Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/23/2021

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Abzug der NATO-Truppen nach zwei Jahrzehnten geht für Afghanistan und für Deutschland ein einschneidendes Kapitel der jüngeren Geschichte zu Ende – mit einer, wie wir heute in dieser Debatte hören werden, sehr gemischten Bilanz. Und der Ausgang der Verhandlungen ist weiterhin offen. Für unsere Bundeswehr schließt sich zunächst ein Kapitel, das von wichtigen Erfolgen, aber eben auch von harten Rückschlägen geprägt war: der erste NATO-Bündnisfall, die sehr zäh, langsam und hart erfochtenen Verbesserungen für die Menschen in Afghanistan, aber eben auch – der Präsident hat es gesagt – die Verluste und Verletzungen, die unsere Soldatinnen und Soldaten in 20 Jahren erlitten haben. 59 Soldaten haben wir dort verloren. 59 Familien und auch Freunde, die mit dieser Katastrophe in ihrem Leben weiterleben müssen. Als Abgeordnete des Deutschen Bundestages tragen wir dafür Sorge, dass auch diese Gefallenen niemals in Vergessenheit geraten. ({0}) Was bleibt nun nach 20 Jahren Bündnissolidarität, Terrorbekämpfung, Bemühung um Wiederaufbau und nachhaltigen Frieden? Wir sind nach wie vor in einer Phase großer Instabilität und Gewalt. Gerade die letzten Tage haben noch einmal verdeutlicht, wie groß die Gebietsgewinne der Taliban sind und wie unklar die Lage vor Ort ist. Viele Afghaninnen und Afghanen blicken mit großer Unsicherheit in die Zukunft. Auch wenn es für uns schwer nachvollziehbar ist: Bisher gelang es den Taliban oft, ihre Angriffe als Schutz für die Bevölkerung zu rechtfertigen: Schutz vor den Besatzern und denen, die ihnen halfen. Doch nun ziehen die internationalen Streitkräfte ab. Plötzlich kämpfen Afghanen gegen Afghanen. Das Bild wird klarer, und das wird zum Problem für die Taliban. Dazu kommt: Nach 40 Jahren sehnen sich zudem viele Menschen nach Frieden. Dem können sich auch die Taliban nicht entziehen, und deshalb verhandeln sie ja auch mit der Regierung. Afghanistan ist ein Land, das weiterhin von internationaler Hilfe abhängig ist. Eine internationale Isolation wäre eine ausweglose Sackgasse. Wir werden uns stärker bewusst machen müssen, dass es nicht unbedingt unser Gesellschaftsbild ist, das sich die Afghaninnen und Afghanen für ihr Land wünschen. Aber wir müssen eben auch das weiterentwickeln, was Ende letzten Jahres als konditionierte Mittelvergabe in die Verhandlungen eingebracht wurde. Afghanistan braucht Hilfe, und wir müssen in den Verhandlungen klare Linien ziehen, wo Werte wie Menschlichkeit und Würde mit Füßen getreten werden und dadurch eine Unterstützung von unserer Seite nicht mehr möglich wäre. Es muss auch gesagt werden: Es gibt etwas, das gut ist in Afghanistan, und es gibt etwas zu verlieren in Afghanistan. Kennzahlen, die durchaus Hoffnung machen, und Errungenschaften, die heute auf dem Spiel stehen. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist gestiegen. Afghanische Kinder verbringen im Schnitt 10,2 Jahre in Bildungseinrichtungen. 2001 waren es knapp 6 Jahre. Bei den Mädchen wird dies besonders deutlich. Unter der Herrschaft der Taliban waren sie fast vollständig von der Bildung ferngehalten. Heute besuchen sie im Schnitt 7,7 Jahre die Schule. Beispielsweise in Herat im Westen des Landes ist die Hälfte aller Studierenden weiblich. Das ist ein Erfolg für uns alle und für Afghanistan. ({1}) Die aktive Teilnahme von Frauen am öffentlichen Leben in Politik, Wirtschaft und Medien ist eine der großen Errungenschaften der letzten 20 Jahre. Man darf nicht vergessen, dass die Hälfte der Bevölkerung in Afghanistan unter 25 Jahre alt ist. Sie – das gilt auch für viele in den Reihen der Taliban selbst – kennen die Talibanherrschaft der 1990er-Jahre gar nicht. In Doha sitzen nun vier Frauen mit am Verhandlungstisch. Man könnte sagen: nur vier Frauen. Aber aufseiten der Taliban sitzt gar keine Frau. Sie müssen jetzt mit diesen vier Frauen auf der Regierungsseite verhandeln. Wir haben mit diesen Frauen dank der Friedrich-Ebert-Stiftung und auch der Berghof Foundation einige Male sprechen können und haben sehr deutlich gemacht, dass wir ihnen immer unsere Unterstützung geben werden bei diesen schwierigen Verhandlungen. Deutschland spielt eine wichtige Rolle. Wir sind uns dieser Verantwortung bewusst und werden uns mit Nachdruck für ein friedliches Afghanistan weiter einsetzen. Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Armin-Paul Hampel, AfD. ({0})

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer an den Bildschirmen! Und ganz besonders herzlich willkommen: Liebe Soldaten der Bundeswehr dort oben auf der Gästetribüne! ({0}) 59 gefallene Soldaten in einem asymmetrischen Krieg am Hindukusch, der von Anfang an nicht zu gewinnen war. 59 Familien – Mütter, Väter, Geschwister, Ehepartner und Kinder –, die ihre Lieben verloren. Sie haben sie anfangs schweren Herzens ziehen lassen, im Vertrauen auch auf dieses Parlament und darauf, dass die Parlamentsarmee, nach Afghanistan geschickt, Gutes bewirken wird. Dieses Parlament hätte gewarnt sein können von Ereignissen, die viele Jahre zurückliegen: 1843 wurde das britische Expeditionskorps auf dem rettenden Weg zum Khaiberpass von den afghanischen Stämmen niedergemacht – die größte Niederlage der Briten in ihrer Kolonialgeschichte. „Mit dreizehntausend der Zug begann, Einer kam heim aus Afghanistan“, dichtete damals Theodor Fontane über das schreckliche Ereignis. Sie, wir, das Parlament, hätten gewarnt sein müssen von den 15 000 gefallenen Sowjetsoldaten, deren Knochen teilweise noch im Pandschschir-Tal und anderswo in der afghanischen Sonne bleichen. Mit einer viel größeren Militärmacht hatte die Sowjetunion versucht, Afghanistan, den Hindukusch, in den Griff zu bekommen – vergebens. Auch dieses Unterfangen war von Anfang an, genau wie das unsere, zum Scheitern verurteilt. Wodurch wir unser Unterfangen allerdings noch dynamisierten und vorantrieben, war, dass wir uns von Anfang an mit den übelsten Figuren dieses Landes verbündet und zusammengetan haben: mit Warlords, die eher vor ein internationales Gericht gehört hätten als an den Verhandlungstisch mit den Westmächten – Verbrecher im wahrsten Sinne des Wortes: Massenmörder, Drogenhändler, Waffenschieber, Vergewaltiger, all das. Stattdessen hätten wir uns auf die alten Stammesstrukturen, wie es der damalige König Zahir Schah immer wieder beschwor, verlassen und mit ihnen zusammenarbeiten müssen, auf die Maliks in den Dörfern und Regionen, die erfahren waren, auch in friedlichen Zeiten ihr Land voranzubringen. Das haben wir ignoriert. Wir haben uns mit den Warlords verbündet. Ich war acht Jahre in Afghanistan als ARD-Korrespondent. Ich habe die Taliban in den 90er-Jahren bei ihrem Aufstieg genauso begleitet wie bei ihrem Fall und Wiederaufstieg in den Jahren 2003 bis 2005. Gemäß ihrem Motto „Ihr habt die Uhren – wir haben die Zeit“ haben sich die Taliban Schritt für Schritt dieses Land zurückerobert. Wir waren blauäugig im Umgang mit ihnen – mit Gutmenschentum, mit NGOs und anderem unterwegs. Unsere Soldaten, zwar hoch motiviert, aber völlig unerfahren im asymmetrischen Krieg, hatten keine Chance. Die, die kämpfen wollten, wurden durch die „Rules and Regulations“, wie es so schön heißt, zurückgehalten. Und als der Oberst Klein in Kunduz endlich mal erfolgreich zugeschlagen hatte, ({1}) da jubelten die Afghanen landauf, landab, und in Deutschland ermittelte der Staatsanwalt. Das ist die Realität damals gewesen, ({2}) und der Deutsche Bundestag hat sich nicht mal schützend vor diese Soldaten gestellt. Neun von zehn Soldaten in Afghanistan haben Afghanistan nie gesehen, weil sie nicht aus dem Camp rausgekommen sind – neun von zehn Soldaten! Wer kämpfen wollte, musste sich im Zweifelsfall bei einem korrupten Provinzgouverneur noch die Genehmigung zum Kämpfen holen. Wie absurd ist das denn! Die Geldquelle der Talibs, der Drogenhandel, wurde von uns völlig ignoriert. Ich selber habe den damaligen Inspekteur Bagger zum Amudarja begleitet, der dann durch riesige Mohnfelder zurückfuhr und einfach die Augen verschloss, weil er es nicht sehen wollte, und der damalige Kommandeur in Kunduz ermahnte seine Soldaten, möglichst nicht mit dem Fotoapparat vor Mohnfeldern zu stehen und solche Bilder der Freundin zu schicken; das käme schlecht an in Deutschland. Wir haben die Geldquelle der Taliban munter blühen lassen, als sei es eine Gärtnereizucht. So gewinnt man keinen Krieg – den wir übrigens lange nicht mal als Krieg bezeichnen durften. Ich kann nur darauf verweisen: Wenn Sie vom Flugfeld in Kunduz zum ehemaligen deutschen Camp fahren, dann sehen Sie auf der rechten Seite einen Haufen aus altem sowjetischen Militärschrott, der wie ein Menetekel jeden warnt, wie es einem am Hindukusch ergehen kann. Die Sowjets haben übrigens ein paar Millionen bezahlt, um friedlich aus Afghanistan abzuziehen. Ich rate dem Außenminister, der sonst sehr viel Geld in der Welt verschenkt: Nehmen Sie im Zweifelsfall ein paar Millionen Euro in die Hand! Kaufen Sie die Sicherheit und Freiheit unserer Soldaten im Zweifelsfall mit ein paar Millionen Euro ein. Das ist gut investiertes Geld. Ich hoffe allerdings, dass der Abtransport von 65 000 Bierdosen nicht das größte und schwierigste Unterfangen sein wird, sondern dass Sie daran arbeiten, unseren Soldaten einen ehrenvollen Abmarsch in Sicherheit und Frieden zu gewährleisten.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege.

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, ich komme zum Ende, Herr Vorsitzender.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte.

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich möchte nicht das Bild der amerikanischen Hubschrauber beschwören, die im Vietnamkrieg die Letzten vom Dach der US-Botschaft holen mussten. ({0}) Das sollte uns eine Warnung sein. Gott schütze unsere Soldaten, und Gott schütze Afghanistan!

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege.

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke schön. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer. ({0})

Annegret Kramp-Karrenbauer (Minister:in)

