Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Seit gut eineinhalb Jahren hält uns die Bekämpfung der Coronaviruspandemie in Atem, national wie international, im Rahmen der G-7- und der G-20-Staaten wie auch natürlich insbesondere im Kreis der EU-Mitgliedstaaten. Mittlerweile dürfen wir in Europa vorsichtig optimistisch sein; denn nicht nur in Deutschland, sondern in nahezu allen europäischen Mitgliedstaaten gehen die Infektionszahlen deutlich zurück und steigt gleichsam im Gegenzug die Zahl der geimpften Menschen immer weiter an.
Doch auch wenn es also Grund zur Zuversicht gibt: Vorbei ist die Pandemie noch nicht, schon gar nicht in den armen Ländern dieser Welt. Aber auch wir in Deutschland und in Europa bewegen uns immer noch auf dünnem Eis. Wir müssen weiter wachsam bleiben. Besonders neu aufkommende Virusvarianten, jetzt vor allem die Delta-Variante, mahnen uns weiterhin zur Vorsicht. Deshalb müssen wir den Weg aus der Pandemie weiter mit Augenmaß gehen. Vier Themen stehen im Mittelpunkt auch der Beratungen beim heute beginnenden Europäischen Rat:
Erstens: das digitale Covid-Zertifikat. Wir haben uns ja im Mai gemeinsam mit dem Europäischen Parlament auf ein europaweit gültiges Format geeinigt. Das war ein wichtiges Signal. Technisch wurde das Zertifikat rechtzeitig zur Sommerzeit umgesetzt. Ab dem 1. Juli wird es EU-weit verbindlich gelten. Deutschland hat seine nationalen Hausaufgaben gemacht; Dank dafür allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Inzwischen wurden bereits fast 30 Millionen digitale Zertifikate vergeben, genau genommen – so sagte es mir der Gesundheitsminister gestern Abend um 20 Uhr –: 29,2 Millionen Zertifikate. Damit werden wir unserem Anspruch gerecht, einen gemeinsamen europäischen Standard sowohl für Geimpfte als auch für Getestete und für Genesene zu schaffen. Dabei entscheiden die EU-Mitgliedstaaten weiterhin selbst, welche Rechte sie dann den Inhabern des digitalen Zertifikats einräumen wollen.
Zweitens: der Fortschritt der Impfkampagnen und die weltweite Verteilung von Impfstoffen. Auch darüber werden wir auf dem heute beginnenden Europäischen Rat beraten. Bereits beim G-7-Gipfel in Cornwall vor zwei Wochen haben wir hierzu ein starkes Zeichen gesetzt. Wir wissen: Die Pandemie kann nur global besiegt werden, und der Schlüssel dazu ist die Impfung. Es ist daher wichtig, dass die G-7-Staaten bis 2022 die Verteilung von 2,3 Milliarden Impfdosen an Entwicklungsländer ermöglichen wollen. Richtig ist und bleibt im Übrigen die Entscheidung, die Impfstoffe in Europa gemeinsam zu beschaffen; ich will das hier noch einmal betonen. Alles andere hätte vielleicht kurzzeitig einigen Mitgliedstaaten Vorteile verschafft, das Leben in einem gemeinsamen Binnenmarkt aber empfindlich gestört.
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Die Europäische Union – das kann man gar nicht oft genug sagen – war bislang und bleibt weiterhin der weltweit größte Exporteur von Impfstoffen. Wir haben unsere Märkte nicht geschlossen und keine Barrieren aufgebaut. Deutschland ist mit 2,2 Milliarden Euro zudem der weltweit zweitgrößte Geber des ACT-Accelerators und hat von diesen 2,2 Milliarden Euro 1,6 Milliarden Euro für die Impfstoffsäule der internationalen Impfallianz Covax bereitgestellt. Wir haben beschlossen, dass wir zusätzlich 30 Millionen Impfdosen bis zum Ende des Jahres abgeben werden, auch vorrangig für Covax. Außerdem müssen wir als EU daran arbeiten, die globale Impfstoffproduktion weiter zu erhöhen. Deutschland engagiert sich hier aktiv gemeinsam mit Südafrika als Co-Chair in der hochrangigen Arbeitsgruppe, die Covax dafür gebildet hat.
Ich bin überzeugt, dass wir schnellstmöglich die Produktion von Impfstoffen auf der Basis von Lizenzen vergrößern müssen. Eine politisch erwirkte Freigabe der Patente halte ich dagegen für den falschen Weg;
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denn so wie wir heute schnellstmöglich Impfstoffe für alle weltweit brauchen, so werden wir auch in Zukunft weiter darauf angewiesen sein, dass Impfstoffe entwickelt werden. Das wird nur gelingen, wenn der Schutz geistigen Eigentums nicht außer Kraft gesetzt wird, sondern gewahrt bleibt.
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Ich begrüße auch unsere gemeinsame Team-Europe-Initiative zur Förderung der Produktionsausweitung in Afrika, die die EU mit insgesamt 1 Milliarde Euro unterstützen möchte. Diese Investitionen in Infrastruktur, Produktionskapazitäten, Ausbildung und vieles mehr sind der richtige Weg, um Afrika mehr Mittel zur Selbsthilfe an die Hand zu geben. Das gilt dann später natürlich auch für andere Impfstoffe, nicht nur für die gegen Corona.
Drittens: erste Lehren aus der Krise. Dazu hat die Europäische Kommission vergangene Woche für die Diskussion beim Europäischen Rat eine Mitteilung vorgelegt, in der sie ihre Sicht der Dinge darlegt. Wir Mitgliedstaaten werden bei der Diskussion unsere Erfahrungen hinzufügen. Klar ist dabei: Solange die Pandemie nicht überwunden ist, kann eine Debatte über Lehren aus der Krise nur ein erster Schritt eines längeren und tiefer gehenden Prozesses sein. Aber dieser Prozess ist wichtig; denn die Fähigkeit und die Bereitschaft dazu werden darüber entscheiden, wie die Europäische Union künftige Herausforderungen dieser Größenordnung meistern wird, und zwar wie ihr das von Beginn an gemeinsam gelingen kann.
Denn in der Pandemie haben im ersten Schock zunächst nationale Anstrengungen unser Handeln bestimmt, bevor wir europäisch abgestimmt vorgegangen sind. Wir wissen heute, dass wir das besser können und es auch in Zukunft besser machen werden. Deshalb sehe ich insbesondere in der Krisenreaktion, im Gesundheitsschutz, bei Schengen und im Binnenmarkt die Bereiche, in denen wir über eine Stärkung der europäischen Handlungsfähigkeit diskutieren müssen. Es ist wichtig, dass wir das Gespräch darüber bei diesem Europäischen Rat beginnen.
Die Koordinierung der ebenso einschneidenden wie im Wortsinne notwendigen freizügigkeitsbeschränkenden Maßnahmen kam viel zu zögerlich in Gang. Das muss im Falle eines Falles in Zukunft schneller gehen; denn – das muss man sagen – auch heute noch gelingt es nicht ausreichend, Einreisen aus Drittstaaten, insbesondere aus Virusvariantengebieten, zu koordinieren. Das werde ich dort auch sehr kritisch anmerken. Das muss besser werden, gerade in einem Bereich, der wie die Freizügigkeit zu den wichtigsten und zugleich sensibelsten Errungenschaften der europäischen Einigung gehört.
Die Europäische Kommission macht auch Vorschläge für eine verbesserte Krisenvorsorge und Krisenreaktion im Bereich der öffentlichen Gesundheitsvorsorge. Deutschland unterstützt die schrittweise Schaffung einer Gesundheitsunion und die Entstehung einer neuen Gesundheitsbehörde, der Health Emergency Preparedness and Response Authority, einfach gesagt: HERA.
Viertens: die wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie. Auch darüber wollen wir auf dem Europäischen Rat beraten. Mit der Einigung auf den europäischen Aufbauplan „Next Generation EU“ hat die Europäische Union in der Coronaviruspandemie ihre Solidarität und ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Auf eine außergewöhnliche Krise haben wir als Europäische Union eine außergewöhnliche Antwort gegeben.
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Wir werden auch einen Euro-Gipfel haben im sogenannten inklusiven Format, das heißt: Alle Mitgliedstaaten nehmen daran teil. Auf diesem Gipfel werden wir die Diskussion über den wirtschaftlichen Aufbau nach der Pandemie fortsetzen und zum Stand der Bankenunion und Kapitalmarktunion diskutieren; die Finanzminister haben das vorbereitet, und der Eurogruppen-Vorsitzende wird anwesend sein.
Nach der Ratifizierung des Eigenmittelbeschlusses durch alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union – ich danke an dieser Stelle dem Deutschen Bundestag noch einmal für die Unterstützung – ist die Europäische Kommission jetzt in der Lage und ermächtigt durch die Mitgliedstaaten, am Finanzmarkt Kapital aufzunehmen. Auch der deutsche Plan wurde vor zwei Tagen von der Kommission positiv bewertet und ist jetzt dem Rat zur Annahme vorgelegt. Die ersten 20 Milliarden Euro sind von der Europäischen Kommission platziert. Die meisten Mitgliedstaaten haben ihre nationalen Aufbau- und Resilienzpläne vorgelegt. Einige, so eben auch der deutsche, sind bereits von der Europäischen Kommission bewertet worden.
Aber ich will noch mal darauf hinweisen: Es bleibt bei dem, was wir letztes Jahr beschlossen und verabredet haben. Bevor Mittel fließen können, ist es entscheidend, dass die jeweiligen nationalen Aufbau- und Resilienzpläne auch tatsächlich sorgfältig, zukunftsorientiert und innovativ aufgesetzt werden. Darauf werden wir auch bei der weiteren Begutachtung durch den Rat achten; denn es gilt ja, mit diesem Geld nicht nur zu investieren, sondern gleichzeitig zu reformieren.
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Wir müssen den Aufbauplan nutzen, um entscheidende Weichen für Europas Zukunft zu stellen und Versäumtes nachzuholen. Deshalb werden Schwerpunkte für den Wiederaufbau vor allem die grüne Erneuerung und die Digitalisierung sein; denn wir wissen, dass Europa erst mit dem Übergang zu einer digitalisierten, grünen Wirtschaft wirklich zukunftsfähig und wettbewerbsfähig sein wird.
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Meine Damen und Herren, gerade heute, da sich der Weg aus der Pandemie abzuzeichnen beginnt, ist es wichtig, dass wir uns auf dem Europäischen Rat neben der wirtschaftlichen Erholung auch verstärkt den anderen Themen zuwenden, die für Europa von besonderer Bedeutung sind. Dazu gehört natürlich auch das Thema der Migration. Wir dürfen bei der Reform der gemeinsamen europäischen Asylpolitik und des europäischen Asylsystems nicht nachlassen. So schwierig diese Diskussion auch ist, sie wird noch eine ganze Weile weitergehen.
Ich begrüße daher sehr, dass wir der Einrichtung einer europäischen Asylagentur einen Schritt nähergekommen sind. Unser Augenmerk beim Europäischen Rat wird diesmal auf der Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern liegen. Dazu sollte der Europäische Rat die Europäische Kommission und den Europäischen Auswärtigen Dienst damit beauftragen, konkrete Schritte und Zeitlinien für Migrationspartnerschaften mit Schlüsselländern vorzulegen.
Zudem erwarten wir von der Europäischen Kommission einen konkreten Vorschlag für die Nachfolgefinanzierung der Migrationszusammenarbeit der EU mit der Türkei. In der Türkei sind 3,7 Millionen syrische Flüchtlinge registriert. Es ist klar, dass wir die gegenwärtigen und anstehenden Migrationsfragen nur im Dialog mit der Türkei lösen können. So sollten wir jetzt, wie wir es bereits im März vereinbart hatten, als Europäische Union die Dialogagenda mit der Türkei rasch umsetzen, um unsere Zusammenarbeit bei gemeinsamen Interessen voranzubringen. Dazu zählt auch, dass wir mit unseren Gesprächen zur Modernisierung der Zollunion weiterkommen. Auch die Themen Gesundheit, Klimaschutz und der Kampf gegen den Terror gehören dazu. Diese strategische Zusammenarbeit sollten wir voranbringen, obwohl wir mit der Türkei gravierende Differenzen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und der Einhaltung der Grundrechte haben.
Ein weiteres strategisches außenpolitisches Thema ist unser Verhältnis zu Russland. Dazu werden wir auf dem Europäischen Rat unsere Diskussion, die wir im Mai begonnen haben, fortsetzen. Die Europäische Kommission und der Europäische Auswärtige Dienst haben ein Diskussionspapier vorgelegt, das insbesondere den Stand der Beziehungen analysiert.
Ich wünsche mir, dass wir beim Europäischen Rat dabei nicht stehen bleiben; denn die Ereignisse der letzten Monate – nicht nur in Deutschland – haben deutlich gezeigt, dass es nicht reicht, wenn wir auf die Vielzahl russischer Provokationen unkoordiniert reagieren. Stattdessen müssen wir Mechanismen schaffen, um gemeinsam und geeint auf Provokationen antworten zu können. Nur so werden wir lernen, den hybriden Angriffen Russlands etwas entgegenzusetzen. Gleichzeitig müssen wir eine Agenda gemeinsamer strategischer Interessen definieren, zum Beispiel im Bereich des Klimaschutzes, aber natürlich auch in den Bereichen von Frieden und Sicherheit, wie bei der Lösung der Lage in Libyen und Syrien.
Dabei steht außer Zweifel: Die Europäische Union ist aufgrund ihrer räumlichen Nähe und ihrer Verantwortung gegenüber den Ländern in der Östlichen Partnerschaft gefordert – zum Beispiel in der Ukraine oder Belarus und auf dem Westbalkan –, eine angemessene Antwort auf die russischen Aktivitäten zu geben. Meines Erachtens müssen wir dazu als Europäische Union auch den direkten Kontakt mit Russland und dem russischen Präsidenten suchen.
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Es reicht nicht aus, wenn der amerikanische Präsident Joe Biden mit dem russischen Präsidenten spricht; das begrüße ich sehr, aber die Europäische Union muss hier auch Gesprächsformate schaffen. Anders wird man die Konflikte nicht lösen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns bereits auf dem G-7-Gipfel vom 11. bis 13. Juni in Cornwall und beim NATO-Gipfel am 14. Juni umfangreich über den Umgang mit Russland und auch mit China ausgetauscht. Seit dem letzten G-7-Gipfel 2019 in Biarritz ist die Welt wahrlich nicht ruhiger geworden. Die Vielzahl der Krisen weltweit macht eine enge Abstimmung unter den Partnern notwendiger denn je. Daher war es nun besonders wichtig, dass die G 7 sich in diesem Jahr als geschlossenes Wertebündnis gezeigt hat, das entschieden und gemeinsam für den Multilateralismus eintritt.
Dazu gehört neben der Diskussion über Russland natürlich auch die Frage der Beziehung zu China. Die G 7 will und muss gemeinsam mit China an Lösungen für globale Herausforderungen arbeiten. Gleichzeitig sind wir als G 7 überzeugt, mit unseren gemeinsamen Werten und Interessen vielen Ländern auf der Welt ein besseres Kooperationsangebot als China machen zu können. So wollen wir als G 7 zum Beispiel Entwicklungsländer im Rahmen einer Partnerschaft durch nachhaltige Infrastrukturfinanzierung unterstützen. Eine Taskforce wird hierzu konkrete Vorschläge erarbeiten. Deutschland wird im nächsten Jahr den G-7-Vorsitz haben und dann erste Ergebnisse vorlegen.
Ein weiteres wichtiges Thema des G-7-Gipfels war der Schutz des Klimas und der Biodiversität; denn die Pandemie darf – das wissen wir auch hier bei uns zu Hause – nicht davon ablenken, dass wir hier vor einer gewaltigen globalen Herausforderung stehen. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Zukunft unseres Planeten.
Es ist daher gut, dass die G-7-Staaten ein gemeinsames Bekenntnis zur Klimaneutralität bis spätestens 2050 abgegeben haben; wir gehen in Deutschland ja noch darüber hinaus. Die COP 26 in Glasgow wird zeigen, wie weit wir mit unseren Verpflichtungen dann gekommen sind. Die G-7-Staaten erhöhen auch die internationale Klimafinanzierung. Perspektivisch wird Deutschland seinen Beitrag zur internationalen Klimafinanzierung von heute 4 Milliarden Euro bis spätestens 2025 auf 6 Milliarden Euro jährlich erhöhen. Das ist ein ganz, ganz wichtiges Signal der Glaubwürdigkeit.
Auch beim NATO-Gipfel am 14. Juni stand die multilaterale Zusammenarbeit im Mittelpunkt. Der Gipfel hat der Allianz die Gelegenheit gegeben, ein neues Kapitel in der transatlantischen Zusammenarbeit aufzuschlagen und den Weg für die strategische Ausrichtung der NATO auf die kommende Dekade zu weisen. Das findet seinen Ausdruck in dem Auftrag, bis zum Gipfel in Spanien 2022 ein neues strategisches Konzept auszuarbeiten und ein Maßnahmenpaket „NATO 2030“ anzunehmen. Ich möchte Thomas de Maizière für seine Vorarbeiten im Rahmen des Berichts der Reflexionsgruppe hier einmal herzlich danken.
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Bei alldem ist aus meiner Sicht entscheidend, dass die NATO ihre Kernaufgaben und die primären Herausforderungen fest im Blick hat. Dies sind für mich vor allem Russland, aber auch die Konflikte und die Fragilität in unserer Nachbarschaft, sei es in Zentralasien, Nahost oder in Nordafrika und dem Sahel. Und natürlich gilt es, den Bedrohungen aus dem Cyber- und Hybridraum zu begegnen und der zunehmenden Bedeutung Chinas angemessen Rechnung zu tragen. Das liegt in unserem unmittelbaren deutschen und europäischen Interesse; denn die NATO ist und bleibt die unersetzliche Garantin der Sicherheit und Stabilität in Europa.
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Daher wird Deutschland weiter seinen Beitrag dazu leisten, politisch und militärisch. Und deswegen bleibt es auch notwendig, dass wir die Anstrengungen hinsichtlich unserer Verteidigungsausgaben konsequent fortsetzen, um unseren Bündnisverpflichtungen und unserer Sicherheitsverantwortung für unser Land und Europa nachkommen zu können.
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Immer mehr Mitgliedstaaten in der NATO erreichen das in Wales ins Auge gefasste 2-Prozent-Ziel. Deutschland wird hierbei in den nächsten Jahren weiter gefordert sein.
Meine Damen und Herren, hinter uns liegt ein Monat mit vielen neuen multilateralen Impulsen. Ich bin überzeugt, dass wir nur zusammen als Staatengemeinschaft erfolgreich die Herausforderungen der Pandemie wie auch der anderen großen Aufgaben meistern können. Eine souveräne Europäische Union sollte hier ein starker Partner sein, und daran werden wir heute und morgen auch in Brüssel arbeiten.
Herzlichen Dank.
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Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Fraktionsvorsitzenden der AfD, Frau Dr. Alice Weidel.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Sehr geehrte Damen und Herren! Auch diese Regierungserklärung ist vorbeigegangen wie alle anderen: ohne einen Funken Einsicht in die Fehlentscheidungen, die Ihren Weg als Kanzlerin säumen, Fehlentscheidungen, die dieses Land tief gespalten und ihm schweren Schaden auf Jahre und Jahrzehnte hinaus zugefügt haben.
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Sie wollen diesen Weg bis zum bitteren Ende fortsetzen; das dürfen wir Ihren Ausführungen zum bevorstehenden EU-Gipfel entnehmen. Allen Ernstes betreiben Sie die Erneuerung des Migrationsabkommens der EU mit der Türkei. Das ist nichts anderes als die Neuauflage eines historischen Fehlschlags. Die EU erneuert damit ihre Erpressbarkeit. Sie zahlt und bittet dafür den deutschen Steuerzahler zur Kasse. Sie macht sich von den Launen des türkischen Präsidenten abhängig, der die Migrationsschleusen weiter nach Belieben auf- und zudrehen kann.
Der Schlüssel zur Eindämmung der illegalen Migration liegt aber nicht in Ankara; er liegt in Berlin. Hier werden mit den höchsten Sozialhilfesätzen Menschen auf die gefährliche Überfahrt gelockt. Hier werden Schleuser, die als Seenotretter firmieren, sogar von Kirchen gesponsert. Und hier werden die Signale gesendet, dass so gut wie keiner, der es zu uns schafft, je wieder gehen muss. Stellen Sie also diese Signale ab, und schützen Sie die deutschen Grenzen gegen illegale Migranten!
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Frau von der Leyen reist gerade mit dem Scheckbuch durch die europäischen Hauptstädte und verteilt Milliarden aus dem sogenannten Corona-Wiederaufbaufonds. Auch in Berlin hat sie einen 24-Milliarden-Scheck vorbeigebracht – Geld, das für dirigistische Klimaschutzmaßnahmen mit fragwürdigem Nutzen verpulvert werden wird. Der angebliche Wiederaufbaufonds ist die Tarnkappe für die Einführung der europäischen Schuldenunion. Die EU-Kommission kann jetzt selbst Anleihen aufnehmen und das Geld nach Gutdünken verteilen. Für die Rückzahlung stehen die Nationalstaaten gerade, allen voran Deutschland und seine Steuerzahler. Ihnen und diesem Parlament wird die Kontrolle über die eigenen Staatsfinanzen, das Budgetrecht, Zug um Zug entwunden.
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Und auch für diesen Anschlag auf die Grundprinzipien der demokratischen Ordnung, für diesen Anschlag auf das parlamentarische Budgetrecht und die Rechtsstaatlichkeit tragen Sie die Verantwortung. Das ist ein weiterer düsterer Meilenstein in der langen Serie der historischen Fehlentscheidungen Ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft. Bedenkenlos missbrauchen Sie die Coronakrise, um diesen Souveränitätstransfer an die EU zu bemänteln, den staatlichen Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft auszuweiten und den Übergang zu einer gelenkten Klimaschutzplanwirtschaft zu forcieren – auf Kosten der Energiewirtschaft, auf Kosten der Automobilbranche, der Investitionsgüterindustrie, also dort, wo die meisten Arbeitsplätze sind.
Ihre Coronapolitik ist Ihr gröbster Fehler der letzten Zeit, und deswegen klammern Sie sich auch so verbissen daran fest und verweigern leider jeden Erkenntnisfortschritt. Unsere europäischen Nachbarn suchen längst den Weg zurück zur Normalität, und die deutsche Coronapolitik starrt weiter verklemmt auf Inzidenzwerte und schürt Panik für den Herbst mit der Beschwörung finsterer Bedrohungsszenarien zur sogenannten Deltavariante.
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Dabei muss doch eins festgehalten werden: Ihr Lockdown- und Notstandsregime hat für die Gesundheit und Sicherheit keine messbaren Vorteile gegenüber alternativen Handlungsoptionen gebracht, aber sie hat gigantische Kollateralschäden in Wirtschaft und Gesellschaft angerichtet, Mittelstand und Mittelschicht schwer geschädigt, Existenzen ruiniert, Kinder und Senioren leiden lassen und eine ganze Schülergeneration um ihre Bildungschancen gebracht.
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Ihre Politik hat mit Panikmache und apodiktischem Schwarz-Weiß-Denken das Land tief gespalten, die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert und die Grund- und Freiheitsrechte der Bürger in bislang nie dagewesener Dimension zur Disposition gestellt. Die Begründungen für diese Politik fallen wie Dominosteine. Pauschale Grundrechtseinschränkungen und Dauer-Lockdowns sind nicht nur verfassungswidrig, sie bringen auch nichts. Und die Liste der Beispiele von Ländern, die ohne solche drastischen Eingriffe besser durch die Krise gekommen sind, wird stetig länger: von Schweden, der Schweiz bis zu einer Reihe von US-Bundesstaaten.
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Distanzunterricht bei monatelang geschlossenen Schulen ist wirkungslos. Er wirft Schüler zurück wie ewige Sommerferien.
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Den von Ihnen als Generalargument beschworenen Bettennotstand in den Kliniken hat es offenkundig auch nicht gegeben.
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Das Gesundheitssystem war zu keinem Zeitpunkt bedroht.
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Die gemeldeten Bettenzahlen waren, von Subventionsfehlanreizen ermuntert, vielfach manipuliert. Das steht im Bericht des Bundesrechnungshofes; lesen Sie den.
PCR-Tests sind als Mittel zur Massenerkennung des Infektionsgeschehens nicht geeignet. Jeder zweite positiv Getestete war gar nicht infektiös. Auch das sind die Fakten. Abrechnungsbetrug bei Schnelltests und dubiose Maskendeals zeigen vor allem eins: Wo staatlicher Dirigismus freien Lauf hat, sind Misswirtschaft, Verschwendung und Korruption niemals weit.
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Und die Milliarden, die hier vergeudet wurden, wären in einer Reform der Klinikfinanzierung weitaus besser angelegt gewesen. Das muss man auch mal sagen.
Dieser Irrweg darf sich im Herbst, wenn sich die Virusaktivität saisonal wieder verstärken wird, nicht noch einmal wiederholen. Deutschland muss zurückkehren zu einer Politik von Vernunft und Augenmaß, von bürgerlicher Eigenverantwortung statt Staatseinmischung. Und vor allem brauchen wir eins: Wir brauchen eine andere Regierung.
Ich bedanke mich herzlich.
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Nächster Redner ist der Bundesfinanzminister Olaf Scholz.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Wir diskutieren in diesem Bundestag heute wahrscheinlich zum letzten Mal in größerer Runde über die Europapolitik. Das ist für mich ein besonderer Anlass, auch einmal eine Botschaft loszuwerden: Ich möchte mich bei der Bundeskanzlerin für die Zusammenarbeit in der Europapolitik in den letzten vier Jahren bedanken. Wir haben viele Fortschritte für Europa erreicht; das ist nicht selbstverständlich gewesen. Und, ich glaube, das ist gut für Deutschland und für Europa.
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Erinnern wir uns: Es hat große, große Auseinandersetzungen in Europa gegeben in der Folge der Finanzkrise, die durch den Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers ausgelöst wurde. Eine enorme Schuldenkrise hat viele Länder Europas bedroht. Es hat große, große Schwierigkeiten gegeben, eine gemeinsame Antwort Europas auf die Herausforderungen zu finden, als viele Flüchtlinge nach Europa gekommen sind und es so schwer war, einen gemeinsamen Weg in der Auseinandersetzung mit dieser Situation zu formulieren.
Aber in dieser Krise, in der Coronapandemie, hat Europa es nach anfänglichem Ruckeln geschafft, eine gemeinsame Antwort zu finden, und das ist richtig so.
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Die Entscheidungen, die im letzten Jahr getroffen worden sind und die jetzt praktisch Zug um Zug zu Ende umgesetzt werden, haben möglich gemacht, dass Europa auf diese Krise ökonomisch gemeinsam reagiert. Wir haben einen Paradigmenwechsel eingeleitet, der tatsächlich dazu beitragen wird, dass Europa stärker und souveräner wird; genau das, was wichtig ist für unsere gemeinsame Zukunft.
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Europa bekämpft die Krise gemeinsam, und wir spüren die Folgen jetzt schon. Jetzt, wo sich die Pandemie so allmählich verflüchtigt, wo wir immer noch vorsichtig sein müssen, können wir doch feststellen, dass wir eine Situation erreichen, in der immer mehr Bürgerinnen und Bürger geimpft sind und dieser Sommer somit anders wird. Was dabei herausgekommen ist, ist ein Aufschwung, den wir in Deutschland und Europa haben, ein Aufschwung, der wahrscheinlich größer sein wird, als wir ihn heute vorausberechnen können. Das ist das Ergebnis der gemeinsamen Krisenbekämpfung.
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Europa wird gemeinsam handeln, indem die Europäische Union Kredite aufnimmt. Keine selbstverständliche Entscheidung! Was für aufgeregte Debatten sind zu diesem Thema in den letzten Jahren und Jahrzehnten in Europa und auch hierzulande geführt worden, und wie wenig aufgeregt waren diese Debatten in dem letzten und in diesem Jahr.
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Da hat es einen gemeinsamen Erkenntnisfortschritt gegeben, der lautet: In einer Welt mit bald 10 Milliarden Einwohnern, in einer Welt, die geprägt sein wird von vielen wirtschaftlich starken Mächten – selbstverständlich den USA, China, vielen aufstrebenden Nationen Asiens und manchen anderen –, wird es nicht möglich sein, dass jedes europäische Land für sich alleine zurechtkommt; wir werden es nur miteinander schaffen. Deshalb brauchen wir starke Instrumente, um gemeinsam handeln zu können.
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Die Kreditaufnahme der Union hat begonnen. Und sie hat auch Erfolg gehabt; sie hat gut funktioniert. Wenn jetzt Stück für Stück die Aufbauprogramme der verschiedenen Länder von der Kommission und von dem Rat akzeptiert und genehmigt werden, dann wird uns das in die Lage versetzen, dass der Fortschritt bei der Digitalisierung, bei der Bekämpfung des menschengemachten Klimawandels beginnen kann, und das ist gut für die Modernisierung der Europäischen Union.
Für mich ist in dem Zusammenhang nicht nur wichtig, dass wir das erste Mal diese Kreditaufnahme haben, sondern auch, dass wir zwei Entscheidungen damit verbunden haben, die mindestens genauso wichtig sind, nämlich dass die aufgenommenen Kredite auch zurückgezahlt werden
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und dass es eigene Einnahmen der Europäischen Union geben soll, um diese Kreditaufnahme zurückzuführen.
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Zwei Entscheidungen für eine stärkere Souveränität Europas. Das ist genau das, was wir brauchen!
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Deshalb kann es aus der Coronapandemie und den Dingen, die auf der Tagesordnung stehen, nur eine Konsequenz geben: Wir müssen verstehen, dass Europa nur stärker wird, wenn wir es politisch begreifen,
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wenn dort mehr Politik gemacht wird. Europa ist nicht nur ein Binnenmarkt, den wir vollenden.
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Europa ist politisch, Europa muss politische Fragen lösen wie zum Beispiel die Frage, wie wir mit den Herausforderungen der Migration umgehen – das ist ein Thema dieses Gipfels –, aber auch die Frage, wie wir eine neue europäische Ostpolitik entwickeln, die es möglich macht, dass wir auf diesem Kontinent, insbesondere auch mit Russland, eine Perspektive einer gemeinsamen Sicherheit entwickeln. Beides große Themen für die Zukunft!
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Für mich geht es auch darum, dass wir begreifen, dass wir in der Europäischen Union zusammengekommen sind, weil wir gemeinsame Überzeugungen und Werte haben. Das ist nicht nur ein Zweckbündnis und schon gar kein Bündnis nur wegen der Wirtschaft und des Binnenmarktes. Wir haben auch etwas, das uns gemeinsam trägt, nämlich eine Überzeugung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Ich will in diesen Tagen ganz ausdrücklich sagen: Wir sind auch zusammengekommen, weil wir uns dazu bekennen, dass wir liberale Demokratien sind. Das ist das, was uns auszeichnet. Europa ist ein Bündnis offener Gesellschaften!
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Die Welt ist nicht einfach, und sie wird vermutlich auch nicht leicht friedlicher. In der Welt gibt es Regierungen, mit denen wir nichts gemein haben, aber wo wir vieles unterschiedlich sehen. Mit denen müssen wir uns auch streiten, wenn es darum geht, wie wir gemeinsame Sicherheit in der Welt schaffen können.
In der Europäischen Union gibt es einen Unterschied, und der ist wichtig: Wir haben uns darüber verständigt, was uns zusammenführt: Rechtsstaatlichkeit, Schutz von Minderheiten, Offenheit. Dieses Bekenntnis zur liberalen Demokratie ist deshalb auch immer ein Streitpunkt untereinander. Und – das sage ich ausdrücklich – das gilt insbesondere auch, wenn es zum Beispiel um die Rechte von Schwulen und Lesben geht.
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Wir müssen darüber dann auch in Europa stark und deutlich miteinander diskutieren. Rechte sind etwas, was zur Demokratie dazugehört. Wir müssen klar und unmissverständlich sein!
Schönen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Vorsitzenden der FDP-Fraktion, Christian Lindner.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, heute haben Sie die voraussichtlich letzte Regierungserklärung zu einem Europäischen Rat abgegeben. Historiker werden dereinst bewerten, was in Ihrer Kanzlerschaft erreicht wurde und was versäumt wurde. Aber eines kann man heute sagen: Sie haben in den vergangenen 16 Jahren Ihre Kraft und Ihre intellektuellen Gaben stets uneigennützig in den Dienst Deutschlands und Europas gestellt, und damit haben Sie sich große Verdienste erworben.
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Die Rednerin der AfD hat über Fehlentscheidungen gesprochen. Eine wesentliche Fehlentscheidung hat sie aber vergessen, nämlich die Fehlentscheidung des AfD-Bundesparteitags, dass Deutschland aus der Europäischen Union austreten soll.
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Konsequenterweise, Frau Dr. Weidel, hätten Sie dann hier auf Ihre Rede auch gleich verzichten können. Es hätte Ihnen niemand zum Vorwurf gemacht.
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Für uns ist klar – wie Hans-Dietrich Genscher gesagt hat –: Europa ist unsere Zukunft, wir haben keine andere. – Dessen müssen wir uns als Parteien des demokratischen Zentrums hier nicht vergewissern.
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Diese Debatte hier hat aber einen anderen Charakter, wie die Rednerliste zeigt. Es ist keine Debatte, die die Gegenwart oder die Vergangenheit bewertet. Vielmehr weist beispielsweise gerade der Beitrag des Bundesfinanzministers nach vorne; denn er hat hier als Kandidat für die Kanzlerschaft gesprochen. Deshalb wird man Frau Baerbock, Herrn Laschet und Herrn Scholz in dieser Debatte auch daran messen müssen, was sie konzeptionell für die Zukunft vorschlagen.
Herr Scholz, der zentrale und wesentliche Punkt Ihrer Rede war doch, das Schuldenmachen zur neuen Staatsphilosophie zu verklären.
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„Next Generation EU“ ist eine Antwort auf die Krise, auf diese Pandemie gewesen.
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Dass es jetzt eine Konditionalität bei der Auszahlung der Mittel gibt, verdankt sich nicht der deutschen Bundesregierung; das verdankt sich beispielsweise Herrn Rutte und Herrn Kurz.
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Bei der Bewertung der Konditionalität ist es beklagenswert, dass Italien mit 44 Reformvorschlägen aufwarten kann, Deutschland aber nur mit 14. Da haben Sie die Latte gerissen.
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Nun stellt sich nach vorne hin die Frage: Wie wird das zukünftig sein? „Next Generation EU“ war von Frau Merkel und Ihnen, Herr Scholz, zusammen mit der französischen Regierung und Herrn Macron geplant gewesen. Von Rückzahlung war dort keine Rede; von Reformvorhaben war dort keine Rede. Erst durch die Intervention der „Sparsamen Vier“ kam es zu dieser anderen, im Übrigen richtigen Anlage. Nun stellt sich die Frage an Armin Laschet, wenn er den Anspruch auf die Kanzlerschaft erhebt: Wo wird Deutschland zukünftig stehen? Werden wir Vertreter einer eher mediterran geprägten Fiskalpolitik in Europa sein, oder wird Deutschland wieder Anwalt von Stabilität und Marktwirtschaft in Europa sein?
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Diese Frage stellt sich. Jeder kann sie für sich beantworten; aber sie muss beantwortet werden. Für uns ist klar: Staatsschulden sind eine Gefahr für die Stabilität der Wirtschafts- und Währungsunion. Die Krise von vor zehn Jahren ist noch nicht überwunden. Die Europäische Zentralbank ist bisher nicht in den Normalmodus zurückgekommen, Inflationsgefahren drohen. Und deshalb muss klar sein: Finanzpolitische Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist ein Garant für Stabilität und für Solidität.
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Die zweite Frage, die sich stellt – Frau Bundeskanzlerin, Sie haben es angesprochen –: Wie halten wir es zukünftig mit der Migrationspolitik? Die Probleme und Konflikte des Jahres 2015 sind – bedauerlicherweise – weitgehend ungelöst. Das bezeugt die Tatsache, dass es neue Verabredungen mit der Türkei geben muss, die sich augenscheinlich allerdings inzwischen nun wirklich in eine autoritäre Präsidialdiktatur gewandelt hat. Horst Seehofer hat tatsächlich versucht, im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft richtige Initiativen zu ergreifen, aber zu einem grundlegenden Beschluss zur Verteilung und Rückführung von Flüchtlingen ist es nicht gekommen. Es fehlt ein Verteilmechanismus, der fair ist. Es gibt immer noch verheerende Zustände in den Lagern, die niemand mit humanitärem Anspruch tolerieren kann. Wir haben immer noch keine Konzepte für gelingende Rückführungen. Wir haben immer noch keinen Schutz unserer Außengrenzen.
Hier stellt sich nun die Frage, wie wir zukünftig darauf reagieren. Das wird insbesondere Frau Baerbock zu beantworten haben. Es waren die Grünen, die über Jahre etwa die Entscheidung, einzelne Staaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, blockiert haben. Wie würde das eine Bundeskanzlerin Baerbock machen? Sie versuchen mit Ihrer Kampagne erkennbar, von links in die politische Mitte zu zielen; also müssen Sie auch eine Politik der politischen Mitte machen. Und da gilt: Die Kontrolle des Zugangs zu einer Gesellschaft ist die Voraussetzung für soziale Stabilität und für jede öffentliche Ordnung.
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Wir müssen uns dem Klimaschutz widmen, eine große gemeinsame Aufgabe. Die Bundesregierung hat gerade ein Klimapaket beschlossen. Dieses Klimapaket verschärft die Ziele für Deutschland zu einer Zeit, in der die neue Lastenverteilung innerhalb der Europäischen Union, die sich aus dem 55-Prozent-Ziel ergibt, noch gar nicht beschlossen ist.
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Einseitig setzt sich Deutschland Ziele, ohne sie europäisch abzustimmen, mit dem Ergebnis, dass wir es uns schwerer machen, aber für das Weltklima im Zweifel gar nichts erreichen. Und hier stellt sich die Frage: Wird Deutschland das zukünftig weiter fortsetzen? Gerade in der Klimapolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen, gilt: Wir brauchen mehr europäische Gemeinsamkeit und weniger nationale Alleingänge.
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Herr Scholz, dazu hätte ich mir insbesondere von Ihnen Aussagen gewünscht; denn der Anspruch der Sozialdemokratie war immer, auch die Interessen der hochqualifizierten, leistungsorientierten Belegschaften der Industrie zu vertreten. Die Sozialdemokratie müsste uns doch zur Kenntnis geben, ob sie auch zukünftig daran festhält, zum Beispiel die deutsche Automobilindustrie – ohne Beitrag für den Klimaschutz – einseitig schlechterzustellen, indem etwa die synthetischen Kraftstoffe, die im Wahlprogramm der CDU auftauchen, nicht auf die Flottengrenzwerte der Automobilindustrie angerechnet werden. Frau Baerbock hat neulich gesagt, sie nehme 200 000 abgebaute Arbeitsplätze in der Automobilindustrie hin. Sie auch? Darauf hätten wir eine Antwort gewünscht, genauso wie auf die Frage, ob die veränderte und verschärfte Regulatorik für die Chemieindustrie eine Zustimmung des Bundeskanzlers Olaf Scholz erfahren würde. Wir hätten uns gewünscht, von Ihnen zu erfahren, ob es mit einem Bundeskanzler Scholz eine neue Balance gibt zwischen einerseits den notwendigen ökologischen Veränderungen und Investitionen und andererseits den berechtigten wirtschaftlichen Interessen der deutschen Industrie und ihrer Beschäftigten. Dazu haben wir nichts gehört.
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– Was wir wollen? Wir wollen einen europäischen CO2-Erlaubnisscheinhandel.
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Wir wollen das Instrument des CO2-Markts auf Deutschland und Europa ausweiten, sektorübergreifend,
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ETS haben wir doch schon!
weil wir dadurch nämlich eine Antwort geben, auf die die Welt wartet, nämlich dass Europa als Technologieführer die Innovationen entwickelt, die nicht nur bei uns CO2 einsparen, sondern die einen segensreichen Beitrag zu einer Menschheitsaufgabe leisten können.
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Jetzt hat das Wort der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet.
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Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren Abgeordnete! Heute ist der 24. Juni, und an diesem Tag begann die Blockade Berlins. Das war der Angriff auf die freie Welt. Land- und Wasserverbindungen ausgehend von dieser Stadt wurden unterbrochen. Doch der Versuch, den Menschen ihre Freiheit zu nehmen, ist am Ende gescheitert. Die Luftbrücke war der Inbegriff der ausgestreckten Hand der USA, Großbritanniens, Frankreichs und weiterer Länder. Das hat gezeigt – symbolisch, exemplarisch für eine ganze Generation, auch als Lebensgefühl: Wenn liberale Demokratien zusammenarbeiten, haben Teilung und Konfrontation keine Chance.
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Freundschaften und Bündnisse mit anderen Demokratien sind die Grundlage des Wohlstandes und des Erfolges unseres Landes.
Und das gilt vor allem für Europa. Zum einen deshalb, weil wir in einem Europa der 27 leistungsfähiger und wettbewerbsfähiger sind als alleine. Zum anderen glaube ich aber auch an die Stärke der europäischen Idee. Das eigentliche Herz Europas ist doch nicht Effizienz, sondern die Idee der Freiheit und der Menschenwürde. Das ist der Grund, weshalb man sich zusammengeschlossen hat.
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Diese Idee verbindet uns; deshalb muss dieses Europa nicht mit unbarmherziger Kälte und Härte, nicht technokratisch, sondern in einem Rahmen verantworteter Freiheit agieren.
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Wir brauchen Europa mehr als je zuvor. Wir stehen an einem Epochenwechsel. Das haben wir gerade in der Pandemie sehr genau gemerkt. Wir sehen die große wirtschaftliche Dynamik in Asien; wir sehen China, wir sehen, dass sich das internationale Machtgefüge verändert. Um in dieser Welt zu bestehen – das ist bei Ihnen noch nicht angekommen –, ist der Nationalstaat alleine zu schwach. Deshalb brauchen wir Europa.
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Der Klimawandel kommt hinzu als Herausforderung unserer Generation. Diese Herausforderung ist in einer globalen Welt nur gemeinsam zu bewältigen, mit europäischen Anstrengungen. Die Völkerrechtsbrüche in Europa, die Cyberangriffe, auch auf den Deutschen Bundestag, sind nur bewältigbar – das Verhältnis zu unseren Nachbarn wird auch Thema beim EU-Gipfel sein –, wenn die 27 Nationalstaaten nicht womöglich noch gegeneinander paktieren, tricksen, sondern nur dann, wenn Europa mit einer Stimme spricht und sagt: Das lassen wir uns nicht gefallen! Hier ist die europäische Position, die wir dem entgegenstellen.
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Wir haben es doch erlebt während der Pandemie: Eine solch simple Stoffmaske, wenige Cent wert, war plötzlich nicht mehr verfügbar.
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In manchen Operationssälen konnte nicht mehr operiert werden, weil die simpelsten Dinge fehlten, weil wir abhängig waren von einer fremden Macht.
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Und deshalb ist es richtig, dass der Gipfel heute danach fragt: Wie können wir autark werden? Wie können wir unsere Daseinsvorsorge selbst sicherstellen?
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Wie können wir Impfstoffe herstellen? Wie können wir in dieser Welt bestehen?
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Das wird Ihnen vielleicht gefallen: Stellen Sie sich doch mal eine Welt vor, in der es nur chinesische und russische Impfstoffe gibt! Wie würde das die geopolitische Situation verändern? Ich bin froh, dass wir in Europa Impfstoffe entwickelt haben und dass wir selbst in der Lage sind, die Welt zu versorgen mit dem, was Wissenschaftler und Forscher in Europa entwickelt haben.
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Das ist der Unterschied: dieses Selbstbewusstsein, das wir brauchen. Und deshalb schadet eine Partei, die Deutschland aus der Europäischen Union herausführen will, deutschen Interessen. Das ist das, was Ihre Politik bewirkt, und was Sie anstellen mit Ihrem Gegröle!
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Die letzten Tage waren gute Tage, weil die Vereinigten Staaten zurückkehren zu multilateralen Lösungen, weil die Vereinigten Staaten in Richtung Europa sagen: Wir als liberale Demokratien wollen in dieser Welt gemeinsam agieren. – Jetzt müssen wir Europäer aber auch in der Lage sein, selbst unsere Stärken zu entwickeln, selbst so stark zu werden, dass wir da handlungsfähig sind.
Das sind wir nicht in allem. Es ist eine große Leistung gewesen, den Wiederaufbaufonds Europas mit 750 Milliarden Euro zu starten. Das ist ein Systembruch: Zum ersten Mal nimmt Europa gemeinsame Anleihen auf, um eine große Aufgabe zu bewältigen.
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Aber auch hier ist die Erkenntnis: Deutschland wird nur stark, wenn der Binnenmarkt wieder funktioniert, wenn die anderen auch stark sind.
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Und da, Christian Lindner, bin ich nicht sicher, ob ein Europa bei den vier, die sich lange gesträubt haben, die lange den Taschenrechner als Konzept hatten und nicht die europäische Vision, in dieser Lage in guten Händen gewesen wäre.
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Es ist gut, dass Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Macron vorangegangen sind und am Ende die anderen auch überzeugt haben. Das ist besser, als wenn die vier vorangegangen und die anderen den vier gefolgt wären. Das war der richtige Weg, und das ist der Weg, den wir auch in der Zukunft brauchen.
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„Mediterrane Finanzpolitik“ ist keine finanzpolitische Kategorie. Es hilft dem Kontinent nicht, mit solchen Adjektiven europäische Finanzpolitik zu bezeichnen.
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Ein Zweites: Ich bin der festen Überzeugung, wir brauchen eine umfassende Digital- und Datenunion. Das ist nicht nur die Besteuerung von Unternehmen, Herr Bundesfinanzminister. Das ist ein wichtiger Schritt, den man da erreicht hat, aber wir müssen auch das beste Umfeld für die Unternehmen schaffen, damit der nächste digitale Champion aus Europa kommt. Die Wettbewerbsfähigkeit wieder zum Maßstab europäischer Politik zu machen, wie es die Lissabon-Strategie einmal benannt hat,
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das ist etwas, das ein wenig zu kurz gekommen ist und wo wir wieder anknüpfen müssen, auch in den europäischen Prozessen.
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Die Blockade in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik muss ein Ende finden. Auch da schätze ich es als wichtig ein, dass sich der Europäische Rat heute mit Russland und mit der Türkei beschäftigt. Es ist wichtig, dass das Migrationsabkommen mit der Türkei verlängert wird, dass man diesen Weg geht, gemeinsame Lösungen zu finden mit denen, die unsere Nachbarn sind rund um das Mittelmeer.
Wir brauchen mehr Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik. Wir brauchen flexible Koalitionen der Gestaltungswilligen, sonst bleiben wir nur auf der Zuschauertribüne. Das hat immer zwei Seiten. Wenn man sagt: „Ja, wir brauchen mehr Europa, mehr Außen- und Sicherheitspolitik“, dann werden viele bei SPD und Grünen sagen: Ja, stimmt; mehr Europa, weniger Nationalstaat. – Wenn man dann aber europäisch etwas verabredet, ein Sicherheitsprojekt durchführt, die Idee einer europäischen Drohne und nicht einer nationalen Drohne entwickelt, dann darf man danach nicht im Klein-Klein der Innenpolitik wieder sagen: Dieses und jenes wollen wir jetzt aber doch nicht.
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Wenn wir Europa wollen, dann müssen wir gemeinsam Verantwortung übernehmen und solche Projekte dann auch gemeinsam durchziehen, wenn es nötig ist.
Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen: Frau Bundeskanzlerin hat erwähnt, dass man heute beim Europäischen Rat auch Konsequenzen für den Binnenmarkt und für das Schengen-System erörtern will. Wir haben erlebt, dass dann, wenn eine Krise kommt, wenn eine neue Situation eintritt, immer noch der alte nationalstaatliche Reflex greift.
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Man glaubte ernsthaft, man könne ein Virus bekämpfen mit dem Schließen von Grenzen, mit Schlagbäumen, mit Zollbeamten. An den Grenzen, wo das geschehen ist, waren die Menschen dort aber schon längst weiter. Sie haben nicht verstanden, warum man nicht von Straßburg aus über die Europabrücke nach Kehl fahren darf, wenn man einen guten Grund dafür hat. Das war ein Fehler.
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– Es war nicht nur Herr Söder; es war auch Herr Kretschmann, und es waren noch ein paar mehr. Wir alle haben gelernt aus dieser ersten Situation.
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Wir haben gelernt. Die nordrhein-westfälisch-niederländische und die nordrhein-westfälisch-belgische Grenze war übrigens die ganze Zeit über offen.
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Wir haben gekämpft dafür, dass diese Grenze offen bleibt, und haben dann einen Mechanismus entwickelt: Wir haben mit den Partnern jenseits der Grenze gemeinsam eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe gegründet, die dreimal die Woche getagt und uns informiert hat – die Gesundheitsämter und alle, die verantwortlich sind –, um so gemeinsam auf die Krise zu reagieren. In der zweiten und dritten Welle war das dann Konsens.
Und das muss eine Lehre sein: Wir dürfen diesen Binnenmarkt nicht wieder durch Grenzschließungen zerstören.
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Der Gipfel wird sich damit beschäftigen, wie der Binnenmarkt wieder konsequent hergestellt wird.
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Europa ist nicht nur ein politischer Prozess. Es ist nicht nur ein politischer Prozess, sondern es ist eine Lebenseinstellung.
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Weder von einem tödlichen Virus noch von antieuropäischer Häme und Skepsis und erst recht nicht von Populisten und Nationalisten lassen wir uns dieses Europa kaputt machen!
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Das ist die Ansage an Sie und an alle, die das vorhaben.
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Jetzt hat das Wort der Fraktionsvorsitzende der Fraktion Die Linke, Dr. Dietmar Bartsch.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe selten so viel Beifall vor einer Rede bekommen.
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Frau Bundeskanzlerin, nach 16 Jahren ist der anstehende Europäische Rat voraussichtlich Ihr letzter. Nachdem ich die Reden gerade gehört habe, muss ich sehr stark das „voraussichtlich“ betonen; denn ich vermute, die Regierungsbildung wird noch länger dauern als beim letzten Mal. Darauf lassen die sehr unterschiedlichen Positionen hier schließen.
Die Europäische Union, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, ist mit dem Ende Ihrer Amtszeit in keinem guten Zustand. Denn was ist denn der Maßstab? Der Maßstab ist nicht, was die Menschen in den europäischen Ländern darüber denken, sondern, wie ihre Situation tatsächlich ist.
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Und da sagen alle Befragungen – nicht nur Die Linke –, dass wir uns in einer sehr problematischen Situation befinden. Ich darf daran erinnern, was vor einem Jahr zu Beginn der Pandemie los war; darüber hat eben sogar Armin Laschet gesprochen: Grenzen wurden zugemacht und Ähnliches. Da hat man gesehen, wie gefährlich die Situation ist. Das Gemeinsame mag sich ja danach entwickelt haben; aber zunächst haben wir die riesengroße Gefahr der unendlich vielen Alleingänge gesehen.
Da Sie zu den Impfstoffen eine Bemerkung gemacht haben, möchte auch ich noch etwas dazu sagen. Es ist ja sehr gut, dass jetzt die Vereinbarung über die 2,3 Milliarden Dosen getroffen werden soll. Das ist völlig in Ordnung. Aber Sie haben sich noch mal ausdrücklich dagegen ausgesprochen, dass die Patente freigegeben werden sollen. Ich will noch mal deutlich sagen: Niemand hier im Deutschen Bundestag fordert, dass Patente allgemein und grundsätzlich freigegeben werden, weil dann Forschung behindert wird. Das ist überhaupt nicht die Position. Aber wenn eine Krise ist und es um Leben und Tod geht, dann muss man besondere Entscheidungen treffen.
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Deshalb ist die Forderung richtig, die Patente freizugeben.
Frau Bundeskanzlerin, im letzten Jahr hatte Deutschland, hatten Sie die europäische Ratspräsidentschaft inne. Sie haben damals gesagt:
Die höchste Priorität der deutschen Ratspräsidentschaft ist es, dass Europa geeint und gestärkt aus der Krise kommt. Aber wir wollen Europa nicht nur kurzfristig stabilisieren – das wäre zu wenig. Wir wollen auch ein Europa, das Hoffnung macht … Wir wollen ein Europa, das zukunftsfähig ist ... Wir wollen einen Aufbruch für Europa.
Ich kann dem nur vollinhaltlich zustimmen. Armin Laschet hat gesagt: Europa mehr denn je. – Aber, ehrlich gesagt, den Anspruch, den Sie formuliert haben, haben Sie nicht eingelöst.
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Europa ist in keiner Phase des Aufbruchs, sondern Europa taumelt im Kern wie ein angeschlagener Boxer vor dem K.o. von einer Ecke in die andere. Vor dem K.o. stehen vor allen Dingen die ganz normalen Bürgerinnen und Bürger der EU, jedenfalls vielfach.
Es geht um ein Europa der Menschen. Das muss doch der Kern sein. Die müssen unser Maßstab sein.
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Und wenn wir die Situation daran messen, ist sie eine schlechtere. Wir erinnern uns doch an die Finanzkrise; hier ist heute auch schon mehrfach darüber gesprochen worden. Damals war es so, dass die Verkäuferin, die Polizisten, der Paketbote und die Altenpflegerin das, was Banken verursacht haben, letztlich mit Steuermitteln bezahlt haben.
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Das können wir nicht akzeptieren.
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Wir sehen doch bei den Schulen, was dabei herausgekommen ist, welche Defizite wir haben.
Und wie wird das diesmal sein? Ich hätte mir gewünscht, dass endlich mal die Profiteure der Krise, die Milliardäre und Multimillionäre in ganz Europa, einen Beitrag zur Finanzierung leisten und dass Deutschland dazu initiativ geworden wäre.
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Eine europaweite Vermögensabgabe für diese Leute wäre mal eine deutsche Initiative gewesen, meine Damen und Herren.
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Aber die EU hat doch in all den Jahren – ich will das wirklich noch einmal aufzählen – vor allem gegen ein soziales Europa gearbeitet. Seit 2011 hat die EU-Kommission 63-mal zu Kürzungen im Gesundheitswesen und zur Privatisierung von Krankenhäusern aufgerufen. 50-mal hat die Regierung zu Maßnahmen aufgerufen, um steigende Löhne zu unterbinden. 38-mal wurden Anweisungen zur Reduzierung des Kündigungsschutzes gegeben. Frankreich wurde aufgefordert, die Renten zu kürzen. Das ist die Realität, und deshalb ist die Europäische Union tief gespalten. Das ist die reale Situation.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer ein soziales und bürgernahes Europa verhindert, nimmt den Menschen Sicherheit und Kontrolle über ihr Leben und zerstört vor allen Dingen Vertrauen in Politik und in Europa. Es ist doch ein Treppenwitz, dass ausgerechnet der neoliberale Boris Johnson auf diesem Nährboden mit dem Slogan „Take back control“ Großbritannien aus der EU geführt hat. Das ist wirklich ein Treppenwitz. Diese Kampagne war schmierig und voller Lügen, aber das Problem ist doch: Er hat an das Gefühl der Menschen angeschlossen, dass dieses Europa kalt und teuer ist. Da das real ist, hat das funktioniert. Das muss uns doch allen zu denken geben. Das ist doch nicht nur ein kleines Problem in Großbritannien, das ist ein europäisches Problem. Wir müssen gemeinsam etwas tun, damit die Menschen eben nicht sagen: Diese Europäische Union ist kalt, und da wird nur an Geld gedacht.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, Olaf Scholz hat gesagt: Dieses Europa muss politischer werden. – Sehr richtig. Ja, die Maßstäbe Menschenwürde und Rechtsstaat müssen ganz oben stehen, ohne jede Frage. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa befindet sich doch gerade in diesem Punkt in einer enorm schweren Krise. Seit 2015 ist es zu keinem Zeitpunkt gelungen, eine europäische Flüchtlingspolitik auf den Weg zu bringen, die Humanität großschreibt, die Menschenrechte uneingeschränkt achtet und die Lasten gerecht verteilt. Jede Woche ertrinken Menschen im Mittelmeer, werden in libyschen Lagern Menschen gequält und erniedrigt. Die europäische Moral befindet sich in einem Schraubstock zwischen der libyschen Küstenwache und dem türkischen Despoten Erdogan. Das ist die Wahrheit, und das ist eine europäische Bankrotterklärung, meine Damen und Herren.
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Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie haben sicherlich noch mehr schlaflose Nächte in Brüssel verbracht als mit den Ministerpräsidenten unseres Landes in der Coronakrise. Es ist wirklich so: Mancher Vorwurf, der Ihnen gemacht worden ist, geht wirklich nicht auf Ihr Konto. Sie haben vielfach Schlimmeres verhindert. Das ist die Wahrheit. Aber ich glaube, das ist letztlich für die Ambitionen, die wir mit Europa haben sollten, zu wenig.
Herzlichen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Annalena Baerbock, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Da das aller Wahrscheinlichkeit nach Ihre letzte große europapolitische Rede hier im Bundestag gewesen ist, möchte ich an dieser Stelle sagen: Sehr, sehr viele Menschen in diesem Land sind dankbar dafür, dass Sie in Krisensituationen in den letzten 16 Jahren dieses Europa zusammengehalten haben, gerade auch gegen große Widerstände aus Ihrer eigenen Fraktion und vor allen Dingen von Ihrer Schwesterpartei.
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Aber es reicht nicht mehr, Europa immer nur kurzfristig – bei externen Schocks – zu stabilisieren.
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In diesem Jahrzehnt geht es darum, Europas Versprechen zu erneuern, einen klimagerechten Wohlstand in Europa zu schaffen.
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Klimagerechter Wohlstand bedeutet, unsere Chance, die wir jetzt haben, zu nutzen und unseren Wirtschaftsraum, der der größte gemeinsame Wirtschaftsraum weltweit ist, so zu modernisieren, dass wir auf den Märkten der Zukunft klimaneutral eine Chance haben. Warum? Weil das kein Selbstzweck ist, sondern weil das die Grundlage, die Stärke Europas, das soziale Versprechen dafür ist, die Daseinsvorsorge für alle im 21. Jahrhundert zu sichern.
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Das ist der Kitt, der soziale Kitt, der Freiheitskitt, der Europa zusammenhält, gerade im Wettstreit mit autoritären Regimen. Damit verteidigen wir unsere liberale Demokratie.
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Blicke ich auf die Tagesordnung für diesen Europäischen Rat, und höre ich vor allen Dingen meine Vorredner hier an dieser Stelle, dann wiederholt sich doch Bekanntes: Die richtigen Themen werden angesprochen, doch die nötigen Antworten für einen wirklich europäischen Aufbruch sucht man vergebens.
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Wo ist das Versprechen an die 450 Millionen Europäerinnen und Europäer, es nach dieser Pandemie wirklich besser zu machen und nicht nur zu versprechen?
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Europa hat mit dem Green Deal einen guten Plan vorgelegt. Aber diesem Green Deal fehlt der pulsierende Herzschlag, ihn auch mit Leben zu füllen, weil die größte Regierung dieses Europas das blockiert. Sorry, mit Pathos und mit Analyse allein erneuern wir Europas Versprechen nicht.
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Die Biden-Regierung hat das erkannt. Sie investiert jetzt aus der Krise heraus 1,9 Billionen Dollar in Energiewende und Infrastruktur, um es in Zukunft besser zu machen. China tut das aus anderen Motiven und ist nichtsdestotrotz mittlerweile Weltmeister bei den erneuerbaren Energien.
Und wir in Deutschland? Sie feiern sich hier gerade alle ab für den Recovery Plan. Dieser Recovery Plan stellt Deutschland 25 Milliarden Euro – round about – zur Verfügung. Und Sie brüsten sich jetzt damit, wer der Erste war, der danach gerufen hat. Ich weiß ganz genau: Seit 2015 haben Sie die Wirtschafts- und Währungsunion blockiert, und auch das ist Europa in der Pandemie auf die Füße gefallen.
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Und was machen Sie jetzt, als Sie endlich erkannt haben, dass es richtig ist, in Europas Zukunft zu investieren? Schauen wir uns das mal genau an, es geht ja hier schließlich um den Europäischen Rat und den Recovery Plan und nicht um Bewerbungsreden.
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Es war eigentlich vereinbart, von diesem deutschen Anteil – das waren die Regeln der Europäer, die auf dem Europäischen Rat beim letzten Mal gemeinsam beschlossen wurden – mindestens 37 Prozent der Gelder für Klimaschutz und 20 Prozent für Digitalisierung – da haben wir in Deutschland ziemlichen Nachholbedarf – einzusetzen.
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Und was machen Sie? Schauen Sie sich das mal genau an! 80 Prozent der Maßnahmen für den deutschen Wiederaufbauteil waren bereits vorher Bestandteil des deutschen Konjunkturprogramms. Das ist nichts Neues, sondern das ist alter Wein in neuen Schläuchen, und damit schaffen wir keine Zukunft. Damit schaffen wir keinen Klimaschutz und auch keine Digitalisierung.
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Institute haben für Sie nachgerechnet – das sind ja nicht meine Zahlen –: Läppische 1 Prozent aus dem Recovery Fund gehen in Deutschland in den Klimaschutz. Und dann wundern Sie sich jetzt in Fernsehtalkshows: Wie kann es sein, dass die Next Generation, um die es hier ja eigentlich geht, und das Bundesverfassungsgericht Ihnen plötzlich die Leviten lesen?
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Ich sage es Ihnen: weil das Versprechen nicht nur an die Next Generation in Deutschland, sondern an alle Europäerinnen und Europäer „Gemeinsam erneuern wir unsere Zukunft“ von Ihnen weiter ausbleibt. Und das müssen wir ändern.
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Wir brauchen eine deutsche Bundesregierung, die mit vollem Herzen europäisch, solidarisch und klimaneutral tickt, dann auch entsprechend handelt und nicht nur bis zur nächsten Landtagswahl denkt, bei der 1 Cent vielleicht 1 Prozentpunkt kosten könnte.
Wir müssen gemeinsam einen klimaneutralen Kontinent schaffen, und Europa kann das. Europa hat aus Feinden Freunde gemacht. Europa kann es schaffen, im nächsten Jahrzehnt den klimaneutralen Weg einzuschlagen und zum ersten klimaneutralen Kontinent dieser Welt zu werden, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Ich möchte an dieser Stelle aber auch sehr deutlich sagen: Das schaffen wir, indem wir das ganze Versprechen Europas erneuern, auch das Versprechen zu unseren Werten. Und das bedeutet auch, innerhalb Europas eine deutliche Sprache zu finden, wenn die Menschenrechte – und dazu gehört: ich habe meine Menschenrechte, egal wen ich liebe – in anderen Ländern wie in Ungarn mit Füßen getreten werden. Dazu gehört auch, wenn Sie jetzt über Flüchtlingspolitik reden, zu sehen, was an der kroatischen Grenze passiert: Da werden kleine Kinder und Familien mit Pushbacks zurückgedrängt. Das Vertrauen in unsere Demokratie, das Versprechen Europas zu erneuern, schaffen wir nur, wenn wir auch vertrauen, dass die Kraft unserer Werte größer ist als die Kraft einfacher populistischer Sprüche.
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In diesem Sinne sagen wir sehr deutlich – anders als Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Union –: Jetzt ist der Moment, wir haben ein Fenster of Opportunity.
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Wir haben 2022 die Midterms in den USA und – ich komme zum Schluss – die Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Nutzen wir gemeinsam dieses Fenster! Wir werden nicht drei Monate abwarten und dann sagen: Wir machen Kassensturz. – Wir wollen Europa jetzt erneuern, mit unseren europäischen Freunden und Nachbarn zusammen; denn unsere Zukunft ist Europa. Erneuern wir das Versprechen Europas, und zwar jetzt! Machen wir es besser! Das sind wir 450 Millionen Bürgerinnen und Bürgern schuldig.
Herzlichen Dank.
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Langsam! Herr Kollege, lassen Sie jeder Fraktion das Recht, so lange zu applaudieren, wie sie es möchte.
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Ich weiß, dass es Ihre letzte Rede ist.
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Und dazu erteile ich Ihnen jetzt das Wort.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Christian Schmidt, CDU/CSU.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, herzlichen Dank. – Frau Baerbock, ich kann Sie von einer Sorge befreien: Eine Bewerbungsrede war das nicht.
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Sehr geehrte Damen und Herren! Mein Europa ist ein Europa mit Grenzen, die nicht trennen. Mein Europa ist ein Europa vieler: vieler Menschen, vieler Länder. Mein Europa steht für Vielfalt, für Frieden, für Demokratie.
Helmut Kohl hat mit Blick auf die europäische und deutsche Geschichte immer gemahnt: Vergesst die Kleinen nicht! – In gewisser Weise ist das die Doktrin unserer Außen- und Europapolitik. Wir pflegen auch und gerade mit den Staaten enge Beziehungen, die nicht im Konzert der Großen mitspielen.
Meine Zukunft in Europa spielt sich in Zukunft zwei Flugstunden von hier ab. Keine 1 500 Kilometer von hier entfernt leben Menschen in einem wunderschönen Teil Europas, die davon träumen, dazuzugehören: zu Frieden und zu guten Lebenschancen, zu Europa, zu uns. Am 1. August trete ich in Sarajevo das Amt des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina an. Ich danke der Bundeskanzlerin und der gesamten Bundesregierung für diese im Kontext der verstärkten Befassung mit der Situation der Länder im Westbalkan entstandene Initiative und der internationalen Gemeinschaft für die Übertragung dieser spannenden, herausfordernden, sicher nicht einfachen Aufgabe.
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Ich tue das mit dem festen Willen, durch klugen Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel aus den Friedensvereinbarungen von Dayton einen entschiedenen Beitrag dahin gehend zu leisten, dass die Narben in der Region nicht wieder aufbrechen. Dazu ist dieses immer noch nötige Amt, auch mit seinen exekutiven Möglichkeiten, da. Es gewährleistet neben der Unterstützung des Landes auf dem Weg in die EU auch die politische Präsenz der Weltgemeinschaft, zuvorderst für die Sicherstellung der territorialen Integrität Bosnien-Herzegowinas. Nach manchen Non-Papers der letzten Wochen konnte man seine Sorgen darüber haben.
Insbesondere unsere Freunde und Partner in Washington haben mit europäischen Staaten und der Weltgemeinschaft in Dayton so in und für Europa gehandelt, wie Präsident Biden letzte Woche in Brüssel die amerikanische Verpflichtung für die Sicherheit Europas genannt hat: „a sacred obligation“, eine heilige Verpflichtung. Gut für uns, dass die USA wieder zurück sind! Und wir Europäer werden unseren Beitrag leisten, ob im Baltikum, auf dem Balkan oder wo immer in Europa oder seiner Nachbarschaft.
Der Genozid von Srebrenica und andere monströse Kriegsverbrechen müssen im kollektiven Bewusstsein von uns allen, von uns Europäern als Mahnung gegenwärtig bleiben. Nicht nur wegen dieser schlimmen Erfahrungen dürfen wir den Westbalkan, diese Schlüsselregion Europas, unseren südöstlichen Campus der Vielfältigkeit, nicht vergessen und müssen den Blick darauf richten.
Der Weg dorthin ist aber so fordernd und bringt auch viele Verpflichtungen für diese Länder und ihre Gesellschaften mit sich, dass wir gut daran tun, in Sichtweite liegende Zwischenstationen zu markieren – Zwischenstationen, damit für die Bürgerinnen und Bürger Vorteile und Nutzen der EU nicht nur als ein utopisches Konstrukt erscheinen, sondern erfahrbar werden, Realität werden können. Europa darf nicht stehen bleiben. Europa muss sich weiterentwickeln und Wege suchen, die konkrete Antworten geben, die erreichbar und verlässlich sind.
Die entscheidende Frage ist: Machen wir aus der Größe Europas eine Schwerfälligkeit oder doch eine Stärke Europas? Europa spielt in einer globalisierten Welt nur dann eine gewichtige Rolle, wenn unsere Werte in einem konzentrierten Ringen miteinander zu einer gemeinsamen Agenda reifen. Wir brauchen einen offenen Binnenmarkt und Solidarität in der Krise und danach. Wir brauchen aber keine Transfer- und Schuldenunion. Wir brauchen auch eine vernünftige Sicherung der europäischen Außengrenzen. Wir alle wollen unsere Eigenständigkeit, aber das ist kein Argument gegen eine gemeinsame europäische Verfassung. Jeder kann seine Identität pflegen. Das heißt aber nicht, dass nationalistische Überheblichkeit den Ton angeben darf.
Auf dem Balkan waren wir – die EU, die USA – noch vor wenigen Jahren militärisch gefordert. Lassen Sie uns gemeinsam alles daransetzen, dass wir dort und anderswo in Europa in Zukunft nur friedlich gefordert sind.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau Bundeskanzlerin, lieber Herr Ministerpräsident, vor 31 Jahren, am 20. Dezember 1990, saß ich das erste Mal in diesem Hohen Haus, noch nicht in diesem Saal – das war noch vor dem Umbau –, ein Jahr nach der Wende, in einer anderen Zeit. Helmut Kohl war Bundeskanzler, der Kanzler der Einheit, der Kanzler Europas. Hans-Dietrich Genscher war sein Außenminister, Theo Waigel war mein Parteivorsitzender, und Willy Brandt war Alterspräsident.
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31 Jahre ist das her, 31 unglaubliche Jahre. Damals wurde deutsche Geschichte geschrieben. Die deutsche Einheit, für die ich 1981 noch vor diesem Haus mit meinen Freunden der Jungen Union demonstriert hatte, war friedlich erreicht, der Zwei-plus-Vier-Vertrag gerade auf den Weg gebracht und die Zukunft Deutschlands von anderen mitgetragen. Ohne diese vier anderen Länder und ihre Einigkeit wären wir heute nicht da, wo wir stehen.
Ich bin dankbar: für diese Zeit, für unsere Demokratie, Ihnen für konstruktive Politik, für das Bestreben, die Welt ein Stück besser zu machen. Ich bin dankbar: meinen Wählern für ihr Vertrauen, den Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag über alle Fraktionen. Direkt ansprechen möchte ich die CSU-Landesgruppe, meine politische und fraktionelle Heimat, Alexander Dobrindt, stellvertretend für die CSU-Landesgruppe, meine Bundestagsfraktion, Ralph Brinkhaus und alle anderen, mit denen ich zusammenarbeiten durfte. Meiner Familie danke ich für das Verständnis in all den Jahren.
Viele von Ihnen werde ich, so hoffe ich, in meiner neuen Aufgabe wiedersehen, ob in Brüssel, Berlin oder Sarajevo. Ich freue mich darauf.
Danke sehr.
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Lieber Kollege Christian Schmidt, Sie haben sich in den über drei Jahrzehnten Ihrer parlamentarischen Arbeit in vielen Funktionen große Verdienste für unser Parlament und unser Land erworben. Dafür danke ich Ihnen.
Wir alle wünschen Ihnen für Ihre neue Aufgabe als Hoher Repräsentant der Vereinten Nationen in Bosnien und Herzegowina alles Gute und viel Erfolg.
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Nächster Redner ist der Abgeordnete Martin Schulz, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Pandemie hat uns herausgefordert. Sie hat den Geist der Solidarität zwischen den Staaten und den inneren Zusammenhalt unserer Gesellschaft auf eine harte Probe gestellt. Querulanten und Verschwörungserzähler haben alles getan, um uns auseinanderzutreiben.
Der Europäische Rat, zu dem Sie heute fahren, Frau Merkel, tritt an einem Tag zusammen, an dem die bundesweite Inzidenz bei 6,6 liegt, in ganz Europa Einschränkungen zurückgenommen werden und Impfkampagnen laufen. Das repräsentiert eine Botschaft: Europa hat zusammengehalten. Es ist nicht gelungen, uns auseinanderzutreiben. Wenn die anderthalb Jahre, die hinter uns liegen, eine Schlussfolgerung zulassen, dann diese: Einigkeit macht stark.
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Das ist der Geist, in dem Europa gestaltet werden muss. Viel hängt davon ab. Schon vor vier Jahren haben wir als Sozialdemokraten im Koalitionsvertrag durchsetzen können, dass zum ersten Mal in einem deutschen Regierungsprogramm Europa an erster Stelle stand. Denn Europa, meine Damen und Herren, verdient es, dass seine Stärkung höchste deutsche Regierungspriorität ist. Und diese Regierung hat Europa gestärkt.
Für die Stärkung der Europäischen Union stehen zwei Projekte in besonderer Weise. Das erste Projekt ist, dass die EU über den Wiederaufbaufonds endlich autonom Gelder an den Finanzmärkten aufnehmen kann.
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In diesen Tagen fällt überall in Europa der Startschuss für milliardenschwere Investitions- und Reformprojekte. Was ist das für ein Kontrast zu der Zeit vor zehn Jahren, als Besuch aus Brüssel vor allen Dingen Kürzungen bei Renten und Sozialleistungen bedeutete? Und was machen wir jetzt? Statt für Arbeitslosigkeit und Austerität wie damals steht Europa jetzt für Mut, Aufbau und Aufbruch. Das ist das Europa, das wir wollen.
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Das zweite Projekt: Google, Amazon, Facebook und Apple zahlen endlich in Zukunft Steuern, auch hier in Deutschland, dank der globalen Mindestbesteuerung von 15 Prozent, die die G 7 jetzt anstreben. Das ist ein Schritt zu konkret mehr Gerechtigkeit. Ich halte das für einen der größten Erfolge in der internationalen Politik der letzten Jahre. Neben dem Wiederaufbaufonds ist das ein großer Erfolg deutscher Europapolitik, und er trägt die Handschrift des Bundesfinanzministers der Bundesrepublik Deutschland, Olaf Scholz.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren, ich bin froh, dass ich helfen konnte, all das und vieles mehr mit auf den Weg zu bringen. Das ist jetzt hier meine letzte Rede in einem Parlament nach insgesamt 27 Jahren als Parlamentarier: 23 Jahre im Europäischen Parlament und 4 hier im Deutschen Bundestag. Der größte Teil meiner parlamentarischen Arbeit galt der festen Verankerung Deutschlands in Europa und der Stärkung Europas durch Deutschland, weil ich zutiefst davon überzeugt bin – auch als ein Kind meiner Generation –, dass ein starkes Europa, ein einiges, ökonomisch, sozial und kulturell erfolgreich zusammenarbeitendes Europa die beste Grundlage für eine sichere Zukunft in Frieden und Wohlstand für die nächsten Generationen auf dem gesamten Kontinent ist.
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Geografisch gesehen liegt Deutschland in der Mitte dieses Kontinents, von neun Nachbarländern umgeben, von denen heute keines mehr Angst vor Deutschland hat und auch nicht haben muss. Bezogen auf die über tausendjährige Geschichte unserer Nation ist das vielleicht der größte Erfolg.
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In diesem Bewusstsein, meine Damen und Herren, habe ich als Abgeordneter gearbeitet. Ich finde, Vertreter der Bürgerinnen und Bürger zu sein, ist die höchste Ehre, die einem in einem republikanischen Staat zuteilwerden kann.
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Für dieses einzigartige Privileg bin ich den Wählerinnen und Wählern zutiefst zu Dank verpflichtet. Dankbar bin ich auch all denjenigen, denen ich hier im Hause begegnet bin und mit denen ich zusammenarbeiten durfte.
Neben den Erfolgen, die wir erzielen konnten, neben den Herausforderungen der Coronakrise hat uns jedoch in dieser Legislaturperiode ein Phänomen in außergewöhnlicher Form bewegt: Das ist die neue Gewalt des rechtsextremistischen Terrors. Der feige Mord an Walter Lübcke, der schändliche Anschlag in Halle, die verabscheuungswürdigen Attentate in Hanau – die Atmosphäre von enthemmter Sprache und aggressiver Intoleranz, die zu solchen Taten führt, hat in dieser Wahlperiode auch Einzug in dieses Haus gehalten.
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Ich wünsche mir, dass alle Demokratinnen und Demokraten auch im nächsten Deutschen Bundestag wieder eine Brandmauer gegen den Hass errichten, dass kein Tabubruch geduldet wird, dass die Grenze des Sagbaren nicht jeden Tag weiter verschoben wird.
Ich für meine Person werde mich bemühen, mich an anderer Stelle, wo ich weiterarbeiten werde, genau dafür einzusetzen: für eine klare Haltung gegen rechts, für eine gerechte Gesellschaft, für Vielfalt, für Respekt und Toleranz und vor allen Dingen für ein starkes, ein friedliches, soziales und demokratisches Europa.
Vielen Dank.
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Lieber Kollege Martin Schulz, ich danke auch Ihnen für die Jahrzehnte Ihres Einsatzes für freiheitliche parlamentarische Demokratie in unserem Land und vor allem in Europa. Wir wünschen Ihnen für neue Aufgaben, für Ihren weiteren Lebensweg, für Ihr weiteres Engagement, vor allem für Europa, alles Gute.
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Jetzt erteile ich das Wort der Abgeordneten Dr. Frauke Petry.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist schade, dass die Bundeskanzlerin gerade jetzt die Debatte verlassen hat, denn heute, am Johannistag 2021, debattieren wir nämlich zum letzten Mal über Ihre Amtszeit, Frau Bundeskanzlerin, über Deutschlands Politik in Europa.
Die Bundeskanzlerin präsentiert sich hier gerne als Klimakanzlerin, dabei hat sie als erste Regierungschefin die fatale Abkehr von der Kernenergie in Deutschland zu verantworten. Dass dabei die technikfeindlichen Grünen politisch hofiert wurden, dass dadurch die Nutzung von Kohle und Gas vorübergehend zu einem vermehrten CO2-Ausstoß geführt hat, ist Ergebnis gefühliger Entscheidungen, nicht jedoch vorausschauender Politik. Von einem einstmals fortschrittlichen Energieexporteur hat sich Deutschland unter der Führung von Frau Merkel auf den Weg hin zu einem energiepolitischen Entwicklungsland begeben mit den höchsten Energiepreisen in Europa.
Die deutsche Außenpolitik ist spätestens seit der Euro- und der Migrationskrise unter Druck. Frau Merkel rühmt sich gerne multilateraler Kooperationen, tatsächlich aber verschleudern wir vonseiten Deutschlands Milliarden von Steuermitteln vieler fleißiger EU-Bürger und zwingen unseren europäischen Partnern durch nationale Entscheidungen wie die Grenzöffnung 2015 die Folgen dieser Fehlentscheidungen faktisch auf. Das ist keine Kooperation auf Augenhöhe, das ist maximal deutsch-französischer Zentralismus unter einer europäischen Tarnkappe.
Frau Merkel unterstützt mit einem weiteren Flüchtlingsdeal mit Erdogan eine Politik, in der die schlechten Bilder einfach an andere Grenzen verbannt werden, und zahlt Erdogan dafür bis 2024 weitere 6 Milliarden Euro. Damit unterstützt die deutsche Bundesregierung, damit unterstützen wir als Deutschland insgesamt Erdogans nationalislamistisches Regime, das völkerrechtswidrig in Syrien einmarschiert ist und zusammen mit Aserbaidschan gegen Armenien zu Felde zieht, um letztlich eine pantürkische Union als neuen Machtfaktor in der Welt zu schaffen. Dabei ist die Türkei NATO-Partner, aber offenbar einer, den niemand mehr im Griff hat.
Ein Thema, meine Damen und Herren, ist viel näher bei den Bürgern, und das ist Corona. Die Politik der Bundeskanzlerin hat die Angst, pseudowissenschaftliche Methoden und das Instrument des Einsperrens und Abschottens der Bürger zur neuen Maxime der Krankheitsbekämpfung erhoben. Wäre sie Politikwissenschaftlerin oder käme vom Völkerrecht, dann könnte ich das erklären, für eine Naturwissenschaftlerin aber ist diese Politik eine Bankrotterklärung.
Wir brauchen in diesem Land Freiheit, Wettbewerb und den Mut zur Kontroverse in Wissenschaft und Politik gleichermaßen – und das mehr denn je. Unter der Führung von Frau Bundeskanzlerin Merkel wurden private infantile Machtvorstellungen in fast allen Bereichen der Politik zum neuen politischen Maßstab erhoben. Das ist die Abkehr von einem aufgeklärten wissenschaftlichen Gesellschaftsverständnis, und das bedauere ich sehr. Ich hoffe, dass Frau Merkels Nachfolger Armin Laschet über mehr politischen Pragmatismus verfügt und die moralisch überladene Argumentation hinter sich lassen wird. Das nämlich ist unsere Aufgabe als Politiker, die wir gewählt sind, sich primär um die Bedürfnisse unserer Bürger zu kümmern.
Herzlichen Dank.
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Voraussichtlich letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Dr. Katja Leikert, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über zwölf Jahre Krisenmodus liegen hinter uns in Europa. Finanzkrise, Migration, Pandemie – unserem Europa wurde hier viel abverlangt. Und egal welche Krise, wir als CDU/CSU standen immer im Zentrum der Problemlösung.
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Den Linken und Grünen waren wir in Europa oft zu streng, wenn wir auf die Einhaltung von Verschuldungsquoten gepocht haben. Da hilft auch Lautstärke nicht, liebe Frau Baerbock. Es gibt auch so etwas wie generationengerechte Finanzen.
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Und der rechte Rand hier im Haus warf uns quasi nichts weniger als permanenten Rechtsbruch vor, und das ausgerechnet beim Euro, der zweitstärksten Währung der Welt.
Wenn die Urteile von rechts und links so ausfallen, dann kann man sagen, dass wir einiges richtig gemacht haben. Mit großem Einsatz und viel Kraft haben wir zwölf Jahre das Haus Europa zusammengehalten,
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und das mit einer Kanzlerin, die wie keine Zweite für Europa steht. Auf nächtelangen Gipfeln war sie immer diejenige, die am längsten fit war und mit ihrer versöhnenden und besonnenen Art entscheidend dazu beigetragen hat, dass die 27 Mitgliedstaaten beisammengeblieben sind. Ein herzliches Dankeschön an Angela Merkel!
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Ich wünsche mir, dass wir auch nach der Bundestagswahl einen Kanzler haben werden, der jeden Tag daran arbeitet, unsere Europäische Union ein Stück besser zu machen – und ich finde, das hat Armin Laschet gerade heute noch einmal leidenschaftlich deutlich gemacht. Europa ist für ihn und uns als CDU/CSU-Fraktion eine echte Herzensangelegenheit.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin davon überzeugt, dass wir unsere Chancen nutzen müssen, um bei den großen Transformationsthemen unserer Zeit, Digitalisierung und Klimaschutz, wieder nach vorne zu kommen. Wir sollten uns nicht selbst bedauern, dass wir kein europäisches Google, Facebook oder Twitter haben, sondern eben durch gezielte Förderung von Start-ups, Forschung und Innovation für bessere Bedingungen für unsere klügsten Köpfe sorgen. Das digitale EU-Covid-Zertifikat ist ein tolles Beispiel: Fast 30 Millionen Menschen haben es alleine schon in Deutschland. Die USA haben kein einheitliches digitales Zertifikat. Wir haben es in 27 Mitgliedstaaten. Made in Europe, darauf können wir auch einmal stolz sein.
Beim Thema Digitalisierung ist für mich wichtig – das möchte ich explizit heute Morgen hier ansprechen –, den Datenschutz eben nicht in absurde Höhen zu schrauben. Das sehen wir in den nationalen Debatten, und das sehen wir in Brüssel. Und da, liebe Grüne, können Sie noch sehr viel von uns lernen: Auch das Internet ist kein rechtsfreier Raum, die Menschen sollen auch da sicher sein.
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Für uns heißt das, dass zum Beispiel der Kinderschutz immer über dem Schutz der Verbindungsdaten von Verbrechern stehen muss! Die Debatten der letzten Jahre dazu zeigen: Im digitalen Raum brauchen wir Sicherheit, im digitalen Raum brauchen wir eine ordnende Vernunft. Das geht eben am besten mit der CDU/CSU und nicht mit irgendwelchen ideologischen Debatten!
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Vernunft, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auch ein supergutes Stichwort für das Thema Klimaschutz. Es ist richtig, dass die Europäische Union hier mit dem Green Deal vorangegangen ist, und das übrigens zu einer Zeit, in der sich die Amerikaner unter Trump vom Klimaabkommen abwenden wollten. Da hat Ursula von der Leyen mutig gehandelt und dieses Thema entschlossen vorangebracht.
Ich möchte ganz offen sagen, ich würde ungern aus der letzten Sitzungswoche des Deutschen Bundestags dieser Legislatur zu meinen Kindern nach Hause kommen und ihnen sagen: Sorry, liebe Kinder, wir hier machen nur 2 Prozent der Weltbevölkerung aus, deswegen machen wir nichts für den Klimaschutz. Hier blockiert auch niemand, Frau Baerbock, und schon gar nicht die CDU/CSU-Fraktion. Hier taumelt die Europäische Union auch nicht, Herr Bartsch. Die Europäische Union hat hier Führung bewiesen. Ich freue mich, dass China und die USA in den positiven Wettbewerb um die besten Technologien für den Klimaschutz eingestiegen sind!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin da sehr zuversichtlich. Wir haben Spitzenforschung nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa, wir haben Spitzenunternehmen und Innovation. Einer unserer Wirtschaftspioniere, Werner von Siemens, wusste schon vor über 200 Jahren, dass man eben mit Standards Märkte erschließt und dauerhaft Wohlstand sichert. Auch hier sind wir als CDU/CSU konservativ: Wir wollen eine klimaneutrale Union! Wir wollen, dass die Wirtschaft läuft! Wir wollen, dass die Menschen Arbeit haben! Und für uns ist ganz klar: Klimaschutz muss eben auch Wachstumstreiber sein! Nur das ist nachhaltig. Da müssen wir in Europa hin. Packen wir es an – mit Freude im Herzen, Frau Weidel, für das erfolgreichste Friedensprojekt der Welt!
Herzlichen Dank!
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es mag sein, dass ich den einen oder anderen jetzt vor den Kopf stoße. Aber ich behaupte einfach mal: Die große Mehrheit der Abgeordneten weiß überhaupt nicht, wie Handwerker ticken – das ist noch nicht mal böse gemeint –; denn es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ich mit 16, 17 eine Ausbildung anfange, mein Leben lang arbeite, auf kalten, zugigen Baustellen aktiv bin oder ob ich mit 25, 27 mein Studium beende und mich in einem warmen Büro niederlasse. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ich für Auszubildende, Mitarbeiter und deren Familien verantwortlich bin – auch finanziell – und dafür sorgen muss, dass das Geld für die Gehälter auf dem Konto ist oder es Monat für Monat automatisch auf dem Konto landet.
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Die Handwerker, die ich kenne, die wollen gar nicht im Büro sitzen. Die wollen raus zu ihren Mitarbeitern, zu ihren Kunden. Die schreiben vielleicht gerade noch an einem Angebot oder an einer Ausschreibung, und die schreiben nach getaner Arbeit gerne noch die Rechnung; aber auf zusätzliche Bürokratie, die wir ihnen auferlegen, haben die überhaupt keine Lust.
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Ein Zuviel an Bürokratie, wie etwa bei der Mindestlohndokumentation oder mit dem Draufsatteln europäischer Auflagen – ich nenne hier als Stichwort den Datenschutzbeauftragten gemäß Datenschutz-Grundverordnung –, findet kein Verständnis.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, hier im Bundestag sitzen über 100 Juristen, fast 100 Lehrer und gerade mal 8 Handwerksmeister. Insofern bin ich meiner Fraktion wirklich sehr dankbar, dass wir uns heute die Zeit nehmen, über das Handwerk zu reden und dessen Probleme aufzuzeigen, Zeit nehmen für das Problem von zu viel Bürokratie, Zeit nehmen für die Problematik des Fachkräftemangels – gerade jetzt während Corona, wo zu wenige junge Menschen den Weg ins Handwerk finden.
Wir Freien Demokraten wissen, wo bei den Selbstständigen im Handwerk und im Mittelstand der Schuh drückt. Daher haben wir 26 Forderungen in unserem Antrag aufgelistet – von A wie Aufstiegsfortbildung über M wie Mitarbeiterbeteiligung bis Z wie Zuwanderung –, die aber immer noch nicht abschließend sind.
Meine Damen und Herren, ich wünsche mir für den nächsten Deutschen Bundestag, dass wir mehr auf die Menschen im Handwerk und im Mittelstand eingehen; denn die haben was zu sagen. Das ist nicht nur die schweigende Mitte.
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Die äußern sich in unseren Wahlkreisen, auf Veranstaltungen, in Briefen, in Mails oder mit Petitionen. Die haben oft auch eigene Vorstellungen, wie man Politik gestaltet, wie man Wirtschaft gestaltet. Ja, die „schweigende Mitte“ will im Deutschen Bundestag vertreten sein. Sie will sich weder der Wahl enthalten noch extreme Ränder wählen. Deshalb ist es unsere Aufgabe, viel mehr zu erklären und Politikverdrossenheit zu bekämpfen. Wir müssen Unternehmen entlasten, den Bürokratieanteil deutlich reduzieren, damit Handwerker das Wochenende nicht im Büro verbringen, sondern mit Familie und Freunden.
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Sorgen wir dafür, dass der Weg in eine Selbstständigkeit gerne gegangen wird, ob im Handwerk oder sonst wo. Wenn Ihnen das Handwerk am Herzen liegt, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann stimmen Sie unserem Antrag, mit dem das Handwerk entlastet wird, doch einfach zu.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Astrid Grotelüschen, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer! „Am Anfang waren Himmel und Erde. Den ganzen Rest haben wir gemacht.“ So lautet ein selbstbewusster Slogan der Imagekampagne des Handwerks. Recht haben sie; denn das Handwerk steht für 1 Million Betriebe, für 5,5 Millionen Beschäftigte und für rund 370 000 Auszubildende und nimmt damit eine elementare Rolle in unserer Wirtschaft ein. Das Handwerk ist Motor für Wachstum und Wohlstand. Deshalb lag und liegt mein Fokus und auch der Fokus der Union auf der guten Zusammenarbeit und auf der Stärkung der Mittelständler und der Familienbetriebe.
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Wir alle haben Anfang Mai eine, wie ich finde, klasse Übersicht vom ZDH erhalten, die auf den Punkt analysiert und auch sehr sachlich darstellt: Wo steht das Handwerk? Was haben wir mit den Regierungsparteien gemeinsam umgesetzt? Was ist für die Zukunft wichtig? – Und dann liegt 14 Tage später der FDP-Antrag vor, der mir dann doch stark inspiriert – so würde ich es mal nennen –, sehr bekannt vorkam, der aber oppositionsbedingt die positiven Passagen ganz vergisst und zudem ein insgesamt so düsteres Bild zeichnet, liebe FDP, dass ich, ohne es weichzeichnen zu wollen – weil es auch nicht realistisch wäre –, mit Ihren Zahlen einmal umgekehrt sagen will: 70 Prozent der Betriebe im Handwerk sind trotz Corona auf einem guten Umsatzniveau, 20 Prozent verzeichnen sogar ein Umsatzplus zum Vorjahr.
Das, meine Damen und Herren, zeigt, dass – erstens – das Handwerk solide aufgestellt ist, dass – zweitens – auch die staatlichen Hilfen unterstützend gewirkt haben und dass wir – drittens – diese Katastrophe mit den jetzt vor Ort möglich werdenden Lockerungen und mit dem Zuwachs bei der Geimpftenquote gemeinsam gemeistert haben. Deshalb geht mein Dank an den Fliesenleger, an die Friseurin, an alle Betriebe und an alle Beschäftigten sowie an die Auszubildenden. Wir sollten uns darauf konzentrieren, für die Zukunft die richtigen Impulse zu setzen. Dazu sind wir bereit, und dazu werden wir als CDU/CSU-Fraktion wie bisher unseren Beitrag leisten.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein zentrales Thema im Handwerk ist und bleibt die Nachwuchsgewinnung und die Fachkräftequalifizierung. Hier gibt es zahlreiche Herausforderungen, die sich aus dem demografischen Wandel oder auch aus der Tatsache ergeben, dass mehr Jugendliche eines Jahrgangs ein Studium aufnehmen, als dass sie eine Ausbildung beginnen, und dass aktuell – Kollege Todtenhausen hat es angesprochen – im letzten Jahr etwa 10 Prozent weniger Ausbildungsverträge als im Vorjahr abgeschlossen worden sind.
Wie wir alle wissen, funktioniert die klassische Kontaktanbahnung im Handwerk über Betriebspraktika und Berufsbildungsmessen. Nichts davon konnte stattfinden. Deshalb ist es erwähnenswert, dass die kurzfristig ins Leben gerufene gemeinsame Initiative des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks und der Partner der Allianz für Aus- und Weiterbildung, der Sommer der Berufsausbildung, gestartet wurde, mit der junge Menschen durch eine Vielzahl von Maßnahmen hoffentlich noch für die Besetzung von freien Ausbildungsplätzen gewonnen werden.
Natürlich geht es darum, mittel- und langfristig die duale Ausbildung als Herzstück in ihrer Gesamtheit zu stärken, da sie sowohl für das Handwerk die eigene Nachwuchsgewinnung sicherstellt und seit vielen Jahrzehnten auch zusätzliche Fachkräfte darüber hinaus ausbildet als auch – das ist ja das Besondere – in ihrer Weiterführung, nämlich mit dem Abschluss zum Meister oder zur Meisterin, neue Ausbildungskapazitäten, und zwar auf einem hohen und geschätzten Qualitätsniveau, selber generiert. Dafür brauchen wir eine höhere gesellschaftliche Anerkennung. Deshalb haben wir uns in der Koalition schon lange auf den Weg gemacht. Ich selbst konnte in den letzten Jahren vieles aktiv begleiten, was die Weiterentwicklung der Gleichwertigkeit im Bildungsbereich angeht.
Ein Beispiel: die Stärkung von Aufstiegsmöglichkeiten. Hierzu haben wir novelliert, was die FDP-Forderung bereits im Namen trägt, nämlich das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz. Es stellt das Äquivalent zum BAföG in der beruflichen Bildung dar. Im Mittelpunkt steht die berufliche Höherqualifizierung. Das heißt in der Praxis, dass sich die finanziellen Leistungen verbessert und die Fördermöglichkeiten erweitert haben, zum Beispiel bei der Vorbereitung auf alle drei beruflichen Fortbildungsstufen. Jetzt kann man bis zum Masterniveau Förderung in Anspruch nehmen. Gut so!
Beispielhaft möchte ich auch auf den 2019 gestarteten Wettbewerb InnoVET hinweisen, der auf die Entwicklung exzellenter Konzepte zur Weiterentwicklung der höheren Berufsbildung zielt. lnsgesamt werden hier bis 2024 17 herausragende Projekte – auch mit dem Handwerk gemeinsam – mit 82 Millionen Euro vom Bund gefördert.
Ich könnte Ihnen noch eine Menge Stichpunkte geben wie das BBiG, das Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Wenn man in unser Wahlprogramm reinschaut, findet man viele konkrete Maßnahmen, deren Umsetzung für das Handwerk und den Mittelstand wichtig sind.
Dabei will ich gerne für unsere Fraktion attestieren, dass es immer etwas zu verbessern gibt, zusammengefasst in einem weiteren Slogan des Handwerks: Die Zukunft ist unsere Baustelle. – Das ist sie sprichwörtlich, nämlich eine gemeinsame. Seien Sie sich sicher, dass wir als CDU/CSU-Fraktion gerne die Ärmel hochkrempeln und mitarbeiten.
Meine Mitarbeit, meine Damen und Herren, endet allerdings, da ich mich vor anderthalb Jahren entschieden habe, nicht erneut für den Bundestag zu kandidieren. Ich habe 2009 das Mandat nach 45 Jahren für die CDU direkt gewonnen. Ich konnte diesen Erfolg zweimal wiederholen. Warum? Als Quereinsteigerin, aus einem mittelständischen Familienunternehmen stammend, mit damals fast 20 Jahren Berufserfahrung, weniger parteipolitischer Erfahrung – das gebe ich zu –, als Mutter dreier Kinder und auch als Kommunalpolitikerin war mein oberstes Ziel immer, eine praxisnahe Politik für die Menschen, für unseren Mittelstand und für unsere ländliche Region zu gestalten. Mein Eindruck ist, dass sich viele Wähler genau dies wünschen, ein weitaus vielfältigeres Parlament, als es der Bundestag mittlerweile, bezogen auf Praktiker aus Mittelstand, Handwerk oder auch aus der Landwirtschaft, tatsächlich ist.
