöre zu sein. Da gibt es genug sinnvolle Differenzierungen für die, die sich dabei Mühe geben wollen. Eine solche sinnvolle Reform brauchen wir in der nächsten Legislaturperiode.
Wichtig ist mir bei dem Thema allerdings auch: Es wird so gern über Shrinking Spaces, über schrumpfende Räume für zivilgesellschaftliche Organisationen, geklagt. Schrumpfende Räume gibt es zum Teil auch für die ehrenamtlichen Aktiven in politischen Parteien, wenn in unseren Kommunen öffentliche Räume zunehmend so gewidmet werden, dass sie nicht mehr an Parteien vermietet werden. Dabei braucht Demokratie Räume, um sich zu versammeln,
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um gerade den demokratischen Pflichten gerecht zu werden. Und deshalb: Aus Angst vor extremistischen Parteien die Bewegungsfreiheit aller politischen Parteien zu beschränken, ist der falsche Weg.
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Verfassungspatriotismus im besten Sinne und Daseinsvorsorge für unsere Demokratie, zu der politische Parteien gehören, ist vielmehr, hier für gute Rahmenbedingungen zu sorgen.
Deshalb fand ich es auch schade, Herr Kollege Schrodi, dass Sie das wohlfeile Verhalten gezeigt haben, das man so oft mitbekommt, und „Parteipolitik“ so pauschal als Schimpfwort genutzt haben.
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Man kann immer am konkreten politischen Handeln Kritik üben; aber Parteipolitik ist etwas, was unser Grundgesetz will, und wir sollten uns selbst nicht daran beteiligen, das verächtlich zu machen.
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Kollegin Teuteberg, kommen Sie bitte zum Schluss.
Genau. – Abschließende Bemerkung zum Linksextremismus, der ja auch in den Anträgen zu diesem TOP angesprochen ist. Er ist kein „aufgebauschtes Problem“, wie es die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern mal gesagt hat; er ist eine ernste Gefahr für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung.
Kollegin Teuteberg, meines Wissens halten Sie heute nicht Ihre letzte Rede. Das heißt, die Toleranzgrenze ist überschritten.
Gewalt kann keine Rechtfertigung in Gemeinnützigkeit finden. Wir brauchen Menschen, die sich friedlich engagieren, und eine Reform der Rahmenbedingungen dafür.
Vielen Dank.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte wirklich darum, die vereinbarten Redezeiten einzuhalten und nicht zu überschreiten. Sie wissen: Wir haben eine Vereinbarung im Präsidium, was Verabschiedungen oder letzte Reden betrifft. Aber das setzt voraus, dass alle anderen sich bitte auch an die Spielregeln halten.
Das Wort hat die Kollegin Ute Vogt für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD-Fraktion zeigt mit den vorliegenden Anträgen, wie recht schon Aristoteles hatte, als er sagte: „Wo das Gute nicht lebt, suche die Wahrheit nicht.“
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Denn in diesen Anträgen wird ein einfacher Trick benutzt: Man sagt die Unwahrheit, indem man einfach einen Teil der Wahrheit weglässt.
Natürlich haben wir islamistischen Extremismus in Deutschland, und natürlich machen wir uns Sorgen um zunehmenden Linksextremismus;
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aber dass Sie es schaffen, einen Antrag über Extremismus zu schreiben und den Rechtsextremismus mit keinem einzigen Wort zu erwähnen,
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ist typisch für die Art und Weise, wie Sie hier die Unwahrheit verbreiten.
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Denn der Rechtsextremismus ist es, der in unserem Land die größte Gefahr darstellt, und die Rechtsextremisten sind es,
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die im Vergleich zu allen anderen extremistischen Gruppen auch in Deutschland diejenigen sind, die die höchste Gewaltbereitschaft zeigen und auch die höchste Zahl an Todesopfern zu verantworten haben.
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Natürlich ist es richtig, dass unsere Demokratie auch Gegenwehr organisiert.
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– Gegen Extremisten natürlich. –
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Wir sind ein starker Rechtsstaat. Wir haben als starker Rechtsstaat die Sicherheitsbehörden mit den notwendigen Rechten ausgestattet. Aber zum Kampf gegen Extremismus gehört eben nicht nur das Strafrecht; das ist ein Teil, auch ein wichtiger, aber eben nicht der einzige. Ein genauso wichtiger Teil ist die Zivilgesellschaft in diesem Bereich. Und es ist durchschaubar und durchsichtig, wenn Sie das Thema Gemeinnützigkeit so anpacken, dass jeder rauslesen kann, dass das, was Ihnen politisch nicht in den Kram passt, einfach nicht mehr gemeinnützig sein soll. Aber Gott sei Dank bestimmen Sie als AfD in diesem Land nicht, was der Gemeinschaft nützt. Und wir haben viele Organisationen, deren Arbeit wir dringend brauchen, um unsere Demokratie stabil zu halten.
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Ich kann natürlich verstehen, wenn Ihnen die Arbeit des Deutschen Frauenrates wehtut.
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Wenn es darum geht, dass Frauenrechte gestärkt werden, dass Gleichberechtigung und Parität überall gelebt werden – nicht zuletzt in diesem Parlament. Dass man diesen Organisationen dann aber sagt: „Ihr dürft zwar Interessen vertreten, aber ihr dürft nicht politisch für diese Interessen eintreten“, das ist doch ein ganz großer Irrsinn.
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Sie leiten hier die Debatte mit Ihrem Antrag vollkommen fehl.
Es gibt andere Beispiele. Nehmen Sie die NaturFreunde. Sie treten für Umweltschutz, für Klimaschutz, für ein Leben im Einklang mit der Natur ein. Wie soll denn so was gehen, wenn man nicht gleichzeitig politische Forderungen und politische Arbeit damit verbinden kann?
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Oder nehmen Sie Organisationen wie die Jugend der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft, in der junge Leute Kindern Schwimmen beibringen oder als Rettungsschwimmerinnen und Rettungsschwimmer da sind. Diese jungen Leute haben ein Wertegerüst und stellen sich hin und machen Aktionen wie „Badelatschen statt Springerstiefel“.
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Natürlich tut Ihnen das weh. Aber genau das macht die Zivilgesellschaft aus, die unsere Demokratie starkmacht, dass wir viele Menschen haben in vielen Vereinen und Verbänden, die sich für unser Gemeinwesen, die sich zum Nutzen unseres Gemeinwesens einsetzen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, dass ich selbst in den letzten 27 Jahren einen kleinen Teil zum Nutzen unseres Gemeinwesens beigetragen habe. Ich denke an und danke für viele lebendige Debatten, viel harten Schlagabtausch, schöne Kollegialität, viele Freundschaften. Ich denke auch an viele wichtige Gesetzesvorhaben und viele Initiativen, die unser Land nicht nur vorangebracht, sondern auch oft grundlegend positiv verändert haben.
In diesem Sinne muss ich sagen: Ich fand meine Arbeit als Abgeordnete immer schön, immer herausfordernd. Ich hatte auch in schwierigen Zeiten immer mehr Freude als Ärger bei dieser Arbeit. Ich muss Ihnen aber auch sagen: Jetzt freue ich mich darauf, in Zukunft ein Leben in größerer Freiheit führen zu können. Machen Sie es gut, und behalten Sie mich in guter Erinnerung!
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Kollegin Vogt, ich denke, es ist im Sinne des gesamten Hauses, wenn ich Ihnen alles Gute für den neuen Lebensabschnitt wünsche.
Wenn ich das so persönlich sagen darf: Sie haben sehr unterschiedliche Verantwortung hier übernommen. Ich erinnere mich an viele Stunden im Innenausschuss des Deutschen Bundestages. Es ist ja noch immer nicht selbstverständlich, dass der Vorsitz in diesem Ausschuss durch eine Frau übernommen wird. Aber ich denke, daran wird weiter gearbeitet, dass es ganz selbstverständlich ist, dass wir hier entsprechend vertreten sind. Also danke für Ihre Arbeit!
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Das Wort hat der Kollege Marco Bülow.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Damen und Herren! Zur Feier der letzten Sitzung in dieser Legislaturperiode habe ich mal wieder meinen roten Schlips umgetan.
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Ich mache meinen Dank am Anfang. Auch dir, liebe Ute, alles Gute! Es bedanken sich jetzt viele für ihre Zeit hier. Ich glaube, das gehört dazu, und das ist auch wichtig. Auch ich bedanke mich bei meinem Team und den Unterstützerinnen und Unterstützern. Aber bevor sich jetzt alle freuen, muss ich Ihnen sagen: Ich werde versuchen, Sie weiterhin zu nerven. Mich sind Sie nicht los. Das ist keine Abschiedsrede.
Meine Rede ist eine Rede gegen die Heuchelei dieses Antrages. Ich fange damit an, wie Gemeinnützigkeit eigentlich aufgestellt ist und wie wichtig sie für unser Land ist. Es ist schon interessant, dass eine Partei, die immer gerne Volkes Stimme heranzieht, dann die wirkliche Stimme der Bevölkerung so mit Füßen tritt und so unterminiert. Genau diese Gemeinnützigkeit brauchen wir doch, genauso die vielen Organisationen, das Ehrenamt. Die Menschen, die sich abrackern, um anderen etwas Gutes zu tun, die engagieren sich genau für dieses Gemeinwohl, egal ob das für Obdachlose ist, ob das für soziale Belange ist, ob das für Menschenrechte ist oder ob das für Ökologie ist. Diese Menschen machen dieses Land aus und machen dieses Land auch stark. Genau darauf sind wir auch weiterhin angewiesen. Deswegen würde ich Gemeinnützigkeit eher ausbauen, als hier zu diskriminieren. Es war mir wichtig, das an dieser Stelle noch einmal deutlich zu machen.
Und wenn man schon diese moralische Keule erhebt, dann muss man sie bitte auch auf die Parteien anwenden. Wer illegale Großspenden kriegt, wer Spendenaffären am Hals hat, der sollte sich an die eigene Nase fassen und sollte vielleicht dort anfangen, diese Kriterien anzubringen. Vielleicht muss man da die Gemeinnützigkeit – in Anführungszeichen – entziehen, vielleicht muss man da die Möglichkeit streichen, dass Spenden erstattet werden können. Da sollten wir anfangen – bei den Parteien, in denen wir selber engagiert sind –, Transparenzkriterien einzuhalten. Vielleicht sollten wir auch darüber nachdenken, ob es in Ordnung ist, dass wir Essen ausrichten und dann 9 999-Euro-Spenden bekommen, bevor wir anfangen, gemeinnützige Organisationen zu beschimpfen. Da sollten wir anfangen, die Kriterien anzulegen, vor der eigenen Haustür. Ich glaube, dann haben wir eine andere, eine sauberere Debatte.
Schauen wir uns das in anderen Bereichen an. Profitlobbyisten können ihre Spenden und ihre Agitation im Endeffekt von der Steuer absetzen. Auch das ist etwas, was wir überprüfen sollten. Wenn wir wirklich ehrlich sind, dann vergleichen wir diese Maßnahmen mal. Ich finde es wichtig, dass wir Parteien haben, dass diese Parteien bestimmte Privilegien haben, aber genau diese zu missbrauchen, geht auch nicht. Darüber sollten wir diskutieren.
Mein letzter Satz: Profitlobbyismus muss zerschlagen werden!
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung – –
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– Um Gottes willen! Kollege Barthle, sehen Sie es mir nach! Ich hatte mich gerade eben sogar noch erkundigt, in welcher Funktion Sie sprechen.
Also: Der Abgeordnete Norbert Barthle hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich trete ganz bewusst heute nicht von der Regierungsbank aus hier ans Rednerpult, sondern aus der Mitte meiner Fraktion, wo ich mich nach wie vor wohlfühle.
Würde ich heute als PStS aus dem BMZ reden, dann würde ich als Allererstes sagen: Heute ist ein guter Tag für Deutschland, heute ist ein guter Tag für die ganze Welt, vor allem für die Kinder dieser Welt, die immer noch ausbeuterische Kinderarbeit leisten müssen. Denn in der vergangenen Woche haben wir hier das sogenannte Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz verabschiedet. Dieses geht heute, genau zu dieser Stunde, durch den Bundesrat, und dann ist es durch. Herzlichen Dank dafür!
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Wenn ich schon beim Dankesagen bin, dann fange ich gleich bei der Finanz-AG unserer Fraktion an, die mir diese Redezeit eingeräumt hat. Antje Tillmann, Christian von Stetten, Olav Gutting, ein ganz herzliches Dankeschön! Das ist das schönste Abschiedsgeschenk, das ihr mir machen konntet; denn damit habe ich Gelegenheit, mich in aller Form nach 23 Jahren vom Deutschen Bundestag zu verabschieden.
Damit schließt sich auch ein Kreis. In meiner ersten Legislaturperiode von 1998 bis 2002 war ich Mitglied im Finanzausschuss und durfte bei Gerda Hasselfeldt vieles lernen. Ich habe in meiner ersten Rede damals über Haushaltsfreibeträge usw. geredet und habe schon damals über Haushaltskonsolidierung und solide Staatsfinanzen gesprochen. Das Thema hat mich dann irgendwann wieder eingeholt, und ich komme nochmals darauf zurück.
Ich will aber doch noch einen Satz zum heutigen Antrag der AfD sagen.
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Ich will es herunterbrechen auf eine einfache Formel. Das Gemeinnützigkeitsrecht beschreibt, dass sich gemeinnützige Zwecke dadurch auszeichnen, dass man der Allgemeinheit dient, und zwar materiell, geistig und sittlich und in selbstloser Art und Weise. Jede Organisation, die diesen Anspruch nicht erfüllt, sondern die strategisch, systematisch Hausfriedensbruch betreibt, Sachbeschädigungen vornimmt, sogar Körperverletzungen in Kauf nimmt, muss sich die Frage stellen lassen, ob sie noch gemeinnützig sein kann oder nicht. Egal ob sie von links oder von rechts kommt, egal für welchen Zweck sie eintritt, der vermeintlich gut sei, diese Frage muss sich jede Organisation stellen lassen.
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Lassen Sie mich aber Dank sagen, vor allem an meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sowohl im Wahlkreis als auch in meinem Bundestagsbüro. Ich glaube, man kann schon sagen, dass es bemerkenswert ist, dass meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – sie sitzen auf der Besuchertribüne – mich von Bonn nach Berlin begleitet haben, 23 Jahre in Treue in meinem Büro mir zugearbeitet haben. Ich glaube, das gibt es nicht in jedem Bundestagsbüro. Dafür meinen größten Respekt!
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Ich sage selbstverständlich auch Danke an die Menschen, die mich im BMVI begleitet haben, in meiner ersten Staatssekretärszeit, und jetzt im BMZ und in der Deutsch-Griechischen Versammlung. Ich spreche da immer von meinem Dream-Team, und da ist ein Stück Wahres dran.
Die BMZ-Zeit – auch das sage ich an dieser Stelle – war für mich die schönste Zeit in dieser ganzen 23-jährigen Periode. Warum? Ich bin meiner hochgeschätzten und hochverehrten Bundeskanzlerin Angela Merkel dankbar,
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die mich in der letzten Wahlperiode zum Staatssekretär im Verkehrsministerium ernannt hat und in dieser Periode zum Staatssekretär im BMZ. Das BMZ zeichnet sich ja dadurch aus, dass man dort weniger Gesetze macht, sondern eher schöne Projekte auflegt und gute Taten vollbringt. Gerade gestern durfte ich den Startknopf für das Deutsch-Afrikanische Jugendwerk drücken. Auch das wird seine Wirkung entfalten. Da hinterlässt man gute und schöne Spuren. Deshalb auch danke an alle, die in der entsprechenden Arbeitsgruppe versammelt sind und sich mit Entwicklungspolitik beschäftigen.
Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ist ein besonderer Ausschuss; denn die Mitglieder dieses Ausschusses wollen im Prinzip über alle Fraktionsgrenzen hinweg mit einer Ausnahme – ich schaue einmal in die Richtung – mehr oder weniger dasselbe. Deshalb ist es sehr angenehm, da zu arbeiten. Meiner Ansicht nach müsste das BMZ eigentlich Weltministerium heißen; denn dort kümmert man sich um die Angelegenheiten dieser Welt.
Dass das wichtig ist, sieht man schon allein am Beispiel Kohleausstieg, CO2-Reduzierung. Wir haben richtigerweise den Ausstieg aus der Kohle beschlossen. Keine Frage, dazu stehen wir. Das ist ein gutes und wichtiges Signal an die Welt. Ich hoffe sehr, dass uns weitere Nationen folgen; denn anderenfalls bleibt dieser Schritt nahezu wirkungslos. Warum? In Deutschland gibt es etwas mehr als 100 Kohlekraftwerke, allein in China mehr als 1 000. Genau in diesem Jahr werden 92 neue gebaut; es werden also etwa so viele neu gebaut, wie wir abschalten.
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Die Arbeit des BMZ ist unglaublich wichtig; denn das BMZ trägt die richtigen Ideen hinaus in die Welt. Dafür ist es zuständig. Also, liebe Haushälterinnen und Haushälter der kommenden Periode: Gebt dem BMZ nochmals mehr Geld; die brauchen es.
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In der nächsten Wahlperiode wird mit Sicherheit eine heftige Debatte über das Thema Staatsfinanzen stattfinden; denn infolge der Coronakrise haben wir Neuverschuldungen zu gewärtigen, die für einen normalen gestandenen Haushälter vor einiger Zeit noch unvorstellbar waren: in zwei Jahren mehr neue Schulden als ein ganzer Jahresetat. Das kann man sich eigentlich kaum vorstellen. Das hat natürlich auch dazu geführt, dass unser Staatsdefizit inzwischen wieder auf über 70 Prozent gestiegen ist. Wir waren schon bei 59 Prozent im Jahre 2019. Das ist eine besorgniserregende Entwicklung.
Wenn ich Stimmen höre, dass man die Klimakrise genauso heftig bekämpfen und ernsthaft angehen müsse wie die Coronakrise, womöglich mit demselben finanziellen Aufwand, dann ist das etwas, was dieser Staat und diese Staatsfinanzen nicht tragen können.
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Dann überspannen wir die Möglichkeiten, die wir haben. Ich empfehle allen künftigen Mitgliedern dieses Hohen Hauses, dass sie sich an den Ratschlag des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung halten, der klipp und klar sagt: Eine zu hohe Staatsverschuldung wirkt immer als Wachstumsbremse und belastet vor allem nachfolgende Generationen. – Es ist eine Frage der Generationengerechtigkeit, wie sehr sich ein Staat verschuldet.
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Sie werden Debatten erleben, in denen die Befürworter von mehr staatlichen Schulden – sie kommen meistens aus dieser Ecke –
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Ihnen sagen werden: Wenn man das Geld auch auf Schulden basierend richtig einsetzt,
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richtig investiert, also in Bildung, in Digitalisierung, in Klimaschutz, in Infrastruktur, dann erzeugt das eine Investitionsrendite, dann werden wir künftig mehr Steuereinnahmen und weniger Staatsausgaben haben. – So argumentieren Ökonomen in der Theorie.
Den Politikern in diesem Hohen Hause empfehle ich: Erinnern Sie sich einfach an die vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Wir hatten Wirtschaftswunderjahre unter Ludwig Erhard, Stichwort „soziale Marktwirtschaft“. Frau Baerbock, der war übrigens von der CDU.
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Was ist daraus gefolgt? Keine ausgeglichenen Haushalte, keine Rücklagen, sondern Jahr für Jahr steigende Staatsverschuldung, die irgendwann in den 90er-Jahren sogar explodiert ist. Wenn solche Renditen erzielt werden, dann werden sie in aller Regel sofort wieder vervespert in zusätzliche Sozialausgaben.
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Als ich 1998 angefangen habe, lag der Anteil der Sozialausgaben am Bundeshaushalt bei etwa 39 Prozent. Heute liegt er bei 52 Prozent. Das sage ich einfach mal so zum Nachdenken. Wer meint, dass sich Haushalte über Investitionsrenditen stabilisieren, der meint auch, dass sein Hund einen Wurstvorrat anlegt.
Ich empfehle deshalb – ich erlaube mir, dies an dieser Stelle an die kommenden Kolleginnen und Kollegen zu sagen –: Halten Sie sich einfach an die Regeln! Die Politik hat sich zu Recht klare Regeln gegeben mit dem Maastricht-Vertrag – 60 Prozent Schuldenstand und 3 Prozent Defizit – und der Schuldenbremse, 0,35 Prozent des BIP als maximale Verschuldung für den Bund, 0 für die Länder. Leider haben noch nicht alle Bundesländer diese Schuldenbremse in ihre Landesverfassungen übernommen. Mein Heimatland, Baden-Württemberg, hat sie übernommen. Aber es gibt noch vier Bundesländer, die das bisher nicht getan haben.
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Ich fürchte, in Berlin wird dieser Appell nicht auf offene Ohren stoßen.
Halten Sie sich also an die Regeln, die sich die Politik selbst gegeben hat, auch auf europäischer Ebene. Dort gibt es den Fiskalvertrag und den Stabilitätspakt. Das sind kluge Regelungen, die hoffentlich auch in Zukunft noch tragfähig sind und Geltung haben. Denn wir brauchen in der künftigen Haushalts- und Finanzpolitik eine klare Orientierung, die da lautet: statt Ideologie Vernunft, statt neuer Steuern Wirtschaftswachstum. Dann liegen wir richtig. Deshalb hoffe ich, dass diese Grundsätze auch in den kommenden Wahlperioden gelten.
Abschließend darf ich noch etwas anderes sagen. Ich bin auf zwei Dinge stolz. Das eine ist, dass mein Büro in den 23 Jahren 840 Besuchergruppen mit rund gerechnet 41 500 Personen betreut hat. Das ist eine tolle Leistung. Das Zweite, auf das ich stolz bin, ist: Man hat mir mal die Wortpatenschaft für den Begriff „Generationengerechtigkeit“ verliehen. Mit diesem Etikett an der Brust verlasse ich dieses Hohe Haus gerne – mit einer Träne im Auge, aber mit Stolz und großer Zufriedenheit, hier gedient haben zu dürfen.
Danke.
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Kollege Barthle, ich entschuldige mich noch mal für das Versehen vorhin. Aber ich hoffe, das hat nun auch diejenigen, die nicht wussten, dass Sie heute das letzte Mal – voraussichtlich – an dieses Redepult treten, aufmerksam gemacht.
Ich wünsche Ihnen persönlich alles Gute für den neuen Lebensabschnitt. Und auch hier eine persönliche Bemerkung: Wir sind gleichzeitig in dieses Hohe Haus gewählt worden.
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Erst noch in Bonn am Rhein und dann nach dem Umzug nach Berlin waren wir in unterschiedlichster Verantwortung und mit unterschiedlichsten Perspektiven tätig.
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– Genau, ich auch. – Also: Herzlichen Dank für alles und alles Gute.
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Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sind Deutschlands Wunden verheilt? In der deutschen Bevölkerung besteht an Flucht und Vertreibung nach wie vor großes Interesse. Das hat zuletzt die hochkarätig besetzte ZDF-Verfilmung des Bestsellers „Altes Land“ von Dörte Hansen gezeigt, die Ende 2020 5 Millionen Zuschauer erreicht hat. Die Autorin erklärte zum Überraschungserfolg ihres Romans über drei Frauengenerationen, die eng mit Ostpreußen verwoben sind, in der „Welt“ – ich zitiere –: „Ich glaube, dass das Thema mittlerweile sehr gut aufgearbeitet ist – aber verschmerzt ist es offenbar noch nicht.“
Von der Spitzenkandidatin der Grünen ist gerade ein ebenso bemerkenswertes Buch erschienen. Das aufschlussreiche Werk – einige nennen es den Begleittext zum Wahlprogramm ihrer Partei – ist ihrer Großmutter gewidmet und an – Zitat – „all die Generationen, die so viel erlitten, erkämpft und geleistet haben und auf deren Schultern wir heute stehen“. Da hat die Bundesvorsitzende einmal vollkommen recht. Die heimliche Hauptfigur, ihre Oma, kam als Spätaussiedlerin aus Oberschlesien nach Niedersachsen. Sie hat ihrer Enkelin anscheinend viel erzählt, auch von Flüchtlingstrecks und wie schlimm es für Frauen werden konnte und auch wurde. Im Wahlprogramm dieser Partei steht jedoch viel über Tiere und Natur. Von den Millionen Menschen, die alles miterlebt und mit aufgebaut haben, steht kein einziges Wort.
Ich darf Ihnen mal die Überschrift des entsprechenden Absatzes im Regierungsprogramm unserer Union vorlesen: „Vertriebene und Aussiedler wertschätzen“. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und einer Volkspartei, die es seit Bestehen der Bundesrepublik fünfmal ins Kanzleramt geschafft hat. Wir haben nicht vergessen, wem wir das zu verdanken haben.
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Meine Damen und Herren, weil wir nicht vergessen, gibt es seit Montag das bundesweit gelobte Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung im Berliner Deutschlandhaus. Das 75 Millionen Euro teure Dokumentationszentrum ist ein Meilenstein der deutschen Erinnerungspolitik und wird der Aufarbeitung des letzten Kapitels des Zweiten Weltkrieges einen neuen, entscheidenden Impuls geben. Ich schließe mich der Frau Bundeskanzlerin an, die in ihrer Eröffnungsrede ausdrücklich den persönlichen Einsatz von Erika Steinbach gewürdigt hat.
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Ohne die langjährige Präsidentin des Bundes der Vertriebenen gäbe es dieses Zentrum nicht.
Meine Damen und Herren, der Zweite Weltkrieg beschäftigt uns noch immer. 80 Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion hat sich Russlands Präsident in der „Zeit“ an die Deutschen gewandt. Der Gastbeitrag muss uns alle hellhörig machen. Ich greife nur einen Punkt heraus. Putin schreibt, dass der Sowjetsoldat seinen Fuß nicht auf deutschen Boden gesetzt habe, um sich an den Deutschen zu rächen, sondern – Zitat – „um seine edle und große Befreiungsmission zu erfüllen“.
Unbestritten haben die Soldaten der Roten Armee einen hohen Blutzoll bei der Niederwerfung Nazideutschlands entrichtet. Unbestritten sind die vorausgegangenen Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion. Zur Wahrheit gehören aber auch die Hunderttausenden deutschen Frauen, die 1945 Opfer von Massenvergewaltigungen wurden und von denen viele elend zugrunde gingen.
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Marion Gräfin Dönhoff, die berühmte einstige Mitherausgeberin dieser Wochenzeitung, hätte als Zeitzeugin der Redaktion gerne beratend zur Seite gestanden. Wie hätte es die Gräfin wohl verkraftet, dass ausgerechnet in ihrer ostpreußischen Heimat heute Raketen stationiert sind, die bis nach Warschau oder Berlin reichen? „Die Zeit“ hat angekündigt, Entgegnungen auf den Text in den kommenden Wochen zu veröffentlichen. Man darf gespannt sein, ob eine Plenarrede dazuzählt.
Meine Damen und Herren, die Union hält am Postulat des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede zum 8. Mai 1945 fest: Wir müssen der historischen Wahrheit ins Auge sehen, „ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit“.
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Die historische Wahrheit ist heute allerdings, wie ich hier nur kurz anreißen konnte, in Gefahr. Unsere Fraktion wird darauf reagieren und der Geschichtspolitik eine neue Bedeutung beimessen. Deutschland hat aufgrund seiner jüngsten Vergangenheit hier eine besondere Verantwortung. Dem vorliegenden Bericht der Bundesregierung ist zuzustimmen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Wilhelm von Gottberg für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der umfangreiche Bericht der Bundesregierung zur Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 enthält Licht und Schatten.
Meine Fraktion anerkennt die umfangreiche finanzielle Förderung für die musealen Einrichtungen. Die Realisierung des Projekts „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ sowie die Fertigstellung des Sudetendeutschen Museums im vorigen Jahr sind zwei Aktivposten in der vorgelegten Bilanz. Gut so! Dass man nicht den menschlichen Anstand hatte, Frau Steinbach, die Initiatorin des Zentrums gegen Vertreibungen, zur Eröffnungsfeier am Montag einzuladen, mögen andere bewerten. Ich selbst habe damals als Vizepräsident eng an der Seite von Frau Steinbach gestanden.
Die Landesmuseen werden heute institutionell gefördert. Die Förderung ist nicht üppig. Gleichwohl, es wurden damit Erinnerungsorte geschaffen, die an das wirkliche Ostdeutschland erinnern sollen. Die ehemaligen preußischen Ostprovinzen sind Teil der deutschen Geistes- und Kulturgeschichte. Ob mit den Einrichtungen eine dauerhafte Erinnerung an diesen Teil unserer Geschichte möglich sein wird, ist zweifelhaft. Das kann nur gelingen, wenn der Geschichtsunterricht an den Schulen entsprechende Lehrinhalte vermittelt. Leider kann man da nicht optimistisch sein.
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Das Ostpreußische Landesmuseum ist Eigentum der Ostpreußen. Wir haben die Liegenschaft mit eigenem Geld erworben. Warum verschweigt das der Bericht?
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Der Kollege Eckhard Pols, mein geschätzter Vorredner, hat seit mehr als zehn Jahren das Haus tatkräftig unterstützt. Er hat entscheidenden Anteil, dass das Ostpreußische Landesmuseum nunmehr mit baltischer Abteilung eine Erweiterung und kulturelle Bereicherung erfahren hat. – Lieber Eckhard, wir sind langjährige Weggefährten. Danke!
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Der Bericht listet zahlreiche Einrichtungen auf, die nach § 96 gefördert werden. Dabei kommt es zu Überschneidungen, Mittel werden nach dem Gießkannenprinzip verteilt. Zu kurz kommt im Bericht die Lage der deutschen Volksgruppen in Polen. Unter meiner Federführung gründete die Landsmannschaft im polnischen Teil Ostpreußens 22 deutsche Vereine. Das Innenministerium gab Zuschüsse für die örtlichen Einrichtungen. Das war eine Kulturförderung, die vor Ort ankam. Insgesamt ist festzustellen: Es waren die deutschen Heimatvertriebenen und ihre Nachkommen, die die Nachbarschaftsverträge mit Leben erfüllt haben. Darüber findet sich nichts im Bericht.
Zahlreiche Polen stören sich daran, dass sich deutsche Touristen im heutigen Polen polnischer gebärden als polnische Patrioten. Das mögen die nationalbewussten Polen nicht. Ich habe bei meinen zahlreichen Besuchen im heutigen polnischen Teil Ostpreußens aus meiner preußischen und deutschen Gesinnung keinen Hehl gemacht. Dafür wurde mir Respekt bekundet.
Die Landsmannschaft Ostpreußen hat auf eigene Initiative und auf eigene Kosten kommunalpolitische Gesprächsformate sowohl mit Polen als auch mit Russland begründet. Für den russischen Gesprächskreis gibt es bis heute keinen Cent Förderung.
2005 nahm ich Verbindung mit dem großen russischen Literaten Alexander Solschenizyn auf, ein Freund Deutschlands. Wir waren uns einig, dass beide Länder Totalitarismus schlimmster Art durchstehen mussten. Über 60 Jahre nach Kriegsende – da waren wir uns auch einig – sei kein Platz mehr für Selbstbezichtigung und Schuldbekundungen. Mein geplanter Besuch bei ihm in Moskau wurde durch seine plötzliche Abberufung verhindert. Sein Einsatz für Deutschland bei der Besetzung Ostpreußens brachten ihm zehn Jahre Archipel Gulag. Es ist auch sein Verdienst und die Gnade Gottes, dass die Aussöhnung mit Russland gelungen ist.
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Es ist hier in den letzten Tagen viel über die deutschen Schandtaten während des Zweiten Weltkrieges geredet worden. Nichts davon soll relativiert werden. Aber damit auch die andere Seite zu Gehör kommt, zitiere ich mit freundlicher Genehmigung der Präsidentin einige Zeilen aus Solschenizyns Epos „Ostpreußische Nächte“:
22 Höringstraße, noch kein Brand, doch wüst geplündert. Lebend find ich noch die Mutter. Waren’s viel auf der Matratze? Tochter – Kind noch – gleich getötet. Alles schlicht nach der Parole: Nichts vergessen, nichts verzeihen.
Wer noch Jungfrau, wird zum Weibe und die Weiber Leichen bald. Klinik, Arzt für euch vorbei. Die Fahrer Russlands preschen über Stufen, über Schwellen. Ihre Wagen schräg und schief. Asiatisch rüde Sitten, ihr seid uns so wohl vertraut. Vorwärts weiter! Auf uns wartet Allenstein!
Ich bedanke mich. – Vielen Dank, Frau Präsidentin.
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Herr Abgeordneter Gottberg, ich habe hier natürlich die verabredete Regel angewandt, bei der letzten Rede in diesem Haus nicht auf Einhaltung der Redezeit zu bestehen.
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Das Wort hat die Kollegin Marianne Schieder für die SPD-Fraktion.
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Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte jetzt einmal auf das Thema zurückkommen, um das es hier geht, nämlich auf § 96 des Bundesvertriebenengesetzes und die darin festgelegte Förderung der Kulturarbeit.
§ 96 des Bundesvertriebenengesetzes ist und bleibt eine Erfolgsgeschichte. Gerne weise ich auch heute wieder darauf hin, dass die Fördergrundlage, die diese Erfolgsgeschichte erst möglich macht, die sogenannte Konzeption 2000 ist. Sie stammt von der rot-grünen Bundesregierung und wurde im Jahre 2000 verabschiedet. Zu den geförderten Einrichtungen gehört neben der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung hier in Berlin eine ganze Reihe von Museen, die über ganz Deutschland verteilt sind. Es sind Museen, die sich mit der kulturellen Tradition und Geschichte des deutschen Lebens in den Regionen des östlichen Europas beschäftigen, in denen Deutsche gelebt haben und heute noch leben. Das alles sind sehr interessante und gute Einrichtungen. Danke für die dort geleistete Arbeit!
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Das in dieser Woche eröffnete Ausstellungs-, Informations- und Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung ist gut gelungen. Ich war am Montag dieser Woche bei der Eröffnung dabei und konnte mich selbst überzeugen: eine sehr interessante Architektur und eine beeindruckende Dauerausstellung. Ich kann nur herzlich einladen, diese Einrichtung zu besuchen und dies sozusagen als Geheimtipp an die Besuchergruppen weiterzugeben.
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Über § 96 Bundesvertriebenengesetz wird aber auch Forschung gefördert, es werden Stipendien vergeben, und es werden Kulturvermittlung und Kulturaustausch unterstützt. Unverzichtbar ist natürlich die kulturelle Breitenarbeit, die den Vereinen, Stiftungen, Bildungseinrichtungen, Landsmannschaften und anderen Einrichtungen der Vertriebenen ihre vielfältigen Aktivitäten ermöglicht. Vieles von dem, was hier für 2020 geplant war, musste leider wegen Corona abgesagt werden oder konnte gar nicht erst in Angriff genommen werden.
Ein weiterer Schwerpunkt ist die Förderung der verständigungspolitischen Arbeit der Vertriebenen. Hier wurden 2019 immerhin 71 Projekte finanziert. 2020 waren es – wiederum wegen Corona – nur 21.
Sehr interessant fand ich die Orientierung am Bauhaus-Jahr 2019 unter dem Motto „Nicht nur Bauhaus. Netzwerke der Moderne im östlichen Mitteleuropa“. Da ging es um die Auseinandersetzung mit moderner Architektur im ehemaligen Nordostdeutschland und in der Küstenregion der Zweiten Polnischen Republik.
Aber für ganz besonders gelungen halte ich die Beiträge zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft, weil damit die europäische Dimension der Förderung besonders zum Ausdruck kommt. Diese europäische Dimension halte ich für sehr, sehr wichtig, ja für unerlässlich. In diese Richtung geht auch die sehr zu begrüßende Einrichtung des neuen Förderschwerpunktes „Vielstimmige Erinnerung – gemeinsames Erbe – europäische Zukunft: Kultur und Geschichte der Deutschen und ihrer Nachbarn im östlichen Europa“.
Besonders freut es mich als Oberpfälzerin natürlich, dass auch die Stiftung Kunstforum Ostdeutsche Galerie in Regensburg wieder gut gefördert ist. Das ist ebenfalls ein Geheimtipp – wenn Sie einmal in die Oberpfalz kommen –: Es wird einzigartige Kultur und Kunst gezeigt, aber es gibt dort auch ein ganz interessantes und kontinuierlich weiterentwickeltes Kulturvermittlungsprogramm: Vermittlung von Kultur an Kinder, an krebskranke Kinder, an Kinder mit Behinderung. Gerade entsteht in Zusammenarbeit mit den Mittelschulen ein Audioguide, in dem unter dem Motto „Der andere Blick“ ebendiese jungen Menschen ihre Lieblingswerke für andere junge Menschen, für andere Schülerinnen und Schüler darstellen. Eine wirklich tolle Sache.
Alles in allem, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Bundesförderung nach § 96 des Bundesvertriebenengesetzes entfaltet ein unglaublich vielfältiges Engagement, für das ich mich heute persönlich, aber auch im Namen der SPD-Bundestagsfraktion ganz herzlich bei allen bedanken möchte, die dazu beigetragen haben – sei es hauptamtlich, sei es ehrenamtlich.
Ich kann nur sagen: Weiter so!
Danke für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Kollege Thomas Hacker für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Befassung mit der Kulturarbeit nach dem Bundesvertriebenengesetz ist immer mehr als nur eine reine Bestandsaufnahme. Sie ist ein Zeugnis über unser eigenes geschichtliches Bewusstsein und Maß für die Bereitschaft, aus der Vergangenheit und für die Gegenwart zu lernen.
Seit dem letzten Bericht der Bundesregierung hat sich unsere Welt fundamental verändert. Noch immer spüren wir die Auswirkungen einer Pandemie, die unsere Arbeit für Versöhnung und Zusammenhalt auf eine der härtesten Bewährungsproben stellt. Auch deswegen brauchen wir Zeichen – sichtbare Zeichen, Zeichen des Miteinanders, des Aufeinanderzugehens, Zeichen der Versöhnung. Umso erfreulicher ist die nun endlich möglich gewordene Eröffnung des Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung an diesem Montag. Das kann so ein Zeichen sein.
Flucht, Vertreibung, Versöhnung – diese drei Worte wiegen schwer. Sie lösen bei jedem von uns unterschiedliche Impulse aus, geben aber auch eine klare Orientierung, was Kulturarbeit heute leisten muss. Flucht und Vertreibung sind der Blick zurück – der Blick auf ein vergangenes Leben an einem anderen Ort, auf Schicksalsschläge und die gleichzeitige Hoffnung auf ein besseres Leben fernab der Heimat. Versöhnung ist der Blick nach vorne. Wie können wir unseren inneren Frieden mit uns selbst und mit anderen finden?
Das neue Dokumentationszentrum ist kein Museum – zu Recht. Zu Recht will es zur Forschung, zur Diskussion und zur Auseinandersetzung einladen. Gerade angesichts der vielen Parallelen zur Gegenwart muss dies der Anspruch einer aktiven und sinnstiftenden Kulturarbeit sein. Der Direktorin der Stiftung, Frau Bavendamm, kann ich für diese Herkulesaufgabe nur den bestmöglichen Erfolg wünschen.
Flucht und Vertreibung sind keine Phänomene der Vergangenheit. Sie sind hochaktuell, politisch brisant und weltweite Herausforderungen. Flucht und Vertreibung im 21. Jahrhundert lassen sich nicht mit nationalen Alleingängen begegnen, sondern nur mit gemeinsamer Entschiedenheit eines vereinten Europas.
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Zugleich müssen wir Geduld beweisen. Versöhnung braucht ihre Zeit, manchmal auch über Generationen. Sie braucht Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Nur wenn wir über Jahrhunderte gewachsenes Misstrauen überwinden, können wir auch wieder zueinanderfinden. Wir müssen uns dabei bewusst sein, dass dies kein geradliniger Prozess ist. Gute Nachbarschaft ist kein Automatismus, sondern erfordert die Fähigkeit, auf die Bedürfnisse und Sorgen des anderen einzugehen und darauf klug zu reagieren. Die Debatte hat gezeigt: Hier gibt es offenkundig auch in diesem Hause noch viel zu tun.
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Diese Versöhnungsarbeit der nach dem Zweiten Weltkrieg Vertriebenen kann nicht oft genug hervorgehoben werden und ist Beispiel für uns heute. Genau deswegen leistet die Kulturarbeit nach dem Bundesvertriebenengesetz eine wertvolle Arbeit. Sie ist eine Investition in unsere Gesellschaft, in unsere Demokratie.
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Wir dürfen Kulturarbeit nicht dogmatisch verstehen, sondern im Verständnis für das Gemeinsame. Die Vertriebenen, die einst aus Ostpreußen oder dem Sudetenland in die Bundesrepublik kamen, taten dies mit dem gleichen Schmerz des Verlustes, wie ihn heute die Menschen aus Syrien, Afghanistan oder der Subsahara fühlen: dem Verlust von Heimat, Wurzeln, Traditionen und der Herausforderung, vollkommen neu anzufangen an einem Ort, der ihnen so fremd ist wie sie seinen Bewohnern.
Ich bleibe dabei: Wir dürfen nicht nachlassen, ein Klima der Verständigung zu schaffen – im Aufeinanderzugehen, aber auch im kritischen Hinterfragen und offenen Diskurs. Ich bin sicher, liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Demokratie und unsere Gesellschaft können das aushalten.
Danke.
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Das Wort hat die Kollegin Simone Barrientos für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesvertriebenengesetz ist ein Relikt des Kalten Krieges. Es ist ein Relikt der alten Bundesrepublik.
Der Diskurs um Flucht und Vertreibung nach 1945 wurde dominiert – er wird es zum Teil immer noch – von revisionistischen Kräften wie Erika Steinbach, die hier gerade gelobt wurde. Dass sich dieser Diskurs ändert, ist gut, aber auch überfällig; denn dass hierzulande so viele Menschen nicht mehr wissen, mit welcher Brutalität und Verachtung die deutsche Wehrmacht, die SS- und die Polizeibataillone in Richtung Osten marschierten, mordend in einem unvorstellbaren Ausmaß,
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das ist auch die Folge einer lückenhaften Erinnerungskultur.
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Es ist kein Lapsus, wenn, wie im Januar 2020 geschehen, ausgerechnet „Der Spiegel“ schreibt, die „amerikanische Armee“ hätte Auschwitz befreit. Nein, das ist eine Folge davon, dass der Kalte Krieg noch immer mitwabert im Erinnern.
Flucht und Vertreibung waren die Folge des deutschen Vernichtungskriegs. Den mordenden Soldaten folgten Kriegsgewinnler und Profiteure, Industrielle und Fabrikanten, Protektoren und KZ-Aufseher. Unter dem Motto „Blut und Boden“ richteten sie sich ein in den eroberten Gebieten, bis man sie davonjagte.
Und ja, auch Alteingesessene verjagte man. Auch die waren nicht frei von Schuld. Dass ihre Geschichten auch tragisch waren,
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dass die persönlichen Schicksale Beachtung verdienen, will ich nicht bestreiten. Meine Großmutter floh mit ihren Töchtern. Meine Mutter war drei Jahre alt, ihre Schwester ein Jahr alt. Geboren wurden sie in einem Lebensborn-Heim, auch das übrigens eine Erinnerungslücke in diesem Hause.
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Meine Großmutter mag sich nicht schuldig gemacht haben, aber sie wusste, dass sie nicht frei von Schuld war; denn sie hat hingenommen und weggesehen.