Politiker ID: 11003023

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren Abgeordnete! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Soldatinnen und Soldaten! Verehrter Herr Präsident, vielen Dank für die Worte, die Sie auch im Namen des gesamten Hauses an die Bundeswehr als Ganzes und an die Soldatinnen und Soldaten, die in den letzten 20 Jahren in Afghanistan im Einsatz waren, gerichtet haben. Ich weiß, dass diese Worte, dass diese Wertschätzung wahrgenommen werden und auch sehr begrüßt werden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, heute vor genau zwölf Jahren, am 23. Juni 2009, starben Hauptgefreiter Alexander Schleiernick, Hauptgefreiter Oleg Meiling und Hauptgefreiter Martin Brunn in Afghanistan, als sie mit ihrem Fahrzeug in der Nähe von Kunduz in ein Feuergefecht gerieten. Sie sind drei von 59 Soldaten, die während des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr in den vergangenen 20 Jahren ihr Leben verloren haben. Wir tun gut daran, die heutige Aktuelle Stunde in ihrem Namen zu führen. Ich begrüße es sehr und bedanke mich, dass wir im Deutschen Bundestag noch in der letzten Sitzungswoche der Legislaturperiode Zeit freimachen für das Thema Afghanistan. Denn wir dürfen nie vergessen: Es ist der Deutsche Bundestag, der die Bundeswehr zu Recht als seine Parlamentsarmee betrachtet, und es ist dieses Parlament, das auch diesen drei Soldaten den Auftrag erteilt hat, in Afghanistan in einen wichtigen und gefährlichen Einsatz zu gehen. Dieser Einsatz geht jetzt zu Ende. Und ja, es ist an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Es ist an der Zeit, zu gedenken, ein bleibendes Andenken zu bewahren. Es ist an der Zeit, die richtigen Schlüsse aus 20 Jahren zu ziehen. Es ist vor allen Dingen aber jetzt noch unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass unsere Männer und Frauen heil und gesund aus Afghanistan zurückkommen. ({0}) Und, meine sehr geehrten Damen und Herren, das tun wir. Das tun wir gemeinsam mit unseren Verbündeten, zurzeit noch insbesondere mit unseren Verbündeten aus den Niederlanden und den Vereinigten Staaten. Wir haben gerade gestern das Kontingent aus der Mongolei verabschiedet, das über so viele Jahre für die Sicherung in Masar-i-Scharif mit gesorgt hat. Wir sind – das ist, glaube ich, eine gute und wichtige Nachricht auch hier an dieses Haus – auf einem guten Weg. Das Redeployment findet geordnet statt. Die Sicherung ist auch in der Endphase sichergestellt, und ihr wird höchste Aufmerksamkeit gewidmet. Ich weiß, dass zurzeit über die Frage diskutiert wird: Wie gefährlich ist die Situation in Afghanistan? – Ja, es ist unbestreitbar so: Wir sehen Geländegewinne der Taliban; wir sehen, wie die afghanische Armee unter Druck gerät. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass im Moment nach wie vor die internationalen Truppen weniger im Fokus der Taliban stehen. ({1}) Und eines wissen wir: Die Taliban der heutigen Tage sind auch Experten, wenn es um Propaganda geht. Deswegen rate ich in der Diskussion dazu, die Bilder genau zu hinterfragen. Nicht jedes Bild und nicht jede Meldung, die im Moment in den sozialen Medien veröffentlicht wird, drückt auch wirklich die aktuelle Realität in Afghanistan aus. Meine sehr geehrten Damen und Herren, es geht aber auch um die Ortskräfte. Ich bin sehr dankbar, dass es gelungen ist, eine Lösung zu finden, sodass wir sagen können: All diejenigen, die seit 2013 für die Bundeswehr oder die Bundespolizei gearbeitet haben, haben die Möglichkeit, nach Deutschland zu kommen. – Wir werden – das ist jetzt unsere größte Aufgabe – dafür sorgen, dass wir das logistisch bewerkstelligen können. Wir stellen fest: Nicht jede Ortskraft will Afghanistan sofort verlassen. Nicht jede kann es sofort verlassen; denn es geht auch um die Familien. Und manche wollen das Visum als eine Art Versicherung haben. Wir versuchen, eine wirklich gute Lösung für alle zu finden – eine Lösung, die auf der einen Seite die Sicherheit unserer eigenen Soldaten nicht gefährdet, auf der anderen Seite diese Menschen sicher nach Deutschland bringt und auf der dritten Seite Bilder von groß angelegten Evakuierungsmaßnahmen vermeidet. Das ist das Dreieck, in dem wir uns bewegen. Ich bin hier sehr dankbar für die Unterstützung auch aus den anderen Ressorts. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir reden darüber, wie nachhaltig der Erfolg war, für den die Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan gekämpft haben. Sicherlich müssen wir kritisch hinterfragen, ob das, was wir uns an politischen Zielen gesetzt haben – Stichwort „Nation Building“ –, wirklich nachhaltig erhalten werden kann. Sicher ist aber auch: Diese letzten 20 Jahre haben auch dank des Einsatzes der Soldaten der Bundeswehr Raum geschaffen für Veränderungen. Dass in den letzten 20 Jahren überhaupt Mädchen und Frauen in Afghanistan in die Schule gehen konnten, zur Universität gehen konnten, Richterinnen, Journalistinnen werden konnten, das ist auch ein Verdienst und ein Ergebnis dieses Einsatzes. ({3}) Ob das auf Dauer zu halten ist, das entscheiden die nächsten Monate, das entscheidet die militärische Lage in Afghanistan selbst. Das entscheidet sich vor allen Dingen aber auch am Verhandlungstisch. Meine sehr geehrten Damen und Herren, eines können wir heute mit Blick auf die Bundeswehr allerdings sagen: Die Bundeswehr, die Männer und Frauen, die im Einsatz waren, haben sich als Ganzes, aber auch in ihren Persönlichkeiten durch diesen Einsatz verändert. Der Generalinspekteur war vor wenigen Tagen in Masar-i-Scharif. Er hat mit Bundeswehrsoldaten gesprochen, die in den letzten 20 Jahren 14-mal in Afghanistan im Einsatz waren. Es glaubt doch niemand, dass jemand, der das erlebt hat, nicht verändert daraus zurückkommt. ({4}) Wir haben als Bundeswehr vieles gelernt, auch harte Lektionen. Wir haben im Inneren unseren Umgang mit Traumatisierungen, mit Veteranen verändert aufgestellt. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, wir und vor allen Dingen die Bundeswehrsoldatinnen und ‑soldaten können heute mit Fug und Recht sagen, dass sie stolz sein können auf diesen Auftrag. Denn den Auftrag, den ihnen dieses Parlament mitgegeben hat – dass sie durch die Unterstützung, durch die Ausbildung der afghanischen Armee Raum geschaffen haben für Entwicklungen, für politische Möglichkeiten –, haben die Bundeswehrsoldatinnen und ‑soldaten erfüllt, und darauf können sie zu Recht stolz sein. Ich glaube, auch das muss an dieser Stelle gesagt werden. ({5}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, vor Kurzem hat mir eine Angehörige eines in Afghanistan gefallenen Soldaten gesagt: Die größte Ehre und die größte Erinnerung, die Sie diesen Soldaten erweisen können, ist, dass wir offen darüber reden, wie es in Afghanistan war, was nicht gut war, was wir gelernt haben, und vor allen Dingen, dass wir diese Lektionen auch für die Zukunft beherzigen. Deswegen werden wir, nach einer stillen Ankunft der letzten Soldatinnen und Soldaten aus Afghanistan und bevor wir im September mit dem Bundespräsidenten einen großen Abschlussappell durchführen, in diesem Sommer in einer entsprechenden Veranstaltung die Gelegenheit nutzen, für das BMVg, für die Bundeswehr Bilanz zu ziehen und die Lektionen daraus deutlich zu machen. Denn weitere schwere Einsätze liegen vor uns – in einigen befinden wir uns schon, etwa in der Sahelzone –, und wir sollten vielleicht das, was wir in Afghanistan gerade auch mit Blick auf möglicherweise überzogene politische Ambitionen und Ziele gesehen haben, in den anderen Einsatzgebieten für die Zukunft nicht mehr wiederholen. Auch das ist ein Auftrag, und auch das ist etwas, was wir den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr schuldig sind. Vielen herzlichen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Bijan Djir-Sarai, FDP. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit zwei Jahrzehnten verlängert dieses Haus regelmäßig das Mandat für den Einsatz deutscher Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan. Es galt, zu verhindern, dass Afghanistan wieder eine Brutstätte des internationalen Terrorismus werden kann, und gleichzeitig sollte den Menschen, vor allem den Frauen, in Afghanistan nach 30 Jahren Bürgerkrieg und Gewalt eine neue Perspektive gegeben werden. Dass dieses Mandat nun zu einem Ende kommt, ist auch für Deutschland von großer Bedeutsamkeit. Unser Dank für dieses komplexe Engagement gilt besonders unseren Soldatinnen und Soldaten, die unter Einsatz ihres Lebens gedient und gekämpft haben. ({0}) Meine Damen und Herren, ich persönlich werde den 2. April 2010 niemals vergessen. An diesem Tag bin ich als junger Bundestagsabgeordneter mit der Bundeswehr in Afghanistan gewesen; der Kollege Jürgen Hardt war auch dabei. Dieser Tag ist später in die Geschichte eingegangen als der Tag des Karfreitagsgefechts. Als die Fallschirmjäger aus Seedorf an diesem Tag in einer Ortschaft bei Kunduz ankamen, ahnten sie nicht, dass dieser Tag die weitere Entwicklung des Einsatzes und das Bild des Afghanistan-Einsatzes maßgeblich verändern würde. Ein Zug der 1. Kompanie des Fallschirmjägerbataillons 373 geriet in einen Hinterhalt und wurde in ein stundenlanges Feuergefecht verwickelt. Am Ende waren Hauptfeldwebel Nils Bruns, Stabsgefreiter Robert Hartert und Hauptgefreiter Martin Augustyniak gefallen. Weitere Soldaten wurden schwer verletzt. Dieser Tag hat den Blick der deutschen Gesellschaft auf den Afghanistan-Einsatz verändert. Es war der Tag, an dem Deutschland merkte, dass es sich bei dem Einsatz um einen Kriegseinsatz handelt. Die spätere Trauerfeier für die drei gefallenen Soldaten, bei der natürlich ihre Familien anwesend waren, werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Heute, im Jahr 2021, sind wir, meine Damen und Herren, verpflichtet, diesen Einsatz differenziert zu betrachten. Heute schauen wir auf der einen Seite auf die erzielten Erfolge zurück, doch auf der anderen Seite ist unser Blick auch von Sorge geprägt. Das zwischen den Taliban und den USA geschlossene Abkommen von Doha hat die afghanische Regierung abgewertet und gleichzeitig die Taliban international aufgewertet. Dennoch kommen die innerafghanischen Friedensverhandlungen nicht voran. Das Gewaltniveau ist seit 2020 stark angestiegen, und immer mehr unschuldige Zivilisten werden Opfer von brutalen Terroranschlägen. Bei allem Realismus sollte man aber auch nicht vergessen, dass sich auch Afghanistan in den letzten 20 Jahren stark verändert hat. Afghanistan ist nicht mehr dasselbe Land wie 2001. Eine neue Generation junger Frauen und Männer hat – nicht zuletzt durch deutsche Hilfe – studiert, eine Ausbildung begonnen und damit Zukunftsperspektiven erhalten. Die Menschen in Afghanistan wissen heute mehr von der Welt und haben eine andere Erwartungshaltung gegenüber den Regierenden, als dies Anfang der 90er-Jahre noch der Fall war. Meine Damen und Herren, wir haben aber auch eine Verantwortung für diejenigen Afghaninnen und Afghanen, die jahrelang ihr Leben riskiert haben, weil sie mit unseren Einsatzkräften kooperiert haben. Sie dürfen nicht ihrem Schicksal überlassen werden. ({1}) Zu unseren Pflichten gehört darüber hinaus übrigens auch eine Evaluierung des Einsatzes. Das sind wir zum einen den Soldatinnen und Soldaten schuldig. Zum anderen ist es wichtig – das hat auch die Ministerin vorhin gesagt –, Lehren für die Zukunft und andere Auslandseinsätze zu ziehen. Wir müssen uns zum Beispiel die Frage nach der Realisierbarkeit unserer Zielsetzungen stellen. Ich denke da insbesondere an die aktuelle Debatte über die Situation in Mali. Ja, auch die afghanische Regierung hat große Defizite. Dazu gehören vor allem die starke Fokussierung auf Kabul und der oft halbherzig geführte Kampf gegen Korruption und Missmanagement. Dennoch verkörpert sie zumindest staatliche Strukturen, deren weiteren Ausbau wir unterstützen müssen. Meine Damen und Herren, gerade jetzt dürfen wir die Menschen in Afghanistan nicht alleine lassen. Wir müssen jede Chance ergreifen, mit zivilen Mitteln engagiert zu bleiben. Die Menschen in Afghanistan haben in ihrem Wunsch nach einem besseren Leben vor allem auf Deutschland geschaut. Wir dürfen sie jetzt nicht im Stich lassen. Der militärische Einsatz in Afghanistan geht zu Ende; das politische Engagement in Afghanistan muss aber nachhaltig weitergehen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der Linken, Dr. Dietmar Bartsch. ({0})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Wochenende haben die Taliban erklärt, dass sie nach dem Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan ein echtes islamisches System errichten wollen. Meine Damen und Herren, der Rückzug der NATO ist nicht, wie der Titel der Aktuellen Stunde beschreibt, ein geordneter Rückzug. Im Gegenteil: Er ist überstürzt. 20 Jahre nach Beginn des Krieges sind die Taliban zurück, vielfach an den Schalthebeln der Macht. Der Krieg gegen den Terror ist gescheitert. ({0}) Sie hinterlassen ein kaputtes Land. Nichts ist gut in Afghanistan. Ich will daran erinnern: Zwei Jahrzehnte ist es her, dass es den grauenvollen Anschlag auf das World Trade Center gab, den Angriff auf das Pentagon und den Absturz eines weiteren Flugzeugs. Wir haben damals parteiübergreifend am Brandenburger Tor eine Solidaritätsveranstaltung durchgeführt. Dann hat Gerhard Schröder die uneingeschränkte Solidarität versprochen. Das war die Grundlage für die Beteiligung Deutschlands am Krieg. Wir haben damals gefragt: Haben Sie eigentlich einen Plan, haben Sie einen Zeitplan? Die einzige Antwort, die es sehr übergreifend gab, war, wir seien Terroristenfreunde. Ich kann heute im Ergebnis nur sagen, dass das auf jeden Fall wenig korrekt war. Es ist mehrfach genannt worden: 59 Bundeswehrsoldaten haben den Krieg mit dem Leben bezahlt; ganz viele sind traumatisiert. 12,5 Milliarden Euro hat der Einsatz gekostet. Wofür eigentlich? Was sagen Sie den Hinterbliebenen? ({1}) Diese Kritik richtet sich ans Parlament; es ist keine Kritik an Ihnen, den Soldatinnen und Soldaten. Hier in diesem Hause liegt die Verantwortung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, schätzungsweise 185 000 zivile Opfer hat der Krieg in Afghanistan gekostet. Allein im letzten Jahr sind 9 000 Zivilisten und 10 000 afghanische Soldaten getötet worden. 380 000 Menschen haben ihre Dörfer verlassen, 2,7 Millionen Menschen haben ihre Heimat komplett hinter sich gelassen. Ich will die Vorsitzende des Afghanischen Frauenvereins, Nadia Nashir, zitieren. Sie sagte vor Kurzem: Viele Frauen fühlen sich im Stich gelassen, und sie betrachten den Einsatz der Nato als gescheitert. Es wurde … so viel versprochen: Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit, Frauenbefreiung. … im Großen und Ganzen wurden diese Ziele nicht erreicht. Diese Aussage ist wirklich mehr wert, als wenn wir uns hier mit guten Ergebnissen beweihräuchern. ({2}) Internationale Beobachter gehen davon aus, dass 50 bis 70 Prozent des Landes heute schon von den Taliban kontrolliert werden. Jahrelang wurde auch den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land etwas anderes erzählt. Die vermeintlichen Erfolge wurden ins Schaufenster gestellt – ich will das gar nicht alles leugnen –, etwa die Verbesserung der Situation von Frauen und Mädchen und der Brunnenbau. Ich war einige Jahre im Aufsichtsrat der GIZ und weiß, wie viel persönliches Engagement es gegeben hat; das ist völlig unbestritten. Aber wie ist denn die Realität heute? Im März wurde Frauen und Mädchen das Singen in der Öffentlichkeit verboten; der Musikunterricht durch einen Mann ist verboten; einst geöffnete Schulen sind längst wieder geschlossen. Das alles ist das Ergebnis von Zugeständnissen gegenüber den Terrorfürsten der Taliban. Die NATO hat den Menschen keine Sicherheit gebracht, meine Damen und Herren. ({3}) Nach 20 Jahren kann von Menschenrechten nun wirklich nicht die Rede sein. Ich will Sie daran erinnern, wie Sie im letzten Jahr noch den Einsatz begründet haben. In Ihrer Begründung stand: Das deutsche zivile Engagement hat zur Entstehung eines demokratisch kontrollierten Staatswesens, das sich zur Wahrung universeller Menschenrechte bekennt, zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung, zum Zugang zu Bildung sowie insbesondere zur Stärkung der Rechte von Frauen und Kindern beitragen können. ({4}) Was für ein Hohn für die Menschen in Afghanistan, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({5}) Die einzigen Profiteure, um das klar zu sagen, waren die Taliban und eben auch die Rüstungsindustrie. Der Grund dafür, dass der Einsatz jetzt beendet wird, ist ja nicht, dass Sie heute andere Einsichten haben, oder die Verbesserung der Menschenrechtslage, sondern die Hinterherdackelei hinter den USA. Das ist doch der Grund dafür. Wenn die USA noch dageblieben wären, hätten Sie eine Begründung für eine einjährige Verlängerung gefunden. Das ist die Wahrheit! Das Problem ist, dass deutsche Verteidigungspolitik weder in Berlin noch in Brüssel, sondern in Washington entschieden wird. Und das ist meines Erachtens wirklich ein schwerwiegendes Problem. ({6}) Deswegen sage ich Ihnen: Legen Sie auch für die anderen Einsätze Exitstrategien vor. Der Abzug aus Afghanistan ist überfällig. Wir fordern eine tiefgreifende Evaluierung der letzten zwei Jahrzehnte und nicht nur einen Abschlussbericht, wie ihn der Bendlerblock ankündigt, sondern eine wirkliche Evaluierung. ({7}) Folgen Sie doch zum Beispiel den Norwegern; sie richten eine unabhängige Kommission ein, um die gesamten Vorkommnisse der letzten zwei Jahrzehnte aufzuarbeiten. Das sollten wir tun und dann die richtigen Schlüsse ziehen. Kriege mit deutscher Beteiligung müssen enden. Unser ziviles Engagement für die Notleidenden muss allerdings ausgebaut werden. ({8}) Ein letzter Satz sei mir gestattet, ich kann dazu leider nicht mehr ausführen. Sie haben es angekündigt, und ich hoffe, das wird dann auch so sein: Alle Afghaninnen und Afghanen, die die deutsche Bundeswehr unterstützt haben, brauchen selbstverständlich unsere Hilfe. Niemand – und ich betone: niemand – darf dort im Stich gelassen werden. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Omid Nouripour, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir eine Vorbemerkung zur Rede des Kollegen Bartsch. Es ist nicht alles schlecht in Ihrer Rede; aber eines kann ich hier nicht stehen lassen, und das sage ich für meine gesamte Fraktion, die wir seit Jahren über diesen Einsatz miteinander ringen und dann jeweils in den Spiegel gucken und Gewissensentscheidungen treffen: Diese Entscheidung treffen wir in Abwägung dessen, was für die Menschen in Afghanistan am besten ist, und sicher nicht, weil irgendjemand in Washington sagt, was wir machen sollen. Ich finde, die Gewissensfreiheit der Abgeordneten in dieser Frage sollte man nicht einfach so beiseiteschieben ({0}) und so tun, als wäre es von anderer Seite diktiert. ({1}) Meine Damen und Herren, die Nachrichten aus Masar-i-Scharif sind extrem besorgniserregend, aber nicht nur aus Masar-i-Scharif. In den letzten zwei Monaten – in nur zwei Monaten! – sind 78 der 380 Distrikte in Afghanistan von den Taliban erobert worden. Die Anzahl der Gefechte, aber vor allem der Anschläge ist gewaltig. Im Schnitt ist in den letzten zwei Monaten alle zehn Minuten eine Zivilistin oder ein Zivilist in Afghanistan ums Leben gekommen. Der Anschlag von Dasht-e-Barchi am 8. Mai auf eine Mädchenschule mit zig Toten kann niemanden ungerührt lassen. Wenn man die Fotos von blutbeschmierten Schreibheften von ABC-Schützinnen und sieht, dann weiß man, was auf dem Spiel steht. Gleichzeitig gibt es die Verhandlungen in Doha, und die kommen nicht voran. Das alles zusammen kann zu verschiedensten Konsequenzen führen; aber aus meiner Sicht ist die erste und offensichtlichste ein Abschiebestopp nach Afghanistan. Wenn wir uns jetzt Sorgen um einen sicheren Abzug der Bundeswehr machen, stellt sich die Frage, warum es keinen Abschiebestopp nach Afghanistan gibt. ({2}) Wie kann es sein, dass der asylpolitische Lagebericht des Auswärtigen Amts diese Abschiebungen immer noch ermöglicht? Das geht mir nicht in den Kopf. ({3}) Meine Damen und Herren, eine Bilanzierung des Einsatzes ist überfällig; das ist gerade gesagt worden. In einem Satz: Einiges in Afghanistan ist erreicht worden; aber die Tatsache, dass wir sehen, dass die Erfolge nicht nachhaltig sind oder vielleicht nicht nachhaltig sein werden, zeigt, wie viel mehr hätte erreicht werden können, aber auch wie viel mehr hätte erreicht werden müssen – gerade angesichts all der Opfer – mit all dem Geld, das ausgegeben worden ist: bei der Bundeswehr, bei Entwicklungshelferinnen und ‑helfern, bei der Polizei und bei der afghanischen Zivilbevölkerung. Ich möchte an dieser Stelle nach diesen 20 Jahren einen großen Dank aussprechen an die Soldatinnen und Soldaten, an die Polizistinnen und Polizisten, an die Diplomatinnen und Diplomaten, an die Mediation, an Berghof, an all die Menschen, die sich eingebracht haben, um Afghanistan zu einem besseren Ort zu machen. ({4}) Und auch sie haben eine unabhängige Evaluation des Einsatzes verdient. Es ist dringend notwendig, daraus zu lernen. Jenseits der Evaluation gibt es auch Maßnahmen, die man jetzt sofort ergreifen kann. Ein Beispiel: Die Unabhängige Afghanische Menschenrechtskommission fordert, dass bei dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen ein Menschenrechtskomitee für Afghanistan eingerichtet wird. Diese Forderung zu unterstützen, wäre absolut überfällig, gerade nach dem Abzug. ({5}) Wir wissen seit 2009 – ich erinnere an die Rede von Obama, Westpoint 2009 –, dass dieser Abzug kommen wird. Seitdem heißt es, es gebe Pläne, wie auch nach dem Abzug die Entwicklungszusammenarbeit, die Polizeiausbildung fortgesetzt werden könne. Das steht aber weiterhin noch aus. Die lokalen Ortskräfte müssen unbedingt geschützt werden. Im Grundsatz sind wir uns einig; die Frage stellt sich nur: Warum gilt das erst ab Stichtag 2013? Das werden wir heute Nachmittag auch noch mal miteinander erörtern müssen. Engagierte, beherzte und großzügige Hilfen für diese Menschen sind dringend notwendig, auch um den Ruf Deutschlands als verlässlichen Partner in der Welt gerade in solchen Einsätzen klarzumachen. ({6}) Mehr Druck auf die regionalen Akteure wäre dringend angebracht. Und ganz ehrlich: Ein bisschen mehr Hilfe als bisher für Afghanistan zur Bewältigung der Covid-Pandemie, ein paar Impfdosen, ein paar Masken, ein paar Beatmungsgeräte mehr als das, was wir bisher tun, ist in einem Land, in dem Covid wie ein Lauffeuer grassiert, absolut angebracht und längst überfällig. ({7}) Aber die wichtigste Lehre der letzten 20 Jahre ist, dass sich unsere Afghanistan-Politik nicht von geopolitischen Entscheidungen und Überlegungen, auch nicht von einer Summe von Innenpolitiken diktieren lassen darf, vielmehr muss das Wohlergehen der Menschen im Zentrum stehen. Deshalb ist eine Afghanistan-zentrierte Strategie auch nach dem Abzug absolut richtig und notwendig. Ganz ehrlich: Ich glaube nicht an eine künftige amerikanische Afghanistan-Politik; ich glaube nicht daran, dass die afghanische Regierung jetzt liefern wird; ich glaube auch erst recht nicht daran, dass die Taliban verstanden haben, dass Frieden angebracht ist. Ich glaube an die zahlreichen Menschen der Zivilgesellschaft und vor allem an diese unglaublichen Frauen, die in den letzten 20 Jahren dieses Land mit aufgebaut haben. Sie nicht im Stich zu lassen, sie nicht zu vergessen, das ist das Gebot der Stunde. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Bundesaußenminister Heiko Maas. ({0})