Die Arbeit hier in Berlin war für mich eine Bereicherung. Ich habe wirklich sehr viel gelernt. Insbesondere die gute Zusammenarbeit und den Austausch, parteiübergreifend, zu meinen Schwerpunkten – Mittelstand, Handwerk, KfW, Gründungen, GRW – habe ich geschätzt. Deshalb sage ich Ihnen allen Danke für die sehr guten und zielgerichteten Diskussionen. Ich danke natürlich meiner Landesgruppe, der AG, in der ich als einzige Frau vier Jahren überstanden habe; das darf man so sagen.
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Ich schließe natürlich die Mitarbeiterinnen und die Mitarbeiter in der Bundestagsverwaltung, in den Ministerien und mein Team in den Dank ein.
Das größte Dankeschön geht an meine Familie und an die Wählerinnen und Wähler im schönsten Wahlkreis Deutschlands, mit der Nr. 28, der die Wesermarsch, die Stadt Delmenhorst
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– danke, Christian – und meinen Heimatlandkreis Oldenburg, meine Gemeinde Großenkneten und mein Zuhause in Ahlhorn umfasst. Danke, dass ihr mir euer Vertrauen geschenkt habt und damit auch das Mandat in die Hände gegeben habt. Es war für mich immer Verantwortung und Freude zugleich, aber vor allen Dingen war es eine große Ehre. Dafür sage ich Danke und Tschüs! Ihnen alles Gute!
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Liebe Frau Kollegin Grotelüschen, ich danke auch Ihnen für Ihren drei Legislaturperioden langen Dienst an und in der parlamentarischen Demokratie. Wir wünschen Ihnen und Ihrer Familie für alles, was kommt, von Herzen alles Gute.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Enrico Komning, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Lieber Herr Kollege Todtenhausen, Sie haben völlig Recht, wenn Sie hinterfragen, wie dieser Bundestag eigentlich dazu kommen kann, praxisnah zu entscheiden. Ich glaube, wir haben hier in unseren Reihen viel zu wenig Handwerker. Eigentlich hätte ich hier heute gar nicht gesprochen, sondern mein Kollege Chrupalla, der ja Handwerksmeister ist und Bundesvorsitzender unserer Partei. Er ist leider nicht im Lande. Insofern traue ich mir heute die Rede zu. Wie kommt ein Jurist dazu? Nein, ich bin nicht nur Jurist, ich bin auch Handwerker. Ich habe auch einen ordentlichen Beruf gelernt, nämlich Baufacharbeiter.
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Wenn Sie sich in unseren Reihen umgucken, dann werden Sie sehen, dass wir die größte Quote an Handwerkern hier im Bundestag haben. – So viel vorab.
Das Handwerk, meine Damen und Herren, geht kaputt. Es geht kaputt, weil die Regierenden eine falsche Politik machen. Es gibt in Deutschland mehr als 550 000 Handwerksunternehmen, fast ausschließlich klein- und mittelständische Unternehmen. 15 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten arbeiten im Handwerk. Es werden 607 Milliarden Euro Umsatz erwirtschaftet. Handwerksbetriebe prägen vor allem die Wirtschaft in den strukturschwachen Räumen. Dabei geraten Handwerksregionen bei den Fördermaßnahmen des Bundes und der Länder wegen der zunehmend links-grün-ideologisch geprägten Vergaberichtlinien zunehmend ins Hintertreffen. Meine Damen und Herren, liebe Handwerker, Links-Rot-Grün und inzwischen auch Schwarz tun dem Handwerk nicht gut.
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Die unsägliche Coronapolitik hat deutliche Spuren beim Handwerk hinterlassen. Eine aktuelle Umfrage des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks weist aus, dass 42 Prozent der Betriebe weniger Umsatz als im Vorjahresmonat, also im schon coronageprägten Mai 2020, machen. Drei Viertel der Betriebe fordern die Verlängerung der erleichterten Kurzarbeitergeldregelungen. Das zeigt die prekäre Situation am Arbeitsmarkt im Handwerk.
Gesundes Handwerk heißt Stärkung des ländlichen Raumes. Mit 33 Prozent ist der Anteil des Handwerks an verfügbaren Arbeitsplätzen in ländlichen Regionen deutlich höher als in Städten. Wenn die Bundesregierung so weitermacht, kann das Handwerk vor allem auch seiner gesellschaftlichen Bedeutung nicht mehr gerecht werden. Integration von Jugendlichen ins Arbeitsleben, ehrenamtliches Engagement dieser zumeist Familienbetriebe – das alles, meine Damen und Herren, steht auf dem Spiel. Die Folge ist eine beschleunigte Abwanderung aus den ländlichen Gebieten. Von daher sind gerade jetzt, wo die Bundesregierung den Menschen zumindest bis zur Bundestagswahl eine Lockdown-Pause gönnt, Weichenstellungen für eine Renaissance des Handwerks geboten.
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Handwerk, meine Damen und Herren, ist nicht altmodisch, muffig, rückständig. Handwerk kann fortschrittlich, innovativ, modern, zukunftsgerichtet sein. Man darf es nur nicht wie die Bundesregierung am nächsten Pfahl festbinden und dort verhungern lassen.
Der Antrag der FDP ist in großen Teilen gut und richtig, weshalb wir ihm auch zustimmen werden. Aber er ist ein breit angelegtes Wünsch-dir-was-Papier. Die Forderungen sind kaum handwerkspezifisch und zum großen Teil bereits im Parlament thematisiert worden, auch und vor allem durch die AfD.
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Man merkt, liebe Kollegen der FDP: Der Wahlkampf beginnt.
Meine Damen und Herren, die drei dringendsten Probleme des Handwerks sind:
Erstens: die Wirtschaftlichkeit der Betriebe. Die Steuer- und Abgabenlast ist weltweit betrachtet beispiellos hoch nach 16 Jahren Merkel-Regierung; sie macht die kleinen Handwerksbetriebe kaputt. Unendlich hoch erscheinende Bürokratiehürden verknappen die Arbeitszeit der Inhaber; denn eigens dafür Angestellte sind zu teuer. Die hohen Kosten durch das schwarze Loch der Energiewende tun ihr Übriges, sodass das Dagegenanverdienen zu einer echten Qual wird. Viele Handwerksbetriebe müssen aufgeben, weil die schenkung- und erbschaftsteuerrechtlichen Vorschriften zu kompliziert sind und viele Übernehmer von Betrieben vor hohe Kosten stellen. Hier brauchen wir eine deutliche Vereinfachung, die zum Ziel haben muss, die Betriebsnachfolger vom gierigen Zugriff des Fiskus freizuhalten.
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Und, liebe FDP, warum trauen Sie sich nicht, die ersatzlose Abschaffung der EEG-Umlage zu fordern, wo Sie doch zumindest in Ihrem tiefsten Innern wissen, wie nutzlos das gesamte EEG-Gesetz tatsächlich ist?
Zweitens: der Fachkräftemangel. Das deutsche Handwerk leidet an einem starken Fachkräftemangel – das wissen wir alle –, der gegenwärtig aus eigenem Nachwuchs nicht zu befriedigen ist. Wir brauchen einen Popularitätsschub und mehr gesellschaftliche Anerkennung des Handwerks, sozusagen mehr Installateure, weniger Influencer.
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Zudem muss die Abwanderung fertig ausgebildeter Handwerker in die Industrie gestoppt werden. Wir müssen schon ausgebildete Handwerker bei der Stange halten. Wir brauchen eine Neugestaltung und Auffächerung attraktiver Bildungs- und Karrierewege innerhalb des Handwerksbereichs, eine geeignete Strategie zur Stärkung der Bindung der jungen Menschen an den Handwerkssektor. Fachkräftezuwanderung ist jedenfalls keine grundlegende Antwort; denn es ist ja gerade die Qualität des deutschen Handwerks, erreicht durch Meisterzwang und duale Ausbildung, die deutsche Handwerker im Ausland so attraktiv macht.
Und nicht zuletzt: fehlende Planungssicherheit. Das deutsche Handwerk hat nicht nur mit dem chaotischen Hin und Her der Lockdown-Politik der Bundesregierung zu kämpfen, sondern gegenwärtig auch mit stark schwankenden Rohstoffpreisen. Zimmereibetriebe und Tischlereien sind gegenwärtig nicht in der Lage, belastbare Kostenkalkulationen anzustellen, in einer Situation, in der China und die USA unseren Holzmarkt leerkaufen. Arbeitslos trotz voller Auftragsbücher: Das ist die gegenwärtige Realität in Deutschland. Das Handwerk braucht mehr Planungssicherheit, und das bedeutet Sicherheit der Versorgung mit den wesentlichen Rohstoffen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat dem Handwerk in den letzten Jahren schwer zugesetzt und damit vor allem die ländlichen Räume in Deutschland geschwächt. Es braucht daher endlich eine ernsthafte und groß angelegte Kampagne zur Rettung unseres Handwerks. Der FDP-Antrag kann ein Beginn sein. Wir werden dem Antrag zustimmen.
Vielen Dank.
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Andreas Rimkus, SPD, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt in der Tat nur sehr wenig handwerkliche Praktiker im Bundestag. Nach meinem letzten Informationsstand sind es weniger als 3 Prozent der MdBs, und so um die 1 Prozent sind, so wie ich auch, Handwerksmeister. Da passt: Ming Mam hätt emmer jesacht: Du bist schon jett einzich. – Insofern ist es richtig, dass wir uns heute mit dem Thema beschäftigen. Danke schön, übrigens, liebe FDP.
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Tolle Sache, dass wir das geschafft haben, 60 Minuten in der Primetime zu reden. Aber ob das inhaltlich immer richtig ist, werden wir jetzt sehen.
Ich finde nämlich, dass ich als Handwerksmeister einerseits und als Gewerkschaftsmann andererseits – ihr merkt schon, wo der Schwerpunkt liegt – eine ziemlich gute Vorstellung davon habe, wie außerordentlich wichtig die Arbeit der Handwerkerinnen und Handwerker für unsere Gesellschaft ist und welche Rolle die Anerkennung dieser Arbeit tatsächlich spielt. Ich will sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dass Ihr Antrag durchaus ein paar kluge Ansätze mitbringt und einige kluge Beobachtungen anführt. Da ist zum Beispiel die Rede vom Handwerk als Wirtschaftsstabilisator in ländlichen Regionen. Es ist gerade hier aber herausgefordert durch demografischen Wandel und mangelnde Infrastruktur. Da ist auch die Rede von Fachkräftesicherung, von der Stärkung der beruflichen Ausbildung und einer deutlichen Betonung digitaler Kompetenzen.
Wie schade ist es aber, dass die FDP bei den konkreten Forderungen wieder in den steuerpolitischen Diskurs der 80er-Jahre zurückfällt. Die universelle Antwort auf alle Probleme: Steuersenkung – pauschal, undifferenziert, Prinzip „Gießkanne statt Skalpell“. Der Zimmerermeister im Dorf um die Ecke findet keinen neuen Lehrling. Ihre Antwort: Steuersenkung. Die Meisterin Sanitär, Heizung, Klima in der nächsten Stadt bräuchte drei weitere Gesellen, um die ganzen Aufträge für energetische Sanierung und Modernisierung zu bewerkstelligen, für die sie angefragt wird.
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Ihre Antwort: Steuersenkung. Die Internetanbindung ist zu langsam, keine Aufträge sind da, weil Pandemie. Ihre Ansage: Steuersenkung. Es ist wirklich schade.
Dabei fängt Ihr Antrag besser an. Sie differenzieren sogar selbst: Ein Teil des Handwerks verzeichnet vor allem pandemiebedingt einen Umsatzrückgang, ein anderer Teil aber sogar ein Umsatzplus. Klar ist doch, dass das Hotellerie- und Gastgewerbe vor einer besonderen Herausforderung steht, anders als der Bau oder, lieber Manfred Todtenhausen, unser Elektrogewerk.
Die einen suchen händeringend neue Arbeitskräfte; die anderen sind froh, wenn sie dank Kurzarbeit niemanden entlassen müssen. Hier gibt es keine einfache, pauschale Antwort, jedenfalls keine, die sich nicht auf den zweiten Blick als relativ günstige Wahlkampfsprechblase entlarvt. Fest steht: Weite Teile des Handwerks stehen vor erheblichen Herausforderungen. Das verdient zweifelsohne die Aufmerksamkeit und Unterstützung der Politik. Aber das Prinzip „Gießkanne“ bringt dem Handwerk gar nichts. Vielmehr müssen wir mit zielgenauen Maßnahmen da helfen, wo es wirklich brennt. Da ist übrigens auch schon eine ganze Menge passiert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, einige Beispiele. In puncto Digitalisierung und Breitbandausbau haben wir kürzlich die größte Überarbeitung des TKG, des Telekommunikationsgesetzes, seit mehr als einer Dekade vorgenommen. Mit dem Breitbandförderprogramm werden gerade auch graue Flecken und der ländliche Raum in den Fokus genommen. Das hilft nicht nur Privatpersonen, sondern natürlich auch den Betrieben in diesen Regionen. Stichwort „Fachkräftemangel“: 2019 hat diese Koalition das Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschlossen.
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Zehntausende Fachkräfte haben von verbesserten Möglichkeiten Gebrauch gemacht. Das hilft, und zwar enorm.
Angesichts der Pandemie haben wir das Bundesprogramm „Ausbildungsplätze sichern“ aufgesetzt und erst kürzlich verlängert, um Nachwuchs auch durch die Krise hindurch zu gewährleisten.
Solche Maßnahmen sind präzise. So setzen wir tatsächlich bei den Ursachen an.
Und ja, natürlich muss man auch die Finanzen in den Blick nehmen, wenn man dem Handwerk helfen will, aber doch nicht mit pauschalen Steuersenkungen, die einerseits dem individuellen Betrieb kaum etwas bringen, andererseits aber ein nennenswertes Minus beim Fiskus verursachen. Wenn wir in der Pandemie eins gelernt haben, dann doch wohl, wie wichtig es ist, ein solide finanziertes Gemeinwesen zu haben, zum Beispiel, damit wir in einer solchen Krisensituation mit passgenauen Instrumenten wie der Überbrückungshilfe denjenigen Handwerksbetrieben helfen können, die tatsächlich wegen der eingebrochenen Auftragslage existenziell bedroht sind. Was bringt denen bei Auftragsausfall eine Steuersenkung? Nichts. Denen hilft es auch nicht, wenn wir den Soli sofort abschaffen, den im Übrigen ohnehin kaum noch ein Handwerker bezahlt.
Wenn ich als Sozialdemokrat hier vom Handwerk spreche, dann meine ich das anders, als das anscheinend in dem FDP-Antrag steht: Ich meine eben nicht nur den Meister oder den Eigentümer des Betriebes, sondern auch den Lehrling, die Gesellin, diejenigen also, die wahrscheinlich nicht zu den 10 Prozent verbliebenen Gutverdienern in unserer Gesellschaft zählen, die überhaupt noch Soli zahlen müssen.
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Vor diesem Hintergrund können wir dem Antrag natürlich nicht zustimmen.
Aber hören Sie, ich will auch gar nicht nur meckern. Es sind ja durchaus kluge Ansätze in dem Antrag. Ich freue mich jedenfalls, wenn die Wichtigkeit des Handwerks einerseits und die besonderen und sehr verschiedenen Herausforderungen und Ansprüche dieses tragenden Wirtschaftsbereiches andererseits mehr in den Vordergrund geraten.
Wir alle können nicht in die Zukunft sehen. Wer weiß, in welcher Konstellation wir hier in einem halben Jahr sitzen. Ich kann Ihnen jedenfalls versichern, dass wir als SPD-Fraktion auch in der kommenden Wahlperiode wieder zur Verfügung stehen werden, um uns der Sorgen und Nöte des Handwerks anzunehmen und es zu unterstützen und zu stärken. Ich freue mich fast über jeden – fast über jeden –, der mitmachen möchte und dies gemeinsam mit uns erreichen will.
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In diesem Sinne: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Kommen Sie gut durch den Wahlkampfsommer! Bleiben Sie gesund! Hoch lebe das Handwerk!
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Alexander Ulrich, Die Linke, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Todtenhausen, ich gebe Ihnen insoweit recht, dass wir hier im Parlament eine Überakademisierung haben und dass wir vielleicht mehr Handwerker oder mehr Abgeordnete mit einer dualen Berufsausbildung bräuchten. Ich bin Werkzeugmacher und habe eine duale Ausbildung. Man kann auch da, denke ich, eine andere Politik machen; da gebe ich Ihnen recht.
Aber dann hört es schon auf mit unseren Gemeinsamkeiten. Denn Sie sprechen eher aus dem Blickwinkel des Firmenbesitzers oder des Handwerksmeisters, der auch Eigentümer der Firma ist, und ich diskutiere eher als Gewerkschafter aus der Situation des Arbeitnehmers im Betrieb heraus. Da haben wir schon große Unterschiede. Denn wenn wir über Attraktivität des Handwerks reden, müssen wir erst mal feststellen: Es wäre sinnvoller, man hätte viel mehr Tarifbindung, viel mehr Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen,
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auch viel mehr öffentliche Vergaben mit Tarifbindung. Dann würden auch Handwerker nicht nach einer erfolgreichen Ausbildung in die Industrie abwandern. Das wäre eine Antwort; aber dazu hört man von Ihnen in Ihrem Antrag überhaupt nichts. Alleine schon deshalb muss der Antrag abgelehnt werden.
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Der zweite Punkt, wo wir einen großen Unterschied haben: Sie reden ja gar nicht über Handwerk, sondern es ist der gefühlt tausendste Antrag in dieser Legislaturperiode, wo die FDP reinschreibt: Wir brauchen Steuersenkungen, wir müssen die Lohnnebenkosten begrenzen, und wir müssen die Mindestlohndokumentation abschaffen.
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Ich will Ihnen sagen: Sie haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Der Mindestlohn ist gut, wenn auch noch zu niedrig. Aber es gibt zu viele Möglichkeiten, den zu umgehen. Daher: Wir brauchen noch mehr Mindestlohnkontrollen, damit endlich mit diesen Ausnahmen Schluss gemacht wird.
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Und was wir überhaupt nicht brauchen, sind weniger Steuern und Sozialabgaben. Gerade die Coronakrise hat doch gezeigt, wie wichtig ein aktiver Staat ist.
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Wenn es nach der FDP ginge, wäre Kurzarbeit nicht finanzierbar gewesen,
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und man hätte auch keine Staatshilfen für die wegen der Coronakrise notleidenden Betriebe geben können. Wir hätten viele Insolvenzen mehr, wenn es nach euren Steuerkonzepten gegangen wäre. Auch deshalb muss dieser Antrag abgelehnt werden.
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Und wenn wir über Fachkräftenachwuchs reden, dann ist doch auch ein Problem in diesem Land, dass die berufliche Ausbildung der Bildungsweg ist, der am stiefmütterlichsten behandelt wird. Wenn wir überall sagen: „Es wird viel zu wenig Geld in die Bildung gesteckt“, dann sage ich Ihnen: Schauen Sie sich mal die Berufsschulen in Ihren Wahlkreisen an! Das sind im Zweifel die am schlechtesten ausgestatteten Schulen, die es im Wahlkreis gibt. Da müsste endlich mal Geld investiert werden, dass auch die berufliche Bildung ebenso wie andere Bildungswege ihre Leistung erbringen kann. Die Berufsschulen bringen das überhaupt nicht.
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Und wenn wir über Steuerkonzepte reden: Wir als Linke haben schon vor Monaten einen Antrag hier eingebracht, dass der Staat in den nächsten zehn Jahren zusätzliche Investitionen in Bildung, in Gesundheit, in Infrastruktur, in schnelles Internet, wovon auch die Handwerksbetriebe profitieren würden, in Höhe von 450 Milliarden Euro tätigen muss. Davon würde insbesondere das Handwerk profitieren, weil sie diejenigen sind, die das vor Ort umsetzen. Das wäre eine Antwort: mehr Investition, auch durch mehr Steuergerechtigkeit. Aber da ist bei der FDP eine Leerstelle.
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Herr Kollege Ulrich, beachten Sie das Zeichen.
Zum Abschluss, Herr Präsident. – Die Kommunen sind ein großer Auftraggeber für das Handwerk. Wir brauchen endlich einen Altschuldenfonds, sodass die Kommunen ihre Investitionen tätigen können.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Claudia Müller, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Analyse, Herr Todtenhausen, ist absolut richtig: Seit Jahren fehlen im Handwerk Fachkräfte, und Besserung ist nicht in Sicht. Nach wie vor erscheint vielen eine handwerkliche Ausbildung wenig attraktiv. Und es mangelt nicht nur generell an Azubis, sondern dazu kommt häufig auch ein Matching-Problem. Denn je nach Branche und Ort gibt es auch zu viele Schulabgängerinnen, die keine Lehrstelle finden. Und es gibt Unternehmen, die ich kenne, zum Beispiel in der Biobranche, die sehr, sehr viele Anfragen bekommen und gar nicht so viel ausbilden können, wie sie wollen würden. Und gleichzeitig ist es aber so, dass an vielen Orten die jungen Menschen fehlen.
Es gibt viele Gründe dafür, warum diese Ausbildung nach wie vor nicht so attraktiv ist, wie sie sein sollte: zu niedrige Bezahlung, auch aufgrund einer zu niedrigen Tarifbindung, fehlende Anerkennung und Wertschätzung bei gleichzeitig harten Arbeitsbedingungen und auch Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das übergehen Sie leider in Ihrem Antrag.
Planungssicherheit und gute Rahmenbedingungen sind Voraussetzung nicht nur für Investitionen, sondern eben auch für einen Beschäftigtenaufbau.
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Was hierbei überhaupt nicht hilft, sind billige Steuersparversprechen und Ausgabenselbstbeschränkungen wie von Ihnen, liebe FDP, und auch zum Teil von Ihrer Wirtschaftszwillingspartei CDU/CSU.
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Die tatsächlichen Probleme der Zukunft nehmen Sie trotz aller Lippenbekenntnisse nicht ernst.
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Nach der Pandemie braucht es große Investitionen und eine massive Offensive in den Bereichen Ausbildung, Gründungen, Nachfolgen und Fachkräfte, um die Energiewende, die Verkehrswende und die Bauwende für den Klimaschutz zu schaffen, und zwar langfristig und verlässlich. Denn nur mit einem verlässlichen Pfad können Handwerkerinnen entsprechend investieren und die Nachfolgen vorbereiten.
Und hier – ja, hier – ist dann auch der Staat gefragt. Wir wollen Handwerksunternehmen dabei unterstützen, kurzfristig mehr Liquidität zu beschaffen, indem wir zum Beispiel den Verlustrücktrag nicht nur wie Sie auf drei Jahre, sondern sogar auf vier Jahre verlängern. Wir fordern eine Erhöhung der Istbesteuerungsgrenze. Wir fordern die Erhöhung der Sofortabschreibungsgrenze. All dies sind Maßnahmen, die sowohl kleinen und mittelständischen Unternehmen und damit aber auch Handwerksbetrieben helfen, in die Zukunft zu investieren, weil sie eben helfen, Liquidität zu erhöhen.
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Und zugleich fordern auch wir die Absenkung des Strompreises und einen klaren Pfad für den CO2-Preis; denn vage Ankündigungen, die Klimaziele schon irgendwie einhalten und finanzieren zu können, reichen nicht. So bekommt man keine Planungssicherheit. Deswegen: Setzen Sie bitte Ihre ideologische Steuervermeidungsbrille ab; denn diese Debatten gehen an der Realität vorbei. Das haben auch die massiven Kritiken an dem Wischiwaschi-CDU-Wahlprogramm gezeigt, das allein durch pure Hoffnung gegenfinanziert ist.
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Einen letzten Satz noch zur Nachfolge. Durch Corona und den demografischen Wandel wird dieses Thema eine höhere Dringlichkeit bekommen, als es in dieser Legislatur hatte. Wir brauchen neben der Ausweitung der bestehenden Programme auch eine bundesweite Kommunikationsstrategie. Unser Ziel muss doch sein: Die Übernahme von Unternehmen, auch von kleinen und mittelständischen, von Handwerksbetrieben, muss genauso hip sein wie das Gründen von Start-ups, und zwar nicht nur für die Gründerinnen, sondern auch für die Kreditgeberinnen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Matthias Heider, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! „Allem Leben, allem Tun, aller Kunst muss das Handwerk vorausgehen“, sagt Goethe.
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Mit anderen Worten: Ohne das Handwerk geht eigentlich nichts. Selbst das Bauhaus, dessen 100. Geburtstag wir 2019 begehen konnten, zeichnete sich durch die Einheit von Handwerk und Kunst aus. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erinnerte in seiner Jubiläumsrede daran: „Ein neues Zusammenspiel vieler Künste und Handwerke sollte im Bauhaus eine neue Formgebung ermöglichen …“.
Heute, im Alltag, in nüchternen Zahlen, ist das etwas anders zu betrachten: 1 Million Handwerksbetriebe gibt es in Deutschland, knapp 30 verschiedene Gewerke tragen dazu bei, rund 5,5 Millionen Beschäftigte gibt es, 370 000 Lehrlinge im Handwerk – das sind immerhin 28 Prozent aller Lehrlinge in Deutschland –, und im Jahr 2019, also vor der Krise, lag der Umsatz noch bei 640 Milliarden Euro.
Derzeit ist die Situation im Handwerk angespannt. Wir befinden uns hoffentlich am Ende der Krise. Zu Beginn des Jahres gab es Umsatzrückgänge um 38 Prozent, heute bei einzelnen Betrieben schon bis 50 Prozent. In 130 Ausbildungsberufen werden noch Lehrlinge gesucht. 30 000 Ausbildungsstellen sind noch unbesetzt. Lieferketten waren oder sind noch beeinträchtigt. Teilweise gibt es einen Materialmangel zu beklagen. Wer gedacht hat, dass diese Krise am Handwerk wegen voller Auftragsbücher vorbeigehen würde, der irrt. Und dem Antrag der Kolleginnen und Kollegen von der FDP ist es zu verdanken, dass das Licht der parlamentarischen Debatte heute auf diesen Bereich fällt, der sich mehr als andere Wirtschaftsbereiche in der Krise behaupten muss.
Auch wenn die Union aus nachvollziehbaren Gründen dem Antrag heute nicht zustimmen kann – wir werden darüber in den nächsten drei Monaten noch mal nachdenken –,
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so bleibt das Anliegen im Grundsatz doch richtig. Viele Punkte kommen mir auch vertraut vor. Sie finden sich auch in den Beschlüssen der Mittelstandsunion wieder, sodass das so falsch nicht sein kann.
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Meine Damen und Herren, es gibt große Herausforderungen: Rohstoff- und Baustoffmangel, Fachkräftemangel, Transformation durch Digitalisierung und Energiewende, Überregulierung und Steuerlast, Schwarzarbeit; Cybersicherheit ist inzwischen auch ein Thema. Und bei allem gilt: Ohne Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Lage und des Handwerks kann auch ein Aufschwung in der Wirtschaft nicht stattfinden. Das Handwerk und der Mittelstand bleiben das Rückgrat unserer Volkswirtschaft. Wenn wir es richtig machen, wird es einen enormen Aufschwung in den nächsten Jahren in Deutschland geben.
Und wir haben für das Handwerk bereits ein paar Leitplanken eingezogen. Ich erinnere an die 10. GWB-Novelle. Da geht es um den besseren Datenzugang, auch für Handwerker, die bei Wartungsarbeiten auf diese Daten angewiesen sind. Gestern erschien der aktuelle Jahresbericht des Bundeskartellamtes, und der zeigt auf, wie wichtig eine faire Datenökonomie ist; „Zugang zum Wettbewerb“ ist dabei das Stichwort.
Mit dem Fünften Gesetz zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften haben wir eine Qualitätssicherung des Handwerks durch Wiedereinführung der Meisterpflicht in bestimmten Gewerken und auch eine Flexibilisierung der Meisterprüfung erreicht.
Und gestern – um noch mal einen anderen Bereich anzusprechen – hat Wirtschaftsminister Peter Altmaier Maßnahmen und Vorschläge vom runden Tisch mit Bauwirtschaft, Handwerk und Holzwirtschaft vorgestellt. Der Staat soll nicht intervenieren, aber helfen, die krisenhafte Entwicklung zu begrenzen: Aufhebung der Einschlagsbegrenzung von Fichtenholz, Ausnutzung von vertraglichen Spielräumen, Anpassung von Normen und Standards, da, wo es nur um Schönheitsfehler im Holz geht.
Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren, das ist heute meine letzte Rede im Deutschen Bundestag. Ich habe mich nicht wieder um ein Mandat für die Bundestagswahl im September beworben und werde mich noch einmal neuen beruflichen Aufgaben widmen.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich bei allen Fraktionen des Hauses für die gute Zusammenarbeit in den vergangenen zwölf Jahren zu bedanken – auch wenn wir nicht einer Meinung waren. Gerade in den letzten vier Jahren war ich als Vorsitzender der Parlamentariergruppe USA oft gefordert. Wir haben eine schwierige Zeit der transatlantischen Beziehungen gemeinsam zu bestehen gehabt, und ich danke allen Kolleginnen und Kollegen unseres Hauses, die einen persönlichen Beitrag zur Aufrechterhaltung des Austausches mit unseren Freunden im US-amerikanischen Kongress geleistet haben. Das findet in den USA Anerkennung und Zuspruch.
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Meiner eigenen Fraktion sage ich herzlichen Dank für die Unterstützung in den vergangenen zwölf Jahren. Ich habe gerne das Wirtschafts-, Gewerbe- und Wettbewerbsrecht im Wirtschaftsausschuss in dieser Zeit betreut. Gerade mit der letzten Novelle des Kartellrechts haben wir im Hinblick auf die Plattformökonomie einen Meilenstein zum Offenhalten der Märkte im digitalen Zeitalter gesetzt.
Schließlich gilt der Dank meiner Familie für die geduldige und tatkräftige Unterstützung in all den Jahren aktiver Politik. Meine Frau hat in ihrer eigenen Berufstätigkeit dafür die größeren Kompromisse machen müssen, auf mehr verzichtet.
Auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meiner Büros in Attendorn, in Lüdenscheid und in Berlin sowie hier in der Fraktion im Deutschen Bundestag sage ich einen herzlichen Dank für die geleistete Arbeit.
Als direkt gewählter Abgeordneter im südlichen Sauerland schließe ich mit dem Dank an die Bürgerinnen und Bürger, die mir dreimal mit großer Mehrheit den Auftrag für den Deutschen Bundestag gegeben haben. Ich freue mich, dass sich jetzt eine Entspannung zum Ende der Krise abzeichnet und wir Freiheiten gemeinsam wieder genießen können.
Und zum Schluss habe ich noch eine Bitte an Sie:
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Passen Sie gut auf auf unser Land!
Vielen Dank.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Kollege Manfred Todtenhausen hat das Thema ausführlich und ausreichend behandelt, sodass ich mich auf einige persönliche Bemerkungen begrenzen möchte.
Lassen Sie mich beginnen mit der Aussage, dass ich mich besonders freue, unter Leitung des Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble hier sprechen zu dürfen; denn – viele Jüngere wissen das nicht – wir haben in den 90er-Jahren, als wir die Regierungsfraktionen führten, sehr eng und vertrauensvoll zusammengearbeitet. Damals wäre die Regierung gar nicht auf die Idee gekommen, über die Köpfe hinweg oder an den Köpfen des Parlaments vorbei Entscheidungen zu treffen. Das war völlig ausgeschlossen.
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Nach nun insgesamt 37 Jahren scheide ich aus dem Deutschen Bundestag aus. Es war eine aufregende Zeit mit Siegen und Niederlagen, mit Überraschungen und mit Enttäuschungen, aber immer herausfordernd und immer begeisternd. Ich empfinde Dankbarkeit für all das, was ich als Parlamentarier erleben und mitgestalten durfte. Das war wirklich schön.
Schon kurz nach meinem Eintritt in den Deutschen Bundestag 1980 erlebte das Land eine fundamentale Auseinandersetzung: Sollten wir die Aufstellung sowjetischer Mittelstreckenraketen mit entsprechenden Reaktionen beantworten? In allen Parteien und in der Gesellschaft gab es entschiedene Widerstände. Ich erinnere mich gut an die 500 000 Demonstranten im Bonner Hofgarten, angeheizt unter anderem von dem FDP-Außenpolitiker William Borm, der später als Stasi-Agent enttarnt worden ist. Heute wissen wir: Ohne den Doppelbeschluss wäre die Abrüstung von Mittelstreckenraketen und wohl auch die deutsche Einheit nicht so schnell möglich gewesen.
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Es war also ein stürmischer Beginn für einen jungen Parlamentarier.
Als Deutschland geteilt wurde, war ich ein Kind. Als die Mauer gebaut wurde, war ich junger Soldat, auf das Schlimmste vorbereitet. Am 9. November 1989 war ich Abgeordneter. Die Nachricht vom Mauerfall im Plenum im Bonner Wasserwerk und das spontane Anstimmen der Nationalhymne durch die Kolleginnen und Kollegen waren für mich der bewegendste Augenblick in der Geschichte meiner parlamentarischen Tätigkeit.
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Die deutsche Einheit war und ist das bedeutendste Ereignis der Nachkriegszeit. Es ist ja nicht nur die deutsche Einheit; es ist die Veränderung der Welt, die damit verbunden war.
Die größte Enttäuschung dagegen war das Scheitern der FDP an der 5-Prozent-Hürde bei der Wahl 2013 – für uns ein Schock. Wir haben aber schnell erkannt: In jeder Niederlage liegt auch eine Chance,
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und die muss man ergreifen. Diese Chance haben wir ergriffen und die Partei unter Christian Lindner neu aufgestellt. Sie sehen heute: Es ist gelungen. Wir sind zufrieden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf den nächsten Deutschen Bundestag warten riesige Aufgaben. Damit will ich mich kurz befassen. Deutschland ähnelt heute der Romanfigur des Gulliver: Eigentlich groß und außerordentlicher Stärke fähig, wird er von Tausenden Fesseln am Boden gehalten. Unser Land hat sich selbst gefesselt. Mit zahllosen überflüssigen Vorschriften, Auflagen, Geboten und Verboten sind wir handlungsunfähig geworden.
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Corona hat allen vor Augen geführt, wie unkoordiniert und unflexibel die staatliche Verwaltung in der Not agiert. Sie hat sich als unfähig erwiesen, schnell und unbürokratisch zu reagieren. Das ist auch kein Wunder; denn dafür sind die Beamten auch gar nicht ausgebildet; das ist nicht ihre Aufgabe.
Das Gleiche gilt für die Lösung der seit Jahren anstehenden nationalen und internationalen Probleme. Denken Sie unter anderem an die Energie- und Klimapolitik, an den noch immer nicht existenten digitalen Binnenmarkt in Europa, an die Migrationsproblematik. Denken Sie an die wirtschaftliche Stabilität und zunehmende Staatsverschuldung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das zentrale Versprechen der jungen Bundesrepublik lautete: Wohlstand für alle. Es ist an Ihnen, dieses Versprechen zu erneuern. Lassen Sie dabei den Gedanken an die Generationengerechtigkeit Grundlage Ihres Handelns sein. Die Lösung der Probleme kann und darf nicht sein, unseren Kindern und Enkeln die Schulden von heute in die Wiege zu legen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus der Krise können wir nur herauswachsen – das muss man endlich verstehen –, so, wie wir aus der Finanzkrise 2008/09 herausgewachsen sind. Schaffen Sie die Bedingungen für diesen Wachstumsprozess. Entlasten Sie die Gesellschaft und die Wirtschaft. 90 Prozent der volkswirtschaftlichen Investitionen stammen von privaten Haushalten und Unternehmen, nicht vom Staat.
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Was Millionen von Bürgern freiwillig mit ihrer Kreativität und Leistungsbereitschaft bewirken können, kann der Staat niemals leisten.
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Es steht Parlament und Regierung gut zu Gesicht, auf die Kreativität, die Schaffenskraft und die Eigenverantwortung der Menschen zu vertrauen. Dieses Vertrauen in die Menschen unseres Landes habe ich in den letzten Jahren schmerzlich vermisst. Damit unser Staat das Land entfesseln kann, muss er schlank, digital und effizient sein. Arbeiten Sie mit Anreizen statt Verboten. Geben Sie Raum für eine neue Gründerkultur. Gute Ideen sind millionenfach vorhanden. Sie brauchen aber Freiräume, um sie zu verwirklichen.
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Lassen Sie ideologische Scheuklappen auch mal fallen. Denken Sie doch etwas größer.
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Das Rentensystem muss sich an unsere alternde Gesellschaft anpassen; auch hier ist mehr Flexibilität gefragt. Lassen Sie doch die Arbeitnehmer selbst entscheiden, wie viel und wie lange sie arbeiten wollen. Muss das denn vorgeschrieben werden?
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Sie werden sehen, dass viele viel länger arbeiten werden wollen, wenn man ihnen den Freiraum und die möglichen Einkunftsquellen lässt.
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Es braucht zudem eine mutige, umfassende Reform, die das umlagefinanzierte Rentensystem modernisiert. Auch die Rentner sollen am Produktivitätsfortschritt der Weltwirtschaft beteiligt werden. Eine gesetzliche Aktienrente ist dafür ein richtiger Weg.
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Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich verlasse den Deutschen Bundestag in der Hoffnung, dass Sie sich der anstehenden Probleme mit Mut und Sachverstand annehmen werden. Besinnen Sie sich stets auf einen entscheidenden Grundsatz unserer Verfassung: Der Deutsche Bundestag ist das einzige direkt vom Volk legitimierte Staatsorgan. Er ist die Herzkammer der Demokratie. Die Parlamentarier repräsentieren den Willen des Volkes. Der Deutsche Bundestag gibt die Grundlinien der Politik vor und bedient sich der Regierung zu ihrer Umsetzung, nicht umgekehrt.
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Diese Aufgabe erfordert Demut vor dem Volk, aber auch Selbstbewusstsein gegenüber der Regierung. Leben Sie beides, ganz gleich, ob Sie einer Regierungskoalition angehören oder in der Opposition arbeiten.
Ich wünsche Ihnen allen trotz Wahlkampf eine erholsame Sommerpause, damit Sie anschließend die Kraft haben, Fesseln zu lösen und die neuen Goldenen Zwanziger einzuleiten. Vertrauen Sie auf die Schaffenskraft der Menschen – denen, die hier geboren sind, und denen, die auf der Suche nach persönlicher und wirtschaftlicher Freiheit hier eine neue Heimat suchen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin dankbar für nahezu vier Jahrzehnte in der Herzkammer der Demokratie. Erneut kommen jetzt spannende Zeiten; das wird ja nie aufhören. Nie gab es mehr zu tun. Das möchte ich den neuen Abgeordneten noch mal in ihr Tagebuch schreiben: Nie gab es mehr zu tun.
Vielen Dank.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Handwerkerinnen und Handwerker! Gestatten Sie mir zunächst auch von dieser Stelle, Herr Dr. Solms, Ihnen alles Gute für Ihren weiteren Lebensweg auf den Weg zu geben. Ich wünsche Ihnen viel Gesundheit und noch viele gute Jahre. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass Sie sich komplett aus der Politik heraushalten können.
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Meine Damen und Herren, jetzt wieder zur Tagesordnung. Gerade Sie von der rechten Seite haben in den letzten Wochen ganz offenbar keine Probleme zum Beispiel mit Ihrem Auto gehabt; denn dann wüssten Sie, dass sich das Kraftfahrzeuggewerbe momentan vor Aufträgen gar nicht retten kann und die Wartezeiten in den Werkstätten lang sind. Für betroffene Autofahrer und Autofahrerinnen ist das kein Spaß. Aber dass die Werkstätten und die Baustellen jetzt brummen, das ist gut, und das sei ihnen auch gegönnt.
Es ist klar, dass es in Coronazeiten mit hohen Coronainzidenzen und harten Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen für viele Branchen erhebliche Einbrüche gab. Das gilt natürlich und vielleicht insbesondere für das Handwerk. Aber ebenso klar ist, dass wir noch eine Zeit brauchen werden, bis sich die Märkte von den Folgen der Pandemie erholen. Dafür unterstützen wir die Unternehmen und vor allen Dingen das Handwerk. Ich erinnere an Überbrückungshilfen, Steuerstundungen, Kurzarbeitergeld, Härtefallregelungen, Neustarthilfen und noch vieles mehr. Wir haben diese Hilfen immer wieder verbessert, verlängert und den aktuellen Gegebenheiten entsprechend angepasst.
Ich möchte nun auf einige Ihrer 26 Forderungen eingehen, die Sie, liebe FDP, in Ihrem Antrag stellen. Sie wünschen sich zum Beispiel eine E-Government-Strategie. Genau dafür haben wir in dieser Woche die Weichen mit dem Zweiten Open-Data-Gesetz gestellt. Open Data wird in Zukunft einen hohen Stellenwert für alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereiche haben.
Sie wünschen sich ein Einwanderungsrecht nach Punkten für Gutqualifizierte wie in Kanada, die Aufwertung von Mini- und Midijobs und die Vereinfachung der Arbeitszeitdokumentation im Zusammenhang mit dem Mindestlohn. Meine Damen und Herren von der FDP, wir halten mehr davon, zum Beispiel Geflüchtete zu integrieren.
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Hier ist gerade das Handwerk vorbildlich. Kein Wirtschaftsbereich hat so viel für die Integration der Menschen getan wie das Handwerk. Wir sind froh über junge Leute, die sich so gut integrieren, und wir brauchen sie. Das klappt auch ohne Punktesystem.
Was nicht klappen wird, ist die Aufwertung von Mini- und Midijobs; denn sie zementieren den Niedriglohnsektor, garantieren Altersarmut und führen nicht zu mehr Weiterbildung und Qualifizierung. Sie sind nicht krisenfest, wie Corona gezeigt hat. Minijobber waren die ersten, die entlassen wurden; schauen Sie nur mal ins Gastgewerbe. Minijobs gehören mit Übergangsfristen umgewandelt in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen.
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Meine Damen und Herren, die Arbeitszeitdokumentation ist in vielen Bereichen längst digitalisiert, und es genügen formlose Nachweise. Natürlich muss man beim Mindestlohn und gerade bei den Minijobs nachweisen, wie viele Stunden wann und wo gearbeitet worden ist. Das ist doch selbstverständlich.
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Selbstverständlich sollte es auch sein, sich bei einer so umfassenden Betrachtung des Handwerks den Ausbildungsmarkt anzuschauen. Merkwürdigerweise erwähnen Sie das Thema Ausbildung nur am Rande und gehen mehr auf Aufstieg, Exzellenzinitiativen und berufliche Bildung ein, was natürlich grundsätzlich richtig und wichtig ist. Aber aktuell ist eben die Ausbildungssituation das Problem; hier brennt es derzeit. Ohne Azubis keine zukünftigen Facharbeiter, ohne Azubis keine Zukunft im Handwerk – da müssen wir gegensteuern, und das tun wir auch.
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Es fehlt an Ausbildungsplätzen und an Bewerberinnen und Bewerbern. Das war übrigens auch vor der Pandemie schon ein Problem. Die Berufsberater konnten pandemiebedingt nicht in die Schulen, es konnten keine Ausbildungsmessen stattfinden, Schülerinnen und Schüler konnten keine Praktika absolvieren. Das alles hat gefehlt. Deshalb hat Hubertus Heil im Schulterschluss mit den Wirtschaftsverbänden, den Gewerkschaften und der Bundesagentur für Arbeit die Allianz für Aus- und Weiterbildung initiiert. Das ist ein Matching-Programm, mit dem Auszubildende und Unternehmen zusammengebracht werden. Es läuft unter dem Motto „Sommer der Ausbildung“. Außerdem haben wir das Bundesprogramm „Ausbildungsplätze sichern“ ausgebaut, unter anderem mit einer Verdoppelung der Ausbildungsprämien im kommenden Ausbildungsjahr von 2 000 auf 4 000 bzw. von 3 000 auf 6 000 Euro, wenn Betriebe ihre Ausbildungsplätze halten oder gar deren Zahl erhöhen.
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Meine Damen und Herren von der FDP, anstatt alle Forderungen, die Sie irgendwann einmal in dieser Legislatur erhoben haben, mit dem Besen zusammenzukehren und in einen Antrag zu schütten, hätten Sie doch einmal einen Antrag mit wirklich neuen Konzepten und Ideen für das Handwerk stellen können. Ich als gelernter Handwerker und Bergmann hätte mich darüber sehr gefreut. Herr Todtenhausen, ich weiß, wie Handwerker und deren Familien ticken; aber ich bin auch Gewerkschafter. Wir lehnen Ihren Antrag ab; denn da ist einfach zu wenig für Arbeitnehmer drin und zu viel für Arbeitgeber.
Ich will mich an dieser Stelle noch einmal herzlich nicht nur bei den Handwerkerinnen und Handwerkern bedanken, sondern bei all denjenigen, die in Deutschland den Laden am Laufen halten. Dazu zählen ganz viele. Ich nenne beispielsweise die Verkäuferin oder den Verkäufer an der Kasse. Ich rede aber auch von denen, die ganz hart an der Front kämpfen, nämlich von den Pflegekräften in der Alten- oder in der Krankenpflege.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Glück auf!
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Klaus Ernst, Die Linke, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben beeindruckende letzte Reden gehört. Das Problem ist, dass manche ihre letzte Rede halten und es gar nicht wissen.
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Ich hoffe, mir persönlich geht es nicht so, weil ich noch mal kandidiere. Das aber nur zum Anfang.
Ich möchte mich auch in der nächsten Legislatur gern noch mal mit der FDP streiten können, zum Beispiel über Anträge wie diesen, über den ich mich eigentlich freue, weil er Gelegenheit zur Diskussion bietet, aber dessen Inhalt ich schon sehr zweifelhaft finde.
Ich fange an mit Ihrer Forderung, den Soli abzuschaffen.
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– Sie klatschen. Dann klatschen Sie aber für diejenigen, die, wenn sie verheiratet sind und zwei Kinder haben, über 150 000 Euro verdienen.
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Ich habe den Eindruck: So viel verdient ein Handwerksmeister doch gar nicht. Wenn Sie das als großes Positivum für das Handwerk darstellen, dann oha!
Sie wollen auch den Körperschaftsteuersatz senken. Körperschaftsteuer zahlen Kapitalgesellschaften. Aber die meisten Handwerksbetriebe sind Personengesellschaften; denen nützt Ihre Forderung nichts. Ich habe den Eindruck: Sie haben diesen Antrag zusammengeschrieben nach dem Motto „Was wir immer schon mal sagen wollten“ und schreiben darüber „Heute fürs Handwerk“. Aber das ist nicht innovativ, Herr Todtenhausen; das ist leider sehr, sehr rückwärtsgewandt.
Meine Damen und Herren, besonders interessant ist auch Ihre Forderung, die Gewerbesteuer abzuschaffen. Wenn Sie die Gewerbesteuer abschaffen, haben die Kommunen weniger Einnahmen. Selbst wenn Sie Ausgleichszahlungen über andere Steuern vornehmen, führt das zu einer Konkurrenz der Kommunen untereinander; sie würden in einen Unterbietungswettbewerb eintreten. Jetzt lese ich, dass vom Sanitär- und Heizungshandwerk gefordert wird, einen kommunalen Investitionsfonds zu etablieren. Sie müssen mir mal erzählen, wie das gehen soll. Sie fordern auf der einen Seite weniger Steuern für diejenigen, die sie eigentlich zu zahlen hätten, auch Ihre Klientel. Auf der anderen Seite aber soll die öffentliche Hand mehr Geld ausgeben, zum Beispiel für einen solchen Fonds. Ein solcher Fonds ist richtig; aber das geht nicht mit Voodoo-Ökonomie. Sie müssen sagen: Wir wollen mehr Steuern, damit wir auch für solche Dinge Geld ausgeben können. Das machte Sinn fürs Handwerk, anderes aber leider nicht.
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Meine Damen und Herren, einen Punkt möchte ich noch ansprechen, nämlich die Arbeitsbedingungen und die Löhne. Ich habe am Montag bei einem parlamentarischen Abend mit den Heizkesselbauern diskutiert. Dort hat mir ein Meister Folgendes erzählt: Herr Ernst, ich bin in meinem Betrieb der Oberaffe. Ich arbeite; aber ich habe den Zugang zur Bananenstaude. Den haben meine Mitarbeiter oft nicht. Ich möchte dazu beitragen, dass auch sie den Zugang zur Bananenstaude haben. Denn nur wenn die Beschäftigten im Handwerk eine Perspektive haben, wenn sie Tarifverträge haben, wenn sie vernünftige Arbeitszeiten haben, wenn sie vergleichbare Bedingungen vorfinden und sie nicht im Vergleich zur Industrie bei gleicher Tätigkeit 20 Prozent weniger verdienen, weil Tarifflucht betrieben wird, hat auch das Handwerk eine Zukunft. – Leider steht in Ihrem Antrag dazu überhaupt nichts drin. Ich bitte Sie, darüber nachzudenken, ob es nicht sinnvoll wäre, die Bedingungen zu ändern und zum Beispiel eine Allgemeinverbindlichkeit bei Tarifverträgen herzustellen, damit wir die Bedingungen im Handwerk durch mehr Beschäftigte und bessere Arbeit tatsächlich verbessern können.
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Lazar, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich danke meiner Kollegin Claudia Müller, dass ich als gelernte Bäckerin meine letzte Rede im Bundestag zum Thema Handwerk halten kann. Als Grüne zum Handwerk zu reden, ist ja nicht immer ganz einfach; denn uns wird das oft nicht zugetraut oder uns werden häufig Klischees entgegengebracht. Dabei finden auch wir, dass die vielen unterschiedlichen Berufe im Handwerk attraktiv sind und für junge Leute noch attraktiver werden können. Dafür sind mehrere Seiten gefragt: Die Politik muss die passenden Rahmenbedingungen setzen, die Verbände und Betriebe müssen sich als attraktive Arbeitgeber präsentieren, und die Arbeitnehmer müssen sich dort wohlfühlen, damit sie den Betrieben erhalten bleiben. Die Durchlässigkeit für Weiterqualifikation wie der Meisterausbildung muss unkompliziert unterstützt werden, und die Durchlässigkeit zum Studium und zurück sollte selbstverständlich sein.
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Dass das Handwerk in Stadt und Land gebraucht wird, haben wir gerade im letzten Coronajahr gesehen. Viele Handwerksberufe wurden dringend gebraucht, waren und sind systemrelevant.
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Auch das Bewusstsein der Verbraucherinnen und Verbraucher hat sich in den letzten Jahren geändert. Viele schauen mehr als vorher darauf, wo vor Ort produziert wird und man so auf kurzen Wegen bestellen oder kaufen kann. Das kann auch eine Chance sein, dass sich junge Leute jetzt vielleicht lieber für eine Berufsbildung im Handwerk entscheiden. Ich kann eine solide Berufsausbildung nur empfehlen.
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Bei mir war das so: 1990, in der Endphase der DDR, war ich mit meinem Studium fertig, aber mein vereinbarter Arbeitsplatz war nicht mehr vorhanden. So entschloss ich mich nach meinem Studium, in der Bäckerei meiner Eltern anzufangen, und machte dann in den 90er-Jahren berufsbegleitend die Ausbildung zur Bäckerin. Ich dachte mir: Du weißt nicht, was die neue Zeit bringt. Ein Berufsabschluss ist nie verkehrt, und Bäcker werden immer gebraucht. – Und genau das war richtig.
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Wenn ich in den Jahren als Bundestagsabgeordnete in Sachsen und Leipzig auf Veranstaltungen der Handwerkskammer war, wurde ich zwar am Anfang als Grüne skeptisch beäugt, aber konnte mir Anerkennung verschaffen, als man merkte, dass ich einen Handwerkerberuf gelernt habe,
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dort auch gearbeitet habe und weiß, wie es ist, wenn man selbstständig ist; denn meine Eltern haben ihre Bäckerei zwischen 1966 und 2004 erfolgreich geführt.
Ich könnte jetzt einige Anekdoten zum Besten geben, egal ob als Selbstständige in der DDR oder in den 90er-Jahren,
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doch dafür reicht die Zeit nicht.
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Aber eine Anekdote kommt: Interessant war, dass gerade Anfang der 90er-Jahre die zugezogenen Westdeutschen treue Kunden wurden, weil sie die guten DDR-Brötchen zu schätzen wussten,
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während viele Einheimische die aufgeblasenen Westbrötchen ausprobieren wollten;
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denn für die ihnen bekannten Brötchen, für die sie früher 5 DDR-Pfennige gezahlt haben, wollten sie nicht ihr „gutes Westgeld“ ausgeben.
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Die Bäckerei meiner Eltern hat auch das überstanden. Etwas später kamen die meisten Kunden wieder zurück. Nachdem meine Eltern in Rente gegangen sind, konnten wir vor einigen Jahren noch das 50-jährige Meisterjubiläum meines Vaters feiern. Ich hätte mich gefreut, wenn er meine Rede heute noch hören könnte. Aber leider ist er vor Kurzem gestorben, was mich sehr traurig macht. Auf diesen Abschied hätte ich gern verzichtet.
Nach 16 Jahren Bundestag habe ich mich entschieden, nicht erneut zu kandidieren. Ich danke allen, die mich in den letzten Jahren begleitet und unterstützt haben, den Kolleginnen und Kollegen aus der eigenen Fraktion, den aus den anderen demokratischen Fraktionen, meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Berlin und in Sachsen, den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hier im Bundestag und auch den Wählerinnen und Wählern. Was ich nach meiner Zeit im Bundestag machen werde, weiß ich noch nicht. Aber ich habe ja eine solide Berufsausbildung, und schließlich weiß ich: Bäcker werden immer gebraucht.
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Liebe Frau Kollegin Lazar, ich danke auch Ihnen im Namen des ganzen Hauses für Ihr Engagement, für Ihren Dienst in fünf Legislaturperioden im Deutschen Bundestag. Da mein Bruder nach der Wende von Stuttgart nach Leipzig gezogen ist – er ist aber verstorben –, kann ich Ihnen aus eigener familiärer Kenntnis die Geschichte mit den Brötchen bestätigen.
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Deswegen habe ich übrigens meinen Vorgänger, Herrn Thierse, in diesem Zusammenhang nie verstanden; um auch das zu sagen. Aber darum geht es jetzt nicht.
Wir wünschen Ihnen von Herzen – neben dem Dank für Ihre Tätigkeit – für alles, was kommt, alles Gute. Herzlichen Dank!
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Der voraussichtlich letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Andreas Lenz, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch von mir natürlich alles Gute den Kollegen, die heute ihre letzten Reden hielten. Es sind Vertreter, die immer ihr Handwerk verstanden haben, womit wir auch beim Thema sind. Politik kann man ja immer auch als Handwerk verstehen, wo im besten Fall Qualität, Ausbildung, aber auch Ergebnisse zählen – „kann man“, wohlgemerkt.
Ich möchte mit einem Punkt beginnen, den wir fürs Handwerk umgesetzt haben, nämlich die Wiedereinführung der Meisterpflicht für zwölf Gewerke. Es wird ja schnell vergessen am Ende der Legislatur: Das war die Große Koalition, getrieben von der CDU/CSU, meine Damen und Herren. Das war ein richtiger Schritt. Wir werden prüfen, ob die Wiedereinführung der Meisterpflicht für weitere Gewerke möglich ist. Übrigens waren es die Grünen – das möchte ich hier betonen –, die vor zwei Jahren nicht für die Wiedereinführung der Meisterpflicht gestimmt hatten. Sprechen Sie doch mal mit den Handwerken vor Ort. Es war der richtige Schritt. Das Handwerk dankt uns diesen Schritt, aber auch die Auszubildenden und vor allem die Kunden.
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Das Handwerk, die Handwerksmeister bilden aus. Das ist ein wichtiger Punkt, auch wenn es um die Meisterpflicht geht. 28 Prozent aller Azubis werden im Handwerk ausgebildet, auch unter erschwerten Coronabedingungen. Wir haben mit der Allianz für Aus- und Weiterbildung mit einem Volumen von 410 Millionen Euro und mit einer Ausbildungsprämie dazu beigetragen, dass die Coronakrise eben nicht zur Ausbildungskrise geworden ist. Im Jahr 2020 wurden über 130 000 Ausbildungsverträge neu abgeschlossen. Mein herzlicher Dank vor allem an die Betriebe, die auch in Coronazeiten ausbildeten und weiter ausbilden!
Ich freue mich, wenn ich wieder einmal auf eine Freisprechungsfeier – im Norden heißt das, glaube ich, Lossprechungsfeier – gehen darf. Hier werden die Auszubildenden von der Ausbildung freigesprochen und in den Gesellen- oder Gesellinnenstand gehoben. Man sieht dann auch, wie das Handwerk Tradition, Fortschritt und Qualität vereint. Dafür steht das Handwerk. Vielen Dank auch für diese gesellschaftliche Funktion, die das Handwerk nach wie vor ausfüllt.
Die Handwerksbetriebe waren und sind unterschiedlich von der Coronapandemie betroffen. Besonders betroffen sind natürlich beispielsweise der Messebau oder andere ähnlich gelagerte Handwerksbereiche. Auch hier greifen unsere Hilfen vom Kurzarbeitergeld bis hin zu den entsprechenden Hilfsprogrammen. Trotzdem war und ist das Handwerk in den meisten Fällen Stabilitätsanker und Wachstumsmotor. Wir wollen, dass das auch so bleibt.
Gerade die Versorgung mit Baustoffen, mit Vorprodukten insgesamt und insbesondere mit Holz ist im Moment ein akutes Thema. Mancher Betrieb muss jetzt aufgrund mangelnder Baustoffe und unterbrochener Lieferketten Kurzarbeit anmelden. Schwankungen gab es hier natürlich schon immer; aber das ist eine historisch einmalige Situation. Man muss hier an vielen Stellen ansetzen; es gibt viele Ursachen, etwa Exportstopps, aber genauso die erhöhte Nachfrage aus den USA. Wir müssen Instrumente wie Preisgleitklauseln auch für das Handwerk nutzbar machen. Wir brauchen wieder mehr Lagerhaltung, mehr Resilienz auch vonseiten der Unternehmer, aber auch mehr Souveränität insgesamt. Das betrifft auch die Produktionskapazitäten im eigenen Land, gerade in Bezug auf die Holzsägewerke. Aus meiner Sicht muss außerdem geprüft werden, inwiefern die Produzenten marktbeherrschende Stellungen teilweise ausnutzen.
Die öffentliche Hand wird übrigens bei der Frage der Kostensteigerung und der entsprechenden Anpassungen so weit entgegenkommen, wie es nur irgendwie möglich ist. Auch das ist wichtig. Ich bin der Meinung, wir brauchen darüber hinaus insgesamt eine Holz- und Baustoffstrategie. Das Thema ist so wichtig, dass hier Monitoring und koordinierende Maßnahmen notwendig sind.
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Eines muss uns übrigens auch klar sein: Ohne unsere Handwerksbetriebe mit ihrer Expertise, ohne die Facharbeiterbasis sind die ambitionierten Ziele beim Klimaschutz nur Makulatur. Ich bin froh, dass wir das in unserem Wahlprogramm entsprechend betonen. Gleichzeitig bin ich mir aber sicher, dass das Handwerk auch zukünftig einen goldenen Boden hat. Der Unternehmer, der Ihnen allen sicher bekannt ist – er wird auch Schraubenmilliardär genannt –, Reinhold Würth, beispielsweise rät in der aktuellen Situation ausdrücklich zu einer Ausbildung und zu einer Karriere im Handwerk.
Handwerk ist Unternehmertum, und wir brauchen Unternehmertum. Für uns sind Unternehmer immer noch Vorbild und eben nicht Feindbild. Wir brauchen weniger Mundwerker und mehr Handwerker, könnte man auch sagen. Wir brauchen keine Substanzbesteuerung; das ist Gift für die Arbeitsplätze. Wir stehen für Entlastung, andere stehen für Belastung; so schaut die Realität aus. Wir brauchen Gründungen, und diese finden vielfach im Handwerk statt. Dazu wollen wir unnötige Hürden aus dem Weg räumen. Der Weg vom Problem zur Lösung führt zu oft und zu lange durch ein Dickicht voller Vorschriften und Bedenken. Auch das haben wir in unserem Wahlprogramm entsprechend formuliert; daran werden wir uns messen lassen.
Am Schluss möchte ich sagen, dass der alte Spruch „Verachtet mir die Meister nicht und ehret ihren Stand, wenn das deutsche Handwerk blüht, dann blüht das ganze Land“ für uns noch immer gilt; dem fühlen wir uns verpflichtet.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank!
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Viereinhalb Jahre nach dem folgenschwersten dschihadistischen Anschlag auf deutschem Boden hat der 1. Untersuchungsausschuss dieser Wahlperiode 40 Monate nach Beginn seiner Arbeit am letzten Montag Ihnen, Herr Präsident – Sie erwähnten es eben –, den Bericht über seine Arbeit übergeben. Heute diskutieren wir diesen 1 873 Seiten starken Abschlussbericht hier im Plenum. Als Vorsitzender des Untersuchungsausschusses, noch öfter aber als Abgeordneter des Berliner Wahlkreises, in dem dieser mörderische Anschlag stattgefunden hat, bin ich gefragt worden, warum wir das alles überhaupt noch aufarbeiten. Oftmals wurde auch gesagt, dass wir das Leid ohnehin nicht ungeschehen machen können. Das stimmt natürlich, und dennoch gab es zwölf besondere Gründe für unser akribisches Aufarbeiten.
Ich erinnere an Anna und Georgiy Bagratuni, Sebastian Berlin, Nada Cizmar, Fabrizia Di Lorenzo, Dalia Elyakim, Christoph Herrlich, Klaus Jacob, Angelika Klösters, Dorit Krebs, Lukasz Urban und Peter Völker.
An dieser Stelle darf ich sehr herzlich die Opfer, Hinterbliebenen und Betroffenen des Attentats hier heute begrüßen. Wir alle sind dankbar, dass Sie die Einladung unseres Bundestagspräsidenten angenommen haben, jetzt hier die Debatte im Parlament verfolgen und wir uns im Anschluss noch austauschen können. Ich darf aber auch an die vielen Menschen erinnern, die an jenem Abend mitten in der Berliner City verletzt wurden, körperlich oder seelisch, als Opfer, Augenzeugen oder Helfer. Viele von ihnen tragen bis heute an den Folgen. Ausdrücklich möchte ich die Gelegenheit nutzen, jenen, die am 19. Dezember Hilfe geleistet haben, ob im Dienst oder ehrenamtlich, sehr herzlich zu danken.
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Die Arbeit unseres Ausschusses konnte und kann sicherlich nicht trösten und auch keine Wunden heilen. Wir haben aber versucht, auf quälende Fragen Antworten zu finden, besonders auf die Frage, wie es passieren konnte, dass ein polizeibekannter Krimineller und Gefährder, der kein Aufenthaltsrecht im Schengenraum hatte, diesen Anschlag dennoch verüben konnte. Wir haben 132 Sitzungen durchgeführt, 147 Zeuginnen und Zeugen 462 Stunden lang vernommen. Tausende Aktenordner wurden von Bundes- und Landesbehörden vorgelegt und vom Ausschuss ausgewertet. Der Bundestag hat sogar selbst Gutachter und Sachverständige beauftragt, unter anderem, um die Spurenlage zu analysieren. Trotz allen Aufwandes sind aber einige Fragen ohne Antwort geblieben. So konnten wir nicht aufklären, auf welchem Weg der Mörder Berlin verlassen hat, wer ihm vielleicht geholfen oder ihn angestiftet hat. Wir wissen bis heute nicht, wie er an die Schusswaffe gelangte und ob er auf seiner Flucht nach Italien Unterstützer traf.
Was wir aber wissen, ist, dass es vor und nach dem Attentat individuelle und organisatorische Fehler und Fehleinschätzungen gegeben hat, Versäumnisse, strukturelle und personelle Probleme und auch mangelnde Kommunikation zwischen Behörden auf der Bundes- und auf der Länderebene. Keiner dieser Fehler und Mängel war für sich allein kausal für den Anschlag, aber alle zusammen waren fatal; denn eigentlich hätte der Attentäter vor dem Anschlag in Haft genommen und seine Abschiebung konsequent betrieben werden müssen.
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Damit komme ich für mich zu dem traurigen Ergebnis, dass diese mörderische Tat hätte verhindert werden können. Auch der anschließende Umgang staatlicher Stellen mit Opfern und ihren Angehörigen hat zu Recht Befremden ausgelöst. Wir mussten aber auch feststellen, dass es vor dem Anschlag auch aufseiten der Gesetzgebung Versäumnisse gegeben hat. An dieser Stelle möchte ich bei den Opfern und Hinterbliebenen stellvertretend herzlich um Verzeihung für dieses Versäumnis bitten.
Dieser Anschlag hat bei vielen Kollegen zur intensiven Überprüfung der gesetzlichen Ausgestaltung unserer Sicherheitsarchitektur und der Betreuung und Entschädigung von Opfern und Hinterbliebenen geführt. Meine beiden Unionskollegen Dr. Volker Ullrich und Alexander Throm werden gleich im Einzelnen die inzwischen auf den Weg gebrachten Gesetzesänderungen, die Verbesserungen bei der Ausstattung unserer Sicherheitsbehörden und das, was wir von der CDU/CSU an weiteren Schritte für erforderlich halten, darstellen.
Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, meine Damen und Herren, hat aber nicht nur die Aufgaben, selbst zu hinterfragen und auszuleuchten; vielmehr dient seine Arbeit auch dazu, dass die Behörden und die Ministerien ihr eigenes Handeln kritisch aufarbeiten. Wir haben im Ausschuss Zeugen erlebt, denen jede Selbstreflexion fehlte; wir haben andere erlebt, die teils sehr emotional um Verzeihung gebeten haben und die diesen Anschlag auch als persönlichen Misserfolg ihrer Arbeit betrachtet haben. Und auch das will ich an dieser Stelle deutlich sagen: Viele andere Anschläge konnten in den letzten Jahren in unserem Land rechtzeitig verhindert werden. Dafür sind wir dankbar, und das sollten wir auch im Lichte dieses Berichts nicht vergessen. Wir alle wären aber sicherlich froh gewesen, wenn auch die Morde auf unserem Weihnachtsmarkt hätten verhindert werden können. Aber vielleicht kann die Arbeit unseres Ausschusses dazu dienen, dass sich Vergleichbares nicht wiederholt.
Sicherlich hat aber unsere Arbeit und auch die der beiden Untersuchungsausschüsse im Lande Berlin und in Nordrhein-Westfalen gezeigt, dass der demokratische und föderale Staat in der Lage ist, Fehler aufzuklären, Versäumnisse einzugestehen, Verantwortung zu übernehmen und Korrekturen einzuleiten. Bei uns werden die Dinge eben nicht unter den Teppich gekehrt, sondern transparent und nachprüfbar aufgearbeitet als Ausdruck parlamentarischer Kontrolle der Exekutive. Das ist eine der Stärken unseres freiheitlich-parlamentarischen Systems, die wir jederzeit verteidigen müssen und auf die wir stolz sein können.
Abschließend, meine Damen und Herren, möchte ich mich noch bedanken. Alle Fraktionen im Ausschuss haben mit Engagement den vom Plenum einstimmig gefassten Untersuchungsauftrag bearbeitet. Über Parteigrenzen hinweg stand das Interesse an der Aufklärung und der Beantwortung der Fragen. Ich darf insbesondere den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fraktionen danken, die sich durch die aufgelieferten Akten und Protokolle der Vernehmungen gearbeitet haben. Ohne sie hätten wir Abgeordnete nicht unseren Auftrag erfüllen können.
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Mein Dank gilt besonders auch dem Ausschusssekretariat. Sie haben mir als Vorsitzendem hervorragend zur Seite gestanden. Nicht vergessen möchte ich auch den Stenografischen Dienst, der auch bei unseren teils zwölfstündigen Sitzungen bis Mitternacht die Protokolle geführt hat, die Bundestagsverwaltung und die Polizei des Bundestages, die wir bei der Vernehmung einiger Zeugen aus dem Umfeld des Mörders gut gebrauchen konnten.
Wir sollten aber auch die Vertreter der Behörden des Bundes und der Länder nicht vergessen, die dem Ausschuss zur Verfügung standen, und die zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die die Akten herausgesucht und zusammengestellt haben, damit wir unsere Arbeit machen konnten. Mein Dank gilt abschließend auch der Presse, die regelmäßig über unsere Ausschussarbeit berichtet hat, und den Besucherinnen und Besuchern, die fortdauernd die Sitzungen des Ausschusses begleitet haben.
Gestatten Sie mir noch ein persönliches Wort. Ich selbst wäre fast am 19. Dezember 2016 zu diesem Weihnachtsmarkt gefahren. Ich habe mich mit meinem Sohn im letzten Moment entschieden, dass wir das einen Tag später machen, und wir sind an diesem Abend nach Potsdam gefahren. Auf dem Rückweg haben wir dann von diesem Anschlag gehört. Ich war am 20. Dezember dann selbst auf dem Breitscheidplatz, und ich habe heute noch die beklemmende Stille unmittelbar am Kurfürstendamm im Ohr – eine Situation, die ich bis dahin nicht kannte. Auch aus diesem Grund hoffe ich, meine Damen und Herren, dass der Deutsche Bundestag nie wieder wegen eines vergleichbaren Vorgangs einen Untersuchungsausschuss einsetzen muss.
Herzlichen Dank.
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Stefan Keuter, AfD, ist der nächste Redner.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Gäste, insbesondere persönlich Betroffene! Wir haben einen Untersuchungsausschuss eingesetzt, und wenn wir auf den Anfang der 19. Wahlperiode zurückschauen, müssen wir einmal fragen, was der Untersuchungsausschuss sein sollte. Meine Fraktion wollte neben der Beschränkung auf das Geschehen rund um das Attentat außerdem den Fokus setzen auf die Asyl- und Migrationspolitik, die Kosten der Migrationspolitik, die fragwürdige Grenzöffnung 2015 und den Islamismus sowie insbesondere den islamischen Terrorismus.
All das haben wir als Antrag nicht durchbekommen; den Untersuchungsauftrag haben wir etwas enger gefasst. Andere Anträge haben wir auch nicht durchbekommen. Unter anderem hatten wir als einzige Fraktion beantragt, die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel in den Zeugenstand zu rufen. Das wurde von allen anderen Fraktionen abgelehnt. Es hat fast ein Jahr gedauert, bis die Bundeskanzlerin zu einer Gedenkfeier zu bewegen war, und sie gab ein Versprechen: Es würde alles unternommen werden, um dieses Attentat aufzuklären. Ich finde es beschämend, dass sie bei dieser historischen Debatte heute durch Abwesenheit glänzt.
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Ob ihr Versprechen – –
Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? – Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Die Fraktionen sind davon unterrichtet, dass die Bundeskanzlerin nach ihrer Regierungserklärung und der Debatte zum Europäischen Rat Berlin verlassen musste, um an ebendiesem Europäischen Rat teilzunehmen. Ich bitte Sie einfach, dies in der Debatte zu berücksichtigen.
Ich finde es trotzdem bedauerlich, dass sie bei dieser Debatte heute nicht da ist. – Herr Präsident, ich hoffe, Sie sind mit meiner Redezeit etwas nachsichtig, denn die Uhr lief gerade weiter.
Schauen wir auf die Arbeit im Untersuchungsausschuss. Der Untersuchungsausschuss hatte es nicht immer leicht, hatte es mit Widerständen zu tun, insbesondere Konsultationen mit ausländischen Nachrichtendiensten waren hinderlich, Ermittlungsvorbehalte, Methodenschutz und Interventionen durch die Bundesregierung. Insbesondere der Hinweis an Zeugen „Bitte denken Sie an Ihre Aussagegenehmigung“ hat sehr häufig zu Gedächtnisverlust bei Zeugen geführt. Wir sind mit Unmengen an Beweismaterial zugeworfen worden und waren mit Einstufungen von Dokumenten, die für uns nicht immer nachvollziehbar waren, konfrontiert.
Es sind einige Puzzlestücke geblieben, die wir nicht einsetzen konnten, rätselhafte Sachverhalte. Lassen Sie mich hier aufgrund der begrenzten Redezeit lediglich auf vier Fälle eingehen.
Wussten Sie, dass Anis Amri, der vermeintliche Attentäter des Breitscheidplatzes, am 29. Juli 2016 – also fast ein halbes Jahr vor dem Anschlag – selbstständig versucht hatte, Berlin zu verlassen, Deutschland zu verlassen, es gab einen Ausreisesachverhalt in Friedrichshafen, wo die deutschen Sicherheitsbehörden ihn mit einer Live-TKÜ verfolgt hatten, das Bundespolizeipräsidium Potsdam sich einschaltete, das Bundesamt für Verfassungsschutz involviert war und man ihm diese Ausreise untersagt hatte?
Die Spurenlage am Lkw ist das nächste Beispiel. Dieser Ausschuss hat ein eigenes Gutachten in Auftrag gegeben, und es ist nicht eindeutig nachvollziehbar – weder an DNA-Spuren noch an daktyloskopischen Spuren –, dass Anis Amri diesen Lkw gefahren ist und sich durchgehend in dieser Fahrerkabine aufgehalten hatte. Es gibt eine Mischspurenlage einer weiteren Person, die bisher nicht identifiziert werden konnte, die Spuren im Lkw zurückgelassen hatte.
Nächster Punkt: die Fluchtroute von Anis Amri. Wir finden es sehr rätselhaft, dass ein Video von einer Videoüberwachungsanlage des Bahnhofs Zoo wenige Minuten nach dem Anschlag aufgetaucht ist, wo sich Anis Amri nicht rennend, sondern schlendernd zum Tatort hin und nicht vom Tatort weg bewegt. Außerdem ist die große Blackbox die Flucht von Amri aus Berlin. Es gibt hier Verdachtsmomente, dass Clanfamilien aus Berlin ihn möglicherweise zu dem Attentat angestiftet haben oder ihm bei der Flucht geholfen haben sollen.
Der nächste für uns fragliche Umstand sind die Todesumstände in Sesto San Giovanni in Italien. Hier hat ein mutmaßlicher Attentäter einen Anschlag überlebt, flüchtet und kommt in Italien plötzlich zu Tode. Wir haben uns die Obduktionsbilder angesehen. Es gibt Schussverletzungen: Einschüsse, die nicht nach einem frontalen Schusswechsel aussehen, sondern eher nach Schüssen auf der Flucht.
Lassen Sie mich abschließend zu einem möglichen Mittäter kommen, der lange Zeit auf dem Aktendeckel geführt wurde: Bilel Ben Ammar. Abschiebungen von islamischen Gefährdern waren nicht möglich, hier war es plötzlich sehr schnell möglich. Am 1. Februar 2017 wurde Bilel Ben Ammar abgeschoben, ohne sein Handy vorher ausgewertet zu haben, ohne ihn ausgiebig befragt zu haben, ohne die Frage zu stellen, wo er die letzten Tage war. Die Spur von Bilel Ben Ammar verläuft sich. Vielleicht ist er inzwischen wieder in Deutschland.
Der Generalbundesanwalt hatte sich hierzu geäußert, insbesondere der Herr Salzmann. Er berichtet über die Herangehensweise und sagte, die Beweise gegen Amri seien so erdrückend gewesen, dass diese, würde er noch leben, für eine Verurteilung gereicht hätten. Alternative Erklärungsversuche sind überhaupt nicht geprüft worden.
Für uns als Untersuchungsausschuss war es viel wichtiger, andere Thesen zu hinterfragen, alternative Geschehen zu überprüfen. Ein Beispiel dafür, was aus unserer Sicht versäumt wurde, besteht darin, dass man diese Asservate aus Italien überhaupt gar nicht angefordert hatte. Die Pistole, die bei Anis Amri sichergestellt wurde, ist gar nicht untersucht worden. Ist dies tatsächlich die Tatwaffe, die verwendet worden ist, um den Lkw-Fahrer am Friedrich-Krause-Ufer zu erschießen?
Es stellt sich die Schuldfrage. Wir haben festgestellt, dass zögerliches Handeln bei Bundes- und Landesbehörden diesen Anschlag begünstigt hat. Uns fehlt es an einem politischen Willen, hier aufzuklären, aktiv zu handeln und vor allen Dingen Gefährder und Personen, die hier nicht bleibeberechtigt sind, außer Landes zu schaffen.
Ein Blick auf die Berliner Polizei: Die rot-rot-grüne Regierung von Berlin hat eine Schneise der Verwüstung in der deutschen und in der Berliner Sicherheitslandschaft hinterlassen. Und um die Frage zu beantworten: Nein, Anis Amri war kein reiner Polizeifall, und nein, er war kein Einzeltäter. Es gibt seit 2017 einen internationalen Haftbefehl gegen eine Person, die sich mutmaßlich noch in Nordafrika aufhält.
Die Frage nach dem Anschlag selber: Ja, dieser Anschlag hätte verhindert werden können. Was ist daran schuld? Die offenen Grenzen, die Politik der offenen Grenzen. Dies war ein historischer Fehler. Das ist im Ausschuss leider viel zu wenig berücksichtigt worden. Es gibt alternative Erklärungsversuche. Der „Spiegel“ hatte darüber berichtet: Anfang 2017 hat ein Luftschlag auf libysche Stellungen stattgefunden, bei dem Terroristen getötet worden sind. Ich stelle die Frage: Ist es vielleicht so gewesen, dass man die Kommunikation von Anis Amri überwacht, angezapft, benutzt hatte, um Bewegungsdaten und Information zu bekommen? War dieser Anschlag vielleicht ein Kollateralschaden unserer Nachrichtendienste?
Frau Merkel hat ein Versprechen abgegeben. Ich stelle fest: Dieses Versprechen nach Aufklärung wurde nicht eingelöst. Ich sage: Frau Bundeskanzlerin, schämen Sie sich.
An dieser Stelle bleibt mir nur noch, den Hinterbliebenen und Opfern mein Beileid, mein Mitgefühl auszusprechen; nicht nur meins, sondern meiner ganzen Fraktion. Ich bitte im Namen unserer Wähler alle Hinterbliebenen, alle Opfer um Verzeihung für die Fehler dieser Regierung und unserer Sicherheitsbehörden. Ich verneige mich hier stellvertretend dafür.
Vielen Dank.
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Dr. Fritz Felgentreu, SPD, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Damen und Herren Gäste, die wir als Angehörige der Toten vom Breitscheidplatz und als Verletzte des Anschlags heute eingeladen haben! Ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind. Es war der Gedanke an das von Ihnen erlittene Unrecht, an Ihren unwiederbringlichen Verlust, der uns Abgeordneten bei unserer Arbeit in den letzten dreieinhalb Jahren ein ständiger Begleiter und Mahner war.
Wenn wir heute darauf zurückblicken, dann können wir ein schlüssiges Bild von den Zusammenhängen zeichnen. Unklarheiten in manchen Details beeinträchtigen das Ergebnis im Ganzen nur wenig. Gleichzeitig sind wir weit davon entfernt, unsere Arbeit mit einem Gefühl der Befriedigung zu den Akten zu legen. Wir haben im Gegenteil ein schärferes Bewusstsein für das Ungenügen, das aus dem Anspruch der Innenpolitik erwächst, Sicherheit für die Menschen im Lande zu garantieren. In einem freien Land wird der Staat diesen Anspruch nie in vollem Umfang gerecht werden können, aber in einer Diktatur erst recht nicht.
Der Auftrag des Untersuchungsausschusses war es, nachzuvollziehen, wie es dem Attentäter gelingen konnte, seine Mordtat zu verüben, wie effektiv die zuständigen Behörden nach der Tat aufgeklärt und Missstände beseitigt haben und welche Schlussfolgerungen für die Zukunft aus unseren Erkenntnissen zu ziehen sind. Über den Ertrag von fast 150 Vernehmungen und 450 Stunden Beweisaufnahme haben wir einen umfangreichen Bericht vorgelegt, den der Vorsitzende des Ausschusses, Herr Kollege Gröhler, am Montag dem Herrn Bundestagspräsidenten übergeben hat. An dieser Stelle möchte ich mich deshalb aus der Sicht der SPD-Fraktion auf die zentralen Punkte konzentrieren.
Klar ist, dass die besonderen Umstände der Jahre 2015 und 2016 Amris Plan begünstigt haben. Die Einwanderung von über 1 Million Menschen in kurzer Zeit hat nicht nur den Grenzschutz überfordert, auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Polizeien des Bundes und der Länder, das Bundeskriminalamt und nicht zuletzt das Bundesamt für Verfassungsschutz wurden über ihre Belastbarkeit hinaus beansprucht. Dass sich unter Hunderttausenden normalen Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben auch Terroristen befanden, war zwar als abstrakte Gefahr erkannt und durch die schrecklichen Anschläge in Brüssel, Nizza und Paris bestätigt worden. Auch gelang es, einzelne Verdächtige zu identifizieren, sodass die Zahl der sogenannten Gefährder in den Akten der Sicherheitsbehörden sprunghaft anstieg. Aber die Kapazitäten wuchsen nicht im gleichen Maßstab mit. Es kam zur Überlastung des Personals und damit notwendigerweise zu Defiziten in der Bearbeitung von Einzelfällen.
Das hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Kooperation zwischen den Sicherheitsbehörden. Damit Geheimdienste und Polizeibehörden des Bundes und der Länder ihr Vorgehen besser aufeinander abstimmen können, gibt es seit über 15 Jahren das gemeinsame Terrorabwehrzentrum GTAZ in der Treptower Puschkinallee. Elfmal war Anis Amri hier Thema. Immer wieder wurden hier Zuständigkeiten diskutiert und geklärt, Maßnahmen erwogen und ausgewertet, aber am Ende ohne Erfolg.
Der Plan, den Gefährder abzuschieben, schlug fehl. Am Ende schlüpfte er durch die Maschen der Netze, die ihn halten sollten. Eine Fehleinschätzung, die sicherlich keine Polizei in Deutschland so noch einmal wiederholen wird, half ihm dabei. In Berlin fristete Amri sein Dasein als Drogenhändler. Damit verblasste im Bewusstsein der zuständigen Beamten das Bild des terroristischen Gefährders vor dem des Kleinkriminellen, wie es sie hier in der großen Stadt zu Hunderten gibt. Formal änderte sich nichts an der Einschätzung seiner Gefährlichkeit, aber man nahm ihn weniger ernst. Dass jemand mit Drogen handeln und trotzdem ein gewaltbereiter Islamist sein kann, konnten sich damals nur wenige vorstellen, zum Beispiel beim LKA NRW. Heute weiß man es. Zu spät für die zwölf Menschen, die Sie betrauern.
Mir lässt es keine Ruhe, dass in der kritischen Phase im Herbst 2016, als das Berliner Landeskriminalamt mit seinem Latein am Ende war und die Rechtsgrundlagen für die polizeiliche Überwachung Amris ausliefen, nie geprüft wurde, ob der Verfassungsschutz hätte in die Bresche springen können. Die rechtlichen Voraussetzungen dafür waren erfüllt. Wäre Amri aufgehalten worden, wenn das BKA den Fall früher übernommen hätte, wenn der Bundesnachrichtendienst die lybischen Telefonkontakte im Februar sorgfältiger überprüft hätte, wenn der Verfassungsschutz im Oktober den Hinweisen aus Marokko weniger halbherzig nachgegangen wäre? Wir werden es nie erfahren.
Sicher widerlegen konnten wir aber die These, die der damalige Präsident des Verfassungsschutzes, Maaßen, nach dem Anschlag vertreten hat, Amri sei ein „reiner Polizeifall“ gewesen. In Wirklichkeit war der Verfassungsschutz seit Februar 2016 mit ihm befasst. Amri war in ein islamistisches Netzwerk in Deutschland eingebunden. Er hatte noch während der Tat Kontakt mit einem Mentor des IS, der ihn von Libyen aus betreute. Für Mutmaßungen, es habe in dem Lkw oder am Ort des Anschlags mindestens einen Mittäter gegeben, gibt es allerdings keine Beweise.
Viele Schwächen, die Amri ausgenutzt hat, um vor Verfolgung geschützt zu bleiben, sind inzwischen behoben. Im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum ist eine größere Verbindlichkeit bei der Zusammenarbeit erreicht worden. Eine neue Arbeitsgruppe „Risikomanagement“ verbessert die Fähigkeiten, drohende Gefahr richtig einzuschätzen. Die Basis dafür ist das Risikobewertungsinstrument RADAR-iTE, das die Polizei seit 2017 nutzt. Noch wichtiger ist sicherlich der Personalaufwuchs im Bereich Staatsschutz und Verfassungsschutz sowohl im Bund wie in den Ländern. Gerade das Land Berlin hat hier große Anstrengungen unternommen und in einem eigenen Terrorabwehrzentrum Experten für alle Aufgaben der Gefahrenabwehr und der Telekommunikationsüberwachung zusammengeführt. Ich bedanke mich dafür und für seine Anwesenheit beim Staatssekretär Akmann.
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Den Berliner Einsatzkräften war es am Abend des Anschlags relativ schnell gelungen, die Lage vor Ort zu kontrollieren und Verletzte zu versorgen. Man verhielt sich im Sinne des geltenden Rechts auch korrekt gegenüber Menschen, die Angst um ihre Angehörigen hatten, allerdings gab es mit ihnen einen wenig empathischen, oft zu förmlichen Umgang. Wer seine Eltern vermisst, braucht in dem Moment keine Belehrungen über die Standards, die bei der Identifizierung eines Leichnams einzuhalten sind. Um den Bedürfnissen der Geschädigten besser gerecht zu werden, haben Bund und Länder Beauftragte berufen, die den Menschen selbst, aber auch den Behörden mit Rat und Tat zur Seite stehen.
Wie Amri aus Berlin geflohen ist und woher er seine Tatwaffe hatte, konnte der Ausschuss nicht klären. Es wird wahrscheinlich auch nicht mehr zu klären sein. Alle substanziellen Spuren sind ausermittelt worden. Einen Durchbruch könnten nur neue Zeugen bringen, die aber nicht zu erwarten sind. Es wäre aber auch ein überzogener Anspruch, dass es gelingen könnte, jedes Detail des Geschehens vollständig aufzuklären.
Am Ende unseres langen Weges stehen wir vor der Grundfrage der Innenpolitik, wieviel Sicherheit der Staat uns allen schuldig ist. Der Bund und seine Länder ergänzen einander zu einer Effektivität, die dem Terror selten den Freiraum lässt, um Unheil anzurichten. Unser letzter Zeuge, der selbst aus der islamistischen Szene in Berlin kommt, sagte uns, dass er so einen Anschlag in Deutschland nicht für möglich gehalten hätte. Er ist aber möglich geworden. An diesem Wintertag in Berlin hat unser Staat seine Bürgerinnen und Bürger und ihre Gäste nicht so geschützt, wie sie es erwarten konnten. Dafür möchte ich Sie, meine Damen und Herren, auch im Namen der SPD-Fraktion um Vergebung bitten.
Abschließend möchte ich mich bei dem Ausschussvorsitzenden, Herrn Gröhler, und seinem Stellvertreter, meinem Kollegen Özdemir, für ihre kompetente und geduldige Leitung bedanken. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussbüros danke ich für ihre Herkulesarbeit und ihre Engelsgeduld. Auch der Bundesregierung und den Zeuginnen und Zeugen danke ich für ihre Bereitschaft, unsere Ermittlungen über einen Zeitraum von dreieinhalb Jahren zu unterstützen.
Es ist mir eine Ehre, dass ich in diesem wichtigen Untersuchungsausschuss mitarbeiten durfte und dass ich gerade mit dieser Rede auch den Schlusspunkt meines Wirkens an diesem Pult setzen kann.
Ich danke Ihnen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor allem: Liebe Opfer und Hinterbliebenen, es ist eine große Ehre für uns, dass Sie heute hier sind und der Debatte folgen. Vielen Dank dafür!
Unsere Arbeit startete vor drei Jahren mit einem großen Versprechen der Frau Bundeskanzlerin, nämlich mit einem Versprechen der detaillierten und umfassenden Aufklärung. Herr Innenminister, Sie hatten dieses Versprechen nach der Hälfte der Arbeit dieses Untersuchungsausschusses mit Ihrer Forderung nach maximaler Transparenz erneuert. Das, was Sie wissen, sollte auch dieser Untersuchungsausschuss wissen – das waren Ihre Worte. Was wir allerdings im Untersuchungsausschuss seitens der Bundesregierung erlebt haben, war eine Aufklärung mit angezogener Handbremse: Akten, die massiv geschwärzt wurden, Seitenteile, die entnommen wurden, Akten, die zu spät oder gar nicht geliefert wurden, wichtige Zeugen wie der V-Mann-Führer der Berliner Fussilet-Moschee, der uns bis heute vorenthalten worden ist. Diese Verweigerungshaltung der Bundesregierung hat dazu geführt, dass wir eben nicht alle Steine umdrehen konnten, die wir hätten umdrehen sollen, und das ist auch eine bittere Bilanz dieses Untersuchungsausschusses.
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Was aber unsere Arbeit ans Licht gebracht hat, wirft fundamentale Fragen an die Organisation unserer inneren Sicherheit in Deutschland auf. Im Zusammenhang mit dem Anschlag vom Breitscheidplatz scheiterten eben nicht Einzelne; es scheiterte eine Struktur. Deswegen ist die Einführung des Staatstrojaners oder die Forderung nach pauschaler personeller Aufstockung von Sicherheitsbehörden eben nicht die richtige Antwort auf den Anschlag vom Berliner Breitscheidplatz. Nach dem NSU-Skandal, nach diesem Anschlag müssen wir uns endlich diesem systemischen Versagen widmen und dieses systemische Versagen in den Strukturen beheben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir haben in Deutschland 40 Sicherheitsbehörden, die teilweise – das zeigt sich, wenn wir auf die Länder blicken – viel zu klein sind, um die Aufgaben, die sie erledigen sollen, überhaupt noch zu stemmen.
Ein schillerndes Beispiel aus unserer Untersuchungsausschussarbeit war der Verfassungsschutz in Mecklenburg-Vorpommern mit seinen 70 Mitarbeitern, wo über Jahre hinweg in mehreren Fällen sich nicht an geltendes Recht gehalten worden ist, wo nach dem Anschlag ein Hinweis auf mögliche Hintermänner, Unterstützer von Anis Amri entgegen einer gesetzlichen Verpflichtung nicht an die Polizeibehörden weitergegeben worden ist, wo Polizeiarbeit hintertrieben wurde, wo Ministerien und Parlamente nichts davon mitbekommen haben. Ein solches Eigenleben von Verfassungsschutzbehörden können wir nicht tolerieren. Deswegen müssen wir hier gesetzgeberisch tätig werden und die parlamentarische Nachrichtendienstkontrolle nachschärfen. Das ist ein wesentlicher Baustein unserer Erkenntnisse. Wir haben ja mit der Einsetzung eines Nachrichtendienstbeauftragten einen konkreten Vorschlag gemacht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Strukturelle Defizite haben sich aber auch bei der Führung von Vertrauenspersonen, also Spitzeln aus extremistischen Szenen, gezeigt: 40 Spitzel von sieben Sicherheitsbehörden beim NSU, die zehn Jahre lang nichts gewusst haben wollen, acht Spitzel bei Anis Amri, die über eineinhalb Jahre nichts gewusst haben wollen, eine VP01, die als einzige Hinweise geliefert hat, die man in den Sicherheitsbehörden großenteils gar nicht ernst genommen hat, eine Vertrauensperson, die man über 15 Jahre hinweg alimentiert hat, bei der man Straftaten geduldet hat. Wer Vertrauenspersonen will – und ich will sie –, der muss doch jetzt zu dem Schluss kommen, dass eine gesetzliche Grundlage für Vertrauenspersonen gerade im Bereich der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr notwendig ist. Und auch das ist ein Ergebnis unserer Untersuchungsausschussarbeit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Man könnte hier noch viel zum Thema der Analysefähigkeit von Sicherheitsbehörden sagen. Und da komme ich zu anderen Einschätzungen als Herr Felgentreu, was das Thema „unislamisches Verhalten“ und „How to Survive in the West“ angeht. Es zeigt sich, dass das Fachwissen in Deutschland sehr unterschiedlich verteilt ist und dies ein ganz klarer Fehler war oder dass man Chats des Attentäters – verschlüsselte Telegram-Chats, die man hatte – überhaupt nicht ausgewertet hat. Das ist ein Problem in der Struktur. Deswegen müssen wir auch Strukturen angehen.
Ich möchte aber die letzte Minute meiner Rede Ihnen widmen, den Opfern und Hinterbliebenen. Was Sie uns nach dem Anschlag berichtet haben, wie es Ihnen ergangen ist, das ist wirklich beschämend. Ich glaube, dass wir in Deutschland immer noch nicht optimal auf terroristische Anschläge vorbereitet sind, was einen mitfühlenden, einen respektvollen, vor allem einen unterstützenden Umgang mit Ihnen, den Opfern und Hinterbliebenen, angeht. Ich glaube nicht, dass Opferbeauftragte allein ausreichen. Wir brauchen eine echte Ombudsstelle, die auch über die Jahre hinweg Ansprechpartner ist, die Hilfe dabei leistet, finanzielle Ansprüche geltend zu machen. Deswegen schlagen wir unter anderem vor, die bereits existierende Koordinierungsstelle für den Opferschutz, NOAH, auszubauen, gerade auch im Hinblick auf terroristische Anschläge in Deutschland.
Ein zweiter Punkt, der mir wichtig ist: Sie sind nach diesem Anschlag nicht vergessen. Andere Länder wie Spanien und Frankreich haben einen besseren Umgang mit Opfern. Der 11. März ist der Europäische Gedenktag für die Opfer des Terrorismus. Ich finde, es würde uns gut anstehen, wenn wir diesen Tag, den 11. März, auch hier in Deutschland zu einem nationalen Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt machten. Egal ob die Opfer des NSU, egal ob die Opfer von Istanbul, egal ob die Opfer vom Breitscheidplatz – wir werden sie nicht vergessen, auch nach dem Ende dieses Untersuchungsausschusses nicht.
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Wir haben nach dem NSU die Chance auf strukturelle Reformen verpasst. Eine Zusage der Bundesregierung ist aber noch offen. Herr Seehofer, Sie hatten gesagt, Sie werden sich ganz genau anschauen, was dieser Untersuchungsausschuss in seinem Abschlussbericht ausführt, und entsprechend handeln. Jetzt liegt es an Ihrem Nachfolger oder Ihrer Nachfolgerin, strukturelle Konsequenzen zu ziehen.
Ich sage dieser Bundesregierung und der kommenden zu: Wenn es um eine echte Reform der föderalen Sicherheitsarchitektur geht, wenn es um mehr parlamentarische Kontrolle geht, wenn es um einen besseren Opferschutz geht, haben Sie die Unterstützung der Freien Demokraten. Und ich würde mich freuen, wenn wir die Lehren aus diesem Anschlag dann auch tatsächlich ziehen.
Vielen herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Benjamin Strasser. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Martina Renner.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren der demokratischen Fraktionen! Der 1. Untersuchungsausschuss dieser Legislatur ist mit der Aufgabe angetreten, die Hintergründe des Anschlags auf dem Breitscheidplatz lückenlos aufzuklären. Wir hatten den Anspruch, die im Vorfeld des Anschlags begangenen Fehler der Sicherheitsbehörden konkret zu benennen. Und wir hatten den Auftrag, Vorschläge zu unterbreiten, wie die Sicherheit in diesem Land verbessert werden kann. Die Bundesregierung gab den Hinterbliebenen der zwölf Getöteten und den vielen Verletzten ein Versprechen: die Aufklärungsarbeit des Ausschusses uneingeschränkt zu unterstützen.
Wir haben als Ausschuss festgestellt: Der Attentäter war vor der Tat in islamistische Strukturen in Deutschland eingebunden. Er hat mit den relevantesten Personen der Szene engsten Kontakt gehabt. Er hat versucht, sich die zur Durchführung der Tat notwendigen Mittel zu beschaffen, und er hat monatelang auf den Moment gewartet, diesen Anschlag zu begehen. Die Zuständigen hatten von all diesen Dingen Kenntnis und haben dennoch nicht rechtzeitig gehandelt.
Aufseiten der Polizei wurden durchweg – das gilt für die LKA wie auch für das Bundeskriminalamt – falsche Bewertungen vorgenommen und fahrlässig die notwendigen Maßnahmen nicht getroffen. Die Geheimdienste hatten mehr Informationen über den Attentäter und sein Umfeld, als unmittelbar nach dem Anschlag und auch bis heute von ihnen zugegeben.
Der Attentäter des Anschlages hat nicht alleine gehandelt. Er wurde vor seiner Tat in Deutschland ideologisch geschult, logistisch wie finanziell unterstützt. Er war kein Einzeltäter. Dass dies herausgearbeitet wurde, ist Verdienst der demokratischen Opposition im Untersuchungsausschuss.