Dass der Bundestag die von uns beantragte Feierstunde zum Überfall auf die Sowjetunion, der sich in dieser Woche zum 80. Mal jährt, abgelehnt hat, wir aber heute über Flucht und Vertreibung nach 1945 reden, finde ich peinlich. Es spricht Bände.
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Damit wir uns hier nicht missverstehen: Eine solche Feierstunde wäre ein nötiges Zeichen des Respekts gewesen – nicht gegenüber den heutigen Regierungen der zerfallenen Sowjetunion. Nein, es wäre ein nötiges Zeichen des Respekts gewesen gegenüber den Bevölkerungen der ehemaligen Sowjetunion, ein Zeichen des Respekts gegenüber der multiethnischen Sowjetarmee. Es wäre eine Geste des Respekts gewesen an die Ermordeten und ihre Nachkommen, an die Verachteten, an die Gequälten, an die Geschundenen, an die Verhungerten, an all die, die man auslöschen wollte.
Noch einmal zur Klarstellung: Das Vernichtungslager Auschwitz wurde am 27. Januar 1945 durch die Sowjetarmee befreit, und zwar von den Soldaten der 322. Infanteriedivision der 60. Armee der I. Front unter dem Oberbefehl von Generaloberst Pawel Alexejewitsch Kurotschkin . – Niemals sollen sie vergessen sein!
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Erhard Grundl für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Präsidentin! Mit Ihrer Erlaubnis möchte ich gerne die Frau Bundeskanzlerin zitieren:
Ohne den von Deutschland im Nationalsozialismus über Europa und die Welt gebrachten Terror, ohne den von Deutschland im Nationalsozialismus begangenen Zivilisationsbruch der Shoah und ohne den von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg wäre es nicht dazu gekommen, dass zum Ende des Zweiten Weltkriegs und danach Millionen Deutsche Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung erleiden mussten.
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Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Vertreibungsgeschichte der Deutschen in ihrem historischen Kontext von Ursache und Folgen eingebettet und nicht isoliert dargestellt wird.
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Mein Vater wurde am 18. September 1925 in Wölschko, einem kleinen südböhmischen Dorf, geboren. Mit 17 Jahren wurde er in den Kriegsdienst eingezogen, und mit 19 Jahren kam er in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Er und seine Familie wurden nach dem Krieg aus ihrer Heimat vertrieben. Nicht alle überlebten diese Vertreibung. Ich stehe also vor Ihnen als ein Vertreter der ersten Generation nach den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Gerade für meine Generation ist es unerlässlich, jeder Form des Revanchismus – wie wir ihn hier schon gehört haben – auch heute noch tagtäglich eine klare Absage zu erteilen.
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Für meine Generation ist es ebenso unerlässlich, all denen zu danken, die – meistens in Privatinitiativen – in den Jahrzehnten seit Kriegsende unermüdlich und gegen viele Widerstände für eine tatsächliche Aussöhnung zwischen den einstigen Feinden gekämpft haben und sie schlussendlich auch erreichen konnten.
Millionen Deutsche flohen zum Ende des Zweiten Weltkrieges und danach aus Ost- und Südosteuropa oder wurden vertrieben. Angekommen in Frieden, Freiheit, Wohlstand sind viele von ihnen lange nicht. Erwünscht und willkommen geheißen waren die Vertriebenen in der neuen, oft kalten Heimat, wie Andreas Kossert schreibt, vielfach nicht. „Die meisten Deutschen wollten das nicht sehen, nicht hören, nicht wissen“, schreibt Kossert. Eine kollektive Erfahrung von Flucht und Vertreibung gibt es in Deutschland heute, da nur noch wenige Zeitzeuginnen und Zeitzeugen leben, nicht mehr. Umso wichtiger ist die Rolle eines solchen Dokumentationszentrums, und umso größer sind die Erwartungen an das Dokumentationszentrum. Es muss dort gelingen, Schuld und Leid gleichermaßen zu thematisieren.
Natürlich muss der Blick in diesem Zentrum auch auf Flucht und Vertreibung in unserer Gegenwart gerichtet werden. Trotz des 70-jährigen Bestehens der Genfer Flüchtlingskonvention werden die in ihr verbrieften Rechte zunehmend ausgehöhlt. Die flüchtlingspolitische Bilanz der Bundesregierung und der europäischen Mitgliedstaaten fällt beschämend aus.
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Die europäischen Mitgliedstaaten gestalten ihre Geflüchtetenpolitik immer restriktiver, und das ist eine Schande.
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Meine Damen und Herren, bereits 2019 haben wir die Kulturarbeit nach dem Bundesvertriebenengesetz hier debattiert. Damals schloss ich meine Rede so:
Wenn wir heute über Flucht und Vertreibung im Rahmen der Kulturförderung nach dem Bundesvertriebenengesetz reden, dann dürfen wir keinen Augenblick vergessen: Hier und heute fliehen Menschen vor Gewalt und Zerstörung; sie fliehen unter Lebensgefahr und in eine ungewisse Zukunft. Niemand tut das leichten Herzens.
„Das Mindeste, was wir als Deutsche tun können, ist es“, sie „aus Seenot zu retten“, sie aus menschenunwürdigen Lagern herauszuholen, ihnen Schutz und Sicherheit anzubieten. „Das“, meine Damen und Herren, „ist kein Almosen, sondern unsere Pflicht als Menschen.“ – Daran hat sich nichts geändert.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat Dr. Bernd Fabritius für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen Debatte über die vielen gelungenen Maßnahmen zur Kulturförderung nach § 96 BVFG schließen wir eine für die deutschen Heimatvertriebenen, Aussiedler und Spätaussiedler ereignisreiche Woche und eine insgesamt erfolgreiche Wahlperiode positiv ab.
Mit dem Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung am letzten Sonntag und der Eröffnung des Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung im Beisein unserer Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel, und unserer Kulturstaatsministerin, Professorin Monika Grütters, am Montag lag das Augenmerk dieser Woche zuerst auf dem Schicksal unserer Landsleute. Gerade mit der Eröffnung des Dokumentationszentrums schließt sich nun endlich eine Lücke in der Erinnerungslandschaft unserer Hauptstadt.
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Dafür bin ich Ihnen, liebe Frau Staatsministerin, und auch unserer Bundeskanzlerin ausdrücklich dankbar. Ich empfehle dringend, diese Einrichtung in das Besuchsprogramm des Bundespresseamts aufzunehmen.
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Die Fördersumme in den Jahren 2019 und 2020 von über 54 Millionen Euro mit den beiden Leuchtturmprojekten „Dokumentationszentrum“ und „Sudetendeutsches Museum“ spiegelt Inhalt und Auftrag des § 96 BVFG angemessen wider. Die Förderung bildet eine wichtige Grundlage für den Erhalt und die Fortentwicklung des jahrhundertealten kulturellen Erbes, das uns allen gehört und das Teil der gesamtdeutschen Kulturbiografie ist. Darum geht es in der heutigen Rede: Die Fördermaßnahmen des § 96 BVFG zu erhalten, weiter auszubauen und in die Zukunft zu tragen, ist uns eine liebe Verpflichtung.
Meine Damen und Herren, kulturelles Erbe ist aber weitaus mehr als nur erhaltenswert. Für die Menschen ist es ein zentraler Ankerpunkt ihrer eigenen Identität. Diese kulturelle Identität zu erhalten und an kommende Generationen weiterzureichen, ist unerlässlich.
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Wir müssen unseren Landsleuten ein starkes Fundament bereitstellen, auf dem gerade junge Menschen die eigene Identität finden und festigen können.
Das Interesse für die Kultur, das Brauchtum, die Geschichte der Heimatvertriebenen keimt zuerst in der Familie und im familiären Umfeld. Es ist Voraussetzung für die Ausbildung eines gefestigten, persönlichen Selbstverständnisses in kultureller Vielfalt. Erst das gewährt den Fortbestand dieser schützenswerten Kultur und der damit verbundenen Traditionen und Bräuche.
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Unseren Landsleuten, die weiter in den Heimatgebieten leben, helfen diese Fördermaßnahmen, Assimilierung abzuwehren und kulturelle Vielfalt zu erhalten. Wir unterstützen im Sinne eines Europa der Vielfalt und der grenzüberschreitenden Verständigung sowie des kulturellen Austauschs mit den Maßnahmen nach § 96 BVFG nicht nur die Festigung der Identität der Deutschen in den Herkunftsgebieten, sondern wir tragen dadurch entscheidend zur Völkerverständigung in einem weiter zusammenwachsenden Europa bei. Die weitere Stärkung des § 96 BVFG bleibt damit auch in der kommenden Wahlperiode Aufgabe und Verpflichtung – aus Überzeugung.
Danke.
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Das Wort hat der Kollege Martin Rabanus für die SPD-Fraktion.
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Ganz herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich freue mich darüber, dass wir an diesem letzten regulären Sitzungstag dieser Wahlperiode noch einmal über die Förderung von Kultur und Geschichte in den Regionen des östlichen Europas, in denen Deutsche gelebt haben und bis heute leben, sprechen können.
Wir fördern auf der Basis von § 96 des Bundesvertriebenengesetzes Museen, Bibliotheken, Einrichtungen der Forschung und der kulturellen Vermittlung, und zwar – ausweislich des Berichtes – 2019 mit rund 23,5 Millionen Euro und 2020 sogar mit gut 31 Millionen Euro. Wir fördern damit den internationalen Dialog und das Verständnis für den europäischen Integrationsgedanken. Wir stärken Kooperationsprozesse. Genau darum geht es. Es geht nicht um Deutschtümeleien oder derlei Dinge mehr, sondern es geht um Kooperationen mit den Partnern des östlichen Europas, es geht um Integration, es geht um Verständigung.
Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden, dass wir gerade in dieser Woche mit der Stiftung Flucht, Vertreibung und Versöhnung hier in Berlin einen besonderen Meilenstein verzeichnen konnten; das ist von meiner Kollegin Marianne Schieder und anderen ausgeführt worden.
Ich will dem zwei weitere Beispiele aus den vielen beistellen, die der Bericht aufweist. Das ist zum einen das Schlesische Museum zu Görlitz. Im Schlesischen Museum zu Görlitz wird die Vergangenheit und Gegenwart Schlesiens als einer europäischen Kulturregion dargestellt. Dafür arbeiten polnische und tschechische Museen mit Bildungseinrichtungen und Institutionen aus Deutschland zusammen. 2020 förderten wir dieses Museum mit knapp 650 000 Euro, um nur diese eine Zahl zu nennen.
Zum anderen will ich das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung nennen, ein Institut der Leibniz-Gemeinschaft im hessischen Marburg, das 2020 vom Bundestag 2,8 Millionen Euro erhielt, um damit die Region Ostmitteleuropa erforschen zu können und das Wissen Bibliotheken, Museen politischen Akteuren und einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stellen zu können. Andere Beispiele könnte man nennen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sehen, der Bericht der Bundesregierung enthält hochaktuelle Themen; denn heute geht es in Europa um Vertrauen, um Zuverlässigkeit und um stabile Partnerschaft. Das ist wichtig. Das unterstützen wir mit dieser Arbeit. Die SPD-Bundestagsfraktion setzt sich in der Erinnerungskultur immer damit auseinander, Zeichen für Toleranz und Aufklärung und gegen demokratiefeindliche Tendenzen zu setzen.
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Damit will ich zum Schluss kommen. Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf mich ganz herzlich für die Zusammenarbeit mit den demokratischen Fraktionen in dieser Wahlperiode bedanken. Ich bedanke mich auch bei der BKM für die gute Zusammenarbeit. Es war mir eine Freude und eine Ehre!
Herzlichen Dank.
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Ich gehe davon aus, dass das nicht Ihre letzte Rede hier im Hause war.
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– Gut.
Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Motschmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gegenwart und Vergangenheit gehören – wir haben es gehört – beim Thema „Flucht und Vertreibung“ zusammen.
Ich beginne einmal mit der Gegenwart. Über 82 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht, fast so viele Menschen, wie Deutschland Einwohner hat. Die Zahl hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt, ein trauriger Höchststand, und fast die Hälfte sind Kinder unter 18 Jahren. Ihnen müssen wir uns zuwenden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Flucht und Vertreibung sind nicht nur Teil unserer eigenen Geschichte, sie sind Geschichte Europas, sie sind Geschichte der ganzen Welt. Sie sind auch heute bittere Realität. Im 21. Jahrhundert müssen weltweit Millionen von Menschen vor Krieg, Hunger und Verfolgung fliehen. Die Bilder aus Syrien, Irak und Jemen machen uns betroffen; sie machen uns nicht nur betroffen, sondern oft auch machtlos. Aber wir haben die Macht, ihr Flüchtlingsschicksal zu erleichtern, ihnen zu helfen. Das gilt in ihrer Heimat, aber auch in unserem Land, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Jetzt komme ich zu den Vertriebenen, die wir als Deutsche zu beklagen haben – immer natürlich im Bewusstsein, wie schuldig wir in dem Krieg geworden sind; aber das ändert nichts an der Tatsache, dass auch damals Millionen Kinder und Frauen vor dem Krieg, vor dem Hunger, vor Vergewaltigung fliehen mussten. Das dürfen wir niemals vergessen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Diese Flüchtlinge mussten ihr Zuhause verlassen und eine neue Heimat finden. Sie wollten keine Vergeltung – das will ich hier ausdrücklich betonen –, sondern haben in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen Versöhnung gefordert. Nur darum kann es in der Erinnerungskultur gehen. Wir wollen uns versöhnen und nicht weiter spalten und trennen.
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Wir müssen die Erinnerung an diese Vertreibungsgeschichten in vollem Bewusstsein und im Kontext unserer historischen Verantwortung und Schuld wachhalten. Wir müssen unsere Geschichte in Geschichten erzählen und erzählen lassen. Genau das passiert in diesem Zentrum, und genau das ist unser Auftrag.
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, dies war nun meine 77. und letzte Rede im Deutschen Bundestag. In der Verantwortung vor Gott und den Menschen habe ich meine Politik verstanden. Ich blicke heute nach vorn. Nun werde ich mich weiter an anderen Orten für die Themen einsetzen, die mir hier so wichtig waren. Ich will sie noch einmal nennen.
Unsere Kultur, stets unterschätzt und gerade in der Pandemie so schmerzlich vermisst. Ich wünsche mir, dass die Kultur künftig in diesem Hause eine noch viel größere Rolle spielt als bis jetzt.
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Die Repräsentanz von Frauen in vielen Bereichen unserer Gesellschaft, von allen gewollt, aber noch lange nicht realisiert. Ich wünsche mir, dass in der nächsten Legislatur in diesem Hohen Haus mehr Frauen sitzen als im Augenblick.
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Die Erinnerungskultur in unserem Land, für viele nah, für die junge Generation fern; deshalb diese Debatte.
Schließlich die deutsche Außenpolitik, scheinbar fern und doch Voraussetzung für Frieden, Freiheit und Demokratie in Deutschland, in Europa und der Welt.
Ich danke allen, vor allem meiner eigenen Fraktion, für alle Unterstützung in den vergangenen acht Jahren. Ich danke aber auch den anderen Fraktionen für die gute Zusammenarbeit, die es im Kulturbereich doch gegeben hat. Ich danke schließlich meiner Familie, meinem Mann, der da oben sitzt.
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Ich danke meinen Kindern für alle Unterstützung und Hilfe. Sie haben nie geklagt, wenn ich das Haus verlassen habe, aber haben sich immer doch doll gefreut, wenn ich wiedergekommen bin.
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Ich danke meinem Team. Ich kann nicht alle aufzählen. Ich sage nun dankbar: Auf Wiedersehen und Gottes Segen für unser Land!
Vielen Dank.
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Kollegin Motschmann, auch Ihnen wünsche ich alles, alles Gute für den folgenden Lebensabschnitt. Wenn man so erwartet wird, ist das sehr schön. Ich habe mich gerade vergewissert – Sie haben es gesagt –: acht Jahre. Ich hatte das Gefühl, dass wir viel länger zu diesen wichtigen Fragen miteinander gestritten haben. Also: Alles Gute!
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Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte in dieser Woche die Gelegenheit, mich beim G‑20-Gipfel der Arbeits- und Sozialminister in Italien mit Kolleginnen und Kollegen auszutauschen. Wir müssen feststellen, dass diese Coronapandemie besonders die Menschen überall auf der Welt hart getroffen hat, die es vorher auch schon nicht leicht hatten. Die Rede ist von Kindern und Jugendlichen, die Rede ist von vielen Frauen und auch von vielen armen Menschen, die es vorher schon schwer hatten.
Aber wir müssen auch feststellen, dass wir in Deutschland in dieser Krise zwei Mittel gefunden haben, mit denen wir Armut bekämpfen können. Das ist erstens ordentliche, bezahlte und sichere Arbeit. Und, meine Damen und Herren, es ist zweitens ein starker Sozialstaat, ein leistungsfähiger Sozialstaat. Dafür haben wir in dieser Legislaturperiode erfolgreich gekämpft: für gute Arbeit, für sozialen Schutz und für gesellschaftlichen Zusammenhalt – in der Krise und im Wandel.
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Wir haben verhindert, dass trotz mancher individueller Härten aus der Coronakrise eine soziale Katastrophe für unser Land geworden ist. Es ist uns gelungen, den Arbeitsmarkt stabil zu halten. Arbeit – noch mal: gut bezahlt und sicher – ist der beste Schutz vor Armut: vor der Armut im Erwerbsleben, vor Altersarmut, vor Familienarmut. Arbeit ist auch der beste Schutz vor Kinderarmut, wenn Eltern gut bezahlt sind und gut arbeiten können. Ja, das Kurzarbeitergeld und die Sozialschutzpakete haben sehr, sehr viel Geld gekostet; aber Massenarbeitslosigkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, und soziale Ungerechtigkeit wären für unser Land viel, viel teurer gewesen. Deshalb war das der richtige Weg.
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Der Armuts- und Reichtumsbericht ist eine Gelegenheit, darüber zu reden, dass wir in dieser Legislaturperiode angetreten sind, um den Wert und auch die Würde der Arbeit zu stärken. Und wir haben geliefert: Mit dem „Sozialen Arbeitsmarkt“, mit dem wir über 50 000 Menschen in sozialversicherungspflichtige Arbeit gebracht haben; mit einem gestiegenen Mindestlohn, den wir in Richtung 12 Euro weiterentwickeln werden; mit besseren Arbeitsbedingungen für die Menschen, die unser Land am Laufen halten – zum Beispiel mit dem Pflegemindestlohn, jetzt auch mit dem Tariflohn in der Pflege –; mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz, mit dem wir gegen Ausbeutung der Fleischindustrie vorgegangen sind; mit dem Paketboten-Schutz-Gesetz.
Meine Damen und Herren, unser Ziel ist es, dass wir Politik für diejenigen machen, die sich jeden Tag in diesem Land reinhängen, ohne reich zu werden, die aber das Land am Laufen halten. Darauf haben viele Menschen lange gewartet.
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Durch die Einführung der Grundrente und durch die Stabilisierung des Rentenniveaus haben wir viel erreicht für Rentnerinnen und Rentner, die stolz auf ihre Lebensleistung sein können.
Meine Damen und Herren, es geht nicht nur darum, dass wir diese Erfolge in Zukunft sichern, sondern auch darum, dass wir Lehren aus dieser Krise ziehen. Die große Aufgabe der nächsten Jahre wird es sein, aus technischem Fortschritt auch sozialen Fortschritt zu machen. Es geht darum, breite Brücken zu bauen, damit die Beschäftigten von heute die Chance haben, die Arbeit von morgen zu machen: durch Weiterbildung, durch Qualifizierung. Deutschland, meine Damen und Herren, muss eine Weiterbildungsrepublik werden.
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Es geht auch darum, dass wir Lücken im Sozialstaat, die wir in dieser Krise schmerzlich erlebt haben, schließen, zum Beispiel in Bezug auf die Absicherung von Soloselbstständigen und auf Kinder in benachteiligten Lebenslagen. Ich denke etwa an Kinder, die unter Homeschooling gelitten haben, weil sie nicht genug unterstützt wurden. Das sind wir den Menschen in diesem Land schuldig. Meine Damen und Herren, mein Ziel ist, dass mehr Menschen die Chance zum sozialen Aufstieg in diesem Land haben und sich als Teil der Mitte der Gesellschaft begreifen, und zwar unabhängig von ihrer Herkunft.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Armuts- und Reichtumsbericht zeigt Licht und Schatten in unserem Land. Er ist Anlass, weiterzuarbeiten auf dem Weg für gerechte Arbeit. Wir werden die sozialen Sicherungssysteme in den nächsten Jahren auch im demografischen Wandel stabil halten können, wenn wir es schaffen, dass möglichst viele Menschen – Frauen und Männer – die Chance haben, zu anständigen Löhnen zu arbeiten – das ist übrigens auch gut für die Stabilität der Sozialkassen und auch der Rente –, wenn wir es schaffen, in diesem Land dafür zu sorgen, dass wir den Wandel gestalten, dass wir Chancen und Schutz in Zeiten eines rasanten Wandels hinkriegen – mit einem starken Sozialstaat, den niemand kaputtreden sollte.
Meine Damen und Herren, unser Sozialstaat, der Sozialstaat in Deutschland, ist nicht perfekt, aber er ist eine der besten Errungenschaften in unserer Geschichte. Auf den Sozialstaat kann unser Land stolz sein, und ihn werden und müssen wir stärken.
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Es geht darum, unser Land, so vielfältig es ist, in Zeiten des Wandels auch in Zukunft zusammenzuhalten. Dafür haben wir gearbeitet, und dafür werden wir weiter arbeiten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Abgeordnete Martin Reichardt für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir reden heute – spät, aber doch – über den „Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht – Lebenslagen in Deutschland“ und diverse Anträge von Grünen und Linken. Der Bericht als Ganzes ist wahrlich kein Ruhmesblatt für diese Regierung. Aber die Anträge von Grünen und Linken zeugen von Realitätsferne, weil sie von der Prämisse ausgehen, dass Geld unbegrenzt vermehrbar und insofern auch für ihre Geschenke vorhanden ist.
Grüne und Linke ignorieren die Tatsache, dass das Geld, das sie freizügig verteilen wollen, erst erarbeitet werden muss, erarbeitet mit eigener Hände Arbeit; aber das ist Studienabbrechern, Lebenslaufschummlern und Parteikarrieristen von Linken und Grünen sicherlich ein Fremdwort, meine Damen und Herren.
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Sie zetern über die steigende Armut in Deutschland und täuschen darüber hinweg, dass Sie und Ihre Politik verantwortlich dafür sind und auch in Zukunft immer weiter für soziale Ungerechtigkeit und steigende Armut sorgen werden.
Sie fordern uneingeschränkte Einwanderung in die Sozialsysteme. Fakt aber ist: 36,5 Prozent der Hartz-IV-Bezieher haben eine ausländische Staatsbürgerschaft. Fakt ist: Mehr als jedes dritte Kind, das in Deutschland auf Hartz IV angewiesen ist, hat keine deutsche Staatsbürgerschaft; das sind 44,6 Prozent der Leistungen nach SGB II für Kinder. Fakt ist also: Sie holen Menschen ins Land, die zu einem erheblichen Teil von Sozialleistungen abhängig sind und dies auch immer bleiben werden.
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Das nennen Grüne aktive Einwanderungspolitik: unterschiedslosen Zugang für die gesamte Welt zu deutschem Wohnraum und deutschen Gesundheits- und Sozialleistungen.
Die Hartz-IV-Sätze sollen von 432 Euro auf 603 Euro angehoben werden. Das ist dann die sogenannte Garantiesicherung. Das Einzige, was Sie mit Ihrer Politik und Ihren Anträgen garantieren, ist ein ungehinderter Zuwanderungssog in den deutschen Sozialstaat, und dieser wird dadurch ruiniert.
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Die ökosozialistischen Grünen und auch Sie als Linke sind letztlich die Sterbebegleiter des deutschen Sozialstaats.
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1976 sagte Milton Friedman, Nobelpreisträger für Wirtschaft: Ein Land kann ein Sozialstaat sein oder offene Grenzen haben. Ein Land kann aber kein Sozialstaat sein und offene Grenzen haben.
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Sie fordern beides unbegrenzt und schröpfen damit die Leistungsträger Deutschlands.
Die vollkommen sinnlose Energiewende spüren viele Menschen in Deutschland schon jetzt schmerzhaft: Höhere Kosten bei Mieten, Energie- und Kraftstoffpreisen bedeuten für viele Menschen den Unterschied zwischen „Gerade noch mit dem Geld auskommen“ und „Schon am 20. des Monats nichts mehr haben“. Für viele Menschen in Deutschland bergen sie die Gefahr des wirtschaftlichen Niedergangs und der Verarmung.
Gegen Armut, meine Damen und Herren, hilft kein Geld, das ausschließlich vom Staat kommt. Dauerhaft hilft nur Arbeit, von der man leben kann: Facharbeiter, die mit ihrem Lohn eine Familie ernähren können, damit junge Menschen ohne Angst vor Armut Kinder bekommen können, die dann die Leistungsträger unserer Gesellschaft werden.
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„Leistung muss sich wieder lohnen“, das sagte Helmut Kohl 1982. Für diesen Satz steht in Deutschland 2021 nur noch die AfD.
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Deshalb fordern wir in unserem Antrag die Einführung einer Steuer- und Abgabenbremse, die Unterstützung junger Familien durch Ehestartkredite, die Einführung eines Familiensplittings und „weg mit der CO2-Steuer“.
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Wir wollen starke Bürger und starke Familien, die den Staat eben nicht brauchen; denn gerechter Lohn für anständige Arbeit, das ist „Deutschland. Aber normal“.
Vielen Dank.
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Das Wort hat Professor Dr. Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Danke schön. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde mal versuchen, das Niveau wieder etwas zu heben, obwohl das nach der Rede nicht so schwer ist.
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Im Verhältnis zwischen den Armen und den Reichen ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit. – Wenn dieser Satz des französischen Dominikaners Jean Baptiste Henri Lacordaire zutrifft – und ich meine, das tut er –, dann sind wir als Gesetzgeber die Hüter der Freiheit. Unsere Aufgabe ist es nicht, an den Tischen der Reichen zu schmausen oder Schmiere zu stehen, wenn Halunken ihren dunklen Händeln nachgehen. Noch weniger ist es unsere Aufgabe, selbst dunklen Händeln nachzugehen und uns damit zu bereichern. Vielmehr ist es unsere Aufgabe, durch die Gesetzgebung den Missbrauch der Freiheit durch wenige zu beenden und die Möglichkeit der Freiheit für alle zu schaffen. Der Armuts- und Reichtumsbericht gibt uns einen Hinweis darauf, ob wir damit erfolgreich waren oder nicht. Ich denke, wir waren es.
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Es geht nicht nur, meine Damen und Herren, um Freiheit von irgendwas, also um Freiheit als Abwesenheit von wiederrechtlichem Zwang, Unterdrückung oder Verletzung der Menschenwürde; es geht wesentlich um Freiheit zu etwas, um die Öffnung von Ermöglichungsräumen. Es geht darum, dass sich der Mensch als Person entfalten kann.
In der Soziallehre – und das ist meine geistige Heimat – ist die Möglichkeit der Entfaltung der eigenen Person unter den Begriff des Gemeinwohls gestellt. Gemeinwohl ist, wenn sich alle nach ihren Anlagen als Person entfalten können. Das ist nicht immer eine Frage der materiellen Ausstattung; aber allzu häufig scheitert diese Entfaltung an der materiellen Ausstattung. Und deshalb ist es richtig, zu sagen: Menschenwürde ist nicht voraussetzungslos. Sie bedarf der Strukturen, die den Menschen Möglichkeiten eröffnen. Denn Menschenwürde ist in die Praxis gestellt und damit mehr als ein philosophisches oder theologisches Konzept.
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„In die Praxis gestellt“ heißt aber auch, dass Menschen Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen. Als Person sich zu entfalten, ist ein Akt der Selbstbestimmung und keineswegs eine Daueraufgabe gesellschaftlicher Alimentierung und Betreuung. Solidarität und Selbstverantwortung sind zwei Seiten einer Medaille.
Ich habe nie Adornos Diktum ernst genommen, dass es kein richtiges Leben im Falschen gebe. Der daraus entstehende resignative Attentismus steht quer zu dem, was ich in den vergangenen zwölf Jahren mitgestalten durfte, vor allem im Ausschuss für Arbeit und Soziales – ja, vielleicht manchmal zu langsam; aber der Fortschritt ist ja nach Günter Grass eine Schnecke.
Der Armuts- und Reichtumsbericht liest sich wie eine Bilanz dieser Jahre, und jeder, der zu Recht oder zu Unrecht hier kritisiert, mag sich die Frage stellen: Wo wären wir ohne die vergangenen zwölf Jahre, was das Gemeinwohl in Deutschland angeht? Es haben sich die Bedingungen verbessert, die es den Menschen erlauben, ihre Person zu entfalten, und das zählt. Dafür haben sich die Arbeit und manchmal auch der Kampf gelohnt.
Meine Damen und Herren, im Verhältnis von Armen und Reichen ist es das Gesetz, das befreit. Es war mir eine Ehre, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die sich dieser Wahrheit verpflichtet fühlen. Dieser Dienst am Gemeinwohl ist es, der das Parlament zu einem besonderen Ort macht, zu einem Hohen Haus. Und ich wünsche mir für die nächsten Legislaturperioden Gesetzgeber, die mutig sind, wenn es gegen die Starken und Mächtigen geht,
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die weise sind, wenn es um Selbstbeschränkung geht, und die gerecht gegenüber allen sind – um der Freiheit willen.
Ich allerdings bin dann mal weg.
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Sehr geehrter Kollege Zimmer, Sie haben die Wertschätzung gehört und gesehen, nicht nur für Ihre Arbeit, sondern auch für Ihre Worte. Ich gehe davon aus, Sie sind zwar nicht hier an diesem Ort, aber Sie lassen uns auch nicht allein.
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Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vergangenen vier Jahre waren unter sozialpolitischen Gesichtspunkten vier verlorene Jahre. Das ist eine bittere Erkenntnis.
Lieber Bundesminister Herr Heil, Sie sind wahrscheinlich der erste Sozialminister der SPD, der sich das von der FDP sagen lassen muss. Die Wahrheit ist: Ihre Bilanz lässt gar keinen anderen Schluss zu.
Nehmen Sie das Thema Altersarmut. Darüber haben wir auch schon in der 17. Wahlperiode gesprochen, als Sie in der Opposition waren und keine Kritik an der damaligen Regierung aus Ihrem Mund groß genug ausfallen konnte. Jetzt haben Sie ein System geschaffen, die Grundrente, bei der drei Viertel der Menschen, die im Alter arm sind, leer ausgehen. Drei von vier haben in dieser Legislaturperiode von Ihnen keine Unterstützung bekommen, und das, obwohl die FDP beispielsweise mit ihrer Basisrente ein Konzept vorgelegt hat, mit dem man unbürokratisch den allermeisten hätte helfen können, indem man für die Zukunft einfach zugelassen hätte, dass Ansprüche aus der eigenen Rentenversicherung nicht mehr auf die Grundsicherung angerechnet werden oder jedenfalls nicht mehr total.
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Das wäre hilfreich gewesen, und das hätte vielen Menschen geholfen und viele Tränen getrocknet, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das zweite Thema: die Armen in der Pandemie. Es war die FDP, es war ich persönlich, der Sie angeschrieben hat – schon im ersten Pandemiemonat – mit der Fragestellung: Reicht denn der Regelsatz in Hartz IV für die jetzt aufkommenden zusätzlichen finanziellen Belastungen durch Schutzmaßnahmen für die Ärmsten in unserem Land, für Menschen mit Behinderung, für die Alten in der Grundsicherung aus? Da haben Sie gesagt, Sie beobachten das mal. Das Ergebnis war, dass Sie dann über ein Jahr später erklärt haben, 100 Euro auszahlen zu wollen, ohne sich Gedanken zu machen, wie die Menschen eigentlich in den Monaten zuvor über die Runden gekommen sind.
Das nächste Thema ist: Kinder aus sozial benachteiligten Milieus, aus Hartz-IV-Familien mussten sich vor Gericht das Recht auf einen Laptop erklagen, weil der Schulträger nicht in der Lage war, ihn zur Verfügung zu stellen, und Sie die Unterschrift verweigert haben, mit denen die Jobcenter diese Laptops hätten zur Verfügung stellen können. Diese Unterschrift kam im Februar, und das war ein Jahr zu spät, Herr Bundesminister.
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Homeschooling, das muss man auch können und lernen. Nicht jedes Kind hat Eltern, die anleiten können. Da ist die Frage doch: Hätten wir nicht den Kindern eine Unterstützung bieten müssen? Die FDP hat zwei Konzepte in diesen Bundestag eingebracht, um die Kinder beim Lernen im Homeschooling zu unterstützen – abgelehnt von der Bundesregierung, abgelehnt von der SPD.
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– Lieber Herr Rosemann, keine Zwischenrufe. Politische Verantwortung für die Armen in diesem Land übernehmen, das ist Ihr Auftrag und an den sollten Sie sich halten.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, vier Jahre verloren für die Armen in diesem Land. Wir werden uns in der nächsten Legislaturperiode hoffentlich in neuen Konstellationen wiedersehen und die Politik für die Ärmsten besser und verantwortungsvoller gestalten.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung liest, könnte man meinen, es ist alles halb so schlimm. Wieder einmal haben Sie diesen Bericht geschönt, damit er auch in Ihr Bild passt. Aber Ihr Bild entspricht nicht der Realität, meine Damen und Herren der Bundesregierung. Hören Sie endlich auf, die Armut in diesem Land kleinzureden und den Reichtum zu beschönigen! Denn Milliardenvermögen sind keine Wohlhabenheit. Das ist perverser Reichtum, und das muss man auch so deutlich ansprechen.
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Kein Mensch kann sich ein solches Vermögen erarbeiten. Reichtum entsteht durch Ausbeutung der Arbeitskraft und oft genug auch durch Plünderung der Staatskasse. Kurzarbeitergeld abgreifen und dann Dividenden ausschütten, das hatte doch System bei den Konzernen. Amazon hat seine Umsätze massiv gesteigert, aber speist die Beschäftigten mit geringen Löhnen ab und zahlt in der EU noch nicht mal eine Körperschaftsteuer. Mit dieser Abzocke muss doch endlich Schluss sein, meine Damen und Herren.
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Während die Eigentümer von Lidl, BMW und Aldi ihre Vermögen um weitere Milliarden Euro vergrößern konnten, sind die Armen immer ärmer geworden. Von den Haushalten mit unter 2 000 Euro Nettoeinkommen hat jeder Zweite in der Pandemie ein Viertel seines Einkommens verloren. Das muss man sich wirklich mal auf der Zunge zergehen lassen: ein Viertel seines Einkommens! – Deshalb fordert die Linke eine Vermögensteuer auf die richtig großen Vermögen; denn nur so kann es gehen.
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Aber wir brauchen auch höhere Löhne, von denen man gut leben kann. Wir brauchen eine Ausweitung der Tarifbindung und einen höheren Mindestlohn; denn höhere Löhne helfen den Familien und garantieren auch eine höhere Rente.
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Wir brauchen einen verlässlichen Sozialstaat, sicheren Schutz im Fall von Arbeitslosigkeit sowie eine Rente, die den Lebensstandard sichert. Und wenn es trotz alledem nicht reicht, dann brauchen wir eine Mindestsicherung von 1 200 Euro. So geht Armutsbekämpfung!
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Meine Damen und Herren der Regierung, die Menschen merken doch, dass sie immer weniger Geld in der Tasche haben. Sie müssen immer mehr bezahlen für Miete, Sprit, Energie, Lebensmittel. Ja, sogar der Kitaplatz wird immer teurer. Merken Sie denn nicht, dass die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst? Es rumort in der Bevölkerung. Jeder Fünfte arbeitet zum Niedriglohn.
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3,5 Millionen Menschen müssen zwei oder drei Jobs annehmen. Das tun sie nicht, weil sie nicht wissen, wohin mit ihrer Zeit. Das machen sie, weil sie von ihrem ersten Job nicht leben können. 1 Million Menschen müssen neben der Rente einen Minijob annehmen. Das ist doch eine Schande für so ein reiches Land wie Deutschland!
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Niedriglohn, Kinderarmut, Altersarmut – das alles hängt zusammen. Solange Sie eine Politik machen für wenige und gegen die Mehrheit der Menschen, wird die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergehen. Deshalb braucht es die Linke als soziale Kraft in diesem Parlament.
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Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn hat nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Grüne wollen Wohlstand für alle. Und wenn wir „alle“ sagen, meinen wir auch „alle“. Wir wollen eine Gesellschaft, in der niemand ausgegrenzt wird – niemand! Wir wollen selbstbestimmte Teilhabe für wirklich alle garantieren.
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Der Armuts- und Reichtumsbericht zeigt, dass wir davon weit entfernt sind. Die Armut bewegt sich seit 15 Jahren auf einem Rekordniveau. 15 Prozent Armutsquote, das sind mehr als 12 Millionen Menschen – relativ konstant während der gesamten Zeit, in der die Union regiert. Der Armuts- und Reichtumsbericht zeigt: Armut verfestigt sich. Das ist eines der zentralen Ergebnisse des Armuts- und Reichtumsberichts: Menschen mit geringem Einkommen haben immer weniger Möglichkeiten, aufzusteigen.
Die Grundsicherung heute reicht nicht aus, um Armut zu verhindern. Und statt Selbstbestimmung zu fördern, schränkt Hartz IV die Freiheit ein.
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Wir wollen deswegen Hartz IV überwinden. Wir wollen eine Garantiesicherung, die das Existenzminimum in allen Lebenslagen ohne Sanktionen garantiert, die unbürokratisch und möglichst automatisch ausgezahlt wird, um verdeckte Armut endlich zu überwinden.
Mehrarbeit muss endlich auch zu einem spürbar höheren Einkommen führen. Es kann doch nicht sein, dass teilzeiterwerbstätige Alleinerziehende, wenn sie ihre Arbeitszeit ausweiten, am Ende netto weniger in der Tasche haben. Es kann auch nicht sein, dass bei Selbstständigen zusätzliche Einnahmen vollständig auf die Mindestsicherung angerechnet werden, wenn sie Grundsicherung beziehen. Das ist für uns eine Frage der Gerechtigkeit, und das müssen wir ändern.
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Und: Die Garantiesicherung muss so hoch sein, dass soziale und kulturelle Teilhabe wirklich ermöglicht wird. Der Regelsatz muss deswegen deutlich angehoben werden; denn die Grundsicherung muss vor Armut schützen.
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Ein besonderes Anliegen sind für uns Kinder und Familien. Jedes fünfte Kind lebt immer noch in Armut; die Zahl ging auch überhaupt nicht zurück in den letzten Jahren. Das zeigt, dass auch die derzeitigen Familienleistungen nicht ausreichend vor Armut schützen. Wir wollen deswegen eine Kindergrundsicherung für alle Kinder, die das Existenzminimum der Kinder garantiert und nicht auf die Einkommen der Eltern angerechnet wird. Die Vermeidung von Kinderarmut muss Priorität der nächsten Bundesregierung sein.
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Bei uns ist das übrigens Chefinnensache: Das Thema Kindergrundsicherung ist bei uns in der Bundestagsfraktion in der Zuständigkeit der Kanzlerkandidatin. Das zeigt, was für eine wichtige Bedeutung die Bekämpfung von Kinderarmut für uns hat.
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Armut umfasst natürlich nicht nur fehlendes Einkommen; aber ohne ausreichendes Einkommen ist gesellschaftliche Teilhabe nicht möglich. Zur Armutsbekämpfung braucht es aber mehr: Wir brauchen ein Zukunftsprogramm. Wir brauchen gute Löhne, einen höheren Mindestlohn, mehr Tarifbindung. Wir müssen die Sozialversicherungen stärken.
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Die Rente und die Arbeitslosenversicherung müssen vor Armut schützen. Alle Menschen brauchen Zugang zu Arbeit, Gesundheit, Mobilität und Bildung. Und wir brauchen ein Grundrecht auf Wohnen und ein Aktionsprogramm gegen Obdachlosigkeit. Niemand sollte in Deutschland auf der Straße leben müssen.
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Kollege Strengmann-Kuhn.
Es wird Zeit für ein Programm gegen Armut, damit Armut endlich reduziert wird.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort zu ihrer letzten Rede im Deutschen Bundestag hat die Kollegin Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion.
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Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will die zwei Minuten Redezeit, die ich hier noch habe, nutzen, Ihnen eine Leseempfehlung zu geben: Lesen Sie den Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht! Wirklich. Darin kann man ablesen, dass das, was wir hier machen, einen Effekt hat, dass wir was gestalten können, zum Beispiel mit einem gesetzlichen Mindestlohn, mit einer Grundrente. Mit dem Ausbau des Sozialstaates in der Pandemie haben wir etwas für Millionen von Menschen bewirkt, die vielleicht gar nicht mehr daran geglaubt haben, dass man was für sie bewirken will.
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Lesen Sie ihn auch – da richte ich mich vielleicht eher an diejenigen, die sich hier konservativ oder liberal nennen –, weil man eigentlich nicht daran vorbeikommt, zu erkennen, dass wir da noch was zu tun haben: Die Schere zwischen Arm und Reich ist zu weit auseinander und geht eben nicht zusammen. Vor allen Dingen können wir uns nicht damit abfinden, dass die Aufstiegsmobilität aus den unteren Lagen sinkt.
Ich will Ihnen drei Gründe nennen, warum das auch aus Ihrer Perspektive eigentlich nicht akzeptabel ist und wir daran arbeiten müssen.
Der erste Grund ist: Es ist ungerecht. Es widerspricht der Leistungsgerechtigkeit, wenn immer mehr Menschen sich mühen und machen und tun und de facto keine reale Chance haben, aufzusteigen. Wenn es heißt: „Arm bleibt arm“, dann ist das demotivierend in einer sozialen Marktwirtschaft. Dagegen müssen wir was tun.
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Der zweite Grund: Es ist ökonomischer Blödsinn. Wir brauchen mehr Kaufkraft. Diese Menschen brauchen mehr Einkommen. Das hilft der gesamten Wirtschaft.
Der dritte Grund: Es ist Irrsinn, dass nicht jedes Kind in diesem Land den Schulabschluss erreicht, den es erreichen könnte, nur weil es aus einer Familie kommt, die sozial schlechter gestellt ist.
Und es ist aus einer individuellen Sicht wichtig, dass wir da was tun. Wenn Sie sich fragen: „Warum ist der Ton in diesem Land härter geworden?“, dann lesen Sie diesen Armuts- und Reichtumsbericht. Warum setzen so viele Menschen draußen ihre Ellenbogen ein? Ich möchte in einem Land leben, in dem wir einander vertrauen, in dem wir voneinander wissen. Der Armuts- und Reichtumsbericht legt nahe, dass das leider nicht mehr so stark der Fall ist.
Ich verabschiede mich heute hier. Ich verspreche Ihnen aber: Ich spende Ihnen riesengroßen Applaus, wenn im Siebten Armuts- und Reichtumsbericht steht, dass die Schere zwischen Arm und Reich zusammengeht und die Aufstiegsmobilität gestiegen ist. Ich bitte Sie ganz herzlich, dass Sie mir Anlass dazu geben, einen Applaus zu geben, der so laut ist, dass Sie den auch hier in Berlin hören.