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich hier in dieser Debatte eine Bilanz des Erreichten ziehen will, möchte ich eines voranstellen, und ich hoffe, dabei im Namen des ganzen Hauses zu sprechen. Die Soldatinnen und Soldaten haben in Afghanistan Außergewöhnliches geleistet. Ihr Einsatz hat über den gesamten Zeitraum höchste Wertschätzung erfahren, sowohl von unseren Verbündeten als auch von der afghanischen Bevölkerung. Deshalb möchte ich ihnen, den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr und unserer Partnernationen, danken für ihren Mut, ihre Ausdauer und ihre Tapferkeit in diesen 20 langen Jahren Afghanistan. ({0}) Und wir denken heute insbesondere an diejenigen, die diesen Einsatz mit dem Leben oder mit schweren Verletzungen oder langanhaltenden Traumata bezahlen mussten, sowie an ihre Angehörigen und Familien. Lassen Sie mich das sagen, weil es auch meiner festen Überzeugung entspricht: Ihr Einsatz war nicht umsonst. Denn wir werden in enger Partnerschaft mit der afghanischen Regierung mit zivilen Mitteln das fortführen, wofür sie so große Opfer gebracht haben. Und wir bleiben ein verlässlicher Partner: international, unseren Verbündeten, aber vor allem auch den Afghaninnen und Afghanen, die gemeinsam mit uns so viel aufgebaut haben in diesen beiden Jahrzehnten. Das heißt auch, dass diejenigen eine sichere Aufnahme in Deutschland finden müssen, die aufgrund ihrer Tätigkeit für uns nun akut gefährdet sein könnten. Damit bin ich bei der Frage, die wir uns natürlich stellen an einem Tag wie heute: Was haben wir erreicht, und welche Herausforderungen bleiben? Unser Hauptziel war von Beginn an, dass von afghanischem Boden aus kein terroristischer Angriff mehr geplant und vorbereitet werden kann, und dieses Ziel haben wir in den letzten 20 Jahren erreicht. Zugleich wissen wir: Frieden und Stabilität sind nur von Dauer, wenn die Afghaninnen und Afghanen frei entscheiden können, wie sie zusammenleben wollen. Hier liegt auch nach 20 Jahren und mehreren demokratischen Wahlen noch die größte Herausforderung. Deshalb haben wir den Vertretern Afghanistans fest zugesagt, den politischen Prozess in Doha, auch wenn er nur sehr, sehr schleppend verläuft, weiter nach besten Kräften zu unterstützen. Jeder Aufschub, jede Verzögerung dieses Prozesses bedeuten nur noch mehr Gewalt und noch mehr unnötige Opfer auf beiden Seiten. Vor allem die Taliban müssen zur Kenntnis nehmen, dass es ein Zurück ins Jahr 2001 nicht geben wird. ({1}) Dagegen steht auch eine afghanische Zivilgesellschaft, die in dieser Zeit immer selbstbewusster geworden ist, die vielleicht von der einen Ecke dieses Hauses noch nicht erkannt worden ist, aber trotzdem entstanden ist und sich sehr selbstbewusst ihrer Rechte bewusst ist – die vielleicht größte, in jedem Fall aber die nachhaltigste Errungenschaft der letzten zwei Jahrzehnte. ({2}) Menschenrechte sind heute in der afghanischen Verfassung fest verankert, und daran darf auch niemand rütteln. ({3}) – Dass das für Sie kein Thema ist, ist uns allen schon länger klar. – ({4}) Frauen führen heute ein viel freieres Leben und bekleiden politische und auch öffentliche Ämter. Afghanistan verfügt nicht nur im regionalen Vergleich mittlerweile über eine vielfältige freie Medienlandschaft. Die Lebenserwartung ist signifikant gestiegen. Die Mütter- und Kindersterblichkeit – lange die höchste der Welt – ist deutlich zurückgegangen in diesen 20 Jahren. ({5}) Afghanistan verfügt über eigene Sicherheits- und Polizeikräfte, übrigens nicht zuletzt dank des großen Engagements im Rahmen unseres bilateralen Polizeiprojektes. ({6}) Meine Damen und Herren, auf der Genfer Geberkonferenz im November des letzten Jahres haben wir zugesagt, in den nächsten Jahren weiter bis zu 430 Millionen Euro insbesondere für die Stabilisierung und Entwicklung in Afghanistan einzusetzen – geknüpft an klare Bedingungen, allen voran an das Bekenntnis jeder afghanischen Regierung zu Demokratie, Menschenrechten, ({7}) Korruptionsbekämpfung und natürlich Fortschritten im Friedensprozess. Natürlich wird der Truppenabzug die Region verändern, und auch die Rahmenbedingungen unseres zivilen Engagements werden zukünftig andere sein. Diejenigen, die immer wieder sagen: „Ziviles Engagement, ja; sicherheitspolitisches Engagement, nein“, würde ich bitten, Organisationen wie das Internationale Rote Kreuz oder die Agenturen der Vereinten Nationen, die zivile Arbeit vor Ort leisten, einfach mal zu fragen, ob es nicht Situationen gibt, in denen zivile Aufbauarbeit unmöglich wird, wenn sie nicht auch sicherheitspolitisch begleitet wird. ({8}) Das heißt auch: Sich militärisch zu engagieren, ist oftmals die Voraussetzung dafür, zivil helfen zu können. Alles andere ist nichts anderes als wohlfeiles Geschwätz. ({9}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, deshalb ist es auch richtig, dass der Bundestag – dafür will ich mich bedanken – die Idee einer externen strategischen Evaluierung unseres Engagements nachdrücklich unterstützt. Das kann uns allen in der Bilanzierung weiterhelfen; denn wir alle wissen: Unser Afghanistan-Engagement der letzten zwei Jahrzehnte war nicht irgendein Einsatz, sondern ein außen-, sicherheits- und entwicklungspolitisches Kernanliegen von fünf unterschiedlichen Bundesregierungen – getragen von wechselnden, aber stets klaren Mehrheiten in diesem Hause. Gemeinsam – gemeinsam! – in diesem Hause haben wir Verantwortung übernommen: gegenüber Afghanistan, gegenüber unseren Bündnispartnern, aber auch für unsere eigene Sicherheit. Und auch das, meine Damen und Herren, wird bleiben von diesem Einsatz: das Bild eines Deutschlands, das sich seiner Verantwortung stellt, das sicherheitspolitisch erwachsen geworden ist, auch in Afghanistan. Allen, die daran Anteil haben, sagen wir heute Danke. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Rüdiger Lucassen, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was dieser Tage in Afghanistan zu Ende geht, ist die werteorientierte Außenpolitik der Bundesregierung. ({0}) Es ist die Außenpolitik einer Politikergeneration vom Typ „Heiko Maas“. Bei dieser Politik zählt das eigene Wohlfühlen alles, Ergebnisse zählen nichts; das haben wir gerade gehört. ({1}) Die Ziele, die die Bundesregierung für Afghanistan ausrief, wurden alle nicht erreicht: ({2}) keine Sicherheit, keine Rechtsstaatlichkeit, keine Gleichbehandlung, keine wirtschaftliche Perspektive. ({3}) Der Feind, der in den letzten 20 Jahren deutsche Patrouillen angegriffen hat und deutsche Soldaten getötet hat, ist jetzt Verhandlungspartner. Die Taliban stehen davor, den Status quo ante in Kürze wiederherzustellen. Mehr Scheitern geht nun wirklich nicht. ({4}) Aber alles das ficht das Selbstverständnis des sozialdemokratischen Außenamts nicht an; denn die Ziele der Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel und Heiko Maas waren nie an Afghanistan oder die Afghanen selbst gerichtet. In Wahrheit ist die Außenpolitik Deutschlands seit fast zwei Jahrzehnten so konzipiert, dass sich die eigene SPD-Ortsgruppe wohlfühlt – jenes Milieu, das sich heute in bunte Funktionsjacken kleidet und wo Männer und Frauen ab Mitte 50 die gleiche Frisur tragen. ({5}) Dort weiß man, wie man auf der richtigen Seite der Geschichte steht. Und wenn es mal wieder nicht geklappt hat, kann man die Schuld immer noch der Gesellschaft, den Russen oder den Amerikanern zuschieben; Selbstkritik wird dort nicht gebraucht. Meine Damen und Herren, so abgedroschen es klingen mag: Aber das Scheitern der Bundesregierung in Afghanistan böte tatsächlich auch eine Chance, die Chance nämlich, die deutsche Außenpolitik endlich wieder auf den Pfad der Realpolitik zu führen. Der erste und wichtigste Schritt dahin wäre, die Verhältnisse vor Ort anzuerkennen. Wollten die Afghanen eine Gesellschaft nach westlichem Vorbild? Nein. Wollten sie die traditionellen Geschlechterrollen überwinden? ({6}) Nein. Wollten sie flächendeckend Mädchenschulen und Female Empowerment in jedem Bergdorf? Nein. Das wollten sie nicht; im Gegenteil: Die Afghanen wollen immer ihre kulturelle Identität bewahren. Sie leben, wie es ihre Vorfahren ({7}) und ihre Religion bestimmen. Das muss uns nicht gefallen – ich selbst wollte auch nicht so leben –, aber darauf kommt es nicht an. Jedes Volk hat ein Recht auf kulturelle Selbstbestimmung, ({8}) und es steht niemandem an, auch nicht der deutschen Außenpolitik, dies mit Geld und Truppen ändern zu wollen. Meine Damen und Herren, Realpolitik nach Afghanistan bedeutet nicht nur, die Lebensweise anderer Länder und Völker zu respektieren; Realpolitik heißt auch, das nationale Interesse zur Richtschnur des eigenen Handelns zu machen. Deutschlands erstes Interesse an den angrenzenden Regionen der Welt ist Stabilität. Über Jahrzehnte waren Länder wie Afghanistan, Irak, Libyen, Mali und viele weitere stabil; nicht demokratisch, nicht plural, nicht gleichberechtigt, aber stabil. Deutschland pflegte belastbare Kontakte in all diese Regionen, machte Politik und verlässliche Geschäfte. Klingt gut aus heutiger Sicht. Die Lage in den Ländern selbst war auch besser. Die Todeszahlen in der Bevölkerung gingen erst in die Höhe, nachdem diese Länder zum Ziel der deutschen und westlichen Wertepolitik wurden. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, auch Ihre Redezeit ist zu Ende. ({0})