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Aber die Sicherheitsbehörden klammern sich an dieses Bild des Einzeltäters. Warum eigentlich? Wenn man mit dieser falschen Konzeption des Einzeltäters weitermacht, wird man zukünftigen Terror nicht verhindern können. Die Fiktion des alleine in einem Vakuum agierenden Terroristen gefährdet im Vorfeld des Anschlages dessen Verhinderung und im Nachgang die vollständige und erfolgreiche Aufklärung. Die falsche Vorstellung des spontan radikalisierten Einzeltäters muss ersetzt werden durch ein Verständnis für die teilweise sogar europäisch vernetzten und agierenden Strukturen, für die Wege der Waffenbeschaffung und dafür, wie sich innerhalb der Szene unterstützt wird und Anschläge vorbereitet werden. Solange die Sicherheitsbehörden nicht bereit sind, diese veränderte Perspektive auf terroristische Strukturen einzunehmen, wird die Gefahr nicht gebannt.
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Dies lässt sich meiner Meinung nach gut am Beispiel der Geheimdienste erklären, quasi wie unter einem Brennglas. Formal ist der Geheimdienst eine Behörde oder eine Abteilung eines Innenministeriums und müsste all sein Handeln auch der parlamentarischen Kontrolle unterwerfen. Aber vom Selbstverständnis und der Arbeitskultur her wird sich dieser parlamentarischen und demokratischen Kontrolle permanent widersetzt. Dabei – das haben wir leider auch sehr schmerzhaft im Untersuchungsausschuss feststellen können – wird der Geheimdienst manchmal auch von Teilen des Parlamentes aktiv unterstützt. Das war auch Realität in unserer Aufklärungsarbeit.
Ich frage mich manchmal – das geht an einige Kollegen und Kolleginnen hier –: Auf welcher Seite steht ihr als Abgeordnete? – Ich hatte manchmal das Gefühl, dass ihr nicht aufseiten des Parlamentes steht. Dennoch – auch gegen diese Widerstände aus der Bundesregierung und auch aus Teilen der Großen Koalition – konnten wir aufklären, dass bei den Geheimdiensten viel mehr Informationen über den Attentäter vorlagen, als diese zuerst zugegeben haben. Diese Hinweise sind teilweise illegal und vorsätzlich nicht an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet worden.
Ein weiteres Problem: Der Attentäter war quasi umstellt von Spitzeln. Hier haben wir ganz klar die Problematik bestätigt gesehen, die wir auch aus rechtsterroristischen Komplexen kennen: Das V-Leute-System ist nach unserer Meinung, nach Meinung der Linksfraktion, nicht reformierbar und muss als erster Baustein auf dem Weg zu einem Verfassungsschutz ohne geheimdienstliche Befugnisse abgeschafft werden.
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Sehr geehrte Damen und Herren, das grundsätzliche Problem des Verhältnisses der Regierung zum Parlament im Zusammenhang mit Untersuchungsausschüssen hat sich meiner Meinung nach in den letzten Jahren verschärft. Von rückhaltloser Aufklärung kann nicht die Rede sein. Akten sind zurückgehalten worden, Zeugen und Zeuginnen sind zurückgehalten worden. Hier wird oft mit dem Staatswohl argumentiert. Ich meine: Was kann eigentlich mehr im Interesse der Demokratie und der Gesellschaft und damit auch des Staates liegen, als alles dafür zu tun, Fehler von Behörden aufzuarbeiten und Terrorabwehr zu verbessern?
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Würdiges Gedenken meint immer auch, Aufklärung nie abzuschließen, Mittäter entschieden zu ermitteln und den Erwartungen von Opfern und Hinterbliebenen gerecht zu werden. Nach drei Jahren gilt mein Mitgefühl den heute hier teilweise auch anwesenden Angehörigen der Getöteten und den vielen Verletzten des Anschlages vom Breitscheidplatz.
Die Aufgabe des Parlamentes in der nächsten, in der 20. Legislatur, wird es sein, auch in Erinnerung an diese Menschen, mithilfe einer besseren parlamentarischen Kontrolle der Sicherheitsbehörden den Weg zu einer besseren, allgemein strukturellen Ausrichtung der Sicherheitsbehörden fortzusetzen.
Die Aufgabe wird sein, die Rechte der Opfer weiter zu verbessern und das Untersuchungsausschussrecht im Sinne von Rechtsdurchsetzung und Transparenz zu stärken.
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Vielen Dank, Martina Renner. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Dr. Irene Mihalic.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Heute beenden wir den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum bisher schlimmsten islamistischen Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Und auch, wenn nach über drei Jahren Arbeit noch viele Fragen offen sind, so konnten wir doch fünf zentrale Punkte herausarbeiten:
Punkt eins. Die Bundessicherheitsbehörden tragen einen großen Teil der Verantwortung. Zu Unrecht hat die Bundesregierung nach dem Anschlag mit dem Finger in so ziemlich alle Richtungen gezeigt, vor allem in die Länder Nordrhein-Westfalen und Berlin, nur nicht auf sich selbst.
Punkt zwei. Der Anschlag hätte verhindert werden können, wenn man im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum die Gefährlichkeit Anis Amris richtig eingeschätzt hätte. Es gab konkrete Hinweise, dass er Anschläge begehen wollte. Doch diese Hinweise wurden nicht richtig analysiert.
Punkt drei. Amri war kein Einzeltäter und auch kein Kleinkrimineller. Er war Teil eines dschihadistischen Netzwerks mit direktem Draht zum IS, und er hat sich sogar noch am Anschlagstag über mehrere Stunden hinweg mit anderen Gefährdern getroffen; auch das wurde weitgehend ausgeblendet. Dass also mögliche Mitwisser, Unterstützer und vielleicht sogar Mittäter immer noch auf freiem Fuß sein könnten, ist eine relevante Gefahr, meine Damen und Herren.
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Punkt vier. Anis Amri war kein reiner Polizeifall. Der damalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, hat gebetsmühlenartig immer wieder das Gegenteil behauptet. Heute ahnen wir, warum: Kurz vor dem Ende dieses Untersuchungsausschusses wurden im Bundesamt für Verfassungsschutz noch Akten gefunden, die uns schon vor drei Jahren hätten geliefert werden müssen. Jetzt wissen wir: Das BfV war schon 2015 an Anis Amri und seinem Umfeld dran, sogar bis kurz vor dem Anschlag; aber es hat nicht alles getan, um zu verhindern, dass Amri vom Radar verschwindet.
Punkt fünf. Das Bundeskriminalamt hat nach dem Anschlag nur das ermittelt, was nötig war, um die These vom Einzeltäter zu bestätigen. DNA-Spuren, Bewegungsdaten, Kontakte zur Organisierten Kriminalität oder zu anderen Gefährdern, von wem er das viele Geld, die Drogen und auch die Waffe bekam – bei der Frage, ob Amri noch Komplizen hatte, wurde eben nicht jeder Stein umgedreht, ganz nach dem Motto: Der Täter ist tot, der Fall ist gelöst. – Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, die vielen ungeklärten Fragen sind weiterhin eine offene Wunde, die es nach und nach zu heilen gilt.
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Die gute Nachricht ist, dass wir das auch können, wenn wir die notwendigen Konsequenzen entschlossen ziehen, wie wir sie in unserem Abschlussbericht aufgezeigt haben. Die Lehren aus diesem schrecklichen Anschlag zu ziehen, das schulden wir nicht zuletzt den Opfern und Hinterbliebenen, denen unser ganzes Mitgefühl gilt.
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Zum Schluss möchte ich mich bei den anderen Mitgliedern des Untersuchungsausschusses, insbesondere der demokratischen Opposition, bedanken und bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, ohne die wir diese wichtige Aufklärungsarbeit nicht hätten leisten können.
Ganz herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Irene Mihalic. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Volker Ullrich.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dass Sie als Angehörige der Opfer heute auf der Ehrentribüne Platz genommen haben, ist für uns eine Ehre. Wir können Ihnen so deutlich machen, wofür wir in vielen Hundert Stunden gearbeitet haben: dafür, Antworten zu finden auf Ihre berechtigten Fragen, für das Anliegen, aufzuklären, dafür, dass der Staat nicht ruhen darf, bis alle offenen Fragen geklärt sind. Das macht nichts ungeschehen und ist kein Trost. Aber nehmen Sie uns ab, dass wir stellvertretend für das gesamte Hohe Haus nicht ruhen wollten, bis wichtige Fragen geklärt und die entscheidenden Konsequenzen daraus gezogen worden sind.
Das Erste, was uns umgetrieben hat, war der Umgang mit den Angehörigen der Opfer. Dieser war völlig indiskutabel, ja würdelos. Wenn es keine Ansprechpartner, keine Informationen gab und wenn manche Angehörige als Allererstes vom Staat Rechnungen für gerichtsmedizinische Untersuchungen bekommen haben, dann ist das etwas, was uns heute noch beschämen muss. Auch dafür bitte ich um Vergebung.
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Aber es sind auch Lehren daraus gezogen worden. Nicht nur die Einrichtung des Amtes eines Opferbeauftragten oder die Reform des Sozialen Entschädigungsrechts, sondern auch die Einführung des Amtes eines Opferstaatsanwalts zeigen: Der Staat darf künftig Opfer nicht alleinlassen. Der Opferschutz muss im Mittelpunkt der Politik stehen.
Eine Frage, die sich bei dieser Debatte natürlich stellt und auch während der vielen Hundert Stunden gestellt hat, ist: Ist diese Tat zu verhindern gewesen? Auf diese hypothetische Frage gibt es keine abschließende Gewissheit. Aber es drängt sich auf, dass zahlreiche Fehler und Fehleinschätzungen in den Strukturen, aber auch auf ganz persönlicher Ebene es letztlich ermöglicht haben, dass es zu dieser Tat kommen konnte, ohne dass es einen einzigen Verantwortlichen gab.
Es beginnt mit der Einreise. Der Attentäter war bereits in Italien wegen einer schweren Gewalttat vorbestraft. Nur war das niemandem bekannt, weil diese Information nicht in den Datensystemen eingespeist war. Dieser Ausschuss hat offengelegt, dass wir im Schengen-Raum, in Europa einen besseren Datenaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden brauchen. Diese Forderung ist in den letzten Jahren bereits erfüllt worden. Das bitte ich zur Kenntnis zu nehmen.
Aber wichtig ist auch, festzuhalten, dass weitere aufenthaltsbeendigende Maßnahmen nicht durchgeführt worden sind, auch wenn das das damals bereits geltende Recht hergab. Es geht also nicht nur darum, den rechtlichen Rahmen zu schaffen, sondern auch darum, dafür zu sorgen, dass das geltende Recht auch angewandt wird. Nichtsdestotrotz haben wir weitere Verbesserungen geschaffen über Datenaustausch bis hin zum neuen Ausländerzentralregister, damit die Ausländerbehörden bei aufenthaltsbeendigenden Maßnahmen stärker von ihren Befugnissen Gebrauch machen und wir Gefährder schneller außer Landes bringen können.
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Wir müssen auch feststellen, dass die Gefährlichkeit des Attentäters offenkundig war. Die islamistische Gesinnung war bekannt. Eine der größten Fehleinschätzungen war, dass man angenommen hat, er sei wegen des Drogenhandels kein potenzieller Terrorist mehr. Deswegen wurde im Herbst 2016 die Überwachung auch beendet – eine fatale Entscheidung. Er war fast ein Dutzend Mal Thema im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum.
Die Frage ist: Sind Lehren daraus gezogen worden? Die Antwort ist: Ja. Die Organisation des Gemeinsamen Terrorabwehrzentrums ist verbessert worden, die Berichtspflicht ist intensiver, die Protokolle sind deutlicher. Aber auch bei der Bewertung von Gefährdern sind neue Ansätze geschaffen worden. Bis zu diesem Anschlag gab es nur eine personenbezogene Bewertung. Dies hat im Ergebnis zu dieser Fehleinschätzung geführt. Jetzt werden Gefährder nicht mit neun, sondern mit 73 Merkmalen bewertet, wo auch das Umfeld mit einbezogen wird. Mit RADAR-iTE hat man ein besseres System geschaffen, um Gefährder zu überwachen und sie auf dem Schirm zu haben. Ich glaube, das ist auch eine wichtige Erkenntnis, die bereits umgesetzt ist.
Aber die Frage bleibt: Warum ist der Attentäter nicht in Haft genommen worden? Es gab verschiedene Delikte: Körperverletzung, Drogenhandel, Betrug. Ja, vielleicht war jedes Delikt für sich alleine genommen zu wenig, vielleicht lagen falsche Einschätzungen vor. Aber mittlerweile ist durch das System der Sammelverfahren ein Instrument auf justizieller Ebene geschaffen worden, dass Verfahren gebündelt werden können und dass bei Vorliegen von solchen Straftaten eine Untersuchungshaft und eine Aburteilung möglich erscheinen. Auch das hat sich durch diesen Untersuchungsausschuss geändert.
Was ist noch wichtig? Ich glaube, wir müssen uns insgesamt nach wie vor der Bedrohung stellen. Wir müssen gewahr werden, dass die Bedrohungen für diesen freiheitlichen Rechtsstaat durch Extremisten jeder Art stark sind, dass sie groß sind. Rechtsextremismus, Linksextremismus, aber auch der Dschihadismus, der islamistische Extremismus, sind eine Gefahr. Dem müssen wir begegnen durch Kompetenz und durch Personal. Deswegen freut es mich, dass es uns in den letzten Jahren gemeinsam gelungen ist, in den Sicherheitsbehörden mehr Personalstellen zu schaffen. Aber mehr Personal allein reicht nicht aus. Wir brauchen die entsprechenden rechtlichen Kompetenzen und Befugnisse. Wir brauchen auch einen Verfassungsschutz, der diese Strukturen in den Blick nimmt und die entsprechenden rechtlichen Möglichkeiten hat.
Aber es geht auch um Prävention und Deradikalisierung. Kein Mensch wird als Islamist geboren. Menschen werden dazu, sie werden verführt und radikalisiert. Auch das muss der Staat angehen, damit niemand zu einem Gefährder wird.
Insgesamt ist zu sagen, dass die Arbeit in diesem Untersuchungsausschuss von einem großen kollegialen Miteinander geprägt war, von der gemeinsamen Überzeugung, Antworten zu finden und Antworten zu liefern. Das sind wir unserer gemeinsamen Überzeugung schuldig, aber vor allen Dingen auch den Opfern und ihren Angehörigen. Ihnen gehört heute noch einmal unsere Anteilnahme.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Volker Ullrich. – Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Dr. Konstantin von Notz.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Angehörige, Hinterbliebene, Freundinnen und Freunde der Opfer, wir können nicht mal erahnen, wie groß die Trauer, der Schmerz und die Dunkelheit sein müssen für Sie, die Sie einen geliebten Menschen verloren haben, physisch verletzt und traumatisiert wurden. Deswegen danke, dass Sie hier heute bei uns und mit uns sind. Ihnen allen gilt unser volles Mitgefühl und unsere ganze Solidarität!
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Wir wissen auch um die enormen Leistungen aller Einsatzkräfte am Anschlagsort. Den Rettungskräften, den Ersthelferinnen, den Polizistinnen und Polizisten, bei denen dieses Verbrechen unauslöschliche Spuren hinterlassen hat, Ihnen allen gilt unser großer Dank.
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Unser Ausschuss hat versucht, den Hintergründen der Terrortat vom Breitscheidplatz auf den Grund zu gehen. Wie konnte es dazu kommen – das ist angeklungen –, dass ein bekannter Islamist, der voll im Fokus der Behörden stand, ein Gefährder, den schwersten islamistischen Anschlag der deutschen Geschichte begehen konnte? Ich kann sagen: Wir Fraktionen der Opposition, wir von den Grünen zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen von der Linken und der FDP, haben wirklich versucht, aufzuklären, jeden Stein umzudrehen, an jedem Baum zu rütteln, alles gegen das Licht zu halten. Es sind zahlreiche neue Zusammenhänge und Fakten offenbar geworden; aber auf viele Fragen, auf zu viele Fragen, haben wir keine Antworten gefunden. Das treibt uns um, und das kann uns keine Ruhe lassen.
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Einen Punkt möchte ich herausgreifen: die V-Leute. Ob beim Oktoberfestanschlag, beim Buback-Mord der RAF, beim NSU oder auch hier beim Anschlag auf dem Breitscheidplatz: Geheimhaltung und Quellenschutz – alles gut und richtig. Aber nach solch gravierenden Terrortaten, Herr Seehofer, gab es praktisch keine Akten und viele Schwärzungen, keine Zeugeneinvernahmen der Quellen, noch nicht mal der V-Mann-Führung. Herr Minister, das ist eine massive Behinderung unserer Arbeit, und das bei einem Organ der ersten Gewalt mit einer Aufklärungslegitimation unmittelbar aus der Verfassung. Die Policy der Bundesregierung, diesen Bereich komplett der parlamentarischen Kontrolle zu entziehen, ist vollkommen inakzeptabel.
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Zum Schluss. Der staatliche Umgang – auch das wurde gesagt – mit Opfern und Hinterbliebenen von Anschlägen und bei großen Unglücksfällen von nationaler Tragweite muss sich gravierend ändern. Wir haben von den Hinterbliebenen des Anschlags herzzerreißende und tief verstörende Geschichten gehört, wie sie teilweise den Umgang des deutschen Staates mit ihnen erlebt haben. Explizit ausnehmen von der Kritik möchte ich Kurt Beck und ihm für seine Arbeit danken.
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Aber es fehlt zu häufig – ob beim NSU, in Hanau, in Halle, beim Germanwings-Absturz oder dem Breitscheidplatz-Attentat – an einem geordneten, würdigen, empathischen Umgang mit den Opfern und Hinterbliebenen. Ihnen begegnet zu oft ein kalter, bürokratischer Staat, der nicht in der Lage ist, den Menschen angemessen zu begegnen. Wir müssen das ändern.
Ganz herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Konstantin von Notz. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Mahmut Özdemir.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Hinterbliebene, die Sie Todesopfer beklagen! Sehr geehrte Damen und Herren, die Sie Verletzungen an Leib und Seele davongetragen haben! So wie Ihr Verlust, Ihre Verletzung Teil Ihres Lebens ist, so ist dieser Anschlag Teil der Staatsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und auch Teil unseres Lebens geworden, die wir im parlamentarischen Untersuchungsausschuss gemeinsam – bis auf vielleicht eine Ausnahme – mit dem Anspruch auf Würde der Opfer diese Bürde der Aufklärung verfolgt haben.
Ihre Verluste, Ihre Verletzungen sind tiefe Wunden. 12 ermordete Menschen, über 170 Verletzte rissen eine mindestens genauso tiefe Wunde in die Seele der freiheitlich-demokratischen Grundordnung dieses Landes. Menschen, die bei unseren Sicherheitsbehörden, in Ministerien und in Parlamenten in Verantwortung stehen, tragen ebenso Wunden davon, nämlich die Wunden aus der Verantwortung dafür, dass so ein Anschlag auf deutschem Boden geschehen konnte. Für diejenigen, die den Verlust eines Menschen beklagen, wird diese Wunde nie heilen. Die verletzten Überlebenden werden versuchen, die Wunden zu schließen, sodass sich die Schmerzen mit der Zeit lindern.
Jeden Donnerstag in Sitzungswochen haben wir in diesem Untersuchungsausschuss über drei Jahre versucht, durch Aufklärung zur Linderung beizutragen: Aufklärung dessen, was passierte, als ein sittlich verkommener 24-jähriger Terrorist geliebte Menschen in den Tod riss und Menschen verletzte. Linderung beginnt auch da, wo man Dinge offen und ehrlich aus- und anspricht.
Erstens. Unsere Balance von Freiheit und Sicherheit stimmte nicht. Das Sicherheitsversprechen unseres Staates war löchrig. So konnte dieser Anschlag geschehen. Sicherheitsbehörden – unsere Sicherheitsbehörden – waren überfordert, weil sie zu wenig Personal hatten – ein Umstand, den wir in dieser Wahlperiode und in der letzten Wahlperiode mühsam verändert haben.
Zweitens. Wir können und dürfen Menschen mit ungeklärten Identitäten nicht frei in unserem Land herumlaufen lassen. Anis Amri hatte Alias-Identitäten in zweistelliger Höhe. Wenn Zweifel an der Identität eines Ausländers bestehen oder jemand nicht mitwirkt oder gar betrügt, dann gehört er in staatlichen Gewahrsam, bis seine Identität festgestellt werden konnte.
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Das BAMF müssen wir zu einer Identitätsfeststellungsbehörde und zu einer Identitätsfeststellungsgewahrsamsbehörde weiterentwickeln.
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Drittens. Die Zuständigkeit von Sicherheitsbehörden ist ein weiteres Thema. Der Attentäter war ein hochmobiler Gefährder. Er durchquerte NRW, Berlin, Baden-Württemberg, Niedersachsen. Zahlreiche kleine Delikte, die für sich genommen keine besondere Relevanz hatten, hätten in ihrer Summe und in ihrer Bündelung für ein Einsperren sorgen können. Die Karikatur dessen ist, dass beispielsweise Nordrhein-Westfalen sagte: „Da kommt eine gefährliche Person“, und auf der anderen Seite konnte man, während sich diese Person schon bewegte, nicht angemessen reagieren. Während der Attentäter Ländergrenzen innerhalb der Bundesrepublik übertrat, konnten wir die Grenzen des Föderalismus nicht überwinden. Auch das gehört zur Wahrheit.
Viele Enden haben wir zusammengebunden. Ein besonderer Vorfall lässt mir keine Ruhe: Der Generalbundesanwalt lädt streitende Behörden wie das LKA NRW und das Bundeskriminalamt zu einem klärenden Gespräch über die besondere Einstufung dieses Attentäters ein, um eine einvernehmliche Arbeitsgrundlage schaffen zu können. Das muss man sich vorstellen: Da werden gestandene Beamtinnen und Beamte beim Generalbundesanwalt – in Anführungsstrichen – „vorgeladen“, und dann menschelt es. Unbescholtene, tüchtige Beamte, die sich nie etwas zuschulden haben kommen lassen, haben eine Eins-zu-eins-Situation, in der der eine dem anderen sagt: „Unsere Quelle ist exzellent. Wir müssen da weiterermitteln“, und der andere sagt: „Nein, diese Quelle macht zu viel Arbeit. Sie muss kaputtgeschrieben werden.“ – Das ist eine Situation, die mich umtreibt, die mir teilweise abends vor dem Schlafengehen oder dann, wenn ich aus dem Ausschuss gekommen bin, keine Ruhe gelassen hat. Hätten wir an dieser Stelle vielleicht in Sachen Einstufung des Attentäters für die Verhinderung des Anschlages den entsprechenden Wendepunkt setzen können?
Viele Enden haben wir zusammengebunden, einige Fragen sind offen geblieben. Die abstrakten Fragen sind hier offen angesprochen worden. Nicht alles haben wir auch im Lichte der Öffentlichkeit besprechen können. Das hat teilweise damit zu tun, dass sich die Bundesregierung auf Nichtöffentlichkeit, Vertraulichkeit und Geheimhaltung zurückgezogen hat. Das empfinde zumindest ich als Auftrag an uns, den Gesetzgeber. Die Bundesregierung hat uns gezeigt, dass wir Gesetze ändern müssen, um genau in den Schatten der Nichtöffentlichkeit zu gucken, wohin sie sich zurückgezogen hat. Sie wird weiter versuchen, sich zurückzuziehen, wenn wir die Gesetze nicht auf den Prüfstand stellen und gegebenenfalls verändern.
Der Täter muss mit der Tat nicht mehr leben, er hat es hinter sich – wir schon: Angehörige, Verletzte, Staatsdienerinnen und Staatsdiener mit dem Makel, Bürgerinnen und Bürger sowie Gäste der Bundesrepublik Deutschland nicht geschützt zu haben und nicht schützen zu können. Vergeben Sie uns als Staatsdienerinnen und Staatsdiener, damit wir uns selber vergeben können, um dem Versprechen zu dienen, dass sich so ein Anschlag nie wieder in vergleichbarer Weise ereignet, nicht in Deutschland, nicht in Europa und durch gute Zusammenarbeit auch nicht woanders in der Welt.
Ich danke in aller Demut für Ihre Aufmerksamkeit, den Opfern und Hinterbliebenen für ihre Anwesenheit. Es war mir eine persönliche Ehre, gemeinsam mit allen Abgeordneten des Untersuchungsausschusses an der Aufklärung zu arbeiten. Wir haben geeifert, wir haben gestritten. Wir haben aber immer – bis auf eine Ausnahme – das gleiche Ziel verfolgt, allerdings mit verschiedenen Prioritätensetzungen. Darauf bin ich stolz. Es ist mir eine Ehre. Ich hoffe, dass wir Ihrem Anspruch, Ihrer Würde im Umgang mit dieser Bürde gerecht geworden sind.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Mahmut Özdemir. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Alexander Throm für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Opfer und Angehörige und Betroffene! Es ist gut und es ist uns eine Ehre, Sie heute hier zu haben, auch wenn es sicherlich erneut ein schwerer Gang für Sie gewesen sein muss. Denn kein Untersuchungsausschuss kann die Opfer wieder lebendig machen, kann Ihre Verletzungen an Körper und Seele heilen. Wir können mit Ihnen fühlen – das tun wir; wir nehmen an Ihrem Schicksal großen Anteil –; aber wir können vor allem unser jetziges Wissen aus dem Untersuchungsausschuss nutzen, um unnötiges Leid in Zukunft zu vermeiden.
Wie war die Situation 2016? Wir hatten in Deutschland viele Jahre oder vielleicht sogar Jahrzehnte eine weitgehende Liberalisierung und Öffnung in der Migrationspolitik hinter uns, und das durchaus in ganz verschiedenen Regierungskoalitionen und ‑konstellationen. Wir hatten 2015/2016 einen großen Strom von Menschen, die in Deutschland und in Europa Schutz suchten, und wir haben zu Recht diesen Menschen Schutz gewährt. Aber es waren auch manche dabei, die diese Situation für ihre perfiden Ziele missbrauchen wollten und missbraucht haben – der spätere Attentäter war einer davon.
Und ja – auch das gehört zur Wahrheit –, auf diese Situation damals, 2015/2016, waren unser liberalisiertes Ausländerrecht, unsere Migrationspolitik, unsere Behörden nicht vorbereitet. Deswegen hat es, auch als Konsequenz hieraus, ein Umsteuern gegeben. Wir haben in vielen Bereichen das Ausländerrecht – die Regularien und das Verfahren – geschärft und beschleunigt, beispielsweise hinsichtlich der Feststellung der Personen – es wurde schon erwähnt – in der Eurodac-Datei. Hätten wir gewusst, wer da aus Italien kommt, dann hätten wir die Gefährlichkeit früher und besser einschätzen können und es wäre nicht möglich gewesen, mit über zehn Alias-Identitäten in Deutschland herumzureisen.
Dies alles ist aufgrund vieler Gesetzesänderungen, zuletzt beim Ausländerzentralregister in der letzten Sitzungswoche, heute so nicht mehr möglich. Aber auch da haben nicht alle Fraktionen diesen Verbesserungen zugestimmt.
Unsere Ermittlungen haben auch gezeigt, dass beispielsweise das Land Nordrhein-Westfalen bei der Abschiebung des ausreisepflichtigen Attentäters nicht konsequent genug war – damals durchaus kein Einzelfall –: zu wenig Konsequenz bei der Handhabung der durchaus gegebenen rechtlichen Möglichkeiten.
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Heute hat sich hier eine Bewusstseinsänderung in der deutschen Politik ergeben. Auch da haben wir die Möglichkeiten geschärft, etwa durch das Geordnete-Rückkehr-Gesetz 2019. Herr Kollege Özdemir, wenn wir von Ihrer Auffassung, die Sie hier für die SPD dargestellt haben, damals schon gewusst hätten, dann hätten wir die Mitwirkungshaft, die Sie angesprochen haben, auch damals schon ins Gesetz schreiben können.
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Es ist jedenfalls gut, dass es nun zu dieser Erkenntnis gekommen ist.
Wir haben auch festgestellt, dass wir Probleme bei der Zusammenarbeit der verschiedenen Ebenen unserer föderalen und gegliederten Staatsstruktur haben, zwischen Landeskriminalämtern, BKA, Nachrichtendiensten und Ausländerbehörden. Das hat zum Beispiel zu Fehleinschätzungen der Gefährlichkeit geführt und auch dazu, dass entsprechende Konsequenzen nicht gezogen wurden. Notwendige Entscheidungen werden jetzt beispielsweise im gemeinsamen Terrorabwehrzentrum getroffen, nachdem eine bessere Zusammenarbeit, vor allem eine Steuerung, Protokollierung und Umsetzung beschlossen wurde.
Es hat sich aber auch gezeigt, dass wir durchaus strukturelle Probleme in unserer Sicherheitsarchitektur haben. Ich möchte ein Beispiel ansprechen: Wir haben einen Bundesverfassungsschutz, wir haben 16 Landesverfassungsschutzämter mit Leistungs- und Qualitätsunterschieden. Gerade die kleineren Bundesländer tun sich hier schwer – der Fall Mecklenburg-Vorpommern ist angesprochen worden, wo rechtswidrig und nachlässig gearbeitet wurde –, und deswegen kommt es zu unterschiedlichen Zonen der Sicherheit in Deutschland, was nicht sein darf.
Deshalb möchte auch ich noch mal ansprechen, dass wir uns, dass dieser Bundestag sich in der neuen Wahlperiode mit den Ländern zusammensetzen muss, gerade beim Thema Zusammenarbeit im Bereich Verfassungsschutz,
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um etwa den Vorschlag des früheren Innenministers Thomas de Maizière – er ist anwesend – aufzunehmen, den er in seiner Aussage im Untersuchungsausschuss noch mal konkretisiert hat, dass wir nämlich die Landesverfassungsschutzämter stärken müssen bzw. in einen Bundesverfassungsschutz überführen müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Und ja, wir müssen auch die Polizeien und den Verfassungsschutz stärken, sachlich und personell – das haben wir zum Großteil schon getan –, aber auch, was die technischen Möglichkeiten angeht, um zukünftig Anschläge effektiv verhindern zu können. Wir müssen Lehren aus dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz ziehen; aber wir dürfen diesen Fall nicht eins zu eins als Blaupause für den nächsten perfiden Terroranschlag nehmen; denn keiner von uns weiß, von wem, wo, wann und mit welchen Mitteln ein solcher Anschlag geplant oder gar ausgeführt wird. Deswegen dürfen wir, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, den Blick nicht verengen. Wir dürfen nicht nur auf diese eine Fallkonstellation schauen und sagen, da wäre es nicht notwendig gewesen. Auch Sie müssen bereit sein, den Nachrichtendiensten, den Polizeien zusätzliche Befugnisse zu geben. Wir haben das vor Kurzem beim Verfassungsschutz mit der Quellen-TKÜ gemacht, und wir werden weiterhin für Onlinedurchsuchungen und die Speicherung von Verkehrsdaten eintreten.
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Wir haben nach wie vor eine hohe Gefährdungslage; auch das hat der Verfassungsschutzbericht letzte Woche gezeigt: 574 Gefährder, über 28 000 Islamisten. Deswegen müssen wir schauen, dass wir diese aus dem Verkehr ziehen. Wenn wir sie nicht abschieben können, wenn wir sie nicht in Strafhaft, Abschiebehaft oder Sicherungsverwahrung nehmen können, dann müssen wir sie so gut wie möglich überwachen. Denn wer sich selbst zum Feind unserer freiheitlichen Lebensart, zum Feind unseres Staates erklärt, der kann keine Nachsicht erwarten. Wir müssen alles tun, um derartige Anschläge in Zukunft zu vermeiden.
Liebe Gäste, liebe Angehörige, ich danke Ihnen für Ihr Kommen. Es war uns eine Ehre, Sie hier zu haben. Alles Gute für die Zukunft!
Herzlichen Dank.
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Danke, Herr Präsident. – Sehr geehrte Damen und Herren! Die Coronapandemie hat unser Land verändert. Sie hat Prioritäten in der Gesellschaft verschoben und hat bestehende Schieflagen noch sichtbarer gemacht. Corona brachte Einschränkungen und Einschnitte, die wir uns gar nicht vorstellen konnten.
Aber mit der nun beginnenden wirtschaftlichen Erholung ergeben sich Chancen, die notwendige ökologische und soziale Transformation voranzutreiben. In dem Verständnis, den Weg aus der Krise als Chance zu nutzen, gilt es jetzt also, die enormen Ausgabenprogramme, die wir hier vorsehen, zur wirtschaftlichen Stabilisierung einzusetzen und mit dem klimaverträglichen Umbau unserer Wirtschaft zu verknüpfen.
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Die Programme der Regierung sind dafür nicht ausreichend. Sie sind lückenhaft. Der Ausbau des Bereichs der erneuerbaren Energien ist immer noch unzureichend. Schritte zu einer Kreislaufwirtschaft sehen Sie in Ihren Programmen gar nicht vor. Und das Thema Biodiversität geht auch unter. Dabei ist es doch eigentlich schon fast eine Binsenweisheit, dass der globale Wettbewerb um die Technologien von morgen in vollem Gange ist. Neben der EU haben viele wirtschaftlich starke Länder angekündigt, bis 2050 CO2-neutral werden zu wollen. Das frühzeitige Einschwenken auf den Pariser Klimaschutzpfad ist doch offenkundig die große Chance, im internationalen Wettbewerb zu bestehen,
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zu bestehen im Wettbewerb um die modernsten Technologien in der Grundstoffindustrie, in der Automobilbranche, im Maschinenbau oder auch in der Bauwirtschaft. Dieses Umsteuern – davon sind wir überzeugt – sichert den Wohlstand von morgen und sichert natürlich auch eine gesunde Umwelt.
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Wir Grünen legen heute einen Antrag mit zehn Punkten vor, der hierfür die politischen Rahmen- und Weichenstellungen setzt, weil es die braucht. Natürlich gehört dazu ein wirksamer CO2-Preis. Dafür muss der europäische Emissionshandel mit einer deutlichen Reduzierung von vorhandenen Emissionszertifikaten reformiert werden, und überschüssige Zertifikate müssen gelöscht werden. Natürlich gehören dazu in der Zukunft auch Klimaverträge mit Unternehmen, um ihnen Investitionssicherheit zu geben. Diese Verträge sollen die Differenz erstatten zwischen dem aktuellen CO2-Preis und den tatsächlichen CO2-Vermeidungskosten, welche durch Investitionen in neue Verfahren ausgelöst werden.
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Das sind nur zwei, aber ganz zentrale Bausteine, die wir brauchen.
Wir Grünen sind überzeugt: Man muss so ein Punkteprogramm einbetten in ein großes Investitions- und Transformationsprogramm für die gesamte Dekade, die vor uns liegt. Annalena Baerbock hat nicht umsonst heute Morgen noch mal darauf hingewiesen und daran erinnert, dass sich die USA unter ihrem Präsidenten Joe Biden mit einem gewaltigen Investitionsprogramm, 1,9 Billionen Dollar schwer, auf den Weg machen. Europa und Deutschland dürfen da nicht zurückfallen.
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Deswegen möchte ich noch Folgendes sagen. Die Kanzlerin hat heute Morgen in ihrer Rede zum Europäischen Rat gesagt, auf eine außergewöhnliche Krise habe die Europäische Union mit dem Wiederaufbaufonds eine außergewöhnliche Antwort gefunden. Vielleicht ist es außergewöhnlich, dass die EU tatsächlich eine Antwort gefunden hat. Aber ich möchte sagen: Es sollte gewöhnlich sein und nicht außergewöhnlich sein, dass wir dauerhaft kraftvoll in unsere Zukunft investieren.
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Wenn wir in die Zukunft investieren und dafür auch einen Kredit aufnehmen, dann ist das nicht unvernünftig, sondern ökonomische Normalität und Rationalität.
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Deswegen wünsche ich mir für Europa, dass diese Investitionsinitiativen verstetigt werden. Ich wünsche mir vom Deutschen Bundestag, dass er eine Investitionsregel schafft, die zukünftig ein solch starkes Investitionsprogramm auch in Deutschland ermöglicht. Ich darf mir das ja wünschen, weil ich dem Deutschen Bundestag nicht mehr angehören werde, und bedanke mich bei allen Kolleginnen und Kollegen für die langjährige Zusammenarbeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Hajduk. – Frau Kollegin Hajduk, Sie haben dem Deutschen Bundestag insgesamt vier Legislaturperioden angehört und wesentlich dazu beitragen, die parlamentarische Demokratie fortzuentwickeln, insbesondere bei Ihrer segensreichen Arbeit als stellvertretende Vorsitzende des Haushaltsausschusses in den Anfangsjahren Ihrer Karriere im Deutschen Bundestag. Ich darf mich ganz herzlich im Namen des Präsidiums und wahrscheinlich des gesamten Hauses für Ihre Tätigkeit bedanken und Ihnen für die Zeit nach dem Deutschen Bundestag – viele von uns können sich eine Zeit nach dem Deutschen Bundestag gar nicht vorstellen – alles Gute wünschen.
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Nächster Redner ist der Kollege Andreas Lämmel, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Den Wohlstand für morgen sichern, das ist, glaube ich, die wichtigste Aufgabe, die auch in den nächsten Jahren vor uns liegt, ganz ohne Zweifel. Deswegen ist die Diskussion, die wir heute beginnen, sehr gut; aber der nächste Deutsche Bundestag wird diese Diskussion sicherlich sehr viel intensiver führen müssen.
Wir sind noch damit beschäftigt, die Folgen der Coronapandemie zu bekämpfen. Die umfangreichen staatlichen Programme laufen noch. Aber der Blick in die Zukunft darf deswegen nicht abhandenkommen.
Wir müssen in Zukunft aber wahrscheinlich auch zwei Schritte schneller gehen, um im Prinzip wettbewerbsfähig zu bleiben im Vergleich mit Amerika oder im Vergleich mit den asiatischen Staaten. Die Bewahrung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wird letztendlich darüber entscheiden, ob die sozialen Sicherungssysteme, die wir in Deutschland haben, auch in Zukunft noch finanzierbar bleiben.
Ich frage mich natürlich, warum die Grünen so einen umfangreichen Antrag jetzt zum Ende der Legislaturperiode vorlegen; denn am Anfang der nächsten wäre das eigentlich viel besser gewesen.
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Aber, meine Damen und Herren, die CDU/CSU hat in dieser Woche ihr Regierungsprogramm vorgelegt.
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– Seien Sie doch mal leise! – Wissen Sie, wir machen keine Anträge, wir legen ein Regierungsprogramm vor. Wenn Sie mal einen Blick in das Regierungsprogramm der Union werfen,
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dann sehen Sie: Darin sind genau diese Zukunftsfragen ganz klar niedergelegt und ganz klar formuliert.
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Wir sind als die einzige Partei hier im Deutschen Bundestag überzeugt, dass Deutschland ein starker Industriestandort bleiben muss.
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Dafür werden wir alles tun, meine Damen und Herren.
Aber überbordende Bürokratie, hohe Strompreise, fein ziselierte Gesetze, die Sie ja als Grüne noch feiner stricken wollen, und der Nachholbedarf bei der Infrastruktur sind das, was im Moment die Wirtschaft bei der Entwicklung hemmt.
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Viele von Ihnen kennen die Bilder von Gulliver – das war ja heute schon kurz erwähnt worden –: Die Wirtschaft liegt gefesselt am Boden; rote und grüne Winzlinge versuchen, mit immer mehr Schnüren die Wirtschaft sozusagen handlungsunfähig zu machen.
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Deswegen heißt unser Regierungsprogramm ein Entfesselungsprogramm für die Wirtschaft. Ganz einfach ist das, meine Damen und Herren. Deswegen brauchen wir keine weiteren grünen und roten Schnüre. Wir brauchen Freiraum für die Wirtschaft, wir brauchen Freiraum für Unternehmer, damit sie das tun können, was ihre Aufgabe ist.
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Man wundert sich ja manchmal über Spitzenkandidaten. Da hat Olaf Scholz, SPD-Spitzenkandidat, beim Tag der Industrie diese Woche gesagt: Also, wenn er gewählt wird, dann werden die Strompreise für die Industrie drastisch sinken.
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Toll! Das könnte er jetzt schon machen, meine Damen und Herren. Das sind doch leere Versprechungen.
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Heute Nachmittag werden wir eine Änderung des Bundes-Klimaschutzgesetzes und weitere Gesetze etwa zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes sowie eine Verordnung zur Umsetzung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes 2021 verabschieden.
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Olaf Scholz ist derjenige, der persönlich verhindert hat, dass es eine Übergangsregelung beim Spitzenausgleich für die energieintensive Industrie gibt. Punkt eins. Das ist eine starke Belastung der Wirtschaft.
Die Regierung hat eine Carbon-Leakage-Verordnung vorgelegt, die völlig unzureichend war. Wir als Union haben versucht, diese Carbon-Leakage-Verordnung so weit aufzubessern,
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dass diese Belastungen aus dem CO2-Handel für die Wirtschaft tragbar werden. Wer war der Verhinderer? Die Sozialdemokraten, meine Damen und Herren. Da fallen doch Handeln und Reden völlig auseinander.
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Ein weiteres Beispiel aus dem Grünen-Antrag. Da schreiben Sie: „Deshalb müssen Planungsprozesse beschleunigt und das Planungsrecht entbürokratisiert werden.“
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Da habe ich einen Lachanfall gekriegt. Wissen Sie, ich erinnere mich noch daran, wie wir das Planungsbeschleunigungsgesetz für die Verkehrswege oder das Planungsbeschleunigungsgesetz für den Stromleitungsbau im Zuge der Energiewende machen wollten. Wer hat denn das alles verhindert? Sie, die Grünen!
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Bis in den Bundesrat hinein haben Sie alle Vereinfachungen in diesen Gesetzen verhindert, meine Damen und Herren.
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Und jetzt schreiben Sie solche Sätze in Ihren Antrag. Also, da kann man ja nur fragend davorstehen.
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Noch etwas ganz Schmackiges. Da steht in Ihrem Antrag: eine Handelspolitik, „die sich an den planetaren Grenzen orientiert“. Wow, „an den planetaren Grenzen“!
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Wollen Sie jetzt mit den Marsmenschen in Handelsbeziehungen treten, oder was heißt das?
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Also wenn Sie solche Anträge schreiben, sollten Sie die so schreiben, dass ein Mensch sie auch versteht.
Meine Damen und Herren, Max Weber hat mal geschrieben: „Die Politik bedeutet ein starkes, langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“ Das war das Leitmotto meiner Arbeit hier im Deutschen Bundestag. Manche dieser harten Bretter sind so hart gewesen, dass sie nicht so gut geworden sind. Aber im Wesentlichen sind diese Bretter in den letzten Jahren doch ganz gut geglückt.
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Leidenschaftlich haben wir über viele Dinge diskutiert. Wir haben uns auch gestritten. Wir haben uns aber immer fair, glaube ich, auseinandergesetzt.
Nun endet nach 16 Jahren meine Tätigkeit hier im Deutschen Bundestag. Ich bleibe der Politik trotzdem treu. Es waren für mich wirklich interessante Jahre, muss ich sagen. Es waren erfolgreiche Jahre. Es waren Jahre, in denen ich immer wieder Neues gelernt habe, und es waren Jahre, in denen wir Erfolge feiern konnten, aber auch sehr viele Niederlagen einstecken mussten. Das ist leider so.
Und wenn ich manchen mit dem Ruf nach Ordnungspolitik oder vielleicht mit meinen Bedenken gegen die Einschränkung von Bürgerrechten während der Pandemie auf die Nerven gegangen bin, dann kommt das daher, meine Damen und Herren, dass ich vor über 30 Jahren erlebt habe, wie ein Land samt seiner Wirtschaft unterging. Damals bin ich mit auf die Straße gegangen. Wir haben für Freiheit, für Demokratie und für soziale Marktwirtschaft gekämpft. Diese Begriffe sind für mich keine hohlen Phrasen. Das ist meine innere Überzeugung, und dafür werde ich auch weiterhin kämpfen.
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Ich bedanke mich bei allen, die mich über die vielen Jahre begleitet haben. Ich werde auch alle, mit denen ich mich gestritten habe, trotzdem auf der Straße noch grüßen. Also, da brauchen Sie keine Angst zu haben.
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Herzlichen Dank und Glückauf! Alles Gute für diejenigen, die gewählt werden. Ich hoffe, dass die Unionsfraktion nach der Wahl zum Deutschen Bundestag doppelt so groß sein wird wie heute.
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Herr Kollege Lämmel, auch Ihnen gilt der Dank des Hauses für 16 Jahre parlamentarischer Tätigkeit. Erlauben Sie mir die Anmerkung: Ich wünsche Ihnen tatsächlich für die Zeit nach dem Bundestag alles Gute. Aber als Vorsitzender der Bau- und Raumkommission habe ich gerade Schweißperlen auf die Stirn bekommen. Wenn alle Fraktionen doppelt so groß werden, wie sie gegenwärtig sind, dann haben wir Probleme mit der Unterbringung. Aber das ist dann nicht mehr Ihr Problem. – Vielen Dank noch mal für Ihre Tätigkeit.
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Nächster Redner ist der Kollege Leif-Erik Holm, AfD-Fraktion.
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Liebe Bürger! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst auch von mir herzliche Grüße an Sie, Herr Lämmel. Vielen Dank für die immer gute Zusammenarbeit im Wirtschaftsausschuss und alles Gute!
Ja, die planetaren Grenzen waren mir auch aufgefallen. Dazu gab es im Antrag auch viele Sternchen. Ich weiß nicht, ob es am Gender-Gaga lag oder ob Sie beim Schreiben sternhagelvoll waren. Die Frage wird sich vielleicht später klären.
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„Den Wohlstand von morgen sichern“ – natürlich, das wollen wir alle –, so steht es über Ihrem Antrag. Es hört sich gut an, aber so wird es ganz sicher nichts. Ihre ökosozialistische Transformation
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bringt uns eher wieder Richtung Steinzeit. Und das wollen wir verhindern.
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Ihre Kanzlerkandidatin Baerbock meinte ja vorhin, klimagerechter Wohlstand wäre der soziale Kitt für Europa.
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Nur: Sozial ist daran wirklich gar nichts. Es ist eher so, dass wir vielleicht, wenn Sie so weitermachen, bald den Kitt aus den Fenstern zur Ernährung nutzen müssen. So geht es nicht.
All Ihre utopischen Programme kosten nämlich unheimlich viel Geld, das alle Bürger werden aufbringen müssen. Und dieses Programm hier soll ja auch schon wieder eine halbe Billion Euro kosten. Wir sind laut Leopoldina schon bei Gesamtkosten von 7,5 Billionen Euro für die Energiewende. Also, der Steuerzahler darf weiter zittern, ebenso der Autofahrer: Die 16 Cent mehr pro Liter Sprit dürften nur der Anfang sein.
Die Ex- und Importwirtschaft wird mit der Einführung von CO2-Zöllen neue Schwierigkeiten bekommen. Aber die beste Idee ist ja, dass Sie den Strompreis über den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien senken wollen. Ja, das wird mit dem Börsenstrompreis funktionieren, wenn das Angebot stark genug ist, also Wind weht, Sonne scheint usw. Aber genau das bedeutet eben auch mehr Subventionen für die Betreiber der Anlagen. Und diese Subventionen, wer bezahlt die am Ende? Wir alle. Also, bitte verkackeiern Sie nicht unsere Bürger.
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Die AfD steht für eine echte Entlastung der Stromkunden. Und die braucht es wirklich dringend; denn bei den Strompreisen sind wir mittlerweile schon Europameister. – Ob es auf dem Fußballplatz was wird? Na ja, nach dem Spiel gestern habe ich so meine Zweifel. Aber wir hoffen ja noch. – Und die Strompreise steigen weiter. Deswegen wird das Ganze ja jetzt von der Bundesregierung über die Senkung der EEG-Umlage verschleiert. Das ist der alte Trick: linke Tasche, rechte Tasche. Dann zahlt eben jetzt zum Großteil der Steuerzahler. Also, auch hier werden die Bürger wieder hinter die Fichte geführt. Diese Politik ist nicht nur unsinnig, sie ist auch unredlich.
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Wir müssen dringend runter mit den Strompreisen. Und deshalb fordern wir als AfD in unserem Antrag die Senkung der Stromsteuer auf das EU-Minimum; denn damit könnten wir die Verbraucher direkt um fast 7 Milliarden Euro entlasten. Das wäre eine echte soziale Maßnahme.
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Die Grünen behaupten ja, Klimaschutz funktioniere nur sozial. Ich kann aber – Wiederholung – Soziales daran wirklich nicht entdecken. Im Gegenteil: Sie haben ja mit Rot-Grün dieses teure und vermurkste Projekt erst auf den Weg gebracht. Die Belastungen steigen und steigen. Also, erzählen Sie uns bitte nichts von sozial.
Und jetzt wollen Sie in die Regierung, um uns alle Ihre Verbote unterzuschieben: Du sollst nicht fliegen, du sollst kein Verbrennerauto fahren, du sollst kein Fleisch essen, du sollst kein Eigenheim haben und, und, und.
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Ihre ökosozialistischen Pläne, die nur mit umerzogenen Menschen funktionieren,
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machen mir persönlich Angst. Und ich bin wie Herr Lämmel in der DDR groß geworden, wo die SED-Herrscher meinten: Wir wissen besser, was gut für dich ist. – Und das haben sie für 17 Millionen Menschen gewusst, erstaunlicherweise. Aber so sah das Land am Ende auch aus. Und das möchte ich, bitte schön, nicht noch einmal in meinem Vaterland erleben.
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Ihr ganzer Klimaalarm ist voller Widersprüche, die Sie einfach nicht auflösen können. Ist es denn wirklich kurz vor zwölf beim Klima? Wenn es denn wirklich so wäre, dann gäbe es ja nur eine schnelle Lösung dafür, den CO2-Ausstoß zu senken: Das sind die nahezu emissionsfreien Kernkraftwerke.
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Aber die wollen Sie wiederum nicht.
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Und was machen Sie denn eigentlich – das haben Sie mir auch noch nie erklären können –, wenn kein Wind weht und keine Sonne scheint? Dann kommt auch aus Ihrer Steckdose immer noch Strom, nämlich aus Kernkraftwerken in Frankreich oder Tschechien oder irgendwo anders her aus Europa.
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Schalten Sie dann alle freiwillig Ihre Verbraucher ab, oder melden Sie Ihren Strom einfach ab? Was machen Sie denn dann? Dann müssten Sie ja schon irgendwie mal selber in Vorleistung gehen. Ansonsten ist das wirklich eine Scheinheiligkeit,
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die durch nichts zu überbieten ist.
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Ihre Kanzlerkandidatin hat hier vorhin gesagt, China sei Weltmeister bei erneuerbaren Energien. Und tatsächlich, diese Information von Frau Baerbock stimmt sogar; das ist ja bei ihr auch nicht immer der Fall. Aber das gehört eben zur Wahrheit auch dazu: China plant und baut 31 neue Kernkraftwerke, weil die eben beständig günstigen Strom produzieren und nahezu emissionsfrei sind.
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Auch in Europa entstehen neue Reaktoren.
Also, der Ausstieg Deutschlands ist ein Sonderweg. Wir haben das Land mit den sichersten Kernkraftwerken. Wir sorgen auf der ganzen Welt, übrigens auch beim Weltklimarat, nur noch für Kopfschütteln. Wir gehen hier einen sinnlosen Sonderweg, der auch mit Blick auf die Klimadebatte überhaupt nichts beiträgt.
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Dieses Land ist energiepolitisch aus den Fugen geraten, und es wird immer dramatischer werden, wenn die Grünen auch noch in die Regierung kommen. Allerdings ist diese Utopie schon viel, viel weiter verbreitet, leider auch in den anderen Parteien, und das scheint mir das Kernproblem zu sein. Die Grünen sind halt die Grünen, okay. Aber alle anderen dackeln dem ideologischen Irrsinn der Grünen mittlerweile hinterher. Auch Unionsfraktionschef Brinkhaus kündigt ja an, dass das Autofahren richtig teuer werde. 15,5 Cent mehr pro Liter Benzin will auch die Union. Was unterscheidet Sie jetzt eigentlich noch von den Grünen? Ich kann da wirklich nichts mehr erkennen. Es gibt wirklich keinen Unterschied mehr.
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Ihre Partei ist nach 16 Jahren Merkel völlig entkernt, und ein Ende ist nicht abzusehen.
Eines möchte ich Ihnen von der Union deswegen noch mit auf den Weg in die nächste Legislaturperiode geben. Wer mit der grünen Verbotspartei regieren will, wird selber zur Verbotspartei. Wer mit den Ökosozialisten gemeinsame Sachen machen will, der holt sich eben auch den Sozialismus wieder ins Land. Und wer mit denen regieren will, die darüber diskutieren, das Wort „Deutschland“ aus ihrem Programm zu streichen, der wird selbst zum Deutschland-Abschaffer. Und deswegen gilt: Nur wer Blau wählt, verhindert Grün.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Holm. – Nächster Redner ist der Kollege Bernd Westphal, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Holm, bei allem Respekt: Das war, wie gewohnt, eine nach hinten gewandte Rede. Versuchen wir es mal mit der Zukunft.
Der Wirtschaftsstandort Deutschland ist trotz Pandemiekrise und ihren Auswirkungen einer der erfolgreichsten Wirtschaftsstandorte im internationalen Vergleich. Und wenn man sich mal die Parameter anguckt, erkennt man: Das liegt vor allen Dingen daran, dass wir gerade in der Krise einen handlungsfähigen Staat hatten, der mit vielen Konjunkturprogrammen, mit Wirtschaftshilfen, aber auch mit Kurzarbeitergeld die Wirtschaft und die Betriebe stabilisiert hat. Und es war vor allen Dingen das Kurzarbeitergeld, das auf den Weg gebracht worden ist, was Beschäftigung in den Unternehmen gesichert hat.
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Was die anderen Rahmenbedingungen angeht, kommt es sicherlich darauf an, qualifizierte Arbeitnehmer zu haben. Unser Bildungssystem, aber auch eine intakte Infrastruktur spielen eine Rolle, genauso wie Wissenschaft und Forschung, Forschungs- und Entwicklungsausgaben, aber auch ein Rechtsstaat, der Verlässlichkeit und Planungssicherheit liefert, sowie hohe soziale und Umweltstandards.
Dieses innovative Umfeld, diese Stabilität schafft Rahmenbedingungen für Investitionen und bietet vor allen Dingen Möglichkeiten dafür, dass sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit guter Arbeit, mit ihrer Kompetenz und ihren Qualifikationen einbringen. Auch Tarifverträge sorgen für diese Stabilität. Wenn man sich mal anguckt, wie andere Länder das organisieren, stellt man fest: Bei uns haben die Sozialpartner bei Konflikten in den Unternehmen durch Mitbestimmung, durch Betriebsräte, durch Aufsichtsräte gute Möglichkeiten, um Konflikte zu lösen. In anderen Ländern streitet man sich in vielen Verfahren vor Gericht herum, was Fortschritt eher verhindert.
Wir stehen vor großen Herausforderungen. Eine davon ist sicherlich die Dekarbonisierung – wir haben die Debatte heute Nachmittag, in der es um Klimaschutz und um den Ausbau der erneuerbaren Energien geht, noch vor uns –; das sehen auch wir als Sozialdemokraten.
Wir werden beim Ausbau der erneuerbaren Energien sicherlich mehr Fortschritte erzielen müssen. Das fängt bei einer innovativen Stahlindustrie an, die die Hochleistungsstähle, die wir für Offshore- und Onshore-Windenergieanlagen brauchen, überhaupt erst produziert, und das geht bei der Chemieindustrie weiter, die mit leichten Materialien dafür sorgt, dass hochleistungsfähige Windenergieanlagen, aber auch Photovoltaikanlagen in Deutschland produziert werden können. Wir brauchen dafür aber auch den Maschinenbau und andere Bereiche.
Wir brauchen auch Anstrengungen bei der Infrastruktur; dafür werden wir heute Nachmittag wesentliche Rahmenbedingungen auf den Weg bringen, zum Beispiel für den Hochlauf der Wasserstoffinfrastruktur. Es geht nicht nur um Elektrolyseapparate, die es aufgrund der wirtschaftlichen Produktion von Wasserstoff ermöglichen, dass andere Industrien eine Basis haben, sondern es geht auch um die Energiespeicherung und den Ausbau der Stromleitungen. Diese Transformation, die Wohlstand sichert, werden wir als Sozialdemokraten mitbegleiten.
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Wir haben einen zweiten Bereich: die Digitalisierung. Dazu gehören neben dem Ausbau des Glasfaserkabelnetzes auch die künstliche Intelligenz, Quantencomputer und anderes, die in der Lage sein müssen, die Wirtschaft zu unterstützen. Bei der Digitalisierung müssen wir nicht nur wirtschaftliche Voraussetzungen regeln, sondern wir haben auch Rahmenbedingungen für Teilhabe und soziale Gerechtigkeit zu schaffen, damit jeder die Möglichkeit hat, am technischen Fortschritt teilzuhaben.
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Der Bereich Fachkräfte – so habe ich es zumindest bei Besuchen in Unternehmen festgestellt – ist eine enorme Herausforderung, die auch in dem Antrag der Grünen beschrieben ist. Wir haben als Parlament in dieser Woche den Abschlussbericht von der Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ vorgelegt bekommen. Darin stehen viele Aspekte, die wir in Zukunft berücksichtigen müssen. Es geht um Berufsfelder und andere digitale Dinge, die Einfluss auf die berufliche Bildung haben, die wichtig sind, um die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu erhalten.
Natürlich sind für eine Exportnation auch Handelsverträge wichtig. Das, was an Freihandelsabkommen von europäischer Ebene aus gestaltet werden kann und was auch wir auf europäischer Ebene einbringen, ist natürlich der Zugang zu Märkten, aber es sind auch die Schaffung fairer Rahmenbedingungen gemäß der Nachhaltigkeitskapitel. Das sind nicht nur soziale Standards, sondern auch ökologische Standards, aber auch die Weiterentwicklung in den Gesellschaften, die mit der Europäischen Union Handel betreiben wollen. Für diese Gestaltung brauchen wir eine neue Offenheit. Diese habe ich von der Grünenfraktion so noch nicht erlebt. Vielleicht wird das ja konstruktiver in der nächsten Legislaturperiode.
Zum Schluss, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ja, Voraussetzung für den sozialökologischen Wandel ist ein handlungsfähiger Staat, der Rahmenbedingungen dafür setzen kann. Aber wir brauchen auch Rahmenbedingungen, die nicht nur einen immer höheren CO2-Preis setzen – davon wird die Welt eher teurer, aber nicht besser –; wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, die es staatlich flankiert ermöglichen, in der Industrie diesen Wandel und diese Transformation zu organisieren.
Nachfolgende Regierungen werden sicherlich an dem, was die Große Koalition begonnen hat, weiterarbeiten können. Die SPD ist mit dem Zukunftsprogramm am Start und hat auch einen engagierten, kompetenten Kanzlerkandidaten. In der Großen Koalition wäre an der einen oder anderen Stelle mehr möglich gewesen, –
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– aber letztendlich war es ein erfolgreicher Weg.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Westphal.
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– Kein Streit!
Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Houben, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 24 Seiten Grünenanträge: Wenn man sie liest, findet man grüne Kuschelrhetorik: fair, gerecht, nachhaltig, verbindlich. Aber wenn man mal guckt, was konkret gefordert wird, dann wird es sehr dünn. Meiner Meinung nach, meine Damen und Herren von den Grünen, ist das jetzt eine Art Wahlkampf-Move.
Sie stellen sich hier als wirtschaftsfreundliche Partei dar, die offen ist für eine weltweite Kommunikation zum Abschluss verschiedenster Verträge. Wenn man aber mal ins Kleingedruckte guckt, sieht man: Es hat sich eigentlich gar nichts geändert. Ich frage Sie zum wiederholten Mal von hier aus: Warum haben Sie es schon in den Jamaika-Verhandlungen abgelehnt, das CETA-Abkommen zu ratifizieren? Warum?
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Dann habe ich mir die Mühe gemacht, in Ihr Wahlprogramm zu gucken. Da steht drin: Nein, so wie CETA im Moment ist, wollen wir es nicht haben, auch in Zukunft nicht. Selbst die Dinge, die wir jetzt schon anwenden, lehnen wir in der Form auch ab. Wir lehnen Mercosur ab. Wir lehnen eigentlich alle anderen Verträge, die geschlossen worden sind, ab.
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– Ja, lesen Sie doch Ihr eigenes Programm. – Meine Damen und Herren, Sie legen die Latte bewusst so hoch bei Handelsverträgen, dass wir alle aufrechtstehend darunter durchlaufen könnten.
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Wer mit einem so demokratischen Land wie Kanada, das uns nun wirklich in so vielen Beziehungen so nahesteht, keinen Vertrag abschließen kann bzw. diesen nicht ratifizieren will, der ist nicht regierungsfähig, meine Damen und Herren.
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Man muss mit Nachbarn, mit Partnern weltweit auch ein bisschen so umgehen, wie sie sind; denn nicht allein am deutschen oder gar am grünen Wesen wird die Welt genesen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Houben. – Nächster Redner ist der Kollege Pascal Meiser, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ob es gelingt, den Wohlstand von morgen zu sichern und, wenn ja, für wen, ist angesichts der bevorstehenden großen ökologischen Transformation unserer Wirtschaft in der Tat eine offene Frage. Die Beschäftigten stehen vielerorts schon jetzt unter enormem Druck, zum Teil mit dem Rücken zur Wand. Viele von ihnen haben den Eindruck, dass sie in der ganzen Debatte bestenfalls am Rande vorkommen. Was wir deshalb dringend brauchen, sind ein umfassendes staatliches Investitionsprogramm und eine staatliche aktive Wirtschafts- und Industriepolitik, die sich an den berechtigten Interessen der Beschäftigten orientiert. Das heißt für uns als Linke zuallererst: Beschäftigungssicherung, Einkommenssicherung und eine echte Mitbestimmung der Beschäftigen, die auch vor den Investitionsentscheidungen der Unternehmen nicht haltmacht.
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Nur so, meine Damen und Herren – das sage ich Ihnen –, lässt sich die Akzeptanz für den notwendigen klimagerechten Umbau unserer Wirtschaft sicherstellen.
Doch wenn wir über den Wohlstand in unserem Land sprechen, dann müssen wir auch festhalten: Dieser Wohlstand ist schon heute höchst ungleich verteilt. Das Versprechen, dass derjenige, der anständig und hart arbeitet, verlässlich zumindest ein klein wenig am wachsenden Wohlstand teilhaben kann, ist brüchig geworden. In den Ohren derjenigen, die für einen Niedriglohn schuften und trotzdem im Alter auf Sozialhilfe angewiesen sein werden, muss dieses Versprechen schon heute wie blanker Hohn klingen, insbesondere wenn auf der anderen Seite die Zahl der Multimillionäre und Milliardäre beständig wächst, bei denen Einkommen und Vermögen schon lange in keinem Verhältnis mehr stehen.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Es ist höchste Zeit, die Entwicklung umzukehren. Das heißt auch, die anhaltende Tarifflucht endlich zu stoppen.
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Denn wenn wir darüber reden, wie wir den Wohlstand für die Mehrheit der Menschen in unserem Land sichern wollen, dann müssen wir auch darüber reden, dass sich immer mehr Unternehmen in unserem Land ihrer sozialen Verantwortung entziehen. Waren es vor 20 Jahren noch sieben von zehn Beschäftigten, die unter den Schutz eines Tarifvertrages fielen, so ist es heute nur noch jeder zweite. Allein während der Amtszeit der aktuellen Bundesregierung haben über 1 Million Beschäftigte den Schutz eines Tarifvertrages verloren. Ich finde, das ist ein unhaltbarer Zustand.
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Das ist eine beschämende Bilanz für eine Regierung, in deren Koalitionsvertrag es richtig heißt: Tarifverträge sind ein öffentliches Gut. – Allein im Einzelhandel hat sich die Zahl derjenigen, die in einem tarifgebundenen Betrieb arbeiten, innerhalb der letzten zehn Jahre noch mal halbiert. Inzwischen ist es nicht einmal mehr jeder Dritte in dieser Branche.
Im Versand- und Onlinehandel sind die Löhne in den letzten zehn Jahren real sogar gesunken. Bei Amazon kämpfen die Beschäftigten zu Recht um einen Tarifvertrag, der ihnen bis heute verwehrt wird. Für den stationären Einzelhandel wird es immer schwieriger, mit diesem Lohndumping durch den Onlinehandel mitzuhalten.
Die Bundesregierung hat dieser Entwicklung viel zu lange tatenlos zugesehen. Hier muss endlich gehandelt werden. Deswegen haben wir als Linke hier zum Ende der Legislaturperiode noch mal sehr konkrete Vorschläge vorgelegt:
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Erstens. Tarifflucht muss erschwert werden. Insbesondere muss unterbunden werden, dass Unternehmen Schlupflöcher nutzen können, um sich von heute auf morgen ihrer Tarifbindung zu entledigen, wie es jüngst erst beim Buchhändler Thalia passiert ist.
Zweitens. Die allgemein verbindliche Erklärung von Tarifverträgen muss erleichtert werden. Dazu gehört auch, die Blockademöglichkeiten der Arbeitgeberverbände endlich zu streichen, meine Damen und Herren.
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Drittens. Öffentliche Aufträge des Bundes müssen künftig an die Zahlungen von Tariflöhnen gekoppelt werden, so wie es die Bundesländer Berlin und Thüringen bereits für sich beschlossen haben und es jetzt erfreulicherweise auch das Saarland plant. Es muss endlich Schluss damit sein, dass mit Milliarden Euro Steuergeld Lohndumping betrieben wird, meine Damen und Herren.
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Aktuell sorgt diese Bundesregierung allerdings nicht einmal in ihrem unmittelbaren Verantwortungsbereich für anständige Tariflöhne – ich spreche das hier auch bewusst an –, nämlich beim Bundeswehrfuhrpark und bei dessen Fahrerinnen und Fahrern, die bei Bedarf auch uns als Abgeordnete kreuz und quer durch Berlin kutschieren. Dass die Bundesregierung und insbesondere Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer ihnen bis heute ein Tarifvertrag verweigert, ist einfach nur beschämend, meine Damen und Herren.
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Ich sage: Auf die Unterstützung der Fraktion Die Linke können sich die Fahrerinnen und Fahrer verlassen. Sie streiken heute wieder, wir werden an ihrer Seite stehen. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir nicht die einzige Fraktion sind, die sie dabei unterstützen. Ich denke, das haben sie allemal verdient.
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Meine Damen und Herren, wer den Wohlstand von morgen sichern will, der muss hier und heute damit anfangen, indem diejenigen, die hart arbeiten, auch anständig bezahlt werden. Die Große Koalition, und hier maßgeblich die CDU/CSU, hat in den letzten Jahren gezeigt, dass sie dazu nicht in der Lage ist. Wer allerdings glaubt, mit einer schwarz-grünen Bundesregierung würde dies anders, der glaubt vermutlich auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen, dazu braucht es in der Tat einen echten Politikwechsel.
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– Wenn Sie jetzt aufschreien bei den Grünen, dann fühlen Sie sich getroffen, und wahrscheinlich zu Recht. – Ich sage: Es braucht einen echten Politikwechsel in diesem Land. Als Linke kämpfen wir weiter für einen solchen solidarischen Aufbruch, und daran wird sich – zumindest bei uns – auch nach der Wahl nichts ändern.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Meiser. – Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Carsten Linnemann, CDU/CSU-Fraktion.
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Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich die Überschrift dieses Antrages „Den Wohlstand von morgen sichern“ las, war ich positiv überrascht. Ich fand gut, dass die Grünen jetzt auch mal über die Frage reden, wovon wir eigentlich in Zukunft leben wollen, und nicht nur über die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen. Die Frage „Wovon?“ ist nämlich entscheidend, um die Frage „Wie?“ zu beantworten.
Wenn man tiefer in den Antrag einsteigt, dann sieht man, dass Sie das Erreichen von neuem Wachstum zu 90, 95 Prozent dem Staat zuordnen. Der Staat ist für Wachstum verantwortlich; da könnte ich zig Beispiele bringen:
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durch Regulieren, durch Planen, durch Subventionieren und vieles mehr. Da gibt es einen glasklaren Dissens mit uns, weil wir sagen: Nicht der Staat ist dafür verantwortlich, sondern Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Gründer, Erfinder,
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die im Wettbewerb stehen. Der Wettbewerb ist unserer Meinung nach das beste und geeignetste Instrument innerhalb der sozialen Marktwirtschaft. Er führt dazu, dass wir die Ideen für die Produkte entwickeln, die es nachher gibt.
Viele Kollegen haben es gesagt: Wir sind deshalb weltweit so erfolgreich, weil es diesen Wettbewerb gibt. Deshalb können wir die Maschinen, die Anlagen, Elektronik und vieles mehr exportieren, und das paaren wir mit einer Technologieoffenheit.
Diesen Wettbewerb wollen wir übrigens auch bei der Klimapolitik. Deswegen setzen wir uns für den Emissionshandel ein; für den Bereich der energieintensiven Industrie gibt es ihn auf europäischer Ebene heute schon.
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Dort sehen wir, dass wir den CO2-Ausstoß sehr erfolgreich reduzieren, weil es einen Wettbewerb gibt. Man muss Zertifikate kaufen – das tut weh, das kostet Geld –, also gibt es einen Wettbewerb innerhalb der Wirtschaft: Wer den CO2-Ausstoß am effizientesten reduziert, hat gewonnen. Diesen Emissionshandel wollen wir gerne auf die Bereiche Verkehr und Wärme ausweiten, meinetwegen mit einer Übergangslösung, nämlich mit einem zusätzlichen Emissionshandel erst mal für Wärme und Verkehr, um danach in einem Handel aufzugehen.
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Wer blockiert das im Europäischen Parlament? Die Grünen! Ich will nur mal deutlich machen: Wenn wir das Klimaproblem und die Klimafrage in den Griff bekommen wollen, schaffen wir das nur global oder gar nicht. Um nur eine Zahl zu nennen: In diesem Jahr werden wir auf diesem Globus 1,5 Milliarden Tonnen CO2 zusätzlich emittieren. Das ist doppelt so viel wie Deutschland insgesamt in einem Jahr emittiert. Das heißt, selbst wenn Deutschland heute CO2-neutral wäre, hätten wir dennoch einen weltweiten Zuwachs um 750 Millionen Tonnen CO2. Das ist die Wahrheit. Deswegen brauchen wir eine europäische, möglichst eine weltweite Anschlussfähigkeit. Wir setzen uns für diesen Emissionshandel ein. Das ist Klimapolitik par excellence: technologieoffen, wettbewerbsfähig und marktwirtschaftlich.
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Dann wollen Sie einen Investitions- und Transformationsfonds über 500 Milliarden Euro in der nächsten Dekade, also 50 Milliarden Euro pro Jahr in den nächsten zehn Jahren. Jetzt schauen wir uns mal den letzten Haushalt an. Was ist da hängen geblieben, was wurde nicht abgerufen? 67 Milliarden Euro. Wenn ich die Sondereffekte durch Corona, Wirtschaftshilfen usw. abziehe, komme ich auf 25 Milliarden Euro. Dann habe ich noch ein Sondervermögen über 10 Milliarden Euro für all das, was Sie machen wollen. Das heißt, der Kollege Lämmel hat recht: Wir haben doch hier kein Geldproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.
Wenn wir 26 Jahre brauchen, um die Bahnstrecke von München nach Berlin auszubauen, dann haben wir doch kein Geldproblem, sondern ein Problem mit überbordender Bürokratie. Wir haben ein Problem mit den Genehmigungsverfahren, die Sie selbst im Bundesrat – Andreas Lämmel hat die Beispiele gebracht – blockiert haben. Wenn wir bei der Bahn so weitermachen und nicht vorankommen,
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dann werden Flugzeuge, die mit Wasserstoff, mit synthetischen Kraftstoffen fliegen – in den 2030er-Jahren wird es sie geben –, den Wettbewerb gewinnen. Deswegen müssen wir jetzt bei den Genehmigungsverfahren und bei vielen Dingen Druck machen. Das dürfen Sie nicht blockieren. Auch dafür steht die Union.
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Wir wollen, dass nicht der Staat, sondern dass der Einzelne gestärkt wird. Ich möchte gerne in einem Land leben, in dem der Einzelne nicht mit neuen Belastungen – seien es Bürokratie, Steuern oder was auch immer – konfrontiert wird, also in einem Land mit Freiräumen. Ich möchte in einem Land leben, in dem es möglich ist, dass jemand, der eine Idee hat, einfach mal losläuft, ohne dass irgendjemand ankommt und sagt: Es geht nicht, weil … Ich möchte in einem Land leben, in dem ein Start-Uper in den ersten zwei Jahren möglichst wenig Bürokratie zu bewältigen hat, damit er sich auf sein Geschäftsmodell konzentriert und nicht auf die Bürokratie.
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Ich möchte in einem Land leben, in dem die Arbeitszeiten flexibler gestaltet werden können, als es jetzt der Fall ist. Das ist soziale Marktwirtschaft, und dafür stehen wir. Und da gehen wir auch vieles an.
Es gibt fünf Kolleginnen und Kollegen – lassen Sie mich das bitte zum Schluss sagen –, die sich in der AG Wirtschaft permanent und mit voller Wucht für die soziale Marktwirtschaft eingesetzt haben. Das ist der Kollege Andreas Lämmel als Sprecher – er hört jetzt leider auf –, das ist Joachim Pfeiffer als langjähriger Sprecher – auch er hört auf –,
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und das sind die Kolleginnen und Kollegen Astrid Grotelüschen, Peter Bleser und Matthias Heider. Ich möchte euch im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für euer Engagement hier, aber auch für euer Engagement für die Sache der sozialen Marktwirtschaft danken. Wir werden das in eurem Sinne fortführen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Es geht weiter mit Dr. Marcel Klinge, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Weichen für Deutschlands wirtschaftliche Zukunft werden nach dieser Pandemie neu gestellt. Wir Freie Demokraten sind der festen Überzeugung, dass wir unseren Wohlstand und unsere Arbeitsplätze nur dauerhaft erhalten können, wenn wir wieder konsequent auf Wachstum, Marktwirtschaft, Freihandel und Unternehmer/-innengeist setzen.
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Fakt ist: Unsere Wirtschaft hat ja schon vor der Krise erkennbar an Dynamik verloren. Technologische Umbrüche treffen Kernindustrien wie die Automobilbranche mit voller Wucht. Die Digitalisierung stellt ganze Wirtschaftsbereiche auf den Kopf. Und neue Freihandelszonen in Asien verändern die Kräfteverhältnisse in der Weltwirtschaft.
Der Verlust an Wettbewerbsfähigkeit, meine Damen und Herren, ist aber zuallererst hausgemacht, weil diese Große Koalition sich eben zu wenig um die Zukunft kümmert. Wo bleiben Ihre großen wirtschaftspolitischen Initiativen? Wo bleibt der Plan für die Zukunft, für die nächsten Jahre? Zu tun gäbe es doch genug! Die Steuern befinden sich auf einem Rekordniveau; schauen Sie sich die OECD-Rankings an. Der Staat mischt sich immer stärker in unternehmerische Entscheidungen ein. Und beim Zukunftsthema Digitalisierung treten wir ambitionslos auf der Stelle.
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Daher wird es jetzt Zeit für eine wirtschaftspolitische Aufholjagd, Zeit für eine neue Wachstums- und Wohlstandsagenda, damit Deutschland auch in Zukunft ganz vorne in der Weltspitze mitspielt.
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Wie das gelingen kann, haben wir als FDP heute, aber auch in den vergangenen Monaten hier im Deutschen Bundestag immer wieder mit einer Reihe von Anträgen skizziert.
Lassen Sie mich drei Punkte aufgreifen:
Erstens. Mehr Freihandel mit klarem Fokus auf faire Wettbewerbsbedingungen sowie Umwelt und Menschenrechte ist eine zentrale Wachstumssäule. Um diese zu stärken, möchten wir zum Beispiel die Welthandelsorganisation, die WTO, reformieren und zu schnelleren Vertragsabschlüssen kommen. Es ist ja schon gesagt worden: CETA ist auf halbem Weg stehen geblieben.
Zweitens brauchen wir endlich einen großen Wurf beim Bürokratieabbau. Gerade für kleine und mittlere Betriebe, für unseren Mittelstand, ist die unermessliche Regulierungswut in Deutschland mittlerweile zum zentralen Wachstumshemmnis geworden.
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Wir wollen daher für jede neue Regel zwei bestehende abschaffen. Nur so kann es am Ende funktionieren.
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Drittens möchten wir bei den Unternehmensteuern auf 25 Prozent runter, damit unsere Firmen und Betriebe international wettbewerbsfähig bleiben. Auch das, meine Damen und Herren, ist längst überfällig.
Ähnliche Entlastungsvorschläge liest man ja diese Woche auch im Wahlprogramm von CDU/CSU, nur mit dem Unterschied, dass die FDP diese Anträge auch ernst meint. Die Union verspricht in schöner Regelmäßigkeit, spätestens alle vier Jahre, Steuererleichterungen und liefert am Ende nicht. Ihre Glaubwürdigkeit beim Thema Steuern ist mittlerweile ähnlich hoch wie die der Angaben der grünen Spitzenkandidatin in ihrem Lebenslauf.
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Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Herrn Ernst?
Da das heute meine letzte Rede ist, würde ich darauf verzichten. – Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das große Versprechen der sozialen Marktwirtschaft lautet doch: Jeder kann sein Leben, privat wie wirtschaftlich, aus eigener Kraft verbessern. Doch immer mehr Menschen zweifeln an diesem Versprechen. Kein Wunder, haben doch viele kleine und mittlere Unternehmen in dieser Pandemie zu wenig Wertschätzung und Aufmerksamkeit von uns bekommen. Deswegen möchte ich auch als Sprecher für Tourismus – diese Branche ist ja in einem besonderen Maße von Corona betroffen – hier noch einmal daran erinnern, dass es gerade unser Mittelstand, unsere Familienbetriebe waren, die dieses Land großgemacht haben.
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Seien wir also mutig, spätestens nach dem 26. September, und bringen wir endlich eine neue Wachstums- und Aufstiegsagenda auf den Weg! Dann mache ich mir um die Zukunft unseres Landes wenig Gedanken.
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Frau Präsidentin, für mich geht heute sehr wahrscheinlich eine sehr spannende vierjährige Reise zu Ende. Ich bin wirklich sehr stolz und dankbar, Mitglied dieses Hohen Hauses in der 19. Wahlperiode gewesen zu sein. Ich möchte Ihnen allen Danke sagen, insbesondere natürlich meiner Fraktion, der FDP, und meinen Fachkolleginnen und ‑kollegen aus dem Tourismus-, Wirtschafts- und Sportausschuss sowie allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ein großes Dankeschön geht natürlich an meine Familie, an meine Freunde und an mein großartiges Team, die mich alle so wunderbar begleitet und unterstützt haben. Ich danke dafür; es war mir eine große Ehre.
Ich wünsche Ihnen alles, alles Gute.
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Herzlichen Dank, Herr Dr. Klinge. – Das Präsidium wünscht im Namen des Hohen Hauses auch Ihnen für Ihre berufliche und persönliche Weiterentwicklung alles, alles Gute!
Wir kommen zum nächsten Redner. Das ist Timon Gremmels von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden“ – das sagte Willy Brandt vor genau 60 Jahren. Er beschrieb damit für die SPD eine nachhaltige Wirtschaftsweise, die internationale Zusammenhänge mitdenkt und den Ausgleich ökologischer, ökonomischer und sozialer Faktoren im Blick hat.
Genau dieser Maßstab von Willy Brandt ist auch unser Maßstab in dieser Koalition gewesen. Wir haben unter diesem Motto in den letzten dreieinhalb Jahren einiges auf den Weg gebracht. Besondere Erfolge sind zum Beispiel das Klimaschutzgesetz, das wir heute ganz in unserem Sinne noch einmal nachschärfen werden. Man muss der Ehre halber dazusagen: Das hat auch etwas damit zu tun, dass wir eine sehr engagierte Bewegung auf der Straße haben, die entscheidende Impulse gesetzt hat, aber auch eine Umweltministerin, die das zu ihrem Herzensthema gemacht hat.
Zudem haben wir die CO2-Bepreisung auf den Weg gebracht, und zwar als einen Baustein der Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Energiewende und nicht als den Baustein. Ich erinnere daran – ich habe das Gefühl, dass das der ein oder andere vergessen hat –, dass das die Große Koalition nicht allein auf den Weg gebracht hat. Nein, die Grünen haben damals im Vermittlungsausschuss von Bundesrat und Bundestag auch zugestimmt: 25 Euro die Tonne in diesem Jahr, sukzessive ansteigend bis Mitte der 20er-Jahre. Das haben wir gemacht, damit die Menschen – ganz im Sinne von Willy Brandt – Planungssicherheit haben und sich auf die Zukunft einstellen können.
Nicht jeder kauft sich mal eben ein neues Elektroauto, sondern die Leute warten und sparen darauf. Sie warten auch darauf, dass es einen Gebrauchtwagenmarkt gibt; denn die Mehrheit der Menschen kauft keine Neufahrzeuge. Genau diese Zeit müssen wir ihnen geben, damit sie sich darauf einstellen können, damit sie mitmachen können und damit sie an dieser Stelle dann auch entlastet werden können. Da kann man nicht mal eben, weil es einem gerade so passt, sagen: Wir beschleunigen das jetzt noch einmal um zwei Jahre und machen den Sprit soundsoviel Cent teurer. – Nein, die Menschen brauchen Vertrauen und Planbarkeit, und dafür steht die Sozialdemokratie.
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Das Klimageld. Auch das ist eine Möglichkeit, die wir intensiv diskutiert haben. Aber es ist ein großer bürokratischer Akt, ein solches Klimageld auszuzahlen. Ehrlich gesagt, sollte man sich einmal die Frage stellen, ob ein Pro-Kopf-Geld das Richtige ist. Sollen denn wir als Bundestagsabgeordnete genauso viel Klimageld bekommen wie die Verkäuferin bei Lidl? Ich glaube, das ist falsch.
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Außerdem erfolgt die Entlastung viel schneller, wenn wir die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung nutzen, um die EEG-Umlage abzuschaffen. Das entlastet die Menschen spürbar und schnell, ohne dass wir neue Verwaltungsstrukturen brauchen.
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Aber wir haben in dieser Koalition auch die richtigen Maßstäbe gesetzt. Wir haben gesagt: Wir müssen ein Konjunkturprogramm auf den Weg bringen, das zwei Fragen beantwortet, zum einen die Frage, wie wir die Coronakrise überwinden und die Konjunktur anreizen, zum anderen, wie wir dafür sorgen, dass all das, was wir investieren, auch mit den Pariser Klimazielen kompatibel ist. Genau das haben wir gemacht.
Eines muss ich zum Schluss – vielleicht nicht ganz zum Koalitionsfrieden – noch sagen: Der größte Bremser bei all den Dingen war unser Koalitionspartner.
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Herr Altmaier hat eine Stromlüge verbreitet. Der Stromverbrauch, den er als Minister prognostiziert hat, war vollkommen jenseits der Realität. Er hat vieles angekündigt, und seine eigene Fraktion ist ihm da nur ganz selten gefolgt.
Ich habe mich dann auch sehr gewundert, als ich Folgendes festgestellt habe: Wir haben für Mieterstromprojekte gekämpft. Wir sind da echt einen Schritt vorangekommen, hätten uns beim Mieterstrom aber mehr gewünscht; das sage ich deutlich. Dann gucke ich in das CDU-Wahlprogramm und stelle fest: Da steht doch allen Ernstes drin, Sie wollen Mieterstromprojekte erleichtern. – Ja, was haben Sie denn die letzten vier Jahre gemacht?
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Wir haben Ihnen Hunderte von Vorlagen vorgelegt, und Sie haben auf der Bremse gestanden! Ich kann den Wählerinnen und Wähler nur sagen: Es ist unglaubwürdig, was Sie da machen.
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Der größte Zynismus ist, dass die Mieterinnen und Mieter mit ihrem Mietpreis jetzt auch noch die CO2-Mehrkosten mittragen müssen. Dass wir hier keine ordentliche Hälfte-Hälfte-Lösung hinbekommen haben, lag daran, dass Sie auf der Bremse standen. Da haben Sie Ihren Minister und die Bundesregierung im Regen stehen lassen.
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Frau Präsidentin, lassen Sie mich zum Schluss sagen: Wir brauchen eine neue Dynamik. Wir brauchen klare Ausbauziele für die erneuerbaren Energien, bei der Photovoltaik auf 150 Gigawatt, beim Wind auf 95 Gigawatt. Wir brauchen eine Solarpflicht. Wir müssen den atmenden Deckel in der Photovoltaik abschaffen. Das sind die Projekte, die wir mit Olaf Scholz sehr zügig umsetzen werden, hoffentlich mit einem Koalitionspartner jenseits von CDU/CSU.
In diesem Sinne: Alles Gute und Glück auf!
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Vielen Dank. – Erlauben Sie mir den Hinweis, dass wir mit unserer Tagesordnung schon weit in den morgigen Tag hineinragen. Ich bitte wirklich darum, dass die Redezeiten eingehalten werden; ansonsten muss ich das Mikro abdrehen.
Katharina Dröge, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es reicht nicht, Klimaneutralität per Gesetz vorzuschreiben. Die Politik muss auch dringend etwas dafür tun, dass das Ziel erreicht werden kann, und politische Entscheidungen treffen.
Dieser Satz stammt nicht aus unserem Antrag, obwohl er daraus hätte stammen können, dieser Satz stammt von Siegfried Russwurm, dem Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, anlässlich des Tages der Industrie. Wer die Stimmen aus der Industrie vernimmt, der weiß, dass diese dringende Bitte, dieser Appell an Sie immer verzweifelter wird.
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Das, was Sie tun, ist das Gegenteil von Handeln. Das, was Sie tun, ist das Gegenteil von Entscheidungen treffen. Wenn man sich die Reden von Herrn Laschet, Herrn Lämmel und Herrn Linnemann den ganzen Tag angehört hat, dann weiß man, warum Sie die Industrie mittlerweile zur Verzweiflung bringen: Sie sagen keinen Satz zur Zukunft, keinen Satz dazu, wie Sie die größte Herausforderung, vor der die deutschen Industrie steht, adressieren.
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Stattdessen reden Sie über Frieden, Freude, Freiheit und geben irgendwelche allgemeinpolitischen Bekenntnisse ab; kein Satz zur größten Herausforderung.
Handeln wäre stattdessen nötig. Eine Regierung wäre nötig, die endlich ernst macht mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien, statt jahrelang nur auf der Bremse zu stehen,
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eine Regierung, die endlich mal für vernünftige, faire Strompreise sorgt, eine Regierung, die der Wirtschaft Planungssicherheit und Verlässlichkeit beim notwendigen Fortschritt gibt.
Mit Fortschritt sind die klimaneutralen Technologien gemeint. Deswegen verlangen alle – von der Chemieindustrie bis zur Stahlindustrie – von Ihnen sogenannte Klimaverträge, mit denen die klimaneutralen Technologien wettbewerbsfähig gemacht werden könnten und Deutschland somit international zum Vorreiter würde. Kein Wort dazu von Ihnen in dieser Debatte. Was für ein wirtschaftspolitisches Armutszeugnis!
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Zur Handelspolitik. Irgendjemand fand das mit den planetaren Grenzen sehr lustig. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Der Verlust an Artenvielfalt, den wir gerade beobachten, und die sich immer mehr zuspitzende Klimakrise sind nicht lustig, sondern sie sind Zeichen einer Überlastung unseres Planeten. Da müssen wir massiv im Rahmen der Handelspolitik gegensteuern.
Zur Frage, welchem Abkommen wir zugestimmt haben: Das Abkommen mit Großbritannien war eines, dem wir zugestimmt haben, weil es in die richtige Richtung gegangen ist. Ich frage Sie: Warum sollte etwas, das mit Boris Johnson möglich war, mit Justin Trudeau nicht möglich sein?
Liebe Kollegin, kommen Sie zum Schluss.
Es liegt schlicht daran, dass die Europäische Union nie versucht hat, mit Kanada ein vernünftiges Handelsabkommen zu vereinbaren. Dafür braucht es politischen Mut, dafür braucht es Entschlossenheit.
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Dafür braucht es auch so etwas wie Ziele. Das liefern wir mit unserem Antrag. Dafür wünsche ich mir Ihre Zustimmung.
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Danke sehr. – Als Nächstes spricht für die CDU/CSU-Fraktion Bernhard Loos.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die gesamte Opposition sorgt sich also um den Wohlstand und die Wirtschaft in unserem Land.
Die Grünen wollen den Wohlstand von morgen sichern und eine wohlstandsorientierte Betrachtung. Als Bayer sage ich Ihnen: Schon der Vater unserer sozialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhard – Frau Baerbock möge gut zuhören; er war nämlich von der Union –, forderte Wohlstand für alle.
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Da brauchen wir keine Empfehlung aus der grünen Ecke. Dieser Gedanke ist Erbgut der Union.
Ihr grüner wirtschaftspolitischer Dreiklang lautet aber: verteufeln, verteuern, verbieten.
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Sie versprechen den Bürgerinnen und Bürgern das Grüne vom Himmel und wollen doch nur ständig die Grenzen der Belastbarkeit von Menschen und Wirtschaft in unserem Land testen. Sie haben nicht Wohlstand im Sinn, sondern eine fatale Überlastung der Wirtschaft und der Bürgerinnen und Bürger.
16 Cent mehr für den Liter Benzin ist doch das Gegenteil von Wohlstand. Das bedeutet zudem eine Benachteiligung der Landbevölkerung und der Pendler. Zu Ihrem sogenannten Energiegeld: Wer soll denn das Geld von welcher Stelle bekommen? Die Menschen spüren doch, dass am Ende der Normalbürger die Zeche zu zahlen hat. Die Grünen stehen für massive Verteuerung oder gar Verbote der Kurzstreckenflüge. Sie wollen dem Normalbürger also auch noch den Urlaub auf Mallorca verbieten? Dann sagen Sie es doch auch. Mit der Bahn kommt man jedenfalls nicht dorthin.
Wir von der Union haben klargemacht, was wir wollen, nämlich ein Programm für Stabilität und Erneuerung, eine gemeinsame Kraftanstrengung für ein modernes Deutschland.
Wir wollen Wohlstand durch nachhaltiges Wachstum hin zu einem klimaneutralen Industrieland. Deshalb: Deutschland ist und bleibt ein Industrieland; denn nur so sind Arbeitsplätze, soziale Sicherheit, Renten und vieles mehr zu sichern.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nestle von den Grünen?
Nein, sonst wird es zu lange. Danke.
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Wir wollen neuen Mut zur Innovation aus Verantwortung für die Zukunft und keine grüne Angst vor Technologien der Zukunft. Deshalb stehen wir für einen Chancenstaat und nicht für den Verbotsstaat.
Wir wollen beim Klimaschutz Ambitionen und Anreize verbinden. Sie von den Grünen wollen Bevormundung, Ge- und Verbote. Deshalb: kein Fahrverbot von Dieselfahrzeugen, kein generelles Tempolimit, kein Verbot von Straßenbau und Ortsumfahrungen.
Wir wollen eine Förderung klimaneutraler Mobilität. Deshalb: technologieoffene Förderung von Elektromobilität sowie E-Fuels und Wasserstoff als Antriebstechnologien, insbesondere für Lkws.
Wir wollen Anreize für klimaneutrales Fliegen und deshalb Flüge mit alternativen Kraftstoffen von der Luftverkehrsteuer befreien.
Mit einem ambitionierten Emissionshandel wollen wir die CO2-Bepreisung straffen und so schnell wie möglich zu einem europäischen Emissionshandel für Wärme und Verkehr übergehen. Einnahmen daraus werden über Entlastungen beim Strompreis vollständig an Bürger und Unternehmen zurückgegeben.
Wir wollen die Abschaffung der EEG-Umlage.
Die FDP wiederum hat Angst um die deutsche Exportwirtschaft und fürchtet gar einen Kahlschlag in der Automobilindustrie.
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Ich kann Sie beruhigen: Wir haben die Belange der deutschen Exportwirtschaft gut im Blick. Die Wachstumszahlen geben uns recht und zeichnen das optimistische Bild eines raschen Wirtschaftsaufschwungs nach der Coronakrise.
Die FDP redet die deutsche Automobilindustrie schlecht, die mit mehr als 900 000 Beschäftigten 10 Prozent zur Bruttowertschöpfung unseres Landes beiträgt. Sie schädigen damit aber auch das Image der gesamten deutschen Wirtschaft.
Tragende Säulen des deutschen Wohlstands sind die Exportwirtschaft und die Automobilindustrie. Wir als Union haben in unserer Wirtschafts-DNA fest einprogrammiert: Freihandel, internationale Handelsabkommen, Investitionen im Ausland, ausländische Investitionen.
85 Prozent des globalen Wachstums finden künftig außerhalb der EU statt. Wir als Union setzen auf den Freihandel. Wir setzen auf einen Neuanfang mit den USA und auf Chancen für den deutschen Export in die USA. CDU/CSU unterstützen das Freihandelsabkommen CETA mit Kanada uneingeschränkt, respektieren aber, die gegen CETA laufenden Verfassungsklagen abzuwarten.
Erwerbskontrollen nach dem Außenwirtschaftsgesetz sind richtig. Wir stehen für einen internationalen Innovationswettstreit zwischen den Firmen auf dem Weltmarkt, nicht aber für eine Politik nach dem Motto „Wer hat den pralleren Geldbeutel im Ausland?“.
Bei der Automobilindustrie sprechen Teile der Opposition von einer einseitigen Förderung der Elektromobilität und von politischen Wunschvorstellungen, die den globalen Märkten nicht entsprechend würden. Ich sage Ihnen aber: Wir stehen für Technologieoffenheit und auch für Unterstützung dort, wo die deutsche Industrie konkret einen offenkundigen Nachholbedarf hatte, Stichwort „E-Mobilität“.
Der Export ist für die deutsche Automobilwirtschaft eminent wichtig. Globale Herausforderungen zu meistern und den Anforderungen des Weltmarktes gerecht zu werden, ist entscheidend. Ein Blick nach China aber auch nach Kalifornien zeigt es: Wir reden von einem globalen Trend. – Allein in China gab es 2019 rund 500 Hersteller von E-Fahrzeugen. Tesla aus den USA ist ja mittlerweile ein Begriff für jedermann in diesem Land.
Daher müssen wir, die Politik, die Industrie beim Technologiewandel unterstützen. Das hat nichts mit politischen Wunschvorstellungen zu tun. Im Konjunkturprogramm ist unter Ziffer 35c bereits ein Förderprogramm „Zukunftsinvestitionen für Fahrzeughersteller und Zulieferindustrie“ mit einem Gesamtvolumen von 2 Milliarden Euro aufgelegt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Veränderungen sind Chancen, keine Bedrohungen. Optimismus statt Pessimismus! Sie reden, wir handeln!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Als Nächstes erhält das Wort der fraktionslose Kollege Marco Bülow.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich danke für diesen Antrag der Grünen: „Den Wohlstand von morgen sichern“. Ich störe mich ein bisschen an dem Begriff „Transformation“; ich hätte gerne eine einfachere Umschreibung wie „den Umbau der Gesellschaft“ – die Formulierung geht noch ein bisschen weiter –; denn den brauchen wir, und zwar sozial und ökologisch. Die Große Koalition hat in dieser Legislatur aber eher versucht, das Soziale und das Ökologische gegeneinander auszuspielen. Genau damit erreichen wir den Wohlstand von morgen aber natürlich nicht.
Das Zweite ist: Wir dürfen im Zusammenhang mit diesem Wirtschaftssystem nicht immer nur über die Vergangenheit reden, sondern müssen mehr über die Zukunft sprechen. Ich nenne ein Beispiel: Es kann nicht sein, dass auf der einen Seite die Arbeitsplätze in der Autoindustrie betont werden – ja, es sind viele –, auf der anderen Seite aber die Arbeitsplätze in den Erneuerbare-Energien-Branchen, die Sie zerstört haben – über 100 000 Arbeitsplätze sind verloren gegangen –, nicht der Rede wert sind. Im Gegenteil: Für Windräder sind Abstandsregelungen geschaffen worden, der Solardeckel wurde eingeführt – das alles hat Arbeitsplätze zerstört. Diese Arbeitsplätze haben die Große Koalition anscheinend nicht interessiert, vor allen Dingen nicht die Union. Von daher, glaube ich, müssten wir da anfangen.