Ich möchte mich herzlich bedanken bei den tollen Kolleginnen und Kollegen, die mir jeden Tag wieder gezeigt haben, dass man mit Beharrlichkeit etwas bewegen kann. Ich will die beiden Minister, mit denen ich die Freude hatte zusammenzuarbeiten, nennen: Hubertus Heil und seine Vorgängerin Andrea Nahles, die den gesetzlichen Mindestlohn durchgesetzt hat. Es war mir eine große Freude!
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Herzlichen Dank, liebe Kollegin Kolbe. – Im Namen des gesamten Hauses: Herzliches Dankeschön für die immer gute, konstruktive, kreative und progressive Zusammenarbeit. Wir wünschen Ihnen beruflich und natürlich auch im privaten Bereich alles, alles Gute. Vielen Dank!
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Als Nächstes spricht Peter Weiß von der CDU/CSU-Fraktion zu uns.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! „Wohlstand für alle“ –
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mit diesem Slogan und Buchtitel hat Ludwig Erhard einst sein Konzept der sozialen Markwirtschaft zum politischen und wirtschaftlichen Erfolgsschlager gemacht. Herr Strengmann-Kuhn, wenn Sie schon „Wohlstand für alle“ in Ihrer Rede hier erwähnen, wäre es klug gewesen, Sie hätten Ihrer Kanzlerkandidatin schon früher gesagt, dass das von Ludwig Erhard stammt.
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Immer weitere und breitere Schichten unseres Volkes zu Wohlstand zu führe„n“, das versprach damals Ludwig Erhard. Die Frage ist: Ist das auch heute möglich? Und die erfreuliche Botschaft des Armuts- und Reichtumsberichts ist: Ja, das ist auch heute möglich. – Deswegen freue ich mich, dass wir einen wirklich hoffnungsmachenden und zukunftsorientierten Armuts- und Reichtumsbericht vorliegen haben.
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Ich will nur ein paar wenige, wie ich finde, relativ eindeutige Aussagen zitieren:
Erstens. Das letzte Jahr vor der Pandemie, die ja dann diesen tiefen Einbruch brachte, war von einem deutlichen Einkommenswachstum geprägt, und hiervon haben alle, also nicht nur einige, sondern alle Einkommensbereiche profitiert.
Zweitens. Die Anzahl der Bezieher von Arbeitslosengeld II hat bis zum Beginn der Pandemie weiter abgenommen; sie ist jetzt in der Pandemie leider wieder angestiegen. Ebenso sank die Quote der erheblichen materiellen Deprivation – auf Deutsch etwa: erhebliche Entbehrungen, die den Menschen auferlegt sind – von 11,6 Prozent im Jahr 2013 auf 6,8 Prozent im Jahr 2019. Insgesamt hat der Bezug von Mindestsicherungsleistungen bis zum Jahr 2019 weiter abgenommen.
Die wichtigste Botschaft ist: Die Wahrscheinlichkeit, dass man den Bereich niedrigen Einkommens verlassen kann, ist in Deutschland insgesamt höher als die Wahrscheinlichkeit, in Einkommensarmut zu fallen, also mehr Aufstieg als Abstieg. Und genau das macht Wohlstand für alle aus. Wir wollen für alle Menschen in Deutschland die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg schaffen: mehr Aufstieg und möglichst keinen Abstieg!
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Für die allermeisten Menschen ist übrigens die Phase niedrigen Einkommens eine Übergangsphase. Nach einem Jahr hat etwa ein Drittel den Bereich der geringen Einkommen bereits verlassen, nach drei Jahren fast die Hälfte. Auf die Frage: „Wie kommt man denn aus der Einkommensarmut raus, also von unten nach oben?“, gibt der Bericht auch eine eindeutige Antwort: Nicht dadurch, dass man Almosen oder Geld verteilt; vielmehr sind Bildungsniveau und Erwerbsintensität die Schlüssel zur Verbesserung der Einkommensposition – klare Aussage. Hohe Schulbildung, gute berufliche und akademische Bildung ermöglichen Aufstiege auch aus einfachsten Verhältnissen. Und vor allen Dingen: Wer den Aufstieg geschafft hat, kann davon ausgehen, dass auch seine Kinder und Kindeskinder diesen Aufstieg weiter fortsetzen. Das ist die gute Botschaft!
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Noch einmal kurz ein Blick auf die Bezieher von Arbeitslosengeld II – da sehen wir das deutlich –: Zwei Drittel sind Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung. – Da erkennt man den Hauptgrund. Deswegen war es wichtig, dass wir in dieser Legislaturperiode für diejenigen, die schon sehr lange in Langzeitarbeitslosigkeit sind, endlich ein Instrument geschaffen haben, nämlich das Teilhabe-Chancen-Gesetz mit mehrjährigen Lohnkostenzuschüssen. Deswegen war es wichtig, dass wir zweimal das Qualifizierungschancengesetz mit einem klaren Angebot zur Fort- und Weiterbildung reformiert und seinen Leistungsumfang verbessert haben.
Aber wir werden in Zukunft – da brauchen wir Fachkräfte, die sind gefragt – noch mehr tun müssen für Qualifizierung, Fort- und Weiterbildung. Manche brauchen eben eine zweite oder vielleicht auch eine dritte Chance, um Schul- und Berufsabschluss nachzuholen.
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Also das Konzept eines aktivierenden Sozialstaates und echter Hilfe zur Selbsthilfe.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade in der Pandemie hat sich eines bewiesen: Ein echtes Bollwerk gegen Armut sind unsere leistungsfähigen Sozialversicherungen. Sie haben gerade in der Pandemie ihre Stärke bewiesen. Ich finde, unsere Sozialversicherungen sind auch deswegen stark, weil sie eine starke Selbstverwaltung haben, in der die Versicherten, Gewerkschaften und Arbeitgebervertreter Verantwortung für die Sozialversicherungen übernehmen.
Ich persönlich werde jetzt aus freien Stücken nicht mehr kandidieren und damit nicht mehr dem nächsten Deutschen Bundestag angehören, darf also jetzt auch meine letzte Rede hier im Parlament halten. Ich will Ihnen sagen: Ich freue mich darauf, dass ich anschließend zusammen mit Daniela Kolbe, die ja eben ihre Abschiedsrede gehalten hat, die Aufgabe des Bundeswahlbeauftragten für die Sozialwahlen für die nächsten sechs Jahre übernehmen darf, und ich hoffe, dass wir in dieser Funktion auch einen Beitrag zur Stärkung der Selbstverwaltung unserer Sozialversicherungen leisten können.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was ich jetzt ausspreche, ist keine Drohung, sondern ein freundliches Angebot. Ich bin mir sicher: Daniela Kolbe und ich werden in den kommenden Jahren auf diejenigen, die dem Parlament weiterhin angehören, sicherlich mit etlichen guten Ideen und Vorschlägen zukommen, wie wir die Selbstverwaltung in Deutschland stärken können.
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Es war und es ist eine tolle Aufgabe, Abgeordneter zu sein, und zudem auch eine große Ehre. Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, ich danke den Ministerien, vor allem natürlich dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die gute Zusammenarbeit. Und ich wünsche Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, den künftigen Parlamentarierinnen und Parlamentariern, unserem Land alles Gute und Gottes Segen.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, lieber Kollege Weiß, für die langjährige intensive, immer konstruktive Zusammenarbeit, die wir alle mit Ihnen pflegen konnten. Es war nicht immer leicht, mit Ihrer Art, alles geradeheraus zu sagen, zu arbeiten; aber Sie waren immer sehr korrekt in Ihrem Verhalten. Und es hat immer wahnsinnig viel Spaß gemacht, sich mit Ihnen im Guten in der Sache auseinanderzusetzen. Herzlichen Dank! Wir wünschen Ihnen persönlich alles, alles Gute!
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Zum Abschluss der Debatte hören wir Michael Schrodi von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Armuts- und Reichtumsbericht zeigt: Soziale Ungleichheiten sind auch in Deutschland ein Thema, ein Problem, weil, sehr geehrter Herr Weiß, zu große Ungleichheit beispielsweise den Wohlstand für alle gefährdet und weil es höchst ungerecht ist, dass es mehr Hochvermögende gibt – auch nach dieser Pandemie –, sich aber gleichzeitig immer mehr Menschen trotz großer Anstrengungen abgehängt fühlen. Das gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt und damit auch die Demokratie.
Hubertus Heil und Daniela Kolbe haben aufgezeigt, was die SPD in dieser Bundesregierung umsetzen konnte, damit wir soziale Ungleichheiten bekämpfen, gerade auch in dieser Pandemie. Aber jetzt geht es darum: Was können wir machen, damit es in den nächsten Jahren besser wird?
Erstens. Ein höherer Mindestlohn und mehr Tarifbindung sind Instrumente, um Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen zu höheren, auskömmlichen Löhnen zu verhelfen. Wir wollen das. FDP und CDU/CSU wollen das leider nicht.
Zweitens. Einer kleinen Gruppe Menschen gehört der größte Teil des Vermögens in Deutschland. Die Krise hat die Vermögensungleichheit verschärft. Etwa 25 Prozent aller Haushalte besitzen dagegen überhaupt kein Vermögen oder haben sogar Schulden. Wir wollen deswegen die Reaktivierung der Vermögensteuer, die die 5 Prozent der höchsten Vermögen treffen würden, um diese Ungleichheit zu bekämpfen.
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Wir wollen das; CDU/CSU und FDP lehnen das ab.
Der Armuts- und Reichtumsbericht hat den Fokus auf die Wohnsituation gelegt. Wir brauchen mehr bezahlbaren Wohnraum. Olaf Scholz hat klargemacht: 400 000 neue Wohnungen jedes Jahr, 100 000 davon gefördert. Und wir wollen eine gerechte Aufteilung der CO2-Mehrkosten zwischen Vermieterinnen und Mietern. Auch das ist von der CDU/CSU leider verhindert worden.
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Auch da müssen wir etwas für mehr Gerechtigkeit tun.
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Noch eine letzte Anmerkung. Bei den Grünen gibt es eine große Diskrepanz zwischen ihren Wünschen und den Taten. Grüne Länderfinanzminister wollten schon vor einem Jahr den Soli für alle abschaffen – ein Steuergeschenk für die Reichen! Das vertieft die soziale Spaltung. Und wer in ihrem Wahlprogramm nach dem Begriff „Erbschaftsteuer“ sucht, der sucht vergebens, obwohl die Grünen in den letzten Jahren immer wieder gesagt haben, es brauche eine gerechte Besteuerung bei größten Erbschaften. Es scheint so, als würden die Grünen jetzt schon so manche Hindernisse für eine schwarz-grüne Liaison aus dem Weg räumen.
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Sie sehen, meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt in diesem Land noch einiges anzupacken. Wir werden das, nachdem wir schon vieles auf den Weg gebracht haben, auch tun. Da wird es interessant sein, welche Konzepte da auf den Tisch gelegt werden.
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Wir wollen etwas gegen soziale Ungleichheit tun. Wir werden etwas tun für mehr soziale Gerechtigkeit – mit der SPD und mit Olaf Scholz im Kanzleramt.
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Danke schön.
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Danke. – Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Viele Innenstädte in Deutschland sterben. Gerade nach der Coronakrise stehen das Kleingewerbe und der Mittelstand unter Druck. Amazon hingegen feierte im letzten Jahr eine Coronaparty mit Rekordumsätzen. Diese krasse Wettbewerbsverzerrung muss ein Ende haben, meine Damen und Herren!
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Der Deutschlandfunk schreibt dazu – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –:
Im Pandemiejahr 2020 hat der Logistikkonzern seinen Umsatz weltweit um mehr als ein Drittel erhöht. Auch in der EU stieg der Umsatz von Amazon um 36 Prozent auf rund 44 Milliarden Euro. Aber weil die Luxemburger Tochter von Amazon, in der das Europageschäft weitgehend gebündelt ist, gleichzeitig einen Verlust von 1,2 Milliarden Euro auswies, zahlte Amazon in dem Rekordjahr null Euro Körperschaftssteuer in der EU.
Denn Amazon verschiebt Gewinne durch künstliche Kredite und Lizenzgebühren, die es an seine eigenen Tochterfirmen in Steueroasen zahlt, wie Amazon-Pakete über Ländergrenzen und in Steueroasen in der EU. Dort werden diese Einnahmen aber häufig nicht als Gewinn behandelt und versteuert. Amazon kauft auch weltweit Unternehmen auf, um sich aufzupumpen, Märkte zu beherrschen und Gewinne künstlich kleinzurechnen.
Der Internationale Währungsfond regte kürzlich die Einführung einer sogenannten Übergewinnsteuer an, und zwar zusätzlich zu den Debatten, die wir auf internationaler Ebene über die Mindestbesteuerung haben.
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Eine solche Übergewinnsteuer soll abnormale Profite abschöpfen. Dabei werden Gewinne mit einer normalen Situation, also keiner Pandemie, verglichen und eine gewisse Wachstums- und Investitionsrate unterstellt. Eine solche Steuer gab es bereits in den USA, in Kanada, in Frankreich und Italien;
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und Großbritannien erwägt, diese einzuführen.
Damit alleine würde man Amazon aber nicht treffen, da sie ja behaupten, gar keine Gewinne in Europa zu erzielen, und nur Gewinne betroffen wären, die der deutschen Gewinnbesteuerung unterliegen. Daher braucht es eine ergänzende Maßnahme: Quellen- oder Strafsteuern auf Finanzflüsse in Steueroasen, meine Damen und Herren!
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Das heißt, wenn Amazon Deutschland einen fiktiven Zins auf einen fiktiven Kredit von – sagen wir – Amazon Luxemburg nach Luxemburg zahlt, würde bereits darauf eine Steuer entrichtet. Mit solchen Maßnahmen, nur mit Druck, erhöhen wir den Anreiz für Steuerkooperation.
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Wir haben ja nun eine Einigung auf eine Mindeststeuer auf Ebene der G-7-Staaten, auf die der Finanzminister besonders stolz ist. Aber diese soll gerade einmal 15 Prozent betragen. Das ist ungefähr das Niveau von Irland, der Schweiz oder Singapur.
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Selbst US-Präsident Biden wollte eine höhere Mindeststeuer, nämlich in Höhe von 21 Prozent. Deswegen haben Facebook, Amazon und Co die Mindeststeuer auch begrüßt. Die wissen nämlich, dass sie dadurch kaum mehr Steuern in Europa zahlen werden. Denn was bringt eine Mindeststeuer, wenn wir am Ende zwar eine Mindeststeuer haben, aber dann alle die Steuern auf das Niveau von Irland senken? Ich warte nur auf den Tag, wo der BDI auf genau diese Idee kommt.
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Auch das Finanzministerium scheint übrigens von der derzeitigen Lösung nicht so beeindruckt zu sein, wie das manchmal in den Pressemitteilungen im Wahlkampf so klingt. Ich habe nämlich das Finanzministerium gefragt, wie viel Mehreinnahmen sie denn von der jetzt gefundenen Vereinbarung erwarten. Sie sprachen davon, dass sie das gar nicht sagen können und moderate fiskalische Impulse erwarten würden. Das klingt nicht nach einem großen Wurf.
Die EU und auch der deutsche Finanzminister wollten keinen höheren Steuersatz durchsetzen, weil sie befürchteten, dass ihnen sonst die EU-Steueroasen wie Irland oder Luxemburg von der Fahne gehen. Deswegen wäre es aber gerade richtig gewesen, den Druck durch Straf- bzw. Quellensteuern zu erhöhen, damit wir sie zwingen, dass sie sich in dieser Debatte bewegen.
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Und so haben sie es ja bereits gemacht, nämlich für die Länder, die auf der schwarzen Liste der EU für Steueroasen stehen. Das Problem ist aber: Das sind nicht die relevanten Steueroasen. Selbst mit einem Unternehmensteuersatz von Null landet man nicht automatisch auf dieser Liste. Das ist so, als wenn ich mit 100 Prozent Alkohol im Blut in die Alkoholkontrolle fahre und sage: Ich bin nüchtern.
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Ein weiteres Problem: Auch mit der jetzt gefundenen Lösung um die Mindestbesteuerung ist noch überhaupt nicht klar, wer den Anspruch auf die zusätzlichen Steuern hat, sofern sie denn überhaupt anfallen. Denn Steuern stehen grundsätzlich dem Land zu, in dem Konzerne ihren Muttersitz haben. Das sind nun einmal bei den Big-Tech-Konzernen die USA. Es gibt deswegen eine Diskussion um die Säule 1 im OECD-Prozess. Da geht es darum, zu gucken, wo diese Konzerne ihre Umsätze erwirtschaften. Wenn sie dann einen bestimmten Anteil in Deutschland erwirtschaften, dann stünde ihnen auch ein gewisser Anteil des Steuerkuchens zu. Eine Einigung darüber ist aber noch nicht erzielt. Wir müssen dazu den G-20-Gipfel in Venedig im Juli abwarten. Es ist derzeit noch nicht einmal klar, dass Amazon unter diese Regelung fallen würde, weil es auch eine Gewinngrenze gibt.
Deswegen sagt der französische Ökonom und renommierte Ungleichheitsforscher Thomas Piketty, dass die G 7 mit diesem Kompromiss – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –, Steuerhinterziehung legalisieren würde. Er fragte rhetorisch – Zitat –: Glauben die, dass wir dumm sind? Ich würde auch gerne 15 Prozent Steuern zahlen.
Wir sind nicht dumm. Deswegen sagt Die Linke: Es braucht eine Übergewinnsteuer und Strafsteuern auf Finanzflüsse in Steueroasen.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an die CDU/CSU-Fraktion mit Fritz Güntzler.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war ja spannend, zu beobachten, dass Herr Kollege De Masi mehr über Dinge gesprochen hat, die gar nicht im Antrag stehen;
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denn dieser Antrag kommt ja sehr schmal, sehr unkonkret daher. Er hat über viele Steuervermeidungsbemühungen der Staaten gesprochen,
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– Herr De Masi, darum wollte ich ja, dass auch Sie was lernen –, die wir übrigens alle angegangen sind. Wenn Sie beobachtet hätten, dass wir den BEPS-Prozess umsetzen, dass wir ein Attac-Umsetzungsgesetz haben, dass wir ein Steueroasen-Abwehrgesetz – das Sie auch erwähnt haben – haben, dann hätten Sie feststellen können, dass diese Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen in dieser 19. Legislaturperiode einiges erreicht hat. Darauf sind wir wirklich stolz, und das können wir auch gemeinsam sein, meine Damen und Herren.
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In diesem sehr unkonkreten Antrag wird zunächst die These aufgestellt, die nur zum Teil richtig ist, dass die Wirtschaft selbstverständlich von der Pandemie stark betroffen ist. Aber wir müssen meines Erachtens da ein bisschen genauer hingucken; denn das Gute ist ja, dass die Wirtschaft überraschenderweise recht robust aus dieser Krise herausgekommen ist. Das ist natürlich branchenspezifisch unterschiedlich: das verarbeitende Gewerbe besser als das Dienstleistungsgewerbe. Aber es ist doch schon erfreulich, zu sehen, dass wir nach einem Minus von 4,8 Prozent bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt im Jahre 2020 Erwartungen haben, in diesem Jahr 3,5 bis 4 Prozent Wachstum zu haben oder in 2022 wahrscheinlich sogar über 4,5 Prozent Wachstum. Es ist ein Erfolg unserer Politik in dieser Pandemie, indem wir die Wirtschaft mit erheblichen Wirtschaftshilfen unterstützt haben. Das können wir uns auch gutschreiben, und das sollten wir auch laut nach draußen sagen, meine Damen und Herren.
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Das alles haben wir auch steuerlich flankiert. Von daher ist es natürlich spannend, wenn Die Linke jetzt noch einmal in die steuerliche Mottenkiste greift und die Übergewinnsteuer herausholt. Herr De Masi hat auch darauf hingewiesen, dass es sie in den USA einmal gegeben hat. – Ja, stimmt, im Ersten und Zweiten Weltkrieg gab es sie mal. In Deutschland gab es sogar 1973 die Überlegung, sie im Rahmen der Ölpreiskrise einzuführen. Das ist aber immer aus guten Gründen verworfen worden. Sie haben in Ihrem Antrag selber erkannt, weil Sie zweistufig argumentieren, dass diese Übergewinnsteuer natürlich nur diejenigen trifft, die in Deutschland unbeschränkt oder beschränkt steuerpflichtig sind. Die Gewinne, die in Deutschland nicht besteuert werden, erreichen Sie mit dieser Übergewinnsteuer nicht. Darum kommen Sie ja dann mit der Digitalsteuer. Also den Amazon-Fall, den wir auch genau im Auge haben, den Sie angesprochen haben, erreichen Sie mit der Übergewinnsteuer gar nicht.
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Von daher ist das ein bisschen eine Mogelpackung, was Sie hier vorgetragen haben.
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Was ist denn eigentlich der Übergewinn? Wie wollen Sie den definieren? Haben Sie die Antwort darauf schon gefunden? Sie müssten dann ja auch argumentieren, auf welche Sollgröße das ein Mehrgewinn ist. Ist das eine Durchschnittsgröße? Ist das der Gewinn der letzten Jahre des Unternehmens? Ist es eine Gewinnmarge aus der Branche, die überschritten wird? Wie weise ich nach, dass dieser Gewinn dann tatsächlich coronabedingt ist? Alles Fragen, die Sie völlig unbeantwortet lassen, die übrigens immer dazu geführt haben, dass diese Steuer nicht eingeführt wurde. Das sollten wir auch so lassen, meine Damen und Herren.
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Wie gesagt: Diese Steuer würde nur die treffen, die in Deutschland steuerpflichtig sind. Wir arbeiten natürlich daran, dass auch die großen Digitalkonzerne ihrer Steuerpflicht in Deutschland gerecht werden. Darum setzen wir das BEPS-Projekt auch um.
Nun fordern Sie einmal wieder die Einführung einer nationalen Digitalsteuer, vergessen aber, dass wir im europäischen Kontext derzeit an einer EU-Digitalsteuer arbeiten, wo 3 Prozent erhoben werden sollen auf die Einnahmen aus Onlinewerbung, Verkauf von Nutzerdaten oder die Bereitstellung von Onlinemarktplätzen. Das wissen Sie. Das wird diskutiert und ist jetzt genau aufgrund des Prozesses, den Sie dann auch geschildert haben, bis zum Sommer erst mal zurückgestellt worden.
Auch diese Digitalsteuer hat natürlich ein grundsätzliches Problem: Sie ist ertragsunabhängig. Unternehmen, die keine Gewinne machen, werden also auch diese Steuer zahlen müssen. Sie wirkt wie eine Substanzsteuer, und so etwas lehnen wir eigentlich grundsätzlich ab.
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Dann haben Sie das Problem, dass Sie gar nicht wissen, wie Sie ein Digitalunternehmen definieren wollen. Dazu lässt sich Ihr Antrag auch nicht aus. Und wenn Sie sich mit dem BEPS-Prozess mal ausführlicher beschäftigen würden, dann wüssten Sie, dass es den Aktionspunkt 1 gab, wo die OECD mal versucht hat, ein Digitalunternehmen zu definieren, was nicht gelungen ist.
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– Natürlich. Unter Punkt 2 Ihres Antrags steht, Sie wollen die Einnahmen von Digitalunternehmen besteuern.
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Und dann ist die Frage, ob diese Digitalsteuer, wenn man sie denn trotz aller Bedenken einführen würde, überhaupt zielführend wäre. Wir haben schon immer gesagt: Diese Digitalsteuer wird letztendlich nicht von den Unternehmen getragen, sondern am Ende wieder von den Kunden. – Und das können wir jetzt auch sehen: In Frankreich wird seit 1. Mai dieses Jahres ein Zuschlag auf die Leistungen, die die Bemessungsgrundlage bilden, von 2 Prozent erhoben, in Österreich seit dem 1. November von 5 Prozent. Nicht das Unternehmen, das Sie treffen wollen, zahlt also die Steuerlast, sondern der Kunde. Diese Steuer ist also überhaupt nicht zielführend. Von daher gehört sie auch in die steuerliche Mottenkiste.
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Lieber Kollege Güntzler, Herr Kollege Ernst hätte eine Zwischenfrage.
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Nein, wir machen mal fertig, glaube ich.
Dann hat der Kollege dankenswerterweise doch noch darauf hingewiesen, dass es einen erfolgreichen OECD-Prozess gibt. Denn ich glaube, dass wir das Problem der Steuervermeidung nicht national lösen können; wir können nur international gegen aggressive Steuerplanung tätig sein. Von daher ist es richtig, dass Wolfgang Schäuble den BEPS-Prozess angeschoben hat, den Olaf Scholz, wie ich finde – das sage ich sogar als CDU-Politiker –, erfolgreich weitergeführt hat, sodass wir in der Politik hinsichtlich der Säule 1 und Säule 2 der OECD-Vorschläge ein erhebliches Stück vorangekommen sind. Da wird es in der Säule 1, wo es ja um die globale Neuverteilung von Besteuerungsrechten geht, Detailprobleme geben. Wir müssen als Bundesrepublik Deutschland aufpassen, dass uns im Ergebnis nicht zu viel vom Steuerkuchen verloren geht. Dennoch sind wir bereit, darüber zu diskutieren, um mehr Steuergerechtigkeit zu erreichen; denn auch Steuerpolitik kann was mit Nachhaltigkeit zu tun haben, nämlich damit, dass auch Entwicklungsländer und andere Nichtindustriestaaten ihren Teil bekommen, sodass sie ihr Staatswesen aufrechterhalten können.
Viel entscheidender ist die Säule 2; das ist die globale effektive Mindestbesteuerung von Unternehmensgewinnen. Ich halte es für einen Riesenerfolg, wenn dort eine Mindestbesteuerung von 15 Prozent erreicht werden kann. In Irland liegt der Steuersatz derzeit bei 12,5 Prozent. 15 Prozent sind also ein guter Erfolg. Ich wünsche Olaf Scholz bei der G‑20-Finanzministerkonferenz im Juli in Venedig vollen Erfolg und dass das umgesetzt werden kann; denn es wäre wirklich ein Quantensprung in der internationalen Steuerpolitik. Das wären Maßnahmen, die tatsächlich bewirken würden, dass große Digitalkonzerne wieder ihre Steuern bezahlen und damit ihren Beitrag für das Staatswesen, für die Infrastruktur leisten. Von daher: Alles Gute, Herr Scholz, bei den Verhandlungen!
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Wir werden aber im Wahlkampf über viel mehr diskutieren müssen als immer nur über die Themen, über die wir heute gesprochen haben. Dazu gehört das Durchkreuzen der Strategien von Unternehmen, die ihren Steuerpflichten nicht so nachkommen, wie wir das wollen. Wir brauchen auch die Modernisierung des Unternehmensteuerrechts. Von daher empfehle ich doch jedem, in das kluge Wahlprogramm der CDU/CSU zu schauen, in dem Sie wichtige Aspekte finden und das übrigens alles das aufgreift, was die CDU/CSU-Fraktion im November 2019 schon beschlossen hat.
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Wir können eine Entfesselung der deutschen Wirtschaft mit einem klugen Unternehmensteuerrecht schaffen, und mit dieser Fraktion können wir das umsetzen. Darauf freue ich mich in der nächsten Periode.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Das Wort erhält Herr Kollege Ernst von der Fraktion Die Linke für eine Kurzintervention. Bitte zwei Minuten Redezeit einhalten!
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Das geht sehr schnell. – Herr Güntzler, ich habe Ihnen jetzt genau zugehört. Sie kommen mir vor wie einer, der vor der Suppe sitzt und so lange den Kopf schüttelt, bis wirklich die ganze Perücke reinfällt.
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Das bringt uns doch nicht weiter. Ich habe keinen einzigen Vorschlag von Ihnen gehört, der irgendwie ansatzweise auf das Problem, das Sie ja gar nicht bestritten haben, eingeht. Ich glaube, Sie bestreiten ja nicht, dass momentan die genannten Unternehmen exorbitante Gewinne in einer ganz besonderen Situation machen. Und wir haben ja Vorschläge gemacht, wie man genau diese Gewinne abschöpfen könnte, was andere Länder tun.
Sie haben jetzt ganz allgemein über Steuerrecht gesprochen; das stimmt. Aber haben Sie denn einen konkreten Vorschlag, wie wir eine Lösung finden können für das, was wir in diesem Antrag – das haben Sie ja nicht bestritten – als besonderes Problem bezeichnen? Da sind Sie jede Antwort eigentlich schuldig geblieben. Sie erkennen das Problem – das haben Sie auch genannt –, aber haben keine einzige Idee, wie man das Problem lösen könnte. Da wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie dazu vielleicht noch einen Satz sagen könnten; denn sonst würde ich einfach nur zusammenfassen: Nörgeln am Antrag ohne jeden Sinn.
({1})
Herr Kollege Güntzler, Sie möchten antworten.
Kollege Ernst, leider hatte ich nur acht Minuten Redezeit,
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die nicht ausreichend ist, um die verschiedensten Maßnahmen dieser Koalition darzustellen, die wir genau in diesem Bereich ergriffen haben. Und wenn Sie sich mit dem OECD-Projekt tatsächlich beschäftigt hätten oder auch persönlich beschäftigen würden, wüssten Sie auch, dass genau das die Handlungsstränge umfasst, mit denen wir eine Lösung schaffen wollen.
Sie erklären, Sie wollen Übergewinne bei den Digitalkonzernen, die übrigens, lieber Fabio De Masi, unter Ziffer 2 wortwörtlich erwähnt sind,
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abschöpfen. Das würden Sie mit Ihrer Übergewinnbesteuerung nicht erreichen, weil diese Konzerne mit ihren Gewinnen derzeit in Deutschland gar nicht steuerpflichtig sind.
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Von daher läuft der Punkt 1 völlig ins Leere.
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Ich frage mich, wen in Deutschland Sie wirklich mit Punkt 1 erreichen wollen.
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Wir haben bei der Körperschaftsteuer in Deutschland eine gleichmäßige Besteuerung von 15 Prozent. Wir haben im Körperschaftsteuertarif keine lineare Progression wie beim Einkommensteuertarif. Warum wollen Sie sie einführen?
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Wir sind dagegen und halten sie für falsch.
Sie wollen eine Steuer auf coronabedingte Mehrgewinne einführen und definieren gar nicht, was coronabedingte Übergewinne sind. Von daher müssen Sie doch Ihren Antrag verteidigen, der völlig unkonkret ist und der nichts bewirkt. Aber das ist das Leid der Opposition und leider auch das Leid Ihrer vielen Steueranträge: Sie haben hier im Deutschen Bundestag noch nichts bewirkt.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an den Kollegen Albrecht Glaser von der AfD-Fraktion.
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Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat will ich versuchen, mich mit dem sehr schmalen Antrag zu beschäftigen und nicht mit darüber hinausgehenden allgemeinen, welterklärenden Themen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe mich oben im Titel zunächst verlesen und dachte, da steht: Extraprofite von Kriegsgewinnlern. – Ich habe es zunächst für möglich gehalten, dass man dazu einen Antrag stellt; denn in der Tat gab es eine sogenannte Übergewinnsteuer in den USA, als sich die USA für den Eintritt in den Ersten Weltkrieg rüsteten. Um 1918 auf dem Kontinent aktiv zu werden, musste man 1917 schon ordentlich Waffen bauen, und da wurde tatsächlich ein progressiver Steuersatz in den USA eingeführt. Es war eine Riesenwaffenfabrik, und bei dieser Staatsnachfrage war völlig klar, dass in der amerikanischen Rüstungsindustrie Gewinne entstehen, bei denen man darüber nachdenken konnte, sie vielleicht abzuschöpfen. Das Gleiche galt auch für Großbritannien: Großbritannien hat 1915 mit diesem Thema angefangen und hat bis 1921 diese Extrasteuer erhoben. Die Franzosen haben es auch gemacht.
Aber zurück zu den Krisengewinnern – nicht zu den Kriegsgewinnlern. Ziffer 1 des Antrages sagt:
Außerordentliche, in Pandemiezeiten erzielte Gewinne von Unternehmen, die der inländischen Gewinnbesteuerung unterliegen, werden einer Übergewinnsteuer unterworfen.
Das löst natürlich in der Tat sofort die Frage aus: Bei welchen Gewinnen in der Coronazeit von welchen Unternehmen kann man sich vorstellen, dass sie als Übergewinne entstanden wären? Die Gewinne der Krankenhäuser vielleicht oder die der Lebensmittelindustrie, die zwar dieselben Leute wie sonst versorgt hat – wahrscheinlich mit ähnlichen Umsätzen, wenn man sie alle zusammenrechnet –, aber vielleicht in einem kürzeren Zeitraum.
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Es fällt mir schwer – ich glaube auch, es kommt sonst keiner drauf –, jetzt Übergewinne zu identifizieren, mal davon abgesehen, dass sie natürlich nicht definiert sind. Was ist ein Übergewinn? Der Kollege Güntzler hat dazu alles gesagt; das will ich gar nicht wiederholen. Aber jeder, der etwas von Steuern versteht, würde so ähnlich argumentieren.
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Also ist Ziffer 1 schon für die Hasen.
Jetzt kommt die Ziffer 2:
Eine Quellensteuer auf die in Deutschland erwirtschafteten Umsätze von Digitalkonzernen, die ihre hierzulande erzielten Gewinne im Ausland erfassen, wird eingeführt …
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Quellensteuer auf hier erwirtschaftete Umsätze ist wahrscheinlich keine Ertragsteuer. Diese Frage taucht immer auf, wenn über das Thema Digitalsteuer diskutiert wird; denn man weiß nicht – auch die OECD nicht –, ob das eigentlich eine Umsatzsteuer oder eine Gewinnsteuer wird. Wenn es eine Umsatzsteuer wird, dann ist es in der Tat so, dass nur der Verbraucher sie trägt. Das heißt, die Ertragskraft des Unternehmens würde gar nicht getroffen.
Bei der Gewinnsteuer ist es so: Wenn beispielsweise Daimler Benz, dessen Sitz in Deutschland ist, in China Autos verkauft, dann werden die Gewinne, die aus diesen Umsätzen generiert werden, gottlob in Deutschland besteuert. Das gilt für VW do Brasil, für BASF und für viele andere. Es ist hochgefährlich, bloß weil die Amis tüchtige Digitalkonzerne haben, an dieser Schraube zu drehen und so zu tun, als sei der Ort des Unternehmenssitzes nicht der maßgebliche Ort für die Frage der Gewinnbesteuerung – natürlich in einer Konzernstruktur, die die Gewinne letztlich an den Ort des Konzernsitzes schleust.
Wir haben das im Finanzausschuss über Monate immer wieder diskutiert. Ich erinnere mich an einen früheren Ministerialdirektor – er ist dann in den Ruhestand gegangen –, der immer warnend gesagt hat: Hört auf, das Steuersubstrat umzudefinieren; dann wird Deutschland der Riesenverlierer sein. – Wir sind nun einmal Exportweltmeister. Wenn der Exportweltmeister zulässt, dass das Steuersubstrat nicht mehr am Ort der Unternehmenssitze hergestellt wird, sondern da, wo die Umsätze getätigt werden, dann wird das vor allem mit Blick auf China sehr interessant, weil die Chinesen dann Steuern auf die verkauften Autos deutscher Unternehmen erheben.
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Insofern, lieber Herr De Masi, spielen Sie wirklich weit unter Ihrem Niveau. Das kann überhaupt nicht funktionieren, was in Ihren Anträgen steht. Deshalb ist die Frage, was Sie sich dabei gedacht haben, dieses – das muss man schon so sagen – wirklich armselige und dünne Papier hier vorzulegen.
Noch abschließend: In der Tat ist es erstaunlich, dass Amazon zwar weltweit eine Umsatzexplosion hatte, nicht aber in Deutschland. Ich habe mir extra noch einmal die Zahlen angeschaut. Selbst wenn sie dort herankämen, kämen Sie nicht zu einer größeren Beute, die Sie so gerne machen würden.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an Bernhard Daldrup von SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fritz, es tut mir leid, ich habe nur vier Minuten Redezeit. Deswegen kann ich es nicht so ausführlich machen, wie du das eben angefangen hast, und kann nicht über BEPS und das Steueroasen-Bekämpfungsgesetz und anderes reden.
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Es sind im Übrigen zwei Anträge, die die Linken stellen. Das Interessante an diesen Anträgen ist eigentlich das Datum der Einbringung. Daran sieht man, dass beide Anträge schon ein Stück weit überholt sind, und zwar maßgeblich durch das Handeln von Olaf Scholz; darauf komme ich gleich gerne zurück.
Die Linke fordert zum einen, die Profiteure der Coronapandemie, die großen Digitalkonzerne wie Amazon etc., steuerlich stärker zu belasten. Wer wollte dagegen etwas haben? Wir nicht. Die Übergewinnsteuer ist ein spannendes Konzept. Die Linke fordert diese Steuer aus zwei Gründen: Sie fordert sie erstens, um zu zeigen, dass sie steuerpolitisch auf der Höhe der Zeit ist. Daran habe ich eigentlich keinen Zweifel. Ich empfehle im Übrigen die Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes zu diesem Thema, 28 Seiten, da kann man alles nachlesen; Herr Glaser hat das sogar gemacht.
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Und zweitens fordert sie sie im Bewusstsein, dass der Antrag abgelehnt wird. Das wird auch passieren.
Vor drei Wochen haben sich die Finanzminister der G 7 auf eine revolutionäre Neuordnung der Besteuerung internationaler Konzerne geeinigt. Das ist doch einmal wichtig festzuhalten! Darüber haben wir jahrelang gesprochen, dass das endlich gelingt. Das ist ein historischer Durchbruch, der ohne den Einsatz von Olaf Scholz nicht passiert wäre.
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Die Internetgiganten können sich zukünftig eben nicht mehr ihrer Steuerpflicht dadurch entziehen, dass sie ihre Gewinne in Niedrigsteuerländer verschieben. Amazon, Apple, Facebook, Google werden künftig stärker zur Finanzierung von Investitionen und öffentlichen Aufgaben herangezogen, und zwar nicht irgendwie im akademischen Diskurs, sondern im tatsächlichen Leben. Jahrelang haben wir darüber diskutiert. Wird also der Gewinn in einer Tochtergesellschaft im Ausland unterhalb eines international festgelegten Mindeststeuersatzes von beispielsweise 15 Prozent besteuert, darf der Staat, in dem die Muttergesellschaft ihren Sitz hat, die Differenz zum Mindeststeuersatz nachversteuern. Ich glaube, diesen Erfolg muss man nicht dadurch relativieren, dass man mit der Übergewinnsteuer sozusagen ein neues Thema aufmacht, das nicht im Vordergrund steht.
Ich glaube, ehrlich gesagt, es wäre, statt mit interessanten Varianten der Steuerfindung zu experimentieren, eine Aufgabe der politischen Linken in Europa, dass solche Konzepte und Vereinbarungen tatsächlich Wirklichkeit werden, dass der jetzt eingeschlagene Weg stark gemacht wird, statt sich sozusagen mit akademischen Debatten auseinanderzusetzen.
Ich fand es sehr beeindruckend, wie Martin Schulz gestern nach langjähriger Erfahrung und 23 Jahren Mitgliedschaft im Europäischen Parlament genau diesen Aspekt deutlich gemacht hat und gesagt hat, wie wichtig diese Entscheidung der G 7 für Europa ist. Sie ist nicht erst auf europäischer Ebene getroffen worden. Das ist doch die politische Aufgabe, die wir als Bundesrepublik Deutschland haben. Dass das gelungen ist mit Olaf Scholz an der Spitze, dafür müssen wir, finde ich, außerordentlich dankbar sein. Das ist eine ausgesprochen gute Sache.
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Ich möchte nicht auf die Details des zweiten Antrags eingehen, sondern ihn nur kurz erwähnen. Dieser ist interessanterweise von Oktober 2019 und fordert eine Investitionspflicht für den Bund. Kurz darauf ist der unvorhergesehene Konjunktureinbruch durch die Coronakrise eingetreten. Was aber nicht eingetreten ist, ist die befürchtete Verschärfung des Investitionsstaus. Ganz im Gegenteil! Die kommunalen Investitionen haben sich trotz der Pandemie 2020 deutlich positiv entwickelt und sind 2020 um 7 Prozent gestiegen. In diesem Jahr wird mit einem weiteren Anstieg der kommunalen Investitionen um rund 10 Prozent auf 38,7 Milliarden Euro gerechnet. Vor sieben Jahren, als ich hier angefangen habe, waren das bei den Kommunen im Jahr 22 Milliarden Euro.
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Wir haben gegen die Krise nicht gespart, sondern haben mit gezielten Maßnahmen zur Konjunkturbelebung und mit zusätzlichen Investitionen reagiert. Und wenn man jetzt sozusagen auf der Höhe der Zeit sein will bei diesem Thema, dann geht es nicht darum, einfach nur die Investitionsseite zu betrachten, die zusätzlich gestärkt werden muss, sondern die Finanzverteilung vor allen Dingen zwischen Ländern und Kommunen und in Teilen auch die Steuerverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Das ist in Wirklichkeit ein Problem – das Thema Altschulden im Übrigen auch, zu deren Abbau Union und FDP leider im Moment nicht bereit sind.
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– Lernt dazu!
Ich will zuletzt darauf hinweisen, dass wir auch in den Folgejahren jedes Jahr 50 Milliarden Euro an zusätzlichen Investitionen im Haushaltsentwurf vorsehen.
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Bis 2025 ist die Rekordsumme von über 200 Milliarden Euro vorgesehen. Das heißt, alles das, was auch Die Linke noch vor wenigen Jahren für unmöglich erklärt hat und permanent gefordert hat, das ist Wirklichkeit.
Dafür sollten wir Olaf Scholz herzlich danken und sollten ihn, wenn das Wirklichkeit bleiben soll, am besten zum Bundeskanzler wählen.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. – Katja Hessel von der FDP-Fraktion hat als Nächste das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die letzte Steuerdebatte in dieser Legislaturperiode vor vielen Mitgliedern des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses beschäftigt sich mal wieder mit der Einführung einer neuen Steueridee von der linken Seite dieses Hauses.
({0})
Obwohl man sagen muss, so richtig neu ist sie nicht. Das haben wir gerade mitgekriegt; Stichwort Kriegssteuer im Ersten Weltkrieg und im Zweiten Weltkrieg. Das ist also ein Griff in die steuerliche Mottenkiste.
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Wenn man Ihnen zugehört hat, geschätzter Kollege De Masi, dann hat man gemerkt, dass es gar nicht so sehr um die Übergewinnsteuer ging; stattdessen waren wir ein bisschen im internationalen Steuerrecht unterwegs: BEPS-Prozess, OECD-Einigung, Mindeststeuer. Es kam viel, was nicht in Ihrem Antrag steht – dazu haben die Kollegen vorhin auch schon etwas gesagt; denn der Antrag an sich ist relativ dünn.
Wenn man sich das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes durchgelesen hat, der aufzeigt, was Übergewinne sind, dann wird klar: Es sind Krisengewinne, Pandemiegewinne. Hier wird es aber schwierig; das sage ich ganz vorsichtig. Schaut man sich Unternehmen an, die in den letzten Jahren trotz schwieriger wirtschaftlicher Lage Gewinne gemacht haben, fällt mir zum Beispiel ganz vorne BioNTech ein. Was haben wir BioNTech für den Impfstoff gefeiert! BioNTech hat seinen Gewinn im letzten Jahr verzehnfacht. Wollen wir jetzt diese Gewinne, die in neue Impfstoffe, in die Gesundheit fließen würden, nehmen, um Schulden an anderer Stelle abzubauen? Ich glaube, das kann es nicht sein, Kollege De Masi.