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Stabilität ist nicht alles, aber ohne Stabilität ist alles nichts. Afghanistan bietet nur noch eine Chance: aus den Fehlern zu lernen, um es in Zukunft besser zu machen. Danke. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johann Wadephul, CDU/CSU. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Soldatinnen und Soldaten! Ich möchte drei Anmerkungen machen, zunächst zu der Frage: Was wurde erreicht? Diese ist gerade auch noch einmal beleuchtet worden. Bisher hat sich heute kein Redner – weder derjenigen Fraktionen, die den Einsatz unterstützt haben, noch der Bundesregierung; auch nicht in vergangenen Legislaturperioden, soweit ich das verfolgen konnte –, hierhingestellt und behauptet, dass dieser 20-jährige einmalige Einsatz der Bundeswehr und vieler anderer ziviler und staatlicher Kräfte nur positiv, nur erfolgreich und nur gut gewesen ist. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn hier gesagt wird, Herr Kollege Lucassen, „Afghanistan war stabil, und das war gut so“, dann stellt das die Tatsachen auf den Kopf. ({0}) Afghanistan war ein Hort des Terrorismus, und das war der Anlass für den Einsatz. 9/11 ist von Afghanistan ausgegangen. Das war der Grund. Deswegen war es richtig, hier militärisch einzugreifen. ({1}) Noch abenteuerlicher finde ich Ihre Ausführungen – Sie haben gerade gesagt; ich habe es mitgeschrieben –: Ein Volk hat ein Recht auf kulturelle Identität. – Als ob es die kulturelle Identität der Afghanen wäre, Frauen zu unterdrücken, zu misshandeln und Kindern kein Recht auf Erziehung zu geben. Das ist doch völliger Unsinn, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das sind skandalöse Bemerkungen. ({2}) Herr Kollege Bartsch, anknüpfend an Ihr „Nichts ist gut“ muss ich sagen – ich kannte gar nicht Ihre Nähe zu einer Theologin –: Das ist mindestens ein Schlag mit dem nassen Handtuch in die Gesichter all der misshandelten Kinder und insbesondere Mädchen und Frauen in Afghanistan, die jetzt in einem gewissen Maße, nicht wie hier bei uns, nicht wie bei Ihnen in Mecklenburg-Vorpommern, aber doch in einem gewissen Maße Erziehung, Mitwirkung an der Zivilgesellschaft genießen und sich am politischen Leben in Afghanistan beteiligen können. ({3}) Das ist doch ein Fortschritt im Sinne der Humanität, der Sie sich auch verpflichtet fühlen, Herr Kollege Bartsch. ({4}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Einsatz war für die Bundeswehr mit Sicherheit eine Zäsur. Ich glaube, es war nach der Wiederbewaffnung und der Armee der Einheit, möglicherweise dem NATO-Nachrüstungsbeschluss, sicherheitspolitisch für die Bundesrepublik Deutschland einer der größten Einschnitte, den wir in Ruhe aufarbeiten müssen. Ich möchte an der Stelle auch den mehr als 100 000 Soldatinnen und Soldaten, die zum Teil mehrfach und über Jahre hinweg dort im Einsatz gewesen sind und Dienst geleistet haben, hervorragende soldatische Leistungen gezeigt haben, Tapferkeit gezeigt haben, natürlich auch, wie es bei Menschen so ist, Fehlentscheidungen getroffen haben, Verletzungen erlitten haben, unter denen sie noch heute leiden, auch gestorben sind, ganz herzlich danken und ihnen unsere Anerkennung aussprechen. ({5}) Wir haben damit gezeigt, dass eine Parlamentsarmee keine Selbstverständlichkeit ist. Wir wissen aus vielen Staaten, dass Parlamentsbeschlüsse nicht automatisch bedeuten, dass die militärischen Kräfte eines Staates das, was das Parlament beschließt, auch umsetzen. Das bedeutet auch eine hohe Verantwortung für uns. Wenn ich hier an die Toten, an ihre Angehörigen, an die Verletzten denke, dann ist das für uns sicherlich auch immer eine Mahnung zur Zurückhaltung, nur dann militärische Gewalt einzusetzen, nur dann das Leben und den Leib von Soldatinnen und Soldaten zu riskieren, wenn es wirklich notwendig ist. Deutschland ist mit seiner militärischen Zurückhaltung seit dem Zweiten Weltkrieg gut gefahren, und grundsätzlich sollten wir Deutsche auf diesem Weg bleiben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Das bedeutet nicht, dass es nicht auch in einer rauer werdenden Welt Anlass geben kann, im Bündnis tätig zu werden. Das haben wir dort getan. Wir haben eine Verlässlichkeit im Bündnis gezeigt, wie sie praktisch keine andere Nation gezeigt hat. Dafür gibt es viel Dankbarkeit, auch in den Vereinigten Staaten von Amerika. Ich finde, das sollte auch eine dauerhafte Lehre für uns sein. Ich bin den Koalitionsfraktionen und insbesondere den Kolleginnen und Kollegen der SPD sehr dankbar, dass wir nach langen Diskussionen das Mandat haben verlängern können. Wir haben den Amerikanern damit ermöglicht, diesen Einsatz zu einem vernünftigen Ende zu bringen, soweit es möglich war, hier Verhandlungsergebnisse zu erzielen. Diese Verlässlichkeit Deutschlands ist am Ende auch ein Sicherheitsgarant für uns hier in Europa. Wir sind gut beraten, bei dieser Verlässlichkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik zu bleiben. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Fritz Felgentreu, SPD, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Fritz Felgentreu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004272, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einer Woche der Abschiede kommt dem Ende des Afghanistan-Einsatzes ein besonderer Stellenwert zu. Darin sind wir uns einig. Ich vermute, es gibt noch eine Gemeinsamkeit: Freude über den Abzug aus Afghanistan werden auch die kaum empfinden, die sich über jede Soldatin und über jeden Soldaten freuen, die oder der jetzt wohlbehalten nach Deutschland zurückkehrt. Aber eine Erleichterung empfinden wir vermutlich alle darüber, dass die Last einer großen Verantwortung von uns weicht. Hier enden die Gemeinsamkeiten. Im Raum steht heute sehr dezidiert die Frage des Wofür. Wofür haben heute vor zwölf Jahren die Fallschirmjäger Alexander Schleiernick, Oleg Meiling und Martin Brunn ihr Leben gegeben? Wofür diese 20 Jahre mit ihren Gefallenen, Versehrten, Traumatisierten, ihren enormen Kosten? Wer jetzt buchhalterisch versucht, positive Veränderungen in Afghanistan gegen das aufzurechnen, was wir aufgewendet und verloren haben, wird scheitern, auch weil wir noch nicht wissen, nicht wissen können, wie viel Bestand den Errungenschaften vergönnt sein wird. Aber schon der gedankliche Ansatz ist falsch. Wer in den Krieg zieht – und die Bundeswehr war in Afghanistan im Krieg –, kann vorher nicht wissen, ob der Einsatz mit Erfolg gekrönt sein wird. Misserfolg und Niederlage sind möglich. Deshalb geht es bei der Antwort auf das Wofür nicht um eine Ertragsbilanz, sondern darum, dass wir uns noch einmal auf die Gründe und Ziele des Einsatzes besinnen. Erinnern wir uns also daran, dass von Afghanistan aus unser wichtigster und im Kalten Krieg treuester Verbündeter mit Terror überzogen worden war. Wir sind nach Afghanistan gegangen, um uns als Bündnispartner zu bewähren, auch um unserer eigenen Sicherheit willen. Erinnern wir uns daran, dass die Vereinten Nationen der NATO die Sicherheitsverantwortung für Afghanistan übertragen haben. Wir sind nach Afghanistan gegangen, um die friedenbewahrende und friedenstiftende Autorität der Vereinten Nationen zu stärken – und auch das um unserer eigenen Sicherheit willen. Erinnern wir uns an die Hoffnungen und den Stolz, mit dem wir den Wiederaufbau des verheerten Landes begleitet haben. Wir sind in Afghanistan geblieben, um unsere Verbündeten und die vielen Menschen, die ihre Hoffnungen in uns gesetzt haben, nicht zu enttäuschen – auch um unseres Selbstverständnisses und unseres Ansehens in der Welt willen. Die 20 Jahre, die eine neue Generation hatte, um in relativer Sicherheit und relativem Frieden aufzuwachsen, kann ihr niemand mehr nehmen. Die Zeit hat diese jungen Menschen geprägt, und sie werden die Zukunft ihres Landes prägen. Das sind Antworten, die wir heute denen geben können, die nach dem Wofür fragen. Sie müssen dem Bundestag auch fürderhin den Weg weisen. Denn in dieser konfliktreichen Welt werden wir immer wieder neu zu entscheiden haben, wofür wir bereit sind, Waffen in die Hand zu nehmen und Gewalt anzuwenden. Und jedes Mal wird der Ausgang ungewiss sein. Denn auch, wenn die Ziele nüchtern und realistisch definiert werden: Wer schon bei der ersten Lesung des ersten Mandats eine Exit-Strategie fordert, hat nicht verstanden, worauf er sich einlässt. Als Staatsbürger in Uniform machen sich Soldaten und Soldatinnen die gleichen Gedanken. Aber wenn sie sich heute fragen, wofür sie nach Afghanistan gezogen sind, wofür sie dort Leben und Gesundheit riskiert und zu oft auch verloren haben, dann steht ihnen eine Antwort zu, zu der wir Abgeordneten keine Zuflucht nehmen können. Sie lautet: Für uns. – Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr haben der Bundesrepublik Deutschland Treue und Tapferkeit geschworen. Und wir haben sie im Namen der Republik beim Wort genommen. Hier ist der Kern der oft zitierten Phrase „Kein Beruf wie jeder andere“: Für uns. Wer die Last der Verantwortung nicht spürt, die dieses „Für uns“ uns auferlegt, hat im Deutschen Bundestag nichts verloren. ({0}) Wir wollen uns zu ihr bekennen und ihr bei jedem einzelnen Mandat immer wieder neu gerecht werden. Wir verneigen uns vor den Gefallenen des Einsatzes in Afghanistan. Den Verwundeten und Traumatisierten stehen wir zur Seite. Und allen, die in den letzten 20 Jahren unserem Ruf gefolgt sind, danken wir in tiefer Verbundenheit. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Henning Otte, CDU/CSU. ({0})