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Wir definieren Wohlstand immer stark anhand von Zahlen; deswegen möchte ich einen Vorschlag machen. Wir müssen, glaube ich, nicht immer nur auf die Momentaufnahme schauen. Ein Beispiel dafür ist die Pandemie. Die eigentlichen Folgen der Pandemie, gerade auch des Lockdowns, werden uns erst in Zukunft treffen; ich meine jetzt nicht nur gesundheitlich, sondern vor allem psychische, soziale und wirtschaftliche Folgen. Die müssen zusammengedacht werden. Wir dürfen nicht immer nur in Sparten und themenspezifisch denken. Deswegen schlage ich vor, dass wir im neu gewählten Bundestag einen Sonderausschuss gründen, natürlich parteiübergreifend, fraktionsübergreifend, das ist ja klar, aber auch themenübergreifend, mit Expertinnen und Experten, die alle Aspekte auf die Tagesordnung setzen, damit wir unseren Wohlstand sichern können.
Ich will nur einen Aspekt nennen, der nämlich immer untergeht: Es gab jetzt eine Studie, die besagt, dass die Schülerinnen und Schüler im letzten Jahr zu Hause ungefähr so viel gelernt haben, als wenn sie Ferien gehabt hätten. Das wird uns auf die Füße fallen; deswegen müssen wir das Thema Bildung einbeziehen, und deswegen müssen wir diese Aspekte zusammendenken, und brauchen wir diesen Sonderausschuss.
Kommen wir zu „Wohlstand für alle“: Also, wenn „Wohlstand für alle“ für die Union bedeutet, dass drei Familien in diesem Land so viel besitzen wie 50 Prozent der Bevölkerung, dann sprechen wir nicht über Wohlstand für alle, sondern über Wohlstand für einige wenige, und das ist genau das Modell, das ich nicht haben möchte und das wir überwinden müssen.
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„Wohlstand für alle“ heißt auch, alle zu beteiligen. Von daher, glaube ich, sollten wir zusammenarbeiten und wirklich die Themen zusammenbringen.
Ich weiß, Sie werden diesen Sonderausschuss nicht einrichten, aber wenn die Partei Die PARTEI mit über 50 Prozent einzieht,
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dann kommen Sie nicht drum herum, diesen Ausschuss einzurichten. Ich lade Sie alle dazu herzlich ein.
Vielen Dank.
Danke. – Als letzten Redner der Debatte hören wir Johann Saathoff von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grünen legen mit dem Antrag heute ein kleines Wahlprogramm auf den Tisch. Zentral für den Wohlstand von morgen ist ganz sicher die Klima- und Energiepolitik, die untrennbar – so hat das unser Kanzlerkandidat Olaf Scholz auch gesagt – mit der Industriepolitik verbunden ist.
Aus meiner Sicht macht es Sinn, heute ein bisschen Bilanz zu ziehen. Die Union hat aus meiner Sicht in den vergangenen vier Jahren ihre Allergie gegen die Erneuerbaren ausreichend gepflegt. Immer wieder gab es neue Vorwände in der Großen Koalition gegen den verstärkten Ausbau von erneuerbaren Energien. Die fehlende Akzeptanz in der Bevölkerung wurde vorgeschoben. Es gab eine koalitionsinterne Arbeitsgruppe, die mehr als ein Jahr lang getagt hat. Die CDU wollte über Abstandsregeln den Windparkausbau zum Erliegen bringen; wir Sozialdemokraten konnten das vermeiden.
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Ein weiterer Vorwand waren die Redispatchkosten, also die Kosten, die entstehen, wenn Erneuerbare wegen Netzengpässen abgeschaltet werden müssen. Die Lösung liegt im Stromnetz. Es gibt gute Ansätze im Wirtschaftsministerium zur Digitalisierung von Stromnetzen, zur reaktiven Betriebsführung. All das ist leider im Sand verlaufen. Ob Mieterstrom, ob Sonderausschreibungen – wir mussten alles hart erkämpfen. Selbst jetzt, bei der Änderung des Klimaschutzgesetzes, weigert sich die Union, die Ausbaumengen der erneuerbaren Energien bis 2030 zu erhöhen; das steht auch im CDU-Wahlprogramm. Sie hätten in den nächsten Stunden noch Zeit, das zu ändern. Klar ist: Für eine Politik mit echtem Klimaschutz braucht es eine Regierung ohne CDU.
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Und es braucht die SPD. Die Initiative zur Deckelung und mittelfristigen Abschaffung der EEG-Umlage kam von der SPD. Wir haben das Klimaschutzgesetz gemacht. Wir haben den Kohleausstieg beschlossen.
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Wir haben den Ausgleich zwischen Klimaschützern und Kohlekumpeln geschafft. Wir haben die nationale CO2-Bepreisung eingeführt und gleichzeitig auch die Carbon-Leakage-Verordnung für die Industrie. Wir scheuen uns nicht vor der Diskussion; wir fechten sie aus. Und wir treffen Entscheidungen, nicht wie Herr Altmaier, der bei dem zugegeben komplizierten, aber wichtigen Thema der Spitzenkappung seinen Entwurf einfach wieder in der Schublade verschwinden lässt, wenn die Automobilindustrie mal leicht hüstelt.
Wir wollen mehr staatlichen Einfluss bei den Stromnetzen. Die Entscheidung von Schwarz-Gelb zum Verkauf der Stromnetze war und ist ein schwerer Fehler, der uns heute immer noch anlastet,
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ebenso der Ausstieg aus dem Atomausstieg. Dank Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und der FDP, zahlen wir den Konzernen 2,4 Milliarden Euro.
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Und erst gestern wurde im Wirtschaftsausschuss wieder deutlich, dass in den Reihen der Union immer noch einige bedauern, dass wir uns von der Atomenergie verabschieden. Ich war vor zwei Wochen in Tschernobyl, liebe Kolleginnen und Kollegen, und finde, das müsste eigentlich zum Pflichtprogramm eines jeden Energiepolitikers dieser Erde werden.
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Und nun zum Antrag der Grünen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sehe naturgemäß, auch über die letzten Jahre betrachtet, viele Schnittmengen; allerdings fehlt aus meiner Sicht die sozial gerechte Verteilung der Lasten.
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Ein Energiegeld, sofern es sich überhaupt technisch irgendwie bewerkstelligen lässt, ist genauso sozial wie eine Kopfpauschale bei der Krankenversicherung.
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Der Zahnarzt bekommt genauso viel wie die Kassiererin; gleich ist eben nicht automatisch auch gerecht. Außerdem ist es eine Umverteilung von den ländlichen Räumen in die Städte. Das wollen wir nicht!
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Starke Schultern müssen auch mehr Last tragen; deswegen braucht es die SPD.
Gleiches gilt für Ihre Vorstellung bei der CO2-Bepreisung. Mit 60 Euro treffen Sie einige Menschen sehr schnell sehr hart. Denken Sie mal an die Menschen im ländlichen Raum, die in alten Gebäuden leben und weite Wege zur Arbeit haben. Diese müssen wir mitnehmen;
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wir brauchen ihre Akzeptanz der Energiepolitik. Den grünen Klimaschutz muss man sich leisten können, den sozialen Ausgleich gibt es nur mit der SPD.
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Sie müssen sich entscheiden zwischen Energiegeld und Abschaffung der EEG-Umlage, und Sie müssen auch eine Entscheidung treffen zwischen Klimaschutz und Artenschutz. Man kann, wie man in Ostfriesland sagt, neet twee Peer mit een Achtersteven rieden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es kommt nicht häufig vor, dass wir als Petitionsausschuss einstimmig eine Petition zur Erwägung an die Bundesregierung leiten. Gestern ist das vorgekommen. Hinter den allermeisten Petitionen stecken menschliche Schicksale, oft sehr schwere und tragische; aber diese Petition hat uns alle betroffen gemacht.
Ich bin Mutter, und ich kann mir nicht vorstellen, wie groß der Schmerz ist, wenn man erfährt, dass das eigene Kind gestorben ist. Wie aber muss man sich fühlen, wenn man später erfährt, dass dieses Kind noch lebt und dass es einem gestohlen und anderen Eltern gegeben wurde? Diese und weitere Petitionen fordern die umfassende Aufarbeitung von Zwangsadoptionen und ungeklärtem Säuglingstod bzw. Kindesentzug in der DDR. Im Juni 2018 wurden Expertinnen und Experten zu dem Thema im Ausschuss gehört, und ich versichere Ihnen: Die Schilderungen der Betroffenen lassen einen nicht mehr los.
Als Mitglied des Petitionsausschusses – ich denke, hier spreche ich auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen – begrüße ich, was in den vergangenen Jahren gesetzgeberisch getan wurde. Ich bin froh über die Anfertigung der Studie zu politisch motivierten Zwangsadoptionen in der DDR; denn nur wenn wir Quellen, Beweise, ja, die kleinsten Hinweise sichern und aufarbeiten, können wir das Unrecht dokumentieren, beweisen und damit den Betroffenen wenigstens eine Chance auf Gewissheit geben. Die Aufarbeitung und die Sicherung der Quellen sind ungeheuer komplex, aber genau deshalb so notwendig.
Wir stehen nicht mehr am Anfang. Gesetzgeberisch haben wir bereits Fortschritte erzielt. Dennoch bestehen Lücken; weitere Maßnahmen und Regelungen sind notwendig. Deshalb hat der Petitionsausschuss einstimmig beschlossen, dass die Petition zur Erwägung an die Bundesregierung überwiesen wird. Das menschliche Leid, das die betroffenen Familien erlebt haben, darf nicht vergessen werden, nicht in Archiven verschwinden und nicht verschwiegen werden. Das schulden wir den betroffenen Familien und unserer Zukunft; denn nur wenn wir benennen, wenn wir erinnern, mahnen wir, dass so etwas nie wieder passiert. Der Petitionsausschuss fordert, dass dieses finstere Kapitel der DDR lückenlos aufgeklärt wird. Deshalb überweisen wir diese Petition an die Bundesregierung zur Erwägung und geben sie Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, zur Kenntnis.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
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Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die Linke hat heute eine Aktuelle Stunde beantragt, weil Tausende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit Jahren zu teilweise miserablen Bedingungen arbeiten. Sie arbeiten aufgrund nur befristeter Verträge mit Laufzeiten von manchmal unter einem Jahr mit null Planungssicherheit. Sie arbeiten auf halben und auf Viertelstellen, von denen sich die Miete kaum zahlen lässt und bei denen Altersarmut vorprogrammiert ist. Mit Mitte 40 stehen sie dann oft wieder auf der Straße und sollen einen beruflichen Neuanfang hinbekommen.
Vor zwei Wochen war es dann so weit: Tausende Betroffene haben sich ihrem Ärger Luft gemacht. Beim Nachrichtendienst Twitter schreiben sie unter dem Hashtag #IchBinHanna von verbauten Karrierewegen und von ihren Existenzängsten. Auslöser für die Empörung war ein Video auf der Homepage des Bildungsministeriums, in dem eine fiktive Wissenschaftlerin namens Hanna das sogenannte Wissenschaftszeitvertragsgesetz schönredet, genau das Gesetz, das mitverantwortlich ist für die unhaltbaren Zustände. Man muss sich das an dieser Stelle wirklich mal reinziehen: Während der größte Teil der Beschäftigten in ständiger Angst lebt, arbeitslos zu werden, lässt das Ministerium die Comicfigur Hanna erzählen, wie dufte es eigentlich sei, dass es befristete Arbeitsverträge gibt, weil sonst die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das System verstopfen würden, und dass die ständige Fluktuation von Arbeitskräften Innovation fördere. Was für ein Hohn, Kolleginnen und Kollegen! Was für ein Hohn! Wie gut, dass es jetzt Widerstand gegen diese Verhöhnung gibt.
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Eine Historikerin schreibt auf Twitter, dass sie seit Monaten Schlafstörungen hat, weil das Wissenschaftszeitvertragsgesetz sie ab November arbeitslos machen wird. Eine Veterinärmedizinerin will nach zwölf – zwölf! – befristeten Arbeitsverträgen in Folge nach einer Anstellung auf einer Viertelstelle und jetzt der Ansage ihres Chefs: „Wer schwanger wird, bekommt den Vertrag nicht verlängert“, die Wissenschaft verlassen. Und viele, viele schreiben, dass sie Deutschland bereits verlassen haben, weil es für sie im Ausland bessere berufliche Perspektiven in der Wissenschaft gibt. Kolleginnen und Kollegen, die Situation ist dramatisch. Wir haben es längst mit einem Prekariat in der Wissenschaft zu tun, und das darf keinen Tag länger so bleiben.
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Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wie Sie auf diesen Protest reagieren, macht mich stellenweise wirklich fassungslos. Die zuständige Ministerin, Frau Karliczek, erklärt, sie sei nicht die richtige Adressatin für diesen Protest, und hofft, die Diskussion dadurch abzuwürgen, indem sie einfach das Video löschen lässt. Währenddessen erklärt die SPD, dass das Wissenschaftszeitvertragsgesetz nicht mehr zu retten sei und dass sie jetzt – jetzt! – ein Gesetz für gute Arbeit in der Wissenschaft auf den Weg bringen will. Ich meine, ganz ehrlich: Ist Ihnen das nicht irgendwie peinlich?
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Vor einer Stunde haben Sie hier im Plenum einen Antrag der Linken zu guter Arbeit in der Wissenschaft abgelehnt.
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Das ist die Wahrheit.
Sie, die Union und die SPD, haben 2007 das Wissenschaftszeitvertragsgesetz überhaupt erst auf den Weg gebracht. Dagegengestimmt hat damals Die Linke. Meine Kollegin Petra Sitte hat hier an diesem Pult vor den Auswirkungen dieses Gesetzes von der ersten Stunde an gewarnt. 2016 haben Union und SPD – und das erst nach ungeheurem Druck aus den Gewerkschaften – das Gesetz reformiert, aber eben völlig ungenügend reformiert. Wir haben vor den Auswirkungen dieser ungenügenden Reform gewarnt. Und seit 2017 verhindern Sie beide, dass das Gesetz noch mal reformiert wird. Sie haben es versäumt, die Länder und die Hochschulen auf konkrete Zielquoten bei der Entfristung von Stellen festzulegen, und damit haben Sie eine weitere Generation an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um ihre Perspektiven betrogen. Ganz ehrlich, Kolleginnen und Kollegen: In der Regierung geht es darum, Verantwortung zu übernehmen,
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und es geht darum, Rückgrat zu zeigen. Die Große Koalition kann weder das eine noch das andere, und das ist beschämend.
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Es ist völlig klar, was jetzt zu tun ist. Im Gesetz muss sichergestellt werden, dass der Qualifikationsbegriff nicht länger missbraucht werden kann. Verträge müssen mindestens so lange laufen, dass eine Promotion oder ein Projekt überhaupt abgeschlossen werden kann, und die Gewerkschaften müssen auch in der Wissenschaft das Recht haben, eigene tarifvertragliche Regelungen auszuhandeln. Es geht um den Einstieg in eine andere Logik, in die Logik von Dauerstellen für Daueraufgaben.
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Es braucht dauerhafte Stellen für all die Aufgaben, die an den Hochschulen und in der Forschung tagtäglich zu leisten sind: für die Lehre, für die Betreuung von fast 3 Millionen Studierenden, für die Wissenschaftskommunikation, für das Wissenschaftsmanagement. Für all das braucht es feste Stellen. Denn die Wahrheit ist, dass unsichere Jobs und eine hohe Fluktuation nicht die Qualität stärken, wie Sie das immer behaupten, sondern die Löhne drücken und die Demokratie schwächen. So darf unser Wissenschaftssystem nicht aussehen.
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Ich sage hier ganz klar: Ein Sonderbefristungsrecht für die Wissenschaft muss entweder Grundlage sein für gute Arbeit, oder es muss weg.
Dafür wird die Linke weiter kämpfen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Bundesministerin Anja Karliczek.
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Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere der Linken! Liebe Frau Gohlke, ich glaube, jetzt wollen wir ein bisschen aufräumen mit all dem, was Sie behauptet haben.
Sie fordern: Weg mit den Dauerbefristungen! – Das Gesetz, an dem Sie sich reiben, ist genau dazu da. Es zielt nämlich darauf, Dauerbefristungen zu verhindern. Es begrenzt die Zeit, in der sich junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf befristeten Stellen qualifizieren. Wären diese Stellen nicht befristet, bekämen deutlich weniger qualifizierte junge Menschen die Chance, sich weiter zu qualifizieren, und viel weniger könnten zeigen, was sie können.
Genau diese Einengung wollen wir nicht. Wir wollen Zugang und Chancen für viele.
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Chancen für alle, die den Willen und das Potenzial haben, wissenschaftlich etwas zu bewegen, etwas zu gestalten und unser Land voranzubringen. Wir brauchen ein Sonderbefristungsrecht für die Wissenschaft; denn die Wissenschaft ist besonders.
Derzeit erwerben jedes Jahr mehrere Zehntausend Personen in Deutschland wissenschaftliche Qualifikationen. Nicht alle können in der Wissenschaft bleiben – da müssen wir uns ehrlich machen –, und etliche wollen das übrigens auch gar nicht. Sie bringen ihre Expertise ein, ihre Ideen, erwerben auch einen Doktortitel, weil er ihnen bessere Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt verschafft, bessere Positionen und auch bessere Bezahlung.
Ich empfehle an dieser Stelle einen Blick in den Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs: Unter Promovierten herrscht Vollbeschäftigung. Zwei Drittel von ihnen arbeiten bereits ein Jahr nach der Promotion außerhalb der Wissenschaft. Sie finden attraktive Jobs und erzielen höhere Einkommen als nichtpromovierte Akademikerinnen und Akademiker.
Gleichwohl ist die persönliche Situation manchmal unbefriedigend; das bestreite ich auch überhaupt nicht.
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Nach dem langen Ausbildungsweg sind viele in einem Alter, in dem sie irgendwo ankommen wollen – im Beruf, an einem Ort und in einer Familie. Was die jungen Männer und Frauen unter dem Hashtag #IchBinHanna berichten, ist ohne Frage bewegend.
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Das sind zum Teil schwierige Situationen, in denen die Autorinnen und Autoren stecken, für die sie ihren Umgang finden müssen, ihren Weg, auch ihre Form, diese Herausforderung zu meistern. Die Frage ist aber: Liegt das an dem Gesetz, auf das Sie sich gerade alle stürzen?
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Da sage ich ganz klar: Nein, das tut es nicht. Das Gesetz wird zum Sündenbock. – So können manche von eigenen Versäumnissen ablenken und so tun, als gäbe es einfache Lösungen.
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Der Wunsch nach besseren Perspektiven in der Wissenschaft und verlässlichen Karrierewegen ist verständlich. Das heißt auch: mehr Dauerstellen, erst recht jenseits der Qualifizierungsphase. Genau dieses Ziel teile ich mit denen, die unter dem Hashtag #IchBinHanna geschrieben haben.
Wir haben in den vergangenen Jahren in diesem Zusammenhang viel unternommen. Seit Januar ist der Zukunftsvertrag „Studium und Lehre stärken“ in Kraft. Darin haben sich die Länder verpflichtet, mehr unbefristete Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen.
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– Hören Sie doch mal zu! – Dazu kommt, dass wir das Tenure-Track-Programm auf den Weg gebracht haben.
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Der Bund gibt Geld für 1 000 Tenure-Track-Professuren, um frühzeitig bessere Planbarkeit in die Wissenschaft zu bringen.
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Dafür haben wir von den Hochschulen, wenn sie teilnehmen wollten, verbindliche Konzepte zur Personalentwicklung verlangt.
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Denn es ist doch so: Der Bund gibt dauerhaft mehr Geld für eine Aufgabe, für die die Länder die Hauptverantwortung tragen. Damit sind natürlich von unserer Seite auch Erwartungen verbunden: Wir erwarten, dass die Länder ihrer Verantwortung gerecht werden. – Diese Erwartungshaltung habe ich übrigens auch mehrfach im Kreise der Wissenschaftsallianz, wo Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen mit am Tisch sitzen, sehr deutlich geäußert. Von den Hochschulen als Arbeitgeber erwarten wir, dass Planungssicherheit, die Bund und Ländern ihnen geben, auch größere Planungssicherheit für mehr Beschäftigte bedeutet.
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Dauerhafte Förderung soll zu dauerhaften Stellen führen, auch ohne Professur; da sind wir gar nicht auseinander. Die Hochschulen haben die Verantwortung. Sie entscheiden, wie sie die Möglichkeiten nutzen, die das Gesetz schafft. Genau das Gleiche gilt für die außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Für sie haben wir die Dauer des Paktes für Forschung und Innovation um zehn Jahre verlängert. Noch nie hat es so viel Geld für Forschung und Entwicklung gegeben, noch nie hat es so viel Planungssicherheit gegeben.
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Der Gestaltungsspielraum, liebe Frau Gohlke, ist damit groß. Es gibt keine Pflicht zu Befristungen, und es gibt schon gar keine Pflicht zu unverschämten Befristungen; ganz im Gegenteil.
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Befristungen müssen angemessen sein. Auch dafür hat der Bund mit dem Gesetz zu Wissenschaftszeitverträgen gesorgt. Die Novelle von 2016 dient dazu, unsachgemäße Kurzbefristungen zu unterbinden.
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Verträge müssen so gestaltet sein, dass die Zeit für die angestrebte Qualifizierung reicht, also etwa für eine Promotion. Bei Projektstellen muss die Vertragslaufzeit der Dauer des Projektes entsprechen. Eigentlich sollte das selbstverständlich sein, war es an vielen Hochschulen aber eben nicht. Deshalb haben wir gehandelt.
Ob das Gesetz jetzt auch so wirkt, wie wir es erwarten, lassen wir gerade evaluieren. So ist es im Koalitionsvertrag vereinbart. Daran war übrigens auch Minister Hubertus Heil beteiligt. Das ist genau wie Gesetz und Novelle in enger Zusammenarbeit mit dem BMAS entstanden. Die Ergebnisse der noch laufenden Evaluation liegen im Frühjahr 2022 vor.
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– Das stimmt nicht.
({14})
– Aber Sie können eine Evaluation nicht vornehmen, wenn an Hochschulen im Moment gar nichts stattfindet. Wir haben aufgrund der Pandemie die Höchstbefristungsdauer im Wissenschaftszeitvertragsgesetz verlängert. Das können Sie doch aber in so eine Evaluation nicht einfließen lassen. Sie brauchen doch einen Zeitraum, in dem sie das auch beurteilen können. Die Evaluation hat am 1. Januar 2020 begonnen. Wir erhalten zum Ende des Jahres erste Ergebnisse, und dann liegt im Frühjahr das Ergebnis vor.
({15})
Eines kann ich Ihnen hier und heute übrigens schon versprechen: Wir haben 2016 eine klare Erwartungshaltung mit dem Gesetz verbunden. Wenn unsere Erwartungen nicht erfüllt werden, dann kommt das Thema zügig wieder auf die Tagesordnung dieses Hohen Hauses.
({16})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in unserem Land leisten jeden Tag hervorragende Arbeit. Sie tragen zu Wohlstand und Fortschritt entscheidend bei. Sie entwickeln Impfstoffe, sie helfen, dem Klimawandel entgegenzutreten. Dafür verdienen sie Respekt und Dank und Unterstützung.
Sie verdienen aber auch eines: Aufrichtigkeit. Das, was hier nun von verschiedenen Seiten gefordert wird, sind leere Versprechungen. Bevor Sie auf der linken Seite des Hauses hier das Blaue vom Himmel versprechen – Dauerstellen für alle –,
({17})
sprechen Sie mit der Wissenschaft, mit den Hochschulen, mit den außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Genau die werden Ihnen sagen: Wir brauchen Befristungsregeln. Wir können nicht allen Promovierten eine dauerhafte Perspektive bei uns eröffnen, wenn wir die Dynamik und den Erfolg unseres Wissenschaftssystems erhalten wollen.
({18})
Und sprechen Sie mit Ihren Parteifreunden in den Landesregierungen. Fragen Sie dort: Warum schafft Ihr nicht mehr Dauerstellen?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg.
({19})
Wir als Bundesregierung sind in dieser Zeit nun wirklich sehr engagiert im gesamten Bildungswesen unterwegs.
Das, und nicht Wahlkampfgetöse, können wir auch von allen anderen erwarten – im Interesse der Wissenschaft und im Interesse der jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
Herzlichen Dank.
({20})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Götz Frömming für die AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Ministerin Karliczek, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mehr Sachlichkeit in die Debatte gebracht haben; Opposition zu sein, heißt ja nicht, aus Prinzip dagegen zu sein.
({0})
Wir sind dagegen, wenn wir etwas für falsch halten, und ich muss zugestehen: Ihrer Rede habe ich mehr Richtiges entnehmen können als der Rede der Kollegin Gohlke.
Kommen wir zur Sache. Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, meine Damen und Herren, regelt also die Befristungen von Arbeitsverträgen für das wissenschaftliche und künstlerische Personal an Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Es soll insbesondere den Besonderheiten der wissenschaftlichen Arbeitswelt Rechnung tragen, zum Beispiel, dass Doktoranden in der Zeit, in der sie ihre Doktorarbeit anfertigen, natürlich den dafür nötigen Freiraum haben sollen. Leider werden viele Doktoranden von ihren Professoren ausgebeutet; das ist aber ein Problem, das man auch durch ein Bundesgesetz nicht regeln könnte. Derzeit haben wir in den Ländern 16 verschiedene Regelungskonstrukte; teilweise sind sie nicht ausreichend mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz abgestimmt, einige widersprechen ihm sogar.
Meine Damen und Herren, zur Wahrheit gehört aber auch, dass die hohe Zahl der Befristungen daran liegt, dass die Universitäten in den letzten Jahren durch falsche politische Weichenstellungen enorm aufgebläht wurden und zu Massenbetrieben geworden sind. Während dieses Prozesses wuchs allein die Gruppe der wissenschaftlichen Mitarbeiter im Verhältnis zur Zahl der Professoren überproportional, von 2004 bis 2018 von 2 900 auf 14 300, also fast eine Verfünffachung in 14 Jahren. Im Jahr 2000 war der Befristungsanteil – jetzt wird es interessant, wenn wir in die Länder schauen – in Bremen mit 82 Prozent am höchsten und in Sachsen-Anhalt mit 56 Prozent am niedrigsten. Bremen wird bekanntlich seit Jahren von den eher linken Parteien regiert, Sachsen-Anhalt eher konservativ. Meine Damen und Herren von der linken Koalition, da müssen Sie erst einmal vor der eigenen Haustür kehren, bevor Sie hier solche Aktuellen Stunden beantragen.
({1})
Meine Damen und Herren, unseres Erachtens betrachtet Die Linke das Problem einseitig und nahezu aus einer gewerkschaftlichen Perspektive. Wir meinen, auch andere Perspektiven müssen berücksichtigt werden, beispielsweise die Perspektive der Hochschulrektoren, sie sehen das Problem bekanntlich ganz anders; ich erinnere an die sogenannte Bayreuther Erklärung.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen auch von den Linken, ich prophezeie Ihnen: Wenn die Möglichkeit zur Befristung so eingeschränkt würde, wie Sie das wollen, dann würden viele, die heute noch befristet angestellt sind, in Zukunft überhaupt nicht mehr angestellt werden. Das kann nicht im Sinne unserer künftigen Wissenschaftler sein.
({2})
Meine Damen und Herren, Die Linke will obendrein – Sie haben das nicht gesagt, Frau Gohlke; aber das habe ich einem Ihrer Anträge entnommen – auch Stipendien abschaffen und dafür Dauerstellen einrichten. Auch hier frage ich mich, ob das tatsächlich ein Vorschlag ist, der bei unseren Studenten auf Zustimmung stoßen würde, ich glaube, kaum.
Lassen Sie mich noch kurz die Vizepräsidentin der Hochschulrektorenkonferenz, Kerstin Krieglstein, zitieren. Sie sagt ganz zu Recht: „Wenn ein Projekt nur fünf Jahre läuft, kann man keine Lebenszeitstellen anbieten.“ Sie ist auch Rektorin der Uni Freiburg. Natürlich hat sie recht:
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Wenn Drittmittel nur für eine bestimmte Zeit laufen, können Sie daraus doch keine Dauerstelle machen. Um das zu verstehen, reicht das kleine Einmaleins; aber so weit ist es bei Ihnen vielleicht noch nicht.
Meine Damen und Herren, der Volksmund sagt zu Recht: „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“, und das gilt natürlich auch für die Universität. Deshalb können Qualifizierungsstellen keine Dauerstellen sein.
({4})
Die Befristung ist hier sinnvoll und geboten, um auch nachfolgenden Studentengenerationen eine Qualifizierung zu ermöglichen. Ich will aber sagen, wo Sie recht haben: Auch wir als AfD-Fraktion fordern schon lange, dass die Grundfinanzierung gestärkt werden muss, vielleicht auch zulasten der Drittmittel, die heute noch über die DFG fließen. Wir brauchen eine Stärkung der Grundfinanzierung; wir brauchen auch einen soliden Mittelbau an den Universitäten. Das sind aber nicht die Qualifizierungsstellen. Das sind beispielsweise – früher hatten wir noch viel mehr davon – die akademischen Räte, Oberräte, Direktoren usw.; auch die können natürlich Einführungskurse, Sprachkurse abhalten, vielleicht sogar genauso gut oder besser als die Professoren. Diesen Mittelbau muss man selbstverständlich stärken. Da gehen wir ganz mit Ihnen, wenn Sie das denn an dieser Stelle so wollten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch sagen, dass das gesamte Problem Bund und Länder natürlich gemeinsam angeht. Es ist eine Illusion, den Bürgern oder auch ihren Zuhörern an den Universitäten vorzumachen, dass der Bund hier allein etwas regeln könnte. Die Länder sind hier mit im Boot; der Bund allein wird es nicht richten können. Wir können das nur gemeinsam tun. Ihr Antrag, Ihre Vorschläge, die bisher dazu vorliegen, sind insofern populistisch. Rüsten Sie ein bisschen ab!
Vielen Dank.
({5})
Für die SPD-Fraktion hat nun Dr. Wiebke Esdar das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor ich zur Sache spreche, zwei Vorbemerkungen. Die erste: Herzlichen Dank an Die Linke, dass wir heute dieses Thema debattieren können; denn es ist ein enorm wichtiges.
({0})
Zweite Vorbemerkung – das sage ich auch –: Wer sich immer und immer wieder vor Regierungsverantwortung drückt und an dieser Stelle noch nie Regierungsverantwortung getragen hat, sollte sich ein bisschen zurückhalten bei der Bewertung der Frage, wie komplex Lösungen bei einem Thema sind, das schwierig ist.
({1})
Ich habe bereits gesagt, dass Handlungsbedarf besteht; das ist richtig. Die Struktur im Wissenschaftssystem zu verändern und diesem Missbrauch von Befristungen Einhalt zu gebieten, diese endlich zu verringern, ist nicht ganz so einfach. Darum möchte ich, dass wir darüber streiten, welche Lösungen es gibt, und dass wir auch darüber sprechen, wie eine Balance zwischen dem berechtigten Anliegen des Wissenschaftssystems, dass Menschen anfangen, sich wissenschaftlich zu qualifizieren, und den Konsequenzen aus einer hohen Promotionsquote, die wir in Deutschland haben, aussehen kann. Ich finde es richtig, dass wir eine hohe Promotionsquote in Deutschland haben; aber klar ist: Nach der Promotion werden nicht alle Professorinnen oder Professoren oder können nicht auf anderen Stellen dauerhaft im Wissenschaftssystem bleiben.
({2})
– Es stört einfach, wenn so unqualifizierte Zwischenreden kommen.
({3})
Es ist richtig, dass wir eine hohe Promotionsquote haben, und darum schlagen wir als SPD-Fraktion vor, dass klar ist: Während der Promotion soll es eine Befristung geben, die Befristung soll nicht in Halbjahresschritten oder in Einjahresverträgen geregelt sein, sondern wir brauchen eine Befristung angemessen der Promotionsdauer – zum Beispiel eine Laufzeit von drei Jahren –, die realistisch in dem Fach ist; denn wir müssen Fächerunterschiede berücksichtigen. Im Wissenschaftszeitvertragsgesetz ist geregelt – das ist doch der entscheidende Punkt –, dass es nach der Promotion momentan noch sechs Jahre, also sechs plus sechs Jahre, insgesamt zwölf Jahre dauert, bis die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die dann gar nicht mehr so jung sind, eine Bleibeperspektive bekommen oder nicht.
Unser Vorschlag ist: Nach der Promotion hat man ein Jahr Zeit, sich zu orientieren und zu entscheiden. Wir möchten, dass es danach eine klare Aussage gibt. Es gibt den Tenure-Track, der Leistung misst. Aber es muss die klare Zusage geben: Wenn du deine Leistung bringst, dann kannst du im Wissenschaftssystem bleiben. Oder es wird eine Dauerstelle in Aussicht gestellt, beispielsweise mit dem Schwerpunkt der Lehre. Wer aber ein Jahr danach diese Perspektive nicht hat, soll dann Bescheid bekommen, dass im Wissenschaftssystem für ihn oder für sie kein Platz ist, und eben nicht erst nach zwölf Jahren, sechs plus sechs.
Wir müssen aber auch über die Qualität der Arbeitsbedingungen während der Promotion sprechen; auch das haben Sie angesprochen. Wir sind der Meinung, es muss ganz klar sein: Wer promoviert, der arbeitet 100 Prozent; wer 100 Prozent arbeitet, der soll auch zu 100 Prozent bezahlt werden.
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Wenn wir ehrlich sind – das als einen neuen Punkt in dieser Debatte –, dann ist unser Wissenschaftssystem doch auch deswegen reformbedürftig, weil es von alten, hierarchischen Denkmustern und Strukturen geprägt ist, die auch dazu führen, dass Missbrauch mit Befristungen möglich ist. Frau Karliczek, Sie haben eben ausgeführt, dass es keine Pflicht zur Befristung gibt. Nein, die gibt es nicht; aber wir müssen schon auch anerkennen, dass es diese hohen Befristungszahlen und diese kurzen Vertragslaufzeiten gibt. Dann zu sagen: „Es gibt keine Pflicht“, ist zu einfach. Wir müssen uns überlegen: Welche strukturellen Bedingungen stehen denn dahinter, und wie können wir, wenn wir das wirklich wollen, Strukturen ändern?
({5})
Darum schlagen wir vor – da kann der Bund handeln –, dass wir vom Bund die Organisation Hochschule auf dem Weg unterstützen, eine Departmentstruktur einzuführen; einzelne Beispiele gibt es schon. Das ist ein ganz schwieriger, komplexer Weg, bei dem wir richtig gut unterstützen müssen; denn diese Organisationsentwicklung ist mit viel Aufwand verbunden. Das muss Bottom-up mit den Beschäftigten gemeinsam organisiert werden.
Wir müssen jedenfalls dazu kommen, dass wir in Deutschland, ähnlich wie in anderen Ländern, eine Departmentstruktur haben. Das baut Hierarchien ab, ermöglicht ein kollektiveres Arbeiten und erzeugt durch den Wegfall von Machtmissbrauch auch weniger schlechte Arbeitsbedingungen. Davon bin ich fest überzeugt.
({6})
Wir haben all das aufgeschrieben.
Kollegin Esdar, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ja. – Sie finden es auf der Homepage der SPD.
({0})
Das ist Bestandteil unseres Wahlprogramms, und Sie finden es auch bei mir auf der Homepage. Im September ist dann darüber zu entscheiden, wer in dieser Frage die besten Ideen hat. Ich glaube, dass wir da etwas Gutes vorgelegt haben.
Danke schön.
Das Wort hat Dr. Thomas Sattelberger für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir hier im Bundestag über Wissenschaft reden, geht es meist um die Milliardeninvestitionen. Sie wissen: Aus meiner Sicht sollten wir auch darüber reden, was am Ende dabei herauskommt: Transfer, Output, Impact.
Der Erfolg von Wissenschaft hat aber noch eine dritte elementare Grundlage: Arbeitsbedingungen, die begünstigen oder verhindern, dass Menschen gute und herausfordernde Leistungen bringen. Exzellente Wissenschaft lebt von Begabungen, von Können und persönlicher Motivation über viele Jahre hinweg. Führung im Wissenschaftssystem ist dabei ein delikates Thema. Nicht jeder Spitzenforscher ist zugleich eine gute Führungskraft. Doktorandinnen und Doktoranden stehen in einem außerordentlichen Abhängigkeitsverhältnis zu Doktormutter oder Doktorvater, in einer Situation des Alles oder Nichts, in der der weitere Lebensweg oft am Erfolg der Promotion hängt, und in der sich einige auch kritische Worte verkneifen, um nichts zu gefährden.
Genauso geht es vielen Postdocs. Sie sitzen an Daueraufgaben oder Langzeitprojekten und hangeln sich von Kettenvertrag zu Kettenvertrag. Wenn wir Spitzenforscherinnen und Spitzenforscher haben wollen, dann müssen wir ihnen eine planbare Lebenssituation bieten.
({0})
Das ist wichtig vor allem für die Forscherinnen. Das miserable deutsche Wissenschaftszeitvertragsgesetz wird noch evaluiert. Das Ergebnis hinterlässt die Forschungsministerin den Nachfolgern als vergiftetes Erbe. Frau Karliczek, das ist kein guter Stil! Das ist wie ein leeres Blatt, das in der Klausur abgegeben wird – Note ungenügend!
({1})
Seit 2007 ist das hauptberufliche wissenschaftliche Personal in Deutschland um die Hälfte angewachsen auf heute 256 000 Stellen. Und immer mehr dieser Stellen, heute 82 Prozent, sind befristet. 82 Prozent – das ist eine Schande für dieses Land!
({2})
Natürlich brauchen Wissenschaftseinrichtungen auch Atmungspotenzial, Flexibilität. Es geht auch um die Fairness zwischen den Generationen. Wir brauchen keine Flaschenhälse, die den nächsten Generationen die Karrierewege blockieren.
({3})
Es geht aber nicht so, wie es heute ist! Wir brauchen Dauerstellen für Daueraufgaben.
({4})
Wir brauchen zwingend Vertragslaufzeiten gemäß Projektlaufzeiten.
({5})
Die Promotion muss abgesichert sein, natürlich in einem realistischen Rahmen.
({6})
Wir brauchen die Ausweitung von Tenure-Track-Programmen für die Postdocs.
({7})
Und wir brauchen reguläre Beschäftigungsverträge für bisher prekär beschäftigte Lehrbeauftragte.
({8})
Meine Damen und Herren, den Menschen in der Wissenschaft verspreche ich von diesem Pult aus: Wir Freien Demokraten werden alles tun, damit die Zahl der Befristungen auf eine realistische Zahl reduziert wird.
({9})
– Dazu komme ich gleich, nur kurz warten. – Wir ringen auch darum, die hierarchischen Abhängigkeiten im Wissenschaftssystem zu mindern und zu mildern; denn wir wollen die Innovationsfreude des Einzelnen und den Innovationsoutput des Wissenschaftssystems.
Ganz anders das BMBF: Das stellt ein dümmliches Video auf seine Website, welches die prekäre Situation der jungen Generation im Duktus einer Kindersendung verharmlost, und nach dem Shitstorm muss Staatssekretär Lukas in die Bütt: Das Video von 2018 entspreche ja nicht mehr dem heutigen Stand. Nur, er beantwortet eine Frage nicht, nämlich was sich denn seit 2018 geändert hat. Dann lassen Sie mich antworten: Nichts, Herr Staatssekretär, gar nichts!
({10})
Frau Ministerin, Ihr eigener Staatssekretär Meister hat auf einer öffentlichen Veranstaltung der GEW die Zahl von 50 Prozent an Befristungen für realistisch angesehen. Da sind Sie ihm heute mit Ihrer Rede ein Stück in den Rücken gefallen.
({11})
Meine Damen und Herren, Deutschland kann es besser. Hightech mit High Touch, Forschung, Wissenschaft und Innovation mit menschlicher und fordernder Arbeitswelt. Machen wir uns alle miteinander endlich ran an den Speck!
Danke schön.
({12})
Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat nun der Kollege Kai Gehring das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit und nicht mit dem Ausblenden der Wirklichkeit.
({0})
Doch genau das macht Ministerin Karliczek. Sie lässt ein Video löschen, weil es ein Twitter-Gewitter über die prekären Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft ausgelöst hat. Wie wäre es eigentlich damit, mehr gegen Kettenbefristungen und gegen die unsicheren Perspektiven für Forschende zu tun? Wir können doch nicht die Erfolge der Impfstoffforschung, von Nobelpreisen und Co hier feiern und dann die Grundlage des Ganzen vergessen: die alltägliche Arbeit, die Neugierde und Kreativität der Forscherinnen und Forscher, die Großartiges leisten.
({1})
Die heutige Misere war schon 2018 absehbar. Da schrieben Union und SPD ziemlich ambitionslos in den Koalitionsvertrag – Zitat –:
Wir wollen den wichtigen Weg für gute Arbeit … fortsetzen und die Evaluationsergebnisse der letzten Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes auswerten …
Das BMBF hat diese Evaluation dann so lange hinausgezögert, dass diese wichtigen Ergebnisse erst 2022 vorliegen.
({2})
Dann hätten Sie auch gleich in den Koalitionsvertrag schreiben können: „Wir sitzen das aus.“ Das wäre zumindest ehrlich gewesen.
({3})
Jetzt hilft es auch nicht mehr, wenn in der letzten Sitzungswoche des Deutschen Bundestages die SPD-Fraktion ein Positionspapier dazu auflegt. Mit Ihrer Hinhaltetaktik in der Union und in der SPD haben Sie die Glaubwürdigkeit beim Thema „Gute Arbeit in der Wissenschaft“ systematisch verspielt. Unser Innovationsland braucht verlässliche Berufswege in der Wissenschaft.
({4})
Seit Jahren fordern wir Grüne im Bundestag beharrlich, das WissZeitVG weiterzuentwickeln, um die Jobsicherheit in der Wissenschaft zu verbessern, und zwar ganz konkret: klare Regelungen für Familie und Pflege, damit Sorge für die Liebsten und wissenschaftliche Karriere endlich besser vereinbar wären; ausreichende Mindestvertragslaufzeiten, eine klare Definition des Qualifikationsbegriffs und ein Ende der Tarifsperre, um Wissenschaftstarifverträge zu ermöglichen.
Daueraufgaben müssen mit Dauerstellen gesichert werden. Wir brauchen deshalb endlich mehr unbefristete Berufswege neben der Professur und eine wirklich verantwortliche Personalentwicklung in den einzelnen Universitäten für frühere Rückmeldungen über realistische Karriereperspektiven. Vor allem brauchen wir eine auskömmliche Grundfinanzierung, damit wir wegkommen von der übergroßen Drittmittelabhängigkeit. Das Motto muss lauten: Dauerstellen statt Dauerbefristung.
({5})
Dabei bitte ich nicht zu vergessen: Geforscht und gelehrt wird nicht nur an den Universitäten, sondern auch an Hochschulen für angewandte Wissenschaften. „Ich bin Hanna“ hört man von dort seltener, aber nicht, weil dort alles in Butter ist, sondern, weil der Mittelbau dort noch viel kleiner ist und die Arbeitsbedingungen oft noch viel unsicherer sind.
({6})
Auch da müssen wir ran. Angela Dorn macht als grüne Ministerin in Hessen gerade vor, wie das geht.
Geben wir auch den Forschenden an Hochschulen für angewandte Wissenschaften endlich die Freiräume und Unterstützung, die sie verdient haben.
({7})
Ein zweiter Punkt, der nicht zu kurz kommen darf: Die Hochschulen bilden die Vielfalt unserer Gesellschaft noch lange nicht ab. Forschende mit Handicap, aus Arbeiterfamilien oder mit Migrationsgeschichte sind nach wie vor die Ausnahme, vor allem unter den Professorinnen und Professoren.
(Martin Reichardt [AfD]: Welche Arbeiterfamilie kennen Sie denn? Kennen Sie überhaupt eine?
Rektorinnen, Präsidentinnen, Frauen in Spitzenpositionen der Wissenschaft sind unterrepräsentiert. Das wollen wir ändern.
({8})
Marginalisierte Gruppen twittern auch nicht so oft unter #IchBinHanna“. Aber wenn, dann berichten sie vor allem von den zusätzlichen Hürden, die sie überwinden müssen oder was sie letztlich sogar in den Abbruch treibt; denn auch in der Wissenschaft gibt es Frauenfeindlichkeit, Queerfeindlichkeit und alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Auch damit finden wir Grüne im Bundestag uns nicht ab und wollen mehr Diversity in der Wissenschaft wagen; denn alle haben das Recht auf gleiche Chancen
({9})
und die gibt es nur mit Respekt und besten Arbeitsbedingungen für alle.
({10})
Excellence und Diversity gehören zusammen in Deutschland und international.
({11})
Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit und braucht Mut zur Veränderung.
({12})
Diesen Geist würden wir uns ab September auch endlich wieder im BMBF wünschen. Wir wollen, dass mit Freiheit und Sicherheit besser geforscht werden kann, damit wir weniger Hannas und mehr Innovationen ernten.
({13})
Das Wort hat Dr. Astrid Mannes für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich mich an die Kollegin Dr. Esdar wenden. Sie nehmen hier ja gelegentlich – und auch heute wieder – die Rolle der regierenden Opposition ein.
({0})
Dass es eine regierende Opposition gibt, habe ich während meines Studiums des öffentlichen Rechts nicht gelernt; aber man lernt ja auch nie aus.
({1})
Ich finde es reichlich überzogen, hier mit einer Aktuellen Stunde aufzuwarten; denn das Wissenschaftszeitvertragsgesetz haben wir nun wirklich schon sehr ausführlich in dieser Legislaturperiode miteinander diskutiert, ebenso das Tenure-Track-Programm und andere Regelungen, die auch mit hineinspielen.
Der Bund hat in den letzten Jahren eine Reihe von Anstrengungen unternommen, um Karrierewege in der Wissenschaft attraktiver und auch planbarer zu machen. Gemeinsam mit den Ländern hat die Bundesregierung sowohl die Exzellenzstrategie als auch den Zukunftsvertrag „Studium und Lehre stärken“ verstetigt. Damit haben sowohl die Länder als auch die Hochschulen finanzielle Planungssicherheit erhalten.
({2})
Der Bund gibt jedes Jahr 2 Milliarden Euro in diesen Zukunftsvertrag hinein, damit Länder und Hochschulen mehr Dauerstellen einrichten können.
({3})
Der Pakt für Forschung und Innovation wurde – die Ministerin hat es vorhin auch schon gesagt – um zehn Jahre verlängert. Das gibt den außeruniversitären Forschungseinrichtungen Sicherheit. Auch das Tenure-Track-Programm ist darauf ausgelegt, das Verhältnis von unbefristeten zu befristeten Stellen zu verbessern und die Karrierewege für junge Wissenschaftler planbar zu machen.
Deutschland ist ein innovatives Land, und wir wollen auch weiterhin mit Innovation und Fortschritt international ganz vorne dabeibleiben. Daher geht es darum, auch gute Wissenschaftler für die deutsche Forschung zu gewinnen und an unsere Universitäten und Forschungseinrichtungen zu holen. Das geht natürlich nur mit attraktiven Bedingungen. Daher liegt es auch im Interesse der Universitäten und der Forschungseinrichtungen selbst, den Bewerbern attraktive Bedingungen anzubieten.
Und doch – leider nimmt die Fraktion Die Linke diesen Punkt bei unseren Debatten nie zur Kenntnis – dürfen wir die notwendige Flexibilität für die Forschungseinrichtungen nicht außer Acht lassen. Wir reden beim Wissenschaftszeitvertragsgesetz übrigens in erster Linie von Stellen, die der wissenschaftlichen Qualifikation dienen. Das System ist so aufgebaut, dass Doktoranden oder Nachwuchswissenschaftler, die sich habilitieren, für diese Zeit der Qualifikation entsprechende befristete Stellen im Wissenschaftsbetrieb einnehmen.
Was würde es denn konkret bedeuten, wenn es keine Befristung für diese Qualifikationsstellen gäbe? Das hieße doch, dass die nächsten Jahrgänge, die auch solche Stellen für die Zeit ihrer Qualifikation in Anspruch nehmen möchten, keine freien Stellen vorfinden würden, weil die Vorgängerjahrgänge diese Stellen dauerbesetzen würden. Ein Wechsel auf den Stellen ist also notwendig. Qualifikationszeiten sind befristet. Also müssen es auch die Qualifikationsstellen sein.
({4})
Übrigens können diese Stellen ja auch verlängert werden. Wir haben das vorhin auch schon gehört. Aber wir wissen es eigentlich auch schon aus den alten Debatten, wie es war, wenn die Nachwuchswissenschaftler während der Pandemie nicht im üblichen Rahmen weiterarbeiten konnten. Auch hier hat die Bundesregierung bzw. haben wir, der Deutsche Bundestag, der besonderen Situation Rechnung getragen.
Die Chancen für junge Wissenschaftler, im Anschluss an eine solche Qualifizierungszeit eine unbefristete und übrigens auch gut dotierte Stelle zu finden, stehen ausgesprochen gut; auch darauf hat die Ministerin vorhin hingewiesen. Die Arbeitslosenquote bei Promovierten liegt bei weniger als 2 Prozent. Das Jahresgehalt von Promovierten in Vollzeittätigkeit liegt im Durchschnitt rund 10 000 Euro höher als bei Nichtpromovierten. Warten wir also das Ergebnis der Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes ab; denn dann können wir in der neuen Legislaturperiode auf einer Grundlage diskutieren, die Hand und Fuß hat, und wir brauchen hier heute keine Fortsetzung des Wahlkampfgetöses.
Vielen Dank.
({5})
Während das Pult gereinigt wird, wofür ich mich natürlich bedanke, gebe ich Ihnen mal einen kleinen Zwischenstand – wir haben immerhin zehn Minuten rausgeholt –: Um 8.09 Uhr am morgigen Tag endet nach aktuellem Stand unsere derzeit laufende Sitzung. Ich bin zuversichtlich, dass wir noch etwas mehr Zeit herausholen, um dann die um 9.00 Uhr beginnende Sitzung auch entsprechend konzentriert beginnen zu können.
Das Wort hat der Abgeordnete Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Weil wir über Beschäftigte reden und das voraussichtlich meine letzte Rede in dieser Wahlperiode ist, lassen Sie mich auch mal den Beschäftigten hier danken, etwa den Saaldienern, die für uns immer eine so wunderbare Arbeit machen.
({0})
Sie wollen den Beschäftigten in der Wissenschaft Respekt zollen. Meine Damen und Herren, ich glaube, das ist nicht die Zeit für Symbolpolitik. Das ist ein schwieriges Thema, ein Zukunftsthema. Wir wollen die wichtige Frage, wie wir Wissenschaft und Forschung mit ihrer benötigten Fluktuation, mit ihrem Erneuerungsbedarf – all das ist nötig, damit kreative Wissenschaftler attraktive Positionen erhalten, damit Forscher in neuen Gebieten forschen können – mit dem Problem versöhnen, dass Forscher meistens nur befristete Verträge angeboten bekommen. Das bedeutet letztendlich, dass an den Universitäten mitunter die Talentiertesten, die Intelligentesten, die Menschen, die die Zukunft unseres Landes wirklich mitgestalten wollen, oft sehr, sehr schlechte Verträge erhalten.
Aber da hilft kein plumper Populismus, sondern wir müssen die Ursachen dafür analysieren. Wenn wir uns das näher anschauen, dann sehen wir, dass dieses Phänomen an Hochschulen vor allem im sogenannten wissenschaftlichen Mittelbau auftritt, also bei den wissenschaftlichen Mitarbeitern. Mehr als 80 Prozent von ihnen sind befristet beschäftigt, seit 2014 stieg ihre Anzahl um 50 Prozent an. Aber das ist bei den Qualifizierungsphasen, bei der Promotion, bei der Habilitation, auch kein Problem. Ich denke, dort werden wir alle diese befristeten Arbeitsverhältnisse wollen, weil diese eben auf der einen Seite Qualifikation ermöglichen und auf der anderen Seite diese Qualifikation auch wirtschaftlich absichern.
Es wird nur dann problematisch, wenn sie tatsächlich Ewigkeiten verlängert werden, bis maximal zwölf Jahre. Diese Fälle gibt es manchmal, die gibt es selten; aber dort ist das Problemfeld ein anderes. Das liegt nämlich an der Dominanz der Drittmittelfinanzierung.
({1})
Das liegt an der mangelnden Ausfinanzierung der Hochschulen an sich und an diesem doch stark projektorientierten Drittmittelbetrieb. Na ja, natürlich! Und wenn es ein befristetes Projekt gibt, dann wird da auch nur eine befristete Stelle angeboten. Das ist eigentlich ganz selbstverständlich.
Das Problem ist eigentlich eher, dass die Drittmittelfinanzierung ein Heer von Wissenschaftlern produziert, die nach ihrer Qualifizierungsphase keine Arbeitsperspektive haben, weder in der Wissenschaft noch in der freien Wirtschaft, und die dann tatsächlich, im wahrsten Sinne des Wortes, prekär sind – ohne Absicherung.
Meine Damen und Herren, auch für die Lehre ist das Drittmittelfinanzierungssystem problematisch, weil es eben die Diskontinuität in Studienprogrammen fördert und gleichzeitig die Dozenten unter einen gewissen Mobilitätsdruck setzt. Wollen sie das tun, was sie lieben und was sie auch richtig gut können, nämlich ihr Fach unterrichten oder auf ihrem Gebiet forschen, aber das eben immer nur prekär? Oder werden sie irgendwann ihre wirtschaftliche Situation stabilisieren, eventuell aus dem Hochschulbetrieb aussteigen und etwa irgendein gutes Angebot wahrnehmen? Das ist dann ein Verlust für die Hochschule und für die Lehre in Deutschland.
Aber dieses Problem ist doch völlig hausgemacht. Es gab mal relativ häufig Positionen wie den Akademischen Rat oder den Akademischen Oberrat, ähnlich wie es an den Schulen den Studienrat gibt. Aber wir sehen in der Politik fast aller Bundesländer – und das ist die Politik von CDU/CSU und SPD, auch der Grünen, auch der Linken –, dass immer mehr Lehrer aus entsprechenden Positionen abgedrängt werden – ich beziehe mich jetzt absichtlich auch mal auf die Schule – und eine Krankheitsvertretung nach der anderen schieben müssen. Das passiert, weil man Geld einsparen möchte; deswegen wird dort dieses Prekariat erzeugt.
Wenn wir uns dann auf Bundesebene darüber unterhalten, was man dagegen tun kann – die AfD-Fraktion hat zum Beispiel eine Änderung des Teilzeit- und Befristungsgesetzes beantragt, um Kettenbefristungen zu begrenzen, die ja bisher mit Sachgrund im Endeffekt unbegrenzt möglich sind –, dann stimmt die Linksfraktion dagegen. Ja, ganz ehrlich: Wenn Sie sich so auch beim Wissenschaftszeitvertragsgesetz verhalten, wo es dann entsprechend um die Lehre an der Hochschule geht, dann brauchen die jungen Wissenschaftler und Forscher von Ihnen absolut nichts zu erwarten.
({2})
Was wir brauchen, das ist ein neuer Hochschulpakt im wahrsten Sinne des Wortes, der die Qualität in der Forschung und Lehre sichert und gleichzeitig prekäre Verhältnisse vermeidet. Wir müssen den Besten eines Jahrgangs Karriereperspektiven an den Hochschulen ermöglichen, dauerhafte Berufsperspektiven, die eben auch über das angloamerikanische Modell einer Tenure-Track-, einer Lecturer-Position funktionieren können. Aber unsere einzige Möglichkeit, das zu erreichen, ist, dass wir die Grundfinanzierung der Hochschulen nachhaltig erhöhen, damit sie Planungssicherheit erhalten, damit sie Stellen schaffen können, damit sie auch die Freiheit bekommen, die sie brauchen, und nicht immer in dieser Abhängigkeit von kurzfristigen, prekären Drittmittelprojekten sind.
Wir müssen weggehen von diesem ideologischen Druck. Wir müssen weggehen von dieser Kurzfristigkeit. Wir müssen hingehen zu einer wirklichen Freiheit der Universitäten. Das ist das, wofür die Alternative für Deutschland steht.
({3})
Wir sind die Partei, die Fraktion der Freiheit – in der Wissenschaft wie auch in der Bundesrepublik Deutschland.
Haben Sie herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Oliver Kaczmarek für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin denjenigen, die sich unter dem #IchBinHanna nicht nur bei Twitter, sondern auch in vielen Publikationen an der Debatte beteiligt haben, sehr dankbar für die Schilderungen aus dem Alltag, weil das etwas bewegt hat und dafür gesorgt hat, dass wir überhaupt über dieses Thema auch hier im Deutschen Bundestag und an anderer Stelle diskutieren können.
Worum es geht, das sind zwei grundsätzliche Dinge, die wir zusammenführen müssen. Natürlich haben wir ein Interesse daran, dass die Wissenschaft leistungsfähig bleibt, dass sie Lösungen für die Menschheitsfragen entwickelt. Aber das muss sich auch darin ausdrücken, dass wir Wertschätzung dokumentieren für die, die diese Arbeit machen, für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Wir haben es offensichtlich mit einer Generation zu tun, deren Leben nicht nur aus Wissenschaft besteht, sondern auch aus Familie, aus Wohnen, aus Freizeit. Was viele offensichtlich noch nicht mitbekommen haben, ist, dass wir diese Generation für die Wissenschaft gewinnen müssen, damit sie Zukunftslösungen erarbeiten kann. Und das geht nur durch gute Arbeit, durch verlässliche Karrierewege und stabile Arbeitsverhältnisse. Dafür müssen wir sorgen.
({0})
Jetzt werden verschiedene Erklärungen veröffentlicht, warum das alles nicht so einfach ist. Auch ich habe mir das Video vom BMBF angeguckt, sogar bis zum Ende. Nicht jeder kann in der Wissenschaft bleiben. Ich bin der Meinung, da wird ein ordentlicher Popanz aufgebaut – das sollten wir gar nicht mehr erwähnen –; denn von den 28 000 bis 29 000 Menschen, die derzeit jedes Jahr eine Promotion abschließen, wollen etwa 20 Prozent in der Wissenschaft verbleiben. Genau für diese Gruppe brauchen wir geregelte Verhältnisse auf dem wissenschaftlichen Arbeitsmarkt. Das Recht auf gute Arbeit gilt für uns nicht nur in den Betrieben, sondern auch in der Wissenschaft. Es ist unser Auftrag, da jetzt ranzugehen.
({1})
Ich will auch sagen: Die Sache ist langfristig auch nicht gut für das Wissenschaftssystem; zu viel Flexibilität und zu viel Befristung führen doch langfristig dazu, dass wir zumindest in der Gefahr sind, exzellente Fachkräfte zu verlieren.
({2})
Ich bin deshalb überzeugt: Gute Arbeit ist im Interesse der Hochschulen und der Forschungseinrichtungen. Ich sage sogar: Langfristig können nur die Hochschulen und Forschungseinrichtungen exzellent sein oder bleiben, die für stabile Arbeit sorgen und nicht Selbstausbeutung und prekäre Arbeit hinnehmen. Sie müssen gemeinsam mit uns für gute Arbeit sorgen, und wir müssen den Rahmen dafür schaffen.
({3})
Ich will sagen, Frau Ministerin: Ich war jetzt gerade schon ein bisschen irritiert, als Sie gesagt haben: „Na ja, das ist alles schon richtig, was die da unter #IchBinHanna geschrieben haben, und herzlichen Dank dafür; das sind schreckliche Verhältnisse“, aber auf der anderen Seite „Das Gesetz ist ausreichend“ gesagt und mit ausgestrecktem Finger auf die Hochschulen gezeigt haben. Na, die Hochschulrektoren werden sich gefreut haben, als sie heute gesehen haben, dass sie selbst dafür verantwortlich sein sollen,
({4})
dass prekäre Arbeit an den Hochschulen organisiert wird. Deswegen sage ich: Wir als Gesetzgeber müssen in der Lage sein, darauf zu reagieren und eben auch deutlich zu machen: Wir wollen ein Arbeitsrecht, das mehr Stabilität schafft.
Deshalb hat die SPD drei ganz simple Regeln für eine Novelle zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz entwickelt – ich bin, weil hier viele Fraktionen in solch eine Richtung argumentieren, ganz zuversichtlich, dass wir nach der Bundestagswahl mit den richtigen Stärkeverhältnissen in der Regierung dann auch Veränderungen hinbekommen –:
({5})
Erstens. Wir brauchen sichere Rahmenbedingungen für eine Promotion, und das – Wiebke Esdar hat darauf hingewiesen – für die gesamte Dauer der Promotion. Das ist eine wichtige Grundlage.
({6})
Zweitens. Wir brauchen danach in möglichst überschaubaren Zeiträumen Klarheit für diejenigen, die in der Wissenschaft bleiben wollen
({7})
und aufgrund ihrer Leistung auch bleiben können. Für sie brauchen wir, weil wir die Besten in unserem System halten wollen, entweder einen verlässlichen Karrierepfad – zum Beispiel jetzt schon durch eine Ausweitung der Tenure-Track-Option – oder eine unbefristete Beschäftigung, insbesondere in der Lehre.
Drittens. Für Daueraufgaben braucht es auch dauerhafte Stellen.
Das sind drei Leitlinien, mit denen wir das Wissenschaftszeitvertragsgesetz als Befristungsinstrument überwinden und zu einem Gesetz für gute Arbeit in der Wissenschaft weiterentwickeln wollen. Lassen Sie uns da für gemeinsame Mehrheiten kämpfen.
({8})
Natürlich ist der Rahmen gut gesetzt. Frau Mannes hat das gerade alles noch mal aufgeführt – teilweise wurde das in der Koalition ja auch kontrovers diskutiert, auch schon in der letzten Koalition –: Hochschulpakt verstetigt, Pakt für Forschung und Innovation, Exzellenzstrategie, Tenure-Track-Programm. Wir haben viele Dinge gemacht.
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– Alles gut! – Das haben wir gemeinsam in der Koalition erreicht, teilweise wurde auch darüber gestritten; aber wir haben es erreicht. Aber wenn wir dann sehen, dass das Ergebnis nicht befriedigend ist,
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dann müssen wir doch auch in der Lage sein, den gesetzlichen Rahmen auszufüllen und dafür zu sorgen, dass der gesetzliche Rahmen dem folgt, was wir wollen, nämlich stabile Beschäftigungsverhältnisse in der Wissenschaft schaffen.
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Da gibt es einige weitere Optionen: das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, zu dem ich gerade unsere Leitlinien dargestellt habe, die Ausweitung des Tenure-Track-Programms. Da geht es um das, was Frau Esdar gesagt hat: 100 Prozent Arbeit muss bei der Bundesförderung auch eine 100-Prozent-Stelle nach sich ziehen. – Das sind alles wichtige Dinge. Damit würde der Bund Vorbildwirkung entfachen. Damit würden wir mehr leisten als mit dem, was Sie gemacht haben, nämlich auf die Hochschulrektoren zeigen und sagen, dass sie das nicht hinkriegen. Das ist nicht richtig.
Insofern glaube ich: Es gibt mehr Möglichkeiten, anzupacken. Wir sollten uns aus der Debatte nicht raushalten, sondern jetzt dafür sorgen, dass wir ein entschiedenes Handeln für gute Arbeit in der Wissenschaft hinbekommen. #IchBinHanna, das wird nachhaltig bleiben.
Vielen Dank.
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Das Wort hat Dr. Petra Sitte für Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! #IchBinHanna: Ja, ich sage: Hanna ist mir sehr nahe. Seit ich als Forschungspolitikerin hier im Bundestag angefangen habe zu arbeiten, beschäftige ich mich mit den Sorgen von Nachwuchswissenschaftlern und Nachwuchswissenschaftlerinnen. Mit ihnen habe ich hier in diesem Haus meine allerersten Gespräche geführt. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ein junger Mann damals zu mir sagte: Wissen Sie, ich könnte den Job gar nicht machen, wenn meine Frau nicht Ärztin wäre.
Endlich vertreten unter diesem Hashtag Tausende gemeinsam und öffentlich und mutig ihr Anliegen.
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Es geht ihnen nicht nur um sich selbst. Es geht ihnen auch um die Freiheit der Wissenschaft. Es geht ihnen auch um die Qualität von Forschung und Lehre, die schließlich uns allen zugutekommt. Deshalb haben wir hier eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
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Meine Damen und Herren, #IchBinHanna steht übrigens für den gesamten Bildungsbereich. Entlang der Bildungskette von der Kita über Schulen und Hochschulen bis hin zur Weiterbildung werden Beschäftigte oft behandelt, als ob sie sich eigentlich einen neuen Job suchen sollten. Menschen in Bildung und Forschung haben etwas Besseres verdient, nämlich Anerkennung und Verlässlichkeit.
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Diese aber fehlen schon an Schulen.
Man muss sich das mal vorstellen: 2018 wurden acht von zehn Lehrkräften befristet eingestellt. Mit den Sommerferien werden sie in die Arbeitslosigkeit entlassen. Das muss endlich beendet werden. Auch Stellen von Schulsozialarbeitern werden ständig befristet, weil dabei EU-Mittel zum Einsatz kommen. Unterrichtsausfall war schon lange vor Corona ein Thema. Es kostet Schülerinnen und Schüler Bildungschancen, im nächsten Schuljahr erst recht. Nach der Coronapandemie muss das endlich aufhören. Da muss endlich was passieren.
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Im Kitabereich bekommen die meisten Erzieherinnen und Erzieher nur 30-Stunden-Verträge, und sie werden oftmals nicht einmal nach Tarif bezahlt. Selbst wenn sie nach Tarif bezahlt würden, hätten sie für eine Vollzeitstelle nicht mehr als 3 000 Euro brutto zu erwarten. Gerade während der Coronazeit – Sie kennen das alle aus Ihrem Bekanntenkreis oder selbst aus der Familie – haben viele Eltern gemerkt, wie anspruchsvoll diese Arbeit ist.
Erzieher ist ein Engpassberuf, weil zu wenige junge Menschen zu solchen Konditionen arbeiten möchten. Für ihre Ausbildung sollen sie – das muss man sich mal überlegen! – dann auch noch bezahlen. Das ist doch völlig verrückt.
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Noch schlimmer sehen die Beschäftigungsbedingungen dort aus, wo Bildung zusätzlich neben oder nach der Schule und dem Beruf angeboten wird. Dort gibt es fast nur noch Honorarverträge. Im Lockdown hatte das dramatische Folgen. Ich meine hier Lehrkräfte an Musikschulen. Ich meine Museumspädagoginnen. Ich meine Lehrkräfte an Sprach-, Integrations- und Weiterbildungskursen an Volkshochschulen und anderswo.
Im Weiterbildungsbereich gibt es eine grandiose Verordnung. Schon der Name sagt alles – mal sehen, ob ich es gut vorlesen kann –: „Aus- und Weiterbildungsdienstleistungenarbeitsbedingungenverordnung“ – 64 Buchstaben, ich habe nachgezählt. Langer Name, wenig drin. In dieser Verordnung wird ein Mindestlohn von etwa 16 Euro pro Stunde vorgeschrieben – brutto. Eine Entlohnung von Vor- und Nachbereitung ist nicht vorgesehen. Ähnlich ergeht es nämlich infolgedessen den Lehrbeauftragten an den Universitäten. Sie wuppen immerhin die Hälfte aller Lehrveranstaltungen.
Kursleitern für die Bundesagentur für Arbeit oder das Bundesamt für Migration geht es genauso. Das alles empfinde ich als empörend. Man muss diese aktuelle Debatte auch mal nutzen, um diese Dinge auf den Punkt zu bringen und hier offenzulegen. Das kann so nicht weitergehen.
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Eine ehemalige Lehrbeauftragte erzählte kürzlich: „Ich bin Ende März 2020 aus diesem ganzen Elend der freiberuflichen Dozententätigkeit für das BAMF ausgestiegen. Was mich dazu bewogen hat? Vor allem ein Gefühl der Enttäuschung und des Missachtetwerdens.“ Oder auf Twitter wiederum schrieb die Lebenspartnerin eines Forschers: „Ich frage mich, wie viele Beziehungen und Familien keine Chance hatten, weil die Unsicherheit, das viele Pendeln und das Arbeitspensum die Leute ausgezehrt hat.“
Die schlechten Arbeitsbedingungen im Bildungs- und Wissenschaftsbereich sind unwürdig. Sie sind familienfeindlich, und sie sind vollkommen überflüssig.
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Vor allem benachteiligen sie nachweislich Frauen.
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Vier Jahre lang wollte die Koalition daran etwas ändern. Es ist nichts passiert. Meine Damen und Herren, wir haben hier kein Erkenntnisproblem.
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Wir haben ein Umsetzungsproblem.
Eins noch zum Abschluss, insbesondere an die Adresse von Frau Mannes: Ich hoffe, Hanna geht wählen.
Danke.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Tankred Schipanski das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich höre schon von den Linken: Jetzt kommt irgendwas mit Thüringen. – Selbstverständlich. Also, da die Frau Sitte hier sagt, sie wolle was offenlegen und auf den Punkt bringen:
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Liebe Frau Sitte, dann schauen Sie in die Länder, wo Sie Verantwortung tragen.
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In Erfurt und in thüringischen Kommunen sind die für Musikschulen zuständigen Dezernenten zum Teil von den Linken. Das, was Sie zu Missständen an Musikschulen dort gesagt haben, wird überhaupt nicht angegangen.
Sie stellen den Kultusminister in Thüringen. Wenn Sie das mit den Erziehern so aufregt: Der macht überhaupt nichts.
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Wenn es da einen Missstand gibt, hätten Sie die Möglichkeit, da was zu tun. Sie machen nichts. Hören Sie doch mit diesem Wahlkampfgetöse an dieser Stelle auf!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Unionsfraktion hat eine ganz klare Position in dieser Aktuellen Stunde.
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Wir stehen an der Seite des wissenschaftlichen Nachwuchses. Wir schätzen die Leistungsbereitschaft, den Fleiß, den Ideenreichtum der Nachwuchswissenschaftler. Wir engagieren uns seit vielen, vielen Jahren für bessere Arbeitsbedingungen für unseren wissenschaftlichen Nachwuchs in Deutschland.
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Diese Fakten will ich einfach mal den Kollegen ins Gedächtnis rufen, insbesondere denen der FDP. Lassen Sie mich mal die Debatte einordnen. In der Kritik steht dieses Wissenschaftszeitvertragsgesetz: 2007 eingeführt, 2011 evaluiert, übrigens wieder von der HIS GmbH, die auch heuer eine Evaluation durchführt. Diese stellte damals einen massiven Missbrauch dieses Gesetzes durch Universitäten und Forschungseinrichtungen fest.
Dann, im April 2012, ein Antrag der damals schwarz-gelben Koalition im Bundestag: „Exzellente Perspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs fortentwickeln“. Dort haben wir als Union gezeigt, wie wir uns ein neues Wissenschaftszeitvertragsgesetz vorstellen, übrigens damals auch mit der FDP. Genau das ist in die Novelle eingeflossen, die wir dann 2015 auf den Weg gebracht haben und die im „Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs“ auch entsprechend gelobt und gewürdigt wurde.
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Wir hatten dazu Expertenanhörungen im Ausschuss und Debatten im Bundestag. Wir hatten 2020 eine Anpassung im Rahmen der Coronakrise gehabt. Und: Wir haben uns 2020 auf eine Evaluation verständigt. Dazu braucht Wissenschaft, hier die HIS GmbH, wiederum Zeit. Da kann man doch nicht sagen, dass das „Aussitzen“ oder „vergiftete Geschenke“ ist. 2022 kommt die Evaluation. Wenn da festgestellt wird: „Es gibt Missbrauch“, dann werden wir auch reagieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben doch mit der Novelle 2015 dem Befristungsunwesen und dem Stellensplitting ein Ende gesetzt. Wir haben diesen Missbrauch beendet, und das ist das Wichtige. Es geht nicht um die Zahl der befristeten Stellen, Herr Sattelberger; es geht um den Missbrauch. Googeln Sie doch einfach mal – „Digital first“, liebe FDP – den Code of Conduct der außeruniversitären Forschungseinrichtungen, die Handlungsempfehlungen der HRK.
Es ist doch lächerlich, Anja Karliczek hier vorzuwerfen, diese Verträge kämen doch von ihr. – Es gibt keinen Nachwuchswissenschaftler, der einen Vertrag mit dem BMBF hat. Vertragspartner sind natürlich die Universitäten, und das sind die außeruniversitären Forschungseinrichtungen. An denen liegt es, wie sie diesen Vertrag ausgestalten. Da hat die Ministerin mit jeder Silbe recht gehabt.
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Der „Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs“ zeigt, dass wir diese Fortschritte haben. Schauen Sie doch einfach nach: Da können Sie diese Fakten auch nachlesen.
Die Expertenanhörungen 2013 und 2015 haben doch das Problem aufgezeigt: Klar, es geht um die Personalstruktur und die Karriereplanung. Aber in den Anhörungen wurde uns auch ganz klar gesagt: Das hat nichts mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz zu tun. Das ist eine Frage der Landeshochschulgesetze. – Das war die einhellige Meinung auch Ihrer Sachverständigen, liebe Kollegen von den Linken.
Ferner haben sie gesagt, wenn wir auf die Karriereplanung schauen: Es geht um die Planbarkeit der Grundfinanzierung. – Das wurde in der Debatte angesprochen. Und da ist der Bund doch Vorreiter, nämlich mit den Hochschulpakten – wir haben es hier gehört –, für die uns der Bundesrechnungshof regelmäßig, ich will fast sagen, verprügelt, und mit dem Tenure-Track-Programm. Die TU München macht das schon seit Jahren vor, indem sie auch mit Karrierecentern arbeitet. Das kann jede Universität, jede Forschungseinrichtung machen; und sie muss es nach diesem Gesetz und nach den Selbstverpflichtungserklärungen auch machen. Und wenn wir nächstes Jahr um diese Zeit feststellen, dass das nicht gemacht wird, dann werden wir das natürlich noch mal angehen.
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Kolleginnen und Kollegen, die Bundesländer sind am Zug, bei der Finanzierung nachzulegen. Ich denke da immer an die BAföG-Entlastung 2015 – lesen Sie mal die Krimis des Bundesrechnungshofs, was da passiert ist! –,
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die ganzen Bund-Länder-Vereinbarungen, die Milliardenfinanzierung jetzt über den Artikel 91b GG, den neuen Bund-Länder-Finanzausgleich seit 2020.
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Die Bundesländer können ihren wissenschaftlichen Nachwuchs entsprechend stärken; sie können entsprechende Dauerstellen einrichten.
Die Union bleibt die Partei des wissenschaftlichen Nachwuchses. Wir haben Grundlagen zur Planbarkeit für die Universitäten, für die Wissenschaftseinrichtungen gelegt. Wir engagieren uns weiter für faire und gute Bedingungen. Die CDU/CSU bleibt wichtigster Partner für gute, exzellente Wissenschaft in Deutschland; und dafür werden wir uns auch ab Herbst dieses Jahres wieder hier im Bundestag engagieren.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Sybille Benning das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zukunft des Wissenschaftsstandortes Deutschland ist in hohem Maße davon abhängig, dass es uns gelingt, die findigsten Talente zu holen und zu halten. Schon allein deshalb sind gute Arbeitsbedingungen an Hochschulen und Forschungseinrichtungen ein Ziel unserer Politik.
Aber es gibt auch ein Leben außerhalb des Wissenschaftssystems. Hier bieten sich für hochqualifizierte promovierte Absolventen lukrative und interessante berufliche Perspektiven; denn sie verfügen über Kompetenzen, die auch für Wirtschaft und Verwaltung eine Bereicherung darstellen. Es können nicht alle in der Wissenschaft ihr Auskommen finden, und das ist auch nicht nötig. Aber es ist wichtig, dass die Entscheidung, ob man in der Wissenschaft bleibt oder wechselt, frühzeitig fällt – aus meiner Sicht so kurz wie möglich nach der Promotion. Dafür müssen die Forschungsinstitutionen ihren Mitarbeitern ehrlich ihre Möglichkeiten im Wissenschaftssystem aufzeigen. Heute hat die Rektorin der Uni Freiburg dies in einem Artikel in der „Zeit“ klar formuliert – Zitat –: „Das ist nicht nur eine Frage der Personalentwicklung, sondern des Respekts.“
Wir wollen, dass wissenschaftliche Karrieren planbarer und transparenter werden. Wir setzen uns für Chancengleichheit und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Wissenschaft ein. Und weil wir diese Ziele verfolgen, haben wir auch in diesem Sinn gehandelt.
Zur Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes haben die Ministerin und Kollege Schipanski schon ausführlich gesprochen.
Wir haben das Professorinnenprogramm in der dritten Auflage verlängert, um nach der Promotion mehr Frauen im Wissenschaftssystem zu halten; und wir sehen ja auch schon Erfolge.
Wir haben den Zukunftsvertrag „Studium und Lehre stärken“ als Nachfolger des Hochschulpaktes als dauerhafte Bundesförderung aufgestellt. Das gibt den Hochschulen die Planungssicherheit, dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse auszubauen.
Dafür gibt es riesige Summen. Der Bund hat hier mit erheblichen Mitteln den Anreiz an die Länder gesetzt, ihrer ureigenen Aufgabe, nämlich der Grundfinanzierung der Hochschulen, nachzukommen.
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Vielleicht könnten Sie das auf Oppositionsseite auch mal anerkennen. Ich kann mich jedenfalls gut daran erinnern, dass Sie alle in der letzten Legislaturperiode immer gefordert haben, der Bund solle den Hochschulpakt auf Dauer stellen. Voilà!
Noch mal: Wir haben von Bundesseite ganz klar die Erwartungshaltung formuliert, dass mit diesen Mitteln unbefristete Stellen für Hochschulpersonal in Studium und Lehre geschaffen werden. Das ist als Schwerpunkt der Mittelverwendung in der Bund-Länder-Vereinbarung verankert.
Dann möchte ich zum Tenure-Track-Programm kommen. Damit fördert der Bund bis 2032 mit 1 Milliarde Euro die Etablierung von 1 000 Tenure-Track-Professuren, also 1 000 neue planbare Karrieren. Zugleich haben wir damit eine große strukturelle Reform angeschoben, die Personalstrukturen nicht nur auf Ebene der Professur zu überdenken, sondern für das gesamte wissenschaftliche Personal. Denn Bedingung für die Förderung war, dass die Hochschulen ein Personalentwicklungskonzept für das gesamte wissenschaftliche Personal erstellen. Das ist ein echter zukunftsweisender Fortschritt für Transparenz und Planbarkeit wissenschaftlicher Karrieren.
Es ist also schlicht falsch, zu behaupten, wir würden uns als Bund nicht um bessere Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft scheren. Im Gegenteil! Aber die Länder müssen schon auch ihrer Verantwortung nachkommen.
Ich möchte jetzt mit einem erfreulichen Beispiel aus meiner Heimatstadt Münster schließen. Die WWU Münster hatte sich auf Mittel aus dem Bundes-Tenure-Track-Programm beworben, war aber leider dabei nicht erfolgreich. Und anstatt dann einfach alles beim Alten zu belassen, hat die WWU das Konzept, das sie für die Bundesförderung erarbeitet hatte, dann – zwar in kleinerem Umfang, aber trotzdem – mit Bordmitteln umgesetzt.
Es gibt an der WWU jetzt ein eigenes Programm für Juniorprofessuren mit Tenure Track, und das stellt nicht nur die Finanzierung dieser Stellen sicher, sondern macht über ein Begleitprogramm genau das, was zukunftsfähige Personalentwicklung ausmacht: Es hilft exzellenten jungen Wissenschaftlern durch Coachings und Mentoring dabei, auch die Kenntnisse zu erwerben, die neben der Forschungsleistung erwartet werden, für Lehre, Betreuung, Administration. Es fördert den Austausch und die Vernetzung dieser Young Professors untereinander. Und es begleitet sie und die Nachwuchsgruppenleiter/-innen auch fachbereichsspezifisch, damit sie sich schnell an der Hochschule integrieren.
Sie sehen also, dass die Bundesinitiative des Tenure-Track-Programms an einer Universität als Anreiz gewirkt hat, durch ein eigenes Modell Karrierewege planbar zu machen – ganz ohne Bundesgeld. Ich finde, solche Beispiele sollten noch viel mehr Schule machen.
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Eine weitere erfreuliche Wirkung hat das Tenure-Track-Modell in Münster übrigens auch noch: Es ist für Frauen besonders attraktiv. Weil hier ein strukturiertes, ganz transparentes Auswahlverfahren geführt wird, sind Frauen hier häufig erfolgreich. Und weil damit Verlässlichkeit entsteht, die besonders für Frauen in der Familienphase so wichtig ist, ist das eine ganz besonders attraktive Option. Das lässt sich übrigens auch für international rekrutierte Spitzennachwuchsforscher sagen. Das Tenure-Track-Modell hat also viele interessante Zielgruppen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist jetzt definitiv meine letzte Rede im Plenum des Deutschen Bundestags. Es war mir eine Ehre und eine Freude, meinen Wahlkreis Münster in den letzten beiden Wahlperioden hier zu vertreten. Ich bedanke mich bei allen, mit denen ich in den letzten Jahren für gute Bedingungen für Wissenschaft, Forschung und Bildung konstruktiv zusammenarbeiten konnte.
Vielen Dank.
({2})
Ich wünsche Ihnen alles Gute für den vor Ihnen liegenden neuen Lebensabschnitt!
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Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Dr. Wolfgang Stefinger für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner in dieser Debatte kann man auch noch mal ein paar Dinge zusammenfassen. Da möchte ich schon festhalten, dass meine Vorredner, insbesondere auch aus der Unionsfraktion, bei allen Reden Verständnis für die teils schwierige Situation von Nachwuchswissenschaftlern geäußert haben. Ich tue das auch. Es ist immer wünschenswert, Planungssicherheit zu haben, und es ist selbstverständlich, dass Befristungen nicht ausgenutzt werden sollen. Das gilt natürlich für die Wissenschaft, aber auch für die Wirtschaft. Das Wichtige ist aber, dass wir auch Flexibilität erhalten, und hierfür gibt es entsprechende rechtliche Rahmen in unseren Gesetzen.
Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass der Bund eine ganze Reihe von Maßnahmen ergriffen hat und auch sehr viel Geld bereitgestellt hat, um die Länder und Hochschulen in die Lage zu versetzen, Stellen zu entfristen, zuletzt auch mit dem Zukunftsvertrag „Studium und Lehre stärken“.
Ich möchte gar nicht auf alle Punkte, die schon von der Ministerin und den Vorrednern ausgeführt wurden, noch mal eingehen. Ich möchte den Blick eher auf die Zuständigkeiten richten; denn ich hatte in den vergangenen vier Jahren – ehrlicherweise auch in dieser Debatte – immer wieder das Gefühl, dass bei einigen Kolleginnen und Kollegen hier im Haus die Auffassung einer Allzuständigkeit des Bundes vorherrscht.
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Deshalb möchte ich den Kolleginnen und Kollegen dringend anraten, sich in der Sommerpause das Grundgesetz als Lektüre vorzunehmen.
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Denn im Grundgesetz ist eindeutig geregelt: Schule ist Ländersache, Hochschule überwiegend Ländersache. Vielleicht schauen Sie sich Artikel 74 Absatz 1 GG, Artikel 91 GG oder auch Artikel 104c GG besonders an, zumal wir als Bund jetzt auch noch in die Finanzhilfen für die Länder eingestiegen sind, die nicht in der Lage sind, ihre Aufgaben wahrzunehmen.
Hätten Sie in das Grundgesetz geschaut, liebe Linke, dann wüssten Sie, dass hier der falsche Ort für diese Debatte ist. Ich frage Sie: Warum führen Sie diese Debatte nicht in den Landtagen?
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Wieso führen Sie diese Debatte nicht im Landtag von Thüringen?
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Liegt es vielleicht daran, dass Ihre eigene linke Landesregierung in Thüringen die Auffassung der Bundesregierung in Bezug auf Befristungen teilt?
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Ich zitiere aus der „Hochschulstrategie Thüringen 2020“ – können Sie nachlesen im Kapitel 4.7.1 –:
Zur Erfüllung der den Hochschulen obliegenden Aufgaben in Wissenschaft, Lehre und Forschung wird es weiterhin unabdingbar sein, sowohl befristetes als auch unbefristetes Personal zu beschäftigen.
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Weiter heißt es im Übrigen – hören Sie doch mal lieber zu! –:
Ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Instrument der Befristung, insbesondere bezüglich der Dauer der Befristungen
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– und jetzt kommt es, aufpassen! –
ist in erster Linie Aufgabe der Thüringer Hochschulen.
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Merken Sie was? Ihre linke Regierung teilt eins zu eins die Auffassung des Bundesministeriums.
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Da frage ich Sie schon: Wieso ändern Sie das in Thüringen denn nicht? 69 Prozent der Stellen in Thüringen sind befristet. Frau Gohlke, „Rückgrat zeigen“ haben Sie vorhin gesagt. Na, dann fangen Sie mal an!
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Sie regieren dort seit 2014, aber hier die großen Reden halten, ohne die Zuständigkeit zu haben.
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Man kann natürlich der Meinung sein wie Sie und auch so manche hier im Haus, dass der Bund mehr Kompetenzen braucht.
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Die Meinung kann man haben, aber dann sollten Sie bitte auch ehrlich diskutieren; das tun Sie aber nicht. Dann sollten Sie sich in Ihrer Partei auch mal über die föderale Struktur unterhalten.
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Dann müssten Sie nämlich auch darüber sprechen, ob man nicht die Landtage verkleinert; denn mangels Aufgaben bräuchte man ja dann weniger Abgeordnete. Vielleicht sollten Sie sich dann auch Gedanken über den Staatsaufbau machen.
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Brauchen wir denn dann noch 16 Bundesländer? Da wünsche ich Ihnen in Ihrer Partei viel Vergnügen bei der Diskussion; denn dann fallen bei Ihnen ein Haufen Versorgungsposten weg
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und im Übrigen auch viele befristete Stellen in den Abgeordnetenbüros und in den Fraktionen.
({15})
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei dieser Diskussion.
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Fest steht: Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben in dieser Wahlperiode massiv in Bildung und Forschung investiert, vor allem auch in den wissenschaftlichen Nachwuchs. Und liebe Frau Sitte: Ja, Hanna mag wählen gehen. Ich sage Ihnen aber: Andere werden auch wählen gehen,
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und zwar auch diejenigen, denen Sie mit Vermögensabgabe, Abschaffung von Ehegattensplitting, höheren Steuern usw. das Geld aus der Tasche ziehen.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Mit der Novelle des Klimaschutzgesetzes schließen wir jetzt den Reigen der Klimaschutzbeschlüsse in dieser Legislaturperiode ab. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hat die Bundesregierung umgehend gesetzgeberisch gehandelt. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in meinem Haus danken, die diese Novelle in wenigen Tagen erstellt haben.
({0})
Das Klimaschutzgesetz wird jetzt sicherstellen, dass wir die neuen, die deutlich höheren Ziele für 2030 und 2040 zuverlässig erreichen – bis hin zur Treibhausgasneutralität in 2045. Der Schlüssel dazu sind die Sektorziele, die meine Vorgängerin Barbara Hendricks mit dem Klimaschutzplan 2050 als Orientierung eingeführt hat. In dieser Legislaturperiode haben wir sie mit jährlich sinkenden Emissionsmengen gesetzlich verbindlich gemacht. Meine sehr geehrten Damen und Herren, viele erinnern sich noch daran, wie sehr das hier alles bekämpft worden ist.
Alle die, die das Klimaschutzgesetz als zahnlosen Tiger kritisiert haben, werden sehr schnell erleben, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Architektur des Klimaschutzhauses steht. Und die erste Einrichtung des Hauses ist auch schon geschafft: mit dem Kohleausstieg und den damit verbundenen Strukturhilfen, mit milliardenschweren Förderprogrammen vor allen Dingen für die Transformation im Verkehr, für die Bewältigung der Herkulesaufgabe, unseren Gebäudebestand innerhalb der nächsten 20 Jahre klimaneutral zu bekommen, und auch mit der Unterstützung für die Dekarbonisierung der energieintensiven Industrie durch die Förderprogramme und die Klimaschutzverträge des Umweltministeriums.
({1})
Ich will nicht verhehlen, dass ich mir bis zum Schluss noch mehr gewünscht habe. Natürlich hätten wir neben den guten Zielen und den richtigen Investitionsprogrammen mit den weiteren 8 Milliarden Euro Fördermitteln ein Tempolimit, eine Solardachpflicht für Neubauten, bessere Energiestandards für Gebäude und vor allen Dingen einen steileren Pfad für den Ausbau der erneuerbaren Energien verabschieden können. Die SPD wollte auch, dass der CO2-Preis nicht allein auf Mieterinnen und Mieter abgeladen wird
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– das war im Kabinett beschlossen –, aber für den sozialen Klimaschutz gibt es mit der Unionsfraktion hier leider keine Mehrheit. Das ist eines der Dinge, die die nächste Regierung dann sehr schnell anpacken wird.
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Es geht um so viel jetzt. Wir haben grundlegende Veränderungen unserer Gesellschaft vor uns. Wir wollen 2045 treibhausgasneutral wohnen, wir wollen treibhausgasneutral wirtschaften und mobil sein. Dafür muss der Ausbau der erneuerbaren Energien Vorrang bekommen. Dafür muss die Infrastruktur jetzt endlich modernisiert werden. Das wird alles die Aufgabe nicht nur dieser, sondern auch der nächsten Regierung sein, vor allen Dingen in den ersten 100 Tagen der neuen Bundesregierung, unserer neuen Bundesregierung.
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Meine Damen und Herren, in den nächsten Wochen werden nun die Ideen, wie in unserem Land Klimapolitik gestaltet wird, aufeinandertreffen. Es wird einen Wettstreit um die besten Konzepte geben. Ich bin davon überzeugt: Darüber lohnt es sich, zu streiten. Der Klimaschutz ist die Zukunftsfrage für unsere Wirtschaft, für unsere Gesellschaft. Sozial gerechten Klimaschutz, den gibt es mit der Sozialdemokratie.
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Dafür werden wir auch im Weiteren streiten.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Karsten Hilse für die AfD-Fraktion.
({0})
Sie haben einen richtig schönen roten Lappen. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Landsleute! Wie bei dem Ermächtigungsgesetz kann es gar nicht schnell genug gehen:
({0})
Schon heute muss die Novelle zum sogenannten Klimaschutzgesetz durchgepeitscht werden, schnell noch in den Bundesrat und zum Bundespräsidenten. Dann ist uns wieder ein Riesenstück Freiheit genommen worden, sind Hunderte Milliarden völlig unnützer Kosten ohne jedweden Nutzen fürs Klima, für die Menschen im Lande, die das Ganze auch noch bezahlen müssen, festgezurrt – ein weiterer Stein auf dem Weg in Unfreiheit und Armut.
Die Kommunisten auf der linken Seite sind komplett verbohrt. Deswegen wende ich mich an Sie, werte CDU-Genossen.
({1})
Unter Ihnen gibt es einige kluge Köpfe, die ganz genau wissen, dass Sie auf dem falschen Weg sind, und die nur aus Loyalität gegenüber der Partei mitgehen – Originalzitat eines Ihrer Kollegen. Ein Land zugrunde zu richten aus Loyalität zur Partei, das hatten wir in unserer Geschichte schon mehrmals.
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Sie wissen, dass es schon lange nicht mehr ums Klima, um Klimaschutz geht. Oder wollen Sie es gar nicht wissen? Selbst die ohne eigenes Wissen hätten sich beispielsweise bei der öffentlichen Anhörung zu ebendieser Novelle schlaumachen können. Dort trat einer der weltbesten Physiker in Bezug auf Interaktion von Strahlung und Materie, also genau den Grundlagen der Atmosphärenphysik, wie sie für das Klima anzuwenden sind, auf. Es war der mit wissenschaftlichen Ehrungen, Preisen, Medaillen und öffentlichen Ämtern überhäufte Professor William Happer aus Princeton, der Uni, an der auch Albert Einstein nach seiner Emigration aus Deutschland lehrte.
({3})
Happer erklärte auch für einfache Menschen leicht verständlich, dass von der Erhöhung der CO2-Konzentration keinerlei Gefahr ausgeht, weder für das Klima noch für Mensch und Tier.
Es gibt keinen Klimanotstand durch CO2, jetzt nicht, morgen nicht und übermorgen auch nicht.
({4})
Denn wendet man die ehernen Strahlungsgesetze, gefunden und aufgeschrieben von so eminenten Deutschen wie – und jetzt hören Sie zu! – Max Planck und Karl Schwarzschild wissenschaftlich sauber an, so erwärmte sich das Klima selbst bei Verdoppelung des CO2-Gehaltes, also von 0,04 auf 0,08 Prozent, um gerade mal klägliche 0,8 Grad Celsius, wobei äußerst fraglich ist, ob die bekannten plus die geschätzten Vorräte aller fossilen Brennstoffe zum Erreichen dieses Wertes überhaupt ausreichend wären. CO2 ist nicht – ich wiederhole seine Worte – der Hauptkontrollknopf des Klimas; das ist eine Formulierung von ihm. Die Behauptung, das menschengemachte CO2 sei die Hauptursache des Klimawandels – so sieht es Happer, und so sehen es Zigtausende ungehörte Wissenschaftler auf dieser Welt –,
({5})
ist zu einem religiösen Dogma geworden, das nicht mehr angezweifelt werden darf.
({6})
Religiöse oder politische Dogmen jedoch waren schon immer Begründungen für Freiheitsentzug, gefolgt von Vernichtung von Wohlstand und fast immer auch der Vernichtung von Menschen. Schon immer wurden Abweichler wie Sokrates, Galileo Galilei, Giordano Bruno, Martin Luther und viele, viele andere verfolgt und viele zum Schweigen gebracht – nicht, weil die religiösen Dogmatiker die besseren Argumente hatten,
({7})
sondern weil sie die Macht hatten, die anderen zum Schweigen zu bringen und den Rest zu zwingen, an das Dogma zu glauben und ihm zu folgen.
({8})
Wie ein weiteres Dogma etabliert werden soll, sehen wir gerade an der unwürdigen Hetzkampagne gegen Ungarn. Mag das in Ungarn beschlossene Anti-Pädophilie-Gesetz nicht jedem gefallen, es ist Sache der Ungarn.
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Wir haben den Ungarn viel zu verdanken. Hätten sie nicht 2015 knallhart EU-Recht durchgesetzt, wären wir mit noch mehr zum größten Teil homohassenden Muslimen überschwemmt worden.
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Nagyon köszönöm! In Ungarn können Homosexuelle frei und ohne Angst leben.
({11})
Hier laufen sie Gefahr, wie in Dresden geschehen, von einem Muselman abgeschlachtet zu werden.
({12})
Das ist der entscheidende Unterschied.
({13})
Aber zurück zum Klimadogma. Ich rufe den Vernünftigen unter Ihnen zu:
({14})
Lassen Sie uns mit diesem Dogma Schluss machen, erweisen wir uns alle als mündige und aufgeklärte Bürger im besten Kant’schen Sinne, haben wir den Mut, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen,
({15})
und retten damit unsere Freiheit und unseren Wohlstand.
Ich bedanke mich für Ihre werte Aufmerksamkeit.
({16})
Während das Pult gesäubert wird, wofür ich wiederholt danke,
({0})
kündige ich hier an, dass ich mir jetzt den Vorabauszug zur Rede und natürlich auch zu sämtlichen Zwischenrufen und sonstigen Beifalls- und Unmutsäußerungen kommen lasse und mir vorbehalte, nachträglich auch Ordnungsmaßnahmen zu ergreifen. Aber dazu prüfe ich das Protokoll.
Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Stephan Stracke für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herzliches Dankeschön, Frau Präsidentin. – Herr Hilse, was wir hier gerade erleben mussten, ist ein weiterer Tiefpunkt, was die AfD angeht, und zeigt ihre Kläglichkeit im Umgang mit der Herausforderung der Klimaneutralität. Es mag ja viele Debatten über Sinn und Zweck von Klimaneutralität geben;
({0})
aber dass Sie das Bundesverfassungsgericht nicht mehr anerkennen, das zeigt, wo Sie stehen.
({1})
Sie haben sich entfernt von diesem Rechtsstaat.
({2})
Sie müssen einfach akzeptieren, dass dieses Bundesverfassungsgericht klar gesprochen hat. Das erwarte ich von Ihnen.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Deutschland 2045: Wir sind ein klimaneutrales Industrieland mit zukunftsfähigen Arbeitsplätzen,
({4})
Wohlstand und verlässlichem sozialem Zusammenhalt. Das ist unser Ziel für Deutschland, unser politischer Anspruch, dem sich CDU und CSU stellen. Wir wollen jetzt, in diesem Jahrzehnt, die entscheidenden Schritte gehen, damit Deutschland bis 2045 ein klimaneutrales Industrieland wird. Das ist eine gewaltige Gemeinschaftsaufgabe. Dazu brauchen wir sicherlich einen neuen Generationen- und Gesellschaftsvertrag.
({5})
Dabei sind für uns Klimaschutz, nachhaltiges Wachstum und soziale Sicherheit untrennbar miteinander verbunden.