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Auch wenn Sie das ständig bestreiten – Kollege Güntzler hat das noch einmal vorgelesen –, es geht natürlich um die Digitalsteuer als Umsatzsteuer, als Quellensteuer zusätzlich obendrauf, weil auch Sie dahintergekommen sind, dass die Amazons dieser Welt überhaupt nicht mittels einer Übergewinnsteuer zu besteuern wären. Auch da ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass die Kosten zum Schluss der Verbraucher trägt.
Vor allem geht es auch um den Punkt, dass wir gerade jetzt durch die Mindeststeuer in den OECD-Ländern in dem Bereich sind, wo wir hin müssen. Wir können die ganzen Probleme nicht national lösen. Wir müssen sie im internationalen Kontext lösen. Ich bin sehr froh, dass hier eine Einigung erzielt worden ist.
Nichtsdestotrotz – auch dieser Punkt muss noch einmal erwähnt werden – ist es für Deutschland ein gefährlicher Weg. Wir verlieren damit auch Steuersubstrat,
({3})
auch wenn es momentan sehr weit oben ist; aber dies ist der Einstieg. Wir sind nun einmal eine Exportnation und müssen sehr darauf aufpassen, wohin unser Steuersubstrat geht. Herr Scholz, es ist sehr schön, dass Sie an dieser Debatte teilnehmen. Hier noch einmal der Hinweis von vor drei Wochen: Gut aufpassen, dass unser Steuersubstrat in Deutschland gehalten wird!
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Es ist die letzte Debatte vor der Wahlpause, in der man noch mal überlegen sollte: Wie kann man eigentlich dafür sorgen, dass wir aus dieser Krise wieder herauskommen? Wäre es der richtige Weg, dass wir die, die in der Krise Geld gemacht haben, dafür bestrafen, oder wäre es der richtige Weg, dass wir die, die jetzt in Zukunft Entlastungen brauchen, damit wir als Wirtschaftsstandort wieder stark werden, unterstützen?
Wir brauchen natürlich dringend eine Modernisierung des Unternehmensteuerrechts, Kollege Güntzler.
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Ich freue mich, wenn das in der nächsten Legislaturperiode nicht nur bei jeder Rede der CDU/CSU hier am Rednerpult erwähnt wird, sondern wenn es auch mal Eingang in die Gesetzgebung findet.
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– Wenn ihr uns ein gutes Angebot macht, dann regieren wir natürlich gerne mit. Das sagen wir oft genug.
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Es liegt halt auch immer – so ist es bei vielen Sachen – an Angebot und Nachfrage, lieber Kollege Güntzler.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich möchte diese Rede noch nutzen, um mich zu bedanken; es ist die letzte finanzpolitische Debatte in dieser Legislaturperiode. Ich darf mich bei allen Kollegen im Finanzausschuss ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit bedanken. Auch wenn wir thematisch, wie wir dem Hohen Haus immer zeigen, sehr unterschiedlich unterwegs sind, arbeiten wir im Finanzausschuss doch eigentlich sehr gut zusammen.
Ich möchte die Gelegenheit hier am Pult auch nutzen, um mich bei den Kolleginnen und Kollegen, die den Finanzausschuss verlassen werden, ganz herzlich zu bedanken und ihnen für die Zukunft alles Gute zu wünschen. Ich freue mich, wenn ich mit den Kollegen, die im Finanzausschuss bleiben – ich hoffe, ich darf auch wieder Mitglied im Finanzausschuss sein –, in der nächsten Legislaturperiode daran arbeiten kann, dass aus dem Finanzausschuss noch viel bessere Steuergesetze kommen.
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Bleiben Sie in der Sommerpause gesund. Wir werden die Anträge natürlich ablehnen.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Kollegin Hessel. – Das Wort geht an Lisa Paus von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über ein Jahr Pandemie liegt inzwischen hinter uns. Hoffentlich sind bald alle, die es wollen, auch zweimal geimpft. Hoffentlich bereiten wir uns in diesem Sommer besser auf den Herbst vor als im letzten Sommer, damit mit Delta nicht die vierte Welle rollt und unsere Kinder wieder die Hauptleidtragenden sein werden. Die Krise ist noch nicht vorbei. Aber es lohnt sich, heute eine kleine Zwischenbilanz zu ziehen, wie Deutschland wirtschaftlich durch die Krise gekommen ist.
Wir wissen, Covid hat die Ärmsten in unserer Bevölkerung nicht nur am Härtesten und am Existenziellsten getroffen, sondern wir wissen inzwischen auch, dass sich durch Covid-19 die Schere zwischen Arm und Reich noch einmal drastisch vergrößert hat. Wir wissen: Die Wirtschaft wurde durch Covid sehr, sehr unterschiedlich getroffen.
In den Straßen sehen wir langsam, wie viele Geschäfte, wie viele Kneipen, Cafés, wie viele Restaurants aufgeben mussten. Alle kennen sicherlich aus ihrem Bekanntenkreis mindestens noch mal genauso viele, die mit verdeckter Not zu kämpfen haben, gerade Soloselbstständige, Veranstalter, Kulturschaffende.
Auf der anderen Seite ist der größte Teil der Wirtschaft, Gott sei Dank, auch dank Milliarden öffentlicher Mittel ganz ohne wirtschaftliche Einbußen durch die Krise gekommen. Es gab auch Dritte, die aufgrund des Lockdowns sogar von der Krise profitiert haben, zum Beispiel Maskendealer von der CDU/CSU,
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zum Beispiel Supermarkt- und Baumarktketten, zum Beispiel DHL und andere Paketlieferer, vor allem aber Amazon und Co, während der stationäre Einzelhandel zusehen und Hygienekonzepte machen musste.
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Das, meine Damen und Herren, ist aus mindestens drei Gründen bitter:
Erstens. Amazon profitierte zwar am meisten und hat seine Milliardengewinne verdreifacht, Amazon zahlt aber von diesen Erträgen keinen einzigen Euro Steuern für das Gemeinwesen in Deutschland. Das ist ein Problem, meine Damen und Herren.
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Zweitens. Das ist nicht nur bitter für unser Gemeinwesen, sondern eben auch für den stationären Einzelhandel. Denn der Einzelhandel hat Marktanteile verloren, der Einzelhandel hat im Gegensatz zu den vollen Kassen von Amazon jetzt leere Kassen, und der Einzelhandel muss jetzt trotzdem Geld in neue angepasste Geschäftsmodelle investieren. Das ist kein fairer Wettbewerb, meine Damen und Herren.
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Drittens. Es ist bitter, weil es so nicht hätte kommen müssen. Wir Grüne fordern seit Jahren eine faire Besteuerung des Cafés um die Ecke und von Starbucks, des lokalen Einzelhandels und von Amazon und Co. Schon seit 2017/18 liegen Vorschläge der EU-Kommission für eine europäische Digitalsteuer auf dem Tisch. Aber Deutschland, vorneweg Olaf Scholz und die CDU/CSU, haben diese Vorschläge auf europäischer Ebene blockiert. Dabei hatten Merkel und Olaf Scholz noch 2018 in Meseberg verkündet, dass die Digitalsteuer kommt. Aber auf Druck von Lobbyverbänden haben Scholz und Altmaier diese Pläne fallen lassen. Das rächt sich jetzt in dieser Krise doppelt. Es geht zulasten des Einzelhandels und führt zur Verödung der Innenstädte, meine Damen und Herren.
Daran ändert auch die Feier von Olaf Scholz zur jüngst vom G‑7-Gipfel verkündeten 15 Prozent Mindeststeuer erst einmal gar nichts. Denn die Wahrheit ist: Der G‑7-Beschluss zur Mindeststeuer verdeckt, dass man sich eben gerade nicht, wie eigentlich vereinbart, unter den 137 OECD-Staaten geeinigt hat. Das war der Plan, das war das Versprechen von Olaf Scholz. Statt einer europäischen Digitalsteuer hatte er eine weltweite ab spätestens 2021 versprochen. Aber geliefert hat er bisher nichts.
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Selbst wenn ich mal unterstelle, dass der G‑7-Beschluss irgendwann Gesetz wird: Ob dann diese von Olaf Scholz verhandelte globale Mindeststeuer wirklich zu einer Verringerung der Steuerlücke bei Digitalkonzernen führen wird, das bleibt wahrlich abzuwarten. Amazon beispielsweise macht 7,7 Prozent seines weltweiten Umsatzes zurzeit in Deutschland. Laut G-7-Kompromiss wird es dann aber auch weiterhin so sein, dass diese 7,7 Prozent nicht der deutschen Besteuerung unterliegen, sondern nur 20 Prozent davon oder womöglich nur 20 Prozent des Residualgewinns. Der Rest wird vermutlich weiterhin in Steuersümpfe fließen, vermutlich sogar mehr. Denn da man sich nicht einmal unter den G‑7-Ländern auf 21 Prozent Mindestbesteuerung einigen konnte, sondern nur auf 15 Prozent, bleibt die Gewinnverschiebung weiterhin attraktiv. Die unfaire Verteilung von Last und Profit in der Covid-Krise findet aber jetzt statt.
Weltweit findet deswegen – nicht nur hier – aktuell eine Diskussion darüber statt, ob und wie die Unternehmen, die durch die staatlichen Maßnahmen eine Art Monopolgewinn machen konnten, weil die Märkte für andere eben eingeschränkt waren, einen Teil dieser Extraprofite durch eine Extrasteuer an das Gemeinwesen zurückgeben. Ökonomen weltweit empfehlen es, der IWF empfiehlt es. Die südkoreanische Regierung diskutiert es. Es gibt historische Beispiele, die zeigen, dass solch eine Maßnahme wichtig sein kann, um eben das Vertrauen in die Fairness von Politik und Wirtschaft zu erhalten, damit dieses keinen Schaden nimmt.
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Es gibt auch konkrete Vorschläge der Umsetzung, wie zum Beispiel die Invested Capital Method oder auch die Average Earnings Method. Eine solche Maßnahme wäre auch mit dem Grundgesetz vereinbar. Das hat ein von mir beauftragtes Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes bestätigt.
Die Krise ist noch nicht vorbei. Der Zeitpunkt für solche Überlegungen in Deutschland ist aktuell definitiv zu früh. Aber der Fall „Amazon versus Einzelhandel“ zeigt: Es gibt Handlungsbedarf. Wir werden darüber reden müssen, und wir brauchen eine noch höhere globale Mindeststeuer, meine Damen und Herren.
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Das Wort geht an die CDU/CSU-Fraktion mit Sebastian Brehm.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin dankbar für diesen Tagesordnungspunkt, die letzte steuerpolitische Debatte und die Anträge der Linken; denn die Diskussion darum zeigt deutlich, welche unterschiedlichen Zukunftskonzepte zum Erhalt unserer Wettbewerbsfähigkeit und damit zum Erhalt der Arbeitsplätze in unserem Land zur Wahl stehen.
Wir haben in dieser Wahlperiode als CDU/CSU-Bundestagsfraktion viel vorangebracht. Wir konnten in der größten Krise der Nachkriegszeit wichtige Impulse setzen und Maßnahmen ergreifen für den Erhalt der Arbeitsplätze und die Stabilisierung unserer mittelständischen Struktur. Dies konnten wir nur erreichen, liebe Kolleginnen und Kollegen, weil wir ein Jahrzehnt lang solide Haushaltspolitik ohne neue Schulden und sogar mit einem deutlichen Abbau der Staatsverschuldung bis zur Krise gemacht haben. Das trägt die Handschrift der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
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Liebe Kollegen, kein Land in Europa, kein Land in der Welt konnte in der Krise solche Leistungen erbringen wie wir. Ob es das wichtige Instrument war, das Kurzarbeitergeld, die notwendigen Hilfen in der Pandemie für die Unternehmen, die Entlastung und Unterstützung der Familien oder die großen Investitionen in unsere Infrastruktur und in unsere Kommunen – nur durch diese solide Politik war dies möglich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da ist ein großer Unterschied zwischen den Parteien hier im Hause: Wir wollen zu dieser soliden Haushaltspolitik mit einer schwarzen Null schnellstmöglich zurückkehren; denn das ist nachhaltige Politik für unsere Zukunft. Hier gibt es unterschiedliche Konzepte zwischen Rot-Rot-Grün und uns in der Mitte. Ich glaube, wir brauchen das dringend, um auch die künftigen Generationen damit nicht zu belasten.
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Die Krise hat aber auch gezeigt, dass in manchen Bereichen, ob in der Bildung, in der öffentlichen Verwaltung oder auch im Mittelstand, noch enorme Investitionen in Digitalisierung, Internationalisierung und die Klimaneutralität bevorstehen. Gerade an diesem Punkt, liebe Kollegen, sei es auch erlaubt, zum Abschluss dieser Sitzungswoche mal Danke zu sagen. Danke an die Familien, die in der Pandemie sehr, sehr stark belastet waren. Danke an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in Kurzarbeit waren, und an die vielen Fleißigen, die unter schwierigsten Bedingungen gearbeitet haben. Danke an die Hotellerie, Gastronomie, die Schausteller, die Messe- und Reiseveranstalter, nicht zuletzt auch die Kunst- und Kulturschaffenden und viele andere für ihre Geduld, für das konstruktive Miteinander in diesen schweren Zeiten. Ich habe davor großen Respekt. Das war für niemanden einfach. Danke möchten wir an dieser Stelle einfach einmal sagen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun geht es darum, wie wir ein Programm für Wachstum, für Stabilität und Erneuerung, für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in unserem Land und für die Stärkung von „Made in Germany“ erreichen.
Hierzu gibt es einen wesentlichen Unterschied hier im Hause, der in dieser Diskussion, glaube ich, auch sehr deutlich wird. Die eine Seite des Hauses will abschöpfen: mehr Belastungen für den deutschen Mittelstand, Einführung einer Vermögensteuer, Einführung einer Vermögensabgabe oder sogar eines Lastenausgleichs. Dieses Konzept der Linken, der Grünen und der SPD wird Arbeitsplätze in Deutschland kosten und wird die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland nachhaltig schädigen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die andere Seite haben wir ja auch in dieser Woche in der Europadebatte erlebt. Sie will aus dem europäischen Binnenmarkt und aus Europa aussteigen, eine der wesentlichen Grundlagen für unseren Wohlstand, und leugnet den Klimawandel. Aber nur wer Liquidität hat, liebe Kolleginnen und Kollegen,
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kann auch in Zukunft investieren. Schränken wir die Liquidität ein durch Abschöpfung von Gewinnen, durch Mehrbelastung, durch Substanzbesteuerung, wie Sie das fordern, werden die Wettbewerbsfähigkeit und die Zukunftsfähigkeit in unserem Land nachhaltig beschädigt.
Wir wollen eine Besteuerung in Deutschland auch für die Digitalkonzerne vornehmen, die Wertschöpfung in Deutschland erzielen, selbstverständlich. Aber, lieber Herr Kollege De Masi, ich glaube, das kann nicht einfach auf nationaler Ebene stattfinden – da reicht kein einfacher Satz in einem Antrag –, sondern es muss international abgestimmt sein. Diese internationale Abstimmung – das wurde auch schon in der Debatte erwähnt – findet statt, und es konnten wichtige Impulse gesetzt werden.
Aber es geht um zwei Dinge: einmal um die Mindestbesteuerung in der internationalen Besteuerung. Hier konnten wir einen ersten Erfolg erreichen. Zweitens geht es darum, letztlich die Digitalbesteuerung einzuführen. Aber das ist gar nicht so einfach. Würde Deutschland als Exportnation sie national einführen, würden wir mehr Steuern verlieren als bekommen.
Jetzt komme ich zu Ihrer ersten Forderung:
Außerordentliche, in Pandemiezeiten erzielte Gewinne von Unternehmen, die der inländischen Gewinnbesteuerung unterliegen, werden einer Übergewinnsteuer unterworfen.
Sie wollen also abschöpfen. Damit schöpfen Sie aber nicht bei denen ab, bei denen Sie abschöpfen wollen, sondern damit schöpfen Sie beim deutschen Mittelstand ab.
Jetzt nehme ich mal einen ganz normalen deutschen Mittelständler – nehmen wir mal einen Handwerksbetrieb –, der vielleicht in der Pandemie mehr verdient hat, weil viele umgebaut haben, weil viele Baumaßnahmen stattgefunden haben, weil auch die Preise gestiegen sind. Die Mitarbeiter waren fleißig und haben unter Pandemiebedingungen gearbeitet. Er hat einen Mehrgewinn gemacht, zahlt 52 Prozent Steuern in Deutschland und wird jetzt durch eine Abschöpfung vom Mehrgewinn belastet. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, das ist Planwirtschaft, das ist doch keine soziale Marktwirtschaft. Mit uns kann dieses nicht passieren.
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Dann kommt übrigens, wenn Sie abgeschöpft haben, noch die Vermögensteuer dazu und für die nächste Generation die höhere Erbschaftsteuer.
Wir wollen ein anderes Konzept. Ich glaube, das schaffen wir nur, wenn wir mit Wachstum aus der Krise kommen. Wachstum schaffen wir nur, indem wir Liquidität für die Unternehmerinnen und Unternehmer, aber auch die Entlastung der Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen schaffen. Dies haben wir in unserem Programm so stehen. Wir wollen damit mehr Einnahmen im Staat haben, um die Kosten der Pandemie abzufedern, und wir werden das auch schaffen.
Wir brauchen Investitionen in Digitalisierung, einen Umbau hin zu einer nachhaltigen und ökologischen Marktwirtschaft. Jeder Cent, den Sie jetzt abschöpfen, trägt dazu bei, dass es zu weniger Investitionen kommt und dass die Motivation der Unternehmerinnen und Unternehmer auf dem Nullpunkt ist.
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Wir brauchen ein neues Vertrauen in unseren Mittelstand, ohne Neid, ohne Missgunst, sondern mit sozialer Marktwirtschaft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dazu gehört die Modernisierung der Unternehmensbesteuerung in Deutschland; hier haben wir ja ein weitreichendes Konzept vorgelegt. Dazu gehört auch, die Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen zu entlasten. Dieses Vertrauen wollen wir geben. Deswegen steht in unserem Wahlprogramm auch: „Gemeinsam für ein modernes Deutschland“.
Herzlichen Dank.
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Danke schön. – Das Wort geht an Volker Münz von der AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Linke hat in ihrem Antrag auf Einführung einer Investitionspflicht zwar mit der Feststellung recht, dass die öffentliche Infrastruktur in Deutschland in einem schlechten Zustand ist. Ja, Deutschland investiert zu wenig in seine Infrastruktur und gefährdet damit seinen Wohlstand. Unser Staat lebt von der Substanz, in vielfacher Hinsicht. Die Bundesregierung, die Landesregierungen und die Kommunen fahren die Infrastruktur auf Verschleiß, egal wo man hinschaut: bei Straßen, Brücken, Bundeswehr und anderem. Hier muss dringend gegengesteuert werden, meine Damen und Herren.
Völlig falsch wäre es allerdings, dafür die Schuldenbremse abzuschaffen. Darum geht es doch der Linken hier. Dem werden wir nicht zustimmen, meine Damen und Herren.
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Dabei kommt der Antrag der Linken aus dem Oktober 2019 auch noch völlig zur Unzeit: Die Schuldenbremse ist ausgesetzt worden, es wird Geld ausgegeben, als gäbe es kein Morgen. Im letzten Jahr wurden Nettokreditaufnahmen in Höhe von 130 Milliarden Euro getätigt. Für dieses Jahr werden 240 Milliarden Euro geplant, so viel wie noch nie zuvor. Das Geld aus dieser gigantischen Schuldenaufnahme wird in weiten Teilen nicht investiv ausgegeben, um zum Beispiel den Investitionsstau abzuarbeiten, sondern überwiegend für konsumtive Ausgaben. An dem Schuldendienst werden noch die nachkommenden Generationen zu tragen haben. Die Aufhebung der Schuldenbremse verstößt eklatant gegen das Prinzip der Generationengerechtigkeit, meine Damen und Herren.
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Auf den Investitionsstau mit einer dauerhaften Lockerung bei der Schuldenaufnahme zu reagieren oder mit einer jährlichen Ausgabenverpflichtung, ist falsch, meine Damen und Herren. Ganz im Gegenteil müssen die Haushalte jetzt wieder konsolidiert werden. Darauf kommt es jetzt an. Gleichzeitig die Investitionslücke in Deutschland zu schließen, ist möglich, wenn investive Ausgaben stärker in den Vordergrund rücken, anstatt auf immer neue Subventionen, Transferausgaben und planwirtschaftliche Maßnahmen zu setzen, die die Finanzmittel an falscher Stelle binden.
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Es müssen also Fehlallokationen und schuldenfinanzierter Konsum zurückgeführt werden. Statt die Schuldenbremse aufzugeben, müssen nichtinvestive Ausgaben insbesondere für linke Ideologien drastisch reduziert werden.
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Kredite sollten immer investiv verwendet werden, um nicht die Haushaltsspielräume zukünftiger Generationen einzuschränken. Daher wird meine Fraktion auch diesen Antrag der Linken ablehnen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt unsere Kollegin Sonja Amalie Steffen von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Fraktion Die Linke! Auch ich möchte mich für Ihre Anträge ausdrücklich bedanken, und zwar gleich aus mehreren Gründen. Es gibt mir die Gelegenheit, meine letzte Rede hier im Bundestag zu einem wichtigen Thema zu halten,
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und ich kann meine Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass wir vieles von dem, was Sie in Ihren Anträgen fordern, schon in die Wege geleitet haben. Anscheinend haben Sie Ihre eigenen Anträge vor der Debatte gar nicht mehr gelesen; denn dann wäre Ihnen doch aufgefallen, dass sie zum Teil längst überholt sind.
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Unser Finanzminister Olaf Scholz hat bereits dafür gesorgt, dass sich die G-7-Staaten auf eine Internetsteuer geeinigt haben.
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Mein Kollege Bernhard Daldrup hat es bereits wunderbar erklärt; ich fasse mich daher kurz: Internetkonzerne müssen in Zukunft da Steuern zahlen, wo sie ihren Umsatz erwirtschaften, und nicht da, wo sie ihren Sitz haben. Damit werden viele Steuersparmodelle der Vergangenheit angehören. Zusammen mit dem weltweiten globalen Mindeststeuersatz schaffen wir also genau das, was Sie, jedenfalls zum Teil, fordern: Wir bitten die Internetgiganten wie Amazon, Facebook und Google zur Kasse, und damit können wir auch bei uns in Deutschland mit mehreren Milliarden an Steuermehreinnahmen rechnen.
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Ihr zweiter Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, gehört erst recht in die Mottenkiste. Und wenn jetzt schon drei Rednerinnen und Redner, nämlich der Kollege Güntzler, die Kollegin Hessel und ich diesen Begriff verwenden, spätestens dann würde ich mir an Ihrer Stelle wirklich ernsthaft Gedanken machen.
Sie wollen mit dem Antrag aus 2019 eine Investitionspflicht einführen. Das hört sich ja so an, als würden wir gar nicht investieren. Dabei investieren wir landauf, landab. Alleine im aktuellen Haushalt 2021 investieren wir insgesamt 61,9 Milliarden Euro – der Kollege Daldrup hat es vorhin schon gesagt –, davon sind 38 Milliarden Euro für die Kommunen. Mit der mittelfristigen Finanzplanung – sie ist ja letzte Woche veröffentlicht worden – werden wir bis 2025 mit Olaf Scholz als unserem Bundeskanzler über 200 Milliarden Euro in Investitionen stecken.
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Ihre Anträge sind also bereits jetzt Geschichte, liebe Linke.
Meine Zeit im Bundestag ist es allerdings auch schon recht bald. Ich werde dem nächsten Bundestag nicht mehr angehören, und daher ist es Zeit, Abschied zu nehmen.
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Während ich aktuell ganz viele letzte Male habe – das geht den anderen, die sich verabschieden, wahrscheinlich ähnlich – und mich von Arbeitsgruppen, Gremien, Ausschüssen und allem Möglichen verabschiede, habe ich am Mittwoch auch noch etwas komplett Neues erlebt. Ich wurde nämlich, zumindest noch bis zum Ende der Legislaturperiode, zur Vorsitzenden der Wahlrechtskommission gewählt und habe zum ersten Mal einen Ausschuss geleitet.
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Und ja, ich war fast so aufgeregt wie damals bei meiner ersten Rede 2009.
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Vorgeschlagen für den Vorsitz wurden der Kollege Ansgar Heveling von der CDU und ich, und zwar von Britta Haßelmann von den Grünen. Gewählt wurden wir fraktionsübergreifend.
Spätestens jetzt denken Sie wahrscheinlich: Warum erzählt sie das in ihrer letzten Rede? Es geht mir um etwas, was hier im Plenum nicht immer ersichtlich wird, nämlich darum, zu zeigen, dass wir in den Ausschüssen und auf der Arbeitsebene überwiegend gut und fraktionsübergreifend zusammenarbeiten.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, als ich 2009 neu in den Deutschen Bundestag kam, gab es – ich ging in den Rechtsausschuss – einen Staatssekretär im Justizministerium, den vor allem die Kolleginnen und Kollegen von der FDP vielleicht noch gut kennen, aber viele andere auch. Es war Max Stadler von der FDP. Einige von Ihnen werden sich noch an ihn erinnern. Jedenfalls waren wir, die SPD, damals in der Opposition. Aber er hatte immer ein Ohr für unsere Anliegen. Er war nicht nur ein feiner Kerl, sondern ich habe bei ihm gelernt, was gute kollegiale Zusammenarbeit bedeutet, und zwar unabhängig vom Parteibuch.
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Dass man immer dann am erfolgreichsten ist, wenn man zusammenarbeitet, haben wir auch in der Region unter Beweis gestellt. – Lieber Eckhardt Rehberg, liebe Kerstin Kassner und liebe Claudia Müller, ihr wisst, wovon ich rede.
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Besonders genossen habe ich auch die kollegiale Zusammenarbeit in den Ausschüssen. Ich freue mich, dass zu dieser Stunde noch so viele Kolleginnen und Kollegen vom Haushaltsausschuss da sind. Und ich hoffe, dass wir unseren Herdenschutzesel einpacken und dann wie Hase und Igel am nächsten Black Friday gemeinsam über die Brunsbütteler Schleuse zum Reeperbahn Festival segeln, um dort gemeinsam einen Glühwein zu trinken. – Und wer diesen Insider jetzt versteht, der weiß, ich komme nun zum Schluss.
Gestatten Sie mir, am Ende meiner letzten Rede noch zwei Namen zu nennen, die mir nicht nur Kollegen, sondern auch echte Freunde waren. Es ist sehr schade, dass sie heute nicht dabei sein können. Das ist Toni Schaaf, und das ist Thomas Oppermann.
Liebe Dagmar, ich freue mich sehr, dass du mir heute den Rücken stärkst. Aber ich bin lange Zeit fest davon ausgegangen, dass bei meiner letzten Rede Thomas hinter mir im Präsidium sitzen wird und dass ich dann anschließend mit Toni zusammen ein Bier trinken werde. Jedoch, was bleibt? Ich bin dankbar für die vielen tollen Menschen und Begegnungen in den Jahren hier im Parlament und vor allem in meiner SPD-Fraktion.
Ich bedanke mich auch bei meinem Team. Ich weiß, die hören das nicht gerne; aber sie sitzen oben auf der Tribüne. Und wir alle wissen: Ohne ein gutes Team wären wir nichts. – Daher auch an Sie herzlichen Dank.
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Ich bin vor allem dankbar, dass ich drei Legislaturperioden Abgeordnete des Deutschen Bundestages sein durfte.
Macht es gut!
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Herzlichen Dank, liebe Kollegin Steffen. Das Präsidium bedankt sich im Namen des Hauses für die immer sehr kollegiale, konstruktive Zusammenarbeit. Wir wissen, was wir an Ihnen hatten und was wir mit Ihnen verlieren. Wir wünschen Ihnen beruflich viel Erfolg und vor allem im persönlichen Bereich alles, alles Gute. Danke schön!
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Das Wort geht an Christian Haase von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Und täglich grüßt das Murmeltier – mal wieder ein Antrag der Linken zu öffentlichen Investitionen nach den Mottos „Viel Geld hilft viel“, „Schuldenmachen kostet nichts“ und „Verfassungsrechtliche Zuständigkeiten kümmern uns nicht“. Ein bisschen mehr Kreativität, ein bisschen mehr Detailarbeit würde ich von einer Oppositionspartei erwarten.
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Ja, wir müssen unsere Infrastruktur erhalten. Ja, es gibt auf der kommunalen Ebene einen Investitionsstau. Nein, es liegt nicht allein am fehlenden Geld, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ein Blick auf den Bundeshaushalt zeigt es schon: Die bereinigten Ausgaben für öffentliche Investitionen sind von 25 Milliarden Euro im Jahr 2014 bis 2019, also vor der Krise, auf 38 Milliarden Euro gestiegen, ein Zuwachs von circa 9 Prozent pro Jahr, und das mit der Schuldenbremse. Deshalb schon hier mein Hinweis an alle, die Steuererhöhungen und Schulden als einzige Lösung für die finanziellen Herausforderungen der Zukunft sehen: Nein, wir sollten alle Bemühungen darauf richten, Wachstum und Beschäftigung in unserem Land zu schaffen.
Meine Damen und Herren, die Investitionsausgaben sind wesentlich schneller gestiegen als sowohl die Einnahmen als auch die konsumtiven Ausgaben. Es ist also auch eine Frage der richtigen Priorisierung. Ich sehe aber keinen Vorschlag im Antrag, wo bei konsumtiven Ausgaben, zum Beispiel bei den Sozialleistungen, gespart werden soll. Das trauen sich die Linken anscheinend nicht.
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Aber lassen Sie uns auf den Kern des Problems kommen; der Schuh drückt doch an einer ganz anderen Stelle: Wir bekommen die ausreichend vorhandenen Mittel nicht oder nicht schnell genug auf die Straße. Noch mehr Geld ins Schaufenster zu stellen und am Ende des Haushaltsjahres wieder einzusammeln, hilft niemandem, meine Damen und Herren.
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Oder: Schauen wir uns ein Sondervermögen an, den Kommunalinvestitionsförderungsfonds. Trotz eines Bundesanteils von 90 Prozent flossen die Fördermittel zunächst sehr langsam ab. Nach anderthalb Jahren waren weniger als 1 Prozent der 3,5 Milliarden Euro ausgezahlt worden. Nach drei Jahren waren es dann 18 Prozent der Mittel. Der Fonds musste anschließend mehrfach verlängert werden.
Wo also drückt der Schuh? Insbesondere im Bausektor sind die Kapazitäten seit längerer Zeit ausgelastet. Mehr Geld bringt also nicht automatisch mehr Investitionen. Eine zusätzliche Nachfrage in Milliardenhöhe sorgt vielmehr für weitere Preiserhöhungen. Private Investoren, etwa im Wohnungsbau, hätten dann das Nachsehen. Die Linken wollen also Bauen und Mieten noch teurer machen.
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Wo wir allerdings ansetzen können, ist ein weiterer Flaschenhals: die Planungs- und Genehmigungsverfahren. Klar, man kann jetzt wie die Linken sagen: Viel Geld hilft viel, wir brauchen einfach mehr Planungskapazitäten. – Oder man geht mit Steuergeld verantwortungsvoll um und arbeitet stattdessen an einem Entfesselungspaket,
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um Planungen und Genehmigungen zu beschleunigen.
Als Union haben wir in dieser Legislaturperiode bereits die Verfahren für Investitionen im Verkehrssektor vereinfacht. Für die weitere Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren haben wir konkrete Vorschläge:
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komplett digitalisierte Planungsprozesse, Nutzen der Blockchain-Technologie, eine neue Beteiligungskultur, die mehr Transparenz bringt und alle Akteure frühzeitig einbindet, Optimierung des Verwaltungsrechtswegs, einheitliche Standards bei umweltfachlichen und technischen Fragen, bessere Vernetzung der Behörden und auf EU-Ebene ein einfacheres Beschaffungs- und Vergabeverfahren. Dieser kurze Auszug aus unserem aktuellen Regierungsprogramm macht deutlich, dass viel mehr möglich ist als das linke Mantra von „Viel Geld hilft viel“. Deshalb von dieser Stelle die ganz klare Ansage: Die Schuldenbremse bleibt, meine Damen und Herren; denn sie hat sich bewährt.
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Verbesserungsbedarf herrscht an anderer Stelle. Unser föderaler Staat braucht klare Zuständigkeiten, um effektiv zu arbeiten. Die Bürgerinnen und Bürger müssen wissen, wer für was in unserem Staat verantwortlich ist. Die Mischfinanzierung hat seit der letzten großen Föderalismusreform leider wieder zugenommen. Es steht außer Frage, dass der Schwerpunkt der staatlichen Investitionstätigkeit nicht beim Bund oder bei den Ländern, sondern auf der kommunalen Ebene liegt, und das ist auch gut so. Vor Ort trifft man nämlich passgenaue Entscheidungen. Dafür brauchen die Kommunen aber auch eine angemessene Finanzausstattung. Verlässliche Finanzierungsquellen sind dabei besser als bürokratieintensive Förderprogramme.
Ein positives Beispiel für die Entlastung der Kommunen waren die 3,4 Milliarden Euro, die wir für Kosten der Unterkunft zusätzlich zur Verfügung gestellt haben, oder die Übernahme der Gewerbesteuerausfälle durch Bund und Länder im letzten Jahr.
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Das war ein guter Einmaleffekt. Was wir brauchen, ist aber eine nachhaltige Finanzierung. Deswegen setzen wir uns dafür ein, die Umsatzsteueranteile für die Kommunen in der nächsten Legislatur zu erhöhen.
Geld ist also grundsätzlich im Staatsgefüge ausreichend vorhanden. Es kommt auf die richtige Priorisierung und Zuteilung an. Unser Motto ist daher nicht „Viel Geld hilft viel“, sondern konkrete Politik: Planungsverfahren straffen, Bürokratiefesseln lösen, Mischzuständigkeiten abbauen. Unser Regierungsprogramm zeigt den Weg. Folgen Sie uns!
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Vielen Dank. – Als letzte Rednerin in der Debatte hören wir Cansel Kiziltepe von der Fraktion der SPD.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Legislatur ist fast zu Ende, aber es gibt noch immer viel zu tun. Kein Beispiel zeigt das so sehr wie der Fall Amazon. Das Unternehmen ist der Prototyp des digitalen Kapitalismus. Es geht um grundsätzliche Probleme, die auch strukturelle Lösungen brauchen.
Es fängt bei der Besteuerung an. Amazon hat es perfektioniert, sich vor der Finanzierung des Gemeinwesens zu drücken. Wie kaum ein anderes Unternehmen landet Amazon immer wieder in den Schlagzeilen, weil es so wenig Steuern zahlt. Sogar die Corona-Rekordumsätze konnte das Unternehmen in ein Minus umrechnen. Darauf kann es nur eine Antwort geben: Make Amazon Pay!
Dafür müssen wir unser Steuersystem grundsätzlich reformieren. Auf der OECD-Ebene haben wir diesen Prozess angestoßen. Nicht ohne Grund sprechen Kommentatoren von einer Steuerrevolution. Geplant sind neue Besteuerungsrechte für Übergewinne und eine globale Mindestbesteuerung.
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Und das verdanken wir Olaf Scholz.
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Wie kein anderer hat der Finanzminister für diese internationale Reform gekämpft.
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Die digitale Wirtschaft muss endlich fair besteuert werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was Die Linke hier hingegen als Antrag vorgelegt hat, ist leider vollkommen unausgegoren und überholt. Diesen Schnellschuss tragen wir auch nicht mit.
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Doch bleiben wir bei Amazon. Der Fall wirft weitere grundsätzliche Fragen auf, unter anderem die uralte Frage der guten Arbeit. Denn eines ist klar: Die meiste Arbeit bei Amazon ist nicht innovativ, sondern prekär. Damit ist Amazon nicht allein. Eine ganze Reihe von Start-ups und FinTechs predigen Innovation, entwickeln aber neue Formen der Ausbeutung. Unter dem Deckmantel von flachen Hierarchien und cooler Unternehmenskultur höhlen sie die Errungenschaften der Arbeiterbewegung aus. Oft behaupten sie nämlich, Mitbestimmung gehöre in die Old Economy. Das ist ein Märchen.
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Das zeigen auch die zahlreichen Streiks bei Amazon oder bei Gorillas in meinem Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg deutlich. Auch in der New Economy geht es um gute Arbeit und gute Löhne. Deswegen kann auch hier nur die Antwort sein: Make Amazon Pay!
Vielen Dank.
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– Das wird jetzt nicht dieselbe Rede. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Fall Wirecard ist nicht nur ein Krimi, sondern auch ein Lehrstück, und das nicht nur dafür, wie Gier und Täuschung miteinander verwoben sein können, sondern auch dafür, dass bei zu viel Nähe der kritische Abstand verloren geht. Umso wichtiger war die öffentliche Aufklärung der vergangenen Monate – ein wertvoller Beitrag, wie ich meine, nicht nur für unseren Wirtschaftsstandort, sondern auch für unsere Demokratie. Vielen Dank an alle Kolleginnen und Kollegen!
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Die Lehren aus dem Wirecard-Skandal sind so zahlreich, dass es unmöglich ist, sie in einer Rede zusammenzufassen. Ich möchte mich daher hier auf drei Punkte konzentrieren: Zum einen: Wirecard ist die Geschichte einer kriminellen Bande, die es bis in den DAX geschafft hat. Zum Zweiten: Die Kontrollinstitution Wirtschaftsprüfung hat total versagt. Und letztlich: Der Fall Wirecard hat wie kein anderer gezeigt, wie Lobbyismus in unserem Land funktioniert.
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Um mit dem ersten Punkt anzufangen: Wirecard ist im Kern die Geschichte eines gigantischen Betruges. Es ist der größte Bilanzbetrug in der europäischen Geschichte. Ein Managementclan hat über Jahre hinweg eine riesige Lüge erschaffen. Dafür wurden Journalisten unter Druck gesetzt, den Beschäftigten wurden Märchen erzählt, und die Beute wurde heimlich ins Ausland gebracht. Das hat keine Person alleine orchestriert. Das ist die Tat einer Bande. Es ist eine Tat, die sich so nicht wiederholen darf, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Neben dem Aufsichtsrat, dessen Rolle wir nicht bis zum Ende aufklären konnten, waren vor allem die Wirtschaftsprüfer hautnah am Geschehen. Sie haben den öffentlichen Auftrag, die Zahlen in den Büchern zu prüfen. Auf ihren Stempel verlassen sich Anleger, Beschäftigte, Investoren, Geschäftspartner und Behörden.
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Im Fall Wirecard mussten wir lernen: Die Testate von EY waren jahrelang fehlerhaft. Am Ende fehlten 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten in Asien. Das ist ein Drittel der zuletzt testierten Wirecard-Bilanzsumme, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Doch statt einer ehrlichen und transparenten Fehlersuche sehen wir von EY bis heute vor allem eines: Rauch und Nebel. Wer aufklären möchte, versteckt sich nicht hinter Jan Marsalek, behauptet nicht, den Betrug selbst aufgeklärt zu haben, nachdem man jahrelang alles abgesegnet hat. Wer aufklären möchte, enthält der Öffentlichkeit keine Dokumente mit Pseudoargumenten vor und versucht nicht, wie noch diese Woche, die Veröffentlichung des Ausschussberichts vor dem Verwaltungsgericht zu verhindern.
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Wer aufklären möchte, hat nichts zu verheimlichen und stellt sich an die Spitze der Bewegung.
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Nichtsdestotrotz ist der Fall Wirecard auch ein Glücksfall, weil er uns wie kein anderer Fall offenlegt, wie Lobbyismus funktioniert. Wir sind auf ein richtiges bayerisches Amigonetzwerk gestoßen.
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Wirecard engagierte ein Heer von Anwälten und Lobbyisten, um Politik in ihrem Sinne zu betreiben. Offene Türen hat Wirecard dabei vor allem bei den Granden der CSU und CDU gefunden. Das ist doch der wahre Grund für Ihr Wahlkampfgetöse, lieber Kollege Hauer.
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Denn anders als Ihre haltlosen Vorwürfe konnten wir im Ausschuss sehr gut belegen, dass Wirecard eine Goldgrube für Ihre ehemaligen Unionskollegen war. Im Auftrag des Gangsterunternehmens warben sie für die Legalisierung von Onlineglücksspielen, für eine nachsichtige Behandlung durch die Staatsanwaltschaft, für den Markteintritt in China, für den Waffenschein des Fahrers von Markus Braun und für Leerverkaufsverbote zum Schutze von Wirecard.
Lieber Herr Michelbach, ich bin mir sicher, dass Sie solche Fehltritte nach Ihrem Ausscheiden nicht machen werden. Es wird heute im Anschluss Ihre letzte Rede sein. Es war mir jedenfalls eine Freude, mit einem Ehrenmann wie Ihnen im Finanzausschuss und im Untersuchungsausschuss zu sein,
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und ich hoffe, dass Sie auch in Zukunft weiter poltern werden.
Das Gleiche gilt natürlich für Fabio De Masi, unseren Showmaster. Auch wenn du dich jetzt auf die Jagd nach Jan Marsalek machst, hoffe ich, dass das heute nicht deine letzte Rede in diesen Räumen war.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank. – Das Wort geht an Kay Gottschalk von der AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Mitbürger! Vor allen Dingen aber auch: Liebe Geschädigte! Ich kann nicht finden, Frau Kiziltepe, dass Wirecard ein Glücksfall für uns ist. Es ist eher schändlich den Opfern gegenüber. 20 Milliarden Euro sind hier verloren gegangen.
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Lassen Sie mich vorwegstellen: Ich möchte mich zunächst bei den Kolleginnen und Kollegen Obleuten für die fraktionsübergreifende Zusammenarbeit bedanken. Ich denke, nur so konnten wir diesen Fall in so kurzer Zeit nachhaltig aufklären und auch austragen. Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle auch bei meinem Stellvertreter, Dr. Hans Michelbach, der immer da war, wenn ich ihn brauchte. Dafür noch mal mein Dankeschön. Es hat sehr viel Spaß gemacht, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.
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Nebenbei ein Dankeschön an Fritz Güntzler. Ich habe jetzt mehr über den FC Bundestag gelernt und werde in der nächsten Legislatur gerne mal zum Probetraining erscheinen.
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Dann möchte ich mich noch bei unserem Ausschusssekretariat bedanken. Ich denke, ohne die hervorragende Arbeit – Dr. Raue sei hier an erster Stelle genannt, ohne die anderen zu verschweigen – wäre diese Aufklärung nicht möglich gewesen. Mein aufrichtiges Dankeschön an unser Ausschusssekretariat an dieser Stelle.
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Und last, but not least: In Coronazeiten ein Dank an die Bundestagsverwaltung und an die Mitarbeiter unseres Bundestagspräsidenten, der in Zeiten von Corona trotz größter Raumnot die Möglichkeit geschaffen hat, dass unser Untersuchungsausschuss in Würde und sehr vernünftig, was die Öffentlichkeit angeht, zu tagen. Auch dafür mein großes Dankeschön.
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Kommen wir jetzt zu den Fakten. Es hat mir natürlich gefallen, was zu den Wirtschaftsprüfern gesagt wurde, Frau Kiziltepe. Einen Satz habe ich aber schon kritisiert. Denn eines ist allen klar geworden: Wirecard ist nicht nur ein kriminelles System zur Bereicherung einiger weniger Akteure gewesen. Nein – und das haben Sie verschwiegen –, es war auch ein Staatsversagen auf allen politischen Ebenen, meine Damen und Herren.