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 9/11 2001 – wir alle haben die Bilder vor Augen. Es war ein terroristischer Massenmord. Bis zu 3 000 Menschen verloren ihr Leben in New York, in Washington oder im Flieger. Es war ein islamischer, fundamentalistischer Staat, von dem aus diese Anschläge auf die westliche Welt ausgingen – ein Staat, in dem Frauen gesteinigt worden sind und von dem die westliche Welt angegriffen worden ist. Deutschland hat damals sehr deutlich gesagt, dass wir für unser Bündnis – Artikel-5-Fall mit dem Recht zur Selbstverteidigung – einstehen. Und so war es, dass die Quelle dieses Terrors, nämlich die Al-Qaida-Strukturen in Afghanistan, zerschlagen worden ist, von dort aus nicht wieder ein Angriff auf die westliche Welt ausgeübt werden konnte. Und deswegen war dieser Einsatz auch erfolgreich, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Das, was man von links außen und von rechts außen hört – die bewusst schlechtmachende Bilanz –, verhöhnt den Einsatz aller, die sich dort eingebracht haben. Und was wäre wohl aus diesem Land geworden, hätte die internationale Gemeinschaft nicht eingegriffen? Meine Damen und Herren, 20 Jahre Einsatz der Bundeswehr – das ist auch ein Einsatz und ein Beweis für Bündnistreue. Unsere Soldatinnen und Soldaten haben gezeigt und bewiesen, dass sie mutig und tapfer kämpfen können. Damit ist das Ansehen Deutschlands gemehrt und gestärkt worden. Es hat sich aber auch ein Risiko realisiert, das in dem Satz zum Ausdruck kommt: Der Beruf des Soldaten ist kein Beruf wie jeder andere. – 59 Soldatinnen und Soldaten, Bürgerinnen und Bürger in Uniform, haben in Afghanistan ihr Leben verloren, viele davon gefallen im Kampf und im Einsatz. Auch für uns als Parlamentarier hat sich ein Risiko realisiert: Wenn wir Soldatinnen und Soldaten mit einem Mandat in den Einsatz entsenden, dann kann es sein, dass diese Menschen ihr Leben verlieren. – Ich kann mich an meine mehr als zehnmaligen Besuche in Afghanistan erinnern, aber vor allem an die Trauerfeiern in Selsingen, in Hannover, in Detmold, in Zweibrücken oder auch an bayerischen Standorten. Wir denken heute an die Hinterbliebenen, und wir sagen ihnen zu: Der Einsatz Ihrer Lieben ist nicht vergessen. ({1}) Deutschland steht ein für Werte, für Freiheit und für Frieden. Und ich sage auch sehr deutlich, insbesondere an Ihre, an die linke Adresse: Der militärische Einsatz ist immer der heftigste Einsatz, die sogenannte Ultima Ratio, aber er muss nicht immer zwingend der letzte Einsatz sein. Was wäre gewesen, wenn Obama damals das Überschreiten der roten Linie nicht hätte verstreichen lassen, als es darum ging, dass Assad Giftgas gegen die eigene Bevölkerung einsetzte? Was lernen wir aus diesem Einsatz in Afghanistan? Erstens. Wir müssen unseren Soldatinnen und Soldaten das Gerät zur Verfügung stellen, das sie für Schutz und Wirkung brauchen. Damals gab es die Debatte um den Lagerschutz mit der Panzerhaubitze 2000, und es war richtig, sie einzusetzen. Zweitens. Wir müssen als Politik die Dinge deutlich beim Namen nennen, mit Klarheit und mit Wahrheit. Ja, es war Krieg. Nicht die Soldatinnen und Soldaten müssen ihren Familien und Freunden erklären, warum sie im Einsatz sind, sondern das müssen wir als Politik. Drittens. Kein Konflikt kann allein militärisch gelöst werden, sondern das gelingt immer nur im vernetzten Ansatz – mit ISAF, der International Security Assistance Force, im Kampfeinsatz, mit Resolute Support, dem resoluten Unterstützungseinsatz, bis hin zu „Train, Assist, Advise“, und mit der Zusammenarbeit mit den zivilen Kräften und mit der Diplomatie. Das ist wichtig. Ja, ich mache mir Sorgen um Afghanistan: Wie geht es weiter? Findet eine Versöhnungskultur statt? Und ich mache mir Sorgen um die Ortskräfte. Ich danke Ihnen, Frau Bundesverteidigungsministerin und Herr Bundesaußenminister, für die Würdigung der Ortskräfte, vor allem aber auch für die Würdigung des Einsatzes unserer Soldatinnen und Soldaten. ({2}) Wir müssen auf das Unvorhergesehene vorbereitet sein. Deswegen müssen wir unsere 2‑Prozent-Verpflichtung auch einhalten. Frau Bundeskanzlerin, es war heute eine gute Entscheidung, noch einmal 7 Milliarden Euro für die Sicherheit in den nächsten Jahren zusätzlich zur Verfügung zu stellen – ({3}) auch die Entscheidung im Verteidigungsausschuss. Wer die Verantwortung in der Welt bejaht, darf sich der Pflicht, die sich daraus ergibt, nicht entziehen, für Frieden und für Freiheit. Und dafür gibt es einen Garant. Das ist die Bundeswehr. Im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion danke ich Ihnen, liebe Soldatinnen und Soldaten auf der Tribüne, stellvertretend für alle Kameradinnen und Kameraden für Ihren Einsatz und für Ihren Dienst für unser Land. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Christoph Matschie, SPD, hat als Nächster das Wort. ({0})

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Werte Soldatinnen und Soldaten! Ich will am Schluss dieser langen Debatte noch mal auf einen Kernpunkt der Auseinandersetzung zurückkommen. Afghanistan ist nicht die Erfolgsgeschichte, die wir uns alle gewünscht haben; so viele haben dafür gekämpft, viele mussten dabei auch ihr Leben lassen. Ja, es gibt sie, die positiven Entwicklungen – sie sind hier zu Recht benannt worden –, und Afghanistan ist heute ein anderes Land. Wer heute in Kabul unterwegs ist, der kann feststellen: Kabul ist offener, demokratischer und gleichberechtigter, als es jemals gewesen ist. Das haben wir mit unserem Einsatz auch erreichen können. ({0}) Aber, werte Kolleginnen und Kollegen, der Anspruch, Afghanistan als Ganzes zu befrieden, demokratischer zu machen, der ist bis heute nicht erfüllt worden. ({1}) Wir gehen nicht, weil wir unsere Ziele erreicht haben; wir gehen, weil sich die USA entschieden haben, sich jetzt zurückzuziehen. ({2}) Wir haben immer über einen Rückzug geredet, der mit Konditionen verknüpft ist. Aber es war auch immer klar – und das sage ich in die Richtung der Linksfraktion –: Wir gehen gemeinsam in diesen Einsatz, und wir gehen gemeinsam raus. – An dieser Stelle stehen wir heute. Die Perspektive für Afghanistan – das muss man leider sagen – ist im Moment unklar. Der Frieden ist noch weit entfernt. Aber war der Einsatz deswegen falsch? – Nein, das war er nicht. Wir waren aus guten Gründen in Afghanistan, und diese Gründe sind auch heute noch richtig, werte Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Allen, die es von Anfang an immer besser gewusst haben – Herr Hampel, ich will an dieser Stelle sagen: Ihr Zynismus ist einfach nur widerlich und schwer erträglich –, ({4}) sage ich: Nein, das haben Sie nicht. Wer damals gegen diesen Einsatz war, war es aus ideologischen Gründen oder aus taktischen Gründen, aber nicht, weil er den Ausgang vorhergesehen hat. ({5}) Ich selbst habe wie ganz viele in diesem Haus nach dem 11. September aus guten Gründen für diesen Einsatz gestimmt. Ich bin auch heute noch der Meinung, es wäre fahrlässig und unpolitisch gewesen, die USA nach dem 11. September im Antiterrorkampf allein zu lassen und als Bundesrepublik Deutschland nicht an ihrer Seite zu stehen. Das wäre unverantwortlich gewesen. Das sehe ich auch heute noch so. ({6}) Werte Kolleginnen und Kollegen, ich habe den allergrößten Respekt vor denjenigen, die in Afghanistan, in welcher Art auch immer, ihren Einsatz unter den schwierigsten Bedingungen geleistet haben. Ich will an dieser Stelle auch noch mal ganz persönlich meinen tief empfundenen Dank an Sie ausdrücken: Herzlichen Dank für das, was Sie geleistet haben. ({7}) Wir als politisch Verantwortliche müssen – und das ist hier diskutiert worden – aber auch die Lehren aus einem solchen Einsatz ziehen. Dazu gehört unter anderem die Einsicht, dass unsere Möglichkeiten bei allem guten Willen durchaus begrenzt sind, oder wie es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf der Münchner Sicherheitskonferenz einmal gesagt –: Wir dürfen unsere Außenpolitik nicht mit zu viel Heilserwartung überfrachten. – Das stimmt. Das heißt aber nicht, sich herauszuhalten, wenn es schwierig wird, wenn es ernst wird. Vielmehr heißt das, klug und rational die eigenen Möglichkeiten zu kalkulieren, gemeinsam mit den Verbündeten Strategien zu entwickeln und die Ziele klug und realistisch zu setzen im Einsatz für eine bessere Welt. Dieser Einsatz ist vielleicht wichtiger als jemals zuvor; er entfällt in den kommenden Jahren nicht. Dieser Einsatz wird unter Umständen auch wieder militärische Mittel erfordern; auch davor dürfen wir uns nicht drücken. Aber eines sage ich Ihnen auch, Herr Lucassen: Jede Realpolitik, die die Bundesrepublik Deutschland macht, muss und wird auch immer wertebasierte Außenpolitik sein. ({8}) Werte Kolleginnen und Kollegen, Afghanistan wird unsere Unterstützung auch in Zukunft brauchen. Ich bin froh, dass die Bundesregierung hier deutlich gemacht hat, wie diese Unterstützung aussehen soll. Zum Schluss gestatten Sie mir noch ein kurzes persönliches Wort. Dies ist meine letzte Rede im Deutschen Bundestag. Ich bin das erste Mal mit der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl nach der deutschen Einheit in dieses Hohe Haus gewählt worden. Ich bin stolz, dass ich diesem Hause angehören durfte und noch angehöre. In einer Gesellschaft zu leben, in der man sich nach demokratischen Regeln frei entfalten kann, das war für mich lange nur ein Traum. Die Friedliche Revolution hat es für mich möglich gemacht. Ich hatte das große Glück, hier in Berlin am runden Tisch die ersten freien Wahlen in der DDR mit verhandeln zu dürfen. Sie können sich deshalb vorstellen, was die Arbeit in diesem Parlament für mich bedeutet hat. Ich möchte mich zum Schluss ganz herzlich bei all den großartigen Kolleginnen und Kollegen bedanken, mit denen ich zusammenarbeiten durfte. Es war mir eine Ehre. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Lieber Herr Kollege Matschie, der Beifall fast des ganzen Hauses drückt aus, welche Wertschätzung Sie sich in diesen drei Jahrzehnten nicht nur in diesem Parlament, sondern in unserem Land erworben haben. Auch wir kennen uns seit mehr als drei Jahrzehnten. Sie waren immer ein herausragender Vertreter unseres Landes, das so lange geteilt war und dann mit so großem Engagement ein gemeinsames Land, eine gemeinsame Demokratie geworden ist. Ich danke Ihnen von Herzen im Namen des ganzen Hauses und wünsche Ihnen für Ihren nächsten Lebensabschnitt alles Gute. ({0}) Jetzt hat das Wort die Kollegin Gisela Manderla, CDU/CSU. ({1})