Ohne Zweifel, die größten Herausforderungen liegen noch vor uns. Wir werden diese bewältigen, weil wir ein starkes Land sind und weil wir in der Vergangenheit schon ein gutes Stück des Weges zurückgelegt haben.
Die Leistungsbilanz dieser Koalition kann sich in Sachen Klimaschutz sehen lassen: Deutschland hat sein nationales Klimaziel für 2020 – 40 Prozent Treibhausgasminderung im Vergleich zu 1990 – trotz aller Unkenrufe vorab erreicht. Mit dem Klimaschutzgesetz von 2019 haben wir für den Klimaschutz in Deutschland erstmals ein eigenes Gesetz geschaffen. Mit dem nationalen Emissionshandel gibt es jetzt eine CO2-Bepreisung für Wärme und Verkehr. Das ist ein effizientes marktwirtschaftliches Instrument. Damit gelingt es uns, den Wettbewerb bei den Einsparungen anzureizen und gleichzeitig flexibel auf Veränderungen zu reagieren.
({6})
Unser Ziel ist ein umfassender europäischer Emissionshandel; alles aus einem Guss ist sicherlich am besten.
Der Bund hat in den vergangenen Jahren 80 Milliarden Euro für Klimaschutzinvestitionen bereitgestellt. Darauf bauen wir jetzt auf mit weiteren 8 Milliarden Euro im Zuge des Klimaschutz-Sofortprogramms.
Ich glaube, wir haben als Koalition viel getan. Daran wollen wir anknüpfen und auch noch ambitionierter werden. Mit dem neuen Klimaschutzgesetz wird jetzt verbindlich die Klimaneutralität geregelt. Wir beschreiben den Kurs dahin noch klarer als bisher, setzen damit auch den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts um. Wir sorgen zugleich für eine bessere zeitliche Verteilung der Lasten bei der Einsparung. Das sorgt für mehr Generationengerechtigkeit.
Zugleich richten wir Deutschland auf das neue EU-Klimaziel aus, setzen dieses auch national um. Das ist ein offensiver Beitrag zum europäischen Green Deal. Nationale und europäische Klimapolitik müssen natürlich ständig miteinander verschränkt werden. Alles andere sorgt für Ineffizienz – klimapolitisch, wirtschaftlich und finanziell. Wir haben Sorge dafür getragen, dass dies gelingt, dass die Veränderungen auf europäischer Ebene auch in der nationalen Klimaarchitektur abgebildet werden.
Der Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft ist bei der CO2-Bepreisung zentral. Zum Schutz der Wirtschaft und der heimischen Arbeitsplätze bringen wir jetzt die Carbon-Leakage-Verordnung auf den Weg. Dies ist ein erster wichtiger Schritt. Nach zähen Verhandlungen ist es uns gelungen, kleinere und mittlere Unternehmen bei den Kosten zu entlasten. Wir konnten hier eine stufenweise Absenkung des Selbstbehalts erreichen. Das ist sicherlich gut, aber wir wollten mehr beim Kompensationsgrad, bei den Zugangsschwellen; denn es geht um viele Arbeitsplätze in diesem Bereich, die in einem starken Wettbewerb stehen. Das ist mit der SPD nicht zu machen gewesen und ist ein Beispiel dafür, wie weit die SPD inzwischen von den Arbeitern und Arbeitnehmern in diesem Land entfernt ist.
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Der Erfolg der Energiewende ist zentral für mehr Klimaschutz. Wir müssen hier schneller werden, gerade bei den Genehmigungsverfahren. Die Neuregelung für das Repowering von Windkraftanlagen ist ein großer Schritt nach vorne. Wir bringen die Energiewende voran und sind dabei noch viel pragmatischer als vorher, ohne dass die Regeln für den Mindestabstand zur Wohnbebauung verändert werden. Das ist zentral und wichtig für die Akzeptanz.
Wir arbeiten und liefern als Koalition. Wir wollen Deutschland zum klimaneutralen Industrieland machen. Das gelingt am besten, wenn wir Interessen zusammenführen und immer wieder neu den Ausgleich suchen. Das ist am Ende auch der effektivste Weg für das große Gemeinschaftswerk der Klimaneutralität unseres Landes.
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Das Wort hat Dr. Lukas Köhler für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt von Herrn Stracke und von der Ministerin viel über Effizienz gehört. Man muss sich, glaube ich, noch mal ein bisschen näher angucken, ob das, was Sie da mit Ihrem Klimaschutzgesetz gemacht haben, wirklich so effizient ist. Sie haben einen klaren Auftrag vom Bundesverfassungsgericht gehabt.
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Eben wurde gesagt: Sie müssen ein europäisch integrierbares Gesetz machen. Sie müssen für Effizienz und Technologieoffenheit im Klimaschutz sorgen, und Sie müssen einen klaren Plan vorlegen, der zeigt, in welche Richtung und wie Sie absenken wollen.
Über den klaren Plan kann man streiten. Man kann darüber nachdenken, ob Sie das sozusagen ab 2030 wirklich hinbekommen. Aber was Sie gemacht haben, ist kein europäisch integrierbares Gesetz; Sie sind vorgeprescht. Sie haben sich einfach überlegt: Mensch, wir machen es möglichst hart, möglichst schnell oder möglichst so, dass niemand anders mit uns diskutieren kann. – Wer in einer Verhandlungssituation von vornherein seinen Preis schon festgelegt hat, der kann nicht mehr verhandeln; der läuft nur noch hinterher. Das ist doch ein Trauerspiel in der Klimapolitik, wenn Sie nicht gemeinsam mit anderen europäischen Ländern zusammengehen.
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Das ist doch nicht effizient. Herr Stracke, Sie haben es ja gerade gesagt: Eine europäisch integrierte Lösung wäre effizient gewesen. – Sie haben sie aber nicht gemacht. Sie haben selber gesagt, Sie ziehen Klimaneutralität auf 2045 vor und legen für 2030 Ziele fest. Wenn der Rest Europas jetzt sagt: „Na ja, wir machen beim Ziel 2045 nicht mit“, dann haben Sie fünf Jahre im Emissionshandel Zertifikate einfach mal verschenkt. Herzlichen Glückwunsch! Das ist nicht effizient. Das ist genau das Gegenteil davon.
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Frau Schulze, was mich wirklich gewundert hat: Man kann der Meinung sein, dass Sektorziele klug sind. Man kann der Meinung sein, dass sie funktionieren. Aber man kann nicht der Meinung sein, dass sie effizient sind; denn Sie sorgen nicht dafür – das ist völliger Nonsens –, dass der Euro da ausgegeben wird, wo er am effizientesten eingesetzt werden kann. Man kann das machen, aber nur, wenn man an einen starken Staat, der genau weiß, wo was passieren muss, glaubt. Dieser Glaube ist ein absolut aberwitziger Irrglaube, der niemals in Erfüllung gehen wird.
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Das einzig effiziente und funktionierende System ist ein einheitlicher Emissionshandel, der über sein CO2-Limit dafür sorgt, dass sichergestellt werden kann, dass Sie Klimaschutz betreiben. Bei allem anderen müssen Sie herumdoktern.
Liebe Union, dass Sie sich so über unser wunderbares Wahlprogramm freuen und daraus eine Reihe von Dingen abschreiben, freut uns. Das finden wir gut. Folgen Sie uns gerne, folgen Sie uns auch im nächsten Jahr, in der nächsten Legislatur weiter. Da sind wir gerne dabei. Aber das Problem ist doch: Das, was Sie heute beschließen, hat natürlich Auswirkungen auf morgen, hat natürlich Auswirkungen auf die nächste Legislatur.
Dass Sie diese Sektorziele mitmachen, das kann ich nicht verstehen. Denn Sie müssen mir eine Sache beantworten – bei der SPD habe ich mittlerweile aufgegeben, dass sie diese Antwort liefert –: Was macht Ihr aktueller Verkehrsminister, wenn in einem Jahr die Ziele nicht erreicht werden?
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Was ist die Sofortmaßnahme, die Sie in drei Monaten beschließen und in sechs Monaten umsetzen, und zwar so, dass Sie damit Ziele erreichen? Nicht irgendwelche absurden Ideen, irgendwelche Tempolimits oder Flugverbote, von denen selbst Herr Habeck sagt, dass sie nur symbolisch sind. Sie brauchen Sofortmaßnahmen, und Sofortmaßnahmen heißen im Zweifel Fahrverbote. Das möchte ich mal sehen, dass das jemand bei Ihnen durchsetzt. Das ist doch keine Effizienz, das ist Wahnsinn.
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Das ist vor allen Dingen keine Klimapolitik.
Einzelne Sektorziele vorzugeben, macht keinen Sinn. Es geht um den Gesamtausstoß, die gesamte Menge an CO2, die wir noch ausstoßen dürfen und die wir noch ausstoßen können. Die können Sie limitieren. Wir haben funktionierende effiziente und bereits eingeführte Instrumente, mit denen Sie das machen können. Dazu gehören aber keine CO2-Steuer, die jährlich vorgibt, wie teuer CO2 ist, und keine anderen Sachen.
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Natürlich geht alles in Richtung Emissionshandel. Die Grünen haben es verstanden – Sie haben doch gerade Frau Badum gehört –: Das ist das Effizienteste, weil alles andere, was Sie im Ordnungsrecht dazu machen, Sie immer viel Geld kosten wird. Da, liebe Grüne, erwarte ich von Ihnen Transparenz, nicht nur mit Blick auf die Tatsache, dass Ihre CO2-Steuer Geld kostet. Auch alle anderen Maßnahmen – Verbrennerverbote, Fahrverbote, egal was Sie machen wollen – kosten eine Menge Geld. Das müssen Sie mal transparent machen, weil das nämlich das wirklich Unsoziale ist.
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Ich freue mich auf eine offene Debatte in der aktuell laufenden Diskussion. Ich glaube, wir können gemeinsam viel für den Klimaschutz erreichen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Köhler.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Leidig, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Für meine letzte Rede greife ich ein bisschen zurück. Als ich 2009 in den Bundestag kam, war die Erschütterung der Finanzmarktkrise noch ganz frisch, die kapitalistische Megamaschine infrage gestellt – mit Recht. Die 500 größten Banken und Konzerne geben nämlich darin den Takt vor. Ihr einziger Zweck ist, den Shareholder-Value zu steigern. Längst ist klar, dass deshalb die Schere zwischen Hyperreichtum und Armut wächst und die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört werden: Artenvielfalt, Ackerböden, Wasserhaushalte, stabiles Klima.
In Deutschland werden 40 Tonnen Rohstoff pro Kopf und Jahr verbraten – nachhaltig wären 6 –, zum Beispiel Eisenerz aus Brasilien. Für Autokarosserien werden riesige Flächen Regenwald gerodet und Minenarbeiter geknechtet. Statt aber die Krise für klimagerechte Erneuerung zu nutzen, hat damals die deutsche Regierung 5 Milliarden Euro für die Abwrackprämie lockergemacht. Eine große Ressourcenverschwendung! Für das Geld hätten unendlich viele Fahrradwege und Bahnstrecken hergerichtet werden können.
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2011 hat sich der Bundestag zu einer Enquete-Kommission durchgerungen mit dem Titel: „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften“. Den Abschlussbericht kommentierte die „WirtschaftsWoche“ im Februar 2013 so – ich zitiere –:
Die Enquete-Kommission … des Bundestages präsentiert ein Trauerspiel der intellektuellen Bedürftigkeit. Vor allem Union und FDP haben zu der … wichtigsten Frage der Zeit absolut nichts zu sagen.
Ich füge hinzu: Daran hat sich nichts geändert.
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Weiteres Zitat:
Gedankenlos wird … die PR-Phrase vom ‚nachhaltigen Wachstum‘ nachgeplappert. Als ob nicht … jedem denkenden Menschen klar sein muss, dass das ein Widerspruch in sich … ist …
Nachdem 2019 hierzulande über 1 Million Menschen mit „Fridays for Future“ auf die Straße gegangen sind, gab es wieder eine Chance, endlich eine sozialökologische Transformation einzuleiten. Aber Ihr Klimaschutzgesetz haben selbst die industrienahen Institute für zu lasch erklärt.
Die 21-jährige Sophie Backsen ist zusammen mit Hunderten weiteren Klägern vors Bundesverfassungsgericht gegangen, weil die Inseln, auf denen sie leben, überflutet werden, wenn die Meeresspiegel steigen. Und sie bekamen Recht. Die Konsequenzen dieses Urteils sind noch gar nicht abzusehen, wenn Bürger/-innen ihre Repräsentanten für Unterlassung und für Handlungen gegen Klimaschutz zur Verantwortung ziehen können.
Ein Beispiel für Handlungen gegen Klimaschutz ist der Bundesverkehrswegeplan, genauer gesagt das Fernstraßenausbaugesetz. Das wollen wir stoppen.
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Es sieht Infrastruktur für mehr Auto- und noch mehr Lkw-Verkehr vor, was jedes Jahr eine halbe Milliarde Tonne CO2 zusätzlich bedeutet. Das steht auch in diesem Plan. Schon deshalb muss man den ganzen Plan in die Tonne treten.
Mit Blick auf konkrete Projekte wird es dann noch schlimmer. Die A 20 zum Beispiel soll durch kohlenstoffspeichernde Moorgebiete gebaggert werden – garantiert klimaschädlich. Die A 49 zerschneidet intakten Mischwald, obwohl wir alle wissen, wie wertvoll Wälder sind.
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Sie wollen sogar den unverantwortlichen Weiterbau der A 100 durch Berlin, während zugleich das Volksbegehren „Berlin autofrei“ erfolgreich am Start ist.
Eigentlich ist völlig klar, wie man CO2-Emissionen massiv reduzieren kann. Dazu gehört auf jeden Fall eine wirkliche Verkehrswende mit deutlich weniger motorisiertem Verkehr. Klimagerechte Mobilität geht mit guten Fuß- und Fahrradwegen, mit Zügen und öffentlichen Verkehrsmitteln für alle, Bus und Bahn statt Autobahnwegen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach zwölf Jahren kandidiere ich nicht mehr für den Bundestag, auch weil die Musik für eine sozialökologische Verkehrswende anderswo spielt.
Ich bedanke mich bei den Saaldienerinnen und Saaldienern, bei den Reinigungskräften und bei all den guten Geistern, die diesen großen Tanker hier über Wasser halten. Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegen Abgeordneten für gute Zusammenarbeit oder für produktiven Streit. Und ich bedanke mich bei den vielen engagierten Menschen in Bürgerinitiativen, NGOs, Gewerkschaften und aktivistischen Gruppen, die mich angespornt und inspiriert haben. Allen wünsche ich alles Gute.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Leidig. Ich bedanke mich bei Ihnen für drei Legislaturperioden parlamentarischer Tätigkeit und wünsche Ihnen für die Zeit nach dem Bundestag alles erdenklich Gute.
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Ich erteile als nächstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Anton Hofreiter, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Politik bedeutet immer Abwägen, und unser wichtigstes Arbeitsinstrument ist der Kompromiss. Zur Realität gehört, dass man nicht immer alles erreicht, was man will. Aber noch nie standen einer Regierung beim Klimaschutz so viele Möglichkeiten offen wie Ihnen.
Mehrere Hitze- und Dürresommer haben die Dringlichkeit der Klimakrise eindrücklich gezeigt. Mit „Fridays“ gibt es eine breite Bewegung, die das Thema in die Mitte der Gesellschaft getragen hat. Große Teile der Wirtschaft und Industrie haben längst umgedacht, und schließlich hat Ihnen sogar das Verfassungsgericht den Auftrag gegeben, die Freiheit der zukünftigen Generationen zu schützen. Doch keine Möglichkeit haben Sie ausreichend genutzt:
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beim Kohleausstieg nicht, der viel zu spät kommt, beim Klimapaket 2019 nicht und auch jetzt beim Klimasofortprogramm wieder nicht.
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Für das Fazit der Kanzlerin, dass wir weiterhin nicht genug tun, haben Sie keine Ausrede.
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Wenn Politik die Kunst des Möglichen ist, dann waren Sie leider wirklich keine Künstler.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, Sie haben Ziele angehoben und tun das auch heute wieder. Aber einen soliden Plan, wie Sie genau diese Ziele erreichen, haben Sie leider nie vorgelegt. Bei der Energiewende haben Sie ein einziges Chaos angerichtet, hinken dem notwendigen Ausbau ewig hinterher. Zehntausende von Jobs sind verloren gegangen. Beim Umbau der Industrie haben Sie diese jämmerlich im Stich gelassen. Die Mobilitätswende haben Sie noch nicht einmal richtig begonnen, haben nicht ansatzweise genug für Bahn und Fahrrad getan. Und während immer größere Teile der Autoindustrie längst auf E-Mobilität umrüsten,
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klammern Sie sich immer noch am Verbrennungsmotor fest. Sie sind vier Jahre in einer Mischung aus Zaghaftigkeit und Überforderung weit hinter den Möglichkeiten dieses Landes zurückgeblieben.
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Die Klimakrise ist die größte Bedrohung für unseren Wohlstand, für unsere Sicherheit und für unsere Freiheit.
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Und ja, Klimaschutz bedeutet Veränderung, ja, bedeutet Anstrengung. Aber das ist doch kein Grund, ihn einfach sein zu lassen, abzuwarten, vage zu bleiben, sondern das muss doch Ansporn sein, Klimaschutz sozial gerecht zu organisieren. Das geht: wie mit einem Energiegeld beim CO2-Preis, wie mit einer speziellen Förderung für sozial Schwächere, wie mit einem Industriepakt.
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Es dokumentiert doch nichts anderes als Ihre Ideenlosigkeit, dass Ihnen die soziale Gerechtigkeit häufig erst dann einfällt, wenn es darum geht, Klimaschutz abzumoderieren, dass Sie das Argument mit der sozialen Gerechtigkeit immer wieder missbrauchen, –
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Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
– um Klimaschutz nicht durchzuführen.
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Es braucht einen neuen Aufbruch in der Klimaschutzpolitik, mit neuen Ideen, neuem Elan –
Herr Hofreiter, bitte kommen Sie zum Schluss.
– und einer neuen Richtlinienkompetenz.
Vielen Dank.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der UN-Generalsekretär Guterres hat das Klimaschutzgesetz verstanden. Er hat es hier deswegen gelobt. Toni Hofreiter hat es nicht verstanden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Denn mit diesem Klimaschutzgesetz legen wir klare Ziele fest, und diese Ziele werden regelmäßig auf Einhaltung überprüft. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt. Es wird regelmäßig überprüft, ob diese Ziele ausreichend sind. Und im Gesetz steht, dass, wenn die Ziele nicht ausreichend sind, sie verschärft werden müssen. Das ist ein Mechanismus, den Sie hier immer wieder falsch darstellen. Der ist aber revolutionär und richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen!
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– Es ist nicht mehr Bürokratie, wie ich da von der Seite höre.
Zum Bundesverfassungsgericht. Das Bundesverfassungsgericht hat die Position der SPD bestätigt, dass man auch für die Zeit nach 2030 konkrete Maßnahmen festlegen muss. Das wollten wir, unsere Umweltministerin und unsere Fraktion, vorher schon, weil es um den Grundgedanken der Solidarität auch mit zukünftigen Generationen geht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Und wir haben das sofort umgesetzt.
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Wir sind darüber hinausgegangen, weil wir die Ziele verschärft haben, schon bis 2030. Und wir haben auch auf der europäischen Ebene dafür gekämpft. Es ist doch nicht so, dass diese Bundesregierung in Brüssel nicht dafür gekämpft hat, dass Europa klimaneutral wird. Das wäre ohne unsere Umweltministerin nicht möglich geworden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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– Ich habe gerade den Zwischenruf gehört. Ja, auch Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel hat dabei ihren Beitrag geleistet; das gebe ich zu.
Jetzt gucken wir uns aber an, was passiert, wo die Grünen regieren.
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– Zu Herrn Altmaier? Das habe ich hier schon oft gesagt: Die Bremse in dieser Regierung war Herr Altmaier.
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Und das, was wir als SPD für den Ausbau der erneuerbaren Energien, für höhere Ziele in den nächsten Jahren, für eine bessere Beteiligung der Standortkommunen durchgesetzt haben, das haben wir gegen Herrn Altmaier durchgesetzt. Und deswegen kriegen wir viel Unterstützung dafür, was wir hier konkret gemacht haben.
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Und wir wollen natürlich – und darüber werden die Wählerinnen und Wähler abstimmen – einen Zukunftspakt für den Ausbau erneuerbarer Energien. Aber dieser Zukunftspakt ist leider mit diesem Koalitionspartner nicht möglich. Wir brauchen deutlich mehr elektrischen Strom aus Wind, deutlich mehr aus PV. Deswegen verbessern wir jetzt Repowering. Es ist gut, dass wir das hingekriegt haben. Aber ich weiß nicht, wie der Industriestandort Bayern ohne Windkraft funktionieren will.
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Und ich weiß auch nicht, wie das in Baden-Württemberg funktionieren soll; denn seitdem wir in Baden-Württemberg nicht mehr in der Regierung sind, sind die Zahlen der genehmigten Windkraftanlagen und die Zubauzahlen dramatisch eingebrochen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ein letzter Satz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen den Umbau der Industriegesellschaft gemeinsam mit den Betroffenen hinbekommen. Deswegen sind wir für einen Dialog mit den Gewerkschaften, mit den Unternehmen und mit den Wissenschaftlern. Das wollen wir durchsetzen. Denn wir haben nur eine Erde, und diese Transformation muss gelingen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Mindrup. – Nächster Redner ist der Kollege Andreas Bleck, AfD-Fraktion.
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Werter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung möchte die Genehmigungsverfahren für den Ausbau von sogenannten erneuerbaren Energien beschleunigen. Die AfD lehnt dies sowohl aus energiewirtschaftlichen Gründen als auch aus Gründen des Umwelt- und Naturschutzes ab.
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Günstige, sichere und zuverlässige Energie ist ein wichtiger Grundpfeiler für den Wohlstand des Landes und seiner Bürger. Doch wie sieht es eigentlich bei uns in Deutschland aus? Deutschland gehört bei der Steuer- und Abgabenquote sowie beim Strompreis weltweit zu den Spitzenreitern und bei der Vermögensquote und dem Rentenniveau europaweit zu den Schlusslichtern.
Die Gretchenfrage lautet doch: Wohin geht eigentlich das viele Geld, das der Staat Tag für Tag seinen Bürgern abknöpft?
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In einen echten Umwelt- und Naturschutz jedenfalls nicht. Stattdessen geht es zunehmend in das parasitäre System der Energiewende. Damit muss Schluss sein, werte Kolleginnen und Kollegen. Stattdessen brauchen wir grundlastfähige und CO2-arme Energie, und die gibt es eben nur mit der Kernenergie.
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Darüber hinaus gibt es ein Spannungsfeld zwischen Klimaschutz auf der einen Seite und Umwelt- und Naturschutz auf der anderen Seite. Die Bundesregierung gibt sich in ihrem Gesetzentwurf keine Mühe, einen ausgewogenen Kompromiss zwischen beiden Seiten auszuhandeln. Ganz im Gegenteil: CDU, CSU und SPD wollen das Repowering von Windkraftanlagen unter bestimmten Bedingungen auch dann erlauben, wenn diese die geltenden Emissionswerte nicht einhalten. Begründet wird das mit den schlechteren Emissionswerten alter Windkraftanlagen.
Man stelle sich einmal vor: Kraftwagenhersteller dürften beispielsweise die geltenden Emissionswerte bei Diesel- und Benzinmotoren überschreiten, wenn die Emissionswerte der neuen Kraftwagen unter denen der alten liegen würden. Das würde bei dieser Bundesregierung natürlich nicht passieren; denn das eine ist politisch erwünscht, das andere politisch unerwünscht.
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Wieder einmal wird also deutlich: Die Bundesregierung misst mit zweierlei Maß; der Zweck heiligt die Mittel; sie betrachtet die Energiewende als heilige Kuh ihrer Umweltpolitik, und das machen wir nicht mit.
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Nicht nur bei Windkraftanlagen, sondern auch bei den Wasserkraftwerken stehen wir in Opposition zur Regierung. In Deutschland gibt es etwa 7 200 kleine und 400 große Wasserkraftwerke. Die kleinen Wasserkraftwerke tragen nur zu etwa 0,3 Prozent zur Bruttostromerzeugung bei.
Die Bundesregierung musste in ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage zugeben, dass in Deutschland bisher keine selbstreproduzierenden Lachsbestände in den Wiederansiedlungsgewässern aufgebaut werden konnten. Ein wichtiger Grund ist die fehlende Durchlässigkeit und Durchgängigkeit von Fließgewässern. Es ist also eindeutig, dass keine Verhältnismäßigkeit zwischen energiewirtschaftlichem Nutzen und umwelt- und naturschutzfachlichem Schaden bei kleinen Wasserkraftwerken besteht.
Setzen Sie sich endlich dafür ein, dass die Wasserrahmenrichtlinie und das Wasserhaushaltsgesetz wirklich umgesetzt werden; sorgen Sie für die Durchgängigkeit von Fließgewässern; sorgen Sie für echten Umwelt- und Naturschutz! Unzählige Insekten, Fledermäuse, Vögel und Fische werden es Ihnen danken.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Bleck. – Nächster Redner ist der Kollege Peter Bleser, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In diesen Tagen werden Gesetze im Akkord verabschiedet. Das Bundes-Klimaschutzgesetz überragt aber in seiner Bedeutung und den Konsequenzen für jeden Einzelnen von uns alle anderen Gesetze in diesen Tagen.
Die Bedeutung des Klimawandels hat eine gigantische Dimension, nicht nur für uns, sondern für die ganze Welt. Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten: Man verzagt, ängstigt sich und lässt die Katastrophe auf sich zukommen, oder aber man sieht die Herausforderung als große Chance, Neues zu schaffen, Grundlagen für ein gutes Leben in der Zukunft zu legen und die Freude an Veränderung zu suchen. Das ist meine Position; das ist die Position der Union.
Jetzt liegt auch noch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vor. Diese verpflichtet uns, die jetzige Generation, die Aufgabe zu lösen und sie nicht auf unsere Kinder und Enkel zu übertragen. Das heute zu beschließende Bundes-Klimaschutzgesetz legt allerdings nur den Rahmen fest, dass wir 2045 klimaneutral wirtschaften wollen. Papier ist halt geduldig. Auch die Zwischenschritte lassen sich leicht aufschreiben. Aber die praktische Umsetzung – dazu gehört die technologisch-wissenschaftliche Entwicklung, das Management der Energiewende,
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der Erhalt einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft – voranzutreiben und vor allem die Menschen miteinzubeziehen, ihnen Mut zu machen, ihnen soziale Brüche zu ersparen und ihnen die Chancen der Energiewende zu vermitteln, das ist unser Job im Parlament und in der Regierung. Das machen wir in der Union.
Wir fangen auch nicht bei null an. Nur ein paar Beispiele: Die Kosten für Photovoltaikstrom und für Strom aus Windkraft sind dramatisch gesunken durch technologischen Fortschritt.
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Sie kommen, je nach Anlage, schon ohne jede Subvention zurecht.
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Erreicht haben wir das durch marktwirtschaftliche Anreize. Täglich melden sich Unternehmen verschiedenster Art, die anpacken und ihre CO2-Neutralität planen. Zwei Wirtschaftsgiganten – RWE und BASF; heute ist auch noch Vattenfall dazugekommen – sind eine Kooperation eingegangen, um den größten Chemiestandort Europas in Ludwigshafen künftig klimaneutral zu betreiben. Kompliment an Herrn Brudermüller, stellvertretend für viele Entscheider in der Wirtschaft, die Gleiches vorhaben!
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Wir haben einen enormen Vorlauf in der Energieforschung und damit ein riesiges Potenzial. Förderprojekte in ganz Deutschland haben bereits erfolgreich die intelligente Energieversorgung für 2030 geprobt; SINTEG, Reallabore, Wasserstoffstrategie sollten als Stichworte reichen.
Als Politik haben wir nun die Aufgabe, die Rahmenbedingungen für eine beschleunigte CO2-Neutralität zu schaffen. Diskussion und Streit um den besten Weg sind geradezu eine Voraussetzung dafür. Wir werden auch immer wieder überprüfen und nachsteuern müssen. Das ist kein Eingestehen von Fehlern, sondern die Anpassung an neue Erkenntnisse und Möglichkeiten. Deswegen werden die heutigen Gesetze nicht die letzten sein auf dem sehr, sehr kurzen Weg, nämlich knapp 25 Jahre, hin zur Klimaneutralität 2045. Wir, die Union, können das.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Schluss sagen. Am 2. Dezember 1990 wurde ich zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag gewählt; das ist jetzt über 30 Jahre her. Ich bin den Menschen an der Mosel, am Rhein, im Hunsrück und in der Eifel dankbar, dass sie mir achtmal das Vertrauen geschenkt haben.
Ich habe viele Jahre als AG-Vorsitzender und Parlamentarischer Staatssekretär im Bereich Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Politik machen dürfen. Das hat mich sehr gefreut. Es war eine sehr angenehme Klientel; ich stehe immer noch bei diesen Menschen.
Die Arbeit im Wirtschaftsausschuss, in dem Konstruktionsbüro der Energiewende, war mir in den letzten Jahren eine große Freude. In diesem Kollegenkreis einen Beitrag zu leisten, manchmal auch humorvoll zu kämpfen, ist mir ein großer Spaß gewesen. Danke für die Kameradschaft und für die Aufnahme in diesen Wirtschaftskreis.
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Meine Damen und Herren, ich will aber auch meiner Familie Dank sagen für Verständnis und Unterstützung, meiner Frau Elisabeth ganz vorneweg, sowie meinem Team im Wahlkreis und im Berliner Büro, besonders Frau Sudy, die morgen ihr 15-jähriges Betriebsjubiläum feiern kann.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es war mir eine Ehre, den Menschen in diesem Land zu dienen. Machen Sie es gut!
Vielen Dank.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Redezeit ist viel zu knapp, um in der heutigen Debatte die vielen Unterpunkte anzusprechen, die anzusprechen wären. Ich konzentriere mich deshalb auf zwei aus meiner Sicht wichtige Punkte:
Erstens. Die Regierung hat in dieser Legislaturperiode offen zur Schau gestellt, dass sie ihren eigenen Prinzipien nicht treu bleibt, nämlich Marktwirtschaft, Technologieoffenheit und Versorgungssicherheit zu schaffen. Klar ist doch: Die Energiewende ist kein ausschließlich deutsches Projekt, sondern das größte globale Projekt des Jahrhunderts.
Stellvertretend dafür und generell für die Probleme der deutschen Energiepolitik der vergangenen vier Jahre stehen zwei große Vorhaben: zum einen der Kohleausstieg mit Revierkonzepten, WSB-Kommission, nächtelangen Verhandlungen, Hunderten Seiten von Änderungen in allerletzter Minute und am Ende: ein teurer Kompromiss.
Ähnliches lässt sich zum zweiten großen Vorhaben dieser Legislaturperiode sagen, nämlich zur Nationalen Wasserstoffstrategie. Wichtig ist: Wir brauchen einen technologieoffenen und europäischen Ansatz. Wir brauchen riesige Mengen emissionsarm produzierten Wasserstoff und nicht die Wiederholung der Fehler, die beim EEG gemacht wurden. Ja, meine Damen und Herren, wir brauchen einen schnellen Markthochlauf zu wettbewerbsfähigen Preisen, damit der Wasserstoff tatsächlich eine deutsche Erfolgsgeschichte wird.
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Worüber wir heute abstimmen, sind deshalb weder ein klares Investitionssignal für die dringend benötigte Infrastruktur noch der Beginn eines echten Markthochlaufs für Wasserstoff.
Ich fasse deshalb zusammen: Dringend notwendig sind erstens mehr systemischer Ansatz, zweitens mehr Europa, drittens Versorgungssicherheit, viertens Technologieoffenheit und fünftens deutlich mehr Einstieg statt Ausstieg aus Technologien.
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Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, gestatten Sie mir zum Schluss ein paar persönliche Worte. Dies war aller Voraussicht nach meine letzte Rede vor diesem Hohen Hause. Nach insgesamt zwölf Jahren als Parlamentarier – im Landtag von Brandenburg und auch im Deutschen Bundestag – danke ich den Mitgliedern und Mitarbeitern des Hohen Hauses für die stets faire und konstruktive Zusammenarbeit, für unendlich viele spannende Diskussionen. Ich danke meiner Fraktion unter der Führung von Christian Lindner, meinem ganz starken Büroteam, meinem Kreisverband, den Wählerinnen und Wählern, aber auch meiner Familie, die mich immer unterstützt hat.
Als Mitglied der Fraktion der Liberalen habe ich Erfahrung mit dem Ausstieg nach einer Legislaturperiode, aber auch gleichviel Erfahrung mit dem Einstieg in eine Legislaturperiode; Sie wissen, was ich meine. Seien Sie gewiss: Energiepolitik ist und bleibt mein Thema. Nie gab es mehr zu tun. Ich sage es noch mal: Nie gab es mehr zu tun.
Ihnen alles Gute und bleiben Sie gesund! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In meiner Heimatstadt Kiel sind allein im letzten Jahr – im Jahr 2020, dem Jahr der Coronakrise – die Mieten um 12 Prozent gestiegen. 12 Prozent allein im Jahr 2020!
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Im gleichen Zeitraum sind die Löhne und Gehälter der Menschen im Durchschnitt um 1,1 Prozent gesunken. Das bedeutet: Geringverdiener/-innen, Familien, Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen finden zum einen immer schlechter eine Wohnung, und zum anderen müssen sie immer mehr von ihrem Gehalt für diese Wohnung ausgeben. Das ist ein unhaltbarer Zustand.
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In dieser Situation kommen dann SPD und Union mit einem ungerechten und unwirksamen CO2-Preis daher und wollen, dass diese Mieter/-innen den CO2-Preis zahlen müssen.
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Das bedeutet steigende Heizkosten für Mieterinnen und Mieter und damit im Endeffekt auch steigende Mieten. Es ist richtig: Die SPD wollte es zumindest hälftig auf Mieter/-innen und Vermieter/-innen aufteilen. Es war die soziale Kälte der Union, die das verhindert hat.
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Das macht doch wieder deutlich: Wir brauchen dringend eine neue Politik, eine neue soziale Politik. Das bedeutet: Wir brauchen einen echten Politikwechsel für Klimagerechtigkeit. Dafür steht Die Linke.
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Wir leben längst in einer Mangelwirtschaft. Wir haben einen Mangel an bezahlbarem Wohnraum, wir haben einen Mangel an sozialer Gerechtigkeit, und wir haben einen Mangel an guter Arbeit, von der man sich diese hohen Mieten leisten kann.
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Deswegen sagen wir: Wir sind die Partei der sozialen Gerechtigkeit.
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Wir wollen diesen Mangel in der Bundesrepublik bekämpfen. Und wir sagen: Wir wollen einen Klimaschutz, der nicht weiter an der Preisschraube dreht. Wir wollen einen Klimaschutz, der Regeln hat, die verständlich sind, der Regeln hat, aus denen sich große Konzerne oder Superreiche nicht rauskaufen können, einen Klimaschutz, der gute Beschäftigung und mehr soziale Gerechtigkeit schafft.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Beutin. – Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Lisa Badum, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das ist die letzte klimapolitische Debatte in dieser Legislatur, und wir müssen leider konstatieren, dass die Union in den letzten vier Jahren nichts, aber auch gar nichts von der Bevölkerung gelernt hat. Viele dort sind bereit für eine klimaneutrale Wirtschaft, die unsere Lebensgrundlagen schützt, anstatt sie zu zerstören, weil die Menschen wissen, dass die Dinge anders und besser sein könnten, als sie jetzt sind.
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Und wie nehmen Sie diesen Willen zur Veränderung auf? Sie versuchen nicht mal, ihm gerecht zu werden. Dabei hat Angela Merkel doch schon vor 24 Jahren gesagt: Wenn es um Maßnahmen für den Klimaschutz geht, dann ist es Aufgabe der Politik, zu erklären. Wenn ihr es heute nicht macht, wird es für eure Kinder und Enkel dreimal so teuer.
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Und das ist richtig.
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Aber genau das machen Sie nicht.
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Sie erklären das nicht. Stattdessen verabschieden Sie ein Wahlprogramm, das sagt: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass! – Sie erheben einen CO2-Preis, ohne ihn zu erheben.
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Sie wollen den Soli senken, ohne ihn gegenzufinanzieren. Sie wollen die Erneuerbaren ausbauen ohne irgendein konkretes Instrument. Für wie dumm wollen Sie die Leute eigentlich verkaufen?
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Wir können es ja an dem sehen, was Sie heute vorlegen. Es wurde hier in der ganzen Debatte gesagt: Es gibt einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, der besagt, dass wir jetzt handeln, dass wir jetzt CO2 einsparen müssen, um den kommenden Generationen nicht völlig die Freiheitsrechte abzuschnüren. Was ist so schwierig daran zu verstehen? Sie legen aber ein Klimaschutzgesetz mit ungenügenden Klimazielen und ein Klimavertagungsprogramm vor.
({6})
Sie sind nicht auf dem 1,5-Grad-Pfad. Es ist peinlich, dass Sie sich hier dafür abfeiern.
({7})
In Ihrem Klimavertagungsprogramm gibt es kein Ordnungsrecht, und es steht alles unter Haushaltsvorbehalt.
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Das soll alles der neue Bundestag finanzieren. Das heißt, es ist eine bloße Luftnummer, was Sie uns hier vorlegen, ein ungedeckter Scheck.
({9})
Sinnvolle Punkte – das wurde erwähnt – wie die Solarpflicht bei Neubauten oder bei Sanierungen, die wurden herausgestrichen.
({10})
Ihr Motto ist: Morgen, morgen, morgen – nur nicht heute. Morgen wird es das Wirtschaftswachstum richten, morgen haben wir Technologien, um CO2 der Atmosphäre zu entziehen. Nein, Sie sind völlig hinten dran.
Wir sind bereit. Wir haben das Wissen und die Technologien,
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um einen Pakt zwischen erneuerbaren Energien und Industrie zu schmieden.
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Und wenn Sie es nicht wollen: Wir Grüne wollen, und wir können Veränderung in diesem Land.
Vielen Dank.
({13})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin Badum! Wenn ihr alle so schlau seid und das könnt, warum macht ihr das in Baden-Württemberg nicht?
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Das ist doch die Frage, die man sich stellen muss. Das finde ich jetzt schon ein bisschen merkwürdig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Wirtschaft ist geprägt von einer starken Industrie, von einem innovativen Mittelstand, von professionellem Handwerk und wichtigen leistungsfähigen Dienstleistungen. Damit das so bleibt, müssen wir die Rahmenbedingungen für Investitionen in eine klimaneutrale Wirtschaft und ein klimaneutrales Energiesystem schaffen. Genau das machen wir mit dem jetzt vorgelegten Gesetzespaket. Das ist nicht nur Klima- und Umweltschutz; das ist Industrie- und Wirtschaftspolitik.
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Wir schaffen neues Wirtschaftswachstum und neue Arbeitsplätze.
Das Thema Wasserstoff ist zentral in diesem Gesetz. Zum ersten Mal ist es möglich, den Aufbau eines reinen Wasserstoffnetzes zu organisieren. Das wird Grundlage sein für den Erhalt von Arbeitsplätzen und Wirtschaftswachstum in der Grundstoffindustrie, in der Chemie-, Stahl-, Aluminium- und Kupferindustrie; die sind davon abhängig. Das schafft Perspektiven für die Wirtschaft und die dort arbeitenden Menschen.
Ich will bei allem Respekt und bei aller Sympathie für soziale Marktwirtschaft und bei allem Respekt vor den Kräften, die sich im Markt entwickeln können, sagen: Das wäre nicht möglich ohne einen Gestaltungsanspruch, den die Politik haben muss. Die SPD hat ihn, und das nennt man Fortschritt.
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Das Mammutprojekt Energiewende erfordert Infrastruktur; das Thema Wasserstoff hatte ich eben genannt. Aber natürlich müssen die Netzplanungen in Zukunft integriert erfolgen, und zwar nicht nur beim Wasserstoff. All das, was für den Aufbau von Erdgas-, Strom- und Wärmenetzen erforderlich ist, müssen wir zusammendenken, zusammen planen, bauen und steuern. Die Digitalisierung wird uns dabei helfen, dass Erzeugung, Transport, Speicherung, Verteilung und auch Nutzung optimiert werden können.
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Beim Ausbau der erneuerbaren Energie wäre mehr nötig, aber leider ist es in dieser Koalition nicht möglich gewesen. Es ist schon fast Arbeitsverweigerung, wenn der Bundeswirtschaftsminister nicht in der Lage ist, den zukünftigen Bedarf an Strom aus erneuerbaren Energien zu formulieren. Alle anderen wissen das; der Wirtschaftsminister hängt aber an einer Zahl, die schon veraltet ist. Das muss die Union einmal für sich klären. Sie müssen aus dem Bremserhäuschen dort raus.
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Für uns steht jedenfalls fest: Wir haben die Menschen fest im Blick, auch bei dieser Energiewende. Der Umbau zu einer treibhausgasneutralen Gesellschaft wird nur gelingen, wenn er solidarisch organisiert ist. Wir machen das im Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort, mit Gewerkschaften, mit Unternehmen. Wir brauchen die soziale Balance; sonst wird uns dort keiner folgen.
Zur Erhöhung des Windenergieanteils haben wir in diesem Gesetz Ausbauziele verankert, und wir haben auch berücksichtigt, dass es bei PV-Freiflächenanlagen Verbesserungen geben muss. Der Weltklimarat hat in der technischen Zusammenfassung seines Berichts vor den unumkehrbaren Folgen des Verfehlens des 1,5-Grad-Ziels gewarnt.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
In dem Bericht heißt es: „Das Schlimmste kommt erst noch und wird das Leben unserer Kinder und Enkel viel mehr betreffen als unseres.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine drei erwachsenen Söhne und meine vier Enkelkinder Louis, Theresa, Amelie und Alena und viele Millionen andere Jugendliche haben eine Erwartung an die Politik. Wir sollten sie nicht enttäuschen. Wir haben als SPD dafür gekämpft, dass wir hier viel erreichen. Wir haben ein Zukunftsprogramm vorgelegt, und wir haben einen engagierten Kanzlerkandidaten. Deshalb werden unseren Worten auch Taten folgen. Wir organisieren Sicherheit durch Wandel.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Westphal. – Sie haben Glück, dass die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion Frau Dr. Hendricks ist. Insofern ziehe ich jetzt keine Minute ab.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Anja Weisgerber, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit der Novelle zum Klimaschutzgesetz setzen wir unsere Klimaschutzpolitik konsequent fort, und wir erfüllen die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an mehr Generationengerechtigkeit. Das haben auch die Sachverständigen in der Anhörung deutlich bestätigt. Wir werden bis 2030 noch ehrgeiziger, noch ambitionierter, und wir legen den Weg für die Zeit nach 2030 konkreter fest.
Ja, meine Damen und Herren, ich bin stolz auf das, was wir in dieser Legislaturperiode für den Klimaschutz erreicht haben, mit dem Klimaschutzpaket von 2019, einem der umfassendsten, das wir in der Geschichte der Bundesrepublik je verabschiedet haben. Zur Wahrheit gehört doch, dass wir unser Klimaziel 2020 erreicht haben, und zwar nicht wegen Corona, sondern wegen unserer Klimaschutzinstrumente.
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Jedes Gramm CO2, das seit 2005 reduziert wurde, ist auf eine unionsgeführte Regierung zurückzuführen. Das gilt es doch an der Stelle mal zu sagen.
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Wir wollen Klimaneutralität jetzt schon 2045 erreichen. Dieses Ziel ist ehrgeizig, und wir verlangen damit den Menschen und den Unternehmen wirklich viel ab.
Und was machen jetzt die Grünen? Nach dem Motto „Höher, schneller, weiter“ fordern sie, nachdem sie bislang immer 65 Prozent gefordert haben, auf einmal 70 Prozent Treibhausgasreduktion als Klimaziel. Sie wollen den CO2-Preis früher und weiter nach oben setzen. Gleichzeitig behaupten sie, wir würden keine Maßnahmen verabschieden, wir würden uns bei den Maßnahmen in die Büsche schlagen.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Maßnahmen, die Sie beantragen, haben wir doch schon längst beschlossen. Lesen Sie eigentlich unser Maßnahmenprogramm, das Klimaschutz-Sofortprogramm der Bundesregierung? Wir haben 80 Milliarden Euro in Innovationen zum Klimaschutz gesteckt und jetzt noch mal 8 Milliarden Euro ab 2022 draufgelegt. Wir investieren in die Schiene, in Radwege, schließen Klimaschutzverträge zur Dekarbonisierung der Industrie ab, und wir verbessern die Rahmenbedingungen für den Ausbau der erneuerbaren Energien, Stichwort „Repowering“. Wir handeln!
Wie handeln wir? Wir nehmen die Menschen dabei mit. Wir machen Klimaschutz mit Augenmaß. Wir wollen keine Verbote und keine Askese. Wir setzen auch nicht an vorderster Front auf Ordnungsrecht.
Dann stellen sich SPD und Linke hin und reklamieren, dass nur sie sozial gerechte Klimaschutzpolitik machen. Gleichzeitig fordert die Ministerin eine Verschärfung der Energieeffizienzstandards. Zu was führt das? Zu einer Verteuerung! Ist es sozial gerecht, wenn dann die junge Familie sich im Endeffekt das Haus gar nicht mehr leisten kann? Wir wollen energieeffizientes Bauen fördern; Sie wollen es gesetzlich festschreiben. Das ist der Unterschied, meine Damen und Herren.
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Wir brauchen eine Entlastung der Menschen, und zwar nicht mit einem Energiegeld, für das ich extra eine Behörde schaffen muss, um 7,50 Euro oder 8,30 Euro im Monat an jeden Bürger auszubezahlen, wobei ich nicht einmal die Kontonummer von den Bürgern habe. Sondern wir machen es konkret durch die Senkung des Strompreises. Wir wollen die EEG-Umlage auf null absenken.
Wer hat denn die Erhöhung der Pendlerpauschale durchgesetzt? Das waren wir; das war die CSU, weil wir nämlich Abgeordnete sind, die die Menschen im ländlichen Raum kennen.
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Wir machen Klimapolitik mit Augenmaß. Wir setzen auf Innovationen und neue Technologien.
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Wir setzen auf den Erhalt der Arbeitsplätze und wollen keine Verlagerung der Arbeitsplätze. Deswegen bin ich froh, dass wir einen Carbon-Leakage-Schutz verabschiedet haben. Aber ich sage an der Stelle auch: Ich hätte mir mehr gewünscht und hätte an der Stelle schon gehofft, –
Frau Kollegin.
– dass auch die SPD mehr auf den Erhalt der Arbeitsplätze setzt. Denn sie sind die Grundlage unseres Wohlstandes,
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und das ist in Wahrheit sozial gerecht.
Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Weisgerber. – Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Barbara Hendricks zu ihrer letzten Parlamentsrede.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Samstag, den 12. Dezember 2015 um 19.24 Uhr ließ der französische Außenminister Laurent Fabius auf dem Gelände des Flughafens Le Bourget in Paris den Hammer fallen mit den Worten: L’Accord de Paris pour le climat est accepté.
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Da „Allemagne“ nun mal im Alphabet ziemlich weit vorne steht, saß ich mit meinen engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der ersten Reihe. Laurent Fabius hatte zuvor den Beschlussvorschlag sehr schnell auf Französisch, was ja eine der UNO-Sprachen ist, vorgetragen. Ich bin immer noch der Überzeugung: In die anderen fünf UNO-Sprachen war das noch nicht vollständig übersetzt. Aber das kann man natürlich nicht nachprüfen; das ist nur meine Annahme. Und als der Hammer fiel, war gleichwohl der Jubel groß. Es fielen von uns ab zwei Wochen harte Verhandlungen, und es fielen auch ab alle diese Misserfolge, die es in den Jahren zuvor gegeben hatte, zum Beispiel 2009 in Kopenhagen.
Eine Botschafterin eines südamerikanischen Landes wollte noch aufspringen und protestieren; sie trug den Beinamen „Drama Queen“. Aber ihre Sitznachbarinnen und Sitznachbarn hatten sie festgehalten, sodass sie nicht mehr protestieren konnte. Damit war dann in der Tat das Abkommen einstimmig angenommen.
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Es war ein tatsächlich euphorischer Moment. Ich habe das damals gegenüber den deutschen Medien folgendermaßen kommentiert: Ich neige nicht zu großen Worten, aber heute haben wir Geschichte geschrieben.
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Das ist richtig: Wir haben Geschichte geschrieben. – Sicherlich für mich der entscheidendste Moment in meiner ganzen politischen Laufbahn. Wir haben Geschichte geschrieben, und daraus machen wir Zukunft. Wir machen Zukunft für unser Land. Wir machen Zukunft für Deutschland in Europa, und wir machen Zukunft in der Verantwortung für andere Länder in der Welt, insbesondere in finanzieller und technologischer Hinsicht, so wie es das Klimaschutzabkommen von Paris von uns, den Ländern der nördlichen Hemisphäre, erwartet.
Nun muss man sich aber nicht vorstellen, dass im Folgejahr, 2016, das gesellschaftliche Klima in der Bundesrepublik Deutschland schon so gewesen wäre wie jetzt. Das Bundesumweltministerium hatte gleich im ersten Quartal einen Entwurf für den Klimaschutzplan vorgelegt, der vom Bundeskabinett verabschiedet werden sollte. Es dauerte dann aber bis zum November, bis es mir gelungen war, den Entwurf tatsächlich durchzubringen. Und es war in der Tat sowohl in der Bundesregierung als auch in Teilen der Koalitionsfraktionen nicht so einfach. Also, das gesellschaftliche Klima war bei Weitem nicht so wie jetzt.
Dieses gesellschaftliche Klima hat sich eigentlich auch erst gegen Ende des Jahres 2018 geändert, nämlich mit dem Aufkommen der Bewegung Fridays for Future und den mehreren heißen Sommern, die wir bis dahin erlebt hatten. Sonst, glaube ich, hätte sich dieses gesellschaftliche Klima für mehr Klimaschutz in Deutschland so nicht entwickelt.
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Das können wir jetzt allerdings nutzen, und wir werden es auch nutzen. Ich glaube, dass die jungen Menschen sich darauf verlassen können, dass wir anständige Arbeit abliefern.
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Ich will den jungen Menschen noch eine Bitte mitgeben: Genauso wichtig wie der Klimaschutz sind der Artenschutz und die Bewahrung der biologischen Vielfalt.
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Wir alle – insbesondere die jungen Menschen in unserem Land – möchten uns bitte dieses Themas mit dem gleichen Engagement annehmen, wie wir das mit dem Klimaschutz tun.
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Weil das heute meine letzte Rede ist, will ich noch eine Bitte äußern. Sie richtet sich an die Mitglieder der demokratischen Fraktionen in diesem Haus, an die Bürgerinnen und Bürger
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und auch wieder an die jungen Menschen – insbesondere an die –: So wie wir den Klimawandel bekämpfen und das Klima schützen, so sollen wir bitte gemeinsam die Feinde der Demokratie bekämpfen
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und unsere Demokratie schützen;
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denn auch sie brauchen wir wie die Luft zum Atmen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Hendricks. – Sie haben diesem Haus sieben Legislaturperioden lang in verschiedenen Funktionen angehört, auch im Kabinett. Ich darf Ihnen im Namen jedenfalls der Mehrheit des Hauses – vielleicht des ganzen Hauses – für Ihr Engagement danken. Es war nicht immer einfach; aber Sie waren immer offen und immer streitbar, was wichtig ist für eine Demokratie. Ganz herzlichen Dank für Ihre Tätigkeit für unser Land, für dieses Haus! Alles Gute für Ihren weiteren Lebensweg!
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Nächster Redner ist der Kollege Mark Helfrich, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus der EnWG-Novelle ist ein umfangreiches energierechtliches Artikelgesetz geworden: Auf 178 Seiten Gesetzentwurf und 112 Seiten Änderungsantrag legen wir wegweisende Grundlagen für die Energiewelt von morgen.
So schaffen wir zur Umsetzung der Nationalen Wasserstoffstrategie erstmals einen regulatorischen Rahmen für reine Wasserstoffinfrastruktur. Wir wollen sicherstellen, dass wir nicht wie bei den Stromnetzen beim Netzausbau der Erzeugung hinterherlaufen müssen. Denn wir alle wissen: Wasserstoff ist ein idealer Speicher für erneuerbare Energien, der die Schwankungen bei Sonnen- und Windenergie ausgleichen kann. Zusätzlich gilt Wasserstoff als entscheidendes Schlüsselelement bei der Weiterentwicklung der Energie-, Verkehrs-, Wärme- und Industriewende.
Für die Erreichung unserer Klimaziele brauchen wir nicht nur grüne Elektronen, sondern auch grüne Moleküle.
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Mit diesem Gesetzentwurf ermöglichen wir nicht nur den Neubau von Wasserstoffleitungen, sondern auch die Umwidmung bestehender Erdgasleitungen. Das neue Wasserstoffnetz wird zunächst neben dem bisherigen Gasnetz existieren. Es finanziert sich mittels eigener Netzentgelte und durch die Förderung im Rahmen der IPCEI-Projekte.
Mit unserem Entschließungsantrag fordern wir die Bundesregierung auf, sich in Brüssel für die Möglichkeit einer gemeinsamen Regulierung und Finanzierung von Wasserstoff- und Erdgasnetzen einzusetzen; denn das ist derzeit aus europarechtlichen Gründen leider nicht möglich. Durch eine gemeinsame Regulierung entstünde ein verlässlicher Finanzierungsrahmen, der nicht von der Kassenlage des Bundes abhängig ist.
Meine Damen und Herren, Wasserstoff ist ein idealer Speicher für erneuerbare Energien. Aber wir brauchen auch einen Speicher, der grünen Strom speichert, und der vor allem auch wirtschaftlich betrieben werden kann. Bisher wurde gespeicherter Strom häufig doppelt mit Entgelten belastet: einmal bei der Einspeisung und ein zweites Mal bei der späteren Nutzung durch den Stromkunden.
Momentan sind die Voraussetzungen für eine Befreiung von dieser Doppelbelastung sehr hoch. Das ändern wir mit einer praxisgerechten Regelung, die verhindert, dass eine Doppelbelastung von eingespeichertem Strom stattfindet. Davon profitieren nicht nur Großspeicher, sondern vor allem auch die vielen Eigenheimbesitzer mit einer PV-Anlage auf dem Dach und einem Stromspeicher im Keller.
Neu geregelt haben wir auch die Verpflichtung, dynamische bzw. variable Stromtarife anzubieten. Versorger mit mehr als 200 000 Kunden müssen zukünftig diese dynamischen Stromtarife anbieten. Verbraucher mit einem intelligenten Messsystem können zukünftig einen Tarif wählen, mit dem sie zu Zeiten niedriger Börsenpreise günstigeren Strom beziehen können. In Kombination mit einem Heimspeicher kann das nicht nur der schwäbischen Hausfrau am Ende viel Freude bereiten.
Zuletzt möchte ich noch auf das Thema „Nutzen statt Abregeln“ eingehen. Eine Abregelung von erneuerbarem Strom infolge von Netzengpässen ist natürlich nicht im Interesse des Verbrauchers und auch nicht im Sinne des Klimaschutzes. Deshalb passen wir die bereits existierende Regelung an und weiten ihren Anwendungsbereich vom Übertragungsnetz auf das Hochspannungsnetz aus, und das Ganze im Übrigen bundesweit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Verhandlungen haben sich in der Tat relativ lange hingezogen, die Themen wurden immer mehr. Wir waren froh, als wir am Ende tatsächlich den Deckel draufbekommen haben. Die vielen Themen und die Länge der Verhandlung haben dem guten Geist unter den Berichterstattern keinen Abbruch getan, dem Ergebnis erst recht nicht. Ich möchte mich ganz herzlich bei den Berichterstatterkollegen von SPD und CDU/CSU bedanken.
Und Ihnen allen danke ich für das Zuhören.
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Vielen Dank, Herr Kollege Helfrich. – Nächster Redner ist der fraktionslose Kollege Mario Mieruch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vorgelegte Entwurf der Bundesregierung lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Kostenrechnungen? – Unbekannt. Machbarkeitsstudien? – Ungenügend. Folgenabschätzungen? – Keine.
Wir sind hier im Bundestag seit den Coronabeschränkungen schon einiges gewohnt: Debatten von nur 30 Minuten Länge, Tagesordnungen mit 22 Stunden Laufzeit und – der Klassiker – fixes Abnicken von weitreichenden Gesetzesvorlagen kurz vor Toresschluss.
Im Hauruckverfahren wird in der letzten Sitzungswoche vor der Bundestagswahl nun ein Antrag durchgepeitscht, bei dessen Beratung die Sachverständigen und wichtige Organisationen wie der BDI darüber klagen, dass ihnen viel zu wenig Zeit für eine seriöse und fundierte Beurteilung des Verfahrens gegeben wurde. Die Ergebnisse der Ausschussberatung gibt es ein paar Stunden vorher. Eine öffentliche Diskussion über die geplanten Vorhaben gibt es nicht mehr. Sie reden davon, die Menschen mitnehmen zu wollen; stattdessen machen Sie hier das Gegenteil.
Nun hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einen klaren Auftrag zur Korrektur gegeben; allerdings nicht bis heute, sondern bis zum 31. Dezember 2022. Dass es Nachbesserungsbedarf gibt, steht sicher außer Frage. Aber der Anspruch war, es gut zu machen und nicht einfach nur schnell.
Dass viele Ihrer Grundlagen wissenschaftlich eben nicht eindeutig sind, reklamieren gerade 170 internationale Wissenschaftler. Sie weisen auf diverse Fehler in Berechnungen und deutliche Zeichen einer drohenden Energieknappheit hin. Studien zu Vogel- und Insektenschlag an Windrädern erhalten keine Förderungen, weil es nicht in die Agenda des Ministeriums passt. Auf meine Anfrage hin, was Fahrverbote in Innenstädten denn nun an konkreten Zahlen gebracht haben, kommt viel Text, der mit der Frage nichts zu tun hat, weil Sie es schlicht nicht wissen.
Sie planen dennoch die größte wirtschaftliche Transformation der bundesrepublikanischen Geschichte mit verschärften Reduktionsschritten 2021 und 2030 weit über internationale Vereinbarungen hinaus, aber ohne seriöse Datengrundlage, Folgenabschätzungen oder Machbarkeitsstudien. Kritikern wirft man mal eben pauschal Lobbyismus vor; das hat etwas Lustiges.
Der DGB weist derweil auf Studien hin, die den Investitionsbedarf zur Dekarbonisierung in Deutschland auf einen dreistelligen Milliardenbetrag beziffern. Der EU Green Deal wird das Ganze bei Weitem übertreffen. Die Lasten der künftigen Generationen werden also in allererster Linie exorbitante Schulden sein, die der heutigen werden neue Steuern und Abgaben für Bürger und Mittelstand, die Sie mit der Coronapolitik eh gerade an die Wand gefahren haben und deren finanzielle Polster aufgebraucht sind. Für Ökosteuer und CO2-Preis lässt man sie sogar doppelt bezahlen. Und Kanzlerin Merkel hat so wunderbar treffend diese Woche gesagt: Wir werden für all diese Sachen gigantische Summen bewegen müssen. – Das ist es, worum es im Kern eigentlich nur geht.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Mieruch. – Als letzte Rednerin in dieser Debatte rufe ich auf die Kollegin Astrid Damerow, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich konzentriere meine Rede auf den Tagesordnungspunkt 13 c zur Umsetzung der Verfahrensanforderung der sogenannten RED-II-EU-Richtlinie. Ziel dieser Richtlinie ist, das Genehmigungsverfahren im Erneuerbare-Energien-Bereich effizienter und für den Antragsteller weniger kompliziert zu gestalten. So sollen vor allem Repowering-Projekte gefördert und beschleunigt werden. Dieser Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist damit ein weiterer Baustein auf dem Weg zu einer gelingenden Energiewende. Ich denke dabei besonders an Repowering von älteren Windparks. Damit ließe sich der Stromertrag an vielen Standorten um ein Vielfaches erhöhen und für die nächsten Jahre sichern.
In intensiven Verhandlungen haben wir den Ihnen vorliegenden Änderungsantrag erarbeitet, der unsere Ziele noch einmal deutlicher macht. Zum einen haben wir eine Zustimmungsfiktion, zum anderen eine Beschränkung auf eine einmalige Nachforderung in die Genehmigungsverfahren im Bundes-Immissionsschutzgesetz verankert. Vor allem aber ermöglichen wir mit dem neu eingeführten § 16b im Bundes-Immissionsschutzgesetz eine Änderung im Bereich der lärmschutzrechtlichen, aber auch der artenschutzrechtlichen Genehmigung. Dies ist auch ein Ergebnis der im Umweltausschuss durchgeführten Anhörung. Bei dieser wurde deutlich, dass wir im Zusammenhang mit Repowering nicht davon ausgehen können und dürfen, dass auf Windparkflächen noch nie zuvor etwas gestanden hat. Deshalb war uns ganz besonders daran gelegen, sowohl für den artenschutzrechtlichen als auch den lärmschutzrechtlichen Bereich die vorhergehenden Belastungen in Rechnung zu stellen, damit die schon bestehenden Beeinträchtigungen miteinbezogen werden. Es muss also fortan nur noch das Delta zwischen der bestehenden und der neu hinzukommenden Belastung betrachtet werden.
Zudem haben wir im Wasserhaushaltsgesetz die Fristverlängerung von Genehmigungsverfahren auf längstens 24 Monate im Bereich der Wasserkraft begrenzt. Auch diese Regelung dient der Beschleunigung bei der Modernisierung von bestehenden Anlagen.
An dieser Stelle, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, bedanke ich mich ausdrücklich für die hervorragende, zielgerichtete und ausgesprochen kollegiale Zusammenarbeit mit der Kollegin Nina Scheer.
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Uns beiden war von Anfang an klar, dass das, was wir vor uns haben, uns durchaus in Zielkonflikte bringt. Diese Diskussion haben wir intensiv untereinander geführt; das war uns auch sehr bewusst. Uns ist aber auch klar, dass wir Lösungen für diese Fragestellungen finden müssen.
Diese Erkenntnis, liebe Kolleginnen und Kollegen, hätte ich mir mitunter auch auf der Arbeitsebene des Bundesumweltministeriums gewünscht; denn hier hatten wir wirklich schwere Kämpfe auszufechten. Liebe Frau Ministerin, vielleicht müssten Sie da in Ihrem Ministerium einmal aktiv werden. Es reicht nicht, immer nur zu verkünden: Wir wollen die Energiewende. – Man muss es dann auch arbeitstechnisch umsetzen.
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Ich habe eine andere Erfahrung gemacht; so leid mir das tut. Aber nochmals: Mit dem Koalitionspartner, explizit mit der Kollegin Nina Scheer, war die Zusammenarbeit hervorragend. Ich danke ihr an dieser Stelle noch einmal.
Vielen Dank.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Im April dieses Jahres hat die AfD beantragt, dass Deutschland aus der Europäischen Union austreten soll. Der jetzige Antrag zielt auf eine Veränderung des EU-Rechts. Da kann man sich kaum vorstellen, dass Sie mit Ihrem Antrag das europäische Asylrecht verbessern wollen.
Richtig ist, dass das europäische Asylsystem nach wie vor unter erheblichen Mängeln leidet. Zwei Drittel der Antragsteller haben im Ergebnis keinen Schutzanspruch, und viele von denen, die keinen Anspruch haben, bleiben in Europa,
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und es bestehen Schwierigkeiten, sie zurückzuführen.
Der AfD-Antrag übersieht aber, dass zunächst die Genfer Flüchtlingskonvention und auch die Menschenrechtskonvention Verfahrensgarantien gewährleisten. Danach sind Zurückweisungen oder Abschiebungen nur nach einer individuellen Prüfung des Antrags auf Asyl oder internationalen Schutz möglich. Ein Schutzanspruch hängt auch nicht davon ab, dass man ein Personaldokument mit sich trägt. Es gibt viele Länder, in denen das Passwesen nicht funktioniert.
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Es gibt viele Menschen, die haben überhaupt keinen Pass. Wir wissen, es gibt einige Asylantragsteller, die ihren Pass unterwegs wegschmeißen und eine falsche Identität vortäuschen.
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Aber das entbindet uns nach wie vor nicht davon, dass wir eine sehr sorgfältige Prüfung vornehmen müssen.
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Auch die Frage, ob ein Antrag offensichtlich unbegründet ist, ist erst nach einer sorgfältigen Prüfung zu beantworten und kann nicht vor Ort von einem Grenzbeamten oder einem Polizeibeamten übernommen werden.
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Der AfD-Antrag macht an dieser Stelle mal wieder mehr als deutlich, dass es Ihnen letztlich egal ist, ob Menschen verfolgt sind oder nicht.
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Denn Ihr Antrag würde, wenn wir den umsetzen, nämlich auch verfolgte Menschen treffen. Diese Menschen würden ihrem Schicksal überlassen. Schämen Sie sich dafür!
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Als ich den Antrag der AfD las, kam mir spontan die bekannte Darstellung der drei Affen vor Augen, die sich mit den Händen die Augen,
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die Ohren und ihren Mund zuhalten. Den dritten Affen setzen Sie leider nicht um, denn es würde alle sicherlich erfreuen, wenn Sie dauerhaft Ihren Mund halten würden. Dann würde auch die Debattenkultur in diesem Hause wieder erheblich steigen, wie bis zur letzten Legislaturperiode.
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Dafür setzen Sie das Verhalten der ersten beiden Affen sehr intensiv um: Ohren zu – nichts hören, Augen zu – nichts sehen.
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Sie versperren Ihren Blick auf die reale Politik.
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Sie versperren Ihren Blick darauf, dass wir Asyl- und Migrationspolitik nicht nationalstaatlich lösen können, sondern das können wir nur im Verbund lösen, nur mit den anderen Ländern zusammen. Da ist der Ansatz der Europäischen Union – heute auch Gegenstand beim Europäischen Rat –, die externe Dimension viel mehr in den Blick zu nehmen, die Zusammenarbeit mit den Drittstaaten, der richtige Ansatz und ganz wichtig.
Das neue Migrations- und Asylpaket der EU-Kommission, das einen Großteil der Vorschläge der Bundesregierung berücksichtigt, wäre ein Durchbruch: Grenzverfahren an den Außengrenzen mit der Fiktion der Nichteinreise, vorläufige freiheitsbeschränkende Maßnahmen, Identitäts- und Gesundheitsprüfung, Sicherheitsprüfung und verpflichtende Vorprüfung des Asylantrags und, wenn Anträge offensichtlich unbegründet sind, bereits von der Außengrenze Rückführung.
Wir wissen aber: Die Verhandlungen zum Asylpaket, besonders zur Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement und auch zur Asylverfahrensverordnung, sind aktuell wieder ins Stocken geraten. Woran liegt das?
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Meines Erachtens liegt das an der Befürchtung einiger Mitgliedstaaten – wenn man sich damit beschäftigt, wenn man nicht einfach nur weghört, gewinnt man entsprechende Erkenntnisse –, dass sie über den Tisch gezogen werden, dass sie die Hauptlasten der neuen Politik tragen müssen. Und wenn wir mal die letzten Jahrzehnte Revue passieren lassen, erkennen wir: Die Länder im Süden haben doch auch berechtigte Ansätze für so eine Annahme. Sie sind doch oftmals mit den Lasten alleingelassen worden, aus nationalstaatlichen Gründen. Man hat die einfach im Stich gelassen. Und deshalb werden wir hier den gordischen Knoten nicht durch einzelne, kleinteilige Änderungen lösen, sondern nur dann, wenn eine Lastenteilung von Anfang an vorgesehen ist
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und den Ländern auch Garantien gegeben werden, dass die Lastenteilung tatsächlich umgesetzt wird. Wir sollten daran arbeiten.
Herr Kollege.
Nationalstaatliche Lösungsmodelle sind jedenfalls völlig untauglich, um mit dem globalen Phänomen „Asyl und Migration“ gut umzugehen.
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Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Seif. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Gottfried Curio, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Sommer naht, Corona geht, und die Migrantenströme schwellen wieder an wie die Frühlingsknospen.
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Ob Balkanroute oder NGO-gestützter Mittelmeerschlepperdienst – es soll wieder richtig losgehen.
Die Zahl der Asylanträge ist im Mai um fast 120 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat gestiegen. Wir brauchen nicht erst auf den verheerenden neuen EU-Migrationspakt zu warten oder uns der verantwortungsfreien Empfehlung der Fachkommission Fluchtursachen oder der verschiedenen globalen Pakte für Migration oder Flüchtlinge zu erinnern – Pakte, die verdeckt von Deutschland gepusht und entscheidend mitformuliert wurden. Es ist immer dasselbe: Die mehr oder weniger bedingungslose Öffnung zur Aufnahme illegaler Migranten aus allen Kontinenten steht von vornherein fest. Es ist Merkels Vermächtnis an das deutsche Volk, dazu der Versuch, diese dann mit allen Mitteln im Lande zu halten. Wolfgang Schäuble etwa wollte Hunderttausende Altklagefälle per Federstrich einfach dauerhaft dulden.
Meine Damen und Herren, all dies schadet Deutschland. Die Öffnung der Grenze war die Öffnung der Büchse der Pandora.
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Denn wir brauchen uns wohl nicht erst über die diversen Dimensionen dieser ganzen zutiefst deutschlandschädlichen Einwanderungspolitik zu verbreiten, von den Billionenkosten über die desaströse Lage am Wohnungsmarkt, bei Kriminalität und innerer Sicherheit, am Arbeitsmarkt und beim von Eltern und Lehrern so bezeugten nicht mehr möglichen Unterricht in den entsprechenden Schulklassen, bis hin zum allzu oft nicht gegebenen Integrationswillen einer religiös-gesellschaftlich fremdkulturellen Zuwanderergruppe, der von den Altparteien aber dauernde Aufenthaltserlaubnis und nachfolgend Staatsbürgerschaft samt Wahlrecht nachgeworfen wird, alles zum irreversiblen Schaden Deutschlands und der Demokratie, meine Damen und Herren.
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Was es deshalb braucht, sind doch realistische Konzepte zur Heilung dieser Problematik.
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Ihrer zwei, in ganz verschiedenen Dimensionen angesiedelt, seien kurz aufgezeigt:
Einmal ist der Regelung des Artikels 16a Grundgesetz, die inzwischen durch europäische Rechtsüberlagerung in ihr Gegenteil verkehrt worden ist, wieder Wirksamkeit zu verschaffen. Wer aus einem sicheren Drittstaat nach Deutschland einreist, soll keinen Asylanspruch haben, und Ausländer, die die unberechtigte Einreise versuchen, sollen zurückgewiesen werden, wenn ihnen, wie an allen Außengrenzen der Fall, auf der anderen Seite keine Verfolgung droht, ganz im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention. Und wer bereits durch einen oder mehrere sichere Drittstaaten gewandert ist – wie alle, die nach Deutschland eindringen –, ist natürlich schon mal gleich gar nicht noch auf der Flucht – so wenig wie Subsahara-Afrikaner am Mittelmeer oder Syrer und Afghanen in der Türkei.
Zum anderen muss die Überprüfung eines eventuellen Schutzgrunds natürlich der sich weiterentwickelnden Lage in der Heimatregion Rechnung tragen. Nach der Erstanerkennung muss die Situation doch mehrfach überprüft werden können, ohne gleich auf dauernde Verstetigung des Aufenthalts in Deutschland hinauszulaufen. Auch eine unter vielerlei Aspekten – Kosten, Inkulturation – vorteilhafte Unterbringung in der Herkunftsregion ist zu prüfen, etwa in einem angrenzenden Nachbarland.
Die Bevölkerung hat die Notwendigkeit solcher Schritte längst erkannt. Laut Civey lehnen über 62 Prozent der Deutschen eine Aufnahme weiterer sogenannter Flüchtlinge ab, 58 Prozent halten die Integration für gescheitert.
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Und damit ist in Wahrheit letztlich Merkels „Wir schaffen das“ gescheitert; es ist widerlegt, meine Damen und Herren.
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Aber dieses Problem – die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dieser Politik – soll gelöst werden, durch Meinungsunterdrückung. Die Zensurgesetze samt Löschorgien im Netz, die diese Regierung beauftragt hat, dienen genau dieser Zerschlagung der Demokratie. Laut Allensbach beklagen nämlich 59 Prozent der Deutschen, man müsse schon aufpassen, sich überhaupt noch kritisch zu äußern, zum Thema Muslime und Islam etwa.
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Dessen ungeachtet sind die Altparteien munter dabei, mit dem Wagen, schon an der Wand, immer noch weiter Gas zu geben. Auch die FDP hält die Grenzen mit auf.
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Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Dürr fordert mehr Zuwanderung. Eine halbe Million pro Jahr schwebt ihm vor. Das ist die FDP. Wenn das als Eintrittsbillett ins Koalitionsbett nicht reicht, was denn dann, meine Damen und Herren?
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Da sollten dann die Verfechter solcher Politik aber auch nichts mehr unversucht lassen. Merkels Ruhestand eröffnet da ganz neue Möglichkeiten – viel Zeit, eine große Wohnung. Vor dem Hintergrund des durch Millionen Migranten angespannten Wohnungsmarkts stellt sich da die Frage:
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Wie viele Flüchtlinge möchte Frau Merkel jetzt bei sich aufnehmen und voll versorgen? Oder schafft sie das etwa nicht?
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank. – Sehr geehrter Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wahlperiode neigt sich dem Ende zu. Das ist ein guter Zeitpunkt, um mal eine Bilanz zum Thema Asyl zu ziehen.
Der erste Punkt, der mir da wichtig ist, ist, dass wir uns mit allem Nachdruck dafür einsetzen, dass Lebensperspektiven für die Menschen dort entstehen, wo sie herkommen oder wo sie sind. Zuletzt hat gestern eine Konferenz zu Libyen stattgefunden. Wir engagieren uns weiterhin als das zweit- oder drittgrößte Geberland für humanitäre Hilfe weltweit. Und ich finde, das ist ein ganz beachtlicher Punkt, der hier in dieser Bilanz auf jeden Fall aufgeführt werden muss.
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Ein zweiter Punkt ist, dass wir aber auch unserer humanitären Verpflichtung nachkommen, wo es um die Menschen geht, die auf der Flucht sind. Sie haben Menschlichkeit und Solidarität verdient, und wir engagieren uns weltweit als fünftgrößtes Aufnahmeland. Auch das ist eine beachtliche Bilanz.
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Wir haben die Verfahren bei uns geordnet. Es sind jetzt noch etwa 50 000 Verfahren beim Bundesamt anhängig, sie sind dort also in Bearbeitung, und die Asylzahlen sind seit 2016 in jedem Jahr gesunken. Wir haben ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz geschaffen. Es schafft Alternativen für Menschen, für die die Flucht nicht der Weg ist, der ihnen am Ende helfen kann. Auch die Integration funktioniert trotz Pandemie gut; denn schon mehr als die Hälfte der Menschen, die neu zu uns gekommen sind, sind in Arbeit oder in Ausbildung. Deswegen kann man ganz klar sagen: Es gibt kein Asylchaos, wie es die Anträge der AfD suggerieren,
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sondern wir haben die Dinge in eine ganz gute Ordnung gebracht.
Das Einzige, was es gibt, ist die Wunschvorstellung der AfD, dass es ein solches Asylchaos gäbe; denn Sie wollen bei Wahlen davon profitieren, dass es ein Asylchaos gibt, so wie es Ihre Kolleginnen und Kollegen nach jeder Landtagswahl ja offen bekennen. Wenn sie erklären müssen, warum die Umfragen oder die Wahlergebnisse wieder ein bisschen gesunken sind, dann sagen sie jedes Mal:
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Ja, es hat wieder weniger Flüchtlinge gegeben, und dann verlieren wir halt entsprechend bei den Wahlen. – Das bringt den ganzen Zynismus und die Menschenverachtung Ihrer Partei auf den Punkt.
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Wir dürfen aber natürlich nicht nur sehen, was wir geschafft haben, sondern wir müssen auch auf das Elend in der Welt blicken, das ja zunimmt. Mehr noch: Wir müssen uns von dem Elend berühren lassen. Wir dürfen nicht abstumpfen.
Da will ich mal an den Koalitionspartner das Wort richten: Dass wir Ihnen jedes kranke Kind aus einem Flüchtlingslager, das wir nach Deutschland holen wollten, abtrotzen mussten, dass es in den Flüchtlingslagern erst brennen musste, bis hier irgendetwas in Gang gekommen ist, das gehört für mich zu den unerträglichen Erfahrungen dieser Wahlperiode.
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Sehen Sie es mir nach, dass ich das mit dem, was das C in Ihrem Parteinamen eigentlich zum Ausdruck bringen will, nicht zusammenbringe.
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Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen eine Flüchtlingspolitik, die von einem Grundsatz ausgeht, und der heißt: Wenn Hilfe nötig ist und wenn Hilfe möglich ist, dann sollen wir auch helfen.
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Die Solidarität mit den Schwachen: Das ist das, was uns auszeichnet,
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und dem können wir in der kommenden Wahlperiode dann vielleicht doch mit anderen Mehrheiten noch deutlicher zur Wirkung verhelfen, als uns das in dieser Wahlperiode gelungen ist.
Wir schauen auf eine Entwicklung, die wir zum Besseren gewendet haben. Aber die Not in der Welt trägt uns auf, dass wir nicht nachlassen dürfen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Professor Castellucci. – Nächster Redner ist der Kollege Benjamin Strasser, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei seinem Amtsantritt am 23. März 2018 sagte Bundesinnenminister Seehofer hier von diesem Pult aus: Er wolle sich bei seiner Arbeit – Zitat – „zwei einfacher, aber wirksamer Antreiber bedienen: der Tatkraft und der Beharrlichkeit.“ Kurze Zeit später formulierte er in der Tat seinen Masterplan Migration. Ich zitiere:
Wir wollen eine effektive Steuerung von Migration in der Europäischen Union ... Wir streben die Schaffung eines funktionierenden Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ... einschließlich Dublin-Mechanismus an.
Drei Jahre und eine deutsche EU-Ratspräsidentschaft später ist von dieser Tatkraft und Beharrlichkeit nur wenig zu spüren. Ja, sie ist folgenlos geblieben.
In der Tat: Die EU-Kommission hat im September 2020 einen sogenannten Pakt für Asyl und Migration vorgelegt. Das ist ein erster Schritt, den wir begrüßen. Aber er scheitert wieder an den typischen Knackpunkten einer europäischen Asylpolitik, die wir ja schon seit Jahren erleben und kritisieren.
Die Verteilung unter den Mitgliedstaaten ist weiterhin unklar. Das Problem der Sekundärmigration ist ungelöst. Frontex wird nicht weiterentwickelt. Das Konzept der sogenannten Abschiebepartnerschaften ist völlig abstrakt und unkonkret. Lieber Detlef Seif, das ist ein erster Schritt, aber kein Durchbruch. Wir hätten uns von diesem Minister deutlich mehr erwartet.
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Zentral ist für uns Freie Demokraten bei der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems eine verbindliche Verteilung der Schutzsuchenden in Europa. Da wir in den letzten Jahren feststellen mussten, dass es hier keine Einigung mit allen Mitgliedstaaten gibt, muss Deutschland mit den Willigen vorangehen und hier ein Bündnis schmieden.
Auf der anderen Seite muss dann aber auch klar sein, dass die Mitgliedstaaten, die sich an dieser Koalition nicht beteiligen wollen, sich entweder an einem stärkeren Außengrenzschutz beteiligen müssen oder, wenn das nicht möglich oder nicht gewünscht ist, dass das Kürzungen von Zuwendungen im EU-Haushalt zur Folge hat. Mit diesen angemessenen Kürzungen müssen dann diese Mitgliedstaaten ihren Anteil an der Finanzierung der Kosten für die Aufnahme von Geflüchteten einbringen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir wollen auch das Problem der Sekundärmigration angehen, das ungelöst ist. Wir schlagen eine feste achtjährige Zuständigkeit für den Mitgliedstaat vor, in dem der Schutzsuchende registriert wird. Wir fordern vereinfachte Rücküberstellungen in zuständige EU-Mitgliedstaaten. Wir wollen, dass Hilfeleistungen nur in zuständige EU-Mitgliedstaaten fließen und gleichzeitig ein Mindestniveau bei europäischen Hilfeleistungen gesichert wird. Nur mit diesem Paket schaffen wir auch dauerhaft eine Verhinderung von Sekundärmigration in Europa.
Man könnte jetzt noch viel zu Frontex sagen, was ich tun würde, wenn ich noch ein bisschen Redezeit hätte. Das ist leider nicht mehr der Fall. Aber, Herr Staatssekretär, der Minister hat 2018 viel angekündigt und wenig geliefert. Das Problem ist weiter ungelöst. Es wird eine Aufgabe der kommenden Bundesregierung sein, sich diesem drängenden Problem auf europäischer Ebene anzunehmen.
Vielen herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Strasser. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch in der letzten Sitzungswoche hetzt die AfD mal wieder gegen Geflüchtete und glänzt erneut mit asylpolitischer Inkompetenz.
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Ich glaube, man muss Ihnen einiges hinter die Ohren schreiben. Schutzsuchende haben ein verbürgtes Recht darauf, einen Antrag auf Asyl zu stellen und ein faires Verfahren zu durchlaufen.
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Eine Zurückweisung direkt an den Grenzen verstößt klar gegen das Nichtzurückweisungsprinzip der Genfer Flüchtlingskonvention.
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Die AfD suggeriert, dass viele Menschen fälschlicherweise Schutz erhalten würden. Die Wahrheit ist: Nicht zu viele, sondern zu wenige Menschen erhalten den Flüchtlingsschutz, der ihnen zusteht. Im Jahr 2020 haben Gerichte fast ein Drittel aller überprüften BAMF-Bescheide kassiert. Die Klagen endeten zugunsten der Geflüchteten. Bei den afghanischen Flüchtlingen sind es sogar 60 Prozent, die rechtswidrig einen abgelehnten Bescheid vom BAMF bekamen.
Die AfD träumt davon, Geflüchtete ganz an der Einreise nach Deutschland zu hindern. Traurige Realität ist jedoch: Die Abschottungspolitik der Bundesregierung sorgt mit der Dublin-Regelung, also mit dem Konzept der vermeintlich sicheren Herkunft aus Drittstaaten, sowie Deals mit Diktatoren wie Erdogan bereits heute dafür, dass immer weniger Schutzsuchende überhaupt einen Asylantrag in Deutschland stellen können.
An der kroatischen Grenze werden Geflüchtete schwer misshandelt, in der Ägäis auf dem offenen Meer ausgesetzt, und von der EU ausgebildete finanzierte libysche Milizen verschleppen Schutzsuchende zurück in Folter- und Internierungslager. Der deutsche Innenminister Seehofer schweigt dazu und verliert kein Wort der Kritik zu diesen menschenrechtswidrigen Zuständen. Das ist wirklich ein Skandal.
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Anstatt die selbstorganisierte Seenotrettung zu kriminalisieren, sollte die EU endlich für sichere Fluchtwege und eine staatlich organisierte zivile Seenotrettung sorgen.
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Das wäre wirklich angesagt.
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Ich appelliere an alle Abgeordneten, die in Zukunft in diesem Hause sitzen, diese abscheulichen Verbrechen gegen Schutzsuchende an den EU-Außengrenzen endlich zu beenden.
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Verteidigen Sie das Grundrecht auf Asyl, und kämpfen Sie gegen seine Demontage! Und vor allen Dingen: Kümmern Sie sich endlich um Fluchtursachenbekämpfung! Ich glaube, dann wäre dem Flüchtlingsschutz in diesem Lande schon viel geholfen.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns in den letzten vier Jahren viel zu viel rechtes, extremes, völkisch-nationales Gedankengut hier in diesem Parlament anhören müssen.
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Und wir kennen es nicht anders. Wir kennen es nicht anders von dieser Fraktion, die wirklich jeden Versuch unternimmt, um Menschen, auch Geflüchtete, zu diffamieren, man könnte meinen: furios vor Angst. Das ist Teil ihres Hasses, mit dem diese Leute unser Land versuchen zu spalten, das politische System zum Wanken zu bringen.
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In Antwort darauf fällt mir immer wieder ein Satz ein, den meine Kollegin und Vizepräsidentin dieses Hohen Hauses, Claudia Roth, nach dem schockierenden Mord an Walter Lübcke gesagt hat – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –:
Nach dem Sagbaren aber kommt das Machbare, dem Angriff auf die Menschlichkeit folgt der Angriff auf den Menschen.
Ich finde, er passt an einem Tag wie diesem, bei unserer letzten flüchtlingspolitischen Debatte hier im Hause in dieser Legislatur, weil er uns daran erinnert, dass wir Demokratinnen und Demokraten hier im Haus eine Verantwortung haben, uns jeglichen zynischen Angriffen auf die Menschlichkeit – auch von Geflüchteten und Schutzsuchenden – bedingungslos entgegenzustellen.
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Ich möchte es einmal ausdrücklich sagen – denn das ist ja die gute Nachricht –: Zum Glück ist uns das hier unter den demokratischen Fraktionen sehr, sehr häufig auch gemeinsam gelungen.
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Ob es uns gefällt oder nicht: Millionen Menschen haben keine andere Wahl, als zu fliehen. Die Gründe sind so vielfältig wie die Menschen selbst: Krieg, politische Verfolgung, staatliches Versagen, die Folgen der Klimakrise; um nur ein paar zu nennen. Angesichts Jahr für Jahr steigender Flüchtlingszahlen müssen wir gerade die Ursachen von Flucht und Vertreibung viel, viel stärker in den Blick nehmen.
Ganz grundsätzlich ist es Aufgabe von Staat und Politik, Fliehende und Geflüchtete in ihrer Menschenwürde zu schützen. Dazu gehören für uns Grüne der Anspruch auf eine menschenwürdige Unterbringung, ein faires Asylverfahren genauso wie staatliche Strukturen, die die Menschen dazu befähigen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ja, unsere grüne Programmatik – das haben wir hier häufig sehr explizit gemacht – geht in Opposition zu dieser Regierungsarbeit, weil wir glauben, dass Menschen aus bestimmten Herkunftsländern nicht einfach so kategorisch von Sprachkursen ausgeschlossen werden dürfen,
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man sie nicht kategorisch von ihrer Familie trennen kann oder sie nicht mit Wohnsitz- oder Arbeitsmarktbeschränkungen gegängelt werden dürfen. Wir halten das für menschlich fatal und für integrationspolitisch verantwortungslos.
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Dabei ist es menschenrechtlich geboten und auch politisch klug, geflüchteten Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen Deutschland nicht verlassen können, beispielsweise durch einen Spurwechsel endlich eine Perspektive zu geben. Ein wichtiger Schritt dafür wäre, dass wir endlich den grundrechtlichen Anspruch auf Familiennachzug für alle Schutzberechtigten wieder ermöglichen; denn Menschenrechte sind nicht kontingentierbar.
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Ein letzter Gedanke zu dieser sehr großen Debatte. Ich glaube, wir brauchen dringend eine Abkehr von dem Prinzip, nach dem unsere Außenpolitik immer und immer wieder von innenpolitischen Interessen überlagert wird. Das ist auch für unsere Glaubwürdigkeit in der Welt wichtig.
Unsere Gesellschaft ist heute schon in jeder Hinsicht vielfältig, und es liegt an uns Demokratinnen und Demokraten, diese Gesellschaft vor rechten Attacken zu schützen und vor allen Dingen in allen Lebensbereichen rassismuskritisch zu gestalten.
Ich danke Ihnen herzlich.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Amtsberg. – Der Kollege Michael Kuffer, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede vorbildlich zu Protokoll gegeben.
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Er hat mein Herz damit erwärmt.
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion, das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Rufe der AfD kommen wie üblich.
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Aber jetzt ist ja auch der Zeitpunkt, Bilanz zu ziehen und diese zu nutzen, um am Ende der Legislatur mal politischen Prozess gegen die AfD zu machen. Das sollte Sie nicht ärgern; Sie veranstalten ja permanent politische Tribunale. Und wenn man so gerne austeilt, muss man auch mal einstecken können.
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Die Legislatur begann bei Ihnen mit Forderungen nach Zurückweisung an den Grenzen und nach Grenzschließungen, und jetzt, fast vier Jahre später, sind Sie wieder am selben Punkt angekommen. Die Anträge ähneln sich. Sie haben erkannt, das Thema Corona zieht nicht mehr; deshalb kommen Sie jetzt damit.
Wie lautet nun in diesem politischen Prozess „Deutschland gegen die AfD“ die Anklage?
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Doppelte Lüge und gleichzeitig die menschenrechtswidrige Abschaffung des Asylrechts; denn nichts anderes fordern Sie in Ihren Anträgen. Alle Staaten um Deutschland herum erklären Sie zu sicheren Drittstaaten,
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Zurückweisung soll zum Standardverfahren werden. Und was Sie als Prüfverfahren für Schutzbedürftigkeit definieren, ist für jeden Flüchtling dieser Welt schlichtweg unerfüllbar. Faktisch fordern Sie nichts anderes als die Abschaffung des Menschenrechts auf Asyl, des Asylrechts. Das ist mit uns allen hier im Parlament – außer Ihnen – nicht zu haben.
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Jetzt kommen wir zu den Lügen. Sie berufen sich ja auf politische Vernunft und auf das Wohl des deutschen Bundesbürgers.
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Nun hat Hans-Thomas Tillschneider, Ihr bildungs- und kulturpolitischer Sprecher in Sachsen-Anhalt, gestern geschrieben – ich zitiere wörtlich –:
#Ungarn gegen die „Mannschaft“ – ich bin für Ungarn, ein Staat und ein Volk, das noch gesunde Maßstäbe hat. #NichtmeineMannschaft
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Ihre Leute erklären sich offen gegen die deutsche Nationalmannschaft;
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Frau Steinbach hat ihm übrigens beigepflichtet. Das zeigt, wie sehr Sie eben nicht an der Seite Deutschlands stehen. Patriotismus und Heimatliebe sind bei Ihnen eben nicht zu finden.
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Und – wie durch einen Eingriff höherer Vernunft oder den Einbruch des Faktischen; man könnte es auch göttlichen Willen nennen –: Wer trifft gestern? Leon Goretzka! Was sagt Leon Goretzka über die AfD? Er sagt wörtlich: „Die AfD ist keine Alternative, sondern eine Schande für Deutschland.“ Glückwunsch, Leon Goretzka!
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Goretzka sagt weiter: Wenn ich für Deutschland spiele, dann spiele ich für Werte und Verfassung und nicht für ein Land, das nicht aus der Geschichte gelernt hat. – Er sagt weiterhin: Schwarz-Rot-Gold steht für die Demokratie des Landes und nicht für die Rechten. – Und er macht noch etwas: Er läuft gestern vor die Tribüne der faschistischen Fans mit Herzzeichen
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und setzt ein klares Signal gegen Homophobie und gegen all dieses rechtspopulistische Denken, gegen Orban und gegen Sie.
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Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der AfD?
Leon Goretzka hat Ihnen eine Lektion erteilt, und dafür danke ich ihm!
Vielen Dank.
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Mann, Mann, Mann! War das eine schwere Geburt! Ich freue mich, dass wir heute endlich das Gesetz zum Insektenschutz verabschieden können. Ich erhebe mein Glas auf diesen schönen Tag.
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Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Auf Ihr Wohl und auf das Wohl der Insekten.
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Ich tue das voller Freude; denn ich bin der Überzeugung, dass wir uns auf einen langen Weg begeben. Natürlich werden wir von der Opposition wieder hören, dass alles viel zu wenig und nicht gut genug ist. Aber ich sage Ihnen: Jeder lange Weg beginnt mit dem ersten Schritt, und wir gehen heute etliche Schritte in die richtige Richtung.
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Ich möchte ausdrücklich der Bundesministerin für Umwelt, Svenja Schulze, danken, die von Anfang an den Insektenschutz neben dem Klimaschutz zu ihrem zentralen Projekt erklärt hat, die trotz aller Rückschläge und trotz aller Verzögerungen nicht nachgelassen hat, die hartnäckig blieb und dieses Gesetz vorangetrieben hat. Und heute ist es endlich so weit.
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Wir schnüren ein gutes Verhandlungspaket bestehend aus dem Insektenschutzgesetz im engeren Sinne und etlichen Regelungen im landwirtschaftlichen Bereich, die gute Inhalte umfassen.
Von zentraler Bedeutung ist, dass Glyphosat mit dem Jahr 2023 in Deutschland in weitesten Bereichen der Geschichte angehören wird und dass wir den Pestizideinsatz in der Landwirtschaft und in den Naturschutzgebieten deutlich reduzieren.
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Im Insektenschutzgesetz widmen wir uns auch dem Thema Lichtverschmutzung. Ja, das mag der eine oder andere belächeln; aber wenn man sich um Insekten kümmert, dann muss man sich auch um die nachtaktiven Insekten kümmern, und die sind betroffen davon, dass wir in einem strahlenden Land leben. Wenigstens in den Naturschutzgebieten wird Lichtverschmutzung in Zukunft deutlich weniger werden. Wir geben viel Geld in Forschung und in Prüfungen, weil wir uns hier auf einem relativ neuen Gebiet befinden. Das ist der richtige Weg. Das finde ich richtig gut.
Wir weiten den Biotopschutz auf Streuobstwiesen, Steinriegel und Trockenmauern aus. Wir verabschieden mit dem Paket Maßnahmen des Projekts „Natur auf Zeit“, ein Projekt, das sowohl von den Vertretern der Gesteinsindustrie wie auch von den Naturschutzverbänden an uns herangetragen wurde. Ich finde, es macht Sinn, dass in einem Steinbruch, der in 10 oder 15 Jahren bearbeitet wird, keine Verhinderungspflege wie heute üblich betrieben wird, sondern dass man diese Zeit für Naturschutz auf Zeit nutzen kann.
Für mich persönlich ist der schönste Inhalt des Gesetzespaketes, dass wir damit das Nationale Naturerbe voranbringen: Weitere 8 000 Hektar werden dem Naturschutz übergeben.
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Denn wir alle wissen: Der wirkungsvollste Naturschutz findet in großen Schutzgebieten statt. So gehen wir auch hier einen großen Schritt in die richtige Richtung.
Ich möchte zum Abschluss allen Mitstreitern, den Umweltpolitikern in der Union, allen voran Klaus-Peter Schulze und Marie-Luise Dött, danken, die an unserer Seite gestritten haben. Ich möchte auch dem Bundesministerium für Landwirtschaft danken. Frau Klöckner, ich habe Sie an dieser Stelle oft gescholten und gemahnt. Aber ich muss jetzt auch sagen: Vielen Dank dafür, dass Sie und Ihr Haus auf den letzten Metern einen konstruktiven Beitrag geleistet haben. Ich möchte auch den Landwirtschaftspolitikern danken, die viele Sorgen der Landwirte aufgenommen haben – es ist ja kein Gesetz gegen die Landwirtschaft, im Gegenteil: wir wollen die Lebensgrundlagen sichern, und dazu gehören auch die Bestäuber –, vor allem möchte ich aber den Landwirtschaftspolitikern meiner Fraktion danken, allen voran Rainer Spiering, unserem agrarpolitischen Sprecher. Vielen Dank für die kollegiale und die freundschaftliche Zusammenarbeit! Lieber Rainer, du trittst nicht mehr für den Deutschen Bundestag an. Ich möchte dir sagen: Vielen Dank für dein Wirken!
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Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss mit dem Appell: Es geht nur gemeinsam. Wir gehen jetzt einige gute Schritte in die richtige Richtung: Zukunft und Zusammenhalt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an die AfD-Fraktion mit Andreas Bleck.
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Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich nehme jetzt keinen Schluck aus diesem Becher. Ich habe die Vermutung, da könnte Schnaps drin sein, und ich müsste sehr viel davon trinken, um mir das Insektenschutzpaket schönzutrinken.
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Auf den letzten Drücker beschließt der Deutsche Bundestag über das Insektenschutzpaket der Bundesregierung. Mehrmals strichen CDU/CSU und SPD dieses von der Tagesordnung des Umweltausschusses und des Bundestages, um die Beschlussfassung zu verschieben. Dieser Eiertanz ist etwas verwunderlich. Immerhin wurde das Aktionsprogramm Insektenschutz, das als Blaupause für das Insektenschutzpaket dienen sollte, im Kabinett nicht nur von der Bundesumweltministerin, SPD, sondern auch von der Bundeslandwirtschaftsministerin, CDU, noch mitgetragen. Woran könnte es also liegen, dass der Weg vom Aktionsprogramm Insektenschutz zum Insektenschutzpaket so steinig war?