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Ein weit verzweigtes Netz mit unzähligen Sicherungsinstanzen hat vollkommen versagt: Ministerien, Kanzleramt, die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung, die Abschlussprüferaufsichtsstelle, die Betriebsprüfung, der Aufsichtsrat, Nachrichtendienste und last, but not least natürlich genauso – Sie haben es gesagt – die Wirtschaftsprüfer. Das werden die Gerichte klären, meine Damen und Herren.
Am Ende steht aber ein Verlust von 20 Milliarden Euro für Anleger, für Menschen, die teilweise sogar ihre Altersvorsorge verloren haben. Würde eine Antiterrorabwehrmaßnahme derart versagen, meine Damen und Herren, würden am Ende Menschen sterben. Wir müssen uns hier im Hohen Hause die Frage stellen, ob wir sowas zulassen können. Hinterher ist man immer klüger – diesen Satz hab ich sehr oft von den Kolleginnen und Kollegen gehört –, das ist klar. Aber, meine Damen und Herren, die Bürger dürfen von verantwortungsvoller Politik, einer antizipierenden Politik, und einer verantwortungsbewussten Gesetzgebung erwarten, dass solche Konstellationen durch den Gesetzgeber vorausgeahnt werden und ein Lügenkonstrukt wie Wirecard verhindert worden wäre.
Doch leider ist genau das Gegenteil eingetreten. Dieser riesengroße Skandal wurde massiv gedeckt; nicht zuletzt durch ein völlig unprofessionelles Agieren der BaFin bei Leerverkaufsverboten, wonach viele Anleger doch denken mussten, dass an den Vorwürfen gegen Wirecard von 2018 und 2019 nichts dran sein kann. Die Hauptverantwortung – dort sitzt der Kollege; dafür bin ich sehr dankbar – für den Erlass des Leerverkaufsverbots trägt nun einmal das BMF. Das muss an dieser Stelle in aller Klarheit und Deutlichkeit ausgesprochen werden, Herr Scholz.
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Wenn wir von Systemversagen sprechen, dann müssen wir an dieser Stelle auch von einem Demokratieversagen sprechen. Meine Damen und Herren, in Deutschland scheint eine Kultur von Pattex-Ministern Einzug gehalten zu haben. So gut wie jeder bleibt auf seinem Posten sitzen oder kleben, egal wie groß die Verfehlungen sind. Herr Scholz und Herr Scheuer stehen sinnbildlich dafür.
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Das ist eine Unkultur der Großen Koalition, die unser gesamtes Politsystem belastet. Sie zeichnet quasi ein Sittengemälde unserer Demokratie und Gesellschaft der untersten Güte.
Im Fall Wirecard will niemand Verantwortung übernehmen. Es gab zwar einige Bauernopfer – das begrüßen wir – wie den Chef der BaFin, seine Stellvertreterin oder den Chef der APAS, aber fest steht auch, dass nicht einmal ein Staatssekretär in dieser Affäre seinen Hut nehmen musste. Ja, Sie konnten sich nicht mal dazu durchringen – Frau Kiziltepe sprach von einem Glücksfall –, sich bei den Geschädigten zu entschuldigen, meine Damen und Herren. Was ist das für eine Kultur und eine Ethik in unserem Lande?
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Deshalb muss ich an dieser Stelle nochmals klar sagen: Herr Scholz, treten Sie als Minister endlich zurück! Schlagen Sie es sich aus dem Kopf, Kanzler dieser Republik zu werden! Das Fass ist übergelaufen, und das bei ausgeschlagenem Boden, meine Damen und Herren.
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Und Frau Merkel – sie ist nicht hier –: Wenn Herr Scholz nicht gewillt ist, von sich aus zurückzutreten, dann wäre es an Ihnen als Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Scholz umgehend freizustellen. Machen Sie endlich Gebrauch von Ihrer Richtlinienkompetenz! In der Flüchtlingskrise war das doch auch möglich. Hier wäre es aber tatsächlich mal richtig, meine Damen und Herren.
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Sehr geehrte Damen und Herren, wir sollten uns aber auch nicht davon täuschen lassen, was ja oft gesagt wurde, dass die Gesetzgebung bestimmte Mittel einfach nicht hergegeben hat und Wirecard deshalb passieren konnte. Das ist nicht der Fall. Nein, es gab auch damals schon hoheitliche Befugnisse und Möglichkeiten, die aber – und auch das hat der Ausschuss sehr deutlich gezeigt – einfach nicht genutzt worden sind. Verantwortlich war dafür der Mann, der jetzt auch noch Interimspräsident der BaFin geworden ist, namens Herr Röseler. Auch das ist ein Schlag ins Gesicht der Geschädigten, meine Damen und Herren.
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Genauso wenig nachvollziehbar ist für mich die fehlende Selbstkritik in Ministerien und im Kanzleramt. Beim Thema Compliance-Regelungen haben alle ein Bild abgegeben, das zu meiner Schulzeit zu einer glatten Sechs geführt hätte. Der Staat kann nicht von Unternehmen das verlangen, was er anscheinend sich selbst nicht auferlegen will. Er hat auf Sicherungssysteme wie Compliance vollkommen verzichtet. Meine Damen und Herren, Sie sehen, es gibt noch unzählige Baustellen, die wir zusammen bewältigen müssen.
Den Oppositionsparteien, insbesondere der FDP, den Grünen und der Linken, kann ich hier zumindest eine Sache nicht ersparen: Dass die Regierungsparteien einen schnellen Abschluss wollten, liegt natürlich auf der Hand. Weder CDU und CSU noch SPD wollten, dass wir weitermachen. Ende September ist Bundestagswahl. Da wollte man diesen Ballast natürlich schnell loswerden. Eine Debatte im September wäre da nicht angezeigt gewesen. Aber, meine Damen und Herren der Oppositionsparteien, was haben Sie denn davon? Oder wollten die FDP und die Grünen mögliche Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl nicht belasten? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass eine weitere Beweisaufnahme nach dem PUA-Gesetz möglich gewesen wäre und dass wir, nur um mal einen Namen zu nennen, uns auch gerne mit Dr. Wolfgang Schäuble unterhalten hätten, der nämlich bis 2017 Finanzminister dieser Republik war.
Aber – das sei zum Schluss erwähnt – ich bin mir sicher, dass wir von den Kollegen in Österreich zu diesem Thema noch etwas hören werden. Ich prophezeie deshalb schon jetzt einen Fortsetzungsroman zu Wirecard in der nächsten Legislaturperiode. Viel zu viele Dinge wie FIU und das Versagen der Geheimdienste sind ungeklärt geblieben.
Wir werden uns auf jeden Fall weiter konstruktiv – wie mit dem 107 Seiten starken Sondervotum; da haben wir bewiesen, dass wir uns konstruktiv hier eingebracht haben – an der Aufklärung beteiligen. Ich wage die Prognose: Wir sind hier noch nicht am Ende. Und das sind wir nach wie vor den Geschädigten schuldig.
Ich bedanke mich.
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Danke. – Das Wort geht an Matthias Hauer von der CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am Dienstag haben wir den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses an den Präsidenten des Bundestages übergeben. Über 2 000 Seiten zeigen einen dramatischen Kriminalfall, grobe Fehler durch Abschlussprüfer und ein multiples Versagen der deutschen Finanzaufsicht bis hin ins Bundesfinanzministerium. In knapp neun Monaten hat der Untersuchungsausschuss ein großes Arbeitspensum geleistet – in 52 Sitzungen, mit Hunderten Gigabyte Daten, Tausenden Ordnern Beweismaterial, Unterstützung mehrerer Sonderermittler und Hunderten Stunden Zeugenvernehmungen. Wir haben fraktionsübergreifend jeden Stein beim Fall Wirecard umgedreht.
Bei Wirecard wurde mit immenser krimineller Energie gehandelt. Eine Handvoll Täter bereicherte sich zum Schaden vieler. Anleger wurden um ihr Erspartes gebracht. Mitarbeiter haben ihren Arbeitsplatz verloren. Das Vertrauen in den Finanzmarkt wurde zutiefst erschüttert. Ein Fall Wirecard darf sich nicht wiederholen. Mit dem Kriminalfall Wirecard beschäftigen sich die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte. Auch unsere Arbeit im Untersuchungsausschuss unterstützt diese Arbeit der Justiz. Unsere Erwartung ist, dass die Täter dieses Milliardenbetrugs mit aller Härte des Rechtsstaats bestraft werden.
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Wirecard steht auch für die Fehler der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY. Prüfer haben jahrelang uneingeschränkte Testate erteilt und dabei Prüfungsstandards missachtet. Auf Initiative der Union haben wir als Untersuchungsausschuss mit einem Team aus Sonderermittlern die Versäumnisse bei den Abschlussprüfern offengelegt, etwa im Umgang mit erfundenem Drittpartnergeschäft oder auch mit nicht vorhandenen Milliarden auf Treuhandkonten.
Der Wirecard-Skandal ist aber nicht nur ein Fall schwerster Kriminalität und des Versagens der Abschlussprüfer, auch die politische Dimension ist dramatisch. Der Fall offenbart ein eklatantes Versagen bei Behörden, vor allem bei der BaFin. Das Parlament hat uns als Untersuchungsausschuss beauftragt, den Sachverhalt intensiv aufzuarbeiten. Wir als Union haben gemeinsam mit anderen Fraktionen, vor allem mit der Opposition, mit Hochdruck kritisch nachgehakt und die Aufklärung vorangetrieben, unabhängig vom Parteibuch der Zeugen.
Aber der Ausschuss hat vor allem auch die Frage nach der politischen Verantwortung zu beantworten. Die BaFin hat mit ihrem rechtswidrigen Leerverkaufsverbot und mit Strafanzeigen gegen kritische Journalisten offen für Wirecard Partei ergriffen. In dieses Leerverkaufsverbot waren Ihr Ministerbüro, Herr Scholz, und Ihr zuständiger Staatssekretär persönlich von Beginn an eingebunden. Weder Herr Scholz noch Herr Kukies haben die Reißleine gezogen.
Wir haben zudem eine BaFin vorgefunden, die nicht den Gesamtkonzern Wirecard beaufsichtigt hat, eine Bilanzkontrolle, die keinen Betrug aufdecken konnte, eine Geldwäscheaufsicht, die niemand ausgeübt hat.
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Und Sie, Herr Scholz, wollen als zuständiger Minister von alldem nichts mitbekommen haben? Was ist eigentlich der Job des Finanzministers? Ist es nicht gerade der Job, so etwas mitzubekommen? Mit Wegsehen führt man kein Ministerium.
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Die wesentlichen Teile des Behördenversagens laufen alle bei der BaFin zusammen. Wo war denn die Rechts- und Fachaufsicht von Ihnen, Herr Scholz, die Sie über die BaFin hätten ausüben müssen? Fehlanzeige!
Sie, Herr Scholz, besitzen noch nicht einmal die Größe, irgendeinen Fehler einzuräumen, sich bei den Tausenden geschädigten Anlegerinnen und Anlegern zu entschuldigen.
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Mehrere Spitzenmanager von BaFin, APAS, DPR, EY mussten gehen.
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Einzig dort, wo die politische Verantwortung liegt, nämlich im Bundesfinanzministerium, folgten keine personellen Konsequenzen, noch nicht einmal bei dem für die BaFin zuständigen Staatssekretär. Nicht ohne Grund, Herr Scholz, mussten sich fünf Ihrer sechs Staatssekretäre gegenüber dem Untersuchungsausschuss verantworten.
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Durch die Wirecard-Insolvenz wurden dann Ihr Aufsichtstiefschlaf, Herr Scholz, und der Ihres Ministeriums beendet. Wir haben einen Minister mit unglaubwürdigen Erinnerungslücken, mit fadenscheinigen Ausreden, mit verspäteten Aktenlieferungen, mit vorenthaltenen Informationen erlebt.
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Er und sein Ministerium haben bei der Rechts- und Fachaufsicht über die BaFin schlicht versagt.
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Die Einzige, die das infrage stellt – das merken Sie ja auch an der regen Teilnahme an diesem Austausch hier – ist die SPD. Ihr Aufklärungswille, Kollegen Sozialdemokraten, wäre sicherlich größer gewesen, wenn nicht Ihr Kanzlerkandidat im politischen Fokus dieses Skandals gestanden hätte.
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Herrn Scholz zu schützen, das war der oberste Auftrag der Sozialdemokraten in diesem Untersuchungsausschuss. Das zeigt sich auch daran, dass der Kollegin Kiziltepe die BaFin in ihrer Rede nicht ein Wort wert war.
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Da passt es auch ins Bild, dass wir vorgestern noch erfahren haben, dass sich ein hochrangiger Beamter von Ihnen, Herr Scholz, im Vorfeld einer Zeugenvernehmung an die BaFin gewandt hat, mit dem Ziel, von dort Unterstützung für kritische Fragen gegen eine Zeugin zu erhalten – vielen Dank an den Kollegen de Masi, der da kritisch nachgefragt hat –; das ist mehr als schlechter Stil. Da fehlen einem fast die Worte.
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Wir haben als Untersuchungsausschuss viele gesetzgeberische Konsequenzen angestoßen, die auch stark die Handschrift der Union tragen: Bilanzkontrolle aus einer Hand, stärkere Transparenz, höhere Haftung bei Abschlussprüfung, Stärkung von Aufsichtsräten und Compliance.
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Das sind Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit.
Zum Schluss möchte ich noch Dank sagen: meinen Unionskollegen für die sehr gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit, Hans Michelbach, der nach 27 Jahren starker Arbeit hier als Abgeordneter gleich seine letzte Rede halten wird, Kollegen Fritz Güntzler, der als Wirtschaftsprüfer den Ausschuss sehr stark unterstützt hat, den stellvertretenden Mitgliedern Sebastian Brehm, Sepp Müller, Johannes Steiniger, aber auch den Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen. Das war fraktionsübergreifend eine starke Teamleistung. Das Interesse an lückenloser Aufklärung hat uns bei allen politischen Differenzen geeint. Stellvertretend für alle Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen nenne ich Danyal Bayaz und Fabio de Masi, die leider nicht erneut für den Deutschen Bundestag kandidieren werden. Großer Dank auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Sekretariat, in den Fraktionen, in den Abgeordnetenbüros, die eine super Arbeit geleistet haben.
Letzter Satz. Nicht zuletzt gilt großer Dank den Journalistinnen und Journalisten, die sich im Ausschuss gemeinsam mit uns die Nächte um die Ohren geschlagen haben und mit ihrer Arbeit geholfen haben, den Skandal aufzudecken und Licht ins Dunkel bei Wirecard zu bringen.
Vielen Dank dafür.
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Das Wort geht an Dr. Florian Toncar von der FDP-Fraktion.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Dinge machen den Fall Wirecard besonders einzigartig: die Dimension des Schadens, der entstanden ist – wir reden über einen Betrag von 25 bis 30 Milliarden Euro – und die Rolle von Behörden und Regierungen, die nicht, wie vielleicht in manch anderem Fall, die Sache unterschätzt und zu wenig getan haben, weil sie nicht Bescheid wussten, sondern die diesen Fall als Intensivfall kannten, ihn über Jahre hinweg begleitet haben, aber auf der falschen Seite mitgespielt und die Anleger regelrecht noch mit in die Irre geführt haben. Das war einzigartig, aber einzigartig falsch, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Just deshalb war dieser Untersuchungsausschuss – trotz mancher Skeptiker am Anfang, an die ich heute erinnern möchte – notwendig, und er war auch erfolgreich. Gut, dass FDP, Linke und Grüne ihn durchgesetzt haben; denn sonst hätte es ihn überhaupt nicht gegeben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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So kollegial es im Ausschuss war, so schwierig war die Zusammenarbeit teilweise bei der Informationsbereitstellung durch die Bundesregierung. Das Kanzleramt hat Zeugen vorbereitet. Das Kanzleramt hat auch eine zentrale E-Mail eines Beraters von Frau Merkel, Herrn Röller, nicht vorgelegt. Wir haben, Herr Minister Scholz, auch festgestellt, dass Sie in dienstlicher Sache über private E‑Mail-Accounts kommunizieren. Wenn das zwei Regierungsmitglieder machen, wird das in der IT der Regierung gar nicht erfasst. Insofern kann man nicht mit Sicherheit sagen, dass der Bundestag alles erfahren hat,
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was in dieser Sache stattgefunden hat; das muss man leider am heutigen Tage so feststellen. Wir werden sehen, wie umfangreich und wie vollständig die Informationen waren, die wir bekommen haben.
Nun kommen wir zu den Feststellungen. Erstens. Der Betrug war zwar groß angelegt, aber er war nicht perfekt organisiert. Er war zu entdecken. Auch diese Verbrecher hatten Schwächen, die man hätte nutzen können, um ihn aufzudecken.
Zweitens. Es gab fundierte Hinweise, nicht nur, wie es im letzten Sommer aussah, aus der Presse – „Financial Times“ usw. –, sondern es gab auch Hinweise aus der Bundesbank, schriftlich hinterlegt. Es gab Warnungen, es gab etliche Geldwäscheverdachtsmeldungen von seriösen deutschen Kreditinstituten gegen Wirecard und sein Management. Es gab die Finanzverwaltung, die den Verdacht hatte, dass hier Straftaten begangen werden und die das auch hinterlegt hat, in dem Fall bei der Staatsanwaltschaft in München.
Das führt zur Schlussfolgerung Nummer drei: Dieser Betrug hätte frühzeitig verhindert werden müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Viertens. Behördenversagen ist das eine; aber der Fall Wirecard ist ein Fall von Regierungsversagen. Wir hatten keine funktionierende Rechts- und Fachaufsicht des Finanzministeriums, Herr Minister Scholz, über die BaFin. Das Leerverkaufsverbot – einer der zentralen Fehler, aber nicht der einzige – war aus mehreren Gründen rechtswidrig. Wo war die Rechtsaufsicht? Wo war die Fachaufsicht? Wo waren die Fragen nach der Berechtigung einer solchen Maßnahme?
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Herr Minister Scholz, Sie wissen auch, dass der Finanzausschuss des Bundestages seit 2018 im Monatsrhythmus die Zustände bei der Geldwäschebehörde, der FIU, die Ihnen untersteht, thematisiert hat. Fairerweise muss man sagen: Sie haben an der Stelle auch ein Problem von Ihrem Vorgänger Herrn Schäuble geerbt, der diese Behörde im Schweinsgalopp errichtet hat. Aber es war leider nur eine Frage der Zeit, dass dort wertvolle Informationen nicht verwertet werden. Ich sage Ihnen eins, gerade weil wir Abgeordneten das Thema FIU von Anfang an verfolgt haben: Diese Behörde hat von 32 Treffern vor der Insolvenz von Wirecard nur 2 identifiziert und 30 nicht identifiziert. Ein Sechzehntel ist eine desaströse Quote. Dafür tragen Sie Verantwortung, genauso wie Ihr Vorgänger Wolfgang Schäuble.
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Insofern hat die Regierung hier tatsächlich über Jahre hinweg Fehlentscheidungen getroffen, die diesen Betrug mit ermöglicht haben.
Und was viele Menschen beschäftigt – auch das muss heute mal ausgesprochen werden, weil es nämlich die ansonsten erfolgreiche Bilanz des Untersuchungsausschusses ein wenig einzuordnen hilft –: Frau von der Leyen verstößt gegen Haushaltsrecht und wird Kommissionspräsidentin.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Jawohl. – Herr Scheuer verstößt gegen Haushaltsrecht und bleibt Minister. Und auch im Fall Wirecard sind die Verantwortlichen auf der politischen Ebene alle immer noch dort, wo sie waren. Genau das ist es, was die Leute nach dem Skandal noch mal verärgert und sie auch daran zweifeln lässt, dass hier in diesem Staat alles mit rechten Dingen zugeht.
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Ändern Sie das! Machen Sie das Nötige! Ansonsten wird dieser Fall Sie, Herr Minister Scholz, und die gesamte Bundesregierung sowieso nicht mehr loslassen.
Herzlichen Dank.
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Danke. – Das Wort geht an die Fraktion Die Linke mit Fabio De Masi.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wirecard, dieser True Crime made in Germany, ist der größte Börsen- und Bilanzskandal der Nachkriegsgeschichte. Es ist aber auch ein Lobbyismusskandal, es ist ein Geldwäscheskandal, und – ja, ich bin nach wie vor der Überzeugung – es ist wahrscheinlich auch ein Geheimdienstskandal.
Über 20 Milliarden Euro Börsenwert wurden über Nacht in Konfetti aufgelöst. Kleinanlegerinnen und Kleinanleger haben ihre Ersparnisse verloren. Wirecard, ein Unternehmen, das in der Frühphase des Internets mit der Zahlungsabwicklung von Onlineglücksspiel und Pornografie groß wurde, hat eine einfache Story erzählt: Wenn immer mehr Menschen im Internet einkaufen und wir diese Zahlungen abwickeln, dann ist das ein bombensicheres Geschäft.
Auch Politikerinnen und Politiker, die das Geschäftsmodell nicht verstanden haben, waren besoffen von diesem Hype um einen neuen Zahlungsanbieter. Sie haben nicht gesehen, wie Umsätze und Gewinne aufgepumpt wurden. Und ja, natürlich wäre es die Verantwortung der Wirtschaftsprüfer gewesen, nachzusehen, ob die 1,9 Milliarden Euro – ein Drittel der Bilanzsumme – auf einem Treuhandkonto auf den Philippinen liegen; die Nachweise hätte teilweise ein Zehnjähriger mit dem Detektivbaukasten fälschen können. Aber die Illusionsfabrik Wirecard, die Milliardenlüge, wäre nicht möglich gewesen ohne ein politisches Netzwerk.
Deswegen war es natürlich ein erhebliches Problem, dass die Bundesregierung dieses Unternehmen als einen nationalen Champion im deutsch-chinesischen Finanzdialog, den Herr Scholz verhandelt hat, behandelt hat.
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Es war natürlich ein fatales Signal, dass die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland zum mächtigsten Mann Chinas fährt und sich dort für dieses Unternehmen engagiert, obwohl sie zuvor ein Treffen mit dem CEO von Wirecard, Markus Braun, aufgrund kritischer Medienberichte abgelehnt hat.
Natürlich gab es eine Armee an Lobbyisten aus dem Umfeld der Union, aus Bayern und aus dem Umfeld der Sicherheitsbehörden. Aber wer hier, Kollege Gottschalk, die Backen so aufbläst, der sollte natürlich wissen, wessen geistige Kinder Herr Braun und Herr Marsalek waren: Herr Braun hat für den Wirtschaftsrat der Union gespendet und ihn finanziert, und Herr Marsalek hat ja enge Freunde bei Ihren Freunden in Österreich, bei der FPÖ.
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Deswegen ist der Wirecard-Skandal vor allem auch eine Lektion über die Phrasen über die vermeintliche Wirtschaftskompetenz, die wir so häufig in der Politik hören;
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denn die einzige Kompetenz der Damen und Herren, die sich dort für Wirecard engagiert haben, war, sich die Brieftasche vollzumachen, weil sie für dieses Unternehmen Klinken putzten.
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Erlauben Sie eine Zwischenfrage von Herrn Gottschalk?
Selbstverständlich.
Sehr geehrter Kollege De Masi, würden Sie vielleicht zur Kenntnis nehmen und bei den Fakten bleiben, dass Markus Braun bis zum Tag der Insolvenz Mitglied im Thinktank des Bundeskanzlers der Republik Österreich, Herrn Kurz, war – dieser gehört der ÖVP an – und dass Herr Markus Braun 70 000 Euro den NEOS in Österreich hat zukommen lassen? Würden Sie auch zur Kenntnis nehmen, dass die FPÖ, die ich tatsächlich als unsere Schwesterpartei bezeichne – und da bin ich auch stolz drauf –, damit überhaupt – –
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– Beruhigen Sie sich! Sie werden vielleicht auch noch Demokratie lernen und lernen, dass diese genauso zum Spektrum dazugehört.
Würden Sie, Herr De Masi, da einfach bei der Wahrheit bleiben? Denn Sie haben schon zu Beginn der Arbeit des Ausschusses widrig unterstellt, ich würde irgendwelche Informationen weitergeben. Eines hat doch der Untersuchungsausschuss gezeigt: dass die ÖVP und Kanzler Kurz hier gewaltig mit drinhängen, und mit der ÖVP habe beileibe weder ich noch hat meine Fraktion etwas zu tun. Das ist nicht unsere Schwesterpartei; das ist eher die Schwesterpartei im Geiste einer der Regierungsparteien hier im Parlament.
Herr Gottschalk, vielen Dank für die Frage und dafür, dass Sie mir die Gelegenheit geben, zu antworten. Denn eine große Ungerechtigkeit im Parlament ist ja, dass meine Redezeit immer zu kurz ist. Deswegen kann ich natürlich nicht immer alle Details erwähnen.
Es ist korrekt, dass Herr Braun Chefberater von Sebastian Kurz war, auf den Sie sich ja auch häufig positiv bezogen haben. Aber wenn wir schon dabei sind, jetzt diese ganze Liste zu vervollständigen, dann möchte ich doch den Hinweis geben, dass ein FPÖ-Politiker immerhin daran beteiligt war, das Flugzeug zu organisieren, mit dem Herr Marsalek in den Wolken verschwunden ist, um nur mal ein kleines Detail zu nennen.
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Wir könnten bei dieser Gelegenheit dann auch gleich darauf hinweisen, dass der Head of Accounting, also der Chefbuchprüfer von Wirecard, ein Cousin Ihrer geschätzten Kollegin Frau von Storch ist.
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Nun gibt es keine Sippenhaft; aber das sind natürlich interessante Zufälle.
Ich will aber zur Sache zurückkommen und das Versagen der Aufsichtsbehörden ansprechen. Die Finanzaufsicht – und das ist ein einmaliger Vorgang – hat ein Leerverkaufsverbot für ein einzelnes Unternehmen erlassen. Nun ist es so, dass ich als Linker wahrscheinlich unverdächtig bin, der Finanzaufsicht das Recht abzusprechen, auch Leerverkäufe, also Wetten auf fallende Kurse, zu regulieren. Aber für ein einzelnes Unternehmen aufgrund einer Erpressungsstory, wonach angeblich die Nachrichtenagentur Bloomberg Wirecard erpressen wolle mit kritischer Berichterstattung, mit einem britischen Drogendealer als Kronzeugen? Das ging von der Staatsanwaltschaft in München dann an die BaFin, und die hat das einfach umgesetzt. Das lag eben auch auf dem Tisch des Finanzministeriums.
Genauso ist es richtig, dass es bei der Staatsanwaltschaft grobe Versäumnisse gab. Sie hat Herrn Marsalek rausspazieren lassen, drei Tage, nachdem sie wusste, dass die 1,9 Milliarden Euro weg sind. Aber es ist ein multiples Behörden- und Aufsichtsversagen gewesen. Die Finanzaufsicht hatte genauso wie die Anti-Geldwäsche-Behörde FIU – deren Arbeit haben wir hier seit 2017 bemängelt – eine idiotensichere Handreichung der Commerzbank aus dem Jahre 2019, die in das Herz dieses Skandals zielte. Sie hat diese Ausarbeitung, diese Geldwäscheverdachtsmeldung, anderthalb Jahre nicht an die Strafverfolgung weitergeleitet, nämlich so lange, bis Wirecard insolvent war.
Als wir danach gefragt haben, wurde uns gesagt, das sei damals alles gar nicht erkennbar gewesen. Wir kennen die Unterlagen mittlerweile, und dort stand klipp und klar drin, dass Wirecard extrem auffällige Transaktionen macht, dass es Bezüge zum deutschen Rechtsgebiet gibt, dass man da also eingreifen kann, dass es Zahlungsabwicklung für Onlineglücksspiele gibt, was übrigens bis vor Kurzem in Deutschland außerhalb Schleswig-Holsteins illegal war.
Es gibt leider auch einige andere Dinge, die bei mir immer wieder Kopfschütteln veranlassen. Einer der Fluchthelfer von Herrn Marsalek, ein ehemaliger österreichischer Agent, stand seit 2018 unter Beobachtung deutscher Sicherheitsbehörden wegen Verdachts auf Auslandsspionage, zwei ehemalige deutsche Geheimdienstkoordinatoren waren im Austausch mit Wirecard bzw. Herrn Marsalek, und die deutschen Sicherheitsbehörden haben angeblich noch nie etwas davon gehört. Das glaube ich nach wie vor nicht.
Wir haben große Aufgaben vor uns. Wir müssen die Wirtschaftsprüfung in Deutschland endlich so gestalten, dass wir die Macht der Big Four, der großen vier Prüfungsunternehmen, brechen.
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Wir müssen Prüfung und Beratung trennen. Und wir brauchen eben auch die Einbindung mittelständischer Prüfungsunternehmen.
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Verehrte Damen und Herren, dies ist meine letzte Rede im Bundestag.
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Ich weiß, dass die Uhr hier schon etwas blinkt. Ich habe im Laufe der Legislaturperiode immer versucht, mich an die Redezeit zu halten. Vielleicht habe ich von daher jetzt etwas Budget und Spielraum.
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Ich will mich an dieser Stelle bedanken bei der Bevölkerung – sie war mein Chef in diesen Jahren –, der ich dienen durfte, bei all den Leuten, die tagtäglich versuchen, sich ihre kleinen Träume zu erfüllen, sich dabei anständig zu verhalten, insbesondere in Hamburg-St. Pauli, wo ich gerne lebe. Ich möchte mich bedanken bei meiner Fraktion, auch wenn es bei uns mal rappelt, wie woanders auch. Ich möchte mich vor allem aber auch bedanken für die gute Zusammenarbeit hier in diesem Ausschuss: bei Florian Toncar von der FDP, bei Lisa Paus von den Grünen und Danyal Bayaz, der nun Vater und Finanzminister geworden ist, aber auch bei allen anderen Kolleginnen und Kollegen.
Ich will noch eines hier sagen. Auch wenn wir scharfe Auseinandersetzungen führen, was auch nötig ist, ist es doch so: Viele Probleme, die wir in diesem Land dieser Tage besichtigen können, lassen sich nicht in den sozialen Medien mit Slogans auf Twitter lösen, sondern sie lassen sich nur lösen, wenn wir nach Gemeinsamkeiten, nach sozialem Zusammenhalt in diesem Land suchen. Dies bedeutet eben auch, dass man um Lösungen ringen muss, dass man aber auch versuchen muss, den Standpunkt des anderen einzunehmen und zu verstehen.
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Ich weiß, dass viele Kollegen und insbesondere Kolleginnen häufiger zu Recht genervt sind, wenn wir hier den FC Bundestag in die Debatte einbringen. Aber wissen Sie, was die eigentliche Leistung des FC Bundestages ist? Leider ist es nicht die sportliche Leistung,
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sondern die Tatsache, dass das, was dort in der Kabine besprochen wird, auch in der Kabine bleibt.
Daneben habe ich in meinen Jahren im Parlament eine Sache gelernt, den persönliche Austausch: Wie geht es dir eigentlich? Wie geht es deinen Kindern? Wie geht es deiner Familie? – Solche Gespräche führt man interessanterweise viel häufiger mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Fraktionen, mit denen man nicht in einem politischen Wettbewerb steht. Auch das sollte uns etwas zu lernen geben über das politische Geschäft.
Böse Zungen behaupten, dass die Bilanz des Kapitäns Fritz Güntzler als Trainer nicht von Erfolg gekrönt gewesen sei. Ich will zu seiner Verteidigung sagen, dass wir unser letztes Spiel kurz vor der Begegnung Deutschland–Ungarn hatten. Wir hatten eigentlich nur versucht, den Sepp-Herberger-Trick nachzuspielen. Ein großes Problem an unserer sportlichen Performance ist leider auch, dass einige auf dem Platz immer noch denken, der Markt regelt das. Das tut er nicht – man muss auch laufen!
In diesem Sinne: Ich bedanke mich für die Zusammenarbeit.
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Gut ein Jahr ist inzwischen vergangen seit der Insolvenz von Wirecard. Wenn Sie, meine Damen und Herren, heute „Wirecard-Insolvenz“ googeln und den Zeitraum auf eine Woche danach begrenzen, dann sehen Sie vor allem eine Interpretation dieses Skandals: Wirecard-Bilanzskandal. Nach dieser Lesart sind einfach 2 Milliarden Euro verschwunden. Die Wirtschaftsprüfer von EY wurden durch die kriminelle Energie von Jan Marsalek getäuscht, und auch die Bundesregierung war unbeteiligt. Diese Lesart als Bilanzskandal hätte der Bundesregierung, Olaf Scholz, Angela Merkel, der Koalition, aber natürlich auch EY sehr gut gepasst.
Nach nunmehr sieben Monaten Untersuchungsausschuss, etlichen Rücktritten auf unteren Ebenen, Zigtausenden Seiten durchwälzten Papiers wissen wir, dass exakt diese Sichtweise falsch ist, meine Damen und Herren. Richtig ist vielmehr: Wirecard ist der größte Wirtschafts- und Finanzskandal Deutschlands in der Nachkriegsgeschichte. Und er ist ein multipler Skandal, er umfasst mehrere Skandale auf einmal. Deshalb von meiner Seite sieben Punkte zu sieben Monaten Untersuchungsausschuss:
Erstens. Wirecard ist ein Wirtschaftsprüferskandal, da die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY über Jahre schlicht nicht die kritische Grundhaltung an den Tag gelegt hat, die man bei einem Hochrisikokunden wie Wirecard haben muss. Am Ende, 2019/2020, lief es offenbar eher wie bei Macbeth nach dem Motto: „Ich bin einmal so tief in Blut gestiegen, Dass, wollt’ ich nun im Waten stille stehn, Rückkehr so schwierig wär’ als durchzugehen“.
Zweitens. Wirecard ist auch ein Antiangloamerikanismus- und tendenziell auch ein Antisemitismusskandal. Anstatt die Kritik und die über Jahre immer wieder neuen Rechercheartikel des englischen Journalisten Dan McCrum von der „Financial Times“ und von anderen Marktteilnehmern ernst zu nehmen, beschuldigte die BaFin 2016 Leerverkäufer kurzerhand, Teil eines israelisch-britischen Insiderrings zu sein, der im Hintergrund die Märkte manipuliere. Dieselben kulturellen Vorurteile scheinen teilweise auch in der Staatsanwaltschaft gewirkt zu haben. Fataler Höhepunkt dieser Verschwörungstheoriegläubigkeit war das rechtswidrige Leerverkaufsverbot, das die BaFin und die Staatsanwaltschaft im Februar 2019 nach einer offenbar von Jan Marsalek fingierten Strafanzeige auf den Weg gebracht haben, meine Damen und Herren.
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Drittens. Wirecard war ein Behördenskandal. Es war wirklich ein Trauerspiel, im Untersuchungsausschuss mit anzusehen, wie eine Behörde nach der anderen die Verantwortung immer wieder der nächsten zuschob: von der Finanzaufsicht BaFin über die Bilanzpolizei DPR, von der APAS bis hin zur Geldwäscheeinheit FIU, von der Bundesebene auf die bayerische Landesebene bis nach Niederbayern und wieder zurück. Und auch innerhalb der BaFin wurden die verschiedenen Informationen zu Wirecard niemals zusammengetragen. Bei der BaFin galt in Bezug auf Wirecard statt „Wo Rauch ist, da ist auch Feuer“ eher das Motto „Hier ist zwar überall Rauch, aber ein Feuer haben wir nirgendwo gesehen“.
Wir trafen auf Inkompetenz, gepaart mit Wagenburgmentalität, nach der die eigenen deutschen Unternehmen immer die guten sind, die gegen böse Mächte von außen verteidigt werden müssen. Dazu passte dann natürlich auch noch der Aktienhandel von Mitarbeitern und nicht vorhandene oder nicht kontrollierte Compliance-Regeln in den Behörden. Es braucht einen Kulturwandel und einen Strukturwandel innerhalb der Behörden: mehr Kompetenz, mehr Vernetzung statt Silo und auch mehr Verantwortungsübernahme, meine Damen und Herren.
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Viertens. Wirecard ist auch ein Geldwäscheskandal. Wir hatten in Deutschland ein Zahlungsunternehmen, das seit über zehn Jahren immer wieder unter Geldwäscheverdacht stand. Dennoch wusste bis zur Insolvenz kein einziger deutscher Beamter, wer eigentlich für die Geldwäscheaufsicht bei der Wirecard AG zuständig ist. Die Ignoranz der Geldwäscheaufsicht war so himmelschreiend, dass die Marktteilnehmer sich die hohen Margen von Wirecard damit erklärten, dass man eben in Deutschland unbehelligt von den Behörden Geldwäsche betreiben und damit viel Geld verdienen kann.
Mehr Zeit und ein längerer Untersuchungszeitraum hätten da sicherlich noch mehr Ergebnisse gebracht; denn das Thema Geldwäsche fing schon 2010 an, der Untersuchungszeitraum aber erst 2014. Aber auch so ist klar: Die Geldwäscheaufsicht muss komplett auf den Prüfstand. Gerade bei Zahlungsdienstleistern muss die Aufsicht besonders engmaschig sein, meine Damen und Herren.
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Fünftens. Wirecard ist ein Lobbyismusskandal. Mit Karl-Theodor zu Guttenberg hat einer der bekanntesten Ex-Minister Deutschlands seine Kontakte zur Kanzlerin für geschäftliche Zwecke missbraucht. Aber er war eben nicht der einzige. Noch etliche weitere Ex-Politiker aus den Reihen der CDU/CSU haben Wirecard als Lobbyisten gedient. Dennoch hat das Kanzleramt bis heute kein echtes Lobbyregister und auch keine Compliance-Regeln, um so etwas aufzudecken und zu verhindern. Auch das ist ein schlechtes Ergebnis.
Sechstens. Vielleicht war Wirecard auch ein Geheimdienstskandal. Fabio De Masi hat darauf hingewiesen: Wir haben mit Wolfgang Wieland extra noch einen Sonderermittler eingesetzt. Ganz herzlichen Dank noch mal von dieser Seite für seine Arbeit!
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Aber in diesen Bereich konnte der Untersuchungsausschuss auch aufgrund der Zeit leider am wenigsten Licht bringen.
Wenn man alle Skandale zusammendenkt – Aufsicht, Wirtschaftsprüfer, Geldwäsche, Geheimdienste, Lobbyismus –, dann kann man nur zu dem Schluss kommen: Wirecard ist ein Deutschlandskandal, meine Damen und Herren.
Siebtens. Wir schulden es all den Opfern von Wirecard – nicht nur den Anlegerinnen und Anlegern, sondern auch den Journalistinnen und Journalisten sowie den Investorinnen und Investoren, die verfolgt und angegriffen wurden –, dass wir Konsequenzen aus dem Skandal ziehen. Das geht aber nur, wenn die Verantwortlichen in der Regierung selber eine positive Fehlerkultur an den Tag legen, statt zu versuchen, mit dem Label „Bilanzskandal“ die Verantwortung von sich zu schieben.
Das war dieser Bundesregierung nicht gegeben. Es war Olaf Scholz nicht gegeben, auch seinen Staatssekretären Schmidt, Kukies und Bösinger nicht und auch Angela Merkel und Peter Altmaier nicht. Das ist wirklich fatal, auch für die Demokratie in diesem Lande und für die politische Kultur, meine Damen und Herren.
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Dazu passte dann leider auch noch, dass das Koalitionsvotum weichgespült war. Das finde ich sehr schade.
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Vielen Dank, Lisa Paus. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dr. Jens Zimmermann.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was bei Wirecard passiert ist, ist einer der größten Wirtschaftsskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ich weiß: Viele Bürgerinnen und Bürger haben dabei Geld verloren. 1,9 Milliarden Euro – es ist schon gesagt worden –, ein Drittel der Bilanz, waren am Ende einfach nicht da. Wirecard war ganz offenbar ein Selbstbedienungsladen, bei dem vor allem ein kriminelles Topmanagement und eine Vielzahl von Lobbyisten immer wieder zugegriffen haben, während Wirtschaftsprüfer, deren eigentlicher Job es gewesen war, hinzuschauen, weggeschaut haben.
Ich stand im September, als wir diesen Ausschuss eingesetzt haben, auch an dieser Stelle und habe für die SPD versprochen, dass wir uns für die Sachaufklärung einsetzen. Wenn man den Abschlussbericht mit seinen über 2 000 Seiten liest, dann sieht man – das haben, glaube ich, alle Rednerinnen und Redner unisono hier auch dargestellt –: Wir haben unheimlich viel herausgefunden, wir haben diese Sachaufklärung betrieben.
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Sie haben es gemerkt: Hier im Plenum wird auch mit harten Bandagen gekämpft. Das ist interessant, weil es im Ausschuss häufig und meistens ganz anders war. Alle Fraktionen haben an der Sachaufklärung gearbeitet. Wir haben detektivisch Akten gewälzt, wir haben Zeuginnen und Zeugen vernommen, wir haben überraschende Antworten bekommen. Eine der Lieblingsfragen war: Besitzen Sie eigentlich Wirecard-Aktien? – Es war sehr überraschend, wie oft die Antwort war: Ja. – Wir haben ganz viel auf den Weg gebracht. Dass es heute hier an der einen oder anderen Stelle – das heißt, bisher eigentlich nur an einer Stelle – ein großes politisches Gepolter gibt, wird diesem Ausschuss nicht gerecht.
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Auch die Journalistinnen und Journalisten, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben den Wirecard-Ausschuss als eine Sternstunde des Parlamentes beschrieben,
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und zwar nicht, lieber Kollege Hauer, weil Sie immer wieder den Rücktritt von Gott und der Welt fordern, sondern weil wir diese Sachaufklärung betrieben haben. Das ist die Sternstunde des Parlamentes gewesen.
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– Ja, da können Sie jetzt einen roten Kopf bekommen und reinbrüllen; es macht die Sache am Ende nicht besser.
Es war ein Untersuchungsausschuss mit Biss. Wenn wir uns vor allem die Rolle der Wirtschaftsprüfer anschauen – da werden Sie jetzt auch wieder enttäuscht sein –, dann müssen wir feststellen: Sie waren doch die erste Verteidigungslinie für die geprellten Anlegerinnen und Anleger. Als Wirtschaftsprüferin, als Wirtschaftsprüfer haben sie einen öffentlich beliehenen Auftrag. Sie schauen sich die Bücher im Unternehmen an, sie überprüfen, ob das, was in der Bilanz steht, auch stimmt. Wir haben in der vorherigen Debatte über internationale Beziehungen, über BEPS, über Mindeststeuer, über ganz komplizierte Sachen gesprochen. Ich habe von Fritz Güntzler gelernt: Bei der Bilanzprüfung ist ein Posten total einfach, der heißt „Cash and Cash Equivalents“, also das Konto. Zur Beantwortung der Frage: „Ist das Geld auf dem Konto?“, braucht man sich nur einen Kontoauszug anzuschauen.
Das Problem ist, die hochbezahlten Prüfer von EY haben das nicht hinbekommen; sie haben sich hinter die Fichte führen lassen.
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Am Ende haben sie jedes Jahr Brief und Siegel auf diese Bilanz gegeben. Darauf haben sich viele verlassen, und darauf muss man sich auch verlassen können. Deswegen haben wir jetzt auch die entsprechenden gesetzlichen Änderungen auf den Weg gebracht, damit genau so etwas nicht mehr passiert, meine Damen und Herren.
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Herr Altmaier hatte offenbar so viel Angst vor dieser Debatte heute, dass er in die USA geflogen ist.
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Schade, dass er nicht da sein kann. Der FC Bundestag ist eben schon genannt worden. Ich muss sagen: Olaf Scholz ist auf dem Transfermarkt ziemlich erfolgreich aktiv geworden; denn wir haben uns den Chef der Schweizer Finanzaufsicht als zukünftigen Leiter der BaFin sichern können; wir haben alles dafür getan, dass wir einen Weltklassespieler in unser Team holen.