Gisela Manderla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004348, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Liebe Soldatinnen und Soldaten! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Matschie, ich kann mich den Worten unseres Präsidenten nur anschließen und wünsche Ihnen im Namen der CDU/CSU-Fraktion alles Gute. Der Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan nach über 20 Jahren bezeichnet nicht einfach das Ende eines Auslandseinsatzes, meine Damen und Herren. Es ist vielmehr der Abschluss eines ganz besonderen Kapitels unserer Parlamentsarmee; denn die hier gemachten Erfahrungen waren nachhaltig und müssen uns auch künftig in allen außen- und verteidigungspolitischen Fragen leiten. Das Ende der Mission in Afghanistan schließt in gewisser Weise auch das Kapitel des Global War on Terror ab – ein nicht nur im Nachhinein ambivalentes Unterfangen. Was sind nun die Lehren aus Afghanistan? Zuallererst war der Einsatz in Afghanistan ein Nachweis der Leistungsfähigkeit unserer Bundeswehr. Dass wir in der Lage sind, militärische Einsätze dieser Größe weit weg von Deutschland zu stemmen, ist etwas, worauf wir stolz sein können und worauf die Bundeswehr stolz sein kann; denn, meine Damen und Herren, als die USA nach den Anschlägen am 11. September den NATO-Bündnisfall ausriefen, waren wir willens und fähig, unsere Pflicht zu erfüllen. Als verlässlicher Bündnispartner stand unsere Truppe den anderen Beteiligten in dieser und in allen sich anschließenden Missionen in Afghanistan zur Seite. Wir waren auch noch Teil der Missionen, als andere längst wieder abgezogen waren. Gemeinsam rein, gemeinsam raus: Deutschland hat dieses Versprechen gehalten. Der Einsatz hat unseren Soldaten und Soldatinnen alles abverlangt; wenn Sie etwas mehr davon wissen wollen, dann lesen Sie das Buch „Vier Tage im November“ von Johannes Clair. Die Bilanz, die wir nun rückblickend ziehen müssen, besteht aus Licht und Schatten. 59 deutsche Soldaten verloren ihr Leben. Viele wurden an Leib und Seele verwundet. Diese Tatsache war für viele in unserem Land ein Schock: für die Gesellschaft, aber auch für die Politik. Ich meine: Den Veteranen dieses Einsatzes muss unsere besondere Aufmerksamkeit und Fürsorge gelten. Neben der politischen, gesellschaftlichen und militärischen Anerkennung gebührt ihnen nun die bestmögliche Unterstützung bei der Rückkehr in die Normalität. Wir haben – das möchte ich auch betonen – in Afghanistan einiges erreicht. Von afghanischem Boden ging kein internationaler Terror mehr aus. Der ungestörte Rückzugsraum für al-Qaida ging verloren. Natürlich war die Lage im Land immer verzwickt, und sie wurde im Laufe der Jahre zunehmend schwieriger. Weitere Widersacher neben den Taliban wirkten erschwerend und verstärkend in diesen Konflikt hinein. So trat auch das Phänomen des IS in Afghanistan auf. Armut, Hunger, der Verstoß gegen Menschenrechte, archaische Strukturen und Korruption sind Aspekte, die Afghanistan bis heute bedrohen. Aber auch dieser Herausforderung stellten sich unsere Soldatinnen und Soldaten. Sie waren damit nicht nur Verteidiger und Unterstützer der Menschen vor Ort, sondern auch Vermittler, Helfer und damit unverzichtbarer Hoffnungsgeber in diesem Land. Wenn es auch nie gelang, den Staat nachhaltig zu befrieden, so kann man doch sagen, dass das Leid in Teilen der Bevölkerung etwas gemildert und die Hoffnung auf ein normales, selbstbestimmtes Leben – besonders für Frauen und Mädchen – greifbar wurde. 20 Jahre haben eine ganze Generation geprägt; dies lässt etwas Hoffnung aufkeimen. Meine Damen und Herren, wir haben die Herausforderungen so gut bewältigt, dass wir teilweise der zweitgrößte Truppensteller und damit eine wesentliche Säule dieser Mission waren. Wenn die Resolute Support Mission in Afghanistan nun ihr Ende findet, ist klar, dass Gefahr droht. Das zeigen die Rückschläge und der Vormarsch der Taliban. Unsere Aufgabe ist es nun, mit humanitären Hilfen, mit Entwicklungszusammenarbeit zu versuchen, in Afghanistan weiterzuarbeiten. Zum Schluss – Herr Präsident, ich komme zum Schluss – möchte ich noch mal all denen danken, die sich für uns eingesetzt haben. Und ich möchte noch mal an die gefallenen Soldaten und ihre Familien erinnern. Ich freue mich sehr, dass der Gedenkstein aus Masar-i-Scharif demnächst in Potsdam aufgestellt wird, damit auch hier, in Deutschland, sichtbar ist, wer für uns dort, am Hindukusch, gefallen ist. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Christan Schmidt, CDU/CSU. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Warum? Wer? Wie? Wo? Wann? Warum? Peter Struck, zu Beginn der Operation in Afghanistan deutscher Verteidigungsminister, hat den berühmten Satz gesagt, dass die Sicherheit Deutschlands auch am Hindukusch verteidigt wird. Und er hat damit – in Wahrheit – bis heute ein Stück weit recht gehabt. Unsere Sicherheit wurde im gerade genannten Global War on Terror, um den amerikanischen Begriff zu verwenden, mitverteidigt. Osama Bin Laden hatte sein Rückzugsgebiet in Afghanistan. Er war übrigens ein alter Kämpfer, der schon mit den Mudschahedin gegen die Sowjets in Afghanistan gekämpft und sie finanziert hatte. Er hatte seine Truppe gesammelt im Gebiet um Afghanistan und Pakistan – zu dem Punkt komme ich noch –; er wurde ja auch in Pakistan von einer amerikanischen Spezialeinheit zu Tode gebracht. Wir hatten zu dieser Zeit Sorge, dass der Terror direkt in unser Land kommt: Gehst du nicht nach Afghanistan, dann kommt der Terror zu dir. – Das war die Situation; alles andere ist Gewäsch. Die zweite Frage, der zweite Punkt: Wer? Ja, die Bundeswehr, aber nicht allein, sondern sie hatte zusammen mit sehr vielen zivilen Kräften auch die Möglichkeit, Entwicklungsarbeit zu betreiben. Unser Projekt der PRTs, Provincial Reconstruction Teams, hat gezeigt, dass das funktioniert. Hier möchte ich auf die verquere Argumentation des Kollegen Bartsch eingehen, der irgendwie versucht hat, die Welt so zurechtzubiegen, dass sie in linke Vorstellungen und Argumentationen passt: Es ist gerade umgekehrt; die Frauen haben jetzt Sorge, weil sie erlebt haben, wie ein selbstbestimmtes Leben in einer Gesellschaft sein kann, was möglich ist, wenn sie sich entfalten können. Deswegen gibt es natürlich Sorgen, da wir uns in dieser Situation sehr schnell und international vielleicht nicht bestens positioniert aus Afghanistan zurückziehen. Die dritte Frage: Wo? In Afghanistan. Aber Afghanistan ist nicht gleich Afghanistan. Afghanistan besteht aus sehr verschiedenen Teilen. Wenn man weit in die Geschichte zurückblickt, kann man sagen, dass die sogenannte Durand-Linie, eine britische Erfindung, dazu führt, dass ein großer Teil der Paschtunen, die einen wesentlichen Teil der Bevölkerung Afghanistans stellen und eine Schlüsselrolle bei den Auseinandersetzungen mit den Taliban spielen, heute pakistanische Bürger sind. Sie leben in den FATAs, den Federally Administered Tribal Areas. Eigentlich ist mancher der Konflikte, die wir jetzt in Afghanistan gesehen haben, nicht mit der ISAF gekommen, sondern die ISAF hat sich damit konfrontiert gesehen. Wie? Ja, in der Tat, die Bundeswehr war – das zu sagen sei mir gestattet als jemand, der von Anfang an unzählige Male in Afghanistan war und auch Verantwortung mit getragen hat – mittelmäßig vorbereitet, um es vorsichtig zu sagen. Wir haben immer noch das Kraftfahrt-Bundesamt als dominierend in Erinnerung. ({0}) Auf die Frage, ob beim Iltis die Sitzbank hinten umgedreht werden kann, um besseren Flankenschutz zu geben, sagte das Kraftfahrt-Bundesamt: Nein, dann erlischt die Allgemeine Betriebserlaubnis. ({1}) Das sind Dinge, mit denen wir zu kämpfen hatten – die Mentalität. Aber nicht nur das Kraftfahrt-Bundesamt, sondern auch wir im Deutschen Bundestag, auch die deutsche Bundesregierung mussten erst lernen, was es heißt, Krieg zu führen. Erst als Karl-Theodor zu Guttenberg das Wort „Krieg“ verwendet hat, erkannte man, dass wir hier nicht in einer irgendeiner Übungsmission sind. Daran müssen wir anknüpfen. Das heißt für mich auch – damit komme ich zur Frage nach dem Wann –: Es geht weiter. Wer? Vielen Dank, Frau Verteidigungsministerin, dass der Bundespräsident die Soldatinnen und Soldaten und die zivilen Kräfte im Rahmen eines großen Appells empfängt. Wir haben keine Willkommenskultur in Deutschland, auch nicht die Kultur, dass wir diejenigen, die wir hier aus diesem Hohen Hause in den Einsatz schicken – ich glaube, ich habe zusammengerechnet 150-mal für Auslandseinsätze gestimmt –, anständig begrüßen, wenn sie wieder da sind, wenn sie hoffentlich heil zurückkommen. Viele kommen nicht heil zurück. Ich habe selbst mal die traurige Pflicht gehabt, die sterblichen Überreste von jemandem aus Afghanistan – von Termes aus – begleiten zu müssen, begleiten zu dürfen, habe eine solche Situation also unmittelbar erlebt. Das heißt, ja, wir müssen eine Willkommenskultur haben.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Schmidt.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe damit gerechnet, da das meine fast letzte Rede ist, dass der Präsident heute gnädig ist. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ich dachte, Sie reden morgen noch mal. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. Ich habe ja gesagt: die fast letzte Rede.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sie glauben gar nicht, wie sehr ich damit beschäftigt bin, ob es Ihre letzte oder Ihre vorletzte Rede ist. ({0}) Aber weil es Ihre vorletzte ist, müssen Sie sie jetzt zu Ende bringen.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, das wissen Sie jetzt, und ich weiß es auch. Ich bringe deswegen meine Rede zu Ende: Danke an die Soldatinnen und Soldaten für ihren Einsatz! ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die derzeitige Infektionslage in Deutschland ist ermutigend und macht Hoffnung auf einen guten Sommer. Bundesweit liegt die Sieben-Tage-Inzidenz inzwischen in einem einstelligen Bereich. Diese Entwicklung haben wir einer gemeinsamen Kraftanstrengung zu verdanken, ({0}) einer Kraftanstrengung der Bürgerinnen und Bürger, der Wirtschaft, der Kultur, der Bildungseinrichtungen und vieler, vieler mehr, die ich hier gar nicht alle im Einzelnen nennen kann, in einem Wort: einer Kraftanstrengung der ganzen Gesellschaft. Ich bin gleichwohl sicher, dass es auch in Ihrem Namen ist, wenn ich in diesem Dank ganz besonders die Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger hervorhebe. ({1}) Sie sind in allen drei Wellen der Pandemie bis an die Grenzen ihrer Kräfte gegangen, zum Teil weit darüber hinaus, um Leben zu retten und um immer auch Patientinnen und Patienten mit anderen behandlungsbedürftigen Krankheiten versorgen zu können. Deshalb danke ich ihnen von ganzem Herzen. ({2}) Das derzeitige Infektionsgeschehen ist ermutigend und lässt Öffnungen zu. Sie sind sachgerecht und verhältnismäßig. Aber ich betone: Wir müssen auch dabei mit Augenmaß vorgehen. Das heißt, das Einhalten der Abstandsregeln, der Hygienemaßnahmen und der Maskenpflicht in bestimmten Situationen sind weiterhin wichtige Schutzmaßnahmen; und das bleiben sie auch. Ich bitte daher nachdrücklich um die Einhaltung dieser Regeln. Denn auch wenn die dritte Welle eindrucksvoll gebrochen ist: Vorbei ist die Pandemie noch nicht. Wir bewegen uns immer noch auf dünnem Eis. Deshalb war es erforderlich, dass der Deutsche Bundestag am 11. Juni die Verlängerung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite für drei weitere Monate beschlossen hat. Das kommt auch in der Einschätzung des Robert-Koch-Instituts zum Ausdruck, das die Gefährdung der Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland inzwischen von „sehr hoch“ auf „hoch“ abgesenkt hat. „Hoch“: Diese Einstufung berücksichtigt einerseits die derzeit stabile Infektionslage mit niedrigen Infektionszahlen und blendet andererseits aber auch nicht die Gefahren durch die Verbreitung besorgniserregender Mutationen aus; einer Gefahr, die gerade in Ländern mit einem hohen Anteil der Delta-Variante spürbar wird. Die stark steigende Zahl von Neuansteckungen in Russland und Portugal zum Beispiel ist vor allem auf diese neue Variante zurückzuführen. Das sollte uns Warnung und Auftrag zugleich sein; denn auch bei uns steigt der Anteil der Delta-Mutationen an den Infektionen. Wir dürfen jetzt das, was wir gemeinsam erreicht haben, nicht leichtfertig riskieren. ({3}) Der Schlüssel zur Überwindung der Pandemie sind natürlich die Impfungen. Unser Ziel ist und bleibt, allen Bürgerinnen und Bürgern bis Ende des Sommers ein Impfangebot machen zu können. Derzeit ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung einmal geimpft, rund ein Drittel der Bevölkerung hat bereits den vollen Impfschutz erhalten, der nach allem, was die Wissenschaft bisher einschätzen kann, auch der beste Schutz vor der Delta-Variante zu sein scheint. Meine Damen und Herren, es ist zu früh für eine abschließende Bewertung der Pandemiebekämpfung. Aber als wichtigstes Zwischenfazit dürfen wir gemeinsam festhalten, dass es gelungen ist, die in den drei Wellen drohende Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern. In der dritten Welle wurde dazu leider eine Bundesnotbremse unumgänglich. Dass die Überlastung unseres Gesundheitswesens bislang verhindert wurde, das hat nicht allein der Gesundheit gedient, sondern allem. Denn in der Pandemiebekämpfung ging und geht es ja nie um Gesundheit oder Wirtschaft – ein sich leider viel zu hartnäckig haltendes Missverständnis –, um Gesundheit oder Bildung, Gesundheit oder Kultur, sondern immer um Gesundheit und Kultur, Gesundheit und Bildung, Gesundheit und Wirtschaft. Was der Gesundheit dient, dient immer auch allem anderen. Wie sehr, das wird auch daran sichtbar, dass inzwischen die Wirtschafts- und Arbeitsmarktprognosen für die Zukunft gut sind, der Geschäftsklimaindex einen positiven Trend zeigt und wir vor einem kräftigen Wachstum stehen. Wenn wir nach der dritten Welle nun weiter vorsichtig und aufmerksam bleiben und besonders auch die vergleichsweise niedrigschwelligen und erträglichen Abstands-, Masken- und Hygieneregeln weiter beachten, dann wird die Coronaviruspandemie ihren Schrecken verlieren und endgültig überwunden werden. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