Nun, die Bundesrepublik Deutschland erlebt zurzeit die größten Bauernproteste ihrer Geschichte, und das kurz vor der Bundestagswahl – ein ungünstiger Zeitpunkt für die Union, den Bauern den Kampf zu erklären; denn die Union kämpft um das Kanzleramt. Sie kämpft um eine stabile Mehrheit. Dabei versucht sie einen Spagat zwischen Anbiederung an die Bauern und Anbiederung an die Grünen.
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Dieser Spagat kann jedoch nicht gelingen; denn die Grünen befinden sich auf einem ideologischen Kreuzzug gegen die Landwirtschaft. Im Unterschied zur Union macht die AfD bei dieser Hexenjagd nicht mit.
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Aus unserer Sicht möchte ich Folgendes feststellen:
Erstens. Primäre Aufgabe der Landwirtschaft ist die Ernährungssicherung, sekundäre Aufgabe der Naturschutz. Die Bauern liefern unser tägliches Brot aus heimischer Erzeugung und gehen dabei verantwortungsbewusst mit der Natur um.
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Wir sollten die Bauern also nicht an die Wand stellen, sondern uns hinter sie stellen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Zweitens. Naturschutz kann nicht gegen, sondern nur mit der Landwirtschaft gelingen. Es braucht einen kooperativen Ansatz. Es braucht einen ergebnisorientierten Vertragsnaturschutz.
Drittens. Der Anteil der Landwirtschaft am Rückgang der Insektenbiomasse und Insektenvielfalt ist nicht abschließend geklärt. Die Krefelder Studie sagt nichts über die Ursachen des sogenannten Insektensterbens aus. Es besteht also weiterhin Forschungsbedarf.
Viertens. Bei Gesetzentwürfen gilt grundsätzlich: Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Genauso wie für einen guten Arzt gilt für einen guten Politiker: erst die richtige Diagnose und dann die richtige Therapie.
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Das Insektenschutzpaket der Bundesregierung wird den meisten dieser Feststellungen nicht gerecht. Ich gestehe der Bundesregierung zu, dass der kooperative Ansatz gestärkt wurde. Richtig so! Ich gestehe der Bundesregierung zu, dass die Luftverschmutzung thematisiert wurde. Richtig so! Das unterstützen wir. Doch die Bundesregierung hat an einer ergebnisoffenen Ursachenforschung für den Rückgang der Insektenbiomasse und Insektenvielfalt kein Interesse. Andere Einflussfaktoren wie Photovoltaikanlagen und Windkraftanlagen werden ausgeblendet. Darüber hinaus geht die Bundesregierung davon aus, dass ein Betrag von 108 Millionen Euro jährlich aus Bundes- und Ländermitteln ausreicht, um die Belastungen der Bauern auszugleichen. Dabei weiß sie nicht, wie hoch diese sein werden. Sie hat sich einer von uns geforderten Folgenabschätzung für das Insektenschutzpaket verweigert. Das, was Sie Erschwernisausgleich nennen, ist in Wahrheit ein Schweigegeld.
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Werte Bauern, zum Schluss möchte ich mich an Sie wenden. Schweigen Sie nicht! Es geht um Ihre Zukunft und um die Zukunft Ihrer Kinder und Kindeskinder, und diese sieht leider düster aus. In ihrer Biodiversitätsstrategie für 2030 fordert die Europäische Kommission, 30 Prozent der Landes- und Meeresflächen in der Europäischen Union zu schützen und den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln weiter zu reduzieren. Gleichzeitig hält die Europäische Kommission am EU-Mercosur-Abkommen fest. In Europa wird die Natur vermeintlich gerettet, um sie in Südamerika tatsächlich zu zerstören. Das ist keine gute Umweltpolitik.
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So wird Scheibe für Scheibe von der Salami geschnitten, Hof für Hof von der Landkarte getilgt. Am 26. September 2021 ist Bundestagswahl. Ich bin überzeugt, dass Sie die richtige Wahlentscheidung treffen werden.
Vielen Dank.
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Guten Abend! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren Abgeordnete! Die AfD macht Politik mit Angst, die Große Koalition macht Politik mit Lösungen. Das ist der gute Vorteil.
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Diese Woche habe ich erstmalig unsere Auszeichnung im Bundeswettbewerb Insektenschutz verliehen: an Landwirtinnen und Landwirte, die ihren Beruf und den Insektenschutz vorbildlich miteinander verbinden. Sie pflegen artenreiches Grünland, produzieren Saatgut von Wildpflanzen, pflanzen Hecken, legen Blühflächen an und vieles mehr. Das zeigt: Unsere Landwirtinnen und Landwirte können und wollen Insektenschutz.
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Weil Insekten und Landwirtschaft Teil des gleichen Systems sind, weil die Landwirtschaft auf die Bestäubungsleistung der Insekten angewiesen ist; denn wir wissen: Ohne Pflanzenbestäuber wäre unsere Nahrungsmittelkette in Gefahr. Rund 80 Prozent aller Pflanzen, die unserer Nahrung dienen, sind auf Bestäuberinsekten angewiesen. Deshalb ist es im ureigenen Interesse der Landwirtschaft, Insekten zu schützen.
Es ist klar, dass wir das, was den Insekten schadet, eindämmen müssen. Das sind Lichtverschmutzung, Schottergärten, Flächenversiegelungen oder auch Insektizide und der Klimawandel. Ich sage als Bundeslandwirtschaftsministerin: Auch die Landwirtschaft muss und will ihren Beitrag hierzu leisten. Aber uns war wichtig – da bedanke ich mich sehr herzlich gerade bei den Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die immer Wert darauf gelegt haben –, dass der Insektenschutz nicht zulasten der Ertragssicherung und der Einkommen der Landwirte geht;
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denn Landwirte sind systemrelevant. Sie haben eine Sonderrolle; denn sie produzieren etwas, ohne das wir nicht auskommen können, nämlich unsere Nahrungsmittel.
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Aber wir müssen auch sagen: Ernten sind weltweit gefährdet. 40 Prozent weltweit werden durch Schädlinge zerstört. Deshalb brauchen wir den Schutz der Pflanzen, um sie gesund zu erhalten; aber wir forschen intensiv an Alternativen für chemische Pflanzenschutzmittel. Wir müssen auch einen Blick auf die neuen Züchtungstechnologien werfen; denn am Ende geht es auch um resistente Pflanzen, wenn wir die Verwendung von Pflanzenschutzmitteln einschränken wollen.
Die kommenden Einschränkungen beim Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und die Ausweitung des Biotopschutzes in schutzwürdigen Gebieten haben Auswirkungen. Positive Auswirkungen für die Insekten. Aber wir müssen auch klar sagen: Das sind Erschwernisse für die Landwirte, die nicht nur schwerer zu arbeiten, sondern auch Ertragseinbußen haben werden. Deshalb sage ich hier sehr klar: Es war der Union immer wichtig, dass wir einen Ausgleich schaffen. Darum haben wir hart gerungen, ja. Dafür ist ein Parlament im Übrigen da. Bei Ihnen ist es so, dass vorne eine Ansage gemacht wird. Hier wird debattiert um die besten Argumente.
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Diese intensive Auseinandersetzung hat dazu geführt, dass alles noch besser geworden ist. Es gibt ab 2022 im Rahmen der GAK den neuen Fördergrundsatz „Erschwernisausgleich Pflanzenschutz“, veranschlagt mit zusätzlich 65 Millionen Euro. Ich freue mich, dass die AMK, die Agrarministerkonferenz, auf meinen Wunsch, auf meinen Vorschlag hin den Beschluss gefasst hat, dass diese Gelder – insgesamt mit Kofinanzierung der Länder 250 Millionen Euro – an die Landwirte gehen, die aufgrund von Erschwernissen Einbußen haben.
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Wir gleichen ihnen das aus. Das geht mit uns. Das ist wichtig. Es geht darum, mit Hecken, Streuobstwiesen, extensiver Grundland-Nutzung, ökologischem Landbau und vielem anderen zu zeigen: Praktischer Insektenschutz geht vor Ort, und er wirkt. Das geht nur mit den Bauern und nicht gegen die Bauern.
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Ich möchte abschließend sagen: Ja, es geht um kooperative Lösungen. Deshalb habe ich in einer Protokollerklärung im Kabinett Wert darauf gelegt, dass wir vor allen Dingen deutlich machen, dass die Vereinbarungen, die es in den Ländern bereits gibt, bestehen bleiben, dass es landesspezifische Abweichungen geben kann. Jetzt sind die Länder am Zug. Ich sage auch sehr klar: Mir war es wichtig, passgenaue Ausnahmen vorzusehen für die Sonderkulturen, wenn es um die Baumschulen und vieles andere geht.
Ich sehe, dass ich nur noch wenig Redezeit habe. – Wir haben eines erreicht: Insektenschutz und Erntesicherung – mit Augenmaß. Wir beziehen die ein, die unser Leben sichern.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an Dr. Gero Clemens Hocker von der FDP-Fraktion.
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Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Landwirtschaft ist es in unserem Lande noch nie schlechter gegangen als im Jahr 2021. Nicht allein die Politik trägt die Verantwortung dafür, aber die Politik trägt eine Mitverantwortung dafür, dass die Situation für Landwirte so prekär geworden ist. Auch diese Bundesregierung, verehrte Frau Ministerin, hat einen erheblichen Anteil daran, dass es Landwirten in Deutschland gegenwärtig so schlecht geht,
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angefangen bei einer Düngeverordnung, die zustande gekommen ist auf der Grundlage von Messergebnissen, die überhaupt nicht miteinander vergleichbar waren, über eine Bauernmilliarde, die kein Landwirt da draußen jemals gewünscht, gefordert oder gewollt hat, bis hin zu einem Insektenschutzpaket, das überhaupt keine Regelung dazu enthält, welche Insektenspezies eigentlich genau geschützt werden soll – geht es darum, die Insektenbiomasse zu schützen, oder darum, die Insektenbiodiversität zu schützen? –, das überhaupt keine Ziele definiert und deswegen auch überhaupt keine Überprüfbarkeit beinhaltet. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn etwas so um die Ecke kommt, dann muss man es als das benennen, was es ist: Das ist politische Schaumschlägerei, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Bundesregierung.
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Dabei weiß doch jedes Kind, was Insekten brauchen, um existieren zu können. Ich sage das hier mal ganz deutlich: Die brauchen die Kuhfladen, die die Kühe auf der Weide hinterlassen, als Nahrungsgrundlage. Die brauchen Misthaufen, die nicht abgedeckt sind wie in einer komplett ausgeräumten Landschaft. Ja, meine Damen und Herren, die brauchen vor allem auch Tierhaltung. Die Art und Weise, wie diese Bundesregierung es gerade den Tierhaltern in Deutschland in den letzten dreieinhalb Jahren immer schwerer gemacht hat – mit immer mehr Bürokratie, mit immer mehr Auflagen –, ist ein Insektenvernichtungsprogramm. Jetzt kommen Sie mit einem Insektenschutzprogramm zum Ende der Legislatur, verehrte Kolleginnen und Kollegen.
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Wenn ab Herbst tatsächlich Schwarz und Grün allein in diesem Lande regieren sollten,
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dann wird das der Todesstoß sein für viele Tausende landwirtschaftliche Existenzen in unserem Land; denn nachdem der Widerstand des CDU-geführten Landwirtschaftsministeriums in den letzten dreieinhalb Jahren gegenüber den größten ideologischen Fehlern, die häufig genug aus dem SPD-geführten Umweltministerium gekommen sind, so – ich nenne es mal ganz positiv – überschaubar gewesen ist, gibt es wenig Grund, daran zu glauben, dass der Widerstand eines CDU-geführten Landwirtschaftsministeriums größer wäre – zumal die Union bei solchen Landwirtschaftsfragen so durchgegrünt ist –, wenn eine Grüne oder ein Grüner an der Spitze des Umweltministeriums stehen würde.
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Deswegen, meine Damen und Herren, brauchen die Landwirte in Deutschland überhaupt keine Belehrung, wen sie wählen sollen, wie man das vonseiten der AfD versucht. Die Menschen in den ländlichen Regionen verfolgen sehr genau, wie sehr sich die Union von ihnen abgewendet hat,
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und sie werden im September sehr wohl eine weise und richtige Entscheidung treffen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Danke schön. – Das Wort geht an Dr. Kirsten Tackmann von der Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Frau Ministerinnen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was lange währt, wird trotzdem nicht gut. Das gilt leider auch für die vorliegende Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes. Ja, mehr Insektenschutz ist aus Sicht der Linken so nötig wie längst überfällig. Statt um das Ob muss es jetzt um das Wie gehen. Ja, die Ursachen der Verluste der Biodiversität sind komplex, und Zielkonflikte machen die Lösung schwierig. Eigentlich muss es um eine insektenfreundliche Gesellschaft, Lebens- und Wirtschaftsweise gehen.
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Gemessen daran ist das sogenannte Insektenschutzpaket der Koalition, zu dem der Gesetzentwurf gehört, bestenfalls unterkomplex. Wer A wie Artenvielfalt und I wie Insektenschutz sagt, muss eben auch B wie Bäuerinnen sagen. Hier haben die Koalition und die Bundesregierung versagt.
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Denn was in einigen Bundesländern gelungen ist, wurde auf Bundesebene gar nicht erst ernsthaft versucht. Aber man kann einvernehmliche Lösungen finden, mit einem Dialog aller Betroffenen auf Augenhöhe und wenn allen klar ist, dass ein einfaches Weiter-so eben nicht geht.
({2})
In Brandenburg zum Beispiel, wo ich herkomme, haben sich Verbände, Landtagsfraktionen, Ministerium und Verwaltung zum Insektendialog an einen Tisch gesetzt, und sie haben in zähem Ringen wirklich Kompromisse gefunden. Auch wenn deren Umsetzung noch schwierig genug wird: Sie sind auf einem guten Weg. Dagegen atmet die Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes eher den Geist einer Basta-Politik, die wirklich nicht hilft.
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Die nachgeschobene Finanzierung hat zwar Kritik aufgegriffen. Aber durch die Kofinanzierung werden sich reiche Länder wohl mehr Insektenschutz leisten können als ärmere. Das ist doch absurd,
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mal abgesehen davon, dass wir als Linke einen Rechtsanspruch wollen.
Übrigens gehören zu den wichtigen Ursachen des Insektensterbens die Dumpingpreise der Lebensmittelkonzerne. Die profitieren von einem falschen System, werden aber wieder nicht an der Korrektur des Systems beteiligt. Diese konzernfreundliche Agrarpolitik muss endlich beendet werden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach 16 Jahren ist dies wohl meine letzte Rede an diesem Pult. Ich danke vielen vor allen Dingen im Ausschuss für Essen und Trinken für Kollegialität – ich denke, die Angesprochenen wissen, dass sie gemeint sind –, allen voran dem Ausschussvorsitzenden Alois Gerig. Ich danke allen Mitarbeitenden. Was wären wir Abgeordnete ohne sie?
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Schade, dass ich nicht immer da recht bekommen habe, wo ich recht hatte. Immerhin hat sich der jahrelange Streit für Weidetierhaltende oder Agroforstsysteme zuletzt doch noch ausgezahlt. Selbst beim Nutzhanf gibt es Hoffnung, auch wenn unser Antrag heute abgelehnt wurde.
Bei anderen Themen hätte ich lieber nicht recht behalten. Bodenspekulation und Erpressung durch Lebensmittelkonzerne werden leider weiter billigend in Kauf genommen. Die Zeche zahlen die Agrarbetriebe und letzten Endes wir alle.
Deshalb noch ein paar Einsichten:
Probleme auszusitzen, macht die Lösung noch schwieriger. Demokratie muss als Schutzgarant für alle Menschen, für Tiere, Natur und das Klima wahrgenommen werden, sonst verliert sie die Unterstützung. Und: Faschisten sind nicht mit Stärke zur Macht gekommen, sondern weil Demokratie zu schwach war. Das darf nie wieder passieren.
Vielen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte vor vier Jahren Hoffnung. Ich hatte Hoffnung, dass wir beim Insektenschutz vorankommen. Wir hatten eine große gesellschaftliche Offenheit für dieses Thema. Wir hatten IPBES, eine Plattform, die die Welt aufgerüttelt hat. Wir hatten ein Momentum in unserer Gesellschaft. Wir hatten Volksbegehren in vielen Ländern. Wir hatten Landesgesetzgebung. Wir hatten sogar eine Große Koalition, die in ihrem Koalitionsvertrag geschrieben hat: „Wir werden das Insektensterben umfassend bekämpfen.“
Dieses Vorhaben, diesen Ausspruch haben Sie jetzt vier Jahre lang zerhäckselt. Von Ihrem Insektenschutzpaket ist bestenfalls noch das Verpackungspapier übrig geblieben.
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Sie haben eine Chance, mit den Landwirten und der Gesellschaft gemeinsam über den Umbau der Agrarstrukturen zu sprechen. Meine Kollegin Tackmann hat eben angesprochen, dass vor allem durch die Orientierung an der Globalisierung Probleme erzeugt werden, dass Bodenspekulationen nicht bekämpft werden, dass dies die Kernprobleme in der Landwirtschaft sind und der Insektenschutz bewältigbar wäre, wenn Sie ihn hätten leisten wollen. Aber Sie haben dieses Thema vorgeschoben. Sie haben es wie die anderen Umweltschutzthemen genommen, um von dem Versagen einer 16-jährigen CDU-Agrarpolitik abzulenken.
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Was ist jetzt von dieser großspurigen Ankündigung noch übrig geblieben? Ein Bundeswettbewerb – Sie haben Insektenhotels aufgehängt; eine gute Sache an und für sich, von einer Ministerin erwarte ich etwas mehr –;
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ein Monitoringzentrum, das zwar beobachten darf, aber keine Analysen aus seinen Beobachtungen ziehen darf – völlig verrückt. Sie wollen Insektenlampen nicht mehr verwenden lassen, verbieten aber den Verkauf und den Handel nicht. Ich frage mich, wer das vor Ort kontrollieren soll, wenn die Dinger erst mal verkauft worden sind.
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Ferner: Kleinteilige und halbherzige Maßnahmen gegen die Lichtverschmutzung.
Zum Thema Landwirtschaft. Wir haben diese Woche aktuell die Rote Liste der Brutvogelarten auf den Tisch bekommen. Jede zweite Art ist vom Aussterben bedroht, ist in ihrem Bestand bedroht. Genau in dieser Zeit gipfelt Ihr Insektenschutzvorhaben, nenne ich es mal, darin, dass Sie für 0,6 Prozent der Fläche verbindliche Beschränkungen, verbindliche Verbote beim Pestizideinsatz haben wollen; alles andere ist freiwillig. Wir wollen mal darüber reden, was in Ihren Gesetzen und Ihrer Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung drinsteht. Für diese 0,6 Prozent der Fläche haben Sie jetzt in einer Nacht-und-Nebel-Aktion – Frau Connemann, ich sehe Sie gar nicht, sie drückt sich heute offensichtlich vor der Debatte – den Bundestag erpresst, das Gesetz zigmal von der Tagesordnung verschoben. Diese 65 Millionen Euro, auf 0,6 Prozent der Fläche runtergerechnet – das ist mehr als die derzeitige Ökolandbauförderung, teilweise doppelt so viel.
Was Sie damit für einen Fehlanreiz setzen, was Sie für eine falsche Weichenstellung damit vornehmen, das müssen die nächste Bundesregierung und nächsten Parlamente ausbaden, und das muss die Bevölkerung vor Ort ausbaden. Damit haben Sie den Konflikt zwischen Landwirtschaft und Gesellschaft auf ein neues hohes Niveau gehoben. Das hier auch noch positiv zu verkaufen, liebe Kolleginnen von der SPD, ist wirklich peinlich.
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Allerletzte Anmerkung. Parallel kürzen Sie das Bundesprogramm Biologische Vielfalt. Förderzusagen von über 30 Millionen Euro werden dort zurückgenommen. Die Verbände stehen jetzt bei uns auf der Matte. Sie hatten schon die Zusagen und fragen sich jetzt: Warum werden wir nicht mehr gefördert? Sie kürzen das Auenschutzprogramm, und Sie lösen die Versprechung für einen Naturschutzfonds auf europäischer Ebene – das steht in Ihrem Koalitionsvertrag drin – nicht ein. Was auch nicht kommt, ist der Aktionsplan für die Schutzgebiete, die Moorschutzstrategie. Alles Fehlanzeige! Das sind alles Aussagen aus Ihrem Koalitionsvertrag. Der Naturschutz ist bei Ihnen in schlechten Händen.
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Danke. – Das Wort geht an Dr. Klaus-Peter Schulze von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Zunächst einmal, Frau Lemke, hatte ich auch eine Hoffnung: Ich hatte die Hoffnung, dass auch mal Ihrerseits zugegeben wird, dass man die Forcierung der Biogasanlagen, die durch die Gesetzgebung 2003 gegen den Rat der Gutachter von Ihrem grün geführten Umweltministerium auf den Weg gebracht wurde, als Fehler ansieht. Darauf gehe ich noch mal ein. Das hätte ich von Ihnen erwartet.
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Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, in den Debatten zuvor habe ich das auch schon gesagt: Es gibt neben der Landwirtschaft noch ein großes Mosaik an Ursachen, und die werden vielfach ausgeblendet, auch heute in dieser Debatte. Deshalb möchte ich mal auf zwei, drei Dinge hinweisen, bei denen wir insgesamt als Gesellschaft mehr machen können.
Die Themen „Lichtverschmutzung“, „Natur auf Zeit“ und „Landschaftsplanung“ hat mein Kollege Carsten Träger angesprochen; das kann ich mir sparen.
Wenn man sich nur mal anschaut, welche Möglichkeiten wir im kommunalen und eigentlich auch im privaten Bereich haben, sieht man: Wir haben in Deutschland 1,1 Millionen Kleingärten und 16 Millionen Einfamilien- und Zweifamilienhäuser, die in der Regel auch alle einen Garten haben. Wenn wir in jedem Garten eine Ökoecke einrichten, dann haben wir viel erreicht. Ich bin dankbar, dass von der Bundesumweltministerin die ersten Papiere dazu öffentlich gemacht wurden und auch der NABU Vorschläge unterbreitet. Da ist viel zu machen.
Aber eins will ich auch sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen – vielleicht ist der eine oder andere Nutzer auch unter Ihnen –: Der Mähroboter ist nicht der Freund der Insekten. Das muss man an dieser Stelle auch mal ganz deutlich sagen.
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Dann kommen wir zu den kommunalen Flächen. Da ist auch einiges zu tun. Auch im Bereich der Kommunen kann man Einfluss nehmen. Ich habe letztens einen Bebauungsplan in die Hand bekommen. Darin steht: Samenflug ist zu verhindern. – Das heißt, in diesem Wohngebiet darf nichts blühen, alles muss runtergemäht werden, damit bei den Nachbarn kein Samen ankommt. Solange die Genehmigungsbehörden in Deutschland solche Bebauungspläne genehmigen und vielleicht noch unterstützen, kommen wir nicht weiter.
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Deshalb mein Punkt: Wir müssen eine gesamtgesellschaftliche Bewegung auf den Weg bringen.
Meine Damen und Herren, ich möchte mich abschließend bei meinem Kollegen Träger für die Zusammenarbeit bedanken und auch bei den Kollegen von der AG Landwirtschaft. Und gestatten Sie mir noch ein persönliches Wort, liebe Präsidentin: Ich habe genau vor sieben Jahren, am 24. Juni 2013, hier meine erste Rede gehalten, und das heute ist meine letzte. Ich werde in wenigen Tagen 67 Jahre alt. Ein Kollege von der FDP hat mal zu mir gesagt: Wenn du 67 wirst, bist du volljährig; da kannst du aufhören. – Diesem Rat werde ich folgen; ich werde nicht mehr für den neuen Bundestag kandidieren. Ich möchte mich bei den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen für die sachliche Zusammenarbeit bedanken. Manchmal haben wir uns ein bisschen gefetzt. Aber es hat auf jeden Fall Spaß gemacht und mich auch vorangebracht. Ich möchte mich auch bei meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Berliner Büro und in den Wahlkreisbüros in Cottbus, Forst und Spremberg bedanken. Ganz großer Dank geht an dieser Stelle natürlich an meine Frau und die Familie, die mir immer den Rücken freigehalten haben.
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Ich wünsche allen, die nach dem 26. September wieder hier sitzen: Arbeiten Sie im Interesse unseres Vaterlandes!
Danke.
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Herzlichen Dank, lieber Klaus-Peter Schulze – der Nächste aus Brandenburg, der aufhört –, für deine geleistete Arbeit hier im Parlament. Wir wünschen dir persönlich mit deiner Familie viel Spaß und viele, viele schöne Jahre in einer anderen Zeit, nämlich in viel Freizeit. Vielen Dank.
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Das Wort geht an die Bundesministerin Svenja Schulze.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Ich glaube, es ist sehr deutlich geworden in der Debatte: Insekten brauchen unseren Schutz. Heute haben wir die Chance, wichtige Maßnahmen dafür gesetzlich zu verankern, endlich, fast zwei Jahre nach dem Beschluss des Aktionsprogramms Insektenschutz. Ja, auch für meinen Geschmack hätte es schneller gehen können. Aber ich habe seit Anfang der Legislaturperiode für das Insektenschutzpaket gekämpft. Deswegen bin ich sehr froh, dass wir dieses zentrale Vorhaben jetzt noch erfolgreich abschließen.
Die Anzahl und die Vielfalt der Insekten, beides geht massiv zurück. Dabei sind Insekten Bestäuber, das ist die natürliche Müllabfuhr, das ist der Gesundheitsdienst. Durch den Insektenschwund gehen uns diese wichtigen Leistungen verloren. Wer heute die Insekten schützt, der sichert die Landwirtschaft von morgen. Ich verstehe nicht, wie man das überhaupt noch negieren kann.
Es gibt für den Insektenschwund viele verschiedene Ursachen. Deswegen setzt das Gesetz auch an mehreren Punkten an: Es stellt zusätzliche Flächen, wichtige Lebensräume für Insekten, unter Schutz. Streuobstwiesen, artenreiche Weiden, Wiesen werden jetzt als Biotope anerkannt. Viele Schutzgebiete bieten einen noch besseren Schutz. Dort wird der Einsatz von insektenschädlichen Bioziden, zum Beispiel von Holzschutzmitteln, endlich eingeschränkt. Das Gesetz regelt erstmals Probleme im Zusammenhang mit der Lichtverschmutzung. Das verringert die Gefahr, dass Lichtquellen eben auch zu Insektenfallen werden.
Aber eine der wichtigsten Ursachen für das Insektensterben ist die konventionelle Landwirtschaft; das ist vollkommen klar. Deswegen möchte ich hier drei Dinge ganz besonders betonen:
Erstens. Wenn Landwirtinnen und Landwirte Leistungen für das Gemeinwohl erbringen, dann muss sich das für sie auch lohnen. Es muss planbar und verlässlich sein. Deswegen werden die Zahlungen für freiwillige Maßnahmen in der Landwirtschaft gesetzlich abgesichert. Sie haben das eben von meiner Kollegin gehört.
Zweitens. Ich weiß, dass Landwirtinnen und Landwirte unter großem Druck stehen. Deswegen ist es wichtig, dass jetzt faire Lösungen gefunden werden, die die unterschiedlichen Ausgangslagen berücksichtigen, die verschiedene Wege zum Ziel ermöglichen. Diese freiwilligen Vereinbarungen, wie es sie zum Beispiel schon lange in Niedersachsen gibt, werden weiterhin möglich sein.
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Drittens. Das Gesetz ist ein ganz zentraler Baustein eines Paketes für den Insektenschutz. Der zweite große Baustein ist die Änderung der Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung, die wir morgen im Bundesrat diskutieren werden. Damit besiegeln wir endgültig den Ausstieg aus Glyphosat und beschließen weitere Maßnahmen, um die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln zu reduzieren. Die Pflanzenschutzmittel sind eine wesentliche Ursache für das Insektensterben, und deswegen ist es so wichtig, dass wir hier einen breiten Ansatz verfolgen und ein ganzes Paket auf den Weg gebracht haben.
Dieses Gesetz ist ein Meilenstein. Aber ich will hier noch einmal ganz deutlich sagen: Die Arbeit hört damit nicht auf. Wir müssen die Umsetzung des Aktionsprogramms Insektenschutz weiter vorantreiben; das werde ich jedenfalls tun. Dazu gehört zum Beispiel der Ausbau des Insektenmonitorings. Das neu gegründete Monitoringzentrum für Biodiversität in Leipzig wird uns helfen, die komplexen Ursachen des Insektenschwundes besser zu verstehen. Dann können wir noch gezielter handeln.
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Aber es ist vollkommen klar: Wir wissen genug, um zu handeln. Das zeigt das Aktionsprogramm Insektenschutz, das wir heute mit diesem wichtigen Gesetz fortschreiben.
Frau Ministerin, erlauben Sie noch ganz fix eine Zwischenfrage der Kollegin der FDP?
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Ich glaube, ich handle mir sehr viel Ärger ein, wenn ich das tue. Deswegen würde ich sagen: Lieber nicht.
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Vielen Dank, Frau Ministerin. – Das Wort geht zum Abschluss der Debatte an Stephan Stracke von der CDU/CSU-Fraktion.
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Grüß Gott, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir legen ein kraftvolles Paket für den Insektenschutz vor. Insekten sind eine entscheidende Grundlage für intakte natürliche Lebensräume und für biologische Vielfalt in unserem Land. Wir wollen beides: Wir wollen intakte natürliche Lebensräume und eine leistungsstarke Landwirtschaft, in der auch Familienbetriebe, auch bäuerliche Betriebe im Nebenerwerb bestehen können. Natürlich gibt es da ein Spannungsverhältnis, das nicht leicht aufzulösen ist. Einschränkungen bei der Landnutzung bedeuten immer auch Ertragsausfälle. Darauf können sehr große Strukturen reagieren; bei kleinen bäuerlichen Betrieben wird das schon deutlich schwerer. Gute Politik muss deshalb immer einen Ausgleich suchen.
Wir haben ja jetzt von den Grünen gehört, dass sie nicht für diesen Ausgleich sind.
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Wir als Fraktion sind in diesem Bereich sehr erfolgreich. Wir haben erreicht, dass der Bund zusätzlich 65 Millionen Euro in die Hand nimmt und den Landwirten einen Ausgleich für die Einschränkungen bietet, die mit diesem Insektenschutzpaket einhergehen.
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Und diese Mittel fließen zusätzlich, zweckgebunden und jährlich. Außerdem schaffen wir einen eigenständigen neuen Fördergrundsatz in der GAK.
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Dafür haben unsere Kolleginnen und Kollegen in der AG Landwirtschaft Seit’ an Seit’ mit uns Umweltpolitikern lange und hartnäckig gekämpft. Jetzt ist der Erfolg da.
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Ich sage ein großes Dankeschön an unseren Fraktionsvorsitzenden Ralph Brinkhaus, der diesen Weg auch persönlich geebnet hat, und ich sage ein großes Dankeschön an unsere Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner. Sie, Frau Ministerin, haben bei der jüngsten Agrarministerkonferenz erreicht, dass die Länder mitmachen. Das ist ein ganz wichtiges politisches Signal, das auch an die Landwirte geht. So geht moderne Umweltschutzpolitik: Sie lenkt und sorgt zugleich für einen fairen Interessenausgleich.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir diese Debatte verfolgen, dann merkt man ja gerade bei den Grünen: Sie wollen immer noch mehr regeln, sie wollen mehr Ordnungsrecht, mehr Verbote in diesem Bereich. Natürlich braucht es lenkende Maßnahmen; das ist vollkommen klar. Aber das entscheidende Leitmotiv bei uns als Union ist der Grundsatz „Freiwilligkeit vor Ordnungsrecht“. Statt zu verbieten, statt zu strafen, ist es doch viel besser, zu motivieren, zu begeistern. Das führt im Ergebnis zur größten Akzeptanz. Deshalb war es uns im parlamentarischen Verfahren wichtig, den kooperativen Ansatz zwischen Landwirtschaft und Naturschutz rechtlich abzusichern und für die Zukunft zu stärken. Das ist uns gelungen. Artenschutz und Naturschutz gelingen am besten im Miteinander, niemals im Gegeneinander, und dafür steht der kooperative Ansatz.
Ich empfehle Zustimmung zu diesem Gesetz.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren und – das liegt mir ganz besonders am Herzen – liebe Landsleute aus unserer nationalen Minderheit der Sinti und Roma, sofern ihr hier seid oder zuschaut! Insbesondere: Sehr geehrter Herr Zentralratsvorsitzender, lieber Romani Rose! Sinti und Roma sind nach einer mindestens 600-jährigen Geschichte genauso wie die Dänen in Südschleswig, die Friesen und die Lausitzer Sorben eine von vier autochthonen Minderheiten in Deutschland. „Autochthon“ bedeutet Urbevölkerung. Für sie gelten die gleichen Rechte und Pflichten wie für alle anderen Bürger und Bürgerinnen unseres Landes.
Minderheiten stehen in einer Demokratie zudem unter dem besonderen Schutz des Staates. Leider genossen Sinti und Roma in der deutschen und europäischen Geschichte gerade nicht den Schutz des Staates, sondern wurden und werden aus rassistischen Gründen ausgegrenzt, unterdrückt und ermordet. Das war nicht nur in der Zeit des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte, während des Nationalsozialismus, der Fall. Nein, es war auch schon früher der Fall.
In meiner Heimatstadt Ravensburg, in meinem Wahlkreis, gab es bereits in den 20er- und 30er-Jahren, also schon in der demokratischen Weimarer Republik, Bestimmungen, die Sinti zu einem Leben an den Rändern der Stadt zwangen. Einwohner- und Bürgerrechte genossen sie nicht, obwohl sie doch im Ersten Weltkrieg vielfach Kriegsteilnehmer im Deutschen Heer waren. Unter den Nazis wurde 1936 mit Gemeinderatsbeschluss ein Zwangslager im sogenannten Ummenwinkel errichtet, in das 100 Sinti eingewiesen wurden. Sie wurden in diesem Ghetto überwacht, schikaniert, mussten Zwangsarbeit verrichten. Schließlich, im März 1943, wurden von ihnen 34 Männer, Frauen und Kinder nach Auschwitz-Birkenau deportiert. 28 wurden in den Vernichtungslagern ermordet. Die Überlebenden mussten mit den traumatischen Erlebnissen durchs Leben gehen. Eine von ihnen, Martha Guttenberger, verfolgten nachts die Stimmen der weinenden und sterbenden Kinder von Auschwitz. Ihr ganzes Leben begleitete sie das auf ihrem Unterarm tätowierte „Z“ für Zigeuner und die Nummer 5656.
Sinti und Roma wurden ebenso Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes wie Juden und andere Menschen, die dem Rassenwahn der Nazis zum Opfer fielen. Daraus erwächst eine Verpflichtung zum Gedenken und zur Entschädigung, der wir uns stellen müssen. Mehr als ein Dreivierteljahrhundert danach stellt sich die stolze ehemalige freie Reichsstadt und freundliche Spielestadt Ravensburg in einer sehenswerten Ausstellung dankenswerterweise diesem schlimmen Kapitel ihrer Geschichte.
Als die Bundesrepublik Deutschland an den Start ging, wollte sie die Fehler der Weimarer Republik nicht wiederholen. Doch in Bezug auf das Leben von Sinti und Roma ist das nur bedingt gelungen. In Ravensburg gab es den Ummenwinkel auch noch später; es gab ihn bis 1984. Also fast 40 Jahre nach Kriegsende lebten dort die zurückgekehrten Überlebenden mit ihren Nachfahren in den ehemaligen Gestapo-Barracken, ohne fließendes Wasser, wieder am Rande der Stadt und der Gesellschaft. Erst beim Bau einer Umgehungsstraße wurde Abhilfe geschaffen. Wiedergutmachung, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geehrten Damen und Herren, sieht anders aus.
Doch der Ummenwinkel fand und findet in vielen Orten Deutschlands statt. Wiedergutmachung wurde mit fadenscheinigen Begründungen von den zum Teil immer noch im Amt befindlichen Peinigern verweigert. Sicherheitsbehörden führten sogenannte Landfahrerlisten ein. Der Bundesgerichtshof wertete die Deportation in einem Skandalurteil 1956 als Umsiedlung, vertrat zudem die Auffassung: Zigeuner neigen zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien. – Warum gibt es bei den Fasnetsumzügen Umzugswagen mit dem Motto „Zick, Zack, Zigeunerpack“ – übrigens ein beliebter Refrain in Fußballstadien –, wann wird so etwas endlich als Volksverhetzung nach § 130 des Strafgesetzbuches verfolgt?
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Die Kommission empfiehlt es in ihrem Bericht ausdrücklich.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, dies ist schlichtweg Rassismus. „Das Grundproblem ist der Antiziganismus. … Wir werden noch immer als Fremde im eigenen Land wahrgenommen“, sagt Natalie Reinhardt, die Vorsitzende des Sinti Powerclubs in meinem Wahlkreis, der sich beim Zustandekommen des Antiziganismusberichtes eingebracht hat. Diese Erkenntnis führte zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD vom 19. März 2019, mit dem wir die Einberufung einer Unabhängigen Kommission beschlossen haben.
Nach mehr als zwei Jahren intensiver Forschung liegt uns der viele Hundert Seiten umfassende Bericht nun vor. Erschwert wurde die Arbeit der elfköpfigen Kommission, zu der auch drei Angehörige der Minderheit gehörten, durch die Coronapandemie. Es fanden dennoch 30 Arbeitssitzungen statt, 15 externe Gutachten wurden erstellt. Ich möchte an dieser Stelle allen Kommissionsmitgliedern und denen, die am Zustandekommen des Berichtes mitgewirkt haben, insbesondere auch den Interessenverbänden der Minderheit, ganz herzlich für ihren Einsatz danken.
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Lassen Sie mich zum Schluss noch auf die Handlungsempfehlungen des Berichtes eingehen. Ich betone dabei, dass es sich um Empfehlungen handelt und nicht um Handlungsanweisungen. Dennoch erscheint es mir unumgänglich – erstens –, den von der Kommission geforderten Antiziganismusbeauftragten einzuführen.
Zweitens. Um dem Antiziganismus in der Bildung bzw. Ausbildung, an Schulen, in der Polizei oder der Justiz Herr zu werden, sollten wir eine ständige Bund-Länder-Kommission schaffen,
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da die genannten Bereiche der Zuständigkeit der Länder unterliegen. Dies sollte überdies – in einigen Bundesländern ist es schon der Fall – mit Staatsverträgen abgesichert werden.
Drittens. Der Genozid an Sinti und Roma muss umfassend anerkannt werden, und es ist für eine angemessene Entschädigung zu sorgen.
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Viertens. In diesem Zusammenhang ist auch das in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Angehörigen der Minderheit begangene Unrecht in institutionalisierter Form aufzuarbeiten.
Zum Schluss. Über den Punkt, was Partizipation, beispielsweise an Rundfunkräten, anbelangt, müssen wir sicherlich noch ernsthaft diskutieren. Wir müssen auch ernsthaft über die Frage diskutieren, ob die in jüngster Zeit zu uns gekommenen Roma automatisch als verfolgte Gruppe anerkannt und damit mit besonderen Bleiberechten ausgestattet werden.
Ein letzter Satz, meine sehr geehrten Damen und Herren: Lassen Sie es uns gemeinsam angehen. Sagen wir als Politik und Gesellschaft dem Antiziganismus den Kampf an.
Ich bedanke mich.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an Markus Frohnmaier von der AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Afrika“-Kekse dürfen nicht mehr „Afrika“-Kekse heißen, Weihnachtsmärkte werden in „Wintermärkte“ umgetauft,
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im Restaurant muss man „Paprikaschnitzel“ statt Zigeunerschnitzel bestellen.
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Woher kommt eigentlich diese Sprachzensur? Sie kommt zum Beispiel von der Unabhängigen Kommission Antiziganismus, die Sie vor zwei Jahren gegen die Stimmen der AfD ins Leben gerufen haben. Ziel dieser Kommission war es, die Situation dieser Gruppen in Deutschland zu beleuchten. Doch auf 502 Seiten geht es nicht um objektive wissenschaftliche Untersuchung. Stattdessen sollen sämtliche Lebensbereiche unter dem Vorwand des Antiziganismus umgestaltet werden. – Wenn man der CDU so zuhört, könnte man meinen, Sie haben den Bericht gar nicht gelesen.
In Alltag, Arbeitswelt, Wohnungsmarkt, Bildung, Behörden, Medien, Gesundheit und Sport sollen die Grundlagen unseres Zusammenlebens radikal geändert werden. Das beginnt bei der Sprache. Der Begriff „Zigeuner“, den viele Sinti übrigens heute noch immer mit Stolz verwenden, wird von dieser Kommission kriminalisiert. Auf 502 Seiten wird der Begriff „Zigeuner“ bei seiner Verwendung durchgestrichen. In einer Fußnote wird unter Bezugnahme auf den linksextremen Philosophen Jacques Derrida erklärt, dass man so einen Begriff gleichzeitig verwenden und ablehnen könne. Herr Derrida, der geistiger Vater der Dekonstruktion und auch dieser Kommission ist, wollte zu Lebzeiten übrigens Sex mit Kindern legalisieren.
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– Aufregung bei den Grünen.
Aber nicht nur die Sprache soll zensiert werden. Auf Seite 14 heißt es – Zitat aus dem Bericht –:
Landesregierungen und Ausländerbehörden sind aufgefordert, die Praxis der Abschiebung von Rom_nja sofort zu beenden.
Sie hören richtig, meine Damen und Herren. Nicht nur wird in diesem Bericht auf 502 Seiten konsequent bizarre Gendersprache verwendet. Die Kommission fordert ganz offen, dass Gesetze gegenüber Illegalen nicht mehr angewendet werden dürfen.
Abseits der Ausländerpolitik wird es nicht besser. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, also das Zensurgesetz für soziale Medien, soll unter Berücksichtigung der Forderung von Lobbyverbänden verschärft werden. Aber damit nicht genug. Die Kommission hat ein ganzes Kapitel der Überwachung, Kontrolle und Zensur von Medien gewidmet. So soll der Pressekodex laut Kommission geändert werden, damit in Zukunft ausgeschlossen ist, dass bei Kriminalität über die Ethnie der Täter berichtet wird.
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Die schlimmste Untat der Kommission ist aber, dass man sich sogar an Büchern vergehen will. So sollen sämtliche Bücher aus der Vergangenheit, in denen beispielsweise ein romantisiertes Zigeunerleben dargestellt wird, umgeschrieben werden. Das ist, meine Damen und Herren, ein Verbrechen an der Literatur und Kultur.
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Nicht mal vor der parlamentarischen Demokratie hält sich die Kommission zurück. So wird der Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Herr Kubicki, im Bericht der Verletzung der Menschenwürde aus Artikel 1 des Grundgesetzes bezichtigt. Herr Kubicki! Warum? Weil er es abgelehnt hatte, mir vor zwei Jahren bei der Debatte über diese Kommission einen Ordnungsruf für die Verwendung des Wortes „Zigeuner“ zu erteilen, ein Wort, das eigentlich völlig normal benutzt werden sollte.
Meine Damen und Herren, die Zigeuner in Deutschland brauchen keine alberne Kommission, die, statt Freiheitsrechte zu schützen, diese abschaffen will.
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Ich fordere Sie auf, diese linksextremen Umtriebe in der Kommission endlich zu beenden.
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Das Wort geht an Helge Lindh von der SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Frohnmaier und die AfD, schämen Sie sich!
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Ich schäme mich, dass solche Worte in diesem Parlament, in Anwesenheit von Romani Rose und vielen Vertreterinnen und Vertretern der Sinti_ze und Rom_nja, der Sinti und Roma, gefallen sind. Das ist eine Schande für dieses Land. Eines ist deutlich: Die AfD reiht sich ein in die Tradition des Nationalsozialismus, nichts anderes. Das haben Sie eben bewiesen.
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Wir haben einen 800 Seiten langen schonungslosen Kommissionsbericht über Antiziganismus. Alles ist gut? Wir haben die Sendung „Die beste Instanz“, die den Grimme Online Award bekommt, geleitet von Enissa Amani, die gemeinsam mit dem Roma-Aktivisten Gianni Jovanovic schonungslos mit der unsäglichen Sendung „Die letzte Instanz“ abrechnet. Alles ist gut? – Nein, nichts ist gut. Nichts ist gut; die Rede eben hat es bewiesen.
Wir haben hier in unserer Nähe ein Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. Aber ihre Asche, ihre Leichname liegen in Auschwitz-Birkenau, in Chelmno, in Treblinka und an vielen nicht bekannten Orten, ermordet durch Einsatzgruppen. War, das aufzuarbeiten, die Leistung unserer Gesellschaft, unserer Politik? Nein, nicht das! Wären da nicht die Selbstorganisationen der Sinti und Roma, wäre da nicht Romani Rose, dem wir an dieser Stelle jetzt für sein Lebenswerk applaudieren sollten,
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wäre nicht der Zentralrat, wäre nicht die Kommission, geleitet durch Elizabeta Jonuz, wären nicht die vielen jungen und älteren Aktivisten und Organisationen, dann ständen wir nicht hier und würden wir nicht darüber diskutieren; denn wir blicken zurück auf Jahrzehnte des Scheiterns in deutschen Parlamenten und in deutscher Politik.
Was war denn nach dem Porrajmos, nach der massenhaften Ermordung von Sinti und Roma? Wir erlebten sogenannte Wiedergutmachung. Aber sie bestand weitestgehend aus Unrecht und Stigmatisierung. Dieselben, die Sinti und Roma in Städten und Gemeinden aussortierten, behandelten sie dann wieder in Sicherheitsbehörden, auf Polizeiämtern oder berieten über ihre Anträge auf sogenannte Wiedergutmachung.
Das Unrecht ging weiter. Während dieser Bericht verfasst wurde, gab es sogenannte Sondererfassungen in Kriminalstatistiken, zum Beispiel hier in Berlin. Es gab Abriegelungen von Wohnbezirken, in denen viele Roma lebten. Und es gab Hanau, dort ermordet die Romni Kierpacz, die beiden Herren Velkov und Paun. All das passierte während der Arbeit dieser Kommission. Nichts ist gut, und solange wir das nicht begriffen haben, werden wir nie den Perspektivwechsel erreichen, den diese Kommission und dieser Bericht gefordert hat.
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Es reicht auch nicht, zu sagen: Das war der Nationalsozialismus, und das machen wir wieder gut. – Denn es ist gefordert, Selbstkritik zu üben und auf uns selbst zu blicken. Einer der bekanntesten Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus war der Sozialdemokrat Wilhelm Leuschner. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass in seine Zeit als hessischer Innenminister das Gesetz zur Bekämpfung – und ich verwende bewusst nicht den Begriff – des „Z…“-Unwesens fiel. Das heißt, der Antiziganismus ist nicht eine Frage der anderen und der Nationalsozialisten, sondern es ist eine Frage von uns allen, auch von uns Demokratinnen und Demokraten. Wenn wir das nicht begreifen, werden wir niemals den Sinti und Roma in diesem Land Gerechtigkeit widerfahren lassen.
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Deshalb ist es nicht Pflichtübung und nicht Abarbeitung von Maßnahmen, sondern unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit und unsere tiefste Verantwortung, dass wir eine Beauftragte/einen Beauftragten für Antiziganismus und einen Beraterkreis bekommen, einen nationalen Aktionsplan gegen Antiziganismus, eine Bund-Länder-Kommission und vor allem auch eine Wahrheitskommission, die sich mit dem Unrecht – ja, dem Unrecht – in den Zeiten der Bundesrepublik befasst und damit auch mit unserem Scheitern.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Verneigen wir uns an dieser Stelle vor dem Leid und vor den Leistungen der Sinti und Roma in diesem Land!
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Vielen Dank. – Ich mache darauf aufmerksam, dass wir historische Vergleiche im Sinne unserer parlamentarischen Zusammenarbeit unterlassen sollten, und bitte um Mäßigung.
Das Wort geht an Sandra Bubendorfer-Licht von der FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin eine der letzten überlebenden Sintiza des Porrajmos, Zilli Schmidt: „Ich will es erzählen, solange ich lebe. Und ich habe es aufgeschrieben, damit man nachlesen kann, was Sie gemacht haben.“ Dieser Satz von Zilli Schmidt macht eines deutlich: Die Selbstzeugnisse der Opfer von damals, von denen leider nur noch sehr wenige leben, müssen in den Mittelpunkt der Aufklärung und der Beseitigung von Antiziganismus rücken.
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Die Erscheinung des Antiziganismus hat viele Facetten. Sie äußert sich durch sprachliche Abwertung, aber auch durch gesellschaftliche und politische Ablehnung. Durch unsere große historische Verantwortung, die aus den Gräueltaten der Nationalsozialisten an Sinti und Roma besteht, müssen wir dieses Phänomen klar identifizieren und auch benennen. Dabei darf es auch nicht mehr unter dem Deckmantel des Rassismusbegriffes verschwinden, sondern muss eine begriffliche Eigenständigkeit erfahren.
Antiziganismus hat nicht erst mit den Verbrechen der Nationalsozialisten begonnen und auch nicht nach dem Ende der Naziherrschaft aufgehört, zu bestehen.
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Er ist weiterhin ein zentrales Element von an Sinti und Roma begangenen Verbrechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist völlig gleich, wo Menschen herkommen, wo ihre Vorfahren geboren sind, welchen Volksgruppen sie angehören. Viel wichtiger ist: Wo wollen Menschen hin? Sinti und Roma wollen in der Mitte unserer Gesellschaft ankommen. Sie möchten Respekt, Anerkennung und ein gesellschaftliches und politisches Bewusstsein schaffen, dass sie ein Teil unserer Gesellschaft sind.
Aus dem Bericht der Unabhängigen Kommission ist für mich persönlich eine wichtige Grundmaxime deutlich geworden: Nichts über uns ohne uns! – Sinti und Roma müssen zu jeder Zeit bei jeglichen Vorhaben und Initiativen mitgenommen werden. Nur Betroffene selbst können beurteilen, ob sie durch Sprache, Handlungen oder auch politische Entscheidungen diskriminiert werden.
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Wir als FDP-Bundestagsfraktion wollen das Aufstiegsversprechen gerade auch für Angehörige von Minderheiten geben. Im Jahre 2021 darf niemand aus dieser Volksgruppe strukturelle Nachteile im Alltag erfahren. Wir wollen eine Sensibilisierung auch schon in der Ausbildung von Lehrkräften erwirken, gepaart mit präventiven und aufklärerischen Konzepten und einem Empowerment-Programm für Betroffene.
Auch in der Innenpolitik wollen wir Freien Demokraten eine größere Sensibilisierung für antiziganistische Straftaten herbeiführen und Meldestellen bei der Polizei ausbauen. Zuletzt muss auch der Fokus auf Straftaten im Internet liegen. Hier müssen Auskunftsansprüche für Opfer von Hasskriminalität, gerade bei Angehörigen von Minderheiten, ermöglicht werden.
Nehmen wir gemeinsam den Kampf gegen Antiziganismus auf, und nehmen wir dabei die Anliegen und Zeugnisse der Betroffenen in den Mittelpunkt!
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Ich möchte darauf hinweisen, dass die namentliche Abstimmung um 21.11 Uhr zu Ende ist. Wer noch nicht die Gelegenheit hatte, abzustimmen, sollte das jetzt tun.
Es geht weiter mit der Fraktion Die Linke und Ulla Jelpke.
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Frau Präsidentin! Lieber Zentralrat! Lieber Herr Rose! Ich bin stolz darauf, dass ich heute meine letzte Rede nach 30 Jahren Arbeit im Bundestag zu diesem Thema halten kann. Wir haben eben gesehen, wie wichtig es ist, dass wir über Antiziganismus diskutieren, dass wir wirklich aufklären. Denn diese rechte Fraktion hier repräsentiert im Grunde genommen Antiziganismus pur. Das ist heute hier bewiesen worden, und das müssen wir entschieden zurückweisen.
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Ich weiß, wir haben vor 2019 lange um diese Kommission gerungen. Jahrelang haben wir diskutiert, dass wir den Antiziganismus genauso als Rassismus bekämpfen müssen wie den Antisemitismus. Deswegen danke ich der Kommission für den umfangreichen Bericht, den sie vorgelegt hat, in dem wirklich viele Anregungen und Handlungsempfehlungen für die Politik stehen. Ich bin sehr gespannt, wie Sie das in nächster Zukunft umsetzen werden.
Die Kommission schreibt zum Beispiel – das wird sicherlich ein umstrittenes Thema sein; ich zitiere –:
Die Asylpolitik hat seit den 1990er-Jahren mit Gesetzgebungsverfahren auf vorherige antiziganistische Debatten in der Öffentlichkeit reagiert und dabei deren Argumentationsstruktur übernommen.
Das trifft genau den Kern.
Ebenso kritisiert die Kommission die Einstufung der Westbalkanstaaten als sichere Herkunftsstaaten. Dort werden nämlich Roma rassistisch diskriminiert. Alle Roma, die heute in Europa leben, sind Überlebende des NS-Völkermordes und deren Nachkommen. Ihre Sicherheit zu gewährleisten, muss meiner Meinung nach deutsche Staatsräson werden.
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Eine Forderung der Kommission liegt mir besonders am Herzen. Sie geht darauf ein, dass im Ausland lebende NS-Opfer bis heute von Entschädigungen ausgegrenzt worden sind. Ich kann nur hoffen, dass der Bundestag das sofort ändert und umsetzt; denn ich denke, es darf keine NS-Opfer wie die Roma geben, die als Opfer zweiter Klasse diskriminiert werden.
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Wir haben eine historische Verantwortung; das möchte ich in diesem Zusammenhang immer wieder betonen. Wir haben angesichts der NS-Opfer und vor allen Dingen des Völkermords an Roma und Sinti eine historische Verantwortung. Ich kann mir für die Zukunft nur wünschen, dass das in aller Breite anerkannt wird.
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Frau Präsidentin, ich habe schon gesehen, dass meine Redezeit abgelaufen ist. Aber vielleicht darf ich noch ein kurzes Wort zum Abschied sagen. Ich möchte mich nämlich auch noch einmal bei der Verwaltung und natürlich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Ausschüssen bedanken. Ich selber war fast 30 Jahre Mitglied im Innenausschuss, war Obfrau und Sprecherin. Dort habe ich einigen schon meinen Dank ausgesprochen.
Aber ich möchte hier auch den Kollegen danken, die solidarisch waren und vor allen Dingen unsere Rechte als Opposition geachtet haben. An Grüne und FDP: Wir haben zusammen sehr viel erstritten, haben Anhörungen machen können und haben bei vielen anderen Dingen zusammengearbeitet. Ich möchte mich auch bei den anderen Kollegen, die sich fair verhalten haben, bedanken.
Ein ganz wichtiger Bereich, der hier immer vergessen wird: Unsere Arbeit hat auch davon gelebt, dass uns Wohlfahrtsverbände, NGOs und Menschen, die außerparlamentarisch arbeiten, mit Sachverstand hier begleitet haben. Auch denen möchte ich danken.
Als gebürtige Hamburgerin sage ich: „Tschüs!“, und als adoptierte NRWlerin: Glück auf! – Auf Wiedersehen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Vertreter/-innen des Zentralrates! Lieber Romani Rose! Der Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus 75 Jahre nach dem Holocaust, nach dem Porajmos an 500 000 Sinti_ze und Rom_nja ist ein historischer Meilenstein. Um Romani Rose zu zitieren: Ein erster und „wichtiger Schritt für die Minderheit und ebenso für die demokratische Verfasstheit unserer Gesellschaft“. Ich möchte mich im Namen meiner gesamten Fraktion bei den Expertinnen und Experten für diese wirklich wertvolle Arbeit bedanken.
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Meine Damen und Herren, die exemplarischen Beispiele im Bericht zeigen, wie zersetzend der Rassismus gegenüber Sinti_ze und Rom_nja und für unsere Demokratie selbst ist. Bis heute zieht er sich wie ein roter Faden durch unsere Gesellschaft und staatlichen Institutionen: Justiz, Polizei, Schule und viele mehr.
Nicht nur wurde der NS-Völkermord lange Zeit nicht anerkannt, auch Praktiken der Stigmatisierung und Sondererfassung wurden einfach fortgeführt – bis heute. Auch die Studien zur Jetztzeit, die in Auftrag gegeben wurden, zeigen ein ganz erschreckendes Bild. Heute haben wir noch einmal Beispiele gehört, dass es Schulen in Deutschland gibt, die Sondereingänge für Romakinder haben.
Das hat schwerwiegende Auswirkungen auf alle Lebensbereiche. Viele Sinti_ze und Rom_nja trauen sich bis heute nicht, ihre Identität zu offenbaren, ja, aus Angst vor Herabwürdigungen. Das wollen und werden wir nicht mehr hinnehmen, meine Damen und Herren.
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Zu Recht mahnen Sie, Herr Rose, dass es insbesondere Aufgabe der Politik ist, für den notwendigen Zusammenhalt in einer demokratischen Gesellschaft gerade auch durch den Schutz
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und die gesellschaftliche Gleichstellung von Minderheiten zu sorgen. Dem fühlen wir uns verpflichtet. Ich möchte aus Sicht der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einige relevante Punkte aus dem Bericht hervorheben.
Die Benachteiligung in der Wiedergutmachungspraxis nach 1945 gilt es schnellstmöglich und umfassend auszugleichen, beispielsweise durch die Einrichtung eines Sonderfonds, die Einrichtung einer Kommission zur Aufarbeitung des Unrechts nach 1945 – die Wahrheitskommission –, die Anerkennung geflüchteter Roma als besonders schutzwürdige Gruppe sowie die Forderung nach Repräsentation von Sinti_ze und Rom_nja in allen staatlichen Gremien, beispielsweise auch in den Rundfunkräten. Es gilt, noch in dieser Legislaturperiode eine Bund-Länder-Kommission einzurichten – das ist ganz wichtig – und einen unabhängigen Antiziganismusbeauftragten zu benennen. Wir brauchen ein koordiniertes Vorgehen zwischen Bund, Ländern und Kommunen, meine Damen und Herren.
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Die EU-Kommission wartet bis September auf einen Vorschlag, wie die Umsetzung der neuen EU-Roma-Rahmenstrategie erfolgen soll. Die nationale Strategie darf keine leere Worthülse bleiben, sondern muss als gesamtstaatliche Aufgabe mit Leben gefüllt werden. Der Bericht muss jetzt entsprechend eingearbeitet werden.
Meine Damen und Herren, dieser Meilenstein nach 75 Jahren ist kein Ende, er ist ein Anfang. Lassen Sie uns heute beginnen, die Kommissionforderungen umzusetzen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es haben sich heute bereits viele Kolleginnen und Kollegen mit sehr bewegenden Worten von diesem Hohen Haus verabschiedet. Wer immer auch Mitglied des Deutschen Bundestages ist, der erfährt eine hohe persönliche Ehre, aber von dem muss man auch erwarten, dass er die Grundzüge der Geschichte unseres Landes kennt.
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Wenn man über die Geschichte – ich füge hinzu: der Leidensgeschichte ‑der Roma und Sinti in unserem Lande spricht, dann darf man nicht vergessen, dass sie seit vielen Jahren als Freunde und Nachbarn in unserem Land gelebt haben, aber dass sie in den letzten 120, 130 Jahren eine unermessliche Leidensgeschichte erfahren mussten.
Es begann bereits im Kaiserreich mit – ich muss leider zitieren – sogenannten „Zigeunerkonferenzen“. Es hat sich fortgesetzt in der Weimarer Republik mit den entsprechenden „Arbeitsscheuengesetzen“. Es hat den Höhepunkt erreicht im Völkermord – Sinti und Roma nennen es Porajmos – während des Dritten Reiches, während der Zeit des Nationalsozialismus.
Das wirklich Perfide, was uns wirklich beschämen muss, ist der Umstand, dass in der Bundesrepublik Deutschland unter der Herrschaft des Grundgesetzes der BGH 1953 geschrieben hat, dass Roma und Sinti sittliche Antriebe fehlen – das Urteil war zehn Jahre lang in Kraft –, und dass es in den 50er-Jahren noch Landfahrerordnungen gab, die Menschen effektiv diskriminiert haben. Erst 2012 wurde hier in Berlin ein Denkmal für die Opfer des Völkermords eingeweiht.
Wer diese Geschichte negiert und hier von „alberner Kommission“
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oder von „linksextremen Umtrieben“ spricht, der hat nichts, aber auch gar nichts kapiert. Das ist eine Schande für dieses Hohe Haus!
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Sie müssen die Welt – und das können Sie nicht – auch mit den Augen der anderen Menschen sehen, sich in sie hineinversetzen, wissen, dass es für Menschen verletzend ist, wenn sie mit diesen oder jenen Begriffen benannt werden. Das setzt Menschen herab, das entwürdigt sie. Das beginnt mit der Sprache. Wenn es die Sprache gibt, werden daraus Gedanken, und aus Gedanken werden Taten, und aus Taten wird Hass. Das dürfen wir in diesem Land nicht zulassen.
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Ich bin der Kommission sehr dankbar, dass sie auf über 500 eng bedruckten Seiten
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diese Leidensgeschichte zusammengefasst hat und uns damit auch die Augen geöffnet hat, dass unser Land in diesem Bereich noch Nachholbedarf hat, dass wir auch dem Antiziganismus mit der vollen Kraft des Rechtsstaats entgegentreten müssen. Das ist übrigens auch eine Frage von Prävention und Bildung. Wir müssen über Lehrpläne reden, über die Frage: Wie diskutieren wir Zuschreibungen? Das beginnt mit Sprache; das beginnt in diesem Bundestag. Das haben Sie ganz bewusst so gesagt, Herr Kollege Frohnmaier, weil Sie diese Stereotype für Ihre parteipolitischen Auseinandersetzungen wollen.
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Das ist aber eine Strategie der Niedertracht; das sage ich Ihnen ganz offen.
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Es sind oftmals auch die kleinen Dinge, die Bewusstsein schaffen und im Sinne unseres gemeinsamen Ansinnens die Dinge voranbringen. In meinem Wahlkreis Augsburg gab es seit 1756 den sogenannten Zigeunerbach. Der Stadtrat hat ihn letzten Monat in „Stempflebach“ umbenannt, um damit deutlich zu machen, dass wir vor dem Hintergrund des Welterbestatus auch diesen belastenden Namen aus der Welt schaffen wollen.
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Ich glaube, das war die richtige Entscheidung des Augsburger Stadtrats.
Lassen Sie uns als Ergebnis dieser Debatte, aber auch von dem gemeinsamen Willen getragen, Antiziganismus zu bekämpfen, die Empfehlungen der Kommission gemeinsam umsetzen und darüber diskutieren, indem wir anerkennen, dass hier Unrecht an Menschen getan worden ist und dass wir gemeinsam dieses Unrecht beheben wollen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Als letzte Rednerin in dieser Debatte und mit ihrer letzten Rede hören wir Susann Rüthrich von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie würde es Ihnen gehen, wenn Ihre Familie schon immer hier lebt, Sie aber dauernd als „Migrantin“ bezeichnet würden? Wie würde es Ihnen gehen, wenn ganz normale Menschen Begriffe verwenden, die Sie beleidigen, sich aber dann selbst zum Opfer einer angeblichen „Sprachpolizei“ machen,
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wenn so getan wird, als kämen diese Diffamierungen nur von rechts statt von allen Teilen der Gesellschaft? Wie würde es Ihnen gehen, wenn auf ein Haus, in dem Menschen Ihrer Bevölkerungsgruppe leben, ein Anschlag verübt wird und danach viele den Betroffenen eine Mitschuld geben, oder wenn im Unterricht die Vernichtungsgeschichte Ihrer Vorfahren kein Lehrstoff ist, stattdessen aber Klischees über Ihre Minderheit verbreitet werden? Wie würde es Ihnen gehen, wenn im Jobcenter Sanktionen gegen Sie etwas „robuster“ ausfallen, weil der Mitarbeiter dort meint, Menschen „wie Sie“ verstünden nur diese Sprache? Kurz: Wie würde es Ihnen gehen, wenn Sie Ihre Identität lieber unsichtbar machen, damit Sie dem allgegenwärtigen Ressentiment entgehen?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hier sind verantwortlich dafür, dass diese unwürdigen Zustände endlich enden.
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Das geht nur, wenn wir das als Antiziganismus erkennen, wenn wir ihn wahrnehmen, ihn ernst nehmen, gerade auch dann, wenn wir selbst nicht betroffen sind. Erkennen heißt, diese spezifische und jahrhundertealte Form des Rassismus verstehen. Es geht nicht nur um einzelne, absichtsvoll handelnde Rassistinnen und Rassisten und Rechtsextreme. Nein, es geht um Bilder, um Zuschreibungen, um Tradierungen, die weit verbreitet sind und auch in unseren Normen, in unseren Gesetzen und Institutionen immer weitergegeben werden. Rassismus funktioniert als Platzanweiser in der Gesellschaft und steht damit einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft fundamental entgegen.
Antiziganistischer Rassismus endet aber leider nicht, nur weil wir ihn nicht wollen. Aktives Tun ist gefragt. Der Bericht der Bundesregierung ist daher von großem Wert. Die Arbeit fängt nun aber erst an, indem wir die Forderungen und Anregungen auch tatsächlich umsetzen, im künftigen Bundestag, aber eben auch in den Ländern, in den Kommunen, Institutionen, damit alle Kinder hier auch tatsächlich bestmögliche Chancen haben und sie keine höhere Hürde vor sich stehen sehen, nur weil sie einer Minderheit angehören, damit rassistischer Diskriminierung wirksam der Boden entzogen wird, etwa durch ein Antidiskriminierungsgesetz. Darauf achten wird dann hoffentlich eine entsprechende Beauftragte auf Bundesebene.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich persönlich werde Aufgaben wie diese nunmehr von anderer Stelle aus vorantreiben. Zu gerne hätte ich die Tür hier hinter mir zugemacht mit dem Wissen, dass die Demokratieinitiativen im Land gesetzlichen Rückenwind für ihre Arbeit haben,
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unter anderem auch die, die Antiziganismus bekämpfen. Das Demokratiefördergesetz ist leider genauso gescheitert wie mein anderes Herzensanliegen, die Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen. Die Bretter sind dick; aber ich bin mir sicher: Beides wird kommen, allen Widerständen zum Trotz.
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Denn am Ende wird alles gut, und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es auch noch nicht das Ende.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich setze mein Vertrauen in Sie, dass rechte Menschenhasser hier nie Einfluss nehmen werden.
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Die früheren Nazis brauchten nicht die Mehrheit zu sein; sie brauchten nur diejenigen, die ihnen zur Mehrheit verhalfen. Ich vertraue Ihnen, dass Sie den heutigen Demokratiefeinden hier im Hohen Haus
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nie zu einer Mehrheit verhelfen und sich auch niemals durch diese selbst eine Mehrheit verschaffen.
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Ich danke Ihnen aus den demokratischen Fraktionen für die lehrreichen Jahre, meiner Fraktion für das Vertrauen, das sie in mich gesetzt hat, insbesondere den Kolleginnen und Kollegen meiner kleinen Selbsthilfegruppen.
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Ich danke auch den Mitarbeitenden in der Fraktion, in der Bundestagsverwaltung; denn ohne sie läuft hier gar nichts. Das gilt selbstredend auch für mein Team hier und zu Hause. Für jede stressige und jede fröhliche gemeinsame Stunde vielen Dank!
Sehr geehrte Damen und Herren, es war mir oft eine Freude und immer eine Ehre. Glück auf, Freundschaft und auf Wiedersehen!
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kein Wert spielt im Gesundheitswesen eine größere Rolle als Vertrauen: das Vertrauen der Patientinnen und Patienten auf bestmögliche, den wissenschaftlichen Standards entsprechende Behandlung, auf Qualität und Sicherheit, Vertrauen auch in den eigenen Körper, den Weg zur Gesundung mitzumachen. Auf der anderen Seite steht das Vertrauen der Pflegekräfte und des ärztlichen Personals ineinander, auf die gegenseitigen Fähigkeiten, auf das gemeinsame Ziel, das Beste für die Patientinnen und Patienten erreichen zu wollen. Hier kommt der nächste, unverzichtbare Bestandteil des Vertrauensdreiklangs ins Spiel: das Vertrauen des Gesundheitspersonals in ihren Arbeitgeber, sie bei diesem gemeinsamen Ziel nicht im Stich zu lassen, sondern vielmehr für die Unterstützung zu sorgen, die sie brauchen, eine angemessene sachliche und personelle Ausstattung.
Dieses Vertrauen, meine Damen und Herren, ist beeinträchtigt worden. Die Öffentlichkeit konnte den Eindruck gewinnen, dass Einsparungen, die in den Jahren zuvor unzulässigerweise zulasten des Pflegepersonals vorgenommen wurden – eine Praxis, die durch die Herausnahme der Personalkosten aus den Fallpauschalen von uns, der Politik, beendet worden ist –, nun die Ärztinnen und Ärzte treffen.
Ich habe mich hierzu Anfang dieser Woche gemeinsam mit der 1. Vorsitzenden des Marburger Bundes, Frau Dr. Susanne Johna, erklärt, nachdem ich mir zuvor im Leipziger Herzzentrum einen persönlichen Eindruck von der dortigen aktuellen Situation verschafft hatte. Ich möchte es auch an dieser Stelle hier und heute wiederholen: Wer als Krankenhausträger mit der ärztlichen Ausstattung spielt, spielt mit der Sicherheit der Patientinnen und Patienten, und das werden wir nicht akzeptieren.
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Natürlich sind in erster Linie wir als Politik verantwortlich dafür, dass unsere Krankenhäuser eine moderne stationäre Versorgung anbieten. Lassen Sie mich das gleich definieren: Mit „Politik“ meine ich nicht nur die Bundespolitik. Die Ausstattung der Krankenhäuser ist eine Aufgabe der Länder, und unser föderales Prinzip darf nicht dazu verkommen, dass alles, was eine untere Ebene nicht erfüllen will oder kann, dann doch vom Bund übernommen wird.
Krankenhäuser sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Hier findet Spitzenmedizin ebenso statt wie die Grundversorgung in der Fläche. In unseren Kliniken muss Volkskrankheiten ebenso wie seltenen Erkrankungen mit einer Medizin von Weltklasse begegnet werden.
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Dass wir dazu auch heute in der Lage sind, haben wir in der Zeit der Pandemie bewiesen, sowohl in der Fläche als auch bei unseren Flaggschiffen mit Weltruf: bei den Universitätskliniken, die mit ihrem Engagement und ihrer Forschung einen unschätzbaren Beitrag geleistet haben.
Darüber hinaus gebe ich den Antragstellern grundsätzlich recht: Wir müssen das DRG-System, das grundsätzlich gut geeignet ist, eine qualitätsorientierte Krankenhausfinanzierung sicherzustellen, weiterentwickeln. Auch ich sehe es als notwendig an, eine Sockelfinanzierung aus den Fallpauschalen herauszugliedern. Die Frage der Gestaltung dieser Weiterentwicklung wird nach der Pandemie dringender sein als zuvor.
Gleichzeitig müssen wir darauf achten, dass wir das grundsätzliche System der Krankenhausorganisation nicht mit dem Bias einer Krisensituation im Kopf neu ordnen. Drei Ziele müssen uns vor allem antreiben:
Erstens: die Verlässlichkeit der Länder bei den Investitionen.
Zweitens: eine Finanzierung der laufenden Krankenhauskosten, die konjunktur- und nachfrageunabhängig moderne, digitalisierte, evidenzbasierte Versorgung sicherstellt.
Drittens: die Weiterentwicklung des DRG-Systems mit der klaren Priorität auf Sicherstellung von Versorgungsqualität und Patientensicherheit.
Ich komme zum Schluss. Die Anträge der Opposition stellen diese drei Ziele nicht sicher.
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Wir können ihnen daher nicht zustimmen. Veränderung um der Veränderung willen ist nicht das, was uns bei der stationären Versorgung von Patientinnen und Patienten antreiben sollte. Was wir nun aber tatsächlich beginnen sollten, ist eine ehrliche und engagierte Debatte über die Zukunft unserer Krankenhäuser.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an Jörg Schneider von der AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sprechen über Krankenhausfinanzierung, und das zentrale Element dabei sind die DRGs: Diagnosis Related Groups. Man könnte es übersetzen mit „diagnosebasierte Fallzuordnung“. In der Realität läuft es auf Fallpauschalen hinaus. Ein Patient kommt ins Krankenhaus, und das Krankenhaus erhält für die Behandlung einen pauschalen Satz, der sich vor allen Dingen an der behandelten Krankheit orientiert.
Eingeführt wurde dieses System in Deutschland 2013.
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- 2003. Danke schön. – Zuvor wurde in den Krankenhäusern dienstleistungsorientiert abgerechnet, und das führte zu einigen Fehlanreizen. Wenn in einem Krankenhaus mal ein bisschen weniger zu tun war, dann wurden Entlassungen eben verschoben. Man konnte dann bei der Krankenkasse noch ein paar zusätzliche Behandlungstage abrechnen. Das führte in der Tendenz natürlich dazu, dass Patienten eher etwas später entlassen wurden als unbedingt notwendig.
Mit der Einführung der DRGs schwang dieses Pendel zurück. Plötzlich war es für die Krankenhäuser nicht mehr so interessant, die Patienten möglichst lange dazubehalten, eher im Gegenteil. Das heißt also, die Entlassungen fanden tendenziell eher sogar etwas zu früh statt. Man hat dieses System zwar immer wieder nachjustiert, aber dabei standen dann eher harte Fakten im Zentrum, zum Beispiel das Alter oder Nebenerkrankungen. Die tatsächlichen individuellen Bedürfnisse des Patienten waren aber weiterhin nicht im Fokus. Wir als AfD lehnen deswegen das DRG-System ab. Wir haben im vergangenen Jahr auch einen Alternativvorschlag hier in das Parlament eingebracht.
Heute aber sprechen wir über die Vorschläge der anderen Oppositionsparteien. Da kommt ein Vorschlag von der FDP. Dabei geht es darum, dass dieses System entbürokratisiert werden soll. Das ist ganz gut. Im Prinzip sind Sie aber mit dem DRG-System einverstanden. Sie möchten trotzdem eine Expertenkommission einsetzen, die sich ein anderes System überlegt. Das verstehe ich nicht so ganz. Wenn ich mit einem System einverstanden bin, dann könnte ich es doch auch weiterentwickeln. Aber vielleicht können Sie das gleich in Ihrem Beitrag noch etwas erhellen.
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Die Grünen möchten das DRG-System um individuelle Anteile ergänzen. Das wird im Zweifel natürlich eher zu mehr Bürokratie führen. Darüber hinaus möchten Sie eine Sockelfinanzierung von besonderen Leistungen, die in den Krankenhäusern erbracht werden – in besonderen Strukturen, die dort angeboten werden –, beispielsweise in einer Notaufnahme oder auf einer Entbindungsstation. Dabei sollen diese Kriterien, nach denen dort Geld zugeteilt wird, zentral festgelegt werden, und damit habe ich ein Problem. Sie wollen also zentral für ganz Deutschland Kriterien festlegen, die dann sowohl in einem Stadtstaat als auch in einem dünnbesiedelten Flächenland funktionieren sollen. Ich glaube, dann können wir das Ganze direkt dort belassen, wo es heute stattfindet, nämlich bei den Ländern. Das ist eher Subsidiarität. Ihr Vorschlag ist mir da einfach zu zentralistisch.
Ja, und dann Die Linke: Sie kann mal wieder nicht so ganz ihre Herkunft aus dem real existierenden Sozialismus leugnen.
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Na ja, also: Privat ist übel, Staat ist toll. – Und Privat mit Gewinnerzielungsabsicht – das ist für Sie ganz übel.
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Da möchte ich Sie doch mal an etwas erinnern. Im Zusammenhang mit der Coronaimpfstoffherstellung mag man einiges kritisieren: heftige Nebenwirkungen, kurze Testzeiten. Aber im Prinzip – das sollte man schon mal anerkennen – funktionieren diese Stoffe ganz gut. Und sie sind entwickelt worden von gewinnorientierten Privatunternehmen – mit einer Ausnahme: Da gibt es die Firma CureVac; bei der hat sich der Staat mit einigen Hundert Millionen Euro eingekauft. Und was ist das Ergebnis? Sie sind ein halbes Jahr später fertig, und es funktioniert nicht, was sie geliefert haben.
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Wissen Sie, ich könnte Ihnen noch ganz viele Beispiele bringen. Aber ich glaube, Sie sind einfach nicht bereit, zu akzeptieren, dass in ganz vielen Fällen Privat eben besser funktioniert als Staat. Und solange Sie nicht bereit sind, das zu akzeptieren, werden wir Ihre Anträge auch weiter ablehnen.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an den Kollegen Dr. Edgar Franke von der SPD-Fraktion. – Er ist stürmisch wie immer.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein flächendeckendes Netz aus Krankenhäusern ist kein Luxus, sondern absolut notwendig. Das haben wir in der Pandemie gelernt. Und deswegen müssen wir immer eine auskömmliche Finanzierung unserer Kliniken sicherstellen.
Dass einige Krankenhäuser unterfinanziert sind, wissen wir. Aber das liegt nicht allein an den Fallpauschalen. Mein geschätzter Kollege Harald Weinberg, der nachher redet, wird sicherlich sagen – das behauptet er gebetsmühlenartig, würde ich fast schon meinen –: Das liegt alles an den DRGs. – Aber das Problem der Krankenhäuser und der Krankenhausfinanzierung ist, dass die Länder nicht genug investieren. Es fehlen jedes Jahr 3 Milliarden Euro, weil die Länder ihrer Investitionsverpflichtung nicht nachkommen. Das ist der eigentliche Grund.
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Aus diesen Gründen müssen die Krankenhäuser einen Teil der Einnahmen aus den Fallpauschalen, aus den DRGs, zweckentfremden. Diese sind aber eigentlich für die laufenden Kosten gedacht. So zahlen also die Krankenhäuser für das kaputte Dach. So zahlen die Krankenhäuser die Geräte für den OP-Saal aus den laufenden Mitteln. Es ist aber Aufgabe der Länder, diese Finanzierungslücke endlich zu schließen.
Wir müssen deshalb – das sage ich ganz klar, meine sehr verehrten Damen und Herren – die Krankenhausfinanzierung grundlegend reformieren. Zum Beispiel könnte der Bund notwendige Investitionen mitfinanzieren oder zumindest zu einem Drittel kofinanzieren, um die Länder zu ermutigen, die notwendigen Mittel in die Hand zu nehmen. Wir Sozialdemokraten wollen auf jeden Fall eine zukunftsfeste Lösung der Krankenhausfinanzierung, und das ist nur mit einer Reform möglich.
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Aber, lieber Harald Weinberg, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen das System der Fallpauschalen in der Tat weiterentwickeln. Wir alle wissen, momentan lohnen sich manche Operationen, manche Diagnosen mehr als andere. So verdient eine Spezialklinik zum Beispiel mit einem künstlichen Hüftgelenk gutes Geld. Andererseits bleibt die kommunale Klinik, die für die Grundversorgung zuständig ist, die vielleicht ein bisschen kleiner ist, aber die Grundversorgung sicherstellt, oft auf Kosten sitzen. Warum? Weil man sehr, sehr viele verschiedene und ganz unterschiedliche Diagnosen bei weniger Patienten hat. Hier müssen wir ansetzen, hier muss die Reform ganz konkret Verbesserungen erzielen.
Deshalb sollten wir die Vorhaltekosten – die Grünen sagen „Sockelfinanzierung“, Maria Klein-Schmeink – in bedarfsnotwendigen Kliniken decken, also in Kliniken, die für die Versorgung, gerade im ländlichen Bereich, absolut notwendig sind. Das wäre ein wichtiger, ein sinnvoller Schritt in die richtige Richtung.
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Die Sicherstellungszuschläge des Bundes zu bekommen, ist ein wichtiger erster Schritt in diese Richtung, den wir auch gegangen sind. Sie erinnern sich: Bedarfsnotwendige Kliniken bekommen jedes Jahr zwischen 400 000 Euro und 800 000 Euro, je nachdem, wie viel sie für die Versorgung konkret tun. Das stärkt die strukturschwachen Regionen, die für die flächendeckende Versorgung notwendig sind. Auch dort muss manchmal ein Krankenhaus stehen. Dafür haben sich viele von uns eingesetzt, und das war auch richtig. Dieses Instrument müssen wir weiter ausbilden.
Momentan gelten für die Sicherstellungszuschläge strenge Regeln, wie dies bei den Sicherstellungszuschlägen der Länder der Fall ist. Deshalb gehen einige Kliniken leer aus, obwohl sie für die Versorgung wichtig sind. In meiner Region ist zum Beispiel ein katholisches Krankenhaus in der Dom- und Kaiserstadt Fritzlar, das nicht die gesamten Voraussetzungen für die jeweiligen Zuschläge erfüllt. Dieses Krankenhaus wird nicht im notwendigen Umfang gestützt. So sollten auch die Kliniken, die für die Versorgung wichtig sind, eine solche Förderung des Bundes bekommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ökonomische Anreize in der Medizin, zum Beispiel durch Fallpauschalen, Harald Weinberg, sind nicht grundsätzlich schlecht für die Versorgung; manchmal ist es ganz im Gegenteil. Schließlich haben wir alle nur begrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung. Die bestmögliche Versorgung erreichen wir aber nur, wenn wir das Geld effizient einsetzen.
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Wir als Große Koalition haben in dieser Legislaturperiode schon viel für die bestmögliche Versorgung getan:
Erstens. Wir haben die Personalkosten für die Pflege aus den Fallpauschalen herausgenommen. Es lohnt sich nicht mehr, auf Kosten der Pflege zu sparen.
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Zweitens. Mit dem Krankenhauszukunftsgesetz stellt der Bund 3 Milliarden Euro für moderne und digitale Kliniken bereit. Hiermit stärken wir nicht nur die Krankenhäuser, sondern auch die Konjunktur.
Drittens. Es gibt die schon erwähnte Bundesförderung für bedarfsnotwendige Krankenhäuser. Damit stärken wir die flächendeckende Versorgung.
Viertens. Für die Krankenhäuser gab es, wie wir wissen, 2020 Freihaltepauschalen; aber für 2021 gibt es einen Ganzjahreserlösausgleich bei Coronaeinbußen. Auch das hat den Krankenhäusern sehr geholfen. Es hat Liquidität geschaffen, und dafür haben sich auch Sozialdemokraten besonders eingesetzt, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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So sichern wir die bestmögliche gesundheitliche Versorgung für die Menschen in diesem Land, und zwar unabhängig vom Alter, unabhängig vom Wohnort und unabhängig vom Geldbeutel der Versicherten; denn der Patient muss immer im Mittelpunkt stehen und nicht das Geld, das an ihm verdient wird. Das ist und bleibt der rote Faden sozialdemokratischer Gesundheitspolitik.
Danke schön.
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Herzlichen Dank. – Das Wort geht an die FDP-Fraktion mit Dr. Andrew Ullmann.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Krankenhausstrukturreform wäre längst überfällig; denn wir müssen unsere Häuser qualitativ aufbessern und auch besser vernetzen. Medizinische Innovation muss dem Patienten endlich schneller zugutekommen. Deshalb müssen unsere Krankenhäuser finanziell auf sichere Füße gestellt werden; der Investitionsstau ist gewaltig. Doch leider – ich habe gerade die Reden der beiden Kollegen von der SPD und der Union gehört – ist die Chance einer Krankenhausstrukturreform vertan worden. Acht Jahre ist hier nichts passiert, und das ist schade. Hier ist geschlafen worden.
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Sie kennen es sicherlich, wenn Sie mal im Krankenhaus gewesen sind – vielleicht selber oder mit Freunden oder mit Verwandten –: Die Ärztinnen und Ärzte, die Pflegekräfte haben wenig oder gar keine Zeit. Die Unzufriedenheit der Betroffenen und der Linken ist natürlich immens. Aber wenn jemand beispielsweise eine Krebsdiagnose erhält und sich Sorgen macht und niemand Zeit hat, Fragen vernünftig zu beantworten oder gar ein Gespräch anzubieten, ist das eine schreckliche Sache. Deshalb, meine Damen und Herren, wird es endlich Zeit, dass wir auch hier im Bundestag die Sorgen und Nöte dieser Patienten ernst nehmen.
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Auf der anderen Seite steht das Personal mit einem unguten Gefühl, mit schlechtem Gewissen. Die Pflegekräfte, die Ärzteschaft finden keine Zeit für die wichtige zeitliche Zuwendung zu den Patienten, weil sie erst einmal die überbordende Bürokratie bewältigen müssen. Können Sie sich vorstellen, wie sich das Pflegepersonal oder die Ärzteschaft fühlt, wenn einem ständig vorgehalten wird, dass das Krankenhaus, in dem man arbeitet, defizitär sei und rote Zahlen schreibe? Sie geben sich auf den Krankenhausstationen so viel Mühe, den Laden am Laufen zu halten, aber die Defizite bleiben – das alles, weil die Finanzierung und hier vor allem die duale Finanzierung der Krankenhäuser seit Jahrzehnten nicht funktioniert. Hier wird ein finanzieller Ausgleich gesucht auf dem Rücken der Patientinnen und Patienten und des Personals. Es fehlen jährlich nicht nur 3 Milliarden Euro, Edgar Franke, sondern bis zu 4 Milliarden Euro. Das bedeutet einen großen aufgelaufenen Investitionsstau, den wir endlich beseitigen müssen.
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Deshalb fließen die Betriebsmittel, die für die Bezahlung der Patientenversorgung vorgesehen sind, stattdessen in das Investitionsbudget. Die Frustration bei den im Krankenhaus Tätigen ist groß. Es ist an der Zeit, diesen Teufelskreislauf zu durchbrechen.
Eine Lösung wäre unser Antrag, den wir Ihnen gerne anbieten. Wäre es nicht sinnvoll, dass die Länder ihrer dualen Finanzierung endlich richtig nachkommen? Wäre es nicht sinnvoll, das Abrechnungssystem, das DRG-System, zu entbürokratisieren und Fehlanreize zu verhindern? Wäre es nicht sinnvoll, professionelle Sachkompetenz für neue Finanzierungs- und Versorgungsmodelle zum Wohle der Patienten zu prüfen und weiterzuentwickeln, anstatt mit ideologischen ollen Kamellen zu schmeißen?
Meine Damen und Herren, wenn Sie diese Fragen mit Ja beantworten – das haben auch die Experten in der öffentlichen Anhörung getan –, dann müssen Sie auch dem FDP-Antrag zur Krankenhausfinanzierung der Zukunft zum Wohle der Patienten und des Krankenhauspersonals zustimmen.
Herzlichen Dank.
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– Aber die ollen nicht.
Vielen Dank. – Das Wort geht an Harald Weinberg von der Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Krankenhausfinanzierung durch Fallpauschalen schafft eine Ökonomisierung und Kommerzialisierung der Krankenhäuser, schafft auch die Privatisierung von Krankenhäusern und führt zu einer Arbeitsverdichtung, die verantwortlich ist für den Pflegenotstand, der dort entsteht. Darüber will ich heute reden.
Im Sommer 2012 besuchte mich die Tarifkommission der Charité, um über die Auseinandersetzung zum Thema Pflegenotstand in den Krankenhäusern und auch darüber zu informieren, dass sie einen Tarifvertrag zur Entlastung der Pflege durchsetzen wolle. Ich bin diesen Kolleginnen und Kollegen zu tiefstem Dank verpflichtet. Das war der Beginn einer bis heute anhaltenden Zusammenarbeit über das Thema Krankenhäuser und den Pflegenotstand in denselben.
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Zusammen mit der Gewerkschaft Verdi, bei mehreren „Krankenhaus-Ratschlägen“, die wir organisiert haben, in einem eigens gegründeten Bündnis mit dem Namen „Krankenhaus statt Fabrik“, in einer Reihe von Streiks, Aktionen und Demos, in mehreren Volksbegehren, unter anderem auch in meinem Heimatbundesland Bayern mit mehr als 120 000 Unterschriften – überall wurde die Krankenhauspolitik thematisiert,
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und der Pflegenotstand wurde allmählich zu einem Pflegeaufstand.
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Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, die hier aktiv waren und die ich über die Jahre kennenlernen durfte. Ich habe sehr viel von ihnen gelernt und ihre teils sehr bedrückenden Erfahrungen im Pflegealltag teilen dürfen. Mein Anliegen war es immer, diesen Kolleginnen und Kollegen hier im Parlament eine Stimme zu geben. Und es war ein hartes Brot, bis die Regierungen, die ich erleben musste, von dieser angespannten Situation in den Krankenhäusern überhaupt Kenntnis genommen haben.
Die FDP-Gesundheitsminister Rösler und Bahr haben das Ganze überwiegend komplett ignoriert. Aus ihrer Sicht war alles mit der DRG-Finanzierung hinreichend gut geregelt. Unter CDU-Minister Gröhe gab es zumindest eine Wahrnehmung der Probleme in der Pflege, sowohl im Krankenhaus als auch in der Altenpflege.
So richtig Aufmerksamkeit erhielt das Thema dann im Zusammenhang mit der Pandemie. Die Systemrelevanz der Krankenhauspflege war nicht zu leugnen. Minister Jens Spahn schien verstanden zu haben und rief die Konzertierte Aktion Pflege ins Leben. Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung und Pflegepersonal-Stärkungsgesetz wurden auf den Weg gebracht und zeigten dann allerdings unerwartete Wirkungen in den Krankenhäusern. Die Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung war sogar eine Einladung zum Absenken des Personalumfangs in manchen Bereichen und zum Zusammenlegen von Stationen, um den Sanktionen zu entgehen. Aber der eigentliche Pflegenotstand ist dadurch nicht beseitigt worden.
Das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz – die Herausnahme des Pflegebudgets aus den DRGs – hat erst einmal zu zähen Verhandlungen zwischen Kassen und Krankenhäusern geführt. In den meisten Bundesländern ist es bisher noch nicht zu einer vertraglichen Regelung gekommen. Es gab Manipulationsversuche und vor allen Dingen auch Unterstellungen von beiden Seiten; daher hat es bisher kaum Wirkung entfaltet.
Nun hatte die Konzertierte Aktion Pflege ein tatsächlich wegweisendes Ergebnis: DKG, Verdi und Deutscher Pflegerat legten ein Konzept für eine bedarfsgerechte Personalbemessung vor und machten dabei den Vorschlag, für die Übergangszeit bis zur Entwicklung eines neuen Instruments die Pflegepersonal-Regelung 2.0 einzusetzen, erfolgreich erprobt in 44 Krankenhäusern. Dieser Vorschlag durfte dann aber erst mal im Bundesministerium abhängen und Staub ansetzen. Danach wurde er mit freundlicher Unterstützung der Kassen ohne besonders tiefgehende Gründe einfach als unpraktikabel abgelehnt.
Stattdessen gab es dann einen Änderungsantrag zum Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz – Drucksachennummer 19/30563 –, in dem steht, dass die Entwicklung und Erprobung eines solchen Personalbemessungsinstruments spätestens bis zum 31. Dezember 2024 abzuschließen sei. Es wurde also auf die lange Bank geschoben; das muss man erst mal realistisch festhalten. Ich habe genug Erfahrung, um zu wissen, dass mit einer Einführung dann nicht vor 2025 zu rechnen ist. Das ist ein Schlag ins Gesicht der Pflegekräfte.
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Und die sagen jetzt vollkommen zu Recht: Ihr könnt euch euren Applaus irgendwohin stecken.
Ich möchte den Pflegekräften zurufen: Werdet und bleibt weiter aktiv! Lasst nicht nach! Erhöht den Druck, gerade in dem jetzt anstehenden Wahlkampf!
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Prüft die Wahlprogramme der Parteien in dieser Frage und den Fragen der Krankenhauspolitik! Kämpft weiter für eine Entlastung des Personals in den Krankenhäusern, wie es aktuell die Kolleginnen und Kollegen der Charité und bei Vivantes in Berlin machen! Da läuft ein Ultimatum, und da wird es demnächst wahrscheinlich zu einem Streik kommen.
Eine bedarfsgerechte Personalbemessung muss sofort nach einer Regierungsbildung umgesetzt werden, nicht erst 2025. Und eine grundlegende Reform der Krankenhausfinanzierung – wir haben es ja gehört – muss sofort von einer neuen Gesundheitsministerin angegangen werden.
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Eine Blaupause hat Die Linke mit ihrem Antrag zum Systemwechsel in der Krankenhausfinanzierung geliefert. Die Zeit ist überreif für eine solche grundlegende Reform, und ich bin überzeugt: Sie wird in der nächsten Wahlperiode kommen müssen.
Ich selber werde das Ganze dann allerdings von außerhalb des Parlaments begleiten; denn das war meine letzte Rede, die ich den kämpfenden Kolleginnen und Kollegen widmen möchte. Ich bedanke mich bei allen, die meinen Weg ein Stück weit begleitet haben, ihn gekreuzt haben und die diesen Dank auch verdient haben, und sage auf gut Fränkisch: Ade!
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen hier im Hause! Lieber Harald, an dieser Stelle freue ich mich tatsächlich, dass du gerade mein Vorredner bist; denn man kann tatsächlich sagen: Du hast dich immer sehr um die Anliegen der Krankenhäuser und der Beschäftigten in den Krankenhäusern gekümmert. – An dieser Stelle auch von meiner Seite Respekt und ein Dankeschön dafür!
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Sich darum zu kümmern, ist ja tatsächlich ein ganz wichtiges Anliegen. Denn wenn wir uns klarmachen – das kam heute nicht besonders gut raus –, wie wichtig die Krankenhausversorgung innerhalb der gesundheitlichen Versorgung als Rückgrat und als letzte Sicherung ist, dann ist völlig eindeutig: Jeder in diesem Land muss Zugang zu einer guten Versorgung haben, verlässlich auf höchstmöglichem Niveau, und er muss dort auf Pflegekräfte, auf Ärztinnen und Ärzte, auf Angehörige anderer Berufe treffen, die in der Lage sind, die Arbeit, die da nötig ist, dann auch kompetent, gut und mit der nötigen Zeit zu machen.
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Wir wissen, Frau Dr. Schmidtke, dass wir sehr viele Fehlentwicklungen im Krankenhausbereich haben. Die haben wir nicht seit gestern, die haben wir auch nicht seit der Pandemie, sondern die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig und zwingend es ist, dass wir uns um diesen Bereich kümmern, und wie überfällig das ist.
Erstens. Wir wissen seit Jahren von den Fehlentwicklungen im Anreizsystem, beim Entgeltsystem. Es führt, weil man nur nach Fallzahlen finanziert, tatsächlich dazu, dass man genügend Fälle bekommen muss – das ist das eine –, dass aber der Einzelne zu kurz kommen kann – das ist das andere – und dass ein Haus, das nicht viele gutdotierte Fälle realisieren kann, zusätzlich schlecht dasteht. Wir sehen das landauf, landab, gerade im ländlichen Raum, in strukturschwachen Räumen: Die kleinen Krankenhäuser geraten unter Druck, sind in der Regel defizitär, und irgendwann stoßen die Kommunen sie ab. – Genau diese Entwicklung haben wir seit Jahr und Tag. Nichts wurde in den letzten 16 Jahren dagegen getan.
Zweitens. Wir haben seit Jahr und Tag eine defizitäre Finanzierung der Investitionskosten durch die Länder. Jetzt kann man sagen: Die müssen das tun. – Das hat die FDP wieder bekräftigt. Wenn wir aber wissen, dass die Länder nicht in der Lage sind, und das seit Jahrzehnten, dies so zu erfüllen
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– nein, auch unter Ihrer Führung erfüllt es das Bundesland nicht in der Form, wie es sein muss –,
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dann müssen wir diesen Knoten mal endlich durchschlagen. Und da schlagen wir vor: Die Hälfte muss über öffentliche Mittel kommen, damit wir aus dieser Reuse endlich rauskommen.
({4})
Drittens. Wir brauchen natürlich eine Krankenhausplanung, die auch tatsächlich besagt: Welches Haus ist bedarfsnotwendig? Welches muss so finanziert werden – auch über die Vorhaltekosten, die Sockelfinanzierung, die wir vorschlagen –, dass sicher ist, dass dieses Haus seine Aufgaben gut erfüllen kann?
Genau das sind die Baustellen, die wir angehen müssen – in der nächsten Wahlperiode spätestens. Aber man muss Ihnen ins Stammbuch schreiben: Dass das so lange verschleppt worden ist, war sträflich und zwingt uns in der nächsten Wahlperiode dazu, sehr schnell und massiv zu handeln. Und ich hoffe, dass dann die Erkenntnis reift, dass dann tatsächlich handfest und konkret gehandelt werden muss und nicht nur an kleinen Stellschräubchen gedreht werden darf. Das können wir uns nicht mehr erlauben.