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Was hat Peter Altmaier bei der Wirtschaftsprüferaufsicht gemacht? Er hat eine Anzeige in der FAZ geschaltet. Na ja, das kann ja was werden, meine Damen und Herren!
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Wirecard hat mich immer ein bisschen an ein Memory erinnert. Im September haben alle gesagt: Schauen Sie, unter den Memorysteinen ist überall der Finanzminister. – So, und dann haben wir im Ausschuss angefangen, die Steine umzudrehen. Als wir die ersten Steine umgedreht haben, war überall Bayern, ganz merkwürdig, wir haben doch eigentlich Hamburg erwartet, aber nein, überall Bayern. Die Staatsanwaltschaft in München ist eigentlich weltberühmt dafür, Korruptionsskandale aufzudecken; aber die Oberstaatsanwältin in München hat bis zum KPMG-Bericht geglaubt, Wirecard sei das Opfer. Ich will eines ganz klar sagen: In München gibt es einen Betriebsprüfer beim Bayerischen Landesamt für Steuern. Dieser Mann hat bei Wirecard die Bücher geprüft; er hat von diesem Skandal gehört, auf eigene Faust die Puzzleteile zusammengeführt und ist dann zur Staatsanwaltschaft gegangen. Ihm ist nicht geglaubt worden, Wirecard war ja schließlich das Opfer.
Ich komme aus Hessen. In Hessen sind zu erfolgreiche Steuerfahnder einmal für verrückt erklärt worden. Das erinnert mich alles sehr daran. Dieser Mann durfte oder konnte nicht vor unserem Ausschuss aussagen; denn seitdem er einmal mit der Presse gesprochen hat, ist er langfristig krankgeschrieben.
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Das macht mich sehr betroffen. Ich sage Ihnen eines – das können ruhig auch Herr Söder und Herr Herrmann hören –: Ich werde weiter verfolgen, was aus diesem Mann wird; denn es kann nicht sein, dass jemand, der auf der richtigen Spur war, dafür am Ende persönlich bestraft wird, meine Damen und Herren.
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Wir haben dieses Wirecard-Memory weitergespielt; wir haben mehr Steine aufgedeckt. Was verbarg sich darunter? Karl-Theodor zu Guttenberg. Ich danke hier dem Kollegen Michelbach, der ganz klare Kante gezeigt hat und gesagt hat: Das geht nicht, er hat die Kanzlerin damit beschädigt. – Richtig so. Aber er hat sich vor allem auch die Taschen vollgemacht, über 800 000 Euro bei Wirecard kassiert. Der nächste Stein, wer kommt dann? Ole von Beust, Peter Harry Carstensen, die Kanzlei Bub Gauweiler. 100 000 Euro im Monat hat die Kanzlei Bub Gauweiler dafür kassiert, dass sie die Drecksarbeit für Wirecard gemacht hat. All das befindet sich unter den Wirecard-Memorysteinen und nicht das, was Sie, Herr Kollege Hauer, hier der Öffentlichkeit erzählen wollen.
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Insofern muss ich sagen: Am Ende des Tages war es an vielen Stellen eine moderne Version von „Kleider machen Leute“; denn ich muss mir ganz offensichtlich nur für teures Geld große Namen einkaufen, um sogar bei einer so renommierten Staatsanwaltschaft wie in München Eindruck zu schinden und sie dazu zu bringen, sich komplett auf die falsche Fährte führen zu lassen. Das ist bitter. Aber ich mache den Beteiligten dort keinen Vorwurf. Sie haben, glaube ich zumindest, nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt; aber sie haben Fehler gemacht, das passiert. Aber wir müssen dafür sorgen, dass so etwas in Zukunft nicht mehr passiert. Das ist der Erfolg dieses Ausschusses, meine Damen und Herren. Ich bleibe dabei, und ich bedanke mich für die wirklich gute, spannende Zusammenarbeit. Wir haben alle unglaublich viel gelernt, und ich hoffe, dass wir dadurch so etwas in Zukunft verhindern können.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Zimmermann. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Frank Schäffler.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist viel Richtiges angesprochen worden, aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Ich möchte hier noch zwei Aspekte nennen, die, wie ich glaube, noch zu wenig beleuchtet wurden in dieser wichtigen Debatte. Das eine ist das Compliance-Problem der BaFin. Ich finde, eine Finanzaufsicht, die international Vertrauen genießen will, die international anerkannt werden will, die ernst genommen werden will, darf sich nicht gerieren wie in einer Bananenrepublik. Wenn Mitarbeiter der BaFin 510 Wertpapiergeschäfte in der heißesten Phase der Wirecard-Problematik tätigen, dann ist das ein Riesenproblem für die Glaubwürdigkeit der Finanzaufsicht in Deutschland.
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Die Frage ist: Werden daraus eigentlich die richtigen Konsequenzen gezogen? Ich meine: Nein, es geht zu langsam. Die Wirecard-Insolvenz ist ein Jahr her. Die BaFin hat jetzt angekündigt, im Frühjahr nächsten Jahres IT-Tools zu schaffen, die tatsächlich nachvollziehen können, welche Wertpapiere Mitarbeiter kaufen. Meine Damen und Herren, wenn so etwas am Ende zwei Jahre dauert, bis es umgesetzt wird, dann muss man sich nicht wundern, wenn das Vertrauen in den Finanzplatz Deutschland letztendlich darunter leidet. Die BaFin weiß noch nicht einmal, wie viele Wertpapiergeschäfte insgesamt die Mitarbeiter im letzten Jahr getätigt haben. 18 000, hat die zuständige Abteilungsleiterin im Untersuchungsausschuss gesagt; aber sie wusste es nicht genau. Bis heute ist nicht bekannt, wie viele Wertpapiergeschäfte tatsächlich gemacht wurden. Wir wissen auch nicht, ob alle gemeldet werden. Wir wissen auch nicht, welche Konsequenzen dann daraus gezogen werden. Ich finde, da trägt auch das Finanzministerium als Rechts- und Fachaufsicht die Verantwortung. Das kann man nicht einfach nur der BaFin überlassen.
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Ich sage das auch deshalb, weil die BaFin immer sehr schnell dabei ist, bei Sparkassen und Volksbanken genau dies einzufordern, also Insiderhandel in diesen Unternehmen zu verhindern. Wenn man selbst nicht in der Lage ist, dies zu tun, dann kann man das aber auch nicht bei anderen verlangen.
Ich will noch einen anderen Aspekt ansprechen, der zu kurz gekommen ist. Gestern hat Dan McCrum von der „Financial Times“ den Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik bekommen. Er war letztendlich derjenige, der diesen Skandal aufgedeckt hat. Er war es, der durch seine Hartnäckigkeit dafür gesorgt hat, dass es herauskam. Ich finde, dass die Bundesrepublik Deutschland, die deutsche Regierung, sich eigentlich bei ihm bedanken sollte.
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Sie sollte sich gleichzeitig bei ihm dafür entschuldigen, dass er von einer deutschen Staatsanwaltschaft verfolgt wurde. Er wurde getäuscht, verfolgt und schlecht behandelt von Wirecard, letztendlich auch von einer deutschen Staatsanwaltschaft. Ich finde, der Finanzminister könnte sich durch eine öffentliche Äußerung bei ihm entschuldigen und dafür sorgen, dass er auch öffentlich rehabilitiert wird.
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Insofern:
Herr Kollege.
Bitte, Herr Finanzminister, springen Sie über diesen Schatten.
Vielen Dank.
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Danke schön, Herr Schäffler. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Hans Michelbach.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Wirecard-Untersuchungsausschuss war unabwendbar notwendig. Ohne diesen Ausschuss hätten wir nicht die detaillierten Einblicke in die Vorgänge bekommen, die zum größten bundesdeutschen Finanzskandal führten. Dafür möchte ich mich bei allen Beteiligten bedanken: bei den Ausschussmitgliedern aller Fraktionen – wir haben wirklich gut zusammengearbeitet –, beim Ausschusssekretariat, das die Aufklärung mit hohem zeitlichem Einsatz mit vorangetrieben hat. Das war – ich habe ja mehrere Untersuchungsausschüsse mitgemacht – wirklich eine Kärrnerarbeit, eine großartige Gemeinschaftsarbeit.
Der Ausschuss hat dazu beigetragen, das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie wieder zu stärken. Er hat für Reformdruck gesorgt, der natürlich jetzt abgearbeitet werden muss.
Der Wirecard-Skandal wurde mehrfach als Staatsversagen bewertet. Das greift aus meiner Sicht zu kurz. Der Fall Wirecard ist vielmehr Dokument eines kompletten Aufsichts- und Kontrollversagens aufgrund krimineller Energie, wie wir es uns alle in Deutschland nicht vorstellen konnten: angefangen beim Wirecard-Aufsichtsrat und den Wirtschaftsprüfern von EY, über die Finanzaufsicht BaFin, die Geldwäschekontrolleinheit FIU bis hin zum Bundesfinanzministerium, auch zum Bundeswirtschaftsministerium, wo man eher ein laxes Verständnis beim einen von Rechts- und Fachaufsicht und beim anderen nur von Fachaufsicht hatte.
Liebe Kollegen unseres Koalitionspartners, der SPD: Zu meinem Bedauern haben Sie nicht die Kraft gefunden, dass wir die politische Verantwortung in diesem Bericht benennen. Aber es gehört natürlich zur Wahrheit, auch vor einer Bundestagswahl, dass die aufgedeckten Mängel vor allem in der Zuständigkeit des Finanzressorts lagen. Das ist unabstreitbar, meine Damen und Herren.
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Das ist nun mal die Tatsache.
Die Fehlerkette geht von der nicht erfolgten Einstufung der Wirecard AG als Finanzholding bis zum rechtswidrigen Leerverkaufsverbot als Schutzmantel für Wirecard. Da sind ja noch mal viele Anleger eingestiegen, die uns jetzt massiv bedrängt haben: Sie haben ihre Altersvorsorge verloren; sie haben ihr Vermögen, ihr Erspartes verloren. Das ist bitter, diese Mails zu lesen und im Finanzausschuss Mitverantwortung dafür zu tragen. Der Bericht des Ausschusses bedeutet eben keinen Freispruch für die Finanzaufsicht, für das Bundesfinanzministerium, für die Finanzpolitiker.
Meine Damen und Herren, Sie haben es von den Kollegen schon gehört: Ich gehöre dem Deutschen Bundestag seit mehr als 27 Jahren an. Ich habe in dieser Zeit sechs Bundesfinanzminister erlebt. Ich hatte immer großen Respekt vor diesem wichtigen Amt und habe das auch noch. Ich durfte an vielen politischen Entscheidungen mitwirken: dem steten Zusammenwachsen unseres Vaterlandes, der Einführung des Euro, dem Stabilitäts- und Wachstumspakt, der Einführung der Schuldenbremse, der Beseitigung der kalten Progression, der steuerlichen Forschungsförderung, den Hilfen für Unternehmen und Arbeitnehmer, gerade jetzt in der Pandemie, um nur einige zu nennen.
Ich habe auch viele Krisen, Verwerfungen und Auswüchse gerade des Steuer- und Finanzsystems miterlebt: Steueroasen, Steuerhinterziehung und Steuervermeidung, Panama Papers, Paradise Papers, Cum/Ex-Steuerbetrug, Börsen- und Bankencrash, Weltfinanz- und Wirtschaftskrise, Euro-Krise, Rettungsfonds ohne Grenzen, EZB-Anleihekäufe mit Höchstverschuldung.
Ja, es gab viele, viele Herausforderungen in unserem Land, in unserem Finanzsystem. Die Aufarbeitung des Wirecard-Desasters aber – und das möchte ich noch mal deutlich machen – war für mich ganz persönlich, gerade als einen der nur noch wenigen Unternehmer im Deutschen Bundestag und in der Politik, über die unmittelbare Aufklärung hinaus ein persönliches, wichtiges Anliegen. Deshalb habe ich mich da auch eingesetzt.
Denn Wirecard war für mich mehr als ein Fall von Betrug und Aufsichtsversagen. Es war ein Anschlag auf unsere freiheitliche Wirtschaftsordnung der sozialen Marktwirtschaft – die Wirtschaftsordnung, die Basis für die erfolgreiche Entwicklung unserer Wirtschaft und Gesellschaft war und ist. Für die soziale Marktwirtschaft habe ich mich im Bundestag immer leidenschaftlich eingesetzt. Dieser Erfolgsweg der sozialen Marktwirtschaft gerät aber dann in Gefahr, wenn der Staat als Herr über die Leitplanken der sozialen Marktwirtschaft versagt.
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Ebenso gerät die soziale Marktwirtschaft in Gefahr, wenn der Staat immer stärker und immer kleinteiliger in Wirtschaft und Unternehmensführung hineinregiert. Er muss sich auf seine Leitplanken konzentrieren, und die müssen stimmen und funktionieren! Die soziale Marktwirtschaft gerät in Gefahr, wie gesagt, wenn der Staat immer stärker in die Wirtschaft hineinregiert. Es ist die große Stärke der sozialen Marktwirtschaft, dass sie freien Wettbewerb mit sozialer Absicherung verbindet. Es ist der freie Wettbewerb, der zu besseren Lösungen führt, zu Innovationen und Investitionen. Nicht der Verordnungsstaat bringt erfolgreiche Lösungen hervor, sondern nur der Wettbewerb der Ideen und der daraus resultierende technische Fortschritt. Das gilt auch für die dringlichen Lösungen beim Klimaschutz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach nunmehr 27 Jahren mache ich den Platz frei für eine jüngere Generation, die Verantwortung für diese großen Herausforderungen übernehmen muss. Wir hatten es mit schwierigen Herausforderungen zu tun, aber die Zukunft ist sicher nicht einfacher zu gestalten.
Ich bedanke mich bei Ihnen für die Zusammenarbeit in den zurückliegenden Jahren. Unser Land muss stabil bleiben. Das wird nach meiner Ansicht nur gelingen mit einer intakten politischen Mitte und der freiheitlichen Marktwirtschaft mit sozialem Ausgleich.
Meine Bitte zum Abschluss ist: Machen Sie Politik mit den Menschen! Stellen Sie Lernfähigkeit über persönliche Eitelkeit! Finden Sie die Kraft, Fehler zu korrigieren! Gehen Sie ganz einfach gut miteinander um!
Wenn man an einem solchen Tag einen Wunsch frei hat, Frau Präsidentin, dann wünsche ich mir, dass der 20. Deutsche Bundestag die Kraft hat und aufbringt, die Kräfte der sozialen Marktwirtschaft wieder zu stärken.
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Ich wünsche mir wieder mehr Ansehen und Wertschätzung für das Unternehmertum. Als ich in den Bundestag eingetreten bin, waren über 10 Prozent der Abgeordnetenkolleginnen und ‑kollegen aus dem Unternehmertum. Es sind viel, viel weniger geworden. Das besorgt mich. Alle Teile unserer Gesellschaft müssen in unserer Demokratie zusammen mitgestalten, zusammenwirken. Alle Teile der Gesellschaft sollten diesem deutschen Parlament erfolgreich angehören.
Zum Schluss sage ich: Ich blicke nun auf 39 Jahre hauptamtliche Mandatsträgerschaft zurück. Ich danke meinen vielen Wählern in Coburg und Kronach. Ich danke meiner Landesgruppe mit Alexander Dobrindt, dem ich sehr, sehr verbunden bin. Ich danke meiner Fraktion mit Ralph Brinkhaus und natürlich meiner Arbeitsgruppe mit Antje Tillmann. Manchmal bin ich euch sicher auf den Wecker gegangen,
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aber ich glaube, ich habe für meine Fraktion mehrere Hundert Reden übernehmen dürfen. Sicher war ich dabei nicht immer fair. Sollte ich Kolleginnen und Kollegen des Hohen Hauses verärgert haben, entschuldige ich mich dafür. Aber: Der Streit gehört zur Demokratie, hat mal jemand Berühmtes gesagt. Unser Meinungsaustausch darf nie in persönliche Beschimpfung ausarten, sondern muss immer sachlich begründet sein. Ich hatte eine sehr erfüllende Zeit, dafür bin ich sehr dankbar.
Liebe Frau Präsidentin Claudia Roth, ich habe Sie immer kritisch gesehen, aber Sie sind eine tolle Präsidentin geworden.
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Dass Sie auch so etwas wie die Präsidentin des FC Bundestag sind, erfreut mich.
Zuallerletzt denke ich an diesen FC Bundestag, so wie es der Kollege De Masi gesagt hat. Dort wird in der dritten Halbzeit die richtige gemeinsame Politik für diesen Deutschen Bundestag gemacht, liebe Freundinnen und Freunde,
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dort gibt es Zusammenarbeit über die Parteigrenzen hinweg. Ich denke mit Stolz an die leider zu früh verstorbenen Kollegen Peter Struck, Thomas Oppermann, Hansgeorg Hauser und viele, denen ich durch den Sport in diesem FC Bundestag sehr, sehr verbunden war. Sie haben uns leider zu früh verlassen. Ich denke natürlich aber auch an Persönlichkeiten, die mit uns gespielt haben, wie Joschka Fischer, Theo Waigel, Norbert Lammert und viele andere. Auch Wolfgang Schäuble war ja einmal Mitglied des FC Bundestag. Ich meine, wir haben eine gute gemeinsame Zeit gehabt.
In diesem Sinne: Nochmals herzlicher Dank an alle! Jetzt bin ich am Ende. Das war es.
Vielen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Als Kapitän des FC Bundestag bin ich natürlich schier gerührt darüber, welche Bedeutung diese wichtige Institution des Deutschen Bundestags heute in der Debatte hat. Wir können auch feststellen, dass fünf Redner, die hier heute zu dem Thema geredet haben, Mitglied des FC Bundestag sind. Man hat in der Ausschussarbeit gesehen, dass wir den Team Spirit, den wir in der Fußballmannschaft haben, auch dort gezeigt haben, auch wenn heute in der Debatte schon klar geworden ist, dass wir ab und zu auf unterschiedliche Tore gespielt haben. Das passiert bei uns, beim FC Bundestag, aber ehrlicherweise auch. Eigentore kommen auch bei uns vor, meine Damen und Herren.
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Aber ich will zurückblicken auf wirklich spannende Monate im Untersuchungsausschuss. Ich habe in der letzten Legislaturperiode dem Cum/Ex-Untersuchungsausschuss angehören dürfen. Auch da ging es um viel Geld – sogar um ein bisschen mehr Geld –, und auch da gab es spannende Debatten. Aber ich habe die Zusammenarbeit in diesem Ausschuss völlig anders erlebt, viel kollegialer und zielführender über alle Fraktionen hinweg.
Ich möchte zunächst einen Kollegen erwähnen, ohne die anderen zu schmälern, und das ist mein Fußballfreund – das darf ich sagen – und Kollege Fabio De Masi, der uns wirklich angetrieben hat. Ich glaube, keiner kennt die Akten so gut wie Fabio. Er hat die richtigen Fragen gestellt. Er war im Thema. Ich habe oftmals gedacht – die Redezeiten, Fragezeiten werden ja nach der Größe der Fraktion zugeteilt –, man hätte ihm auch ein bisschen mehr Fragezeit geben müssen und können, weil doch viele Fragen von ihm offengeblieben sind. Lieber Fabio, einen ganz herzlichen Dank für den tollen Job, den du im Untersuchungsausschuss gemacht hast!
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Dass ich der Kollegin Kiziltepe mal vollständig recht geben muss, passiert ja auch nicht alle Tage. Aber sie hat meinen geschätzten Freund und Kollegen Hans Michelbach als Ehrenmann bezeichnet. Das kann man nur unterstreichen. Wer den Hans Michelbach kennt – ich habe ihn jetzt acht Jahre hier im Deutschen Bundestag kennenlernen dürfen –, weiß, dass er tatsächlich ein Ehrenmann ist, der der Sache verpflichtet ist. Das haben wir auch bei den Befragungen im Untersuchungsausschuss bemerkt. Da gab es keine Parteibücher mehr. Da galt es nur, die Wahrheit herauszufinden und die Sache aufzuklären. Lieber Hans, du bist ein Vorbild für uns jüngere Abgeordnete. Das darf ich mit 55 Jahren vielleicht auch noch sagen. Darüber bin ich sehr froh, und wir sind dir alle sehr dankbar. Du hast in unserer Arbeitsgruppe gesagt, du hättest ein Buch geschrieben. Aber das Buch kommt – ihr könnt ruhig sein – erst nach der Wahl raus. Von daher wird es keinen Einfluss haben auf den Wahlausgang. Aber wir sind alle gespannt, dieses Buch zu lesen.
Aber zum Untersuchungsausschuss zurück. Es ist für den letzten Redner natürlich schwierig, noch viel Neues zu bringen. Aber ich glaube, man kann vielleicht manches noch mal bestätigen. Ich finde, dieser Untersuchungsausschuss hat tatsächlich einen wertvollen Beitrag für die Demokratie geleistet. Viele Kleinanleger sind geschädigt worden, haben ihre Ersparnisse verloren; 20, 30 Milliarden Euro. Daher ist es auch unsere Aufgabe, dass wir uns als Volksvertreter mit diesem Thema beschäftigen. Wir haben uns immer wieder die Frage gestellt: Wie kann so etwas am Finanzplatz Deutschland mit so einer Finanzaufsicht, mit so einem engmaschigen Netz von Aufsicht überhaupt passieren? Warum haben die Aufsichtsbehörden letztendlich alle versagt?
Mir ist aber wichtig, dass wir, wenn wir von Behördenversagen, von Wirtschaftsprüferversagen, von Regierungsversagen reden – und was ich hier nicht alles gehört habe –, in den Mittelpunkt der Debatte stellen, dass es hier zuallererst kriminelle Energie gegeben hat.
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Hier sind Verbrecher am Werk gewesen, die die Menschen betrogen haben, und es ist gut, dass die Strafverfolgungsbehörden jetzt die Richtigen verfolgen.
Wir haben die falsche Sicherheit gehabt, dass unsere Aufsichtsbehörden alles im Griff haben. Und es war leider nicht so; das mussten wir feststellen. Wir haben feststellen müssen, dass es ein kollektives Aufsichtsversagen gegeben hat, und da sind viele betroffen – fast alle sind hier in der Debatte auch schon genannt worden –: der Aufsichtsrat, der ein reines Abnickgremium war, die Geldwäscheaufsicht, wenn sie denn überhaupt stattgefunden hat – das war ja eher ein Streit darum: Wer ist eigentlich zuständig?
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Man kann übrigens auch nicht das Gefühl loswerden, dass für Wirecard in Deutschland eigentlich irgendwie keiner zuständig war. Jedenfalls war das teilweise so. Die BaFin ist mehrfach genannt worden, mit der DPR, der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung, der Enforcement-Bilanzkontrolle, die nicht richtig gelaufen ist. Die Fach- und Rechtsaufsicht, Herr Minister, liegt nun mal beim BMF. Von daher, finde ich, hat es schon einen kleinen Beigeschmack, dass Sie nicht den Mumm haben, zu sagen: Da sind Fehler passiert bei der BaFin, und ich als verantwortlicher Minister übernehme die politische Verantwortung dafür, dass hier Fehler geschehen sind.
Dann gibt es natürlich die Abschlussprüfer von EY. Und ich kann Ihnen sagen, dass ich als Wirtschaftsprüfer, der seit 30 Jahren in diesem Bereich tätig ist, schon sehr davon betroffen bin, Dinge zu sehen, von denen ich nicht geglaubt habe, dass man sie mal sehen wird. Wir Wirtschaftsprüfer und Abschlussprüfer – auch das ist in den Befragungen deutlich geworden – genießen ein großes Vertrauen. Man muss sagen: Dieser Vertrauensstellung ist EY in keinster Weise gerecht geworden. Die Schutzfunktion der Wirtschaftsprüfung hat nicht funktioniert. Der Wirtschaftsprüfer hat die Aufgabe, die Verlässlichkeit der Informationen im Jahresabschluss und im Lagebericht zu bestätigen. Das ist alles nicht geschehen. Durch die verschiedenen Berichte – sei es der KPMG-Sonderbericht oder auch der Wambach-Bericht des Ermittlungsbeauftragten, den wir gemeinsam beauftragt haben – ist deutlich geworden, dass es geballte Auffälligkeiten gab. Der einzelne Punkt hätte nicht zwingend dazu führen müssen, mehr Fragen zu stellen; aber die Häufigkeit der Auffälligkeiten hätte zwingend dazu führen müssen, kritischer an diese Prüfungen heranzugehen. Von daher verstehe ich überhaupt nicht, dass diese große, sonst anerkannte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft so wenig Aufklärungswillen gezeigt hat, so wenig Willen zur Zusammenarbeit gezeigt hat. Ich finde es gut, dass die neue Geschäftsführung nun endlich mal ein Bedauern darüber ausgedrückt hat, dass sie diesen Betrug nicht früher aufgedeckt haben.
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Es gäbe noch viel zu sagen, Frau Präsidentin.
Nee.
Ich sehe, dass meine Redezeit abläuft. – Mir ist es wichtig, eines vielleicht abschließend zu sagen: Wir haben aufgrund des Wirecard-Untersuchungsausschusses gesetzliche Maßnahmen ergriffen. Wir können per Gesetz vieles regeln; aber wenn die Menschen innerhalb des gesetzlichen Rahmens nicht die kritische Grundhaltung und das gesunde Misstrauen haben, wird Aufsicht immer versagen. Dann können wir noch so viele Gesetze machen.
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Von daher ist es vielleicht ein Ansporn für die Aufsichtsbehörden, aber auch für uns, die Aufsichtsbehörden bei ihrer schwierigen Arbeit zu unterstützen und nicht nur den Finanzbeamten beim Landesamt für Steuern. Auch das werden wir beobachten.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur Erinnerung: Heute ist Freitag, der 25. Juni 2021. Es ist der letzte normale Sitzungstag vor der Bundestagswahl im Herbst. Die Kolleginnen und Kollegen der FDP legen uns das Thema „Digitalisierung der Polizei“ ans Herz. Dafür vielen Dank; denn die Polizei braucht unsere Unterstützung. Ihr Motiv für diesen Antrag ist aber durchsichtig. Ihnen geht es nach meinem Ermessen nur um das Erhaschen von ein paar Wählerstimmen und nicht um die wirkliche Verbesserung der Polizeiarbeit. Denn wenn es Ihnen um die Sache gehen würde, hätten Sie diesen Antrag nicht schon mehrmals geschoben und hätten heute im Bundesrat für das Bundespolizeigesetz gestimmt.
Sie finden nun, dass es einen kompletten Neustart bei der Digitalisierung der Polizei braucht, und fordern das mit populistischer Feder. Liebe Freunde von der FDP, was die Polizei zunächst vor allen Dingen braucht, ist aber Vertrauen und Unterstützung.
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Wir alle hier wissen, dass Ihre Partei, meist gemeinsam mit den Grünen und anderen linken Kräften, eher auf Misstrauen und unberechtigte Kritik gegenüber der Polizei setzt. Sie stimmten gegen das Bundespolizeigesetz.
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Sie sind gegen die Quellen-TKÜ.
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Sie stellen sich schon gegen die kleinsten notwendigen technischen Anpassungen an das 21. Jahrhundert bei der Polizei. Wenn Sie wirklich die Polizei unterstützen wollen, dann setzen Sie sich für die bessere technische und rechtliche Ausstattung der Polizei gemeinsam mit uns als Union ein.
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Wieso erschweren Sie die Überwachung und Kontrolle von Gefährdern und Terroristen? Wieso meinen Sie, dass die Polizei unbegründet Bürger überwachen würde? Aus meiner Sicht schwächen Sie mit Ihrem Verhalten die Polizei und gefährden die Sicherheit im Land. Ziehen Sie also Ihren Antrag zurück, und machen Sie sich ehrlich!
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, am heutigen Freitag, dem 25. Juni, ist auch mein letzter normaler Sitzungstag als Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Wie einige von Ihnen wissen, werde ich nicht für den 20. Deutschen Bundestag kandidieren. Gestatten Sie mir deswegen aus Anlass dieser letzten Rede ein paar Gedanken grundsätzlicher Natur:
Das Thema „innere Sicherheit“ – und da schließt sich auch der Kreis zu diesem Antrag – ist schon seit jeher mein Herzensthema und mir quasi auf den Leib geschneidert. Mein Vater ist Polizeibeamter und war in verschiedenen Verwendungen für unser Land tätig. Bei mir in Torgau war die Polizei allgegenwärtig. Selbstverständlich trafen sich die Kolleginnen und Kollegen an Geburtstagen bei uns zu Hause, oder ich war mit auf dem Revier. Sicherheit und Polizei waren immer das Thema. Auch meine Schwester hat dies geprägt. Sie arbeitet heute bei der Bundespolizei in Diez. Mit meiner Tätigkeit als aktiver THW-Helfer schließt sich für mich nun der Kreis von der Polizei zu den ehrenamtlichen Sicherheitsbehörden.
Angesichts all dieser Prägungen, aber auch aus eigener Überzeugung sage ich deshalb: Sicherheit ist nicht alles, aber ohne Sicherheit ist alles nichts. Diesen Grundsatz müssen wir uns bewahren. Denn ein Staat, der seine Bürger nicht schützen kann, ist kein Staat mehr.
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Sicherheit ist die Grundlage für gute Bildung, Gesundheit und wirtschaftliches Wachstum, ein starker Staat aus meiner Sicht Grundvoraussetzung für Wohlstand, Innovation und Zukunftsfähigkeit. Zusammen haben wir deshalb in den letzten acht Jahren sehr viel für die Sicherheit im Land erreicht: 7 500 neue Stellen bei der Bundespolizei, weitere Zuwächse bei den Polizeien der Länder, beim BKA, beim BfV, im Bereich der Verteidigung und vieles Weitere mehr.
Die Novellierung des THW-Gesetzes im letzten Jahr war für mich auch ein persönlicher Erfolg, auf den ich sehr stolz bin. Im letzten Jahr hatte das THW so viele Einsätze wie noch nie, und das lag nicht nur an der Pandemie, sondern vor allem an der neuen Rechtslage. Vielen Dank an alle, die daran mitgewirkt haben.
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Es braucht aber noch mehr als nur Gesetze und Geld für die innere Sicherheit. Es braucht eine gesellschaftliche Akzeptanz für die Polizei und die Sicherheitsbehörden, insbesondere auch für die Kameradinnen und Kameraden im Rettungsdienst, der Feuerwehr und im THW.
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Wir müssen als Gesellschaft insgesamt erkennen, dass ohne die Menschen in Uniformen und Einsatzanzügen keine Sicherheit gewährleistet werden kann. Da hilft kein Geld der Welt. Und deswegen ist es mein Appell, dass wir uns demonstrativ und geschlossen hinter dieses Engagement stellen. Stärken wir unseren Polizisten, Soldaten – heute haben wir von dem schrecklichen Ereignis in Mali gehört –, den Kameraden der Feuerwehr, den Helfern des THW und dem Rettungsdienst den Rücken!
Es ist für mich immer noch unverständlich, wenn in der Rigaer Straße Steine auf Beamte geworfen und Barrikaden angezündet werden. Es ist für mich nicht hinnehmbar, wenn in Leipzig an einem normalen Tag ein Rettungswagen im Clara-Park von angeblich Feiernden angegriffen wird oder wenn Reichsbürger mit Waffengewalt Polizisten bedrohen und sogar auf sie schießen. Gegenüber all dieser Gewalt müssen wir wachsam sein, und wir müssen ihre Bekämpfung in den Mittelpunkt unserer Arbeit stellen. Innere Sicherheit gehört nicht in die politische Schmuddelecke, sondern muss hier im Bundestag an erster Stelle stehen und auch bleiben.
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Ich sehe aber auch Nachholbedarf bei uns hier im Hause und in den Ministerien. Um nämlich zu verstehen, was Polizisten, Einsatzkräfte und Soldaten brauchen, empfehle ich, dass Minister, Staatssekretäre und auch die Kollegen Abgeordneten, die im Bereich der inneren oder äußeren Sicherheit Verantwortung tragen, mindestens eine Grundausbildung bei der Bundeswehr, Polizei, Feuerwehr, dem Rettungsdienst oder bei dem THW absolvieren.
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Es ist essenziell, dass Entscheider wissen, wie Einsätze ablaufen und wie die Menschen in den Einsätzen denken, arbeiten und wie das Zusammenspiel im Gefüge der Sicherheitsbehörden funktioniert. Nur so verstehen wir, welche Anforderungen und Bedarfe bei Material, Recht oder anderer Unterstützung notwendig sind.
Als Präsident der THW-Bundesvereinigung habe ich – leider durch die Pandemie verzögert – die Grundausbildung zum THW-Helfer absolviert und die Prüfung bestanden. Was ich vorher nur aus Gesprächen kannte, erlebte ich in Ausbildung und Einsatz. Ich habe nun ein noch tieferes Verständnis vom Aufbau der Sicherheitsbehörden, von Einsatzzwängen und den Belastungen der haupt- und ehrenamtlichen Kräfte. Es macht aus meiner Sicht einen Unterschied, wenn man über Ausstattung debattiert und man selbst mal Schere und Spreizer bediente, einen Einsatzort ausleuchtete oder auch einen Rettungskorb getragen hat. Es braucht mehr Verantwortliche aus Politik und Verwaltung, die sich dieses Wissen aneignen. So kann ein tiefes Verständnis für die Arbeit der Sicherheitskräfte entwickelt werden. Dann steht in der Debatte auch die fachliche Perspektive über dem Sicherheitspopulismus. Vielleicht würden dann auch die FDP und Grüne zu anderen, differenzierten Positionen bei diesem Themenfeld kommen.
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Weil ich weiß, welche Belastung insbesondere die Ehrenamtler schultern, möchte ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bei allen Menschen bedanken, die für uns in unserem Land Verantwortung im Einsatz übernehmen und die täglich ihren Kopf für uns hinhalten.
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Insbesondere bedanke ich mich bei meinen Kameradinnen und Kameraden aus dem THW, die mich so herzlich empfangen und schnell in die große THW-Familie aufgenommen haben. Wir haben hier einen besonderen Schatz, den wir als Parlamentarier in besonderer Weise pflegen müssen. Mein Appell daher: Gehen Sie im Sommer in die Ortsverbände! Wir haben gute Beziehungen zwischen Parlament und THW. Pflegen Sie diese weiterhin, hören Sie vor Ort zu, schauen Sie sich die Arbeit an, und unterstützen Sie die Helferinnen und Helfer dort, wo es notwendig ist!
Ich darf mich auch abschließend bei Ihnen allen, besonders meiner Fraktion, für das gute kollegiale Miteinander über Parteigrenzen hinweg bedanken. Als Vorsitzender des Petitionsausschusses habe ich gelernt, dass man oft gemeinsame Ziel hat, auch wenn man unterschiedlichen Fraktionen angehört. Man denkt ähnlich, und es gibt sehr viele Kolleginnen und Kollegen, die alle das gleiche Ziel haben: sich zum Wohl der Menschen einzusetzen. Ich finde es beeindruckend, dass miteinander gute Verbindungen über alle Fraktionsgrenzen hinweg entstanden sind, und hoffe und wünsche mir, dass wir diese auch weiterhin pflegen. Ich darf dazusagen: Mich ganz persönlich hat es gefreut, als ich hörte, dass Präsidentin Roth heute den Vorsitz während meiner Rede hat. Ich glaube, wir haben in den letzten Jahren eine gute Beziehung entwickelt,
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und ich freue mich schon auf unseren kleinen Ausflug nach Prag. Vielen Dank.
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Tja.
Tja. – Einen Dank möchte ich auch an all meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Büro richten. Sie haben mich als Chef nicht nur getragen, sondern auch ertragen. Sie standen mir mit Rat und Tat zur Seite. Sie waren offen und ehrlich, wenn Sie anderer Meinung waren oder wenn ich mich mal verrannt hatte.
Zum Schluss einen Gruß und lieben Dank an meine Familie. Ich wäre nie in den Deutschen Bundestag eingezogen, wenn es nicht die Unterstützung durch meine Eltern gegeben hätte, die mich ermutigt und tatkräftig unterstützt haben. Ich erinnere mich noch,
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als wäre es gestern gewesen, als wir im Wahlkampf 2013 zusammen im heimischen Wohnzimmer mit den Helfern saßen, Kaffee getrunken und Hunderte Kaffeebecher mit meinem Logo beklebt haben. Ohne die Unterstützung der Familie ist es schwer möglich, sein Mandat vollumfänglich und gut auszufüllen. Viel zu selten habe ich mich im Alltag dafür bedankt. Deshalb: Danke.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, als jemand, der 1985 in der ehemaligen DDR geboren wurde, ist es für mich nicht selbstverständlich, Abgeordneter im gesamtdeutschen Bundestag sein zu dürfen. Dass ich einmal hier, in Westberlin, im freien und wiedervereinigten Deutschland stehe, war für meine Familie undenkbar; es schien unmöglich. Es zeigt aber, dass wir als engagierte Menschen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen können. Seien wir also auch weiterhin offen, mutig und engagiert! Setzen wir uns für die Freiheit ein! Den Abgeordneten des 20. Deutschen Bundestages wünsche ich dabei, für den Kampf für die Freiheit, weiterhin alles Gute, viel Kraft und Gottes reichen Segen.
Ich freue mich, nun zusammen mit meiner Lebensgefährtin einen neuen Weg gehen zu dürfen und in einen neuen, lebendigen Lebensabschnitt zu starten. Als politischer Mensch werde ich Ihre Arbeit im Interesse Deutschlands und Europas weiter eng und offen begleiten. Deshalb sage ich heute nicht Ade, sondern Auf Wiedersehen.
Vielen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer im Saal und bei Youtube! Und natürlich: Liebe FDP! Wir sind ja von Ihnen viel gewohnt; aber mit diesem Antrag haben Sie dieses Mal wirklich den Vogel abgeschossen.
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Er ist derart undurchdacht und verantwortungslos, dass er in seiner Wirkung regelrecht zerstörerisch wäre.
Sie wollen mit diesem Antrag die Digitalisierung der Polizei vorantreiben. Und ich kann Ihnen gleich sagen, dass wir als AfD uns bei diesem Antrag nur deshalb enthalten, weil wir die Grundintention durchaus teilen. Auch wir wollen leistungsstarke Polizeibehörden, die kriminellen Strukturen technisch auf Augenhöhe begegnen und so die Sicherheit und Gerechtigkeit in diesem Land sicherstellen können. Aber Ihr Antrag würde entweder in das totale Chaos oder direkt in einen technisch hochgedopten Polizeistaat führen. Genau das haben Ihnen die Sachverständigen in der öffentlichen Anhörung zu diesem Antrag auch gesagt; das war eine regelrechte Klatsche für Sie. Ich verstehe gar nicht, warum Sie den Antrag hier noch einreichen.
Worum geht es? Wenn wir die Polizeiarbeit digitaler gestalten wollen, dann handelt es sich dabei um eine Operation am offenen Herzen. Alles, was wir dort ändern, geschieht im laufenden Betrieb. Das heißt, die Anwender müssen ordentlich geschult sein, und die Technik darf auf keinen Fall ausfallen. Die Funktionsfähigkeit unserer Sicherheitsbehörden muss jederzeit gewahrt sein.
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Ansonsten handeln wir uns unkalkulierbare Sicherheitsrisiken ein.
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Diesem Umstand trägt Ihr Antrag in keiner Weise Rechnung. Bereits das macht ihn verantwortungslos.
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Es geht weiter damit, dass Sie laut Ihrem Antrag unsere föderale Sicherheitsarchitektur von der technischen Seite her faktisch komplett abschaffen wollen. Sie wollen eine zentralistische IT-Struktur schaffen, innerhalb der sämtliche Polizei- und Justizbehörden auf einer gemeinsamen Arbeitsoberfläche agieren und Zugriffe auf Informationen und Daten wie Bonbons verteilt werden, ohne jede Kontrollinstanz und ohne jede Sanktionsmöglichkeit. Bereits heute haben wir in diesem Bereich aber Probleme. Der Sachverständige Professor Dr. Aden hat dazu ausgeführt – ich zitiere –:
[Es] wurde ... deutlich, dass nicht immer nachvollziehbar ist, wer aus welchen Gründen Daten aus polizeilichen Systemen abfragt und nutzt.
Ich zitiere weiter:
Immer wieder kommt es vor, dass mehrere Bedienstete unter derselben Kennung in polizeilichen Systemen arbeiten – obwohl dies bereits heute nach den innerdienstlichen Regelungen unzulässig sein sollte.
Das heißt, hier haben wir als Gesetzgeber schon jetzt dringenden Handlungsbedarf, wenn wir den Datenschutz und die Bürgerrechte ernst nehmen wollen. Auch dazu steht kein Wort in dem Antrag der FDP.
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Stattdessen setzen Sie noch einen drauf und wollen den Behörden noch mehr unkontrollierte Befugnisse geben. Aber es kommt sogar noch schlimmer: Sie wollen im Handstreich die Nutzung von KI-Systemen verordnen, von denen wir nach heutigem Stand wissen, dass sie teils zu falschen Verdächtigungen und einem steigenden Risiko rechtswidriger Maßnahmen führen. Diese Systeme sind bisher weder für die anwendenden Polizeiorgane noch für die Bürger nachvollziehbar. Einer der Sachverständigen hat zu Recht gesagt, dass es eine Blackbox ist. Auch da sind wir uns in einem Punkt nicht einig. Wir müssen nämlich eines beachten: die mangelnde Transparenz. Die Bürger müssen verstehen, warum und auf welcher Grundlage Polizei- und Sicherheitsbehörden agieren und Entscheidungen treffen. Und schließlich geht es auch noch um die Waffengleichheit. Die Bürger wollen keinen übermächtigen Polizei- und Überwachungsstaat, dem sie sich ausgeliefert fühlen. Gerade Rechtsbeiständen von Angeklagten und Richtern muss eine umfassende Nachprüfbarkeit der Rechtmäßigkeit der erhobenen Vorwürfe möglich sein, um auch zu prüfen, ob bei den Ermittlungen geltendes Prozessrecht eingehalten wurde.
Viele Erfahrungen aus dem Einsatz von KI-Lösungen bei der Polizeiarbeit stammen aus dem angloamerikanischen Raum, wo die Rechte von Angeklagten mit einer sehr strengen Früchte-des-verbotenen-Baumes-Regelung geschützt werden. Diese haben wir in Deutschland in dieser Form nicht. Wir haben insofern das Problem, dass wir bald ein Missverhältnis beim Grundsatz des fairen Verfahrens haben.
Ich könnte hier jetzt noch viel sagen,
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möchte dies aber nicht. Ich möchte Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit danken, liebe Kollegen.
Eine wichtige Sache möchte ich noch loswerden: Georg Thiel ist heute seit vier Monaten wegen nicht gezahlter Rundfunkbeiträge im Gefängnis. Das ist absolut unverhältnismäßig. Lassen Sie Georg Thiel frei, Herr Buhrow.
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Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Susanne Mittag.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erster Punkt – diesen habe ich mir vorhin in meinem Manuskript notiert –: Sie sind gar nicht im Thema. Das ist ziemlich erschreckend.
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Fangen wir inhaltlich an. Jetzt geht es um den FDP-Antrag. Ob mit Smart Germany, Smart Farming oder Smart Police, die FDP möchte so viel smarter werden.