So, dann beginnen wir mit der Befragung der Bundeskanzlerin. Die erste Frage stellt der Kollege Albrecht Glaser, AfD.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Bundeskanzlerin, vor wenigen Tagen hat die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 258 AEUV gegen Deutschland eingeleitet. Dieses Vorgehen knüpft an die Erklärung der Kommissionspräsidentin von der Leyen vom 10. Mai an, in welcher sie ausgeführt hatte, das letzte Wort über EU-Recht werde in Luxemburg gesprochen, nirgendwo sonst. Grund des Angriffs der Kommission ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020, in welchem das Gericht festgestellt hatte, dass die billionenschweren Anleihekäufe der EZB als Eingriff in den unantastbaren Kerngehalt der deutschen Verfassungsidentität gewertet werden müssten; das Verhalten der EZB sei nicht durch die EU-Verträge gedeckt. Diese sogenannte Ultra-vires-Lehre hat das Bundesverfassungsgericht seit den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts in einer ganzen Reihe von Entscheidungen entwickelt. Verfassungsgerichte anderer EU-Staaten teilen diese Sichtweise. ({0}) Am 9. Juni, also vor wenigen Tagen, wurde die Bundesregierung zur Stellungnahme bis zum 9. August aufgefordert. ({1}) Da weder die Bundesregierung noch ein anderes Staatsorgan Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und deren Schutz des Grundgesetzes aushebeln können, ({2}) frage ich Sie, wie die Bundesregierung den Angriff der EU auf den Kernbestand der deutschen Staatlichkeit sieht. ({3}) Herzlichen Dank trotz des Lärmes und des unqualifizierten Dazwischenredens. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sie haben die Fragezeit deutlich überschritten; das erklärt den Lärm, Herr Kollege Glaser. ({0}) Dafür ist die Redezeit ja nicht da und die rote Ampel auch nicht. ({1}) Jetzt hat die Bundeskanzlerin das Wort.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Genau. – Wir haben in der Tat ein sogenanntes Auskunftsersuchen der Europäischen Kommission zu dem von Ihnen dargestellten Sachverhalt erhalten. Die Bundesregierung beabsichtigt, auch in Übereinstimmung mit den Informationspflichten gegenüber dem Parlament nach den gesetzlichen Grundlagen, dieses Auskunftsersuchen zu beantworten. Wir glauben, wir können das auch. Wir haben die klare und auch vom Bundesverfassungsgericht gar nicht in Abrede gestellte Situation, dass natürlich europäisches Recht Vorrang vor nationalem Recht hat; das wird von niemandem infrage gestellt. Auf der anderen Seite haben wir die Kompetenz der Nationalstaaten, Zuständigkeiten durch Beschluss der nationalen Verfassungsorgane an die europäische Ebene zu verlagern. Es gibt sozusagen keine Kompetenzkompetenz seitens der Europäischen Union. In diesem Geist werden wir auch das Auskunftsersuchen beantworten und hoffen dann, damit auch die Informationen nach Brüssel zu liefern, die gebraucht werden.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Wollen Sie eine Nachfrage stellen?

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Selbstverständlich, Herr Präsident.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte, Herr Glaser.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Am 14. Juli wird die EU-Kommission einen Vorschlag zur Ergänzung des sogenannten Eigenmittelbeschlusses machen, der die jährlichen Pflichtabgaben der Mitgliedstaaten an die EU festlegt. Da darin erstmals in der Geschichte des Staatenbundes eine Kreditaufnahme von über 800 Milliarden Euro mitbeschlossen werden sollte, wurde der Beschluss des Rates bei den Mitgliedstaaten mit Druck und Schmerzen zustande gebracht. Nunmehr will die Kommission die Erlaubnis, eigene Abgaben bei den EU-Bürgern bzw. Unternehmen erheben zu dürfen – auch dies ein einmaliger Vorgang in der Geschichte des Staatenbundes. Versüßt wird dieses Anliegen der EU mit dem Versprechen, diese Steuereinnahmen zum Schuldendienst für die aufgenommenen Kredite zu verwenden. Wie kommentieren Sie diesen Vorgang?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Also, erst einmal ist richtig – ich sage es mal mit meinen eigenen Worten –, dass der Eigenmittelbeschluss von allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ratifiziert wurde und damit die Kommission eine erste Kredittranche an den Finanzmärkten aufnehmen konnte. Darüber hinaus gibt es andere Vorschläge für Eigenmittel als Einnahmen der europäischen Ebene. Wir haben so etwas heute schon im Zusammenhang mit Zollgebühren zum Beispiel. Wir haben auch bei der Beratung der Finanziellen Vorausschau – das ist Ihnen seit Langem bekannt – überlegt: Welche anderen Eigenmittel kämen noch infrage? Die Kommission kann dazu Vorschläge vorlegen; das wird im Europäischen Rat oder im Rat beraten. Dann werden die Entscheidungen darüber gemeinsam mit dem Europäischen Parlament gefällt. Zur Zweckbestimmung dieser Einnahmen: Es ist natürlich so – das muss ja in unser aller Interesse sein –, dass wir die aufgenommenen Schulden wieder zurückzahlen wollen; das genau ist ja ein deutsches Kernanliegen. Insofern müssen dafür die Voraussetzungen geschaffen werden. Ob das jetzt aus der Finanziellen Vorausschau kommt, aus zusätzlichen Eigenmitteln, das wird noch zu besprechen sein. Aber wir brauchen Einnahmen, die auch die Rückzahlung ermöglichen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die nächste Frage stellt der Kollege Carsten Schneider, SPD.

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben ja eben auf den Haushaltsbeschluss und die mittelfristige Finanzplanung rekurriert, die heute im Kabinett besprochen wurde. Der Haushaltsentwurf sieht für das nächste Jahr eine Nettokreditaufnahme von fast 100 Milliarden Euro und auch in der nächsten Legislatur hohe Kreditaufnahmen vor; es gibt einen erheblichen Konsolidierungsbedarf. Nun habe ich von den beiden Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten der CDU und CSU, Herrn Söder und Herrn Laschet, vernommen, dass sie nach der Bundestagswahl einen Kassensturz vornehmen wollen. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich interpretiere das als Misstrauen gegenüber dem, was das Kabinett unter Ihrer Führung und unter Herrn Finanzminister Scholz heute beschlossen hat. ({0}) Daher frage ich Sie, ob Sie die Forderung dieser beiden Ministerpräsidenten teilen und ob Sie sie gegebenenfalls darüber unterrichten wollen, wie die Finanzplanung des Bundes aussieht. ({1})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich würde Sie erst mal beruhigen und das nicht als mangelndes Vertrauen, sondern einfach als einen Ansatz verstehen, mal in die Bücher zu gucken. Das macht jeder, selbst der heutige Finanzminister permanent. ({0}) Insofern ist das für mich ein ganz normaler Vorgang. Mit Blick auf die Regierungsprogramme aller Parteien glaube ich, es ist in jedem Falle und für jeden notwendig, zu schauen: Wie verhält es sich mit der dann herrschenden Finanzlage, die wir alle im Übrigen im Augenblick noch gar nicht richtig voraussehen können? ({1}) Ich war sehr erfreut, dass auch der Bundesbankpräsident heute in der Haushaltsberatung im Kabinett sehr positive Wachstumsprognosen gegeben hat. Das heißt: Das Hauptaugenmerk sollten wir jetzt, nach dem Einbruch der Ökonomie, erst mal auf Wachstum legen. ({2})

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Bundekanzlerin, vielen Dank. – Ich gucke auch gern in die Bücher; ich kann das den Ministerpräsidenten auch zur Verfügung stellen; es ist ein öffentliches Dokument. Aber da Sie das heute ganz frisch beschlossen haben, ist meine Frage: Wie hoch werden der Konsolidierungsbedarf und die Nettokreditaufnahme insgesamt in den nächsten vier Jahren der Finanzplanung sein?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Also, wenn Sie es nicht nachgelesen haben: 99,7 Milliarden Euro. ({0}) – 5,4 Milliarden Euro im Jahre 2023, 12,0 Milliarden Euro im Jahre 2024, 11,8 Milliarden Euro im Jahre 2025 – immer in Übereinstimmung mit der Schuldenbremse – und dann noch 6,2 Milliarden Euro ungedeckter Bedarf im Jahre 2025. – Stimmt das mit Ihrem Wissen überein? ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die nächste Frage stellt der Kollege Johannes Vogel, FDP.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Bundeskanzlerin, das ist ja die letzte Regierungsbefragung in Ihrer historischen Kanzlerschaft. Das hat den Vorteil, dass Sie in den Debatten über die nächste Legislaturperiode in den nächsten Wochen nicht selbst Partei sein werden und deshalb ganz objektiv über die Lage sprechen können. Wir haben ja in den letzten Wochen zwei interessante Wortmeldungen gehabt. Wir hatten ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Klimapolitik, also zur Dekarbonisierung, dessen Kern ja war, dass heutige Generationen bei absehbaren Herausforderungen nicht zulasten künftiger wirtschaften dürfen. Wir hatten zweitens den Wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium, der ein erhebliches Finanzierungsloch bei der Rente konstatiert hat, wenn in den nächsten Jahren die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen. Vor dem Hintergrund lautet meine Frage: Wir haben im Bundeshaushalt, über den Sie gerade gesprochen haben, jetzt schon über 100 Milliarden Euro Rentenzuschuss, und wir wissen: Der wird dramatisch steigen. – Wenn man das nicht will und nicht will, dass alle Menschen zwangsweise länger arbeiten müssen oder dass die Beiträge explodieren: Glauben Sie, dass sich die Rentenpolitik der letzten Jahre in der nächsten Dekade und in der nächsten Legislaturperiode dann wird fortsetzen lassen?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Zuerst einmal würde ich gerne sagen, dass ich entsprechend meinem Amtseid im Rahmen meiner persönlichen Möglichkeiten immer objektiv spreche und gesprochen habe. Zweitens ist ja das Thema „Nachhaltigkeit der Rentenversicherung“ für uns ein permanentes Thema, schon über viele Jahre. Ich darf sagen, dass es uns in den letzten bestimmt zehn Jahren geholfen hat, dass wir eine sehr viele höhere Beschäftigung hatten, als man vielleicht im Jahre 2004 oder 2005 vorausgesehen hätte. Das heißt, alle Kraft darauf zu lenken, die Erwerbsmöglichkeiten für Männer und Frauen – das sage ich ausdrücklich –, inklusive auch durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, wie wir es gemacht haben, zu nutzen und zu mobilisieren, das ist, glaube ich, das beste Rezept, um die Nachhaltigkeit unserer Rentenversorgung, unserer Rentensicherung zu ermöglichen. Dazu kommt, dass die unterschiedlichen Parteien unterschiedliche Vorschläge unterbreiten, wie man das Ganze abstützen kann. Wir wissen alle: Die gesetzliche Rentenversicherung alleine wird nicht ausreichen. Wir brauchen andere Rentenmöglichkeiten, zum Beispiel betriebliche, und Ähnliches. ({0}) – Sie haben recht: Auch eine gute Lohnsituation hilft natürlich, die Rentensituation zu verbessern. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Mögen Sie eine Nachfrage stellen?

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Würde ich gerne.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Vogel, bitte.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Die Arbeitsmarktsituation ist in den letzten Jahren – mit Ausnahme vielleicht der letzten Monate – in der Tat sehr gut gewesen; deswegen ist die Situation in Bezug der Rentenfinanzen auch gut. Allerdings bemessen wir ja auch die Gefährlichkeit eines, ich sage mal, für das nächste Wochenende angesagten Sturmes nicht danach, ob am Mittwoch die Sonne scheint, sondern wir können vorausschauen. Der Faktor Demografie kommt neu dazu: Noch sind die Babyboomer ja nicht in Rente. Die Frage, ob eine gute Arbeitsmarktsituation und gute Löhne da ausreichen werden, bleibt virulent. Müssen wir nach Ihrer Überzeugung nicht auch an die Struktur des Rentensystems selber ran?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich glaube, dass gerade Ihre Partei ja schon immer der Meinung ist, dass man an diese Struktur heranmuss. Ich glaube, dass sich die umlagefinanzierte Rente länger bewährt hat, als wir alle dachten, und dass sie sich auch weiter bewähren kann, ({0}) auch mit Blick auf das, was die Rentenkommission in dieser Legislaturperiode erarbeitet hat; in Erinnerung an Karl Schiewerling will ich seinen Namen hier noch mal nennen. Das heißt nicht, dass wir da nicht in den nächsten Jahren weiterarbeiten müssen; aber für den Zeitraum, den ich jetzt übersehe, glaube ich, können wir guten Gewissens sagen, dass wir gute Grundlagen dafür gelegt haben. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die nächste Frage stellt der Kollege Rudolf Henke, CDU/CSU.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Bundeskanzlerin, ich komme noch mal zurück auf Ihre Eingangsbemerkung. Nach den aktuellen Daten aus dem Robert-Koch-Institut haben wir in Deutschland ja etwa 90 500 Verstorbene im Zusammenhang mit der Coronapandemie zu beklagen. Auf der anderen Seite haben die zahlreichen Maßnahmen seit dem vorigen Frühjahr auch etlichen Menschen das Leben gerettet. Zugleich erleben wir – und haben erlebt – Debatten um die Verhältnismäßigkeit von Schutzmaßnahmen, auch im internationalen Vergleich. Meine Frage: Wie sieht Ihr bisheriges Fazit zum Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit aus?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich glaube, dass jeder von uns, der da Entscheidungen zu treffen hatte – ob Sie das hier im Parlament waren, ob das wir in der Regierung waren oder ob das die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten waren –, sich immer, in jeder Sekunde überlegt hat: Was ist der beste Weg durch ein so unvorhergesehenes Ereignis wie eine solche schreckliche Pandemie? Unser erster Maßstab war, die Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Ich habe eben gesagt: Das ist uns einigermaßen gelungen. Der zweite Maßstab war natürlich, möglichst jedes Menschenleben zu schützen. Da, muss man sagen, hatten wir schwere Stunden und Wochen, gerade auch, wenn ich an den Jahreswechsel 2020/2021 denke, wo wir viel lernen mussten, um die Pflegeheime besser zu schützen. Wenn ich daran denke, was wir an Hilfsmaßnahmen beschlossen haben, dann haben wir, glaube ich, auch vieles richtig gemacht. Trotzdem gibt es sehr, sehr viele Menschen, die gelitten haben, die auch über das Maß, das sie vielleicht selbst schaffen, hinaus gelitten haben. Denen müssen wir jetzt und dann auch nach Ende der epidemischen Lage von nationaler Tragweite weiter helfen, mit Unterstützungsmaßnahmen für die Kinder, für die Jugendlichen, für die Familien. Das müssen wir situationsgerecht weiter tun. Die Pandemie ist ein großer Einschnitt in unserer Geschichte. Da wird man auch zurückblickend noch mal Lehren ziehen müssen: Was können wir besser vorbereiten für solche Fälle? Aber im großen Ganzen, würde ich sagen, haben wir sehr vieles richtig gemacht, auch im internationalen Vergleich. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Henke, mögen Sie eine weitere Nachfrage stellen?