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Danke sehr. – Die Kollegin Emmi Zeulner von der CDU/CSU-Fraktion gibt dankenswerterweise ihre Rede zu Protokoll.
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Es folgt unser fraktionsloser Kollege Marco Bülow.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leben im Lobbyland, im Land, in dem alle Lebensbereiche ökonomisiert und kommerzialisiert werden. Überall steht der Profit an erster Stelle, häufig steht er auch noch an zweiter Stelle, und das Allgemeinwohl kommt nicht selten zu kurz. Es gibt aber Bereiche, wo der Profit nicht an erster Stelle stehen darf. Dazu gehört der gesamte Gesundheitsbereich, dazu gehören auch die Krankenhäuser.
Ich weiß, wovon ich rede. Meine Eltern kommen aus dem Pflegebereich, haben ihr Leben im Pflegebereich und größtenteils auch im Krankenhaus gearbeitet. Meine Mutter engagiert sich in diesem Bereich auch in der Rente noch für Obdachlose. Ich habe mitgekriegt, als ich aufgewachsen bin, wie sich die Situation in den Krankenhäusern für die Pflegekräfte verändert hat, und zwar zum Schlechten verändert hat. Von 800 Krankenhäusern sind 500 übrig geblieben, die auch alle unter Druck geraten sind, was genau diese Situation mit herbeigeführt hat.
Alle kennen eine Win-win-Situation. Das, was wir hier haben, ist aber eine Lose-lose-Spirale, ein Kreislauf von lose-lose, in dem der Profit obendrüber steht und deswegen eine Spirale in Gang setzt, in der geringere Löhne rauskommen, in der schlechtere Arbeitsbedingungen rauskommen. Diese wiederum sorgen für eine höhere Arbeitsbelastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und für eine insgesamt schlechtere Pflege. Dabei kommt dann weniger Gesundheit raus und auch weniger Zufriedenheit gerade für diejenigen, die in diesem Bereich arbeiten, aber auch für die Patientinnen und Patienten.
Am Ende steht dann eben nicht der Profit für alle, sondern der Profit für einige wenige und eigentlich höhere Kosten für alle anderen. Genau deswegen muss dieser Bereich eindeutig geschützt werden – da besteht eine hohe Verantwortung –, damit wir eben aus dieser Lose-lose-Schiene herauskommen; denn es geht um den Dienst von Menschen an Menschen und nicht um Aktiengeschäftemacherei. Deswegen müssen wir da einen Schlusspunkt setzen. Wir müssen die Pflege pflegen, wir müssen die Krankenhäuser pflegen, und wir müssen aufhören, dort diesen Profitlobbyismus zu hofieren, wie wir das an anderer Stelle tun.
Vielen Dank.
({0})
Der Kollege Lothar Riebsamen gibt seine Rede ebenfalls zu Protokoll
({0})
sodass ich die Aussprache schließen kann.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will Sie nicht lange mit vielen Zahlen nerven; aber ich möchte Ihnen kurz einen Einblick geben, dass wir hier in Deutschland derzeit circa 23 000 Stiftungen haben und diese Stiftungen mindestens 4,3 Milliarden Euro für das Gemeinwohl pro Jahr ausgeben. 80 000 haupt- und ehrenamtliche Beschäftigte sind im Stiftungssektor tätig. Stiftungen machen einen breiten Teil des gemeinnützigen Engagements aus.
Nach jahrelanger Vorbereitung – und ich möchte mich hier ausdrücklich beim BMJV bedanken, vor allem bei Frau Bartodziej; falls Sie das weitergeben könnten, wäre ich Ihnen dankbar – und intensiven Verhandlungen – an dieser Stelle auch herzlichen Dank an die Berichterstatter von nahezu allen Fraktionen, die mitgewirkt haben – haben wir uns jetzt endlich darauf geeinigt, das Stiftungsrecht bundeseinheitlich zu regeln und der Rechtszersplitterung in den einzelnen Bundesländern ein Ende zu setzen. Das bedeutet für alle Stiftungen, ob groß oder klein: keine nervige und aufhaltende Bürokratie mehr beim Umzug in ein anderes Bundesland, und man ist auch nicht mehr davon abhängig, wie die Rechtsauffassung der jeweiligen örtlichen Stiftungsbehörde ist.
Es ist gut und richtig, dass wir diese Reform jetzt auf den Weg bringen. Wir müssen jetzt handeln, um die derzeitigen erschwerten Rahmenbedingungen endlich zu überwinden. Mit einer weiteren Verschiebung hätten wir nichts gewonnen; aber wir hätten dafür gesorgt, dass der langwierige Reformprozess mitsamt den Abstimmungen zwischen Bund und Ländern erneut beginnen würde – viele von uns wissen, was das bedeutet; diese Bund-Länder-Verhandlungen sind überaus schwierig –, und das ohne die Sicherheit, dass es überhaupt jemals zu einem Abschluss kommen würde.
Es wäre vor allem fatal gewesen für die notleidenden Stiftungen, die wir damit im Stich gelassen hätten. „Notleidende Stiftungen“, da fragen Sie sich vielleicht: Gibt es die? – Ja, es gibt sie in der Tat; denn für den Stiftungszweck steht nur der Zinsertrag zur Verfügung, den das Geld abwirft – nicht der Kapitalstock selbst. Von dem Ertrag müssen außerdem die Verwaltungskosten bezahlt und Rücklagen gebildet werden. Da bleibt nicht viel bei niedrigen Summen, zumal dann, wenn – wie derzeit als Folge der Finanzkrise – die Zinsen niedrig sind.
Unsere Reform hilft genau hier: Zukünftig haben Stiftungen die Möglichkeit, ihren Zweck weiterzuverfolgen, auch wenn der Ertrag knapper wird. Sie können sich nämlich entweder einfacher, als derzeit möglich, in eine Verbrauchsstiftung umwandeln oder mit anderen Stiftungen, die einen ähnlichen Zweck verfolgen, beispielsweise den Sparkassenstiftungen, zusammengehen. Dafür haben wir Erleichterungen geschaffen und sorgen so dafür, dass wir ihre Arbeit zukünftig sichern.
Aber wir schaffen nicht nur eine sichere Grundlage für alle Stifterinnen und Stifter, sondern wir holen die Stiftungen endlich dahin, wo sie hingehören, nämlich ins 21. Jahrhundert. Die Zeiten haben sich geändert: Heute wird nämlich – anders als früher – überwiegend zu Lebzeiten gestiftet. Wir erleben eine Gesellschaft, die in ihrem Handeln schon zu Lebzeiten einen guten Zweck verwirklichen möchte. Deshalb gehört der mutmaßliche Stifterwille als Auslegungshilfe zur Fortentwicklung der Ewigkeitsstiftungen in die Reform. Hier schaffen wir das, was das Stiftungswesen ausmacht: eine langfristige Bindung der Stiftung an den Stifterwillen, aber auch die notwendige Flexibilität, die die Stiftung braucht, um ihren Zweck erfüllen zu können.
Schließlich schaffen wir noch eins, und zwar Transparenz: Endlich kommt das lang geforderte Stiftungsregister. Aber: Transparenz darf nicht auf Kosten der Stifterinnen und Stifter gehen, die etwas Gutes tun möchten, aber dabei nicht unbedingt in der Öffentlichkeit stehen möchten. Deshalb haben wir den Schutz der persönlichen Informationen, der sensiblen Daten, ins Register integriert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Gesetz ist ein wirklich wichtiger Schritt. Aber es ist zugleich auch ein Anfang. Die Zeiten ändern sich, und wir müssen dafür Sorge tragen, dass die Rechtsform der Stiftungen attraktiv für potenzielle Stifterinnen und Stifter ist und bleibt. Dabei schauen wir natürlich auch auf die bestehenden Stiftungen und geben ihnen ausreichend Zeit, sich auf die neue Rechtslage einzustellen, indem das Gesetz erst am 1. Juli 2023 in Kraft tritt. Und: Wir haben Evaluierungsvorschriften eingebaut, damit der Reformprozess weitergehen kann.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Steffen. – Jetzt kommt als nächster Redner der Abgeordnete Fabian Jacobi, AfD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bis vorgestern hieß der Gegenstand, den wir gerade verhandeln, noch „Entwurf eines Gesetzes zur Vereinheitlichung des Stiftungsrechts“. Vorgestern im Rechtsausschuss gab es dann mehrere Änderungsanträge zu diesem Gesetzentwurf, wobei unserer natürlich abgelehnt und derjenige der Regierungsfraktionen ebenso natürlich angenommen wurde.
({0})
Und da beginnt das Problem.
({1})
Denn hinterher hieß der Gesetzentwurf auf einmal anders, nämlich „Entwurf eines Gesetzes zur Vereinheitlichung des Stiftungsrechts und zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes“.
({2})
Was hat das Infektionsschutzgesetz mit dem BGB zu tun?
({3})
Nichts! Ist der Rechtsausschuss zuständig für das Infektionsschutzgesetz?
({4})
Nein, ist er nicht. Konnte der Rechtsausschuss mitten im Gesetzgebungsverfahren einen neuen Gegenstand, für den er gar nicht zuständig ist, einfach an ein ganz anderes Gesetz drankleben?
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Nein, konnte er nicht, jedenfalls nicht nach unserer Geschäftsordnung, hat er aber trotzdem, oder vielmehr: CDU/CSU und SPD haben es mit ihrer Mehrheit halt so beschlossen.
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Warum ist das ein Problem? Weil auf diese Weise das ordentliche Gesetzgebungsverfahren unterlaufen wird. Man umgeht die Einbringung als Gesetzentwurf und damit die erste Beratung hier im Plenum, man umgeht weiterhin die Beratung durch den eigentlich zuständigen Ausschuss, hier den Gesundheitsausschuss. Man vermeidet so auch unerwünschte Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit.
({7})
Während also Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, nicht müde werden, uns von der AfD fälschlich zu unterstellen, wir wollten parlamentarische Abläufe stören oder lächerlich machen,
({8})
tun Sie hier selber: Was? – Eine gepflegte Verachtung für parlamentarische Verfahren lassen Sie hier schon erkennen.
({9})
Was aber haben Sie uns nun im Rechtsausschuss untergeschoben? Sie wollen wieder mal das Infektionsschutzgesetz ändern. In dessen § 36 haben Sie bereits früher Verordnungsermächtigungen geschaffen. Danach kann die Regierung, solange eine sogenannte epidemische Lage von nationaler Tragweite besteht, bestimmte Maßnahmen verordnen, nämlich insbesondere, dass Menschen, die sich im Ausland in einem sogenannten Risikogebiet aufgehalten haben, bei ihrer Rückkehr nach Deutschland eine Coronaimpfung vorweisen oder sich einem Coronatest unterziehen oder auch sich in Quarantäne begeben müssen. Das ist alles mit Grundrechtseingriffen verbunden. Die Pflicht zur Duldung eines Tests etwa greift in die körperliche Unversehrtheit ein, und zur Quarantäne kann auch die Überwachung in der Wohnung gehören, also ein Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung.
Einen weiteren Punkt Ihrer Verordnungen sieht übrigens auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz sehr kritisch, nämlich dass man danach als Betroffener seine Gesundheitsdaten gegenüber privaten Transportunternehmen offenbaren muss.
({10})
Man kann nun darüber streiten, ob das Coronavirus all diese Eingriffe erforderlich macht, solange eine epidemische Lage in Bezug auf dieses Virus besteht. Jetzt aber wollen Sie diese Verordnungen auch dann weiter in Kraft lassen, wenn die epidemische Lage beendet ist. Eine epidemische Lage liegt nach der Definition im Gesetz vor, wenn die Einschleppung einer bedrohlichen Krankheit nach Deutschland oder die Ausbreitung einer solchen Krankheit droht. Im Umkehrschuss heißt das, dass dann, wenn diese Lage beendet ist, per definitionem eine Einschleppung oder Ausbreitung einer solchen Krankheit nicht mehr droht. Dann aber ist das weitere Aufrechterhalten pauschaler Grundrechtseinschränkungen nicht zu rechtfertigen.
({11})
Wir lehnen die Änderung des Infektionsschutzgesetzes daher ab.
Nun ist meine Redezeit um, ohne dass ich näher auf den eigentlichen Gegenstand dieses Gesetzgebungsverfahrens, nämlich die Reform des Stiftungsrechts, eingehen konnte. Wir wollen dieser Reform zustimmen und werden das in der getrennten Abstimmung der zweiten Beratung auch tun. In der Schlussabstimmung können wir aber nur einheitlich über beides abstimmen: das Stiftungsrecht und das Infektionsschutzgesetz. Da können wir dann halt nicht mehr zustimmen. Schade um das Stiftungsrecht. Es hätte Besseres verdient als Ihre Methoden.
({12})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Ich erteile das Wort zu seiner voraussichtlich letzten Rede im Deutschen Bundestag dem Kollegen Dr. Wieland Schinnenburg, FDP.
({0})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen von den Koalitionsfraktionen, beim Stiftungsrecht zeigen Sie, dass Sie durchaus wissen, wie Rechtsstaat geht. Ich frage mich nur, warum Sie beim Infektionsschutzgesetz dann nicht so handeln.
({0})
Aber zunächst mal zum Stiftungsrecht. Stiftungen sind Ausdruck bürgerschaftlichen Engagements, und deshalb unterstützen wir sie. Ich bin auch der Meinung, dass Ihr Entwurf an sich sehr klar in die richtige Richtung geht, Stichworte „bundesweite Rechtsvereinheitlichung“ und „zentrales Stiftungsregister mit Publizitätswirkung“. Genau das ist richtig. Das wollen wir als FDP auch. Leider ist es so, dass es in diesem Gesetzentwurf nach wie vor zwei Mängel gibt.
Erstens. Wir teilen die Auffassung des Bundesrates, dass der Datenschutz nicht ausreichend beachtet wurde. Meine Damen und Herren, in einem öffentlich zugänglichen Register haben nur die Daten etwas zu suchen, die unbedingt erforderlich sind, um die Sicherheit des Rechtsverkehrs sicherzustellen, aber kein einziges Datum mehr. Das ist falsch in Ihrem Gesetzentwurf, meine Damen und Herren.
({1})
Der zweite Punkt: Wir teilen auch die Kritik vieler Sachverständiger, dass eine spezielle Klagemöglichkeit für Stiftungsorgane nicht ausreichend vorhanden ist, also kein ausreichend effektiver Rechtsschutz.
Wir haben also zwei Kritikpunkte. Dennoch ist eindeutig: Sie gehen in die richtige Richtung. Am besten finden wir, dass der Bundestag alle wesentlichen Fragen selber regelt. Vorbildlich! Da frage ich mich nur: Warum machen Sie es beim Infektionsschutzgesetz nicht genauso? Denn dort machen Sie das genaue Gegenteil, meine Damen und Herren.
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Bisher war es so, dass Sie die Möglichkeit zum Erlass von Rechtsverordnungen für eine vorhandene Gefahr haben wollten. Jetzt wollen Sie Rechtsverordnungen erlassen können, obwohl nach Ihrer eigenen Ansicht eine epidemische Notlage gar nicht mehr vorliegt. Nicht einmal die Bundeskanzlerin findet einen Grund, warum man Grundrechte einschränken muss. Und trotzdem wollen Sie Rechtsverordnungen, meine Damen und Herren! Das ist mit der FDP ganz eindeutig nicht zu machen.
({3})
Ich erläutere das mal mit leicht zugespitzten Formulierungen. Selbst wenn die Delta-Variante im Indischen Ozean versunken ist und selbst wenn Herr Lauterbach es nicht schafft, noch die Epsilon-Variante zu finden, wollen Sie immer noch die Grundrechte einschränken. Um im griechischen Alphabet zu bleiben: Das ist Omega, das ist das Allerletzte, meine Damen und Herren. So geht das auf gar keinen Fall.
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Es geht hier auch nicht um Kleinigkeiten. Es geht um schwerwiegende Grundrechtseingriffe. Es ist von Absonderung die Rede. Absonderung klingt einfach, tatsächlich ist das ein sehr weitgehender Freiheitseingriff. Den wollen Sie durch Rechtsverordnungen ohne Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates erlassen. Meine Damen und Herren, das geht mit der FDP nicht.
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Wir Freie Demokraten sind gerne bereit, auch in der Sommerpause zu kommen, um möglicherweise dringend erforderliche Gesetzesänderungen zu beschließen. Wir machen aber nicht mit bei einer Einschränkung von Grundrechten ohne Beteiligung von Bundestag und Bundesrat.
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Meine Damen und Herren, der Präsident sagte es schon: Das ist voraussichtlich meine letzte Rede vor dem Deutschen Bundestag. Es war mir eine große Ehre, vier Jahre lang die Interessen des gesamten Volkes zu vertreten. Ich erspare mir jetzt Dankesworte. Sie kennen das: Irgendeinen vergisst man immer, und dann gibt es Ärger. – Deshalb erlauben Sie mir, mit denselben Worten zu enden, mit denen ich vor knapp vier Jahren meine letzte Rede vor der Hamburgischen Bürgerschaft beendet habe. Die Worte lauteten damals wie folgt: Lassen Sie uns gemeinsam für die repräsentative Demokratie streiten. Sie ist nicht perfekt, aber alle Alternativen sind furchtbar.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Alles Gute, Herr Kollege Schinnenburg. – Der nächste Redner für die Fraktion Die Linke ist der Kollege Friedrich Straetmanns.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vordergründig reden wir hier über eine notwendige Reform des Stiftungsrechts, ein Anliegen, das meine Fraktion und ich auch grundsätzlich unterstützen. Jetzt haben Sie uns aber auf den letzten Drücker per Änderungsantrag noch eine Regelung zum Infektionsschutz in den Vorgang hineingeschoben, die inhaltlich mit diesem berechtigten Ansinnen nichts zu tun hat.
({0})
Sie wollen eine weitere Verlängerung der Verordnungsermächtigungen auch über die im Bundestag hinaus festgestellte Lage hier noch schnell durchbringen. Und da muss ich Ihnen sagen: Das finde ich in Form und Sache falsch, und das zeugt von mangelndem Respekt vor diesem Parlament.
({1})
Zu Beginn der Coronapandemie waren wir als Linke angesichts der Lage im Land zugegebenermaßen in einer besonderen Situation, die es nötig machte, der Regierung hier weitgehende Befugnisse zu erteilen. Mittlerweile scheint es mir aber, dass sich die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen an dieses Durchregieren per Verordnung gewöhnt haben und das gern so weiterbetreiben möchten. Wir als Linke verteidigen die Grundrechte und lehnen das deshalb ab.
({2})
Ich bin ja durchaus einig mit Ihnen in der Feststellung der Tatsache, dass die Gefahr des Coronavirus noch nicht gebannt ist; aber irgendwann muss doch dieses Durchregieren auch einmal ein Ende haben. Dass mit den Sommerferien eine erhöhte Reistätigkeit bestehen wird, war nun seit Wochen absehbar. Sie hätten alle Möglichkeiten gehabt, hier im Parlament die notwendigen Maßnahmen regulär beraten zu lassen und per Gesetz zu verabschieden. Stattdessen haben Sie alles zusammengekehrt, was in den Ministerien liegen geblieben ist. Das haben Sie in den Rechtsausschuss gekippt – in einer Art von Missachtung des parlamentarischen Betriebs, die ich ablehne –, und nun bringen Sie auf den letzten Drücker, versteckt im Stiftungsrecht, diese Regelung unter. Das ist doch kein Umgang mit dem Parlament
({3})
und zeigt: Diese Regierung steht nicht nur vor dem Ende ihrer Regierungszeit; sie ist am Ende, fachlich und personell.
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Was Sie hier tun, ist auch in der Sache vollkommen falsch. Selbst bei Bestehen der epidemischen Lage ist die Regierung doch laufend in der Pflicht, die Maßnahmen, die sie trifft, auf die Erforderlichkeit hin zu überprüfen und diese Maßnahmen dann aufzuheben, wenn sie nicht mehr erforderlich sind. Das hat in der Vergangenheit schon schlecht genug geklappt, und es ist für mich kein Grund ersichtlich, warum das in diesem Sommer besser klappen sollte. Das sage nicht nur ich, das bescheinigt Ihnen ja auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit.
Meine Damen und Herren, das ist voraussichtlich meine letzte Rede in dieser Wahlperiode, die ich hier halte. Ich hätte mir daher gewünscht, wir hätten diese Fragen – Stiftungsrecht und Infektionsschutz – sauber getrennt vernünftig debattiert. Dann wäre eine Zustimmung meiner Fraktion zu der Änderung des Stiftungsrechts wahrscheinlich gewesen. Mit diesem Manöver haben Sie das unmöglich gemacht. Und was ich Ihnen ganz besonders übel nehme, ist, dass Sie wieder einmal versuchen, ein Fußballereignis zu nutzen,
({5})
um unter dem Radar zu segeln und etwas durchzusetzen, was Grundrechte gefährdet.
({6})
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat als Nächstes die Kollegin Dr. Manuela Rottmann, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ende der 90er-Jahre hat die damalige Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer einen Impuls gesetzt. Sie wollte in Deutschland eine Stifterkultur entwickeln. Die damals von Rot-Grün umgesetzten Änderungen haben tatsächlich in Deutschland einen Boom der Neustiftungen ausgelöst. Die Bürgerstiftungen überall bei uns im Land zeigen, dass Stiftungen eine Plattform für alle sind, nicht nur für wohlhabende Menschen.
({0})
Über 23 000 Stiftungen in Deutschland haben seither lange auf eine weitere Modernisierung des Stiftungsrechts gewartet. Als der Regierungsentwurf kurz vor Ende der Wahlperiode auf dem Tisch lag, gab es leider nicht viel Grund zum Freuen. Vor Freude aus den Schuhen gehüpft ist keiner. Die Koalition hat allerdings nach Anhörung der Sachverständigen mit ihrem Änderungsantrag teilweise auf die Kritik aus Wissenschaft und Praxis reagiert: Die Voraussetzungen für die Zusammenlegung von Stiftungen werden vereinfacht. Sie eröffnen – das ist gut – die Möglichkeit der Prüfung, um Altstiftungen, die während der NS-Zeit oder der DDR-Zeit zu Unrecht aufgelöst wurden, wiederzubeleben und zu entschädigen. Die Umwandlung in Verbrauchsstiftungen wird etwas erleichtert; aber Stiftungen auf Zeit sind immer noch nicht möglich.
Die Einführung des Stiftungsregisters ist dringend. Mich überzeugt die Führung des Registers bei einer Bundesbehörde allerdings nicht. Ich glaube, da hätte man mit den Ländern zusammen deutlich bessere und rechtssichere Lösungen finden können.
({1})
Möglichkeiten des Missbrauchs von Stiftungen gehen Sie allerdings nicht an.
Und mit Blick auf die hohen Vermögen, die in den nächsten Jahren in Deutschland darauf warten, einem neuen Zweck zugeführt zu werden, setzt ihr Gesetz wenig Anreize für eine Verwendung im Sinne des Gemeinwohls. Dass Sie die gesamte Reform evaluieren wollen, ist folgerichtig. Aber für eine Zustimmung reicht das, was Sie hier vorgelegt haben, für uns nicht aus.
In dieser Woche kämpft sich diese Koalition durch die letzten Spielminuten. Ich glaube, was mich von Herrn Straetmanns und Herrn Schinnenburg unterscheidet, ist, dass ich keinerlei spielerische Eleganz mehr erwarte von dieser Koalition. Wieder wird in einen Änderungsantrag zu einem ganz anderen Thema eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes mit hineingemurkst.
Ich bin der Überzeugung: Jetzt auf Vorsichtsmaßnahmen bei Einreisen zu verzichten und damit wieder das Risiko erneuter Schließungen, wenn wir mit den Impfungen noch nicht weit genug sind, auf uns zu nehmen, das wäre saudumm.
({2})
Daher treten wir dieser Weitergeltungsregelung zu. Aber regulieren Sie sie europarechtskonform, wie es Herr Laschet ja angekündigt hat, und unterscheiden Sie zwischen Touristen und Paaren; das ist nicht dasselbe.
({3})
Im Übrigen sehnen wir dringend den Abpfiff herbei.
Vielen Dank.
({4})
Die Kollegen Hans-Jürgen Thies, Dr. Johannes Fechner und Nina Warken geben ihre Reden zu Protokoll.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit einigen Jahren wird seitens meist altfeministischer Kreise und deren Erfüllungsgehilfen, der sogenannten Zivilgesellschaft, in Medien und in anderen obskuren Organisationen eine Verhunzung unserer deutschen Sprache betrieben. Zunächst geschah das unter dem Vorwand einer angeblichen Diskriminierung von Frauen. Da sich aber mittlerweile die sogenannte Zivilgesellschaft gar nicht mehr sicher ist, ob und, wenn ja, wie viele Geschlechter es gibt und wer sich wann wie fühlt, bedienen sich dieser Idee nun Ideologen und Queer-Denker – Querdenker hier mit Doppel‑e – der mittlerweile sogenannten geschlechtsneutralen oder gendersensiblen Sprache, einer Sprach- und Schreibmelange, die mehrheitlich zu Miss- und Unverständlichkeiten, zu Sinnlosigkeiten, ja schlichtweg zu falschem Sprachgebrauch führt.
({0})
Die deutliche Mehrheit aller Bürger in Deutschland – ungefähr zwei Drittel – lehnt diesen Orwell’schen Sprachunsinn aber ab, übrigens ganz unabhängig davon, ob es sich um einen Mann oder eine Frau oder sonst wen handelt, ob Sie einen AfD-, Grünen- oder SPD-Anhänger vor sich haben. Knapp 60 Prozent der Frauen und sogar eine relative Mehrheit der Grünen, nämlich 48 Prozent, sagen Nein zu Sternchen, Binnen-Is, Doppelpunkten, Schräg- und Unterstrichen und Stotterpausen.
({1})
Nur 47 Prozent der Grünen sagen Ja zu diesem Quatsch, wobei ich mich frage, wo die restlichen 5 Prozent bleiben. Aber die haben wahrscheinlich die Frage nicht verstanden.
({2})
Wobei es dann ein bisschen mehr als 5 Prozent sein müssten. Jedenfalls äußern sich 5 Prozent der Grünen dazu nicht.
Meine Damen und Herren, zu welchem Irrsinn eine solche Ideologie führen kann, hat eindrucksvoll die Stadt Weimar – das ist in meinem Wahlkreis – bewiesen, wo die Geschäftsordnung des Stadtrates nicht etwa nur gegendert, sondern in ausschließlich weiblicher Form geschrieben wurde.
({3})
Das heißt, wir haben dort die „Oberbürgermeisterin Peter Kleine“; so wird er korrekt angesprochen.
Ähnlichen Unfug betrieb auf Bundesebene die als Hass- und Hetzeministerin in die Geschichte eingehende Frau Lambrecht, die tatsächlich einen Gesetzentwurf zum Unternehmenssanierungsrecht vorlegte, der ausschließlich weibliche Formen und Bezeichnungen enthielt. Das Bundesinnenministerium – offenbar im Gegensatz zum Justizministerium noch etwas bei Sinnen – hatte dann, Gott sei Dank, diesen Murksentwurf abgelehnt und eine sprachliche Überarbeitung gefordert, da das generische Femininum – Zitat – „zur Verwendung für weibliche und männliche Personen bislang“ – und das lässt Böses erahnen – „sprachwissenschaftlich nicht anerkannt“ sei. Es bestehe die Gefahr – so weit das Bundesinnenministerium –, dass das Gesetz nur für Frauen gelten könne; so wurde ausgeführt.
({4})
Es gibt wirklich große Gefahren. Denken Sie an das schöne Wort „Oberbürgermeister“. Wenn Sie das richtig gendern, dann wird daraus die „Ober*Inbürger*Inmeister*In“ mit drei Sternchen und drei großen Binnen-Is.
({5})
Solche und ähnliche Absurditäten sind zu erwarten, meine Damen und Herren! Die Mutanten werden zu „Mutantinnen“ oder zu „Muonkeln“ – wir wissen also gar nicht mehr, wo wir da anfangen und aufhören sollen.
({6})
Meine Damen und Herren, wir setzen mit unseren beiden Anträgen Akzente, nämlich die, in Bundestagsdrucksachen auf das Gender-Gaga ebenso zu verzichten wie in Verlautbarungen der Bundesregierung. Wir wollen nichts verbieten in der Öffentlichkeit. Wir wollen aber hier, wo wir Einfluss haben, Akzente setzen.
({7})
Keine kruden Wortschöpfungen mehr! Keine gesprochenen Kunstpausen mehr! Früher nannte man oder frau das stottern oder haspeln – das war ein Fall für den Logopäden –, heute soll es Vielfalt und Buntheit dokumentieren.
({8})
Wir wollen keine „ArztInnen“, keine Trennungssternchen, Unter- und Schrägstriche, Binnen-Is usw. usf. Wir wollen keinen Genderkrampf im Parlament und in den Ministerien.
({9})
Wir wollen eine verständliche Sprache, die grammatikalisch korrekt ist und breite Akzeptanz findet.
({10})
Wir wollen eine Sprache ganz unaufgeregt. Wir wollen eine Sprache für alle Bürger,
({11})
vor allem auch für die, die vielleicht erst seit Kurzem unsere Sprache lernen – denken Sie mal an die Zuwanderer oder an die, die Sprachprobleme haben –, eine verständliche Sprache.
({12})
Sie reden immer wieder von Inklusion. Sie machen aber Genderquatsch daraus. Wir leben das Ganze: Wir wollen eine verständliche Sprache für alle,
({13})
für Leute, die schlecht Deutsch können, für Leute, die Deutsch gerade lernen.
Und denken Sie mal an den Regenwald: Wie viel Regenwald kann man schützen, wenn man auf Wortverlängerungen durch Binnen‑Is, große Sternchen und Schräg- und Unterstriche verzichtet!
({14})
Also: Inklusion spricht dafür, die Rettung des Regenwaldes spricht dafür, alles spricht dafür!
({15})
Neben etwa zwei Dritteln der Deutschen – ich hatte das angesprochen – haben sich auch prominente AfD-Politiker
({16})
und prominente CDU-Politiker inzwischen dagegen positioniert, diesen Genderquatsch mitzumachen. Setzen Sie mit uns ein Zeichen!
Wir haben auch große Vorbilder, die mit uns gegen diese Gendermutanten gekämpft haben. Gerade vorgestern hat die Gemeindevertretung Bestensee im Brandenburgischen
({17})
mit der bürgerlichen Mehrheit aus AfD, CDU und den Freien Wählern einen entsprechenden AfD-Antrag angenommen. Machen Sie das Gleiche wie die Gemeinde Bestensee im Brandenburgischen!
Herr Brandner, ist das auch Ihre letzte Rede? Wenn nicht, dann müssten Sie jetzt aufhören.
Was unser guter Fraktionsvorsitzender Oliver Calov da geschafft hat, das sollten wir hier auch schaffen.
({0})
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Ich hoffe sehr, dass es nicht meine letzte Rede war, werter Herr Präsidierender.
Dann müssen Sie leider pünktlich aufhören.
Danke schön.
({0})
Der Abgeordnete Philipp Amthor hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gehört ja leider zu den traurigen Konstanten dieser Wahlperiode,
({0})
dass wir uns donnerstagabends immer mit Ihrem Klamauk beschäftigen müssen, Herr Brandner.
({1})
Ich hoffe, das ändert sich nächste Legislaturperiode.
({2})
Aber eines muss man schon feststellen: Wir haben jetzt eine der letzten innenpolitischen Debatten dieser Wahlperiode.
({3})
Und welches Thema fällt der AfD ein aufzurufen? Die gendergerechte Sprache.
({4})
Ich sage Ihnen: Ich will das Thema gar nicht kleinreden. Ich will es auch gar nicht wegschieben. Es polarisiert. Es ist auch eine parlamentarische Debatte wert.
Aber ich will Ihnen schon sagen: Für eine der letzten innenpolitischen Debatten dieser Wahlperiode hätte ich mir doch gewünscht, dass Sie nicht irgendwelche alten Landtagsanträge recyceln, sondern sich vielleicht einmal um die wirklich wichtigen Themen gekümmert hätten: Wie schützen wir diejenigen, die uns schützen,
({5})
die Polizistinnen und Polizisten? Was können wir noch machen gegen Organisierte Kriminalität? Wie werden wir wehrfähiger im Cyberraum? Das wären Themen, die wir hier diskutiert hätten und die sinnvoller gewesen wären als Ihre Klamaukreden.
({6})
Bevor ich zum Thema Gendern noch grundsätzliche Bemerkungen mache, will ich Ihnen einmal sagen: Die AfD führt hier natürlich ein durchsichtiges Spiel auf. Ich finde das lustig: Sie wollen sich jetzt gerieren als die Hüter der deutschen Sprache im Parlament.
({7})
Da muss man schon sagen: Die Hüter der Sprache im deutschen Parlament, das sind Sie ganz sicher nicht. Denn wenn Sie eines geschafft haben, dann dieses:
({8})
Sie haben hier in den vergangenen Jahren zu einer Verrohung der Debattenkultur beigetragen.
({9})
Von Ihnen brauchen wir hier keine Ratschläge dazu, wie man im Parlament zu reden hat.
Aber gehen wir vielleicht doch einmal auf das Gendern ein. Herr Brandner, Sie reden immer davon, man müsse mehr Demokratie wagen. Und wir sagen: Ja, alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Dafür ist mir wichtig, festzustellen – in den Worten von Paul Kirchhof –,
({10})
auch alle Sprachgewalt geht vom Volke aus.
({11})
Deswegen ist es so, dass es den Menschen erlaubt ist – auch ausweislich der grundrechtlichen Sprechfreiheit –, zu gendern. Ob Ihnen das passt oder nicht: Das ist den Menschen erlaubt.
({12})
Gleichzeitig ist es aber so, dass der Staat nicht frei ist, wie er spricht, sondern für uns gilt: Unsere Verfassungssprache ist Deutsch, unsere Amtssprache ist Deutsch, unsere Parlamentssprache ist Deutsch.
({13})
Das ist bisher schon geregelt.
Ob und inwieweit Gendersprech Teil dieser deutschen Sprache ist
({14})
oder nicht, das muss im gesellschaftlichen Diskurs geklärt werden.
({15})
Ich sage Ihnen für meine Fraktion deutlich: Sprache lebt von Akzeptanz. Da gehört zur Wahrheit, dass die Gendersprache von den Bürgern mehrheitlich abgelehnt wird – von den Bürgerinnen im Übrigen auch; das muss man in dieser Debatte auch einmal festhalten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({16})
Ich will auch sagen: Viele Menschen in unseren Wahlkreisen – ob bei mir in Mecklenburg-Vorpommern oder in vielen anderen Teilen der Republik – würden sich wünschen, dass wir andere Problemschwerpunkte setzen; sie empfinden diese Diskussion nur als abgehoben.
({17})
Herr Kollege Amthor, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, wir sind jetzt mit dem Plenumsende bei um die 4 Uhr. Wer jetzt Gendern noch vertieft diskutieren will,
({0})
kann das auf dem Samtsofa in Berlin-Mitte machen; aber wir kümmern uns hier um die wichtigen Themen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Wenn man sich fragt: „Wie soll der Staat reden?“, dann muss man sagen: Im Vordergrund der Debatten steht, dass der Staat mit Sprache Informationen vermitteln muss und nicht politisieren und provozieren sollte. Einzelne Abgeordnete, einzelne Bürger können sprechen, wie sie wollen: grammatikalisch falsch, sprachästhetisch fragwürdig – meinethalben. Für den Staat gilt aber: Neutralität, Unbefangenheit und der Amtsauftrag des Staates. Deswegen müssen wir auch aufpassen, dass wir nicht durch künstliche Sprachkonstruktionen die Grundrechte der Bürger verkürzen.
({2})
Ich will das in aller Klarheit sagen: Ich stehe für ein Land ein, in dem Studenten und Studentinnen
({3})
gute Noten dafür bekommen, dass sie an Universitäten Kluges und Richtiges schreiben, aber nicht schlechte Noten dafür bekommen, dass sie „falsch gendern“. Das ist nicht meine Vorstellung von Freiheit.
({4})
Ich erwarte natürlich, dass der Staat es den Menschen zubilligt, zu gendern. Ich erwarte andererseits aber auch, dass er respektvoll mit denjenigen umgeht, die – im ländlichen Raum und in unseren Wahlkreisen – nicht den Sprachcodes folgen, die hier in Berlin-Mitte praktiziert werden.
({5})
Deswegen sage ich: Wir müssen einen Spagat schaffen zwischen der privaten Sprechfreiheit, die auch gendern beinhaltet, und der notwendigen Neutralität des Staates. Diese Abwägung gibt es jedenfalls nicht mit den Vereinfachern von rechter Seite, sondern nur mit CDU und CSU. – Den Antrag der AfD lehnen wir ab.
({6})
Zu seiner letzten Rede – jedenfalls voraussichtlich – erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Jürgen Martens, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Es ist schon komisch: Bei meiner letzten Rede muss ich mich wieder mit einem eher grobmotorischen Antrag der AfD beschäftigen, so wie bei meiner ersten Rede auch.
({0})
Sie haben nicht viel dazugelernt, Herr Brandner.
({1})
Ihnen begegnet etwas, was Sie nicht verstehen. Die Reaktion ist die übliche Reaktion von Ihnen: Sie fordern ein Verbot. Eine Auseinandersetzung mit dem Problem dahinter findet gar nicht statt. Die wollen Sie nicht; die passt Ihnen auch nicht. Denn der Ausgangspunkt, die Ungleichheit von Geschlechtern, existiert tatsächlich. Das ist keine angebliche Diskriminierung, sondern eine tatsächliche, die auch die Lebenserfahrung von vielen Menschen, vor allen Dingen von Frauen, in diesem Land mitprägt.
({2})
Nun kann man natürlich fragen, welche Lösung für dieses Problem angeboten wird. Wenn man einer ganz einfachen Logik folgt, dann stellt man fest: Sprache ist immer ein Herrschaftsinstrument gewesen und wird es immer sein. Sprache ist eine Waffe – vielleicht die mächtigste, die die Menschheit erfunden hat. Deswegen erscheint es naheliegend, zu sagen: Wir setzen die Sprache ein; das verändert das Denken; das verändert das Verhalten und dann auch die soziale Realität. – Das ist ziemlich einfach, ich finde, zu einfach gedacht. Die Idee ist vielleicht etwas kurzschlüssig.
Aber was auf jeden Fall grauenvoll ist, das ist die Ausführung dieser Idee, der wir bisweilen begegnen, meine Damen und Herren. Hier macht sich eine übertriebene Regelungswut breit, eine moderne Bilderstürmerei, bei der Kinder wegen nicht vollständigem Gendern in der Schule schlechtere Noten kriegen sollen.
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– Die Forderungen gab es.
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Ich halte das für gehobenen Unfug.
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Wenn wir das konsequent zu Ende denken und überall unterschiedslos anwenden, dann werden wir eines Tages in den Geschichtsbüchern lesen, dass 1933 die Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten die Macht ergriffen hätten.
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Dass das so nicht geht, ist offensichtlich, meine Damen und Herren.
Schlimm wird es vor allen Dingen, wenn diese Lösungsansätze mit dem Impetus der moralischen Überlegenheit – der selbsternannten moralischen Überlegenheit – verbreitet werden
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und man dem, der skeptisch ist, mit erigiertem Zeigefinger gegenübertritt und ihn belehrt, wie rückständig und dumm er im Grunde genommen sei.
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Das ist der Ruf nach einer Sprachpolizei. Die Lebenswirklichkeit von vielen Menschen und ihre Zweifel werden hier gar nicht wahrgenommen.
Unsere Position ist die: Wir wollen solche Fragen diskutieren. Und ja, es steht jedem frei, welchen Sprachgebrauch er verwendet. Wir wollen das allerdings ohne erigierten Zeigefinger und moralische Überheblichkeit und ohne Sprachpolizei.
Wenn man den Antrag der AfD genau liest, erkennt man: Sie wollen eine Sprachpolizei.
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Denn Sie verlangen ein Verbot von bestimmten Sprachformen, ein schlichtes Verbot. Das ist zu einfach, das ist der Ruf nach einer Sprachpolizei. Sprache lebt und entwickelt sich, meine Damen und Herren.
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Sie kann nicht in der Petrischale feministischer Sprachlabore gezüchtet werden.
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Man kann sie auch nicht im Eisschrank in einer braunen Bierflasche vor Veränderungen in Sicherheit bringen.
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Wir müssen unsere Sprache pflegen, ja. Wir brauchen keine Sprachpolizei, weder eine emanzipationsgetriebene noch eine reaktionäre Sprachpolizei.
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Wenn uns das gelingt, dann werden wir, dann werden Sie hier in diesem Haus weiterhin Debatten führen in einer Sprache, die wir vielleicht alle verstehen und die wir uns nicht gegenseitig vorwerfen müssen.
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Die FDP wird diesen Antrag ablehnen.
Da wir am Ende sind, lassen Sie mich noch eines zum Thema Sprache sagen: Das war hier meine letzte Rede – keine Angst, es waren nicht meine letzten Worte!
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Ich bedanke mich sehr und wünsche Ihnen und dem Haus und unserer Demokratie auch in Zukunft alles Gute.
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Alles Gute, Jürgen Martens! – Die Kolleginnen Leni Breymaier und Doris Achelwilm geben ihre Reden zu Protokoll.
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Ulle Schauws, Bündnis 90/Grüne.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit den Kolleginnen Leni Breymaier von der SPD und Doris Achelwilm von den Linken haben wir uns geeinigt, dass ich die Rede aus der Opposition halte.
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Das davor war, zumindest aus meiner Sicht, keine Rede aus der Opposition.
Die Welt dreht sich, Menschen entwickeln sich weiter, neue Generationen setzen neue Traditionen, und Sprache ist lebendig und verändert sich stetig – seit Jahrhunderten. Das ist ein Fakt.
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Damit wäre eigentlich alles gesagt – eigentlich! Aber diese Debatte um das Gendern hat einen Zug bekommen, der geradezu komisch ist: Die AfD und auch Teile der CDU/CSU und auch vielleicht der FDP können keinen Tag auslassen, ohne sich über eine inklusivere Sprache, die auch Frauen und Divers einschließt, aufzuregen und zu betonen, dass es doch Wichtigeres gibt, als darüber zu sprechen. Dabei sind Sie es, die immer darüber sprechen wollen, sogar im Bundestag.
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Sie wollen sogar etwas debattieren, das nicht gefordert wird.
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– Hören Sie gut zu. – Denn zu geschlechtergerechter Sprache wird niemand verpflichtet. Niemand fordert ein Gebot einer inklusiven Sprache,
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auch nicht im Bundestag.
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Die Einzigen, die Sprachverbote fordern, sind die AfD und Politiker der CDU. Auch das ist ein Fakt.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Fakt zur Sache ist, dass Sprache unsere Wirklichkeit formt.
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Alle Geschlechter sprachlich abzubilden, macht einen Unterschied: In rein männlicher Form zu reden, hält mindestens die Hälfte der Bevölkerung aus der Sprache heraus.
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Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass wir in den Bildern denken, die wir hören. Das Fazit von Wissenschaftlerinnen des Max-Planck-Instituts einer Studie aus 2018 lautet: Das generische Maskulinum ist nicht generisch. Es erzeugt im Kopf vor allem männliche Bilder und – so die Kritik – stellt die Welt somit nicht so divers dar, wie sie heute ist.
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Wer das generische Maskulinum anwendet, gendert also faktisch. Das war Ihnen bisher wahrscheinlich nicht klar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Land sprechen immer mehr Menschen in einer geschlechtergerechten Sprache, insbesondere jüngere.
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Und die, die durch die inklusive Sprache sichtbar werden, befürworten diese Entwicklung viel häufiger.
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Bei uns Grünen
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gibt es die inklusive Sprache schon lange.
Aber es ist eine Entscheidung: Jeder Mensch
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kann für sich entscheiden, dies zu tun oder es zu lassen – Punkt! Vorzuschreiben, nur die männliche Sprache verwenden zu dürfen – weil Sie in der AfD sich mit dem Gendern schwertun –,
({14})
das ist jedoch vermessen.
({15})
Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, warum macht die AfD so eine Welle beim Thema Gendern? Das hat die Journalistin Teresa Bücker klug analysiert:
Die Ablehnung von geschlechtergerechter Sprache ist eine Chiffre dafür, emanzipatorische Erfolge in Frage zu stellen
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und die schon länger vorübergegangene Normalität hegemonialer Männlichkeit wiederherzustellen.
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Also zurück in die geordnete Welt des Patriarchats!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das hier ist eine Stellvertreterdebatte, um Erfolge von Geschlechterpolitik ins Lächerliche zu ziehen. Was Sie hier versuchen, ist, die wirkliche Herausforderung für eine moderne und geschlechtergerechte Gesellschaft aufzuhalten. Das wird Ihnen nicht gelingen. Unsere Gesellschaft ist viel freier und weiter als Ihre Politik.
Vielen Dank.
({19})
Die Kolleginnen Sylvia Pantel und Josephine Ortleb geben ihre Reden ebenfalls zu Protokoll.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute führen wir erneut eine Debatte über die Verlängerung des KFOR-Mandats; ich bitte um Zustimmung.
Zuerst will ich mich – auch im Namen unseres Hauses – bei den Soldatinnen und Soldaten für ihren unermüdlichen Einsatz für die Sicherheit der Menschen in Kosovo und der Region bedanken, da die Regierung vor Ort offensichtlich nicht dazu imstande ist, die Sicherheit zu gewährleisten.
({0})
Leider hat auch die Politik der Weltgemeinschaft beim Zerfall Jugoslawiens schwerwiegende Fehler begangen, aus denen wir heute lernen müssen. Das 1977 nach der nötigen Anzahl an Ratifizierungen der UN-Charta in Kraft getretene Recht auf Selbstbestimmung der Völker war ein Segen für die Wiedervereinigung Deutschlands, für Ex-Jugoslawien jedoch verhängnisvoll. Selbstbestimmung der Völker ohne Festhalten an der Charta der Menschenrechte verhindert Demokratie und schafft Nationalismen und somit jene schrecklichen Folgen, die wir aus dem blutigen Zerfall Ex-Jugoslawiens kennen.
Es klingt zynisch: Die EU hat die politischen Zustände auf dem Westbalkan selbst mit ermöglicht – und stellt nun die EU-Beitrittsperspektive dieser Länder mangels demokratischer Werte infrage. Warum sollten Nationalkommunisten Ex-Jugoslawiens, die das Land ausgeplündert, die Völker in kriegerisches Verderben geführt und die Länder inzwischen im Nationalismus eingekerkert haben, für Rechtsstaatlichkeit sorgen? Eine demokratische Wertegemeinschaft auf dem Westbalkan war von deren politischen Eliten nie gewollt.
Diese Eliten haben inzwischen in der EU ein neues Vorbild gefunden: Viktor Orban und die sogenannten Visegrad-Staaten. Orban ist inzwischen das trojanische Pferd Chinas in der EU und nutzt den Westbalkan zunehmend als ein Übungsgelände für jede Schweinerei. Beispiel: sogenannte Non-Papers, die Orbans Handschrift tragen.
Als mir vor ein paar Jahren ein bosnisch-herzegowinischer Politiker beim Thema „Einhaltung der demokratischen Grundrechte“ argumentativ nichts mehr entgegenbringen konnte, sagte er folgenden Satz: Juratovic, Europa ist schwach, und wir haben Zeit. – Er scheint inzwischen recht zu haben. Wenn man sieht, dass eine kleine rechtsradikale Partei Bulgariens im Falle der Eröffnung der EU-Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien über die Zukunft Europas bestimmt, dann ist die Balkanisierung Europas nicht mehr weit.
Kolleginnen und Kollegen, der Westbalkan ist nicht unmenschlicher oder menschlicher als der Rest der Welt. Was wir lernen müssen, ist, dass die Ursache für Krieg auf dem Westbalkan nicht die lange Historie der Region ist. In Wirklichkeit ist die Ursache das politische Versagen der jüngsten Geschichte, welches es aufzuarbeiten gilt. Wir müssen lernen, dass ein Srebrenica auch in der EU inzwischen jederzeit und überall möglich ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa befindet sich heute am Scheideweg in der Frage: Wollen wir ein Europa der wirtschaftlichen Interessen und eines politischen Konsenses auf dem Niveau von Orban, oder wollen wir ein institutionell starkes Europa der Menschenrechte und demokratischen Werte? Ich stehe für die Vereinigten Staaten von Europa.
({1})
Dieses Projekt wird wohl nicht auf Anhieb mit 27 Mitgliedstaaten funktionieren, sondern zu Beginn zunächst mit Staaten, die willig sind. Es ist aber die einzige Möglichkeit, wenn wir die Balkanisierung der Europäischen Union verhindern wollen.
({2})
Kolleginnen und Kollegen, die letzten vier Minuten meiner Redezeit im Deutschen Bundestag neigen sich dem Ende zu. Ich möchte mich bei allen unter Ihnen bedanken für den fairen Umgang mit mir als bekennendem Arbeiter und Gastarbeiter im Deutschen Bundestag. Als Sozialdemokrat und gläubiger Christ bitte ich Sie: Verbinden Sie bei all Ihren politischen Entscheidungen den Gottesbezug in der Präambel unseres Grundgesetzes mit Artikel 1 unserer Verfassung! Seien Sie wachsam; denn wer in der Demokratie schläft, wird in der Diktatur aufwachen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, und Gott segne Sie!
({3})
Alles Gute, Herr Kollege Juratovic!
Ich möchte noch einmal auf Tagesordnungspunkt 31 zurückkommen. Wir schließen in fünf Minuten die Abstimmung. Wer also noch abstimmen möchte, den bitte ich, das jetzt zu tun.
Nächster Redner ist der Abgeordnete Rüdiger Lucassen, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierung hat in ihrem Antrag vorgetragen, dass die Ziele des Kosovo-Einsatzes alle erreicht sind: Die Sicherheitslage sei ruhig und stabil. Die Kosovo Security Forces seien dazu befähigt, mit sicherheitsrelevanten Situationen verantwortlich umzugehen. Der Weg des Kosovo in Richtung EU und NATO stehe fest. – Da gibt es nur eine logische Konsequenz: Beenden Sie diesen Bundeswehreinsatz nach 22 Jahren!
({0})
Sehr geehrte Kollegen aus den Regierungsfraktionen, in Ihrem Antrag beschreiben Sie selbst sehr ausführlich, dass die Unterstützung für das Kosovo nur noch rein ziviler Natur ist: Festlegung der Justiz, Förderung der Wirtschaft, Ausbildung der Polizei. Für all das braucht man keine Soldaten.
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Und selbst das Training der kosovarischen Soldaten führt die Bundeswehr in Deutschland durch.
Sehr geehrte Kollegen, die jährliche Verlängerung des Kosovo-Einsatzes bietet natürlich auch immer die Gelegenheit, ein paar Worte zur politischen Dimension des Einsatzes zu sagen; denn die Fehler der Vergangenheit holen die beteiligten Regierungen immer wieder ein, auch die Bundesregierung. Die Abspaltung des Kosovo von Serbien war dabei nicht nur ein Fehler für den Balkan – mit dieser Abspaltung hat die Bundesregierung an einem Präzedenzfall mitgewirkt, der die Stabilität und die internationalen Beziehungen in vielerlei Hinsicht bis heute belastet.
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Erstens. Die Lust auf staatliche Unabhängigkeit vom Mutterland hat längst auch auf andere Regionen Europas übergegriffen: Bei Schottland freuen sich die Eurokraten noch, weil man es den störrischen Briten so heimzahlen kann. Was Katalonien angeht, ist die Begeisterung schon deutlich gedämpfter. Und was ist, wenn sich Flandern unabhängig macht oder die Basken, wenn Bosnien zerfällt oder Südtirol wieder zurück zu Österreich will? Grenzverschiebungen sind die Büchse der Pandora, und Sie haben sie vor 22 Jahren geöffnet.
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Und zweitens. Der Luftkrieg gegen Serbien war völkerrechtlich nicht legitimiert. Die Bundesregierung und die Grünen behaupten zwar weiterhin das Gegenteil. Fakt ist aber: Es gab kein Mandat der UNO.
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Die Folge: Wann immer heute jemand Lust verspürt, sein Militär für eine Strafexpedition einzusetzen, verweist die Bundesregierung auf die UNO und erhält dann die Antwort: Warum? Ihr habt euch doch damals im Kosovo auch nicht daran gehalten. – Mit dem Völkerrecht ist es wie mit der Moral: Man muss sich selbst peinlichst genau daran halten, sonst wird beides wertlos. Das sollten Sie sich einmal hinter die Ohren schreiben!
({5})
Die AfD-Bundestagsfraktion lehnt die Verlängerung des Kosovo-Mandats ab. Holen Sie die letzten Soldaten nach Hause. Und kümmern Sie sich um den Wiederaufbau unserer Bundeswehr; da wird jeder Euro und jeder Beitrag – auch Ihr Beitrag – benötigt.
Danke schön.
({6})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bundeswehrsoldatinnen und ‑soldaten in den Kosovo zu schicken, war und ist eine humanitäre Pflicht. Auch 22 Jahre nach der ersten Entscheidung sage ich: Das war genau richtig. – Was Sie hier von sich gegeben haben, Herr Lucassen, ist völlig unverständlich.
({0})
Wir erinnern uns an die Jahre 1998/99: blutige Kriegseskalation durch Milosevic, zahlreiche schwerste Menschenrechtsverletzungen, systematische Überfälle, Vertreibung, Massenmorde an der kosovo-albanischen Zivilbevölkerung. Mindestens 13 000 Menschen starben, knapp 900 Zivilisten waren auf der Flucht. Dieses Morden musste gestoppt werden.
({1})
Wenn es keine völkerrechtliche Legitimation dafür gibt, dass man Morden stoppt, dann weiß ich nicht, was Völkerrecht eigentlich bedeutet.
({2})
Das ist der große Unterschied, Herr Lucassen, zu dem, was in der Ukraine geschehen ist. Dort ist man in ein friedliches Land eingefallen, hier hilft man, Menschen vor dem Tod zu bewahren.
({3})
Deshalb gibt es für die aktuell knapp 65 Soldaten folgende Aufgaben: erstens Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, zweitens Unterstützung und Koordination der internationalen humanitären Hilfe, drittens Unterstützung zur Entwicklung einer demokratischen und multiethnischen Gesellschaft und viertens Aufbau der nationalen Kosovo Security Forces.
Das sind wichtige Punkte, und die Menschen im Kosovo selber wollen diesen Bundeswehreinsatz; das ist übrigens auch ein wichtiges Moment. Kosovo braucht die KFOR-Mission, und zwar so lange, bis Belgrad und Pristina eine politische Lösung für ihre Probleme gefunden haben.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf die Bedeutung unserer Streitkräfte in diesem Land und in anderen Einsätzen im Ausland hinweisen – ganz im Gegensatz zu den Linken und zur AfD, die in ihren Wahlprogrammen nämlich das Ende aller Auslandseinsätze der Bundeswehr fordern.
({4})
Und genau das ist falsch. Das ist Nationalismus.
({5})
– Ja. Wenn man nur an seine eigene Identität, nur an sein eigenes Land denkt: Was ist denn das anderes?
Die Verweigerung von humanitärer Hilfe ist unverantwortlich. Mit Ihrer ignoranten und realitätsfernen Haltung setzen Sie Menschenleben aufs Spiel. Genau das tun Sie.
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Der Kosovo ist ein Beispiel für die friedens- und stabilitätsschaffende Wirkung, die durch solche Einsätze erzielt wird. Zudem erfährt die Arbeit der Bundeswehr bei der Bevölkerung vor Ort eine große Wertschätzung; auch das ist wichtig. Bisher sind keine Angriffe auf KFOR-Soldaten zu verzeichnen, und keiner von ihnen wurde bei Kampfhandlungen im Kosovo getötet.
KFOR zeigt, wie wichtig unsere Beiträge im Rahmen von NATO- und UN-Missionen sind. Deshalb danke ich ausdrücklich allen Soldatinnen und Soldaten, die weltweit und eben auch im Kosovo im Einsatz sind.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Elisabeth Motschmann. – Die nächste Rednerin: die Abgeordnete Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unser Blick auf den Kosovo ist zum Glück nicht mehr in erster Linie militärisch, sondern er ist vor allem politisch. Die gute Nachricht ist, dass es im Laufe der Jahre deutlich weniger gewaltsame Zwischenfälle gegeben hat. Zur Wahrheit gehört aber auch – und die ist besorgniserregend –, dass die Spannungen zwischen den Regierungen Serbiens und des Kosovo das Potenzial haben, den Konflikt erneut zu verschärfen.
Deswegen muss es das Ziel aller Mitglieder der Europäischen Union bleiben, dazu beizutragen, dass sich die Beziehungen zwischen den beiden Staaten normalisieren; denn der so festgefahrene Streit zwischen Belgrad und Pristina ist eines der zentralen Hemmnisse, den Westbalkan in die EU zu integrieren. Da ist eine Region gewissermaßen umzingelt von EU-Staaten, und daher gilt es, langfristig – auch um des Friedens willen – diese Region an uns zu binden.
Meine Damen und Herren, wir sollten nicht naiv sein. Schon seit Längerem versuchen Akteure wie China, Russland oder die Türkei durch massive Einflussnahme ihren Einfluss auf diese Staaten zu vergrößern – ja, auch um sie der Nachbarschaft Europas zu entfremden. Ohne die gegenseitige Anerkennung von Serbien und Kosovo wird eine Integration in die EU nie gelingen. Daher ist jeder noch so kleine Schritt beider Staaten, um aufeinander zuzugehen, der Mühe wert.
Das Treffen des serbischen Präsidenten und des kosovarischen Premierministers in der vergangenen Woche in Brüssel war ein erster Schritt. Es fehlen momentan konkrete Ergebnisse; aber allein die Tatsache, dass die beiden Seiten sich nach fast einem Jahr wieder auf einen Dialog eingelassen haben und ihn in dichterer Taktung auch fortsetzen wollen, ist schon ein wichtiges Signal.
Für uns muss klar sein, dass es keine Grenzverschiebungen geben darf, auch nicht am Reißbrett, und dass man auch nicht mal so darüber fabuliert; denn jeder, der das macht, macht sich auch schuldig, weil allein schon solche Gerüchte die Stimmungslage unnötig anheizen, Ängste in der Bevölkerung provozieren und erneut zur gegenseitigen Ausgrenzung führen.
Meine Damen und Herren, die militärische Präsenz der Bundeswehr und der internationalen Verbündeten bleibt daher – ja, leider – weiter notwendig. KFOR ist ein Garant für die Stabilität des Kosovo und der gesamten Region. Die internationale Gemeinschaft bleibt wachsam. An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei den Soldatinnen und Soldaten bedanken, die dort ihren Dienst leisten und geleistet haben. Wir werden diesem Mandat zustimmen.
Kollege Lucassen, ich reagiere ja selten auf Sie. Zwar ist zwischen uns räumlich leider nicht viel Platz, aber Gott sei Dank in der Rednerfolge; an dieser Stelle denke ich an die armen Sozialdemokraten. Zu dem, was Sie hier gerade abgeliefert haben – und das als ehemaliger Soldat –, kann ich nur sagen: Ich weiß nicht, wann Sie in Ihrem Leben rechts abgebogen sind. Aber dass Sie einen Völkermord relativieren! Wirklich: Wenn wir hier nicht im Hohen Haus wären, könnte ich gar nicht so viel spucken, wie mir gerade danach ist.
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Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, kommen wir jetzt zurück zu Tagesordnungspunkt 19 a, und zwar zu dem Antrag der AfD-Fraktion „Keine Verwendung der sogenannten gendergerechten Sprache durch die Bundesregierung“.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Laut Antrag der Bundesregierung sollen im Rahmen des KFOR-Einsatzes kosovo-albanische Sicherheitskräfte beraten und – ich zitiere – „als demokratisch kontrollierte, multiethnisch geprägte Sicherheitsorganisation“ ausgebildet werden. Die Realität sieht vollkommen anders aus. An der Spitze der Regierung steht mit Albin Kurti ein erklärter großalbanischer Nationalist. Ab September muss sich mit Salih Mustafa ein früherer Kommandeur der rechtsextremen Untergrundarmee UCK vor dem Kosovo-Sondertribunal für Folter und Ermordung verantworten. Dem früheren UCK-Chef und Ex-Kosovo-Präsidenten Hashim Thaci werden Morde, Verschleppung und Folter vorgeworfen.
1991 haben Kroatien und Slowenien einseitig ihre Unabhängigkeit vom jugoslawischen Bundesstaat verkündet. Es war die deutsche Außenpolitik, die mit der vorschnellen Anerkennung der einseitigen Sezessionen gegen die Stimmen unserer europäischen Nachbarn Massenvertreibungen und den völkerrechtswidrigen NATO-Krieg gegen das verbliebene Jugoslawien 1999 eingeleitet hat – damals schon gegen den Widerstand von links und der Friedensbewegung.
({0})
Kollegin Motschmann, Ihr Bundeskanzler Helmut Kohl hatte einen Einsatz deutscher Soldaten noch mit dem Verweis abgelehnt, die Bundeswehr habe dort nichts zu suchen, wo einst die Wehrmacht war. Recht hatte er!
({1})
Ausgerechnet Grüne und SPD propagierten die Bombardierung serbischer Städte. Joschka Fischer ließ Menschen in dieselben Luftschutzkeller treiben, in denen sie schon zum Schutz unter der Wehrmacht gesessen hatten. Schlimmer ist der Satz „Nie wieder Auschwitz!“ selten missbraucht worden.
({2})
Viele Grüne haben wegen der Beteiligung am illegalen NATO-Krieg ihre vom Pazifismus verlassene Partei verlassen; ich bin damals nach 33 Jahren aus der Willy-Brandt-SPD ausgetreten. Die Grünenvorsitzende und Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock ist während dieser Debatte erst eingetreten,
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und mit den lauten Rufen von Habeck mit dem Panzerhelm auf dem Kopf nach Panzerlieferungen an die Ukraine klingen die Grünen wie mit ihrer permanenten Hetze gegen Russland und China.
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Nein, auf dem Balkan haben deutsche Soldaten in der Geschichte nie etwas Gutes bewirkt.
({5})
Liebe Grüne, lieber Jürgen Trittin, was würde Joseph Beuys zu den Auslandseinsätzen heute sagen?
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Wir Linken sagen: Schluss damit!
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Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss an dieser Stelle immer wieder klarstellen: Das KFOR-Mandat wurde damals auf der Grundlage eines UN-Mandats beschlossen.
({0})
Was anderes war der vorangegangene Luftkrieg der NATO gegen Serbien. Der war klar völkerrechtswidrig, weshalb ich persönlich dem auch niemals zugestimmt hätte.
({1})
Am Ende wurden auf diesem Wege Staatsgrenzen verändert, was immer gefährlich ist und die Konfliktlösung weiter verkompliziert. Wir können die Geschichte aber nicht zurückdrehen, und deswegen ist es mit Blick in die Zukunft so wichtig, dass sich Serbien und Kosovo auf einen Grundlagenvertrag einigen, der die bilateralen Beziehungen beider Staaten rechtlich bindend regelt.
Leider verläuft der Belgrad-Pristina-Dialog eher schleppend. Immerhin hat man sich dieser Tage getroffen und verkündet, die Gespräche fortzusetzen. Der Frust der Menschen in der Region ist groß. Die einen warten darauf, dass endlich eine EU-Perspektive eröffnet wird, und die anderen wollen endlich Fortschritte bei wirtschaftlichen Entwicklungen und Rechtsstaatlichkeit sehen. All das wird durch die ungeklärte Statusfrage blockiert.
Was daran Hoffnung macht, ist, dass beide Akteure deswegen ein existenzielles Interesse an einer Einigung haben müssen. Nur sie selbst haben die Lösung in der Hand.
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Weder die internationale Gemeinschaft noch die EU können sie erzwingen. Wir können letztlich nur unterstützen und Anreize setzen.
Neben der Anerkennung von Staatsgrenzen ist noch etwas ganz entscheidend auf dem Weg in eine friedliche Zukunft: die Aufarbeitung der Vergangenheit. Noch immer gelten seit dem Krieg 1 600 Menschen als vermisst, und weitere Massengräber werden neu entdeckt. Das Kosovo-Kriegsverbrechertribunal beginnt gerade erst seine Arbeit. Im November wurde der ehemalige UCK-Führer und Präsident Thaci wegen Kriegsverbrechen angeklagt, und er trat von seinem Amt zurück. Trotz zugesicherter Anonymität haben sich erst wenige Zeuginnen und Zeugen zu Aussagen bereit erklärt, da sie Racheakte und Gewalt fürchten. Doch die gerichtliche Aufarbeitung der Kriegsverbrechen ist unerlässlich auf dem Weg zu einem demokratischen Rechtsstaat. Wer wüsste das besser als wir!
({3})
Solange dieses Kapitel nicht abgeschlossen ist, verbleibt ein relevantes Konflikt- und Eskalationspotenzial. Die Gefahr ethnischer Auseinandersetzungen besteht nach wie vor. Die reduzierte Präsenz der KFOR-Truppen ist daher weiterhin ein sinnvoller Schutz- und Stabilitätsfaktor für die Region. Deswegen werden wir der weiteren Verlängerung des KFOR-Mandats zustimmen.
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Die Bundesregierung hat allerdings wieder ohne Not die Mandatierung von 400 Soldatinnen und Soldaten vorgelegt, obwohl die Präsenz schon vor zwei Jahren auf gerade mal 70 reduziert und das Reservebataillon offiziell aufgelöst wurde.
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Insofern erschließt sich mir die gewählte Obergrenze mangels militärischer Erforderlichkeit nicht. Hier muss das Mandat endlich der Realität angepasst werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollegin Katja Keul. – Der Kollege Dr. Eberhard Brecht gibt seine Rede zu Protokoll.
Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Vorab: Die CDU/CSU-Fraktion wird der Verlängerung dieses Mandats zustimmen, und das aus gutem Grunde: Es handelt sich um einen sogenannten Third Responder; es ist also ein gestaffelter Einsatz. Zunächst einmal ist im Sinne der Subsidiarität die Polizei im Kosovo zuständig. Wenn diese zur Beruhigung der Lage nicht fähig ist, erfolgt der Einsatz von EULEX, der europäischen Polizeieinheit, und nur im äußersten Falle der Eskalation kommt es zur Aktivierung der KFOR-Truppen.
Zur Debatte, die wir hier gehört haben. Kollegin Katja Keul von den Grünen, ich bin etwas deprimiert, zu hören, dass Sie die seinerzeitig außerordentlich mutige Entscheidung der rot-grünen Bundesregierung – Joschka Fischer und der Farbbeutel am Kopf sind in Erinnerung, die Zerreißprobe für Ihre Partei auch –, um den Kriegsverbrecher Milosevic von seinen weiteren Gräueltaten abzuhalten, kritisieren, und ich bin entsetzt – und es ist schändlich –, Herr Dr. Dehm von der Linken, wie Sie diesen Verbrecher, dessen Verurteilung von der unvergessenen Carla del Ponte am Kriegsverbrechertribunal in Den Haag vorbereitet wurde – er ist kurz vor dem Urteil gestorben –, verteidigt haben.
({0})
Sie haben, Herr Dr. Dehm, vermutlich wahrgenommen, wie unisono Ihnen die AfD bei Ihren Ausführungen zugestimmt hat. Sie beide sollten sich schämen!
({1})
Ich weiß, dass wir auch mit dem sogenannten Berliner Prozess – die Bundeskanzlerin wird, weil Deutschland den Vorsitz dort übernimmt, zum Gipfel am 5. Juli 2021 einladen – weiterhin große Verantwortung für die Zusammenarbeit im westlichen Balkan und zwischen diesen schwierigen Staaten übernehmen. Wir werden als wichtigster Partner in Europa dazu beitragen, diese Stabilität politisch – auch entwicklungspolitisch – weiter zu festigen.
Wir haben heute in der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin eindrucksvoll gehört, was sie uns für die Zukunft mit auf den Weg gegeben hat, indem sie von der Stärkung unserer außen- und sicherheitspolitischen Fähigkeiten in diesem Land gesprochen hat. Ich bekenne mich – und ich hoffe, viele in diesem Haus tun das auch – zu unseren Verpflichtungen, die wir diesbezüglich in der NATO übernommen haben, und ich habe gemerkt, wie stark dieses Bekenntnis auch Armin Laschet, der nach der Bundeskanzlerin gesprochen hat, hier getragen hat.
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Ich bin dankbar, dass wir dies in der Zukunft fortführen.
Herr Kollege, die Kollegin Nastic würde gerne eine Nachfrage stellen.
Nein, wir haben genug Zeit verplempert und wollen diese Reden zügig und im Zeitrahmen zu Ende bringen.
({0})
– Mit Ihren Zwischenfragen.
Ich will zum Ende kommen. – Das ist mir wichtig: Die Bundeskanzlerin hat – und das ist ein Terminus, den sie nicht so oft gebraucht hat – von europäischer Souveränität als Hauptaufgabe für die Zukunft gesprochen. Ich bin sicher, sie hat uns damit eine wesentliche Aufgabe für die Zukunft gegeben. Das setzt aber voraus, dass unsere sicherheitspolitischen Fähigkeiten und unsere militärischen Fähigkeiten gestärkt werden, insbesondere dann, wenn andere – auch im internationalen Kontext – sich eher aus diesem Umfeld zurückziehen und wir in Zukunft mehr Aufgaben in Europa – und das ist auch notwendig und richtig – alleine werden lösen müssen.
Herzlichen Dank.
({1})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der interne Arbeitskreis unserer Fraktion, den ich die letzten vier Jahre leiten durfte, trägt den Namen „Nachhaltigkeit durch Innovation“. Und genau dieser politische Anspruch zieht sich wie ein roter Faden durch die Klima- und Umweltpolitik, die Verkehrspolitik, die Agrarpolitik, die Bau- und die Digitalpolitik der Freien Demokraten; denn Nachhaltigkeit durch Innovation ist für uns der Schlüssel zu einer dauerhaft prosperierenden Gesellschaft in Frieden, Freiheit und Wohlstand.
({0})
Nachhaltiges Wachstum kann nur durch technische, politische und soziale Innovationen erreicht werden. Gerade dieser technische Fortschritt ist eine zwingende Voraussetzung für den Erhalt und den Ausbau unseres Wohlstandes in einem dauerhaft lebenswerten Umfeld. Darauf aufbauend nutzen wir die letzte Sitzungswoche, um einen umfassenden Antrag vorzulegen, und ich hoffe auf breite Zustimmung aus dem Hohen Haus.
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Wir Freien Demokraten haben in dieser Legislaturperiode in ganz vielen Anträgen sehr gut gezeigt, dass man auch ohne staatliche Umerziehung, ohne planwirtschaftliche Sektorziele, ohne Verbote und ohne moralisierende Schamdiskussion Wege dafür aufzeigen kann, wie ein nachhaltiges, generationengerechtes Leben erreichbar ist. Ja, es ist manchmal einfacher, Dinge einfach zu verbieten – am einfachsten die Dinge, die man vielleicht aus eigener Ideologie ablehnt, die man manchmal überhaupt nicht zur Verfügung hat oder die man im eigenen privaten Leben einfach nicht braucht. Mal ist es das Auto, mal das Häuschen im Grünen, mal die Kreuzfahrt und manchmal auch das Fleisch auf dem Teller, weil es nach der eigenen Definition eben nicht nachhaltig genug ist.
Wir stellen fest, dass Verbote und Bevormundung allgegenwärtig sind und bei mancher politischer Konstellation anscheinend sogar zum Leitmotiv der Politik in unserem Land werden. Das Ergebnis einer solchen Politik ist eben nicht Nachhaltigkeit, sondern der Verlust von individueller Freiheit. Damit das nicht passiert, werden Freie Demokraten immer wieder von diesem Pult aus dafür sorgen, dass das nicht in Vergessenheit gerät;
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denn die Geschichte lehrt uns, dass technologischer, gesellschaftlicher und kultureller Fortschritt dabei immer Hand in Hand gehen. Daher ist es ein Fehler, wenn wissenschaftliche Neugier und die daraus entstehenden, für uns so wichtigen Innovationen zum Teil durch populistisch aufgeheizte Debatten unterdrückt werden. Auch einseitige Förderungen von Lieblingstechnologien sind das Ergebnis ideologisch geprägter Politik.
Ja, Innovationen bieten nicht nur Chancen, sondern bergen mitunter auch Risiken, und deswegen ist es wichtig, neutral und im Erkenntnis- und Lösungsinteresse permanent abzuwägen; denn – davon sind wir Freien Demokraten überzeugt – den Wohlstand in unserem Land kann langfristig nur der Markt, die soziale Marktwirtschaft, sichern.
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Staatswirtschaft und Verbotspolitik – und das ist auch nichts Neues – sind eben nicht wirtschaftlich nachhaltig. Wir brauchen Technologieneutralität und Innovationskraft als Grundlage unserer Gesellschaft.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir Politiker hier machen viele schlaue Dinge, aber wir sind eben nicht die besseren Forscher und Entwickler. Die Aufgabe von uns hier und unseren Kollegen in den anderen Parlamenten ist es, richtige Rahmenbedingungen zu setzen, eine moderne Infrastruktur bereitzustellen, Forschung und Entwicklung konsequent und technologieneutral zu unterstützen. Wenn wir das tun, sind wir eigentlich schon gut beschäftigt. Wir sollten uns nicht in Technologien verlieben, sondern können das dem Markt überlassen.
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So schaffen wir die Grundlage für Ideenvielfalt und Innovationen.
Ich könnte Ihnen, wenn ich mehr Redezeit hätte, jetzt noch eine ganze Reihe an Vorschlägen aufsagen, aber die liegen Ihnen ja glücklicherweise schriftlich vor. Deswegen wiederhole ich meine Bitte um breite Zustimmung.
Sehr verehrter Herr Präsident, wie von Ihnen bereits angekündigt, ist das heute meine letzte Rede im Deutschen Bundestag. Es war mir eine große Ehre, die letzten vier Jahre hier im Hohen Haus tätig sein zu dürfen.
Mein Dank gilt natürlich meinen Wählern – ohne die wäre ich nicht hier –, er gilt aber auch meinen Kolleginnen und Kollegen aus meiner Fraktion und den Kollegen aus allen anderen Fraktionen, mit denen ich, soweit wir miteinander zu tun hatten, immer sehr vertrauensvoll zusammenarbeiten konnte.
Mein Dank gilt auch den Mitarbeitern meines Büros – denen konnte ich es schon persönlich sagen –, den Mitarbeitern der Fraktion – denen konnte ich es auch schon sagen – und auch den Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung, die an ganz unterschiedlichen Stellen für uns da sind.
Nicht zu vergessen: Ich danke auch – das sagt man an der Stelle hier viel zu selten – meiner Familie, die in den letzten Jahren leider allzu oft auf mich verzichten musste und immer unterstützend und verständnisvoll für mich da war.
Eine allerletzte Bitte, bevor ich hier das Pult verlasse, an alle, die bleiben und die folgen: Bitte passen Sie gut auf unser Land auf! Bitte passen Sie gut auf unsere Demokratie auf!
Herzlichen Dank und auf Wiedersehen.
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Alles Gute, Frank Sitta. – Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Dr. Christoph Ploß.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in dieser Legislaturperiode als CDU/CSU-Fraktion viele große Themen unserer Zeit vorantreiben können: Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Mobilität der Zukunft. Dabei haben wir viele Fragen beantwortet und werden auch in Zukunft viele Fragen beantworten, die sich viele Bürger in unserem Land stellen, zum Beispiel: Welche Verkehrsträger kommen bei der Mobilität der Zukunft in Großstädten und auch im ländlichen Raum zum Einsatz?
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Welche Antriebstechnologien brauchen wir, um die Klimaschutzziele zu erreichen? – Das waren wichtige Fragen in dieser Legislaturperiode, und es werden auch in den nächsten Jahren sehr wichtige Fragen sein.
Wir als CDU/CSU-Fraktion haben dabei klare Antworten gegeben, viele Ideen ins Parlament gebracht und viele Konzepte vorgeschlagen, wie zum Beispiel, massiv in die Schiene, in den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs zu investieren. Wir sind der Auffassung, dass wir die Probleme gerade in den Ballungsräumen Deutschlands – in Berlin, in Hamburg, in München – durch mehr U- und S-Bahnen lösen können. Wenn es ein sehr gutes, attraktives Angebot im öffentlichen Nahverkehr gibt, haben möglichst viele Menschen Anreize, das Auto stehen zu lassen und auf klimafreundliche Verkehrsmittel umzusteigen.
Das Gleiche gilt für den Ausbau der Radinfrastruktur. Auch hier haben wir sehr viele gute Initiativen gestartet. Ich kann an dieser Stelle sagen – das gilt nicht nur für den Kollegen Gero Storjohann, der immer sehr leidenschaftlich dabei ist, sondern auch für viele andere –: Wir als CDU/CSU wollen auch in den nächsten Jahren weiter in die Radinfrastruktur investieren, damit es auch hier Anreize gibt, das Auto stehen zu lassen und aufs Rad umzusteigen.
Aber im Gegensatz zum Beispiel zu den Grünen sagen wir nicht: Das Auto hat in Zukunft keine Chance mehr.
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Wir wollen auch das Autofahren nicht verbieten, sondern wir sagen, liebe Kollegin Brantner: Wir wollen, dass die Menschen auch in Zukunft das Auto nutzen können.
Wir wollen das auch Auto CO2-neutral machen – durch Investitionen in batteriebetriebene Elektromobilität, durch Investitionen in Wasserstoff, durch Investitionen in klimaneutrale Kraftstoffe wie E-Fuels.
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Auf welche Antriebstechnologie kommt es an? Weil wir über diese Frage häufig debattiert haben und das sicherlich auch im Wahlkampf eine wichtige Rolle spielen wird, kann ich hier für meine Fraktion sagen: Wir gehen da technologieoffen ran. Wir wollen, dass die Klimaschutzziele erreicht werden. Aber auf welchem Wege das geschieht, das entscheiden in einer sozialen Marktwirtschaft Verbraucher und Unternehmen. Von daher werden wir als CDU/CSU-Fraktion auch in den nächsten Jahren auf soziale Marktwirtschaft, auf Investitionen in klimaneutrale Technologien, auf Wissenschaft und Forschung setzen. Das wird der richtige Weg sein, um Nachhaltigkeit zu erlangen und die Mobilität der Zukunft zu gestalten.
Herzlichen Dank.
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Der nächste Redner: für die Fraktion der AfD der Abgeordnete Marc Bernhard.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In meiner ersten Rede im Deutschen Bundestag am 21. November 2017 ging es darum, dass immer mehr Stahlkonzerne und andere Unternehmen ihre Produktion ins Ausland verlagern müssen, weil es immer schwieriger wird, wettbewerbsfähig in Deutschland zu produzieren. In ihrem Antrag hatte die SPD damals gefordert, die Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern.
Das ist jetzt fast vier Jahre her – vier Jahre, in denen Sie von der SPD mitregiert haben. Und was haben Sie tatsächlich getan, um die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland zu verhindern? Sie haben eine CO2-Steuer eingeführt; seitdem sind die Benzinpreise um 40 Cent pro Liter gestiegen.
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Sie haben dafür gesorgt, dass wir in Deutschland die höchsten Strompreise der Welt haben. Sie haben eine Hetzjagd auf deutsche Spitzentechnologien veranstaltet, die am Ende zu Dieselfahrverboten geführt hat.
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Mit dem Durchdrücken der schmutzigsten Antriebsart, nämlich dem Batterieauto, sind Sie gerade dabei, jeden zweiten Arbeitsplatz in der Automobilindustrie zu vernichten.
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Durch Ihr Klimagesetz werden die Kosten für eine durchschnittliche Wohnung in den nächsten Jahren um 200 Euro pro Monat steigen. Sie haben also tatsächlich alles, wirklich alles Menschenmögliche getan, um die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes zu zerstören.
Mit dem Green Deal setzen Sie dem Ganzen dann noch die Krone auf: Sie wollen im nationalen Alleingang – angeblich – die Welt retten und haben dazu in Paris ein Klimaabkommen unterschrieben, das allen Schwellen- und Entwicklungsländern – wie China und Indien, die zusammen mehr als 65 Prozent des menschengemachten CO2 ausstoßen – erlaubt, ihren CO2-Ausstoß bis 2030 unbegrenzt, also ohne jegliches Limit, weiter zu erhöhen,
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während wir – mit einem Anteil von gerade 1,8 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen – unseren Ausstoß bis 2030 um weitere 50 Prozent verringern sollen.
Zu was das führt, versteht nun wirklich jedes Kindergartenkind: Die Produktionsstandorte in Deutschland werden reihenweise geschlossen, die Mitarbeiter entlassen. In China wird die Produktion dann neu eröffnet, mit Mitarbeitern, die nur ein Viertel kosten. Im Endeffekt wird von dort aus genauso viel CO2 – oder noch viel mehr – in die Luft geblasen.
Genau dieses Verhalten zeigen viele Unternehmen, beispielsweise Daimler und BMW; sie haben bereits angekündigt, ihre Motoren in Zukunft nicht mehr in Deutschland, sondern in England oder China zu produzieren.
In vier Jahren Regierungszeit haben Sie also nichts hingekriegt, außer die Bürger weiter abzuzocken und dafür zu sorgen, dass noch mehr Arbeitsplätze abgebaut und ins Ausland verlagert werden. Sie haben Hunderte von Milliarden Euro ins Ausland verschenkt und Fahrverbote erlassen. Sie haben dafür gesorgt, dass sich unsere Wettbewerber auf dem Weltmarkt, wie China, über uns totlachen.
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Wenn der Rest der Welt nach Ihrem eigenen Klimaabkommen noch zehn Jahre Zeit hat, bevor diese Länder in irgendeiner Weise ihren CO2-Ausstoß einschränken müssen, dann sollten auch wir uns diese zehn Jahre nehmen und sie nutzen, um in neue Technologien wie synthetische Kraftstoffe und neue Kraftwerke zu investieren, statt in blinder Klimahysterie die Zukunft unserer Kinder zu zerstören.
Herzlichen Dank.
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Ich erteile das Wort – zu ihrer letzten Rede – der Kollegin Ulli Nissen, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich sehr, dass ich bei meiner allerletzten Rede als Umweltpolitikerin im Bundestag zu dem für meinen Frankfurter Wahlkreis wichtigen Thema „Verbesserung der Luftqualität“ reden darf.
Die Luft in deutschen Städten ist deutlich sauberer geworden. 2020 wurde der Grenzwert von 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel bundesweit nur noch an rund 4 Prozent der Messstationen überschritten. 2019 waren es noch 21 Prozent. Die Belastung ist damit deutlich zurückgegangen. Ursache ist weniger ein kurzfristiger Coronaeffekt, sondern die Fortsetzung eines Trends, den wir erfolgreich angestoßen haben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Im Jahr 2018 waren noch 57 Städte von der Überschreitung des Jahresmittelwerts betroffen, 2019 nur noch 25 Städte, 2020 weniger als 10.
Erfreulich ist auch die Entwicklung beim Feinstaub. Im Jahr 2020 hatten wir die geringste Belastung seit Beginn der Feinstaubmessungen Ende der 90er-Jahre. Wir haben zum zweiten Mal hintereinander alle Grenzwerte eingehalten.
Flottenerneuerungen und Softwareupdates tragen besonders zur Verringerung der Stickstoffdioxidbelastung bei. Zudem zeigen die Maßnahmen der Städte – beispielsweise Tempo-30-Zonen und die Nachrüstung von Bussen des ÖPNV – Wirkung.
Klar ist: Um den Anforderungen des Pariser Klimaschutzabkommens gerecht zu werden, muss der Verkehr in Deutschland seine Treibhausgasemissionen schnell und drastisch reduzieren. Bis 2045 wollen wir treibhausgasneutral werden.
Mit dem Klimaschutzgesetz und dem Kohleausstiegsgesetz haben wir Instrumente geschaffen, mit denen wir das Tempo jederzeit anziehen und Ziele verschärfen können.
Wir haben den Ausbau der E-Mobilität gefördert, unter anderem bei der Umrüstung des ÖPNV. In Frankfurt sind inzwischen 29 der insgesamt 406 Busse elektrisch betrieben. Dankenswerterweise hat sich der Bund bei uns in Frankfurt aktuell mit 7,81 Millionen Euro an den Mehrkosten beteiligt, die bei der Anschaffung der Elektrobusse im Vergleich zu Dieselbussen anfallen. Aber wir brauchen deutlich mehr als die E-Mobilität, um die Verkehrswende zu schaffen, auch für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung.
In Ziel 7 der SDGs, der Nachhaltigkeitsziele aus der Agenda 2030 der UNO, wird bezahlbare und saubere Energie gefordert. In Unterziel 7.2 wird gefordert, den Anteil erneuerbarer Energien am globalen Energiemix deutlich zu erhöhen.
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Die Koalition handelt entsprechend. Wir haben die Wasserstoffstrategie verabschiedet. Wasserstoff ist das Grundprodukt für synthetische Kraftstoffe oder Power-to-X-Technologien. Unser Zukunftspaket sieht 7 Milliarden Euro für den Markthochlauf von Wasserstofftechnologien in Deutschland und weitere rund 2 Milliarden Euro für internationale Patenschaften vor.
Aus unserer Sicht ist nur Wasserstoff, der auf Basis erneuerbarer Energien hergestellt wird, auf Dauer nachhaltig. Wir wollen für Grünen Wasserstoff einen zügigen Markthochlauf. Das neue Kompetenzzentrum PtX Lab Lausitz soll internationaler Anlaufpunkt für Grünen Wasserstoff und dessen Folgeprodukte werden; dafür stehen bis 2024 bis zu 180 Millionen Euro aus dem Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen zur Verfügung.
Wir wollen der Batterietechnik ebenso eine Chance geben wie den synthetischen Kraftstoffen – kurzum: Wir wollen eine wirkliche Technologieoffenheit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist meine letzte Legislatur. Schon gestern habe ich bei meiner Rede zum Thema „bezahlbares Wohnen“ meine Dankesworte geäußert. Es war für mich eine riesige Ehre, dass ich acht Jahre lang Mitglied des Deutschen Bundestags sein und in den Ausschüssen Bau sowie Umwelt an der Verbesserung der Situation der Menschen mitarbeiten durfte. Ihnen wünsche ich alles erdenklich Gute für die Zukunft, vor allem Gesundheit.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Kollegin Ulli Nissen, und alles Gute für Sie!
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Ich komme zurück zu Tagesordnungspunkt 19 a. Die Zeit für die namentliche Abstimmung ist gleich vorbei. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben.
In der laufenden Aussprache haben die Kollegen Lorenz Gösta Beutin, Dr. Bettina Hoffmann, Felix Schreiner, Dr. Karamba Diaby und die Kollegin Astrid Damerow ihre Reden zu Protokoll gegeben; vielen Dank dafür.
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Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute stimmen wir abermals über die Fortsetzung des Einsatzes der Bundeswehr zum Schutz und zur Stabilisierung des Libanon ab. Bis zu 300 Soldatinnen und Soldaten sollen dabei eingesetzt werden können.
Lassen Sie uns zunächst über den Libanon und ganz besonders über Beirut sprechen. Beirut war vormals als das Paris des Nahen Ostens bekannt. Auch heute ist diese Hafenstadt einer der aufgeklärtesten und konfessionell vielfältigsten Orte im arabischen Raum.
Massive politische Spannungen im Inneren jedoch stellen für den Libanon immer wieder harte, provokative Herausforderungen dar. Aber obwohl der Libanon gerade einmal 6 Millionen Einwohner/-innen zählt, hat das Land über 1 Million Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen – eine enorme Leistung, für die wir dankbar sein sollten, liebe Kolleginnen und Kollegen!
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Den Hilfeverweigerern von links und von rechts sage ich warnend, mit aller Deutlichkeit und mit großem Nachdruck: Unterlassene Hilfeleistung wird dem europäischen Kontinent zahlreiche Flüchtlinge bescheren; denn zwischen Beirut und Zypern liegt nur ein schmaler Streifen des Mittelmeers. Sie wollen dazu mehr wissen? Dann lesen Sie Chaza Charafeddines Buch „Beirut für wilde Mädchen“ – ein Zeugenbericht über den Libanon nach der Ermordung des Intellektuellen Lokman Slim.
Terrorbekämpfung, etwa mit Blick auf die schiitischen Hisbollah-Milizen und den IS, Korruptionsbekämpfung und Rechtsstaatlichkeit sind eminent wichtige Aufgaben für eine Regierung, deren Zustandekommen jedoch kaum gelingen will.
Hinzu kommen die verheerenden Folgen der Explosion in Beiruts Hafen vor zwei Jahren, mit zahlreichen Toten und Verletzten, darunter traurigerweise auch Beschäftigte unserer deutschen Botschaft.
Im Übrigen tragen auch die Folgen der Coronapandemie, mit deren Bewältigung sich der Libanon ganz besonders schwertut, zur Krise bei.
Es war daher für uns ein Akt selbstverständlicher Solidarität, dass die Bundeswehr ein medizinisches Erkundungsteam sowie die Korvette „Ludwigshafen am Rhein“ nach Beirut entsandte. Lassen Sie mich an dieser Stelle einen ganz großen Dank an unsere Soldatinnen und Soldaten richten, die vor Ort im Einsatz sind.
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Der Einsatz UNIFIL ist weitaus mehr als ein wichtiges politisches Symbol für unsere internationale Solidarität. Vermittelnde Trialoge zwischen Israel und Libanon sind bei UNIFIL ebenso wichtig wie die See- und Luftraumüberwachung, vor allem im Süden des Landes, was wiederum auch Israel zugutekommt.
Ferner handelt es sich bei UNIFIL um eine Ausbildungsmission, damit der Libanon seine eigenen Grenzen tatsächlich schützen kann. Mit der Korvette „Ludwigshafen am Rhein“ soll gewährleistet werden, dass humanitäre Hilfe tatsächlich die Menschen erreicht, die ihrer am dringendsten bedürfen. Es geht also um Hilfe zur Selbsthilfe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben vor einem Jahr dem UNIFIL-Mandat in diesem Hohen Hause mehrheitlich zugestimmt. Heute will ich Sie erneut bitten, Ihren Beitrag zu leisten, indem Sie diesem Mandat, einem eminent wichtigen Beitrag für Frieden und Sicherheit im Nahen und im Mittleren Osten, zustimmen.
Vielen Dank.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte sagen: zu meiner vorerst letzten Rede. Auch wenn meine Partei in ihrer Weisheit beschlossen hat, in der nächsten Legislatur auf mich verzichten zu wollen,
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werde ich der Politik sicher erhalten bleiben und meinen Dienst für Deutschland fortsetzen,
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wohin auch immer mich der liebe Herrgott stellen mag, vielleicht auch, eines Tages, wieder an dieser Stelle.
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Nun zum Mandat. Liest und hört man die offiziellen Aussagen von Regierung und militärischer Führung, ist die Mission UNIFIL ein toller und höchst erfolgreicher Einsatz. Betrachtet man aber objektiv die Sinnhaftigkeit des Einsatzes und die Aussicht auf Erfolg im Sinne dauerhaften Friedens zwischen Libanon und Israel oder auch nur umfängliche Erfüllung der weiteren Mandatsziele, legt man Maßstäbe an diesen Einsatz an – wie die Forderung nach einer klaren Strategie mit Zielvorstellungen, das Erreichen von Meilensteinen, die Messbarkeit der Erfolge, Exitstrategie, Risiko-Nutzen- oder auch Kosten-Nutzen-Rechnung, das Bewirken einer positiven Entwicklung vor Ort –, kommt man leider zu dem Ergebnis, dass unser Engagement dort nicht hilfreich ist.
Es muss aber unser Anspruch an Regierung und Parlament sein, sachliche und rationale Betrachtungen zur Grundlage für die Entscheidung zu machen, deutsche Soldaten in einen Auslandseinsatz zu schicken. Wenn die Regierung das nicht tut, sind solche Unternehmungen zum Scheitern verurteilt, wie wir jetzt an den traurigen Ergebnissen der Einsätze in Afghanistan oder Mali sehen.
Meine Aufforderung an diejenigen von Ihnen, die auch in der nächsten Legislatur wieder hier sein werden, und auch an die neuen Kollegen: Kommen Sie endlich wieder zu einer sachlichen und kompetenten Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zurück, die sich klar an deutschen Interessen orientiert, die nicht aus dem Bauch heraus gemacht wird, sondern mit Verstand und Herz – aber vor allem mit Verstand.
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Bevor wir weltweit unsere Streitkräfte in oft sinn- und nutzlose Einsätze entsenden, diese damit personell, finanziell und materiell überlasten, müssen wir erst einmal Ordnung im eigenen Haus schaffen. Stellen wir unsere Streitkräfte so auf, dass sie ein vollständiges Fähigkeitsprofil abbilden und die Landes- und Bündnisverteidigung vollumfänglich leisten können! Aus einer eigenen Position der Stärke heraus sind wir auch nicht Anhängsel der Interessen von anderen; dann sind wir Verhandlungspartner auf Augenhöhe und verlässliche Verbündete.
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Beschneiden wir uns nicht selbst, um dann den Mangel auf unsere Bündnispartner abzuwälzen! Die Verantwortung für die Sicherheit unserer Nation liegt in unseren Händen. Dort muss sie auch bleiben, und dieser Verantwortung müssen wir gerecht werden.
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Mein Dank gilt den Kollegen, die selbst unter Druck einen anständigen, kollegialen Umgang mit mir gepflegt haben. Dass Politik leider häufig nicht die besten Eigenschaften zutage fördert, musste ich hier oft erleben.
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Umso mehr habe ich mich über die Kollegen gefreut, die Anstand, Rückgrat und Charakter behalten haben. Bitte bewahren Sie sich das!
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Meine herzliche Bitte und Aufforderung an alle anderen: Kehren Sie zurück zu einem anständigen Umgang miteinander, auch im Parlament!
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Beenden Sie die Beförderung der gesellschaftlichen Spaltung durch die Politik! Denn Politik ist die Kunst des Kompromisses. Unsere Demokratie lebt vom Ausgleich der Interessen aller Deutschen, nicht von Einseitigkeit.
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Wir brauchen endlich wieder eine Debattenkultur als Austausch von Argumenten – ob in der Zivilgesellschaft oder hier im Parlament.
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Wenn die Mitte-links-Parteien es ernst meinen mit Pluralität, mit Toleranz, Freiheit und anderen Werten, müssen diese für alle gelten, dürfen nicht nur für das Eigene verlangt werden; denn solche Werte sind in einer freiheitlichen Gesellschaft universell. Alles andere ist Heuchelei.
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Und die brauchen wir nicht; denn es geht um eine Sache, die größer ist als Ideologien, größer als jeder von uns, und das ist unser liebes Deutschland.
Weil sie mit ihrem Dienst für den Erhalt all dessen sorgen, für das der große Begriff „Deutschland“ steht – für unsere Familien und Freunde, für das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes –, gilt mein aufrichtiger Dank allen Soldaten für ihren treuen Dienst.
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Ihnen wünsche ich allzeit Soldatenglück und dass Sie die politische und militärische Führung erhalten, die Sie verdienen. Es war mir eine Ehre, mich für Sie und die Sicherheit unseres Landes in der vergangenen Legislatur im Verteidigungsausschuss einsetzen zu dürfen.
Passend zu meiner Truppengattung und zum Mandat möchte ich mit dem schönen Leitspruch in der Marineschule Mürwik schließen:
Den Frieden zu wahren, gerüstet zum Streit, mit flatternden Fahnen, im eisernen Kleid, so tragt deutsche Schiffe, von Meere zu Meer, die Botschaft von Deutschland, den Frieden umher.
Aber bitte nur dort, wo es einen Sinn hat!
Leben Sie wohl!
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Danke. – Das Wort geht an Frank Steffel von der CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor allen Dingen: Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich am 2. Dezember 1990 als damals jüngster Abgeordneter in das erste freie Gesamtberliner Parlament gewählt wurde, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ich heute, im Juni 2021, um Mitternacht im Deutschen Bundestag eine Rede zu Auslandseinsätzen unserer deutschen Bundeswehr halten darf. Denn erstens hatte ich damals die naive Hoffnung, dass der gerade beendete Kalte Krieg dazu führt, dass vor uns ein friedliches Jahrhundert, ein friedliches Jahrtausend ohne militärische Auseinandersetzungen liegt. Zweitens habe ich mir aufgrund der historischen Ausgangslage des geeinten Deutschlands, wenige Wochen nachdem die Soldatinnen und Soldaten der Nationalen Volksarmee in die Bundeswehr übernommen wurden, nicht vorstellen können, dass deutsche Soldaten Auslandseinsätze – auch Friedensmissionen – weltweit durchführen könnten. Und drittens habe ich als leidenschaftlicher Unternehmer damals und bis heute Politik als Hobby verstanden und nie vermutet, einmal fast 31 Jahre parlamentarisch zu arbeiten. Im Teilzeitparlament in Berlin damals war das ohnehin noch einfacher möglich.