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Das alles hört sich super an. Aber so schön und innovativ diese Worthülsen auch klingen, entscheidend sollten die realistischen Schritte der Entwicklung und Umsetzung sein. Das hört sich vielleicht nicht ganz so cool an, ist aber die Lebensrealität. Trotzdem bin ich ganz froh über Ihren Antrag; denn er gibt uns die Möglichkeit, den tatsächlichen Sachstand zu diesem Thema deutlich zu machen.
Eine gute Gelegenheit gab es kürzlich anlässlich der Anhörung zu diesem Thema im Innenausschuss des Deutschen Bundestages; da waren einige nicht dabei, die nun Sachverständige aus der Anhörung zitieren.
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Dort wurde der offenbar von vielen unterschätzte Umfang dieses ganzen Projekts richtig deutlich: Bundes- und 16 Landessysteme im Vorgang-Sachbearbeitungsbereich gilt es anzupassen. Föderalismusdebatten und Föderalismusentscheidungen und die damit verbundenen Schwierigkeiten dürften ja inzwischen allen bekannt sein. Dazu gehören 6 000 Begrifflichkeiten, die in die Systeme eingegeben werden. Die Definitionen müssen einheitlich sein, aber das sind sie nicht überall. Ich erinnere nur an die Debatte: Was ist ein Gefährder? Da gab es sehr unterschiedliche Definitionen.
Das alles hat Auswirkungen auf Ermittlungen und Aussagekraft von Statistiken sowie zukünftig auf unseren Periodischen Sicherheitsbericht – zwar althergebracht, aber trotzdem aktuell –,
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auf den wir immer noch warten. Herr Mayer, eigentlich wollten wir diesen hier debattieren, aber er liegt immer noch nicht vor. Das ist sehr schade. Versprochen war, dass er vorliegen wird. Ich finde, es wäre gut gewesen, wenn dieses Versprechen eingehalten worden wäre.
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Man ist von der Anpassung von circa 200 Systemen bundesweit ausgegangen – es sind 400 Systeme –, und das alles möglichst zügig mit Tausenden von Außenstellen, nicht nur Gebäude, sondern auch in Fahrzeugen, mit Europol-Anbindung, hacker- und diebstahlssicher und alles im laufenden Betrieb. Ein nicht zu unterschätzender Aspekt: Circa 300 000 Beamte und Beamtinnen, Verwaltungsmitarbeiter und ‑mitarbeiterinnen müssen sich umstellen und neu einarbeiten, und das sind nicht alles Jungdynamiker von der Polizeischule, sondern das geht vom Alter 18 bis über 60. Realistisch gesehen müsste eigentlich schon 2016 klar gewesen sein: Das lässt sich in vier Jahren nicht schaffen. Das funktioniert nicht. – Deswegen ist die Bezeichnung „Polizei 2020“ natürlich ein bisschen irreführend.
Trotzdem geht es gut voran. Die föderalen Einigungen sind vorhanden, und für die fachliche Unterstützung des Programms „Polizei 2020“ wurde das Competence Center Fachlichkeit, genannt CCF, mit Beamten aus allen Bundesländern und des Bundes geschaffen, damit es eine anständige Vernetzung gibt, angedockt an die Zentralstelle des BKA.
Im laufenden Betrieb werden die Systeme schon umgestellt, derzeit im zweistelligen Bereich. Bei jeder Anpassung muss auf die Auswirkungen der anderen noch laufenden Systeme geachtet werden; die dürfen ja auch nicht abstürzen. In circa sechs bis acht Jahren dürfte die Struktur stehen, und sie wird immer weiterentwickelt werden. Dieses Projekt ist sozusagen nie zu Ende – weder bei der Bearbeitung, Auswertung, Speicherung noch bei der Verbesserung der Anwendungspraxis. Es wird immer eine Weiterentwicklung geben. Allein der Bereich der digitalen Spurensuche, Auswertung und Sicherung hat schon massiv zugenommen und wird in den nächsten Jahren noch so richtig zunehmen.
Die Forderungen im Antrag sind daher weitgehend überholt. Sei es bei den digitalen Mitteln bei jedem Arbeitsprozess, der gemeinsamen Arbeitsoberfläche, der Vernetzung der Sicherheitsorgane mit der Justiz und einigem mehr – es läuft. Es ist doch schön, dass die Sorgen der FDP damit unbegründet sind, und wir alle konnten uns inzwischen informieren, wie es tatsächlich weitergeht.
Es ist ein wirklicher Systemwechsel bei den Sicherheitsbehörden, den wir natürlich weiter intensiv begleiten werden – da kann noch jede Menge passieren –, damit er nicht ins Stocken kommt, sei es durch finanzielle oder organisatorische Probleme. Das sollte im Interesse von uns allen sein. Ein Antrag mit überholten Forderungen ist hier aber der falsche Ansatz. Deswegen lehnen wir ihn ab.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Susanne Mittag. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Benjamin Strasser.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich vor, ein Bürger wird auf seinem Smartphone mit Hassnachrichten überflutet, er wird genötigt oder bedroht, und er geht zu seiner Polizeidienststelle und möchte diese Straftaten anzeigen. Dort erlebt er allzu oft Folgendes: Die Polizei vor Ort ist nicht in der Lage, die Nachrichten dieses Mobiltelefons in eine digitale Beweissicherung zu überführen oder irgendwie zu verakten. Stattdessen wird das Smartphone auf einen Fotokopierer gelegt, und der Bildschirm wird abkopiert, um diese Bilder dann zu den Akten zu nehmen. Das ist kein fiktives Beispiel, sondern dies hat uns in der Anhörung ein ehemaliger Präsident eines Landeskriminalamts so geschildert. Das ist die Realität in Deutschland, Frau Mittag.
Oder ein anderes Beispiel: Wir haben es regelmäßig mit bundesweiten Einsatzlagen zu tun, Demonstrationsgeschehen, wo Polizeien unterschiedlicher Länder miteinander einen Einsatz bewältigen sollen. Aufgrund von unterschiedlichen Messengerlösungen, die nicht miteinander kompatibel sind, ist es nicht möglich, ein Einsatzgeschehen digital miteinander zu bewältigen. Die Kolleginnen und Kollegen, die Beamten vor Ort sind nicht mal in der Lage, verschlüsselte Messenger wie Threema oder andere auf ihrem Dienstgerät zu installieren, weil das nicht geht, und sind darauf zurückgeworfen, verbotenerweise WhatsApp zur Kommunikation zu nutzen, obwohl dabei Daten von Bürgerinnen und Bürgern auf amerikanischen Servern landen. Das ist unverantwortlich. Dieser Zustand muss abgestellt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Lieber Marian Wendt, du bist wirklich ein cooler Typ; so habe ich dich in den vier Jahren erlebt. Aber der erste Teil deiner Rede hat das ganze Dilemma eurer Innenpolitik noch mal auf den Punkt gebracht. Ihr seid immer sofort dabei, wenn es darum geht, neue Überwachungsbefugnisse einzuführen, und ihr stellt euch nicht die Frage, was da technisch geht und wer alles davon betroffen ist. Aber wenn es darum geht, dass Polizeibeamte mit den jetzigen Befugnissen schlicht und einfach ihren Job machen sollen, wird es still. Da sieht man von eurem Handeln wenig. Das ist ein bedauerlicher Zustand.
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Liebe Kollegin Mittag, die „Saarbrücker Agenda“ 2016 bestand aus Leitlinien; das war ein erster Schritt. „Polizei 2020“ ist durchaus ein Projekt, das man begrüßt, auch wenn der Arbeitstitel vielleicht eher „Polizei 2030“ hätte lauten sollen. Aber geschenkt! Aber was verfolgt „Polizei 2020“? Wir wollen ein gemeinsames Datenhaus schaffen; das ist „Polizei 2020“. Das ist die Grundlage von Digitalisierung, aber es ist nicht die Digitalisierung. Deswegen ist mit „Polizei 2020“ der Digitalisierungsprozess auch nicht abgeschlossen. Vielmehr müssen wir uns in diesem Haus fragen, welchen Rechtsrahmen wir für eine verlässliche und verbindliche Digitalisierung in der Polizei über „Polizei 2020“ hinaus setzen.
Wir schlagen Ihnen in unserem Antrag einen echten Digitalpakt für die Polizei vor, einen Staatsvertrag zwischen Bund und Ländern, der eine solide Finanzierung sichert, sodass Digitalisierung eben nicht von der Kassenlage einzelner Bundesländer abhängig ist. Wir brauchen eine entsprechende technische Ausstattung in allen Bundesbehörden, bei der Bundespolizei, beim Bundeskriminalamt. Da ist nicht alles so gut, wie Sie es dargestellt haben. Wir brauchen gemeinsame Standards für die Softwareentwicklung, Privacy by Design, Privacy by Default. Wir brauchen Berechtigungszugriffe. Es ist anders, als der Kollege der AfD es hier dargestellt hat. Das steht in unserem Antrag. Wenn Sie diesen Digitalpakt nicht wollen, dann lassen Sie es zu, dass weiterhin ein digitaler Flickenteppich in Deutschland vorherrscht. Das können wir nicht verantworten.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist heute die letzte innenpolitische Debatte unter dieser Bundesregierung. Vielleicht kann ich noch kurz Bilanz ziehen zu 16 Jahren unionsgeführter Innenpolitik.
Nein, das dauert zu lange, die Bilanz.
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Das ist bedauerlich. Aber ich sage Ihnen: Nie gab es im Bereich der inneren Sicherheit mehr zu tun. Wir nehmen uns das im Herbst vor.
Vielen herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Benjamin Strasser. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Dr. André Hahn.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei aller sonstigen Kritik an der Politik im Sicherheitsbereich, zum Beispiel wenn es um immer größere Eingriffe in Bürgerrechte für Polizei und Geheimdienste geht, was wir ablehnen, steht auch für Die Linke außer Zweifel, dass die Polizei in diesem Land personell und technisch gut ausgestattet sein muss. Personell hat sich in den zurückliegenden Jahren bereits einiges getan; im technischen Bereich sind wir zum Teil noch ein Entwicklungsland.
Der Antrag der FDP ruft viele wichtige Themen im Zusammenhang mit der Digitalisierung der Polizeiarbeit auf, lässt aber auch Fragen offen und befasst sich leider so gut wie gar nicht mit der Wechselwirkung von Digitalisierung und Polizeiarbeit. Ja, auch wir wünschen uns eine größere Interoperabilität in der technischen Ausstattung der Polizei. Die vorhandenen Systeme sollten in der Tat in der Lage sein, möglichst bruchlos zusammenzuarbeiten, was natürlich voraussetzt, dass die Polizei überhaupt im notwendigen Umfang über digitale Geräte verfügt.
Was ich allerdings im Antrag der FDP vermisse, ist eine kritische Auseinandersetzung mit der vor allem in Innenministerien und Polizeiführung vorherrschenden Wunschvorstellung, dass alle irgendwo bei der Polizei abgelegten Informationen auch immer und überall zur Verfügung stehen müssten. Dazu sagt die Konferenz der unabhängigen Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder mit Blick auf das Projekt „Polizei 2020“, dass präzise zwischen den verschiedenen Verarbeitungszwecken Aufgabenerfüllung, Dokumentation und Vorsorge getrennt werden muss. Daher muss beim rechtlichen Rahmenwerk noch nachgesteuert werden. Für eine konkrete Aufgabe oder Dokumentation, wo man Daten gespeichert hat, dürfen diese Daten nicht pauschal in einen riesigen Pool überführt werden, um sie dann unabhängig vom ursprünglichen Speicherungszweck für jedwede Recherche zu nutzen.
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Genau in diese Richtung, meine Damen und Herren, geht aber das Programm „Polizei 2020“. Es scheitert bislang im Wesentlichen an dem Wildwuchs bei Datenbanken und Anwendungen sowie inkompatibler Software.
Ein weiterer Punkt aus dem Antrag der FDP, zu dem ich hier nur ganz kurz etwas sagen kann, betrifft den Einsatz der künstlichen Intelligenz. Hier möchte ich an den Hinweis des Sachverständigen Dr. Egbert von der Universität Bielefeld erinnern, der davor warnt, dem Trugschluss zu verfallen, dass digitale Technologien per se eine effektivere Polizeiarbeit ermöglichen. Vielmehr sei die Einführung von digitalen Technologien stets mit Risiken verbunden. Das muss man ernst nehmen. So gibt es zum Beispiel Studien aus den USA, die besagen, dass von Richterinnen und Richtern verwendete automatisierte Entscheidungshilfen, also künstliche Intelligenz, insbesondere schwarze Menschen benachteiligen. Das wollen wir ausdrücklich nicht.
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All diese Fragen bleiben aus Sicht der Linken im FDP-Antrag unterbelichtet, weshalb wir uns trotz unbestritten auch richtiger Ansätze enthalten werden.
Letzte Bemerkung, Frau Präsidentin: Der FC Bundestag hat Ende August noch drei Länderspiele, gegen Österreich, Finnland und die Schweiz. Drücken Sie uns alle die Daumen!
Herzlichen Dank.
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Das tue ich ganz sicher, lieber Dr. André Hahn. – Letzte Rednerin in dieser Debatte: Dr. Irene Mihalic für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Maßgeblich für den Erfolg von polizeilichen Ermittlungen ist es, gewonnene Informationen richtig zu verarbeiten, damit Personen identifiziert und Tatnachweise geführt werden können. Dafür ist natürlich das nahtlose Zusammenwirken von informationstechnischen, digitalen Systemen besonders wichtig. Und auch die sonstigen digitalen Anwendungen der Polizei müssen letztlich dazu dienen, die polizeiliche Arbeit zu erleichtern und effizienter zu machen und nicht zu verkomplizieren. Ein mangelnder Datenaustausch und fehlende Informationen können schwere Folgen für die Ermittlungsarbeit nach sich ziehen.
Doch wer jetzt glaubt, dass es einfach nur darum geht, möglichst viele Daten zu sammeln, hat Grundlegendes auch rechtsstaatlich nicht verstanden.
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Zum einen ist die Datenqualität entscheidend. Denn wenn bereits die erfassten Daten fehlerhaft sind, dann kann die Datenanalyse auch nur fehlerhaft sein. Und auch die technischen Möglichkeiten wie die Anwendung von künstlicher Intelligenz dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es am Ende des Tages auf ausreichend qualifiziertes Personal ankommt, also Personal, das die Systeme beherrscht und die Ergebnisse auch entsprechend interpretieren kann. Daher müssen wir in die Aus- und Fortbildung und auch in die Förderung von Fachkarrieren investieren.
Bei der Entwicklung von selbstlernenden Systemen muss es aber auch eine Technikfolgenabschätzung geben, um die Chancen, mögliche Gefahren und vor allen Dingen auch die Grenzen dieser Systeme frühzeitig zu erkennen. Das ist ein Grundsatz, den die FDP in ihrem Antrag leider nicht erwähnt. „Digitalisierung first, Bedenken second“ darf nicht die Devise sein, wenn es um die Verwendung höchst sensibler und personenbezogener Daten geht, meine Damen und Herren.
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Dazu gehört zum Beispiel, dass Daten von Zeugen und Hinweisgebern konsequent von Daten von Tatverdächtigen unterschieden werden müssen. Noch dringlicher ist aber, dass wir insgesamt in die IT-Infrastruktur bei der Polizei investieren. Den meisten Polizistinnen und Polizisten stehen nicht einmal mobile Endgeräte wie Laptops, Tablets oder Smartphones zur Verfügung. Und wenn es sie doch gibt, dann sind sie im Alltag oft nicht zu gebrauchen, weil die Anwendung einfach Probleme macht. Das führt im Polizeialltag in erster Linie zu enormen Effizienzverlusten, statt dass die Geräte die Arbeit erleichtern, wenn zum Beispiel Protokolle vor Ort handschriftlich erfasst und anschließend im Büro aufwendig abgetippt werden müssen oder wenn sich zwei Polizisten an der Autobahnraststätte treffen, um eine Festplatte mit wichtigen Daten zu übergeben, anstatt sie digital übertragen zu können. Das Beispiel mit dem Kopierer hat Benjamin Strasser gerade genannt. Das ist ungefähr so sinnvoll, wie eine E-Mail auszudrucken und per Fax zu verschicken, aber leider immer noch Alltag.
Die Aufgaben, die vor uns liegen – das zeigen all diese Beispiele –, sind enorm, und das aktuell größte IT-Projekt „Polizei 2020“ steckt leider noch in den Kinderschuhen, obwohl der Name etwas anderes suggeriert. Aber die rechtsstaatlich organisierte Digitalisierung der Polizei ist eine der wichtigsten Aufgaben für die kommende Wahlperiode, der wir uns gemeinsam widmen müssen.
Ganz herzlichen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die 66-jährige Architektin Nahid Taghavi lebt seit 1983 in Köln, hat seit 2003 neben der iranischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Seit vergangenem Herbst sitzt sie im Evin-Gefängnis im Iran. Sie war nach ihrer Festnahme tagelang verschollen, über Wochen ohne notwendige medizinische Betreuung, über Monate ohne Anklage und fast 200 Tage in Isolationshaft. Am 16. Juni begann ihr Prozess; eine Klärung ist nicht absehbar. Der Zustand von Frau Taghavi ist ihren Angehörigen zufolge sehr schlecht. Der Iran entlässt nicht aus der iranischen Staatsbürgerschaft, gewährt aber auch keinen konsularischen Zugang bei gleichzeitiger deutscher Staatsbürgerschaft. Es gibt quasi kein Entkommen.
Ich hätte leider mehrere solcher Beispiele hier wählen können. Das zeigt auch der heute debattierte Bericht der Bundesregierung zu ihrer Menschenrechtspolitik auf erschreckende Weise. Die Liste der Staaten weltweit, in denen Menschen auf dramatische Weise in ihren Rechten eingeschränkt und furchtbar drangsaliert oder sogar getötet werden, ist lang.
Im Iran werden wir seit Jahren Zeugen einer erodierenden Menschenrechtslage. Die hohe Zahl vollstreckter Todesurteile, die Unterdrückung von Frauen, sexuellen Minderheiten, ethnischen und religiösen Gruppen und die zu Beginn angesprochenen Gefahren für Regimekritikerinnen und Regimekritiker und Menschenrechtsaktivistinnen und ‑aktivisten inklusive der Festnahme politischer Geiseln, das alles ist sehr besorgniserregend. Deshalb stellen wir heute auch den Antrag mit dem Titel „Menschenrechte ins Zentrum der Iranpolitik stellen“.
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Mit diesem Antrag machen wir klar: Sowohl auf bilateraler Ebene als auch im Verbund mit EU-Partnern und den Vereinten Nationen dürfen die Bemühungen der Bundesregierung nicht abreißen, alle sich ergebenden Chancen, die Menschenrechtslage positiv zu beeinflussen, auch zu nutzen. Gerade im Verhältnis zum Iran haben wir dies immer wieder getan und die Gesprächskanäle offengehalten. Es gibt diejenigen, die in solchen Fällen schnell rufen, dass man mit den Regierungen nicht mehr reden solle. Aber wem soll das eigentlich nützen? Den Drangsalierten wohl am allerwenigsten. Es ist wahrlich keine leichte Aufgabe, und deshalb danke ich umso mehr Außenminister Heiko Maas und dem Auswärtigen Amt für die Standhaftigkeit auf so vielen Baustellen trotz so vieler Angriffe von vielen Seiten.
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Leider müssen wir feststellen, dass die Entwicklungen weltweit, aber auch unmittelbar in unserer Nähe nicht so sind, dass wir auch nur annähernd den vielen schlimmen Menschenrechtsverletzungen in dieser Debatte gerecht werden könnten.
Einige der besorgniserregendsten Vorfälle beobachten wir ja seit einiger Zeit direkt vor den Toren Europas in Belarus. Seit der mutmaßlich gefälschten Wahl von Machthaber Lukaschenko wurde jeder Protest aus der Bevölkerung rigoros und mit Gewalt unterdrückt. Aktuell befinden sich mehr als 400 politische Gefangene in Haft, wie man hört, unter desaströsen Bedingungen. Gemeinsam mit mehreren Kolleginnen und Kollegen aus diesem Hause haben wir Patenschaften für Inhaftierte übernommen, ich für Tatsiana Kaneuskaya, die allein aufgrund der Teilnahme an Demonstrationen nach belarussischem Strafgesetzbuch wegen der, wie es heißt, „Organisation von Unruhen“ zu sechs Jahren Straflager verurteilt wurde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen nicht nachgeben, auf diese Schicksale aufmerksam zu machen und unsere Solidarität auszudrücken.
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Die erzwungene Flugzeuglandung zum Zweck der Festnahme eines Oppositionellen ist der bisherige Tiefpunkt dieser erschreckenden Entwicklung. Es ist wichtig, dass wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier immer wieder diese Fälle sichtbar machen. Die Bilder, die uns erreichen, sind erschreckend genug, und der Mut der Bevölkerung ist bewundernswert. Aber diese Kraft ist nicht grenzenlos, und das weiß die Führung. Deshalb ist es so wichtig und war es so wichtig, dass die EU und andere Staaten mit den in Kraft gesetzten Wirtschaftssanktionen auch gehandelt haben.
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Damit möchte ich noch einmal kurz zum 14. Bericht der Bundesregierung kommen. Ich möchte aus unserem Antrag Folgendes nennen: Wir setzen uns ein im Kampf gegen Straflosigkeit, wir tragen zur Stärkung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag bei und waren beteiligt an der Schaffung des EU-Menschenrechts-Sanktionsregimes, welches zukünftig sicherlich und hoffentlich deutliche Wirkung entfalten wird.
Straflosigkeit, also die häufig ausbleibende Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen, haben wir als SPD-Bundestagsfraktion in dieser Legislatur zu unserem Schwerpunktthema im Menschenrechtsausschuss gemacht. Es geht darum, zu sehen, wie Kriegsverbrechen in Syrien, Verbrechen durch den sogenannten „Islamischen Staat“ oder auch Verbrechen infolge der Vertreibung der Rohingya in Myanmar durch Gerichte untersucht und bestraft werden können.
Von uns eingeladene Sachverständige wie Christoph Safferling von der Uni Erlangen-Nürnberg weisen darauf hin, dass wir der Straflosigkeit nur Herr werden können, wenn weltweit nationale Strafrechtssysteme mit einbezogen würden, so wie es in Deutschland zum Beispiel bei der Verfolgung von Straftaten im Syrienkrieg durch den Generalbundesanwalt erfolgreich praktiziert wurde.
Wir stehen vor einer wachsenden Zahl von kriegerischen Auseinandersetzungen, von Völkerrechtsverbrechen. Wir müssen mit ansehen, wie Folter, Vergewaltigung, Mord oder Chemiewaffeneinsätze gezielt angewandt werden, und in den allerwenigsten Fällen können die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Wir setzen uns mit einer breiten Mehrheit hier im Haus dafür ein – darin waren wir uns im Menschenrechtsausschuss Gott sei Dank auch immer einig –, dass sich das endlich ändert.
In diesem Zusammenhang muss ich noch einige Worte zu China sagen. Die Entwicklungen sind dramatisch. Ich hatte bereits bei der Debatte zur Religionsfreiheit angemerkt, dass es um mannigfaltige Formen religiöser Diskriminierung und Verfolgung geht, darunter übrigens auch gegenüber 80 Millionen Christen, die in China leben. Der Menschenrechtsbericht greift zu Recht die Lage in den Regionen Xingjiang und Tibet auf. Ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin:
Die Menschenrechtslage hat sich … durch die Ausweitung von Repression, Überwachung und Masseninternierungen weiter verschlechtert. Berichtet wird u. a. von Zwangsarbeit und staatlichen Zwangsmaßnahmen zur Geburtenkontrolle, die insbesondere gegen die uigurische Minderheit gerichtet sind.
Darüber hinaus verfolgen viele Menschen auch in unserem Land mit größter Sorge, was in Hongkong passiert.
Die Volksrepublik China hat sich als Unterzeichnerin der UN-Charta und der Genozidkonvention in Völkerrechtsverträgen zur Achtung der Menschenrechte und zur Verhütung von Menschenrechtsverbrechen verpflichtet. Aber gleichzeitig müssen wir beobachten, wie sie sogar europäische Abgeordnete, die die Menschenrechtsverbrechen zum Thema machen, verfolgt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so wie wir in dem Ausschuss für Menschenrechte gut zusammengearbeitet haben, so deutlich müssen wir auch in Zukunft diese Dinge hier nennen, dürfen uns nicht den Mund verbieten lassen und müssen sehr deutlich machen, dass das für uns nicht akzeptabel ist.
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Ich möchte zum Schluss allen Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausschuss sehr danken, auch der AfD, die uns sehr viel zugemutet hat, die sich aber nicht beschweren kann, unfair behandelt worden zu sein; denn wir hatten eine hervorragende Ausschussvorsitzende: Gyde Jensen. Ganz herzlichen Dank noch einmal auch für deine Arbeit!
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Vielen Dank, Aydan Özoğuz. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Jürgen Braun.
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Verehrtes Präsidium! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen!
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Auf den letzten Drücker in dieser Legislaturperiode hat die ganz große Regierungskoalition mit FDP und Grünen doch noch einen Antrag zur Menschenrechtslage im Iran eingebracht. Der Antrag enthält nichts, was wir nicht schon seit Monaten oder Jahren wissen. Sie erwähnen noch nicht einmal den Namen des neuen iranischen Präsidenten in diesem abgestandenen Antrag.
Im Iran regiert jetzt Ebrahim Raissol-Sadati, kurz: Raisi, ein Massenmörder. Seit zwei Jahren steht er auf der Sanktionsliste der Vereinigten Staaten. Raisi, ein Israel-Hasser, ein radikaler Antisemit. 1988, gegen Ende des irakisch-iranischen Krieges, hat Raisi Tausende von Menschen ermorden lassen: Regimegegner, Frauen, Kinder, Christen und Juden – insgesamt mindestens 5 000 Menschen, von bis zu 30 000 Ermordeten ist sogar die Rede. Raisi hat klar gesagt: Proiranische Terrormilizen sollen auch weiterhin Israel bedrohen; das Raketenprogramm des Iran soll ausgebaut werden.
Was macht Claudia Roth jetzt? Wird sie auch den Massenmörder Raisi mit ausgebreiteten Armen in Empfang nehmen wie damals Laridschani? Oder kommt jetzt ein High Five mit Raisi zur Behebung der Lage, zur Hebung der Stimmung wie damals mit dem iranischen Botschafter in Deutschland, ebenfalls ein iranischer Massenmörder? Wir wissen es nicht.
Heute geht es auch um den Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik. Dieser Bericht liest sich, als wäre er von Linksextremisten geschrieben worden.
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Die ganze linke Agenda wird abgearbeitet. Linksextreme Straftaten kommen in diesem Bericht nicht vor. Islamischer Extremismus wird komplett unterschlagen.
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Von brutalen Angriffen auf Christen in deutschen Asylbewerberunterkünften lesen wir mal wieder nichts. Die vielen Schändungen von Kirchen in Deutschland: nicht dokumentiert. Von Internetzensur durch das NetzDG lesen wir auch nichts.
Vor allem aber wird der neue Antisemitismus in unserem Land verharmlost und beschwiegen – islamischer Antisemitismus. Dieses Verschweigen passt nahtlos zur Anbiederung an den Iran; denn den Judenhass des islamischen Mullah-Regimes haben die Altparteien bisher auch beschwiegen. Ich halte fest: Die Altparteien schwanken beim Thema Antisemitismus wie ein Rohr im Wind. Die AfD ist die einzige Fraktion in diesem Hause, die konsequent
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und unmissverständlich gegen jede Form des Judenhasses vorgeht,
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sei er rechts, sei er links, sei er islamisch.
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Wenn Raketen mit Atomsprengköpfen in Richtung Israel in der Luft sind, ist es zu spät.
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Die Bundesregierung hätte sich ein Beispiel am amerikanischen Präsidenten Trump nehmen können. Stattdessen wurde Trump von den Altparteien hier im Parlament immer wieder wüst beschimpft, auch für seine Iran-Politik. Trump war es jedoch, der dem Mullah-Regime entschlossen die Grenzen aufzeigte. Trump war es, der Israel schützte.
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Die Altparteien suggerieren in ihrem heutigen Antrag, der Iran habe sich bis 2019 an die Abmachungen des sogenannten Atomabkommens gehalten. Erst nach dem Ausstieg der Trump-Regierung soll, so behaupten die Altparteien, Teheran dieses Abkommen missachtet haben. Es ist eine Frechheit, zu behaupten, der Iran habe sich vorher an solche Verpflichtungen gehalten. Sie erzählen Märchen, um das Versagen der Bundesregierung zu vertuschen. Die deutsche Politik der Anbiederung an das Mullah-Regime in Teheran ist gescheitert. Das zeigt nicht zuletzt auch wieder dieser hilflose Antrag.
Meine Gedanken zum Ende dieser Legislaturperiode sind heute
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bei unseren Soldaten in Mali. Wir hatten gehofft, dass wir ihnen das ersparen können. Die Soldaten in Mali –
Ihre Redezeit ist zu Ende.
– sind dort für uns. Ich hoffe, dass wir alle an Sie denken und Konsequenzen ziehen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Michael Brand.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein gutes Zeichen, dass der Deutsche Bundestag heute in einem gemeinsamen, fraktionsübergreifenden Antrag klar Position bezieht zum Thema Iran und auch konkrete Forderungen an die Bundesregierung stellt.
Es sieht düster aus für die Menschen im Iran. Das ist die bittere Wahrheit. Die vom Regime der Mullahs inszenierte Fiktion einer Wahl, bei der nur Hardliner des Regimes zugelassen wurden und ein für viele Verbrechen verantwortlicher Mann zum neuen iranischen Präsidenten gewählt wurde, verheißt nichts Gutes für die Menschen im Iran. Der für die mörderische Justiz dieses Gottesstaates verantwortliche Geistliche ist nun der weltliche Führer dieses Landes, das über eine so lange zivilisatorische Geschichte verfügt.
Zivilisiert ist das nicht, was das Regime praktiziert. Willkürliche Verhaftungen aufgrund unbestimmter Straftatbestände, wie „Propaganda gegen das Regime“ oder „Verunglimpfung der Religion“ und anderes, dienen zur Einschüchterung einer immer unzufriedeneren, im Übrigen sehr jungen Bevölkerung. Frauen und Mädchen sind bereits mit neun Jahren – ich wiederhole: mit neun Jahren! – strafmündig, Jungen und Männer erst mit 15 Jahren. Zu dieser menschenverachtenden Diskriminierung passt überhaupt nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass dieses Regime im April ausgerechnet in die UN-Kommission zur Rechtsstellung der Frau gewählt wurde.
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Dass die Buchreligionen im Iran offiziell anerkannt sind, hilft ihnen überhaupt nicht, da sie ihren Glauben nicht öffentlich praktizieren dürfen und im Alltag diskriminiert werden. Menschen, die vom Islam zu anderen Religionen, zum Beispiel zum Christentum, konvertieren, werden mit der Todesstrafe bedroht. Dieses Regime ist kein Gottesregime. Es ist ein gottloses Regime.
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Einmal mehr hat sich eine korrupte Elite der Religion bemächtigt, sie missbraucht, um die eigenen Gewaltfantasien und die eigenen Profitinteressen auszuleben. Zudem vertritt die iranische Führung ein sehr aggressives Regime nach außen mit enormen Investitionen in den Terror. Zahlreiche Länder im Nahen und Mittleren Osten leiden unter dieser aggressiven Regionalpolitik der Mullahs.
Die ganze Welt hat ein strategisches Interesse daran, dass dieses Regime nicht auch noch eine Atombombe in die Hand bekommt. Die ganze Welt muss aber auch ein Interesse daran haben, dass dieses Regime nicht weiter mit seiner gesamten Brutalität einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung und später vielleicht einen Krieg gegen andere Länder führt, so wie es mit der Förderung des Terrorismus und der Förderung von Kriegsparteien im Irak, im Libanon, im Jemen, in Gaza und vielen anderen Gebieten bereits der Fall ist.
Der gemeinsame Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen verfolgt exakt ein Ziel: Die Menschen im Iran – nicht die Mullahs – müssen ins Zentrum der deutschen Iran-Politik gestellt werden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, wir müssen wegen der Atomwaffen mit den Mullahs im Gespräch bleiben. Aber, nein, das bedeutet nicht, dass wir die Menschen wegen der Mullahs vergessen dürfen. Für die CDU/CSU bleibt es nicht nur in dieser Wahlperiode, sondern auch für die künftige Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland von entscheidender Bedeutung, dass wir nicht denjenigen zu viel nachgeben, deren Hände – wie die des neuen iranischen Präsidenten – voller Blut von unschuldigen Opfern sind.
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So ist die Bundesregierung und so ist der Deutsche Bundestag und so sind wir alle aufgefordert, uns an den Heldinnen und Helden im Iran zu orientieren, wenn wir unsere Positionen formulieren. Es ist ein guter Tag für dieses Parlament, dass die Fraktionen und Parteien mit einer großen demokratischen Tradition und einer Tradition der Menschenrechte sich zu diesem gemeinsamen Antrag zusammengefunden haben. Ich danke dafür und bitte um Zustimmung zu diesem Antrag.
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Vielen Dank, Michael Brand. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Gyde Jensen.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einer knappen Woche hatten viele Menschen im Iran die Wahl: Sie konnten sich entscheiden, ob sie bei den Präsidentschaftswahlen durch ihre Stimmabgabe eine Wahlfarce legitimieren oder ob sie zu Hause bleiben und die Wahl boykottieren. Der Großteil der Iranerinnen und Iraner, die diese Wahl hatten – Staatsbedienstete hatten sie zum Beispiel nicht –, hat Letzteres getan, und sie haben sich damit wohl für die einzige Form des Protestes entschieden, die im Iran überhaupt noch möglich ist, ohne Familie, Freunde, Angehörige oder sich selbst massiv in Gefahr zu bringen.
In Russland wiederum setzen Alexej Nawalny und viele andere alles aufs Spiel, weil sie wollen, dass die Menschen bei der Duma-Wahl, nur eine Woche vor der Bundestagswahl hier, über mehr abstimmen können als über das kleinere Übel. In Belarus gehen die Menschen auch fast ein Jahr nach der gestohlenen Wahl unter Einsatz ihrer persönlichen Freiheit und Sicherheit auf die Straße, weil sie die Hoffnung auf faire und freie Neuwahlen nicht aufgeben wollen. In Hongkong haben Hunderte Menschen ihre Solidarität bekundet, als die letzte freie Zeitung der Stadt schließen musste, weil die Peking-treue Regierung ihre Finanzmittel eingefroren, ihren Verleger verurteilt und ihre Chefredakteure festgenommen hat.
Menschenrechtskrisen von katastrophalem Ausmaß passieren derzeit in Myanmar, in Tigray/Äthiopien, in Syrien und im Jemen. Die UN-Menschenrechtsbeauftragte Michelle Bachelet nannte das, was wir momentan weltweit leider erleben müssen, vor wenigen Tagen die „weitreichendste und schwerwiegendste Kaskade von Menschenrechtsverletzungen zu unseren Lebzeiten“.
Die vergangenen Jahre müssen jeden von uns hier und in der Bevölkerung aufgerüttelt haben. Der Weg zu Freiheit, zu Demokratie, zu Rechtsstaatlichkeit, zu einer Welt, in der alle Menschen überall ihre Menschenrechte völlig selbstverständlich leben können, ist keine schicksalhafte Bestimmung. Das war eine Entscheidung, die die internationale Gemeinschaft am 10. Dezember 1948 mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bewusst getroffen hat. Und dass wir dieses Ziel erreichen, ich glaube, das muss uns jeden Tag, unabhängig von einer Legislaturperiode, immer wieder neu anspornen.
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Das fängt damit an, dass Menschen aus der ganzen Welt, die hier bei uns in Deutschland Schutz vor Verfolgung suchen, auch sicher sind. Deswegen haben wir Freie Demokraten nicht nur den schon angesprochenen überfraktionellen Antrag zum Iran mit eingereicht, sondern wir haben weitere Initiativen angekoppelt, unter anderem einen Antrag, der sich mit dem Schutz von Menschen, die hier in Deutschland Zuflucht suchen, beschäftigt. Ich würde mich freuen, wenn wir vielleicht auch in der nächsten Legislaturperiode bei solchen Themen interfraktionell arbeiten könnten.
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Menschenrechte sind keine Buzzwörter, die man aneinanderreiht, es sind auch keine pathetischen Projekttitel und wohlfeile Statements – denn die ändern nichts –, aber davon gab es in dieser Legislatur aus dem Auswärtigen Amt ein bisschen zu viel. Wer weltweit für Menschenrechte eintritt, der braucht auch den Mut, einmal anzuecken. Da kam in dieser Legislatur aus dem Auswärtigen Amt deutlich zu wenig.
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Ich möchte mich für die wunderbare Zusammenarbeit im Menschenrechtsausschuss bedanken – es wurde schon angesprochen –, und ich möchte mich auch dafür bedanken, dass wir die Debatte mit einem interfraktionellen Antrag zur wichtigen Arbeit der Menschenrechtspolitik – es geht um die universellen, unteilbaren und unveräußerlichen Menschenrechte im Iran – schließen können. Lassen Sie uns in dieser Legislatur damit enden und in der nächsten damit weitermachen: im Zweifel für die Freiheit und im Zweifel für die Menschenrechte.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Gyde Jensen. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Zaklin Nastic.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie hätte die Ratifizierung des Fakultativprotokolls zum UN-Sozialpakt intensiv geprüft, ein Abschluss des parlamentarischen Verfahrens in dieser Legislaturperiode sei – Zitat – „aus Zeitgründen“ nicht mehr möglich, so die Antwort der Bundesregierung auf meine Frage im April. Meine Damen und Herren, das ist pure Augenwischerei. Seit über zehn Jahren ist es möglich, das Zusatzprotokoll zu ratifizieren, womit eine Individualbeschwerde wegen Missachtung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte vor dem UN-Sozialausschuss der Vereinten Nationen möglich würde, und zwar gegen die Regierung, die dagegen verstößt. Sie haben dieses Vorhaben in Ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben, aber offensichtlich nie ernsthaft geplant, dieses umzusetzen. Das bedauern wir sehr.
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2018 wurde die Bundesregierung vom UN-Sozialausschuss gerügt, zum Beispiel wegen der fehlenden Anpassung der Hartz-IV-Regelsätze an das Existenzminimum, wegen des Mangels in Deutschland an bezahlbarem Wohnraum oder auch wegen des Umgangs mit Geflüchteten. Diskriminierungen finden aber nicht primär in der Sprache statt, sondern bei den Löhnen, bei dem Zugang zum Wohnen, Bildung und Gesundheit. Von der vollständigen Beseitigung dieser Missstände sind wir leider meilenweit entfernt.
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Natürlich ist ein Menschenrechtsantrag zum Iran wichtig Aber wen bestrafen Sie eigentlich mit diesen Wirtschaftssanktionen: tatsächlich die Menschenrechtsverletzer oder eher die verletzten Menschen? Wer die Lebensmittelpreise durch diese Wirtschaftssanktionen um zwei Drittel steigen lässt, bestraft die Ärmsten der Armen. Wenn in den Kliniken gerade jetzt unter Corona dringend notwendige Medikamente und medizinische Geräte fehlen, bestraft man wieder die Ärmsten. Lesen Sie doch endlich bei Human Rights Watch nach, wer unter diesen Sanktionen im Iran eigentlich leidet. Und eigentlich stärken Sie damit auch noch den konservativen Klerus, den Sie hier eben angeprangert haben. Wann prangern Sie eigentlich die US-Regierung für diesen völkerrechtswidrigen Wirtschaftskrieg an?
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In ihrem 14. Menschenrechtsbericht geht die Bundesregierung auf nur noch 30 Länder ein; in dem davor waren es immerhin noch 81 Länder. Die Auswahl ist wirklich bezeichnend: Es findet sich kein einziger EU-Mitgliedstaat darunter, genauso wenig wie die USA, obwohl wir doch alle wissen, was für Pläne gerade in den USA geschmiedet werden,
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wenn in Arizona mit dem Nazigiftgas Zyklon B hingerichtet werden soll. Gegen NATO-Waffenbrüder findet die Bundesregierung in Ihrer Antwort auf meine Frage nur das seichte Wort: Sie sei „besorgt“;
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keine Maßnahmen wie Exportverbote oder Einreisesperren für die Verantwortlichen, auch keine Reisewarnung.
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Meine Damen und Herren, das sind wirklich doppelte Standards.
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Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit gehören untrennbar zusammen; nicht für die Eliten, die sie sich kaufen können, sondern wirklich für alle Menschen, übrigens auch in Deutschland.
Vielen Dank.
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Danke schön. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Margarete Bause.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fülle der unterschiedlichen Anträge, die wir heute zur Menschenrechtspolitik beraten, zeigt die ganze Bandbreite der Themen, aber auch die Versäumnisse der jetzigen Bundesregierung und die Herausforderung für die Zukunft.
Stichwort „Iran“. Das Regime im Iran ist verantwortlich für schwerste und grausamste Menschenrechtsverletzungen. Seit Jahren werden die Menschenrechte, die Bürgerrechte systematisch missachtet und verletzt. Frauen, Männer und sogar Kinder werden Opfer von willkürlichen Verhaftungen, von Folter, von Hinrichtungen.
Der Ringer Navid Afkari wurde im letzten September nach einem erzwungenen Geständnis exekutiert. Seine Brüder Vahid und Habib Afkari sitzen seit Monaten in Isolationshaft. Mit äußerster Grausamkeit gehen die Behörden insbesondere gegen Menschenrechtsverteidigerinnen, Menschenrechtsanwältinnen vor. Prominentestes Beispiel ist Nasrin Sotudeh, die wegen ihres ungebrochenen Widerstands und ihres unvorstellbaren Mutes zur Symbolfigur der iranischen Menschenrechtsbewegung geworden ist und die nach wie vor unter den entsetzlichsten Bedingungen im Gefängnis sitzt. Ein anderes Beispiel ist die Menschenrechtsaktivistin Narges Mohammadi, die nach jahrelanger Haft und Misshandlung freikommen konnte, dann aber erneut verurteilt wurde – zu 80 Peitschenhieben und zweieinhalb Jahren Haft – wegen eines Sitzstreiks im Gefängnis.
Irans neuer Präsident Ebrahim Raisi ist maßgeblich verantwortlich für die schwersten Menschenrechtsverletzungen, und das ist ein fatales Signal für die Zukunft. Unsere Reaktion muss lauten: jegliche nur denkbare Unterstützung für die mutige Zivilgesellschaft im Iran, keine Leisetreterei der Bundesregierung und der EU, Zugang der UN-Hochkommissarin und sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen.
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Zweites Stichwort: Menschenrechte und Klimaschutz. Die Erderhitzung hat bereits jetzt verheerende Auswirkungen auf die Menschenrechte. Alle Menschenrechte sind davon bedroht: das Recht auf Leben, das Recht auf Gesundheit, das Recht auf Wasser, das Recht auf Nahrung, das Recht auf Bildung, das Recht auf Wohnen. Besonders bedroht sind, wie immer, die Verletzlichsten, die Ärmsten und die Kinder. Das sind gerade diejenigen, die am allerwenigsten zur Zerstörung unserer Lebensgrundlagen beigetragen haben. Deswegen ist die Klimakrise immer auch eine Menschenrechtskrise, und deswegen müssen Klimaschutz und Menschenrechtsschutz Hand in Hand gehen; denn Klimaschutz braucht Menschenrechte, und Menschenrechte brauchen Klimaschutz.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, was mir als Menschenrechtspolitikerin immer wieder Hoffnung gibt, ist der unfassbare Mut so vieler Menschen weltweit, die trotz schlimmster Bedrohungen für ihr Leben oder das Leben ihrer Familie nicht aufgeben, die kämpfen, die sich einsetzen für Würde, für Freiheit, für Menschlichkeit. Demgegenüber finde ich viele Debatten, die wir hier führen, mutlos, ängstlich, achtlos, manchmal auch schäbig, sei es beim Lieferkettengesetz, sei es bei der Aufnahme von Geflüchteten oder sei es beim Umgang mit China.
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Was wir brauchen, ist mehr Mut für Menschenrechte. Das sind wir den Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidigern weltweit schuldig.
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Vielen Dank, Margarete Bause. – Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Katja Leikert.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist voraussichtlich die letzte menschenrechtspolitische Debatte in dieser Legislatur. Ich halte es aus diesem Anlass für wichtig, dass wir fraktionsübergreifend ein Zeichen setzen in Sachen Iran, auch gegenüber dem neuen iranischen Präsidenten Raisi, der eben nicht für einen Neuanfang steht.
Man muss es deutlich benennen: Raisi hat eine Karriere als Aufseher von Folterknechten im iranischen Justizsystem hinter sich. Er hat eine Wahl gewonnen, die alles andere als frei war – während die iranische Anwältin Nasrin Sotudeh unschuldig im Gefängnis sitzt, während die Gewerkschafterin Sepideh Gholian unschuldig im Gefängnis sitzt und während des Scheinprozesses gegen die Kölnerin Nahid Taghavi, der vor wenigen Tagen begann; Frau Özoğuz hat es ausgeführt. Mit seiner Rolle in der Region und seiner Missachtung für jede Art von Minderheit steht der Iran für vieles, was wir in diesem Haus bekämpfen: Autoritarismus, Intoleranz und Gewalt.
Zwar ist der Iran ein Extrembeispiel, aber er ist längst kein Einzelfall mehr. Das zeigt uns ein Blick in die Menschenrechtsberichte der Bundesregierung und der Europäischen Union. Länder, in denen zu leben zunehmend unsicher wird, gibt es immer mehr; ein Trend, den es aus unserer Sicht zu bekämpfen gilt. Beim Herkunftsstaat Eritrea haben wir mittlerweile, Stand Mai 2021, eine Gesamtschutzquote im Asylverfahren von über 80 Prozent.
Wir müssen noch viel stärker mit den Hauptherkunftsstaaten zusammenarbeiten – dort, wo das möglich ist, natürlich –, um die Situation für die Menschen vor Ort zu verbessern. Dafür hat sich Angela Merkel gerade erst gestern wieder beim Europäischen Rat eingesetzt. Der Schutz von Menschenrechten muss aus meiner Sicht noch viel stärker in der Sicherheitspolitik generell verankert werden. Wir brauchen eben eine echte vernetzte Sicherheit.
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Deshalb würde ich mir wünschen, wir würden über den Menschenrechtsfall Sotudeh genauso viel sprechen wie über das Atomabkommen mit dem Iran.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken und der AfD, zu Ihren Anträgen, die wir heute ja mit debattieren: Menschenrechtspolitik ist keine Rosinenpickerei.
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Für das, was der Kollege Chrupalla in Russland an Anbiederung betrieben hat, während Nawalny im Straflager vegetiert, kann man sich wirklich nur schämen.
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Dass man über die Lage in Kolumbien reden muss, da stimme ich Ihnen zu, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken; aber dass Ihnen zu Ihrem Genossen Maduro in Venezuela
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so wenig einfällt, zeigt, dass auch Ihnen nur die Menschen wichtig sind, die zufällig in Ihre Ideologie passen. Der Rest muss halt schauen, wo er bleibt.
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Und zum Schluss, Herr Braun, Ihre „High five“-Bilder im Zusammenhang mit unserer Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Claudia Roth waren unangemessen und waren dumm.
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Es hat schon seine Gründe, warum der Deutsche Bundestag Ihnen das Amt des Vizepräsidenten hier verwehrt hat.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns alles dafür tun, dass die nächste Wahlperiode menschenrechtspolitisch zu einer besseren wird.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Katja Leikert. – Jetzt kommt der letzte Redner in dieser Debatte, und das ist für die CDU/CSU-Fraktion Martin Patzelt.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wieder mal habe ich in der Debatte das letzte Wort.
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Nein, nein, in dieser Debatte.
Das gibt mir die Freiheit, dass mir keiner in der Debatte widersprechen wird.
Jahrelang habe ich mich als Berichterstatter um diesen Antrag zum Iran bemüht. Deshalb erfüllt es mich mit großer Freude und Genugtuung, dass es nun gelungen ist, überfraktionell einen solchen Antrag zu stellen. Das ist ein großer Schritt nach vorne. Das Überwinden parteilicher Grenzen in Menschenrechtsfragen – meine Vorrednerinnen haben das schon gesagt – sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, weil es um eine übergeordnete Größe geht.
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Mit diesem Antrag fordern Oppositions- und Regierungsfraktionen gemeinsam die Regierung mit einem langen Katalog von Maßnahmen auf, alles uns nur Mögliche zu tun, um das menschenfeindliche Handeln der Regierung im Iran zunächst einzudämmen. Das Überwinden parteilicher Grenzen ist, wie ich gesagt habe, ein großer Fortschritt.
Weil ich jetzt selber in die Jahre gekommen bin und weil das hier meine letzte Rede im Bundestag ist und weil vieles zu diesen Themen schon gesagt wurde, lassen Sie mich etwas grundsätzlicher werden, sozusagen als Vermächtnis.
Erstens. Menschenrechte sind bekannterweise nicht zum Nulltarif zu haben; aber sie sind die nicht wegzudenkende Basis eines guten Lebens, auch unseres Lebens. Die Beachtung von Menschenrechten und das fortgesetzte Ringen darum bewirken die Freiheit des Geistes und der Unternehmung. Sie bedeuten einen Mehrwert und bringen letzten Endes auch Wohlstand. Insofern bleibt unser Einsatz für Menschenrechte nicht nur ein humanitäres Handeln. Wir handeln hier in unserem ureigensten Interesse. Wer sich die Landkarte der Erde anschaut, kann das sehen: Dort, wo Menschenrechte beachtet werden, wo Demokratie gelebt wird, da entwickeln sich Wohlstand und ein gutes Zusammenleben. Deshalb dürfen uns die Menschenrechte etwas kosten – sogar etwas mehr –, wenn wir unseren Nachkommen eine gerechtere, friedlichere und bewohnbare Welt überlassen wollen.
Zweitens. Wir sprechen viel vom Schutz, Erhalt und sogar Kampf um die Demokratie. Das ist richtig und wichtig. Aber die Demokratie an sich ist kein Selbstwert, meine Damen und Herren; sie ist gekennzeichnet von der Achillesferse der Mehrheiten. Mehrheiten aber können von Angst, Zeitgeist und gruppenbezogenen Egoismen bestimmt werden, und sie können letzten Endes auch auf nachhaltige Entscheidungen verzichten. Mehrheiten können auch irren oder sich für falsche Kompromisse entscheiden. Deshalb braucht es für ein demokratisches Zusammenleben unabdingbar ein festes Wertebewusstsein und eine persönliche Haltung. Wir können hier miteinander noch so richtige und noch so gute Gesetze verabschieden: Wenn wir selbst und die Bürgerinnen und Bürger sie nicht mit Leben, mit Überzeugung und entsprechendem Handeln füllen, dann bleiben sie ein fleischloses Korsett.
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Das Dritte, was ich noch sagen möchte: Ich erlebte im Bundestag das angestrengte und erfolgreiche Mühen um eine optimierte Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und beruflichem Engagement. Im ersten Lebensjahr kommen Kinder mit ihren unabweisbaren Bedürfnissen nach unverwechselbarer, anhaltender und von Trennungsängsten freier Zuwendung dabei schnell unter die Räder. Wir sollten uns nicht wundern über den wachsenden Bedarf an Erziehungshilfe, über die Kinder mit psychischen Problemen, über suizidale Jugendliche, über fehlende Empathie und Toleranz, über Gewaltanwendung, die bis zur Empfänglichkeit für Terrorismus und extremes menschliches und politisches Verhalten führt, wenn wir der Ausbildung eines resistenten Persönlichkeitsfundamentes im ersten Lebensjahr nicht genügend Aufmerksamkeit und zeitlichen Raum schenken und, so nötig, den Eltern dafür in der Zeit frühkindlicher Entwicklung entsprechende Unterstützung geben.
Kinder, aus freier Entscheidung der Eltern ins Leben gerufen, gehören sich selbst. Sie bedürfen zunächst der uneingeschränkten Zuwendung und späterhin der Förderung. Kinder dürfen, wenn ihre Entwicklung gelingen soll, nicht zu Erwartungsträgern elterlicher oder gesellschaftlicher Erwartung mutieren. Freie, verantwortliche, empathische und tolerante Menschen bieten die sicherste Gewähr für Demokratie und Achtung von Menschenrechten.
Frau Präsidentin, ich möchte noch einen Dank sagen, wenn ich darf. – Mit diesem sozusagen persönlichen Vermächtnis scheide ich aus dem Bundestag. Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, unseren kompetenten und immer eifrigen – auch technischen – Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bundestag, der Fraktion, unserer Arbeitsgruppen, meines Büros. Nicht zuletzt danke ich auch meinen Wählerinnen und Wählern, die oft genug akzeptieren mussten, dass ich nicht ihrer Meinung war und nicht ihre Wünsche erfüllen konnte.
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Die acht Jahre vergingen schnell und haben mir persönlich neue Perspektiven, viele schöne Begegnungen, Tür-und-Angel-Gespräche und eine sinnvolle Lebenszeit geschenkt. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich wünsche allen Scheidenden eine gute persönliche Zukunft und allen, die den Stafettenstab wiederaufnehmen werden, gute Entscheidungen für unser Land und die Menschen, die darin wohnen.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Eins ist sicher: Ohne die Union, ohne uns hätte es die weitreichenden Verbesserungen in den letzten Jahren für die Menschen, die in den Pflegeberufen tätig sind, für die Menschen, die gepflegt werden, und für ihre Angehörigen sicher nicht gegeben.
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– Da müsst ihr euch gar nicht aufregen.
Es war die Koalition, die zum Beispiel die Pflegestufen in Pflegegrade umgestellt hat. Damit haben wir die Abkehr von der Minutenpflege geschafft. Es waren wir, die damals die ambulanten Leistungen in der Pflege erweitert haben. Und es ist sicher, dass wir, zumindest in der Union, diese auch in Zukunft nicht einschränken werden, sondern zu einem flexiblen, gut handhabbaren Budget zusammenfassen.
Ein Paradigmenwechsel war die Erstreckung der Leistungen der Pflegeversicherung auf Menschen mit kognitiven und psychischen Einschränkungen. 1,6 Millionen an Demenz Erkrankte erhalten heute Leistungen aus der Pflegeversicherung.
Wir haben uns auch frühzeitig um Generationengerechtigkeit in der Pflegeversicherung bemüht, und zwar mit dem Pflegevorsorgefonds, der aktuell jährlich 1,6 Milliarden Euro thesauriert, um die Pflegeleistungen auch für die geburtenstarken Jahrgänge zu sichern. Diesen Pflegevorsorgefonds wollen wir bis 2050 verlängern, nicht etwa auflösen, und wir wollen ergänzend betriebliche Pflegezusatzversicherungen kreieren, die künftig dazu beitragen, dass sich die Menschen zusätzlich wirksam absichern können.
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Wir haben die Pflegepersonaluntergrenzen eingeführt und die Rechtsgrundlagen für ein wissenschaftlich fundiertes Personalbemessungssystem sowohl in der Alten- wie in der Krankenpflege geschaffen.
Gerade erst in der letzten Sitzungswoche haben wir die Verbesserungen für die Pflegefachkräfte in der Altenpflege vorgestellt. Deren tarifvertragliche Entlohnung ist künftig Voraussetzung dafür, dass ein Unternehmen überhaupt erst die Zulassung als Pflegeeinrichtung erhält.
Die Spirale „Höhere Gehälter in der Pflege gleich höhere Kosten für die Heimbewohner“ haben wir mit einem gestaffelten Zuschuss zum pflegebedingten Eigenanteil unterbrochen.
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Ich kann Ihnen versichern: Die Union wird auch in der nächsten Legislatur keine Bürokratiefriedhöfe aufbauen. Wir setzen auch weiter auf einkommensabhängige paritätische Beiträge, Eigenbeteiligung und einen Steueranteil für versicherungsfremde Leistungen. Und vor allem wird es die Einheitsversicherung mit uns nicht geben.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie bei vielen ist auch dies meine letzte Rede im Deutschen Bundestag. Ich habe hier sehr gerne die Interessen der Menschen in meinem Wahlkreis vertreten. Ich bin auch dankbar, dass ich in der Gesundheitspolitik in Deutschland mitentscheiden, mitgestalten durfte.
Ich will an dieser Stelle Ihnen und euch, vor allem den Kolleginnen und Kollegen im Gesundheitsausschuss wie auch in der Regierung, für die vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit danken. Wir haben es geschafft – das ist mir wichtig zu betonen –, dass wir uns jenseits der uns im parlamentarischen Verfahren gestellten Aufgaben jederzeit an einen Tisch setzen und in aller Freundschaft einen Kaffee oder einen Wein trinken konnten.
Meinen Unionskolleginnen und ‑kollegen, die mich ertragen, aber auch getragen haben, danke ich für ihr Vertrauen und ihre Freundschaft.
Liebe Sabine Dittmar, du warst mein Counterpart. Ich bin dir für die vertrauensvolle, kollegiale und vor allem sehr freundschaftliche Zusammenarbeit sehr, sehr dankbar.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf den Mauern des Reichstagsgebäudes steht der Satz „Dem deutschen Volke“. Ich habe meine Arbeit immer so verstanden und auch danach gelebt. Ich habe bis heute, bis zum letzten Tag, nie gleichgültig den Reichstag betreten, sondern stets mit Achtung und mit Respekt vor dem Amt und vor den Menschen.
Herzlichen Dank Ihnen allen. Mir war es eine Ehre.
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Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren eine Reihe von Anträgen rund um die Pflegeversicherung. Unser Antrag möchte vor allem pflegende Eltern unterstützen. Mit dem Begriff der Pflegebedürftigkeit wird zumeist das Bild eines älteren Menschen assoziiert. Dass es deutschlandweit auch über 73 000 Kinder und Jugendliche mit anerkannter Pflegebedürftigkeit gibt, wissen die wenigsten.
Verhinderungspflege nach § 39 SGB XI wird gewährt, wenn eine Pflegeperson wegen Krankheit, Urlaub oder aus sonstigen Gründen an der Pflege gehindert ist. Für die Verhinderungspflege steht derzeit ein jährlicher Betrag von 1 612 Euro zur Verfügung. Dieser Betrag kann um bis zu 806 Euro aus Mitteln der Kurzzeitpflege aufgestockt werden.
Anders als die Kurzzeitpflege, die nur in bestimmten stationären Einrichtungen in Anspruch genommen werden darf, ist die Verhinderungspflege sehr flexibel einsetzbar. Sie kann beispielsweise durch nicht erwerbsmäßig pflegende Personen wie Angehörige oder Nachbarn oder familienunterstützende Dienste erbracht werden. Sie kann mehrere Wochen am Stück, aber auch tage- oder stundenweise in Anspruch genommen werden.
Leider bedeutet der Arbeitsentwurf aus dem Bundesgesundheitsministerium zum Pflegereformgesetz eine Verschlechterung für Menschen mit Behinderungen. Ein Teil der sogenannten Verhinderungspflege soll künftig einer längeren Verhinderung der Pflegeperson vorbehalten bleiben. Für die stundenweise Inanspruchnahme der Verhinderungspflege sollen dagegen ab dem 1. Juli 2022 nur noch maximal 40 Prozent des Gesamtjahresbetrags zur Verfügung stehen. Im Ergebnis würden durch diese Regelungen die Mittel für die flexible Einsetzbarkeit der Verhinderungspflege um fast 50 Prozent gekürzt. Das ist unglaublich familien- und behindertenfeindlich.
Verhinderungspflege ist die wichtigste Entlastungsleistung in der Pflegeversicherung, gerade für Menschen und Familien mit behinderten Kindern. Diese Entlastungsleistung darf in ihrer Flexibilität nicht eingeschränkt werden. Die Alternative für Deutschland fordert: erstens den jährlichen Betrag für Verhinderungspflege sowie die Mittel aus der Kurzzeitpflege jeweils um 20 Prozent zu erhöhen, zweitens den derzeitigen Rahmen für die Inanspruchnahme der stundenweisen Verhinderungspflege deutlich zu erhöhen und somit bis zu 80 Prozent des Gesamtjahresbetrags zur Verfügung zu stellen, drittens für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf Ersatzpflegeangebote zu schaffen, die Kinder nicht schlechterstellen als Erwachsene.
Familien mit behinderten Kindern benötigen oft auch kurzfristig Auszeiten von der Pflege, weil der Pflege- und Familienalltag eben nicht immer planbar ist. Für viele Familien ist die Inanspruchnahme von stundenweiser Verhinderungspflege die einzige Möglichkeit, eine solche geltend zu machen, weil insbesondere für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf nicht genügend geeignete Ersatzpflegeangebote für längere Zeiträume zur Verfügung stehen.
Meine Damen und Herren, Entlastung kann nur effektiv sein, wenn sie flexibel, ganz nach Bedarf genutzt werden kann. Auf Eltern behinderter Kinder, die durch die Coronapandemie ohnehin schon bis an ihre Grenzen hochgradig belastet sind, sollte gerade jetzt Rücksicht genommen werden. Ich bitte Sie im Namen der betroffenen Familien unseres Landes: Unterstützen Sie unseren Antrag und zeigen Sie, dass Kraftanstrengungen für die Bürger parteiübergreifend und über alle ideologischen Grenzen hinweg möglich sind.
Ja, auch ich halte heute eine letzte Rede: die letzte Rede vor der Sommerpause. Wenn alles gut geht, sehen wir uns alle wieder. Ich freue mich darauf! Tanken wir Kraft, wir werden sie brauchen für „Deutschland. Aber normal“.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Höchst. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Heike Baehrens.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade haben wir erlebt, wie man vier Minuten für nichts verwenden kann.
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Denn das, worüber Sie gesprochen haben, hat überhaupt nicht das Licht der Gesetzgebung erblickt.
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Ein guter Schluss ziert alles. Darum ist es gut, dass diese Legislaturperiode der Pflege mit einem Tagesordnungspunkt zur Pflege endet. Drei zentrale Kernthemen haben wir in dieser Koalition vorangebracht.
Wir haben dafür gesorgt, dass Tarifbezahlung zum Standard wird; ein wichtiger Schritt zur Erhöhung der Attraktivität der Berufe in der Pflege.
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Wir haben dafür gesorgt, dass Fachkräfte mehr Kompetenzen erhalten, dass insbesondere mehr Personal in die Pflegeeinrichtungen kommt und dass der Einstieg in das neue Personalbemessungsverfahren gelungen ist, was mittelfristig für bundeseinheitliche Personalschlüssel in der Pflege sorgt.
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Und wir haben ganz viel getan zur Entlastung der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen, indem wir die Kurzzeitpflege gestärkt haben und indem wir dafür gesorgt haben, dass Kinder nur noch dann zu den Kosten der Pflege herangezogen werden, wenn sie ein sehr hohes Einkommen haben.
Außerdem haben wir dafür gesorgt, dass ab 1. Januar 2022 die Pflegebedürftigen bei den Eigenanteilen spürbar entlastet werden.
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Auf diesem Pfad werden wir weitergehen. Und ja, eine echte Reform der Pflegeversicherung muss kommen. Da weist der Antrag, über den wir heute eigentlich sprechen, in die richtige Richtung. Denn fast 40 Milliarden Euro Rücklagen liegen in der privaten Pflegeversicherung, weil Gutverdienende und Beamte zwar ihre Beiträge in die private Pflegeversicherung einzahlen, aber an Leistungen jährlich nur etwa 1,5 Milliarden Euro in Anspruch nehmen. Die private Pflegeversicherung versichert Menschen mit höherem Einkommen und niedrigerem Pflegebedarf. Das muss verändert werden. Deshalb braucht es die Pflegebürgerversicherung.
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Ob es tatsächlich gelingt, die Rücklagen für alle zu erschließen, wird wahrscheinlich das Verfassungsgericht klären müssen. Aber wenn die soziale Pflegeversicherung und die private Pflegeversicherung zusammengeführt werden, dann stehen sofort jährlich etwa 2 Milliarden Euro mehr zur Verfügung, um die Pflege für alle zu verbessern. Mit der Pflegebürgerversicherung bekommen wir mehr Geld für gute Pflege für alle und für bessere Arbeitsbedingungen. Damit kann endlich auch eine echte Deckelung der Eigenanteile gelingen, vielleicht auch der Schritt zur Pflegevollversicherung.
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Und damit bekommen wir endlich das Entlastungsbudget für die häusliche Pflege, damit die pflegenden Angehörigen diese Leistungen flexibler in Anspruch nehmen können.
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So wird die Pflegeversicherung noch solidarischer und nachhaltiger.
Ich möchte an dieser Stelle den Kolleginnen und Kollegen von der Union für die Zusammenarbeit danken, vor allem für das, was wir gemeinsam für die Pflege auf den Weg gebracht haben. Dass es uns als SPD nicht wirklich reicht, was erreicht wurde, wissen Sie. Aber wie hat es August Bebel mal ausdrückt: Man muss manchmal den Sack zumachen, auch wenn er noch nicht voll ist. – Mit dieser Weisheit gehen wir jetzt in die parlamentarische Sommerpause. Aber gleichzeitig starten wir durch; denn jetzt kämpfen wir weiter für eine solidarische Pflegepolitik, für eine starke SPD und für eine Mehrheit im Deutschen Bundestag, die eine echte solidarische und zukunftsfeste Pflegereform möglich macht. Darauf freue ich mich.
Ihnen allen einen guten und vor allem gesunden Sommer.
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Vielen Dank, Heike Baehrens. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Nicole Westig.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Pflege ist das Thema des letzten Debattenpunkts in dieser Legislaturperiode. Ich hoffe sehr, dass sie in der nächsten Legislaturperiode weiter oben auf der Agenda steht. Denn gerade die Frage, wie wir künftig gute Pflege gestalten und finanzieren wollen, ist eine zentrale Herausforderung. Einigen Punkten, die Grüne und Linke hier vorlegen, können wir Freien Demokraten sogar zustimmen.
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Die Forderung nach einer konsequenten Überführung der medizinischen Behandlungspflege in Heimen in den GKV-Bereich teilen wir; denn die Eigenanteile würden damit sofort und spürbar gesenkt. Dass dies trotz großer Einigkeit in diesem Hause noch immer nicht umgesetzt wurde, ist ein großes Versäumnis dieser Koalition.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, auch ein unabhängiges Case-Management zur Erhebung des Pflegebedarfs macht Sinn. Ebenso müssen wir uns überlegen, wie sich Auszeiten vom Beruf für Care-Arbeit verwirklichen lassen. Sie wollen die PflegeZeit Plus, wir möchten so etwas umfassender mit einem Freiraumkonto regeln.
Doch wie wollen wir die Pflege künftig finanzieren, wenn immer weniger junge Beitragszahlende immer mehr älteren Menschen gegenüberstehen? Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Problem lösen wir nicht mit der hier so gepriesenen Pflegebürgerversicherung;
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denn auch diese kann den demografischen Wandel nicht aufhalten; auch diese generiert langfristig nicht mehr Beitragszahlende. Eine Bürgerversicherung lässt junge und nachfolgende Generationen außen vor. Sie sind es aber, die in Zukunft immer mehr finanzielle Lasten tragen müssen.
Die Pflegeversicherung ist 1995 bewusst als Teilleistung angelegt worden, und der Gesetzgeber hat bewusst auf die Eigenverantwortung abgestellt. Dass es eine Pflegelücke gibt, war immer klar; diese ist jedoch vielen Menschen nicht bewusst. Deshalb müssen wir transparenter kommunizieren und deutlich machen, dass es nicht ohne zusätzliche Eigenvorsorge geht. Und da gibt gute Ansätze, zum Beispiel bei der IG Bergbau, Chemie, Energie. Hier bietet der Arbeitgeber seinen Beschäftigten und deren Familien eine Pflegevorsorge an. Solche Modelle sollten wir weiterentwickeln und unterstützen, zum Beispiel durch steuerliche Anreize.
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Wenn eine neue Bundesregierung diesen Weg beschreiten und die Pflege auch für unsere Kinder stabil machen will, dann sind wir Freien Demokraten gerne dabei.
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Ich wünsche Ihnen eine schöne Sommerpause. Bleiben Sie gesund!
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Vielen herzlichen Dank, Nicole Westig. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Kathrin Vogler.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jens Spahn hat zu Beginn der Coronapandemie an diesem Pult gesagt, dass wir uns irgendwann wahrscheinlich viel zu verzeihen haben werden. Daran ist ja viel Wahres; aber was ich dieser Bundesregierung nicht verzeihen kann, das stammt schon aus der Zeit vor Corona, und das ist die desaströse Lage in der Pflege.
Ich erinnere mich noch zu gut an die Bilder von alten Menschen, die während der Lockdowns monatelang in ihren Zimmern eingesperrt wurden und von Pflege- und Betreuungskräften versorgt wurden, die nicht einmal genug Masken und Handschuhe hatten, um sich und die ihnen Anvertrauten, nämlich unsere Eltern und Großeltern, zu schützen. Das Massensterben in den Pflegeheimen durch Covid-19 ist das Ergebnis einer langjährigen Politik der Unterfinanzierung und Privatisierung. Pflegekräfte, die ihren Beruf aufgeben, weil sie permanent gegen ihr Gewissen und ihre Professionalität handeln müssen, Angehörige, die mit der Sorgearbeit alleingelassen werden, und Menschen, die durch die Kosten der Pflege zum Sozialfall werden – all das war schon vorher da, ist halt nur in der Krise noch mal total eskaliert. Dafür gibt es von der Linken kein Verzeihen.
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Spätestens seit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts von gestern, das die Ausbeutung von 24-Stunden-Pflegekräften in Privathaushalten begrenzt, ist jetzt auch klar: So wie bisher kann es nicht weitergehen.
Mit unserer solidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung haben wir ein Konzept vorgelegt, wie Gesundheit und Pflege nachhaltig und gerecht finanziert werden können.
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Wenn sich nämlich endlich alle angemessen an der Finanzierung beteiligen, auch Spitzenverdienende und diejenigen, die von Mieteinkünften oder Dividenden leben, dann steht auch genug Geld zur Verfügung für eine Vollversicherung in der Pflege, damit Pflegebedarf kein Armutsrisiko mehr ist, Pflegekräfte angemessen bezahlt und die Familien, der billigste Pflegedienst der Nation, entlastet und unterstützt werden können.
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Auch bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege wären finanzierbar. Mehr Personal senkt nachgewiesenermaßen das Infektions- und Sterberisiko auf den Stationen; davon hätten alle was, mehr jedenfalls als von billigem Applaus und einer Schachtel „Merci“.
Also, unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch, sie sind durchdacht und durchgerechnet. Auch von SPD und Grünen gibt es viele gute Ideen.
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Damit wir sie auch umsetzen können, brauchen wir eine neue Mehrheit für eine andere Politik, einen echten Politikwechsel für einen Pflegeaufbruch in diesem Land. Dafür muss auf jeden Fall die CDU/CSU raus aus der Regierung, und die FDP darf nicht rein. Nur eine starke Linke ist nämlich der Garant für eine soziale Gesundheits- und Pflegepolitik.
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Frau Präsidentin, erlauben Sie mir an diesem Pult noch ein paar Dankesworte an diesem Tag. Die meisten werden gedacht haben, dass meine Kollegin Pia Zimmermann hier heute ihre letzte Rede als Mitglied des Bundestags und pflegepolitische Sprecherin unserer Fraktion hält. Das hätte sie sehr gerne getan; sie ist aber aus gesundheitlichen Gründen verhindert. Ich möchte mich bei meiner Kollegin Pia Zimmermann für acht Jahre Pflegepolitik bedanken. Ihre Rolle als pflegepolitische Sprecherin der Linksfraktion hat sie mit Herzblut, Engagement, Kompetenz und Empathie ausgefüllt.
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Liebe Pia, werde recht bald wieder gesund. Wir wissen, dass du der Pflegepolitik erhalten bleibst, auch wenn du nicht mehr im Bundestag bist. Alles Gute für die Zukunft!
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Vielen Dank, Kathrin Vogler, und bitte übermitteln Sie Frau Zimmermann alle guten Wünsche, dass sie schnellstmöglich wieder ganz gesund wird und auch einen herzlichen Dank für ihre Arbeit. Das war in der Tat eine heftige Arbeit, die sie geleistet hat. Vielen herzlichen Dank und alles, alles Gute, liebe Frau Zimmermann!
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Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Kordula Schulz-Asche.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wurde 1956 geboren und gehöre also zum zweiten der sogenannten geburtenstarken Jahrgänge; andere nennen uns Babyboomer. Wir waren eigentlich immer zu viele. Als wir eingeschult werden sollten, mussten Schulen gebaut sowie Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet und eingestellt werden. Wir waren damals auf gesellschaftliche Solidarität angewiesen, und wir haben sie, zumindest weitgehend, bekommen.
Jetzt stehen wir vor dem Eintritt ins Rentenalter. Und wir werden – manche früher, manche später – auf gute Pflege angewiesen sein. Deshalb braucht es auch heute wieder gesellschaftliche Solidarität: für und von den jüngeren Generationen, für und von uns Älteren. Und damit dies in der jetzigen demografischen Situation gelingen kann, braucht es heute Veränderung; denn nur Veränderung kann Sicherheit schaffen.
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Wir brauchen an den Wohnorten Angebote, die den Zusammenhalt und die Begegnung der Generationen ermöglichen. Wir müssen Einsamkeit verhindern. Wir müssen pflegende Familien unterstützen – und dies nach dem gestrigen Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur 24-Stunden-Pflege noch viel dringender als vorher. Wir brauchen professionelle Unterstützung für alle Generationen: mit sozialer Arbeit, mit professioneller Pflege, von Kitaplätzen bis hin zur Tagespflege. Und wir müssen die Vereinbarkeit mit dem Beruf auch für die pflegenden Familien und für Freunde möglich machen, wie wir es mit der grünen PflegeZeit Plus vorschlagen. Nur Veränderungen schaffen Sicherheit für Jung und Alt.
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Die professionelle Pflege mit all ihren Qualifikationsgraden ist der Beruf der Zukunft. Wir müssen die Pflegeberufe dringend stärken und für junge Menschen attraktiv machen. Dazu gehört natürlich eine gute Ausbildung. Dazu gehören eine gute Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen. Dazu gehört aber auch eigenverantwortliches Arbeiten in Zusammenarbeit mit ärztlichen und anderen Gesundheitsberufen auf Augenhöhe. Zusammenarbeit ist das Zauberwort. Wenn wir wirklich gute, professionelle Pflege ermöglichen wollen, dann braucht es Veränderung, und zwar schnell; denn nur so ist das sicherzustellen.
Machen wir uns bitte nicht länger etwas vor: Wir brauchen endlich eine solide Finanzierung, um gute Pflege auch mittel- und langfristig sicherstellen zu können. Pflegebedürftigkeit darf nicht länger ein Armutsrisiko sein. Jeder Mensch soll die Pflege erhalten, die er braucht.
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Um das zu ermöglichen, schlagen wir Grüne die doppelte Pflegegarantie vor. Wir wollen dieses Problem endgültig lösen, das heute die Menschen in die Sozialhilfe treibt.
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Natürlich machen bessere Qualität, mehr Angebote die Pflegeversicherung teurer. Deswegen braucht es jetzt erneut gesellschaftliche Solidarität. Dies gelingt durch eine Versicherung, in die alle Bürgerinnen und Bürger entsprechend ihrer Einkommen einzahlen, die grüne Pflegebürgerversicherung. Unsere Gesellschaft hat keine Zeit mehr für Pflegereförmchen. Nötig ist die Unterstützung am Wohnort, die Stärkung der professionellen Pflege und eine solide und solidarische Finanzierung. Gerade wir Älteren sollten dazu beitragen, dass dies gelingt; denn nur Veränderung schafft Sicherheit und Gerechtigkeit – für alle Generationen.
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Vielen Dank, Kordula Schulz-Asche.
Ich möchte mich noch ganz kurz bei allen Kolleginnen und Kollegen sowie den Präsidentinnen und Präsidenten dieses Hauses bedanken. Ich wünsche Ihnen allen eine schöne Sommerpause und uns Grünen eine besonders erfolgreiche.
Ich danke Ihnen.
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Danke schön, Kordula Schulze-Asche. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Roy Kühne.
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Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Karin Maag hat heute in ihrer letzten Rede ganz ausführlich dargelegt, was wir in den letzten Jahren erreicht haben. Ich bin Karin Maag und auch Lothar Riebsamen sehr dankbar dafür, was sie im Bereich der Arbeitsgruppe Gesundheit, aber auch im Ausschuss zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen erreicht haben. Deshalb auch hier noch mal von mir ein ganz persönliches Dankeschön.
Wenn wir über die Pflegeversicherung reden – und darüber reden wir heute –, dann muss das oberste Prinzip ganz klar sein: Pflege muss bezahlbar sein. Das ist das, wofür uns die Menschen draußen kritisieren. Davon hängt es im Grunde genommen ab, ob man positiv oder negativ von der Pflege redet. Wenn wir über Kosten reden, müssen wir aber auch überlegen: Wie können wir Pflege effektiver, sicherer und dadurch wahrscheinlich sogar preiswerter machen? Es muss ja nicht sein, dass etwas mehr an Leistung automatisch auch immer mehr Geld kostet. Vielleicht heißt es konkret, dass wir als Staat Pflegekräfte ermutigen und mehr fördern müssen, dass sie lernen, es vielleicht sogar fordern, selbstständig Entscheidungen zu treffen und dadurch mehr Verantwortung zu übernehmen. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen dafür sollten wir schaffen. Es geht also nicht nur wie immer ums Geld, sondern es geht auch um Inhalte.
Es ist schon mehrfach in dieser Legislaturperiode angesprochen worden: Es waren die Entlohnung, die Arbeitsbedingungen und die Personalzahlen, die den Pflegekräften das Gefühl gegeben haben: Ihr seid es uns nicht wert. – Und sie kehrten diesem wertvollen Beruf den Rücken zu. Ich bin den Ministern der letzten zwei Legislaturperioden sehr dankbar, dass sie das Thema Pflege offen angegangen sind. Ja, wir wissen, dass wir im Vorfeld vieles vernachlässigt und vieles als selbstverständlich angesehen haben. Wir haben uns aber kritisch mit der Situation auseinandergesetzt. Deshalb danke ich noch einmal ausdrücklich Hermann Gröhe in der letzten Legislaturperiode und Jens Spahn in dieser.
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Die Pflegekräfte draußen haben uns auch ganz klar signalisiert: Es geht so nicht weiter. – Karin Maag hat in mehreren Punkten dargelegt, was bereits erreicht wurde. Ich möchte des Weiteren die Neuregelung der Finanzierung in der Pflegeberufe-Ausbildungs- und Prüfungsverordnung noch mal in Erinnerung rufen: ein Mangelberuf, bei man bisher tatsächlich noch Schulgeld zahlen musste! Ich mache das natürlich erwartungsvoll mit einem kleinen Augenzwinkern in Richtung meiner Kolleginnen und Kollegen, indem ich auch auf andere Gesundheitsfachberufe hinweise. Es wäre sträflich, das da nicht zu tun.
Zurück zur Pflege. Meine Kollegin Heike Baehrens hat einen wichtigen Punkt angesprochen: vergleichbare Bezahlung. Krankenkassen dürfen jetzt nicht mehr am Tarif orientierte Bezahlung ablehnen. Liebe Krankenkassen, das ist ein ganz klarer Appell an Sie: Setzen Sie sich mit den Leistungsanbietern in Verbindung! Reden Sie darüber, wie Sie gute Pflege bezahlbar machen! Die Patientinnen und Patienten werden es Ihnen sicher danken. Aber man muss auch ganz klar sagen, liebe Krankenkassen: Wer billig kauft, kauft zweimal. – Auch hier gilt dieser Spruch. Wir haben es in letzter Zeit gesehen: Es ist dann relativ schnell vorbei.
Deshalb meine Bitte an Sie, und das sage ich verbunden mit einem Dank an alle Kolleginnen und Kollegen hier in diesem Hohen Hause: Lassen Sie uns weiter an der Verbesserung der Arbeitsbedingungen in diesen wertvollen Gesundheitsberufen arbeiten. Die Patientinnen und Patienten – eines Tages auch wir – werden dafür sehr dankbar sein, wenn sie von motivierten Pflegekräften betreut werden.
Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen allen einen schönen Sommer.
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Vielen Dank, Dr. Roy Kühne. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Claudia Moll.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In diesen Minuten passiert das von uns beschlossene Gesetz zur Verbesserung der Pflege den Bundesrat. Dank Hubertus Heil wird es endlich überall Tariflöhne in der Pflege geben.
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Ein Meilenstein! Und dank Olaf Scholz werden wir die Einnahmenseite der Pflegeversicherung mit Steuergeldern erhöhen.
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Denn gute Pflege kostet Geld. Klar ist aber auch: Das – ich nenne es mal so – Pflegereförmchen ist nur der erste Schritt auf dem langen Weg hin zu einer besseren Pflege. Es gibt viel zu tun. Wir lassen nicht locker. Wir bleiben dran.
Pflegebedürftigkeit darf nicht Armut und Abhängigkeit von der Sozialhilfe bedeuten. Auch aus unserer Sicht ist der nächste notwendige Schritt, die soziale und private Versicherung zu einer Pflegebürgerversicherung weiterzuentwickeln. Die Versicherten in der privaten Krankenversicherung haben ein wesentlich höheres Einkommen bei einem wesentlich geringeren Krankheits- und Pflegerisiko. Die Versicherung hat so pro Kopf einen deutlich geringeren Aufwand als die soziale Pflegeversicherung. So hat sie mittlerweile über 34 Milliarden Euro angesammelt. Dieses Geld wird momentan aber nicht für eine spürbare Verbesserung in der Pflege eingesetzt. Das ist ungerecht! Es muss einen Risikoausgleich geben.
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Aber auch Sie, liebe Grüne, wissen, dass es mit manchen Koalitionspartnern schwierig ist, sich sowohl auf das Ziel als auch auf die Finanzierung zu einigen.
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Als SPD-Bundestagsfraktion wollen wir den Pflegevorsorgefonds auflösen. Wir wollen alle medizinischen Behandlungskosten in der Pflege durch die Krankenkassen übernehmen lassen. Wir wollen, dass die Pflegeversicherung eine Vollversicherung wird. Mit diesen Mehreinnahmen in der Pflegeversicherung kann gute Pflege gemacht werden. Nur so schaffen wir es, die Arbeitsbedingungen in der Pflege so zu verändern, dass dieser Gesundheitsberuf nicht selbst krank macht. Nur so kann man auf die individuellen Bedürfnisse und Biografien Pflegebedürftiger eingehen. Und nur so können wir Angehörige wirklich entlasten. Das werden wir aber leider nicht mehr heute, am letzten Sitzungstag erreichen.
Wenn im September die Wählerinnen und Wähler entschieden haben, freue ich mich darauf, noch größere Schritte in der Pflegepolitik zu gehen. Und seien Sie sich bewusst: Ich werde so lange weiter für den Bundestag kandidieren, bis wir wirklich gute Pflege in diesem Land haben, und wenn ich dafür mit dem Rollator ans Rednerpult kommen muss.
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Ich wünsche Ihnen allen einen schönen Sommer, einen guten Wahlkampf und vor allen Dingen einen fairen Wahlkampf.
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Passen Sie auf sich auf! Ich freue mich darauf, einige im September wiederzusehen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Claudia Moll. – Nächster und letzter Redner in dieser Debatte und wahrscheinlich auch in dieser Legislaturperiode, zumindest was die regulären Sitzungen angeht: Erich Irlstorfer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Respekt, jetzt den Sack zuzumachen! Ich kann Ihnen eines sagen: Wir haben viel erreicht.
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Und in dieser Großen Koalition sind viele Dinge besser gelaufen, als es uns einige zugetraut haben.
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Ich glaube auch, dass hier in der Pflege und im ganzen Gesundheitswesen viele Dinge auf den Weg gebracht wurden, die richtig sind, weil nämlich verschiedene Perspektiven eingenommen wurden: die der zu pflegenden Personen, die der Angehörigen, aber auch die der Beschäftigten in diesem System. Dieses Zusammenspiel, dieser Dreiklang, hat uns immer geleitet. Ebenfalls wesentlich – das war genauso auch in der Opposition zu spüren – war, glaube ich, dass wir uns der Verantwortung bewusst waren, dass wir zwar professionelle Pflege wollen, aber dass die Menschlichkeit und das Gespür nicht auf der Stecke bleiben dürfen. Und dafür möchte ich Ihnen danken.
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Inhaltlich zu diesem Antrag – Sie wissen es, ich brauche es nicht zu betonen –: Wir als Union haben eine andere Vorstellung. Wir möchten in diesem erfolgreichen System, das seit 1995 am Start ist, Veränderungen, wir möchten Reformen, weil sich natürlich auch die Zeiten ändern, weil sich die Bedürfnisse ändern. Aber wir sind nach wie vor überzeugt, dass es richtig ist, hier die Koppelung an Gehalt und Verdienst zu machen, weil es Generationengerechtigkeit bedeutet. Wenn wir mit diesem System – das hoffe ich – erfolgreich sind, werden wir es dann mit einem Partner weiterentwickeln. Das ist unser Ziel, und dafür werben wir.
Ich möchte zum Abschluss sagen: Alles, was wir hier entscheiden, alles, was wir auf den Weg bringen, wäre vollkommen uninteressant – das sollten wir schon in unseren Köpfen haben –, wenn es nicht Menschen gäbe, die diese Entscheidungen auch in die Tat umsetzen, nämlich die Beschäftigten in der Pflege: in der Krankenpflege, in der Altenpflege und auch in der Kinder- und Jugendmedizin. Wir haben hier durch die Generalistik ein Instrument geschaffen, das viel Gutes hat.
Aber erlauben Sie mir auch, dass ich kritisch anmerke, dass wir in der Kinder- und Jugendpflege auch Defizite haben und dass wir darüber reden müssen, dass wir einen Beruf, der gut funktioniert hat, hier in die Generalistik implementiert haben und dass er jetzt schlechter funktioniert.
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Das müssen wir diskutieren, liebe Freunde. Das ist natürlich auch ein Punkt, der uns einen Auftrag gibt für die nächste Legislatur.
Ich wünsche Ihnen alles Gute. Ich wünsche unseren Pflegekräften, gerade auch in der Pandemie: Halten Sie durch! Sie werden auch in einem neuen Koalitionsvertrag nicht vergessen. Da bin ich mir sicher. Zukunftsthema für uns ist auch Pflege und Medizin, das auf Augenhöhe zu Klimaschutz, Landwirtschaft, Handwerk, Finanzen, Wirtschaft, zu all diesen wichtigen Themen, steht.
Ich kann nur sagen: Ich wünsche Ihnen alles Gute. Bleiben Sie gesund! Wir sehen uns wieder, und ich hoffe, dass wir miteinander gute Lösungen schaffen.
Herzlichen Dank.
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