Es ist, wie Sie wissen, alles anders gekommen. Heute wird, wenn ich das recht überblicke, eine große Mehrheit von Bündnis 90/Die Grünen über die FDP und die SPD bis zur CDU/CSU die Verlängerung des Auslandseinsatzes in Libanon beschließen. Das heißt, wir werden uns weiterhin mit maximal 300 Soldatinnen und Soldaten an dem Friedenskontingent, das übrigens seit vielen Jahrzehnten 10 000 Soldaten umfasst, beteiligen. Wir werden versuchen, einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, dass in dieser schwierigen Region Seerechte gelten und Waffenschmuggel weiter zurückgedrängt wird.
Ich selbst wurde zehnmal direkt in ein Parlament gewählt, davon dreimal in den Deutschen Bundestag. In einer Großstadt wie Berlin dreimal mit dem besten Ergebnis aller Wahlkreisbewerber gewählt zu werden, ist für einen CDU-Bewerber nicht die Regel.
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Insofern möchte ich natürlich kurz Dank sagen.
Da mir meine Unabhängigkeit in der Politik immer wichtig war – sowohl die persönliche als auch die wirtschaftliche –, möchte ich meiner Partei Dank sagen, die immer verstanden hat, dass jemand, der auch ein Leben außerhalb der Politik führt, nicht das gleiche Zeitkontingent hat wie Rentnerinnen und Rentner oder Studierende.
Ich möchte auch meinen Wählerinnen und Wählern Dank sagen. Ich hatte den Eindruck, das Gefühl, dass viele mich nicht trotz, sondern gerade wegen meiner unternehmerischen Unabhängigkeit gewählt haben. Gestatten Sie mir, dass ich das mit einem Appell verbinde: Ich habe den Eindruck, dass der Zugang zu Parteien, zur Politik und zu Parlamenten für Menschen, die wirtschaftlich ein Leben außerhalb der Politik führen, eher schwieriger geworden ist. Wir sollten darauf achten, dass diese Menschen auch in Zukunft hier im Parlament ihren Platz finden.
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Ich möchte mich abschließend sehr herzlich bei den Kolleginnen und Kollegen bedanken, die ich hier kennenlernen durfte. Wenn ich das ganz menschlich sagen darf: Mich haben die Kollegialität und der sachlich wirklich anregende und außergewöhnlich respektvolle Austausch hier positiv überrascht. Das sollte vielleicht auch die Generation nach uns motivieren, sich in den sozialen Netzwerken etwas anders zu artikulieren, als ich das oft erlebe. Mir macht das Sorge, und ich möchte Ihnen dafür danken, dass Sie mir Anregungen gegeben haben und wir so respektvoll miteinander umgegangen sind. Mir hat das große Freude bereitet.
Ich wünsche allen, die wieder kandidieren, Freude und Spaß im Bundestagswahlkampf. Meinen Kollegen von meiner Fraktion wünsche ich neben Spaß und Freude natürlich vor allen Dingen auch Erfolg.
Da ich, wie Sie wissen, in Berlin lebe, freue ich mich auf ein Wiedersehen mit Ihnen allen.
Herzlichen Dank.
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Lieber Kollege Steffel, das Präsidium bedankt sich im Namen des Hohen Hauses für die jahrelange sehr gute Zusammenarbeit, wünscht Ihnen beruflich viel Erfolg und im persönlichen Leben alles Gute.
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Das Wort geht an Alexander Kulitz von der FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Vielen herzlichen Dank an den Kollegen Steffel für die vielen Jahre, die er diesem Hohen Haus gedient hat. Ich glaube auch, es ist durchaus wichtig, dass Abgeordnete, Mandatsträger, wie wir es alle sind, nicht nur aus der Politik kommen, sondern durchaus auch Erwerbsbiografien außerhalb dieses Hohen Hauses haben. Deswegen ist es immer sehr bedauerlich, wenn solche Kollegen das Parlament verlassen.
Ja, Sie haben ganz zu Recht gesagt, dass auch die FDP dem Antrag zu diesem Tagesordnungspunkt heute zustimmen wird. Es ist zwingend, dass wir im Gegensatz zur AfD anerkennen, dass Deutschland noch weit mehr Verantwortung hat, als nur die Vereinten Nationen beim Militäreinsatz UNIFIL, bei dieser wichtigen Blauhelmmission, zu unterstützen. Die Verantwortung liegt nämlich gerade in unserer Geschichte begründet. Diese hat gezeigt, dass wir uns grundsätzlich verpflichtet fühlen sollten, in der internationalen Gemeinschaft mitzuwirken. Und was ist mehr Ausdruck davon als ein VN-Einsatz?
Die Vereinten Nationen, die internationale Gemeinschaft, haben sich dafür entschieden, in einer ganz schwer gebeutelten Region, insbesondere im Libanon, für Frieden zu sorgen und dafür zu sorgen, dass dem Waffenschmuggel Einhalt geboten wird.
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Wir haben doch in den letzten Wochen und Monaten erlebt, wie instabil die gesamte Region ist, und das betrifft auch den Libanon. Der Libanon ist quasi pleite, und das seit vielen Jahren.
Ich glaube, hier muss im 21. Jahrhundert auch über eine neue Politik nachgedacht werden. Verteidigungs- und Sicherheitspolitik alleine werden nicht mehr ausreichen. Wir müssen grundsätzlich darüber nachdenken, dass in solchen Ländern eigentlich nur das Prosperitätsversprechen dazu führen kann, dass Stabilität und Sicherheit auf Dauer gewährleistet werden. Dazu braucht es mehr als nur Sicherheitspolitik. Dazu müssen wir Sicherheitspolitik, wirtschaftliche Zusammenarbeit und auch Diplomatie zusammen denken. Vielleicht ist das ein Appell, den ich hier in meiner letzten Rede diesem Haus noch mitgeben kann, nämlich in der Zukunft vermehrt einen vernetzten Ansatz – auch in der Sicherheitspolitik – zu denken. Das würde ich mir persönlich zumindest sehr wünschen.
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Als Liberaler möchte ich dazusagen: Politik ist kein Selbstzweck. Politik macht dann Sinn, wenn wir Mehrwerte für die Menschen, für die Bevölkerung, für unseren Souverän schaffen. Eines ist klar: Weder Sicherheit noch Prosperität lassen sich per Gesetz vorgeben. Also müssen wir, egal wann und wo, immer auch auf die Betroffenen hören und mit den Bürgern ins Gespräch kommen.
Deswegen möchte ich mich hier auch bei all den Kollegen bedanken – bei Christian Sauter, den ich hier sehe, aber auch bei Agnes Strack-Zimmermann und fraktionsübergreifend –, die gerade bei UNIFIL regelmäßig ins Gespräch mit den Betroffenen und den Soldaten vor Ort gehen, den Soldaten, die sich tagtäglich für unser Land aufopfern und vor Ort im Einsatz sind. Dafür bedanke ich mich ganz herzlich.
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Ich plädiere hier noch mal dafür, dass wir als Abgeordnete – das kam heute auch schon mehrfach zum Tragen – nicht von uns glauben, wir hier in Berlin würden die Weisheit besitzen. Nein, wir müssen mit den Fachleuten, mit den Betroffenen, mit den Bürgern ins Gespräch gehen; denn nur dann machen wir Politik für dieses Land, und nur dann können wir als Mandatsträger, die wir vom Souverän gewählt worden sind, konsistente Politik machen.
Ich möchte mich ganz herzlich bedanken, Frau Präsidentin, dass ich Teil dieses Hohen Hauses sein durfte. Es war mir eine große Ehre, eine große Freude. Bedanken möchte ich mich auch für die Freundschaften, die ich in diesem Haus überfraktionell erfahren habe, und für die Zeit, die ich hier war. Es war mir eine große Ehre.
Dabei möchte ich es belassen. Ich wünsche diesem Hohen Haus auch in Zukunft das Beste, damit wir für Deutschland alles erreichen und Prosperität wahren sowie weiterhin für Eigenverantwortung und Selbstbestimmung der Menschen kämpfen können.
Herzlichen Dank.
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Herzlichen Dank auch Ihnen, lieber Kollege Kulitz, für die jahrelange gute Zusammenarbeit hier im Hohen Hause. Das Präsidium wünscht Ihnen viel Erfolg in Ihrer beruflichen Weiterentwicklung und persönlich selbstverständlich nur das Beste. Alles Gute!
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Als Nächstes geht das Wort an Kathrin Vogler von der Fraktion Die Linke.
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Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung möchte heute das Mandat für den Bundeswehreinsatz im Libanon im Rahmen der UN-Mission UNIFIL verlängern. Die Mission hat seit 1978, also seit 43 Jahren, die Aufgabe, entlang der libanesisch-israelischen Grenzlinie sowie in den Küstengewässern zu patrouillieren und die libanesische Armee auszubilden, damit sie irgendwann selbst in der Lage sein könnte, diese Aufgaben wahrzunehmen.
Heute, im Jahr 2021, klingt das mehr denn je wie eine sehr ferne Utopie. Der Libanon, einst ein wichtiger Finanz- und Handelsplatz im Nahen Osten, steht heute vor dem totalen Kollaps. Im August 2020 ist die Regierung nach der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut, die Hunderttausende obdachlos gemacht hat und die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen des Landes zerstörte, zurückgetreten, und es wurde noch keine neue gebildet.
Das Land ist quasi bankrott. Das libanesische Pfund hat ungefähr 90 Prozent seines Wertes eingebüßt, die Arbeitslosigkeit liegt bei 40 Prozent, die Inflation bei 150 Prozent. Es gibt quasi keinen Treibstoff mehr und nur sehr selten Strom. Es mangelt an Lebensmitteln und Medikamenten. Die Schulen und das Gesundheitssystem sind quasi pleite.
Die Menschen sind wütend und erschöpft, weil sie ihr tägliches Überleben nicht mehr sichern können, und infolgedessen kam es am 17. Juni 2021 zu einem landesweiten Generalstreik gegen die korrupten und unfähigen Eliten, die sich selbst bereichern und das Land im Chaos versinken lassen. Da sage ich Ihnen hier, meine Damen und Herren – ich war selber ein paarmal im Libanon –: Was der Libanon dringend braucht, sind internationale Hilfe für die Grundbedürfnisse der Bevölkerung und Unterstützung für die Zivilgesellschaft, die sich gegen diese unhaltbaren Zustände auflehnt.
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Unsere Bundesregierung legt den Schwerpunkt aber weiter auf die Ertüchtigung des Militärs. Im März haben Sie mithilfe der Bundeswehr begonnen, einen zerstörten Marinestützpunkt im Hafen von Beirut wieder aufzubauen – für 2,3 Millionen Euro. Vom Wiederaufbau zerstörter Wohnungen für die Bevölkerung ist nichts zu hören. Im Mai hat die Bundeswehr 5 270 Einmannpackungen mit Lebensmitteln an die libanesischen Militärs gespendet, und letzte Woche beschloss eine internationale Geberkonferenz Millionenhilfen für Grundnahrungsmittel, Medikamente und Ersatzteile – für die Armee. Da muss man sich doch fragen: Und was ist mit der Bevölkerung?
Die Linke fordert dringend eine zivile und humanitäre Politik, um den Libanon politisch, wirtschaftlich und sozial zu stabilisieren.
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Deshalb werden wir auch diesmal der Verlängerung des UNIFIL-Mandats nicht zustimmen.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an Bündnis 90/Die Grünen mit Dr. Tobias Lindner.
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Vielen Dank. – Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen hier über einen der ältesten friedenserhaltenden Einsätze der Vereinten Nationen. Seit 1978 leisten Blauhelmsoldatinnen und ‑soldaten ihren Einsatz in der Region, um einen Frieden zwischen Israel und dem Libanon wenigstens zu ermöglichen, Streitkräfte auszubilden und dafür zu sorgen, dass das Waffenembargo eingehalten wird. Natürlich kann man nach so einer langen Zeit, nach 43 Jahren, die Frage stellen: Hat sich so ein Mandat nicht überholt?
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Ich kann für meine Fraktion – ich glaube, für die meisten Fraktionen in diesem Hohen Haus – feststellen: Leider nein. Dieses Mandat UNIFIL ist nötiger denn je.
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Das sieht man nicht nur an den Folgen der schrecklichen Explosion im Hafen von Beirut. Das sehen wir auch in diesen Tagen, in denen der Libanon durch einen Generalstreik gelähmt ist und wir konstatieren müssen, dass das ohnehin fragile Gebilde, das Staatssystem des Libanon, diese fragile Balance aus Schiiten, Sunniten und Christen, mehr und mehr ins Wanken gerät. Da müssen wir feststellen: Wenn wir in dieser Situation UNIFIL beenden würden, dann würde das die Situation in der Region nicht stabiler machen. – Und wir müssen anerkennen: Das Engagement der Bundeswehr, unserer Soldatinnen und Soldaten, ist von beiden Konfliktparteien im Nahen Osten gewünscht. Auch das sollte uns ein Zeichen sein, wenn wir heute hier über die Verlängerung dieses Mandats abstimmen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist voraussichtlich die letzte Mandatsdebatte, die wir in dieser Legislaturperiode führen. Lassen Sie mich deswegen sagen: Wir haben den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr als Parlamentarier in den vergangenen vier Jahren sicherlich einiges aufgebürdet, wir haben ihnen einiges abverlangt. Ihnen gebührt unser Dank für ihre treue Pflichterfüllung, dafür, dass sie die Aufträge, die wir als Parlament ihnen mit den Auslandseinsätzen geben, treu erfüllen. Natürlich muss uns dies auch Mahnung sein, was Fürsorge betrifft, dass wir ihnen die Ausstattung, die sie benötigen, und den erforderlichen Schutz zuteilwerden lassen, damit sie diese Aufträge, die wir ihnen geben, auch erfüllen können.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, UNIFIL allein wird die Probleme in der Region nicht lösen können. UNIFIL allein wird keinen Frieden zwischen Israel und dem Libanon schaffen können, der dauerhaft ist. UNIFIL allein wird auch nicht den Waffenschmuggel in den Libanon, der auf dem Landweg stattfindet, irgendwie zum Stoppen bringen können. Aber wir müssen uns klarmachen: UNIFIL ist nach wie vor ein essenzieller Baustein, wenn es darum geht, zu einer solchen Friedenslösung in der Region zu kommen. – Und deswegen unterstützt meine Fraktion die Verlängerung dieses Mandats.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächstes geht das Wort an Dr. Joe Weingarten von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Heute befassen wir uns erneut mit einer Krisenregion am Mittelmeer, auch wenn sie im öffentlichen Bewusstsein nicht so präsent ist wie die Krisenregionen Syrien oder Libyen, nämlich dem Libanon, der seit Jahrzehnten ein Konfliktherd, Schauplatz mehrfacher Kriege und ein Ort unendlichen Leids der libanesischen Zivilbevölkerung und von anderthalb Millionen Flüchtlingen ist.
Es ist eine Tragödie, was aus diesem Land geworden ist, das einst ein Modell des Ausgleichs zwischen Religionen und Bevölkerungsgruppen im Nahen Osten zu sein schien. Der Libanon ist heute ein Symbol dafür, wie rücksichtslos große und kleine Mächte ein Land zerstören können, wenn es nur ihren eigenen Interessen dient. Und es ist eine weitere Tragödie, dass die Weltgemeinschaft kaum etwas tut oder tun kann, um dieses Land und seine Menschen wirklich effektiv zu schützen. Der Libanon ist ein Beleg für die Bereitschaft der Vereinten Nationen, Konflikte zu lösen, und gleichzeitig ein schlimmes Beispiel für die Begrenztheit ihrer Fähigkeiten, das wirklich effektiv zu tun.
Aktuell erlebt das kleine Mittelmeerland erneut schwere Krisen – wirtschaftlich, sozial und politisch. Der Verfall seiner Währung schwächt das Land weiter, ein wirtschaftlicher Aufbau ist kaum möglich. Zugleich belegen die Angriffe aus dem Libanon auf Israel, wie das Land weiter als militärisches Operationsgebiet terroristischer Organisationen genutzt wird.
Auch wenn die Aufgabe schwer lösbar erscheint, dürfen wir die Menschen dort dennoch nicht im Stich lassen. Deshalb ist es richtig, dass die Bundeswehr weiter Teil der UN-Mission UNIFIL bleibt. Denn auch wenn sie die Krise nicht vollständig bewältigen kann, sorgt die internationale Gemeinschaft doch dafür, dass die Lage nicht vollends außer Kontrolle gerät.
Die seit 2006 andauernde UN-Mission unterstützt den Libanon und damit die ganze Region dabei, eine rudimentäre Stabilität aufrechtzuerhalten. Die UN-Mission kann aber weder die innerlibanesischen Konflikte lösen noch die Kämpfe der Hisbollah-Miliz und anderer Milizen im Libanon dauerhaft beenden.
Über unsere Hilfe hinaus muss deshalb deutlich werden: Wenn der Libanon Frieden finden soll, muss das auch von den örtlichen politischen Gruppierungen gewollt und unterstützt werden. Das Land braucht endlich eine handlungsfähige Regierung. Das liegt nicht in der Verantwortung der internationalen Staatengemeinschaft. Anderes schon: Sicherheit im Seeraum vor der libanesischen Küste und zwischen dem Litani und der Blauen Linie zwischen Israel und dem Libanon zu organisieren, die Luftraumüberwachung sicherzustellen, Waffenschmuggel zu verhindern und Konflikte zwischen der Hisbollah und Israel zu schlichten, sind internationale Aufgaben. Niemand außer der UNIFIL-Truppe kann das.
In diesem Rahmen erfüllen die durchschnittlich 150 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr inklusive der im Moment eingesetzten Korvette „Magdeburg“ und der Korvette „Braunschweig“, die sie ablöst, dort eine Aufgabe, für die wir alle ihnen dankbar sein dürfen.
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Und doch ist es für uns keine Routine, den UNIFIL-Einsatz zu verlängern. Wir müssen abwägen zwischen Gefahren und Verantwortung, zwischen Nichteinmischung und Schutz. Die SPD-Bundestagsfraktion ist nach dieser Abwägung der festen Überzeugung, dass es die richtige und vernünftige Entscheidung ist, diese UN-Mission weiterhin zu unterstützen und die Beteiligung der Bundeswehr daran mit einer Stärke von bis zu 300 Soldatinnen und Soldaten bis 30. Juni 2022 zu verlängern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach der Bundestagswahl werden zum Teil andere Kolleginnen und Kollegen Verantwortung für die Bundeswehrmissionen hier im Deutschen Bundestag übernehmen. Ich hoffe, dass auch sie mit großer Mehrheit zu unserer internationalen Verantwortung, zu unserer Landesverteidigung, aber auch zur militärischen Solidarität mit den Teilen der Welt stehen, die das zu Recht von uns verlangen.
In diesem Sinn bitte ich heute um eine breite Unterstützung des Antrages der Bundesregierung auf Verlängerung des UNIFIL-Mandates.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank. – Die Kollegen Jürgen Hardt und Thomas Erndl von der CDU/CSU-Fraktion geben ihre Reden zu Protokoll.
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Ich schließe damit die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Faire Verbraucherverträge“ steht auf der Verpackung dieses Gesetzes, und ich fürchte, es ist eine Mogelpackung. Der prätentiöse Titel dieses Gesetzes lässt vermuten, es handelt sich um eine umfassende Regelung des Rechts der Verbraucherverträge. Davon kann aber keine Rede sein. Es sind zwei, drei sicherlich wichtige, aber eben doch Einzelmaterien, die hier geregelt werden.
Nicht von ungefähr hat in der Anhörung dazu der Sachverständige Schmidt-Kessel wortwörtlich gesagt – ich zitiere ihn –:
Das Gesetz steht so in der Tradition … aufgeblasener Gesetzesbezeichnungen, die sich zwar politisch erklären, jedoch nicht als gute Legistik rechtfertigen lassen.
Der Kollege von Notz aus der Fraktion der Grünen hat das kürzlich noch ein bisschen griffiger dargestellt, als er an die Adresse der Justizministerin gerichtet sagte: Sie geben Ihren Gesetzen „beknackte Namen“. – Da ist was dran; zumindest in diesem Punkt hat er mal recht.
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Wenn wir uns die Einzelheiten der Regelungen anschauen – ich will nicht in die allgemeine Analyse gehen, sondern nur zwei, drei Dinge herausgreifen –, dann sehen wir da zunächst mal die sehr problematische Regelung der Laufzeiten der Verträge. Sie ist extrem kompliziert und nicht praxistauglich. Das bedarf unbedingt einer weiteren Veränderung und Verbesserung. Diese Regelung wirkt derart abschreckend, dass sich kaum jemand darauf stützen dürfte. Faktisch bleibt auch die Laufzeit von zwei Jahren erhalten; das hätte nicht mehr der Fall sein dürfen. Nehmen Sie etwa Telefonverträge: Die technischen Änderungen gehen so schnell, dass eine Laufzeitbindung von zwei Jahren für die Kunden nicht angemessen ist. Da würde schon der Markt selbst zu einer besseren Regelung führen.
Das Zurückdrängen der Telefonwerbung ist als Ziel unbedingt zu begrüßen. Es wird in diesem Raum kaum jemanden geben, der sich nicht regelmäßig darüber ärgert, dass er zum Zweck des Abschlusses von irgendwelchen Verträgen angerufen wird. Es ist sinnvoll, dass die Einwilligung des Verbrauchers und auch das Vorhalten von Dokumentationen darüber vorausgesetzt werden. Ich fürchte aber, es wird vonseiten der Anbieter sehr viele Ausreden geben, die man sich leicht ausdenken kann und die das Ganze dann weniger wirksam machen werden.
Nicht zu verstehen ist auch, warum die Regelungen nur für Energielieferverträge gelten sollen. Bei den Beratungsstellen, etwa der Verbraucherzentralen, ist festzustellen, dass im Vordergrund eben nicht die Energielieferverträge stehen, sondern die Telefonverträge. Warum überhaupt diese Einschränkung? Das wird nicht näher begründet, und es ist nicht nachzuvollziehen.
Bei dieser meiner letzten Rede im Deutschen Bundestag erlaube ich mir noch ein kurzes Wort zum Schluss – ich liefere Ihnen keinen tränenreichen Abschied, keine Sorge! –: Ich wünsche dem Deutschen Bundestag viele Reformen, an Haupt und Gliedern. Aber in dieser bescheidenen und späten Stunde begnüge ich mich auch mit einem bescheidenen Wunsch: Schön wäre es schon, wenn der Bundestag es schaffen würde, wenigstens die Aufschriften seiner Gesetze in bessere Übereinstimmung mit ihren Inhalten zu bringen.
Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen alles Gute.
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Vielen Dank, lieber Professor Dr. Maier. Auch wir bedanken uns bei Ihnen für die Zusammenarbeit, und wir wünschen Ihnen persönlich alles Gute!
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Im internationalen E‑Government-Vergleich liegt Deutschland abgeschlagen auf Platz 25, auf europäischer Ebene lediglich im Mittelfeld. Laut dem sogenannten E‑Government Development Index des United Nations Department of Economic and Social Affairs ist die Entwicklung in Deutschland sogar rückläufig. Das ist bedauerlich; denn E-Government bedeutet nicht nur mehr Transparenz, sondern auch weniger Verbrauch von Steuergeldern, und beides, meine Damen und Herren, ist gut für die Bürger in Deutschland.
Transparenz ist aber nicht alles. Gerade hier in Deutschland besteht ein besonderes Bedürfnis nach Datenschutz – als Abwehr gegenüber einem übergriffigen Staat und gegenüber Staaten, die deutsches Know-how abgreifen und es ihrer eigenen Wirtschaft in die Hände spielen wollen. Transparenz und Datenschutz stehen daher in einem besonderen Spannungsverhältnis zueinander.
Dabei muss Maßstab für die Abwägung stets das Wohl des Bürgers, nicht aber die Bequemlichkeit des Staates sein; denn öffentliche Daten gehören den Bürgern, und damit haben sie auch einen Anspruch auf Zugang. Im Licht der letzten 15 Monate kann man nicht häufig genug daran erinnern, dass der Staat für die Bürger da ist, dass der Staat Dienstleister am Bürger ist und nicht umgekehrt.
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Die vorliegende Novelle des E-Government-Gesetzes, verbunden mit der Einführung des Datennutzungsgesetzes, geht aus Sicht meiner Fraktion, der AfD-Fraktion, in die richtige Richtung. Die Ausweitung der Pflicht zur Veröffentlichung von Daten auf Gebietskörperschaften und Hochschulen sowie auf öffentliche Unternehmen der Daseinsfürsorge schafft Transparenz für Bürger und für Unternehmen.
Aber Öffentlichkeit ist nicht gleich Öffentlichkeit. Man muss die Frage stellen, inwieweit mit deutschen Steuergeldern finanzierte Forschungsergebnisse von Forschungsinstituten oder Geschäftsgeheimnisse von staatlichen Unternehmen der weltweiten Konkurrenz preisgegeben werden sollen. Sollte es nicht auch ein auf die deutsche Öffentlichkeit beschränktes geistiges Eigentum geben? Deutschland darf nicht zur geistigen Melkkuh Chinas oder Amerikas werden!
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Und hier, meine Damen und Herren, finden wir, dass die bisherigen Absichtserklärungen im Gesetz nicht ausreichen. Das Gesetz müsste deshalb hier nachgeschärft werden.
Es ist, wie immer, noch schwierig, vorherzusagen, inwieweit Systeme mit künstlicher Intelligenz in die intimsten Bereiche der Bürger vordringen werden. Wir müssen aufpassen, dass die Ausweitung der Datenveröffentlichung das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Bürger nicht verletzt, zum Beispiel dadurch, dass sich anonymisierte Daten durch den Einsatz von KI wieder einzelnen Personen zuordnen lassen, analog dem Prinzip der Rasterfahndung. Auch hier findet das Gesetz nach unserer Ansicht noch zu wenig Antworten.
Nach gründlicher Abwägung werden wir dem Gesetzentwurf und der Beschlussvorlage zustimmen, überwiegen die Fortschritte doch die Gefahren – verbunden aber, meine Damen und Herren, mit der Erwartung, dass hier noch einmal nachgelegt werden muss.
Vielen Dank.
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Danke. – Die Kolleginnen und Kollegen Mohrs, Höferlin, Domscheit-Berg, von Notz, Wendt, Korkmaz-Emre und Knoerig geben ihre Reden zu Protokoll.
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Ich schließe damit die Aussprache.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauende und Zuhörende! Dies ist meine letzte Rede als gewählte Volksvertreterin des wunderschönen Wahlkreises Berlin-Tempelhof-Schöneberg.
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Ich freue mich sehr, dass wir heute über das für uns so wichtige Thema Mieten sprechen. Denn Deutschland ist überwiegend ein Mieter/‑innenland, Tempelhof-Schöneberg auf jeden Fall. Deshalb freut es mich, der Mehrheit der Bevölkerung sagen zu können: Dank der SPD-Fraktion stärken wir mit dem Gesetz zur Reform des Mietspiegels Ihre Rechte
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und damit auch Ihre Sicherheit, im eigenen Zuhause bleiben zu können.
Mit der Einführung der Mietspiegelpflicht für Gemeinden mit über 50 000 Einwohnerinnen und Einwohnern können die rasant steigenden Mieten endlich gestoppt werden. Jetzt ist Schluss damit, dass in Städten, in denen die Mietpreisbremse gelten könnte, kein Mietspiegel existiert. Der Mietspiegel ist ein wichtiges Instrument zur Abbildung der ortsüblichen Vergleichsmiete, ist Anknüpfungspunkt für die Regulierung der Miethöhe bei Wiedervermietung, und er begrenzt die zulässige Mieterhöhung. Ein Mietspiegel ist also wichtig für ein soziales Mietensystem und für die Inanspruchnahme der Rechte von Mieterinnen und Mietern.
Wir wollten keinen Larifarimietspiegel, er muss wissenschaftlich qualifiziert erstellt werden. Das erleichtert den Mieterinnen und Mietern die Wahrnehmung ihrer Rechte; denn sie müssen in Zukunft nicht mehr beweisen, dass der Mietspiegel qualifiziert ist.
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Aber, liebe Mieterinnen und Mieter, es braucht eine starke SPD, es braucht eine starke SPD-Bundestagsfraktion, damit Ihre Rechte auf ein bezahlbares, ein barrierefreies Zuhause, in dem Sie sich sicher fühlen, auch Wirklichkeit bleiben.
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Weil die Union sich einseitig auf die Seite der Immobilienkonzerne geschlagen hat, bleibt in der nächsten Legislatur noch viel zu tun, zum Beispiel die Einführung eines bundesweiten Mietenmoratoriums.
Das Bundesverfassungsgericht hat zum Berliner Mietendeckel gesagt, dass der Bund die Verantwortung für eine solche Gesetzgebung trägt. Die Union wollte das nicht. Ich hoffe also auf kompetente Nachfolger/‑innen; denn es kann nicht sein, dass wir hier keine Mietpreisbremsen haben.
Verweigert haben sich CDU und CSU auch einer Erschwernis der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen. Wir alle wissen, wie viel hier gelogen und getrickst wird, nämlich dass sich die Balken biegen.
Eines finde ich wirklich ärgerlich: Es gab eine Einigung innerhalb der Koalition zur hälftigen Aufteilung des CO2-Preises. Und was geschah? CDU und CSU haben ihre Zusage widerrufen und sich weggeduckt – einfach nur, weil Immobilienlobbyisten ihre nächsten Freunde sind.
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Ich danke den Tempelhof-Schöneberger/‑innen, dass sie es mir mit ihrer Erst- und Zweitstimme für die SPD ermöglicht haben, mich um ihre Belange und Interessen kümmern zu dürfen: in der Gesundheit, in der Pflege, beim Betreuungsrecht, in der Gleichstellung, beim Kampf gegen Gewalt gegen Frauen – kurzum: für einen gerechten und solidarischen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Ich danke meiner Fraktion, der SPD-Fraktion, und der parlamentarischen Linken für Solidarität und rege Debatten für einen starken, handlungsfähigen und geschlechtergerechten Sozialstaat.
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Ich danke allen meinen Mitarbeiter/‑innen aus vier Legislaturperioden. Wir waren gute Teams für eine bunte, solidarische, freie und gleichgestellte Gesellschaft.
Und selbstverständlich danke ich Ihnen als Kolleginnen und Kollegen, zumindest bis vor die Reihen der AfD. Vor allen Dingen aber danke ich den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in diesem Hause, die mir das Leben doch manchmal sehr erleichtert haben.
Natürlich überlegt man sich: Wie endet man jetzt? – Viele hatten schon fantasievolle Abgänge. Ich aber sage eines: Bekämpfen wir den Antifeminismus von Rechtsextremen, und verbessern wir viele andere Momente! In freier Anlehnung an Claire Waldoff:
Raus mit den Männern aus dem Reichstag, und raus mit den Männern aus dem Landtag, und raus mit den Männern aus dem Herrenhaus, wir machen draus ein Frauenhaus!
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Die Aufforderung „und rein in die Dinger mit der Frau!“ gilt auch heute noch.
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Denn eines ist klar: Wer kein paritätisches Parlament zustande bringt, versündigt sich an einer geschlechtergerechten Demokratie. In dem Sinne: Es war mir eine Ehre, „Der Bevölkerung“ dienen zu dürfen.
Glückauf für eine starke SPD!
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Vielen Dank, liebe Mechthild Rawert. Wir wünschen dir/Ihnen alles Gute für die Zukunft.
Wir gehen weiter in der Reihenfolge mit Jens Maier von der AfD-Fraktion.
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Guten Morgen, Frau Präsidentin!
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Meine Damen und Herren! Ich will Sie gleich enttäuschen: Das wird voraussichtlich nicht meine letzte Rede sein.
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Am Beispiel des Wohnraummietrechts kann man sehen, was uns in der nächsten Legislatur bevorsteht, wenn das, was sich hier schon seit Längerem andeutet, Wirklichkeit wird, nämlich dass die CDU mit den grün angestrichenen Kommunisten eine Koalitionsregierung bildet.
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Wie soll das gehen? Wie soll man da zu einem Kompromiss kommen? Wie wollen Sie von der Union das schaffen, wenn – das wurde im Ausschuss deutlich – die Grünen bei der Gestaltung des Mietrechts die Denke von Frau Bayram aus Berlin-Friedrichshain, möglichst noch die Denke der Wähler von Frau Bayram – das sind die Hausbesetzer aus der Rigaer Straße –, den Reformbestrebungen zugrunde legen?
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Da kann doch nur ein Chaos herauskommen.
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Da werden viele Konservative ein weiteres Mal sagen müssen: Wer hat uns verraten? – Christdemokraten.
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Die Grünen und die Linken haben über die gesamte Legislatur hinweg immer wieder mit handwerklich schlechten, populistischen Anträgen versucht, den Leuten da draußen weiszumachen, sie würden sich für die Mieter einsetzen, sie würden, wenn sie an der Regierung wären, bezahlbaren Wohnraum schaffen. Hier in Berlin, also da, wo diese Leute tatsächlich – leider – etwas zu sagen haben,
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hat man gesehen, was dabei herauskommt, nämlich gar nichts. „Mietpreisbremse“, „Mietendeckel“, das sind nur populistische Schlagworte, die nicht halten, was sie versprechen. Ein erweiterter Kündigungsschutz usw. führt zum Gegenteil dessen, was man erreichen will; das sind Irrwege.
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Wenn wir uns nun den vorliegenden Regierungsentwurf zur Reform des Mietspiegelrechts ansehen, fällt auf, dass auch hier zunächst die linke Denke Eingang gefunden hatte. Der Mietpreisspiegel soll Auskunft über die aktuellen Mietpreise liefern. Ob diese nun als günstig oder teuer anzusehen sind, spielt dabei keine Rolle. Wie soll dieses Ziel aber erreicht werden, wenn man die Geltungsdauer des Mietspiegels von zwei auf drei Jahre heraufsetzt und dadurch die Entkopplung von der tatsächlichen Marktlage erhöht?
Zum Glück wurde die ursprünglich geplante Erhöhung auf drei Jahre durch den Änderungsantrag wieder zurückgenommen. So weit, so gut. Aber trotzdem ist diese gesetzliche Lösung nicht zustimmungsfähig. Wir lehnen den nun kommenden enormen bürokratischen Aufwand und die Belastung der Mietvertragsparteien mit weiteren bußgeldbewehrten Auskunftspflichten zu den Mietverhältnissen ab. Durch das Drangsalieren der Mieter und Vermieter wird die Situation auf dem Mietmarkt nicht verbessert.
Das, was verbessert werden kann, haben wir in unserem eigenen Gesetzentwurf zusammengefasst. Wir sagen: Mieter sollen das Recht erhalten, auch ordentliche Kündigungen abzuwenden, wenn sie vor dem Ablauf von zwei Monaten nach Eintritt der Rechtshängigkeit des Räumungsanspruchs ihren Zahlungsverpflichtungen nachträglich nachkommen.
Eine derartige Regelung einer Schonfristzahlung existiert momentan nur für Fälle von außerordentlichen Kündigungen. Wenn ich durch eine nachträgliche Zahlung eine außerordentliche Kündigung abwenden kann, dann muss dieses Argumentum a fortiori, also erst recht, für die ordentliche Kündigung gelten. Wer zurück in die Redlichkeit gefunden hat und seine ausstehenden Mieten bezahlt hat, soll eine Chance bekommen, seine Wohnung zu behalten.
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Anders sieht es hingegen bei denen aus, die von vornherein keine redlichen Absichten haben, nämlich bei den sogenannten Mietnomaden. Bei denen muss durchgegriffen werden, weil diese Typen schwere Schäden, insbesondere bei Privatvermietern, anrichten. Sie schaden auch den redlichen Mietern, da diesen durch Mietnomaden Wohnraum entzogen wird. Dementsprechend sieht unser Entwurf mehrere Änderungen von zivilprozessualen Vorschriften vor.
Im Ergebnis kann man sagen: Nur unser Gesetzentwurf ist zustimmungsfähig, alles andere ist abzulehnen.
Vielen Dank.
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Danke. – Als nächste Rednerin hören wir Canan Bayram von Bündnis 90/Die Grünen.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hier werden mehrere Mietrechtsanträge zusammen behandelt. Zu einigen wurde schon etwas gesagt. Ich will mich noch mal auf unseren Gesetzentwurf zum Gewerbemietrecht konzentrieren und will Sie auf die Situation der Mieterinnen und Mieter aufmerksam machen.
Vor sechs Wochen hat die Traditionsbuchhandlung Kisch & Co. in Kreuzberg – in meinem Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg und Prenzlauer Berg Ost – ein Räumungsurteil erhalten. Das heißt, viele Menschen, die in dieser Buchhandlung arbeiten, die sich diesen Standort über Jahre geschaffen haben, die dort eine Lebensgrundlage für sich und ihre Familien haben – oder hatten, muss man jetzt sagen –, werden rausgeworfen, rausgeräumt. Am Ende bleibt ihnen nichts, weil es im Bürgerlichen Gesetzbuch faktisch kein Gewerbemietrecht gibt. Das wollen wir von Bündnis 90/Die Grünen ändern.
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Vor zwei Monaten ist das Kneipenkollektiv „Meuterei“ mit einem völlig unangemessenen Polizeiaufgebot geräumt worden, ebenfalls in meinem Wahlkreis in Kreuzberg. Man fragt sich wirklich: Wem nutzt das eigentlich? Nach so einer Räumung lassen Immobilienunternehmen solche Objekte teilweise monatelang leer stehen; sie verdienen auch noch daran, dass die Innenstädte so aussehen, wie sie dann aussehen.
Auch viele andere Inhaber/‑innen von kleinen Läden haben Angst um ihre Existenz, die sie sich mühsam aufgebaut haben, haben Angst vor einer Mieterhöhung, die sie nicht mehr bezahlen können. Mietsteigerungen auf das Doppelte der bisherigen Miete sind keine Seltenheit. Gestern hat die „Abendschau“ berichtet: Viele Kitas wissen nicht, ob sie in ihren Räumen bleiben können, weil die Mieten so erhöht werden, dass die Kinder rausgemobbt werden. Ich frage Sie alle: Wo sollen wir eigentlich hin mit den Kindern, wenn wir uns selbst für die Kinder schon keine Räume mehr leisten können? Das müssen wir ändern, liebe Kolleginnen und Kollegen!
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Ich habe den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages gefragt. Ich habe einen Gesetzentwurf geschrieben, mit dem ich – nach dem Vorbild von Frankreich und Österreich – völlig verfassungskonform ins Bürgerliche Gesetzbuch ein Gewerbemietrecht einbringen will, mit dem endlich auch Gewerbemieter/‑innen geschützt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich gebe Ihnen heute noch einmal eine Gelegenheit – selbst wenn Sie das im Ausschuss abgelehnt haben –, dass Sie unserem Antrag und unserem Gesetzentwurf zustimmen, dass Sie die Mieter/‑innen, die Kinder, die Gewerbetreibenden nicht im Stich lassen, sondern sie unterstützen. Die können es sich nicht leisten, erst in der nächsten Legislatur eine Antwort auf ihre Fragen zu bekommen.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen: Stimmen Sie unserem Antrag zum Schutz der Gewerbetreibenden zu! Dafür werden Ihnen nicht nur die Menschen aus Friedrichshain-Kreuzberg und Prenzlauer Berg Ost dankbar sein.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Die Kollegen und Kolleginnen Luczak, Willkomm, Lay, Alexander Hoffmann und Fechner geben ihre Reden zu Protokoll.
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Ich schließe damit die Aussprache.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der öffentliche Personennahverkehr ist ein zentraler Eckpfeiler der Daseinsvorsorge und auch für die Erreichung der Klimaschutzziele von ganz hoher Bedeutung. Deswegen tun wir enorm viel für den ÖPNV.
Wer einmal das Ausmaß der Förderung durch den Bund betrachtet, fragt sich unwillkürlich: Ist denn das nicht weithin Länderzuständigkeit? – Der Bund jedenfalls finanziert nicht nur die Mittel für den Ausbau des schienengebundenen Nahverkehrs nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz. Diese Mittel wurden in diesem Jahr auf fast 1 Milliarde Euro verdoppelt und sollen in 2025 sogar 2 Milliarden Euro betragen. Meine Damen und Herren, das ist eine Rekordsumme. Über das Regionalisierungsgesetz erhalten die Bundesländer darüber hinaus für die Bestellung des Nahverkehrs in 2021 9,3 Milliarden Euro, die in den Folgejahren bis 2031 mit 1,8 Prozent dynamisiert werden.
Der Bund leistet damit nach dem Willen unserer Koalition eine unglaublich starke Unterstützung für den ÖPNV; da kann sich weiß Gott niemand beklagen.
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Auch zur Erreichung des Ziels einer besseren Vernetzung von Stadt und Umland, von Metropolregionen und ländlichen Räumen leistet der Bund enorm viel: mit dem Bahnhofsmodernisierungsprogramm, mit hohen Fördermitteln für die Hardwarenachrüstung von dieselbetriebenen Bussen sowie für den Ankauf von Bussen mit alternativen Antrieben. Darüber hinaus hat der Bund in dieser Wahlperiode – ich will das einmal erwähnen – wichtige finanzielle und rechtliche Voraussetzungen für die Reaktivierung von Bahnstrecken geschaffen.
All das dient der besseren Mobilität der Bürgerinnen und Bürger, der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse und ganz besonders auch dem Klimaschutz.
Ich stelle fest: Das ist nicht nur viel Geld für den ÖPNV, sondern im Weiteren auch für den SPNV. Das ist eine zukunftsfähige Verkehrspolitik unserer Koalition, unseres Ministers und – lassen Sie mich das einmal sagen – auch der sehr engagierten Staatssekretäre.
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Verehrte Damen und Herren, die Pandemie hat den ÖPNV bekanntlich vor große Herausforderungen gestellt. Wie wir alle wissen, sind die Fahrgastzahlen und damit auch die Einnahmen dramatisch zurückgegangen. Deshalb der Rettungsschirm von Bund und Ländern! Dies war und ist nicht nur im Sinne der Sicherung mobiler Daseinsvorsorge, sondern auch mit Blick auf das notwendige Platzangebot, zum Beispiel bei den Schülerverkehren oder den Sonderverkehren zu den Impfzentren, schlicht und einfach zwingend notwendig. Wenn ich das so sage, möchte ich an dieser Stelle auch einmal allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Verkehrsunternehmen ausdrücklich danken, die in der Krise wirklich alles gegeben haben, um Busse und Bahnen am Laufen zu halten; denn Ausdünnung und Angebotsreduzierung sind keine Optionen.
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Aber nicht nur der gemeinsame Rettungsschirm – das ist auch eine Wahrheit – wurde bislang überwiegend vom Bund getragen; denn in 2020 haben die Bundesländer ihre Zusage einer hälftigen Teilung der Finanzierungslast von Bund und Ländern eindeutig nicht eingehalten. Auf diese Schieflage hat folglich auch der Bundesrechnungshof ausdrücklich hingewiesen. Deshalb sieht der vorliegende Gesetzentwurf weitere Bundeshilfen in zwei Tranchen vor. Es ist sicherzustellen, dass die Bundesländer ihre Zusagen erfüllen, damit der ÖPNV erneut schnelle Hilfe erhalten kann. Darum geht es, und darum erbitte ich auch Ihre Zustimmung.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist meine letzte Parlamentsrede nach zwölf Jahren der Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag. In dieser Zeit konnte ich daran mitwirken, dass wir die Investitionslinie für Straße, Schiene und Wasserwege nach Jahren der Unterfinanzierung mehr als verdoppelt und ein weiteres Upgrade unserer Verkehrspolitik mit der Schwerpunktverlagerung auf den Schienenverkehr eingeleitet haben. Dabei hatten wir auch in unserer Koalition ein rundum gutes Einvernehmen. Frau Lühmann, dafür Ihnen und Ihren Kollegen herzlichen Dank!
Ganz besonders bedanken möchte ich mich aber bei meinen Mitstreitern in der Verkehrs-AG der Unionsfraktion. Die Zusammenarbeit mit euch und dir, lieber Alois, hat mir sehr viel Freude bereitet. Vielen herzlichen Dank dafür! Bleibt so, wie ihr seid! Ihr seid eine starke Truppe.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin stolz darauf, drei Wahlperioden dem Deutschen Bundestag angehört zu haben, nachdem ich auch zwei Wahlperioden im Landtag von Nordrhein-Westfalen war. Ich danke meinen Wegbegleitern und danke für die gute Zusammenarbeit und für Ihre Aufmerksamkeit.
Herzlichen Dank. Ihnen viel Erfolg!
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Vielen Dank, lieber Kollege Sendker. Auch wir wünschen Ihnen alles Gute. Haben Sie vielen Dank für die konstruktive und erfolgreiche Zusammenarbeit der letzten Jahre. Zwölf Jahre – genauso lange, wie ich jetzt dabei bin – sind eine stolze Zeit. – Herzlichen Dank.
Es geht weiter mit Wolfgang Wiehle von der AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte ist wohl die letzte in dieser Legislaturperiode zum Thema Bahn. Schade, dass sie in die Nachtstunden fällt.
Ich nutze die Gelegenheit, um ein paar Dinge politisch einzuordnen:
Die Bahn hat ihre speziellen Stärken bei großen Verkehrsmengen und bei der Sicherheit – und das auch bei hohen Geschwindigkeiten. Es ist richtig, da auf die Bahn zu setzen, wo sie wirklich gut ist. Wer aber meint, die Bahn könnte das Auto ersetzen, zum Beispiel in Sachen Flexibilität oder Bedienung in der Fläche, der ist auf dem Holzweg.
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Zum Glück setzt sich die Erkenntnis immer mehr durch, dass die Bereitstellung der Bahninfrastruktur eine Frage der Daseinsvorsorge durch den Staat ist. Die Zeiten, in denen die Bahnreform dazu dienen sollte, den Konzern an die Börse zu bringen, sind endgültig vorbei. Das müssen die Leitgedanken einer Bahnreform 2.0 sein, die für die nächste Legislaturperiode ansteht.
Die staatliche Verantwortung sollte sich auch in den Strukturen der Infrastruktursparten der Bahn widerspiegeln. Damit kann auch der berechtigten Kritik des Bundesrechnungshofs an der intransparenten Finanzierung über die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung abgeholfen werden. Inzwischen haben wir eine LuFV III für zehn Jahre. Aber das wird kein Hindernis für eine grundlegende Reform sein. So möchte die AfD-Fraktion auch ihren Antrag auf der Drucksache 19/11123 verstanden wissen.
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Wir sollten die Bahnreform in Deutschland selbst angehen und nicht auf europäische Vorgaben warten. Deshalb werden wir uns zu dem Antrag der FDP-Fraktion enthalten.
Zur Weiterentwicklung der Bahninfrastruktur gehört auch, dass es bei Störungen mehr Ausweichstrecken gibt. Das haben wir durch die Havarie an der Baustelle in Rastatt gelernt. Die langen Störungen auf der rechtsrheinischen Strecke durch die Entgleisung in Niederlahnstein und den Felssturz bei Kestert zeigen es auch: Das Mittelrheintal braucht insgesamt eine Entlastung. Die Machbarkeit einer Neubaustrecke abseits des Rheintals muss zügig geprüft werden. – Bis eine solche Strecke gebaut ist, vergehen aber noch Jahrzehnte. Deshalb bitte ich um Zustimmung zu dem Antrag, für die Güterzüge zwischen Rotterdam und Genua auch alternative Routen auf europäischer Ebene zu fördern.
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Wir haben auch eine Änderung des Regionalisierungsgesetzes auf dem Tisch. Es geht um eine zusätzliche Milliarde vom Bund als Coronahilfe für den Nahverkehr. Jetzt soll es endlich klarere Bedingungen geben, nachdem der Bundesrechnungshof sehr deutlich gesagt hat, dass viele Länder Schlupflöcher nutzen, um ihren Beitrag, ihre Eigenanteile, zu minimieren.
Wir müssen an dieser Stelle aber auch weiterdenken. Die heutigen Ausschreibungen für Regional- und Nahverkehrsnetze sorgen für Wettbewerb und günstigere Preise. So weit, so gut. Sie laufen auf Verträge hinaus, die einerseits Planungssicherheit schaffen; andererseits fehlt aber die Flexibilität, bei lang dauernden Krisen, wie einem Lockdown, Teile der Leistungen abzubestellen. Öffnungsklauseln würden helfen, hohe künftige Finanzierungslasten für Bund und Länder zu verringern. Deshalb greift die vorgeschlagene Änderung aus Sicht der AfD-Fraktion zu kurz, und wir werden uns enthalten.
Die Verkehrspolitik der nächsten Jahre muss im Sinne der Bürger und einer freien Verkehrsmittelwahl gestaltet werden. Die AfD-Fraktion wird das auch weiterhin sehr wachsam begleiten.
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Vielen Dank. – Das Wort zu seiner letzten Rede hier im Bundestag hat der Kollege Andreas Wagner von der Fraktion Die Linke. Sie haben das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Die Covid‑19-Pandemie hat bei den Verkehrsunternehmen zu erheblichen Einnahmeausfällen und pandemiebedingten Mehrkosten geführt. Bereits im März hat Die Linke daher im Verkehrsausschuss eine Fortführung des ÖPNV-Rettungsschirms befürwortet.
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Während die Bundesregierung im April noch anderer Ansicht war, will sie jetzt mit einer weiteren Milliarde Euro die Bundesländer dabei unterstützen, die bei den Verkehrsunternehmen entstandenen finanziellen Nachteile abzufedern. Das ist gut so und dringend notwendig, damit das ÖPNV-Angebot in Umfang und Qualität aufrechterhalten und ausgebaut werden kann.
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Damit ist es jedoch nicht getan. Wir brauchen für die kommenden Jahre eine Zukunftsoffensive für den öffentlichen Nahverkehr, um die Attraktivität von Bus und Bahn zu verbessern. Wir brauchen mehr Verlässlichkeit und Pünktlichkeit, kurze Taktzeiten, übersichtliche Fahrpläne und günstige Fahrpreise.
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Die Pendler und Pendlerinnen in meinem Wahlkreis, die mit der S7 zwischen Wolfratshausen und München unterwegs sind, wissen, was ich meine. Das eine Mal ist es eine Signalstörung, das andere Mal eine Weichen- oder eine Stellwerkstörung, die zu Verspätungen und Zugausfällen führt – und das schon fast täglich und seit Jahren. Das ist nur ein Beispiel, das zeigt: Der Sanierungs- und Modernisierungsstau beim ÖPNV muss dringend aufgelöst werden,
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damit die Fahrgäste pünktlich ans Ziel kommen und sich weniger ärgern.
Gleichzeitig muss das ÖPNV-Angebot gerade in ländlichen Regionen massiv ausgebaut werden. Was ich in diesem Zusammenhang wichtig finde: Verkehrspolitik muss immer alle Menschen im Blick haben, auch diejenigen, die sich kein Auto leisten können, keinen Führerschein haben oder aus gesundheitlichen Gründen nicht mit dem Rad unterwegs sein können.
Da ich entschieden habe, nicht erneut für den Bundestag zu kandidieren, und dies meine letzte Rede ist, noch einige persönliche Worte. Ich möchte mich bedanken bei meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Berlin, Passau und Geretsried sowie bei unserem Verkehrsreferenten für die wertvolle Arbeit und Unterstützung in den vergangenen vier Jahren.
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Vielen Dank sage ich auch allen Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion und im Verkehrsausschuss für die angenehme Zusammenarbeit.
Ein besonderer Dank gilt meiner Frau und meinen drei Kindern, die von meiner Wahl in den Bundestag vor vier Jahren genauso überrascht waren wie so manch andere.
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Danke, dass ihr immer, bei Höhen und Tiefen, für mich da seid! Danke für die Geduld, Nachsicht und Unterstützung! Ohne euch würde ich heute nicht hier stehen.
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Es war mir eine Ehre, Mitglied des Deutschen Bundestages sein zu dürfen. Ich wünsche Ihnen allen alles Gute. Macht das Land gerecht!
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, lieber Kollege Wagner. Das Präsidium wünscht Ihnen im Namen des gesamten Hauses für Ihre berufliche Zukunft und für Ihre Arbeit in den vielen Vereinen, denen Sie angehören, viel Erfolg und privat natürlich alles, alles Gute. Bleiben Sie gesund, und machen Sie das Beste draus!
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Die Kollegin Korkmaz-Emre, die Kollegen Herbst und Gelbhaar und der Staatssekretär Ferlemann geben ihre Reden zu Protokoll.
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Ich schließe damit die Aussprache.
Ich habe noch nie so lange am Rednerpult gewartet, bis ich angefangen habe. Ganz herzlichen Dank!
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Jahren hätte ich mir nicht gedacht, dass wir die Geschäftsordnung anpassen müssen – dass wir im Grunde die Quoren ändern müssen, wann ein Gremium beschlussfähig ist, dass wir digitale, hybride Sitzungen einführen müssen, um eine Pandemie zu bewältigen. Dass wir das so gut hier im Deutschen Bundestag hingekriegt haben und dass der Bundestag mit all seinen Gremien kontinuierlich arbeitsfähig ist, hat der Bundestagspräsident an vielen Stellen betont. Ich glaube, wir haben das gut gemacht, und es ist auch gut, dass wir die Geltungsdauer des § 126a der Geschäftsordnung jetzt noch einmal verlängern, damit wir handlungsfähig bleiben. Vor zwei Jahren hätte ich es mir nicht so vorgestellt, aber wir haben das ordentlich hingekriegt.
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Vor einem halben Jahr hätte ich mir auch nicht vorstellen können, dass ich heute hier um diese Uhrzeit in meinen 50. Geburtstag hineinfeiere – es gibt Schlimmeres; ich sehe in der ganzen Runde wirklich nette Kolleginnen und Kollegen –, und ich hätte auch nicht gedacht, dass das heute wahrscheinlich meine letzte Rede im Bundestag ist.
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– Ich freue mich manchmal, dass diese Mikrofonanlage hier im Deutschen Bundestag so exzellent ist. – Aber das ist nun mal so, und deswegen möchte ich auch gar nicht so viel über die Änderung der Geschäftsordnung reden, weil ich glaube, der größte Teil dieses Runds sieht das, was wir machen, als völlig nachvollziehbar und kluge Entscheidung an, und weil in den letzten Monaten sehr viele Argumente hierüber ausgetauscht worden sind. Als Vorsitzender des Geschäftsordnungsausschusses kann ich das gerne bilateral noch mal nachholen, wenn noch Unklarheiten da sind. Ich glaube aber, da haben wir uns ausgetauscht.
Ganz im Gegenteil möchte ich zuerst Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz herzlich für ein tolles Miteinander danken. Ich glaube, dass draußen in den Medien oft „der Politiker“ wahrgenommen wird. Dass im Grunde aber so viele menschliche Momente in diesem Parlament sind, wird oft nicht wahrgenommen, und ich kann nur sagen: Das ist wirklich ein ganz schönes Gefühl, und das muss sich der Deutsche Bundestag über alle Fraktionsgrenzen hinweg bewahren. Das ist wichtig.
Ich glaube, dass es auch ganz wichtig ist, dass wir uns über die Fraktionsgrenzen hinweg immer wieder begegnen, dass wir uns austauschen, dass der Mensch hinter dem Politiker gesehen wird. Oft gerät das in Vergessenheit; dabei ist es so wichtig.
Ich möchte ganz herzlich der CDU/CSU-Fraktion danken. Ich habe mich immer sehr wohlgefühlt, in den Fraktionssaal und in den Fraktionsvorstandssaal zu gehen. Da hängen nämlich Kreuze. Das kann man anders sehen; es ist auch gut, dass Artikel 4 unserer Verfassung beides gewährleistet. Dass wir das so handhaben, hat mir aber immer ein sehr gutes Gefühl gegeben. Ganz herzlichen Dank für das schöne Miteinander!
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Ich möchte auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – natürlich im eigenen Büro, der Fraktion und der Verwaltung des Deutschen Bundestages – danken. Insgesamt leisten die Damen und Herren Gigantisches, beispielsweise auch die Stenografen, die teilweise bis spät in die Nacht in den Untersuchungsausschüssen und Enquete-Kommissionen – ich will jetzt gar nicht vom Haushaltsausschuss reden – tätig sind. Es ist eine sagenhafte Leistung, dass wir so gut dastehen, vorbereitet sind und zu den Terminen gehen können. Dafür sorgen viele im Hintergrund. Ganz herzlichen Dank dafür! Dafür kann man nicht oft genug Danke sagen.
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Ganz herzlichen Dank natürlich auch in den Hochsauerlandkreis. Die Anmerkung lese ich im Protokoll noch mal nach.
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Ganz herzlichen Dank trotzdem! Sie glauben gar nicht, wie viele wirklich wunderbare Menschen im Hochsauerlandkreis leben. Wen ich noch nicht eingeladen habe, den lade ich jetzt ein; ich habe jetzt ja wahrscheinlich noch ein bisschen mehr Zeit.
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– Da gibt es sogar auch wirklich gute Sozialdemokraten, aber doch mehr von der CDU; das bleibt hoffentlich auch so. – Ganz herzlichen Dank für viele tolle Momente, die ich im Hochsauerlandkreis erleben konnte!
Insgesamt wünsche ich uns allen in diesem wunderbaren Parlament, dass wir weiterhin für die Demokratie einstehen. In vielen Ländern und Staaten dieser Welt wird für Demokratie gekämpft, wird das eigene Leben riskiert, damit Demokratie stattfinden kann, damit es ein Parlament gibt, wie wir es hier fast als Alltag empfinden in unserem täglichen Arbeiten. Da sollten wir uns einmal, vielleicht in verschiedenen Momenten, vergegenwärtigen, wie wertvoll die Arbeit in diesem Parlament für die Demokratie ist.
Ich wünsche mir, dass wir dem Anspruch, den viele haben, die dieses Parlament als Vorbild empfinden, immer gerecht werden; das wünsche ich uns. Ansonsten wünsche ich uns einen schönen Abend und einen guten letzten Plenartag am Freitag. Im September sehen wir uns auch noch mal wieder.
Danke schön. Alles Gute!
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Herzlichen Dank, Professor Dr. Sensburg. Wir wünschen Ihnen beruflich viel Erfolg und heute noch eine wunderbare Party – heute, nicht morgen.
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Als Nächster redet Thomas Seitz von der AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Und täglich grüßt das Murmeltier“: Man könnte meinen, der Bundestag sei in einer Zeitschleife gefangen und gezwungen, dasselbe schlechte Schauspiel immer wieder aufs Neue aufzuführen. „Parlamentarischer Ausnahmezustand“ lautet der Titel. Nein, das ist leider keine Komödie, sondern eine Farce.
Alle paar Monate bestätigt der Bundestag, dass er sich selbst für überflüssig hält. Seit Sie im März 2020 den Ausnahmezustand eingeführt haben, ist es für die Verabschiedung von Gesetzen ausreichend, wenn 178 Abgeordnete anwesend sind oder, bei Bedarf, im Verlauf einer Dreiviertelstunde herangekarrt werden. Dass Sie das für normal halten, wundert mich nicht; denn für Sie ist es ja auch normal, wenn gerade mal 50 Abgeordnete Gesetze verabschieden. Wozu braucht es überhaupt ein Parlament, wenn die verabschiedeten Gesetze und ihr Inhalt doch ohnehin im Koalitionsausschuss festgelegt werden?
Im März 2020 konnte man Ihnen noch zugutehalten, dass niemand die Entwicklung der Coronakrise vorhersehen konnte. Also haben wir damals nur die beschlossene überlange Gültigkeitsdauer für die Ausnahmeregelungen kritisiert.
Aber warum sperren Sie sich auch heute noch, im Juni 2021, die Fakten zur Kenntnis zu nehmen? Der Bundestag war und ist zu keinem Zeitpunkt in seinen Abläufen bedroht gewesen. Zu keinem Zeitpunkt gab es eine Zahl von Erkrankten, die die Handlungsfähigkeit und Arbeitsfähigkeit des Parlaments ansatzweise oder auch nur in Sichtweite davon hätte bringen können. Auch ein Todesfall wegen Corona hatte der Bundestag nach meiner Kenntnis – glücklicherweise – nicht zu beklagen. Ich weiß, ich selbst war kurz davor.
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– Das ist richtig. Und wenn Sie glauben, dass mein Tod den Betrieb des Bundestages hätte lahmlegen können, dann bedanke ich mich für die Wertschätzung; aber so eitel bin ich nicht, dass ich diese Meinung teilen würde.
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Manche Risiken gehören zum Leben dazu; das sage ich als Teil der Risikogruppe. Unsere Gesundheit und damit unsere Arbeit im Verfassungsorgan Bundestag ist nicht gefährdet – Punkt.
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Der heutige Report des DIVI-Intensivregisters vermeldet ganze 781 Menschen, die wegen Covid-19 intensivmedizinisch behandelt werden, davon 554 mit invasiver Beatmung. Und das sind nicht die Zahlen für Berlin, sondern für alle erfassten 1 268 Krankenhausstandorte in ganz Deutschland. Sosehr jedes Einzelschicksal betroffen macht, so gibt es dennoch keine medizinische Rechtfertigung für Ihre Entscheidung, die parlamentarische Arbeit wieder und wieder einzuschränken.
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Und wenn Sonderregelungen wie digitale Sachverständigenanhörungen oder hybride Ausschusssitzungen im Einzelfall durchaus sinnvoll sind, dann regeln wir das doch so, und zwar allgemein. Aber nehmen Sie das nicht als Vorwand, um dem Bürger eine medizinische Notlage vorzugaukeln – die gibt es nicht! Und außer Ihrem Coronazombie Karl Lauterbach sieht die auch kein anderer.
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Einen Notstand fortzusetzen, obwohl es keine Notlage gibt, ist einfach nur unredlich.
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Vor zwei Tagen titelte die „Bild“ zu Sachsen: „Maskenpflicht im Juli auch bei Inzidenz 0“ – wobei es eine Inzidenz 0 ja gar nicht geben kann, solange die Tests fortgeführt werden, da allein falsch positive Tests immer für eine gewisse Inzidenz sorgen.
Auch hier im Hohen Haus werden die Menschen unverändert zum Tragen von Masken gezwungen, obwohl medizinische Gründe dafür nicht vorliegen. Die Ausnahmeverfügung des Präsidenten gilt natürlich trotzdem weiter – so wie Sie auch gleich den parlamentarischen Ausnahmezustand verlängern werden. Das ist eine Schande!
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Herr Kollege Seitz, ich erteile Ihnen für die Herabwürdigung und Beleidigung des Kollegen Dr. Lauterbach einen Ordnungsruf.
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Die Kolleginnen und Kollegen Steffen, Buschmann, Straetmanns, Haßelmann und Frieser geben ihre Reden zu Protokoll.
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Ich beende damit die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Zeit dieser Koalition ehemaliger Volksparteien mit einer verbrauchten Kanzlerin nähert sich zum Glück dem Ende. Leider blieb so viel unerledigt, dass Sie diese Debatte gleich für drei Gesetzesvorhaben ohne jeden inhaltlichen Bezug zueinander nutzen müssen. Und was heißt Debatte? Das ist nicht mal eine schlechte Simulation.
Beim Thema „Nachstellung und Cyberstalking“ gibt es sogar ein kleines Lob. Hier ist die Koalition doch ausnahmsweise einigen Kritikpunkten der Sachverständigen gefolgt. Offenbar sind Sie also doch nicht völlig beratungsresistent, sondern nur langsam im Verstehen. Oder liegt das vielleicht an der näher kommenden Bundestagswahl?
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So oder so: Die AfD Fraktion begrüßt es, dass im Änderungsantrag neben dem Ausspähen von Daten nun auch das Abfangen von Daten und die entsprechenden Vorbereitungshandlungen erfasst werden. Auch der Wegfall des Antragserfordernisses liegt im Interesse der Opfer.
Die Ausweitung des Schutzes der Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution ist ebenfalls überfällig und richtig. Wenn die Freierstrafbarkeit zukünftig auch leichtfertiges Handeln umfasst, ist dies unbedingt zu begrüßen. Diesem Gesetzentwurf werden wir zustimmen, weil es im Sinne der Opfer und im Sinne der Strafverfolgung ein richtiger Schritt ist.
Nicht zustimmungsfähig ist dagegen Ihr Gesetzentwurf rund um sogenannte Feindeslisten. Die vorgesehene Strafvorschrift gegen die Anleitung zu Kindesmissbrauch ist zwar sinnvoll. Aber der ideologisch gefärbte Tatbestand der „verhetzenden Beleidigung“ ist das Gegenteil, da absehbar einseitig angewandtes Gesinnungsstrafrecht. Aber das ist wohl Absicht. Wenn eine unschöne Bezeichnung für Nichtdeutsche als Volksverhetzung verfolgt wird, aber man umgekehrt Deutsche folgenlos als „Köterrasse“ bezeichnen darf, dann läuft etwas gehörig falsch.
({1})
Die Einführung einer Strafnorm für das gefährdende Verbreiten personenbezogener Daten, geframt als „Feindeslisten“, ist Unrecht, das Sie zum Gesetz erheben. Denn mit dem Verweis auf § 86 Absatz 3 StGB sorgen Sie bewusst dafür, dass Aufrufe zu Gewalt und Outingaktionen straffrei bleiben werden, wenn sie nur dem Kampf gegen rechts dienen – und darunter verstehen Autonome und Antifa nun mal alle, die nicht mindestens linksradikal sind. Dass Linke, Grüne, SPD diese Gewalttäter schützen und fördern, ist verständlich. Aber dass die Kollegen von der Union dabei mitmachen, zeigt wieder einmal, wo das Rückgrat fehlt.
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Es gibt leider keinen verfassungsrechtlichen Auftrag, kriminelle Linksextremisten zu schützen.
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Komisch? Nein, richtigerweise sollten alle Extremisten, ungeachtet ihrer Couleur, gleichermaßen verfolgt werden.
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Als verfassungstreue Partei des Rechtsstaats
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können wir diesen Gesetzentwurf nur ablehnen.
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Natürlich stimmen wir sinnvollen Anträgen gegen Terror und Terrorpropaganda auch dann zu, wenn sie vom politischen Gegner kommen – die Verweigerung konstruktiver Parlamentsarbeit überlassen wir den Altparteien. Dem Entschließungsantrag der FDP zur Hamas können wir daher zustimmen.
Nun zum letzten Punkt: Kriminelle Handelsplattformen im Internet bekämpfen. Gute Idee, aber schlechte Umsetzung. Aus verfassungs- wie rechtspolitischer Sicht ist die überschießende Sanktionierung bedenklich. Dazu werden wir uns enthalten.
Beim Blick hier in die Runde weiß ich wie fast immer in den letzten vier Jahren nicht, was schlimmer ist: Ihr Unvermögen oder Ihr Unwille, das Richtige zu tun? Der fehlende Mut oder die fehlende Integrität?
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Was Sie beherrschen, ist die Einschränkung von Grundrechten, ganz besonders der Meinungsfreiheit.
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Dissident und Straftäter, das wird in diesem Land mittlerweile oft synonym gedacht. Vor dem System Merkel war das für eine Demokratie noch undenkbar.
Kommen Sie bitte zum Ende.
Aber ich verspreche Ihnen eines: Sie haben die AfD vier Jahre lang verteufelt.
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Wir werden Ihnen auch die nächsten vier Jahre hier zur Hölle machen.
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Die Kolleginnen und Kollegen Fechner, Jung, Martens, Möhring, Bayram, Alexander Hoffmann und Dilcher geben ihre Reden zu Protokoll.
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Ich schließe damit die Aussprache.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach der Anhörung der Sachverständigen am letzten Montag fühlen wir uns als Fraktion der AfD in unserer Auffassung bestätigt, dass dieser Gesetzentwurf selbstverständlich nicht verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, keinerlei Bedenken.
Gleichwohl haben die Vertreter der übrigen Oppositionsfraktionen im Rechtsausschuss am Dienstag mit großer Emphase wieder den Dammbruch besungen. Was lauert denn hinter diesem Damm? Eine Riesenschlammlawine, die unseren Rechtsstaat, sollte sie freiwerden, hinwegspülen wird? Sicherlich nicht! Dahinter lauert, wenn man das so ausdrücken darf, die Möglichkeit, Mörder, die bisher mit ihrer Tat durchgekommen sind, doch noch verurteilen zu können. Also, wer sich davon bedroht fühlt, der sollte mal in sich gehen und sein Wertesystem überholen!
({0})
Der einzige Mangel, den der Gesetzentwurf hat, ist, dass sich die beiden einbringenden Fraktionen entschlossen haben, dort auf einzelne Tatbestände abzustellen und nicht, wie zwei Sachverständige – die den Gesetzentwurf allerdings grundsätzlich ablehnten – zu Recht anführten, auf die Strafandrohung der lebenslangen Freiheitsstrafe. Dies wird in der Praxis dazu führen, dass Verfahren gemäß diesem Gesetzentwurf, der seiner Natur nach in nur sehr, sehr wenigen Fällen überhaupt jemals zum Tragen kommen wird, vor Gericht in noch weniger Fällen zum Erfolg führen werden, weil jeder mittelmäßige Verteidiger weiß, dass er die Mordmerkmale bekämpfen muss, und das ist leicht; denn zwischen Mord und Totschlag ist nur eine hauchdünne Trennwand, und die kann man leicht einreißen. Damit ist das Verfahren, so wie Sie den Gesetzentwurf leider verfasst haben, dann gescheitert.
Trotzdem begrüßen wir den Gesetzentwurf. Er ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wir werden ihm, wie angekündigt, zustimmen.
Das war’s von meiner Seite. Ich wünsche uns allen noch gut’s Nächtle!
({1})
Danke sehr. – Das Wort geht an Canan Bayram von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Selten war ein Verstoß gegen das Grundgesetz so klar wie hier“, sagte der Sachverständige Dr. Ulf Buermeyer in der öffentlichen Anhörung zu dem vorliegenden Entwurf. Dem kann ich mich nur anschließen.
Meine Damen und Herren, Ihr Lösungsvorschlag ist verfassungswidrig. Jeder, der das Schicksal von Frederike und ihrer Familie kennt, kann sich den Schmerz vorstellen. Aber die Kenntnis um diesen Schmerz darf nicht zu solchen Gesetzen führen, die eine Säule unseres Rechtsstaats ins Wanken bringen.
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Denn die Rechtskraft eines Urteils ist unerlässlich für einen Rechtsstaat. Den Grundsatz „Ne bis in idem“, nicht zweimal für das Gleiche, gibt es seit mehr als 2 000 Jahren.
Das Bundesverfassungsgericht hat schon in einer seiner sehr frühen Entscheidungen festgestellt: „Rechtsfriede und Rechtssicherheit sind von so zentraler Bedeutung, dass um ihretwillen die Möglichkeit … “ – die Möglichkeit, wohlgemerkt – „… einer im Einzelfall vielleicht unrichtigen Entscheidung in Kauf genommen werden muss.“
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Rechtsstaat, das bedeutet doch vor allem: Der Staat muss sich selbst an seine eigenen Regeln halten. Niemand darf zweimal wegen desselben Tatvorwurfs vor Gericht gestellt werden. Dieses geben Sie jetzt auf. Sie machen das mit diesem Gesetz und nennen es dann absurderweise auch noch „materielle Gerechtigkeit“, die Sie damit erreichen wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das schaffen Sie damit nicht. Sie bleiben doch viele Antworten schuldig. Sie versprechen etwas – das muss Ihnen klar sein –, was vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern wird, weil es, wenn Sie das richtig hätten machen wollen, einer Grundgesetzänderung bedurft hätte.
Bei Ihrem heute vorliegenden Entwurf handelt es sich um einen Dammbruch. Sie stoßen damit eine Tür auf, die Sie besser zugelassen hätten. Die Rechten von der AfD
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– das haben wir gehört –, die feiern das schon. Den Alkohol konnte man zwar nicht riechen, aber hören.
Meine Damen und Herren, für meine Fraktion steht fest: Dieses Gesetz lehnen wir ab.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie sich ernst nehmen, dann lehnen Sie das bitte ebenfalls ab.
Vielen Dank.
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Danke sehr. – Die Kollegen Fechner, Luczak, Martens, Movassat, Axel Müller und Alexander Hoffmann geben ihre Reden zu Protokoll.
({0})
Ich schließe damit die Aussprache.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Freunde des Rechts, einen schönen guten Morgen! Wir beraten in zweiter und dritter Lesung die Reform des Personengesellschaftsrechts. Auch wenn es jetzt schon mitten in der Nacht ist: Das ist ein Jahrhundertwerk. Wir gehen an einen zentralen Teil des BGB ran, nämlich an das Personengesellschaftsrecht, das seit rund 120 Jahren praktisch nicht verändert wurde.
Warum tun wir das? Die Rechtsprechung hat die Rechtsform der Gesellschaft bürgerlichen Rechts in einem zentralen Punkt schon vor einigen Jahren verändert und ihr – eigentlich entgegen dem, was im Gesetz steht – Rechtsfähigkeit zuerkannt. Das, was im Gesetz steht, ist nicht mehr das, was jetzt das gelebte Recht ist. Deshalb mussten wir anpassen. Wir mussten anpassen, indem wir die Tatsache in Textform gießen, dass die BGB-Gesellschaft auch eine unternehmenstragende Gesellschaft ist.
Dafür haben wir erst einmal die Rechtsfähigkeit dieser Gesellschaft festgeschrieben – was der Bundesgerichtshof vorher gemacht hatte. Wir haben zweitens vor, ein Gesellschaftsregister auch für die BGB-Gesellschaft einzuführen. Zwei riesige Schritte, Veränderungen gegenüber der lange Zeit geltenden Lage.
Ein dritter wesentlicher Punkt: Wir führen – aber nur bei den sogenannten Handelsgesellschaften – eine Regelung zur sogenannten Beschlusskontrolle ein. Es geht um die Frage, wie Beschlüsse, die rechtswidrig sind, angefochten werden können, dass sie angefochten werden müssen binnen einer bestimmten Zeit, so, wie wir das im Aktienrecht und im GmbH-Recht auch haben.
Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat dieses Gesetz sehr ausführlich beraten und gut vorbereitet. Deshalb kam in der Anhörung von allen Sachverständigen Zustimmung zu dem Gesetzentwurf, sodass wir am Ende nur noch in Detailfragen weiter beraten und das Gesetz noch ein klein wenig besser gemacht haben.
Diese Detailfragen möchte ich ansprechen. Wir haben eine Vermutung geschaffen, dass dann, wenn man nach außen auftritt, eine Gesellschaft auch als solche Gesellschaft bürgerlichen Rechts gilt. Wir haben die Nachhaftung – dazu gibt es auch einen Antrag der Grünen – entsprechend diesen Überlegungen ein wenig eingeschränkt. Wir haben auch in einem weiteren Fall – was die Kommanditistenhaftung angeht – gesagt: „Da geht uns das Gesetz ein wenig zu weit“, weil wir das Gefühl hatten, dass hier unberechtigte Haftung geschaffen wird.
Wir haben uns dann mit der Frage beschäftigt, ob das Auswirkungen auf das Steuerrecht haben könnte, und haben ganz deutlich gesagt: Das hat es nicht. Denn das für die Personengesellschaften maßgebliche Prinzip der transparenten Besteuerung – dazu haben wir auch den Wissenschaftlichen Dienst befragt – bleibt erhalten. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt.
Was uns ein bisschen umgetrieben hat, war die Sorge der Bundesländer, dieses Gesetz so schnell umsetzen zu müssen, wie es ursprünglich vorgeschlagen war, nämlich letztlich innerhalb eines Jahres. Deshalb haben wir das Inkrafttreten dieses Gesetzes auch aufgrund der erforderlichen Reaktions- und Anpassungsnotwendigkeiten, vor allen Dingen aber zur Einführung der Register um ein weiteres Jahr hinausgeschoben. Es wird also erst am 1. Januar 2024 in Kraft treten.
Es ist ein gutes Gesetz, und ich bitte deshalb um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Für mich ist das heute die letzte Rede im Deutschen Bundestag.
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Ich möchte mich deshalb bei allen Rechtspolitikern – natürlich in erster Linie bei den Kollegen Rechtspolitikern meiner Fraktion – für die wirklich gute Zusammenarbeit in den letzten acht Jahren und insbesondere in den letzten jetzt bald zwei Jahren, in denen ich den Vorsitz des Rechtsausschusses innehatte, bedanken. Herzlichen Dank!
({1})
Ich möchte zur Arbeit des Unterausschusses Europarecht, der sozusagen ein bisschen im Verborgenen geblüht hat – Patrick Sensburg, der eben gesprochen hat, war mein Vorgänger in der Funktion des Vorsitzenden des Unterausschusses –, einige Bemerkungen machen und Ihnen einige Anregungen für die nächste Legislaturperiode mitgeben; denn die Arbeit im Unterausschuss Europarecht – dort haben wir die Arbeit der Bundesregierung im Ministerrat letztlich überwacht – hat eine zentrale Bedeutung für die europäische Integration.
Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass wir früher auf das einwirken – und umgekehrt Informationen darüber bekommen –, was in Brüssel passiert. Wir sind konkret einen Schritt gegangen, weil wir das Gefühl hatten, dass wir bisher zu wenig getan haben: Wir haben ein Verfahren eingeführt, durch das wir die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs beobachten und begleiten können. Das ist ein Punkt, bei dem wir ganz aktiv nach vorne gegangen sind – letztlich auch, um die Integrationsverantwortung, deren Einhaltung das Bundesverfassungsgericht von uns verlangt, tatsächlich mit Leben zu erfüllen.
Aber es ist noch mehr zu tun. Wir haben uns deshalb an den Bundestagspräsidenten und an den Vorsitzenden des Europaausschusses gewandt, um zu sagen: In der nächsten Legislaturperiode muss das bitte umgesetzt werden. – Ich nenne das mal die Nachberichterstattung; denn wir wissen aus dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, dass in Brüssel natürlich noch viel mehr über die Art und Weise der Umsetzung geredet wird, dass es dann Empfehlungen und Vergleiche mit anderen Ländern gibt und dass wir Abgeordnete vieles davon gar nicht erfahren. Unser Anspruch ist, diese Informationen zu bekommen, um eine bessere Entscheidung treffen zu können. Daran sollten wir in der Zukunft gemeinsam arbeiten.
Ich möchte die Gelegenheit auch nutzen, meiner Familie zu danken, die diese acht Jahre mitgetragen hat. Wenn man hier über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie redet, dann muss man auch sagen – wie viele Stunden sind wir jetzt am Beraten? –: Das hier ist nicht familienfreundlich. – Das sollte man auch in Erinnerung rufen. – Herzlichen Dank! Meine Kinder sitzen dort oben.
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– Die sind in diesen acht Jahren älter geworden; das muss man dazusagen.
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Jetzt dürfen sie das; anfangs durften sie das nicht.
Ein Dank gilt auch meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – zwei sitzen auch auf der Tribüne – hier in Berlin und in Köln.
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Ich möchte ganz herzlich den Kölnerinnen und Kölnern Dank sagen, die mich zweimal in meinem Kölner Wahlkreis gewählt, mir das Vertrauen ausgesprochen und dadurch die Möglichkeit gegeben haben, hier in ihrem Sinne zu arbeiten. Herzlichen Dank!
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In diesem Sinne bitte ich – jetzt werden wir formal – um Zustimmung zu dem Gesetzentwurf. Ich danke herzlich und wünsche eine weiterhin gute Nacht.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, lieber Professor Dr. Heribert Hirte. Sie haben ja auch für einige Jahre die Funktion des Vorsitzenden des Rechtsausschusses übernommen. Dafür auch aus dem Plenum heraus ein ganz, ganz herzliches Dankeschön! Wir wünschen Ihnen beruflich weiterhin viel Erfolg und persönlich ein schönes Leben mit Ihrer Familie. Danke sehr!
({0})
Das Wort geht an Fabian Jacobi von der AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wenn das BGB in seiner Urfassung sicherlich ein herausragendes Stück Gesetzgebung war: Nach 120 Jahren können allein durch Zeitablauf auch schon mal Wartungsarbeiten fällig sein.
Im Gesellschaftsrecht hat der BGH vor nunmehr 20 Jahren, also 100 Jahre nach dem Inkrafttreten des BGB, entdeckt, dass die Gesellschaft bürgerlichen Rechts auch rechtsfähig sein kann. Mit all den Weiterungen, die das nach sich gezogen hat, ist die tatsächliche Rechtslage im Personengesellschaftsrecht heute kaum noch dem Gesetzestext zu entnehmen. Man muss also immer eine halbe Bibliothek von Gerichtsentscheidungen mit sich führen, um zu wissen, was da gilt.
Der vorliegende Gesetzentwurf dient dazu, die hier nötigen Wartungsarbeiten vorzunehmen und die Rechtslage wieder mit dem Gesetzestext in Einklang zu bringen. Wenn man sich einmal vergegenwärtigt, welche doch große Menge an hochgradig toxischem ideologischem Giftmüll sonst so aus dem SPD-geführten Justizministerium hervorgeht,
({0})
dann ist das hier ein wunderbares, ein leuchtendes Gegenbeispiel dafür, wie es erfreulicherweise doch auch noch geht, ein Beispiel guter und seriöser Gesetzgebungsarbeit.
Der Gesetzentwurf ist gut; wir stimmen ihm zu.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Die Kolleginnen und Kollegen Fechner, Buschmann, Rottmann, Straetmanns und Dilcher haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Zivilgesetze müssen in einer freien Wirtschaft in erster Linie die Beziehungen zwischen unabhängigen Rechtsträgern regeln. Dazu gehört das Zurverfügungstellen von Vertragssicherheit inklusive durchaus eines gewissen Spielraums, was als gerecht oder sinnvoll erachtet werden kann.
Abzulehnen ist aber der Ansatz, das Verhalten der Marktteilnehmer invasiv bereits bei dieser Bereitstellung grundlegender Vertragsbeziehungen lenken zu wollen. Ich spare mir hier jetzt mal Ausführungen, welche Arten von Systemen diesem Erziehungsreflex normalerweise bei keiner Gelegenheit zu widerstehen vermögen. Das Gesagte betrifft vor allem die hier eingereichten Entschließungsanträge, zu denen ich nachher komme.
Vorliegend werden grundlegend zwei Richtlinien der EU umgesetzt, was im Bereich des Wirtschaftsrechts meiner Meinung nach durchaus vertretbar ist, auch wenn in einer ehrlichen und gleichberechtigten neuen EWG der Befehlston nicht vorhanden gewesen wäre. Daher: Dexit jetzt, bevor wir noch weiter in die falsche Richtung laufen!
({0})
Man muss aber sagen: Auch den EU-Technokraten ist inzwischen immerhin aufgefallen, dass ganz oder teilweise digitale Produkte und Angebote eine rechtliche Überholung dringend notwendig haben. Immer mehr unseres Konsumverhaltens spielt sich eben rein digital ab. Apps für jeden Anlass, Käufe von Software, Hörbüchern oder Spielen: All das wirft nun mal Probleme auf – nicht nur in Bezug auf meine Rechte als Erwerber von Eigentum, sondern auch in Bezug auf das, was ich überhaupt an Eigentum erworben habe. Die Anhörung im Mai zur Umsetzung der Digitale-Inhalte-Richtlinie ergab zumindest eine breite Zustimmung.
Kleine Begriffsanpassungen sind konsequent, und natürlich ist der nun erreichte Status für den Verbraucher auch vorteilhafter als vorher. Das ist aber kein Kunststück; denn vorher machten Anbieter von digitalen Produkten, die ja ohne Weiteres je nach Wunsch vermehrbar sind, ordentlich Kasse, während der Käufer bei Kompatibilitätsproblemen – Ablauf der Updates usw. – erstens faktisch vor die Wand lief und zweitens wegen der geringen Stückpreise auch schnell das Handtuch geworfen hat. Zahlte der Verbraucher nur mit seinen Daten, so stufte er das Produkt bekanntlich sogar gleich als komplett kostenlos für sich ein, was ja falsch ist.
Der Anbieter von digitalen Inhalten muss jetzt nicht nur seine Apps und Programme besser pflegen, er muss auch seine Werbeabteilung an die Kandare nehmen; denn auch im digitalen Markt dürfen Inhalt und Werbeaussagen nicht dem Wildweststandard ausgesetzt bleiben.
({1})
Die Umsetzung der Warenkaufrichtlinie für digitale Elemente ist hingegen zweischneidig. Immerhin wird nun auch dort konsequent der Begriff „Ware“ im Gesetz geführt. Der Fokus auf den maßgebenden Zeitpunkt macht nunmehr Sinn, wenn es um Funktionen und Updates der digitalen Elemente geht. Die Dauer der Beweislastumkehr von einem Jahr bleibt hingegen weiterhin kritisch. Als problematisch wurde dies immerhin für den Bereich „lebende Tiere“ gesehen; dort wurde der Zeitraum entsprechend reduziert. Bei dauerhaften digitalen Elementen werden hingegen weiterhin sogar zwei Jahre für zulässig erachtet, und bei längerer Bereitstellungszeit gilt die Beweislastumkehr potenziell unbegrenzt.
Komplett abzulehnen sind natürlich die eingangs genannten Ansätze von Links und Grün. Die Zwangseinführung einer Mindestlebensdauer für Produkte aus reinem paternalistischem Dirigismus ist dem Zivilrecht bei uns einfach fremd. Hier soll sich wieder als weiser Diktator des großen Ganzen aufgespielt werden. Regress so mir nichts, dir nichts beim Hersteller ohne Rücksicht auf die Wirtschaftskette: Das ist Verbraucherschutz auf dem Niveau eines aufgebrachten WG-Küchentischs.
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– Schreien Sie nicht so! Haben Sie was getrunken? So hört es sich wirklich an.
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– So hört es sich wirklich an. – Diesen WG-Küchentisch als Maßstab nehmen: Das kann man machen. Dann gibt es halt irgendwann keinen freien Markt für Produkte mehr, und der Verbraucher wird zum Zuteilungsempfänger von staatlich geschaffenen Standardprodukten.
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Nie und nimmer! Das lehnen wir definitiv ab.
Gute Nacht!
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Danke. – Die Kolleginnen und Kollegen Wellenreuther, Fechner, Martens, Mohamed Ali, Rößner, Carsten Müller und Lauterbach geben ihre Reden zu Protokoll.
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Damit ist die Aussprache geschlossen.
Geschätzte Präsidentin! Werte Kollegen! Das vorliegende Gesetz zur Änderung des Umweltstatistikgesetzes ist nötig, um bestehende EU-Berichterstattungspflichten zu erfüllen. Zu diesem Zweck werden acht neue Planstellen beim BMU eingerichtet – mit jährlichen Mehrkosten im Haushalt von über 600 000 Euro.
Die Änderungen betreffen dabei die Bereiche Abfallstatistik, Wasserwirtschaft sowie die umweltökonomische Gesamtrechnung. Wörtlich heißt es dazu im Gesetzentwurf – Zitat –:
Die Politik benötigt zur effizienten Steuerung von Maßnahmen zum Klima- und Umweltschutz … eine umfassende und valide Datenbasis.
Das bedeutet, dass die Politik sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene gar nicht die Datenbasis hat, um die Art von weitreichenden Entscheidungen zu treffen, die uns hier im Monatstakt um die Ohren gehauen werden, nämlich Ihre ganzen Prozentschachereien bei Ihren Klimaeinsparzielen.
Weiter heißt es in Ihrem Gesetzentwurf – Zitat –:
Die finanziellen Aufwendungen, die für diese Maßnahmen erforderlich sind, sowie die Umsätze und Beschäftigungseffekte, die sich aus der Durchführung der Maßnahmen ergeben, wurden noch nicht in dem Maße erfasst, wie es erforderlich wäre, … um politische Zielsetzungen wie diejenigen des europäischen Grünen Deals zu bedienen.
Aha!
Schauen wir uns also mal drei Punkte in diesem Zusammenhang an:
Erstens: die finanziellen Aufwendungen. Sie können also die finanziellen Aufwendungen für Ihre Politik gar nicht genau benennen. Das heißt, die 2 600 Milliarden Euro, die im Green Deal veranschlagt werden, sind nur eine erste grobe Hausnummer. Und wie das bei Brüssel immer so ist: Am Ende wird es für die EU-Steuerzahler wieder viel, viel teurer.
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Zweitens: Beschäftigungseffekte. Hier wird es schon skandalös. Da stellen sich die Befürworter des großen Gesellschaftsumbruchs hier jede Sitzungswoche an genau dieses Mikrofon und verheißen uns die neue wertschöpfende Vollbeschäftigung in der nachhaltigen Green-Deal-Wirtschaft, und nun stellt sich heraus, dass Sie gar nicht die Datenbasis haben, um hier eine tragfähige, verlässliche Aussage machen zu können. Ihr Green-Deal-Jobwunder ist eine Luftnummer!
({1})
Drittens: die politische Zielsetzung. Hier offenbaren Sie Ihre Intention. Der Green Deal ist keine Notwendigkeit des Umwelt- oder Klimaschutzes. Es ist ein politisch motiviertes Projekt des wirtschaftlichen Zwangsumbaus, verbunden mit der materiellen Umverteilung des Volksvermögens von unten nach oben. Es ist offensichtlich Ihr Ziel, die Menschen in der EU zu verarmen und damit in die Abhängigkeit von EU-Transferleistungen zu bringen.
Aber schauen wir mal, ob eine Übertragung von Daten an die EU – das ist der Sinn des Gesetzes – überhaupt nötig ist, um effektiven Umweltschutz zu gestalten. Seit 1990 ist in Deutschland zum Beispiel die Feinstaubbelastung um 81 Prozent zurückgegangen; bei Schwefeldioxid gab es einen Rückgang um 94 Prozent, bei Kohlenmonoxid einen Rückgang um 77 Prozent. Bei Gewässereinträgen verzeichnen wir folgende Reduktionen: bei Stickstoff um über 50 Prozent, bei Phosphor um über 70 Prozent, bei den Metallen Chrom, Kupfer, Nickel und Zink um jeweils über 50 Prozent und bei den Metallen Blei, Cadmium und Quecksilber um jeweils über 70 Prozent.
Meine Damen und Herren, all diese Fortschritte im Umweltschutz wurden ohne eine akribische Datensammlung und ‑übermittlung im Namen Brüssels erzielt, und sie wurden außerdem durch eine Änderung rein nationaler Gesetze und Vorschriften erzielt. Daran sieht man, dass Umweltschutz keinen supranationalen Überstaat braucht, in dem dazu ein bürokratischer Plan erstellt wird. Umweltschutz beginnt auf der nationalen Ebene, und dort ist er gut aufgehoben, wie die Erfolge in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren aufzeigen.
({2})
Finanziell bedarf es für diese Maßnahmen einer funktionierenden produktiven Marktwirtschaft und keiner sozialistischen Planwirtschaft, wie es uns ein Blick auf all die sozialistischen Umweltsünden weltweit offenbart – oder ein einziger Blick drüben in die Ausstellung der Wismut GmbH, die aufzeigt, wie die DDR ihren „Umweltschutz“ praktiziert hat.
Wenn Sie also weiterhin guten Umweltschutz in Deutschland haben wollen, dann schützen Sie den produktiven Wirtschaftsstandort, verzichten Sie auf die Irrwege der erneuerbaren Energien, der Dekarbonisierung und der Wasserstoffwirtschaft, und lassen Sie um Gottes willen die EU aus dem Spiel!
({3})
Danke. – Die Kolleginnen und Kollegen Schweiger, Schwarzelühr-Sutter, Skudelny, Lenkert, Dr. Bettina Hoffmann, Kießling und Thews geben ihre Reden zu Protokoll.
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Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Rosen mit Dornen:
({0})
Im vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neuregelung der Staatsbürgerschaft werden im Rahmen einer speziellen Wiedergutmachungsregelung ganz nebenbei unter der Rubrik „Fachpolitischer Änderungsbedarf“ diverse erhebliche Aufweichungen des allgemeinen Staatsbürgerschaftsrechts eingeschmuggelt.
Der schnellere Weg zur Staatsbürgerschaft führt jetzt nicht mehr über einen hundertstündigen Integrationskurs zu deutscher Rechtsordnung, Geschichte und Kultur; nein, es reicht, wenn man „zivilgesellschaftliches Engagement“ zeigt. Von der Anti-Abschiebe-Demo bis zum Grünen-Plakate-Hängen mag da alles drin sein. Und richtig Deutsch schreiben auf B1-Niveau ist auch nicht mehr nötig; es reicht, wenn man passiv versteht – vielleicht ja, was in den Öffentlich-Rechtlichen erzählt wird.
({1})
Selbst Personen im Ausland können eingebürgert werden, wenn Bindungen an Deutschland bestehen. Das galt bislang nur für Lebenspartner unter Vermeidung von Doppelstaatlichkeit bei ausreichenden Sprachkenntnissen – jetzt völlig ohne diese Voraussetzungen.
({2})
Dass es nicht nur keinen fachpolitischen Änderungsbedarf dieser Art gibt, sondern dass das alles sogar dem Schutz des Rechtsguts „Deutsche Staatsbürgerschaft“ entgegensteht, hat die Anhörung zur Genüge gezeigt.
Was also ist der Grund, dass man Ausländern gar nicht schnell genug das deutsche Wahlrecht hinterherwerfen kann – und das, wo wir Hunderttausende ausreisepflichtige illegale Asylbewerber im Land haben?
({3})
Nun, bereits unter der Federführung von Rot-Grün wurde im Jahr 2000 das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht geschleift. Aus Ermessensentscheidungen Deutschlands wurden Ansprüche für Ausländer, aus dem Prinzip staatsbürgerlicher Abstammung wurde Staatsbürgerschaft schon bei Geburt vor Ort. Das langfristige Ziel aller dieser alten und neuen Regelungen ist offensichtlich die Auflösung des deutschen Staatsvolks als jahrhundertelange Abstammungs- und Kulturgemeinschaft
({4})
zugunsten einer schrittweisen Umwandlung Deutschlands in ein geschichts- und gesichtsloses Siedlungsgebiet für Ausländer jedweder Herkunft und Kultur
({5})
durch die bewusste Unterlassung einer aktivierenden Familienpolitik zugunsten der rapide abnehmenden deutschen Bevölkerung. Wie wäre es, wenn man mal jungen deutschen Familien die Milliarden zukommen ließe, die man hier ans Ausland und illegale Eindringlinge veruntreut?
({6})
Diese Unterlassung trifft sich mit den erheblich überproportionalen Geburtenzahlen sogenannter Flüchtlinge, und das ist auch so beabsichtigt. Wir erinnern uns an Erdogans Wort: „Macht nicht drei Kinder, sondern fünf; denn ihr seid die Zukunft Europas!“
Als wahre Vollstrecker Erdogans erweisen sich Merkel mit ihrer permanenten Nichtachtung deutscher Interessen – Migranten rein, Geld raus –, verbrämt als sogenannter Multilateralismus,
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im Verbund mit dem Vaterlandshass der Grünen und dem rot-roten Liebäugeln mit einem wachsenden nichtdeutschen Wählerprekariat. Dabei führen massenhafte Zuwanderung plus verschenkte Staatsbürgerschaft letztlich zur Fremdbestimmung der einheimischen Bevölkerung.
Dies alles wird verkauft mit der großen Humanitätslüge, man käme nur einer Migrantenversorgungspflicht nach. In Wahrheit hülfe man mit demselben Geld vor Ort hundertmal mehr Menschen.
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Man lässt sich angeblich unverbindliche globale Pakte aufdrängen, die Migration zum Grundrecht erheben; dann aber wird deren verbindliche Umsetzung mit Umsiedlungsquoten, beginnend mit 40 000 jährlich, entschieden eingefordert,
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wie jüngst im Bericht der Fachkommission Fluchtursachen. Und nach dem Vorbild des schädlichen EU-Türkei-Deals – man darf Milliarden zahlen und bekommt trotzdem jede Menge Migranten – soll Entsprechendes für Afrika vereinbart werden.
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Es geht um die globale Umverteilung von Menschen und Geld. Unsere überschuldeten Haushalte stützen mit Milliardentransfers korrupte Regierungen und erzeugen neue Migration.
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Mehr Deutschlandfeindlichkeit war selten. Laschet und die anderen Deutschlandvernichter werden das im Turbotempo durchziehen.
Wir sagen: Wiedergutmachungsvorhaben sind gebührend zu trennen von allgemeineren Regelungen, und diese haben sich am Schutz der staatsbürgerlichen Rechte zu orientieren. Hier geschieht leider das Gegenteil. Die AfD steht für den Schutz der deutschen Staatsbürgerschaft und für den Schutz Deutschlands.
Ich danke Ihnen.
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Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Mathias Middelberg, Lindh, Teuteberg, Jelpke, Polat und Kuffer geben ihre Reden zu Protokoll.