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, das möchte ich gerne.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte, gerne.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte nachfragen: Welche Erwartungen haben Sie, was Änderungen angeht, nach diesem gemeinsamen, weltweiten Erleben, in der internationalen Zusammenarbeit?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich habe die Erwartung, dass die WHO schlagkräftiger ist, dass wir in der Lage sind – so, wie wir es jetzt mit ACT-A und Covax sehr schnell gemacht haben –, internationale Fazilitäten zu haben, die dann auch Medikamente entwickeln und Impfungen machen, und dass wir insgesamt das internationale Gesundheitswesen resilienter machen. Die WHO braucht sicherlich auch noch mehr Schlagkraft, auf ihre Regionalorganisationen zuzugreifen. Und mit Blick auf die Entwicklungsländer müssen wir vor allen Dingen eine Infrastruktur im Gesundheitswesen schaffen, die schnelles Impfen zum Beispiel dann, wenn die Impfstoffe vorhanden sind, auch ermöglicht, ebenso eine gute Aufklärung und Vorbereitung. Aber insgesamt hat sich in den Zeiten der Pandemie der Multilateralismus eigentlich stärken können, und das ist für mich eine gute Botschaft. Zweitens will ich noch sagen: Wir haben natürlich bezüglich der Umsetzung der gesamten Agenda 2030 einen schweren Rückschlag erlitten. Das heißt, die ganze nächste und übernächste Legislaturperiode werden alle damit beschäftigt sein, die SDG-Ziele 2030 zu erreichen, und es wird eines Mehr an Entwicklungsanstrengungen bedürfen und nicht eines Weniger. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die nächste Frage stellt die Fraktionsvorsitzende der Fraktion Die Linke, Amira Mohamed Ali.

Amira Mohamed Ali (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004823, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Bundeskanzlerin, Ihr Gesundheitsminister Jens Spahn hat angekündigt, allen Jugendlichen ab zwölf Jahren bis Ende August ein Impfangebot machen zu können. Können Sie das so bestätigen? Und wenn ja, was bedeutet das konkret? Bedeutet das, dass die Jugendlichen dann hochpriorisiert werden sollen, weil ja sonst immer eher vom Ende des Sommers die Rede ist – das hatten Sie eben auch noch mal gesagt –, oder heißt das, dass bis Ende August alle Menschen, die das wollen, also auch die vielen, die jetzt schon auf den Wartelisten der Ärzte und der Impfzentren stehen, bis Ende August ihre Erstimpfung erhalten? Oder bedeutet das, dass diese Menschen zumindest alle bis Ende August einen konkreten Impftermin bekommen, der dann auch Wochen oder Monate später liegen kann? Ich denke, da werden Sie mir zustimmen, Frau Bundeskanzlerin: Es ist wichtig für die Menschen, hierüber Klarheit zu haben.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Das mit dem Impfangebot an die jungen Menschen können wir bis Ende August machen. Ich will mich jetzt nicht festlegen. Ich habe mich, als ich gefragt wurde, immer auf den 21. September festgelegt. So, wie es jetzt aussieht, brauchen wir vielleicht nicht die ganze Zeit; aber ich nenne kein neues Datum. Das ist mal gesagt worden, als wir noch dachten, wir könnten priorisieren. Durch die Empfehlung der Ständigen Impfkommission, die ausdrücklich Kinder nicht priorisiert, hat sich das ein bisschen geändert. Die Ständige Impfkommission hat ja gesagt: Wer freiwillig will und wenn der Arzt das empfiehlt, kann das Kind geimpft werden. – Aber es ist nicht so, dass die Ständige Impfkommission gesagt hat: Wenn der Schulunterricht wieder beginnt, wäre es am besten, wenn alle Kinder geimpft sind. – Und insofern werden die Kinder jetzt, sage ich mal, nicht hochpriorisiert, wie Sie das jetzt gerade genannt haben, oder kriegen keine höhere Priorität, sondern die Kinder werden im Grunde wie die Bevölkerungsgruppen behandelt, die auch keine besondere Prioritätsstufe haben. Wir wissen nie ganz genau – und deshalb bin ich so zögerlich –, wie viel der vertraglich vereinbarten Impfstoffe wir dann bekommen. Wenn die Lieferungen gut laufen und wirklich das kommt, was uns versprochen wurde, dann können wir das jedenfalls auch mit einem kleinen Puffer mit dem 21. September erreichen, und dann sprechen wir über wenige Tage. Aber das ist meine Einschätzung jetzt zu den Kindern.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zu einer Nachfrage.

Amira Mohamed Ali (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004823, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, danke schön. – Ich habe noch eine Nachfrage zum Impfen. Wir wissen, dass in sogenannten sozial benachteiligten Stadtteilen oder Gebieten die Impfquote niedriger ist als im Rest des Landes, dass ärmere Menschen auch ein höheres Risiko haben, an Covid-19 zu erkranken, eben aufgrund von beengten Wohnverhältnissen, weil ärmere Menschen in der Regel Berufe haben, wo man nicht Homeoffice machen kann, aufgrund von Vorerkrankungen usw., und dass, wenn sie krank werden, dann auch ein schwererer Verlauf befürchtet werden muss. Deswegen meine Frage: Was tut die Bundesregierung ganz konkret, um die Menschen, die besonderen Schutz brauchen, hier zu schützen? Wollen Sie den Einsatz der mobilen Impfteams, die es ja teilweise schon gibt, konkret fördern?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Der Bundesgesundheitsminister spricht ja mit den Gesundheitsministern der Länder, und ich habe mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten gesprochen. Erstens. Wir werden die Impfzentren weiter offenhalten. Dort werden ja auch oft diese mobilen Impfteams gebildet, die dann in bestimmte Ortsteile oder Stadtteile gehen. Ich glaube, das hat sich sehr bewährt. Wir werden sie auch im Herbst brauchen, wenn wir eventuell Nachimpfungen in den Pflegeheimen machen müssen. Das werden keine Impfungen sein, die sozusagen im Impfzentrum direkt gemacht werden können, sondern solche, für die man besser mobile Teams nutzt. Und ich finde, die ganzen Beispiele, die jetzt ja inzwischen auch schon Schule gemacht haben, sind doch sehr ermutigend. Zweitens. Wir werden jetzt im Sommer in eine Situation kommen, in der nicht mehr die Terminvergabe sozusagen völlig überbucht ist und lange Warteschlangen an den Telefonen sind, sondern wo wir schon ein Stück weit zu den Menschen gehen müssen. Und das gilt insbesondere auch für jüngere Menschen, die vielleicht nicht alle einen Hausarzt haben. Insofern kann ich dem Gedanken sehr viel abgewinnen; aber die Bundesregierung organisiert das ja nicht selber, sondern sie ermöglicht es nur. Und die Bitte der Länder war, dass wir auch weiter die Impfzentren finanziell unterstützen, damit von dort aus auch solche mobilen Impfteams gebildet werden können.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Danke schön. – Die nächste Frage stellt der Abgeordnete Oliver Krischer.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Bundeskanzlerin, im Netz kursiert derzeit ein Video einer NDR-Talkshow aus dem Jahr 1997. Da äußern Sie sich sehr vehement, dass in Sachen Klimaschutz schnell und konsequent gehandelt werden muss. Sie argumentieren – und das finde ich fast 25 Jahre zurück sehr weitsichtig – auch, dass Folgekosten eines Nichthandelns im Umwelt- und Klimaschutz oft die Kosten des Handelns übersteigen, und plädieren deshalb im Jahr 1997 sehr stark für schnelles Handeln. Wie würden Sie nach 16 Jahren Ihrer Kanzlerinnenschaft die Bilanz in Sachen Klimaschutz vor dem Hintergrund Ihrer damaligen Äußerungen, die, glaube ich, nicht nur in dieser einen Talkshow, sondern von Ihnen öfter gemacht worden sind, bewerten?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ja, ich war halt Umweltministerin zu dem damaligen Zeitpunkt. ({0}) Wir hatten das Kyoto-Abkommen damals als rechtliche Grundlage. Wir hatten zu dem Zeitpunkt schon, glaube ich, die Verpflichtung, zwischen 1990 und 2010 in Deutschland den CO2-Ausstoß um 20 Prozent zu reduzieren. Die IPCC-Berichte sind in der Folgezeit immer drängender geworden. Das hat dazu geführt, dass wir den Beschluss gefasst haben, die CO2-Emissionen zwischen 2010 und 2020 noch mal um 20 Prozent zu reduzieren, also unsere Anstrengungen zu verdoppeln. Bedenkt man dabei, dass in die Zeit von 1990 bis 2010 ja die deutsche Einheit mit dem Zusammenbruch der gesamten Wirtschaft in den neuen Bundesländern fiel, war dieses Ziel, 2010 bis 2020 so vorzugehen, anspruchsvoll, und das haben wir dann – ich weiß nicht mehr, ob das unter Rot-Grün so beschlossen wurde, wahrscheinlich in der Regierungszeit von Gerhard Schröder – sofort übernommen. Das heißt also, wir haben unsere Anstrengungen verdoppelt. Jetzt werden wir mit dem Klimaschutzgesetz, das morgen verabschiedet werden wird, von 40 auf 65 Prozent in zehn Jahren gehen. Und da wir wissen, dass es mit Sicherheit nicht leichter wird, sind das also wachsende Ambitionen über die Dauer meiner politischen Tätigkeit. Darin, würde ich sagen, drückt sich eine gewisse Dringlichkeit aus, ja.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Nachfrage.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Frau Bundeskanzlerin, für die Erläuterung. Mich würde aber da noch mal etwas konkret interessieren. Sie haben jetzt die Ziele im Laufe der Zeit beschrieben. Aber würden Sie das – auch in der Rückschau darauf, wie Sie damals argumentiert haben –, was in den letzten 16 Jahren passiert ist, als ausreichend betrachten, oder würden Sie heute sagen, das hätte eigentlich mehr sein müssen? Meine weitere Frage: Was würden Sie Ihrer Nachfolgerin oder Ihrem Nachfolger dazu mit auf den Weg geben, was man im Klimaschutz tun muss?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Na ja, wir hatten ja zwei Sorten von Problemen. Ich war sehr glücklich, dass das Kyoto-Abkommen verhandelt wurde, und habe dann mehrere Rückschläge mit Schrecken zur Kenntnis nehmen müssen: erstens dass die Vereinigten Staaten von Amerika niemals das Kyoto-Abkommen unterzeichnet und ratifiziert haben, zweitens dass große Länder wie Indien erklärt haben, nie, niemals würden sie verpflichtend ein internationales Abkommen unterzeichnen, bei dem das nationale Parlament sozusagen seine Reduktionszahlen vorgegeben bekommt. Das hat dann zu dem Rückschlag von Kopenhagen geführt und dann zu dem heutigen Paris Accord, wo man ja von freiwilligen Verpflichtungen ausgeht. Wenn ich mir die Situation anschaue, stelle ich fest, dass kein Mensch sagen kann, dass wir genug getan haben; das ist doch vollkommen klar. Da kenne ich im Augenblick echt niemanden. Aber wir haben uns als Europäische Union doch sehr anspruchsvolle Vorgaben gemacht, wir haben sehr dafür gesorgt, dass das Pariser Abkommen verabschiedet werden konnte – ich gucke immer auf das gelbe Flackern –, und wir haben sozusagen auch weltweit doch sehr daran gearbeitet, Klimaallianzen zu schmieden. Dass China heute solche Vorschläge macht, dass wir erfreulicherweise auch die Vereinigten Staaten von Amerika wieder an Bord haben, das sind gute Dinge. Aber die Zeit drängt wahnsinnig. Ich kann die Ungeduld der jungen Leute verstehen. Also, genug ist es angesichts der objektiven Situation noch nicht, aber es ist viel passiert, und zwar mit einem höheren Tempo, als es 1997 auf der Agenda stand. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Bundeskanzlerin, der Hinweis sei mir gestattet: Wenn es gelb flackert, dann ist das das Signal, dass es gleich auf Rot umspringt, und dann ist die Antwortzeit tatsächlich abgelaufen.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ja, das habe ich verstanden, aber wenn ich noch so viele Gedanken in meinem Kopf habe, muss ich aufpassen, dass die nicht durcheinanderpurzeln. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich verstehe das alles.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Bei Gelb fährt man nicht mehr los, und dann fragt man sich immer: Darf ich den nächsten Satz noch anfangen?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gut. – Die nächste Frage stellt der Abgeordnete Sebastian Münzenmaier.

Sebastian Münzenmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004836, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Bundeskanzlerin, laut einer aktuellen Studie der Universität Duisburg-Essen mit über 160 000 Teilnehmern sind die momentan durchgeführten PCR-Tests, die ja die Grundlage für den Inzidenzwert bilden, hinsichtlich der Ansteckungsgefahr eines Getesteten nicht aussagekräftig. Laut dem Autor der Studie, Professor Dr. Stang, waren im Vergleichszeitraum der Studie über 60 Prozent der positiv Getesteten nicht mehr ansteckend, da der Ct-Wert über 25 lag und die Viruslast dementsprechend zu gering für eine Ansteckung war. Die positiven PCR-Tests – ich habe es ja gerade gesagt – sind momentan die Grundlage für den Inzidenzwert, und dieser Inzidenzwert ist dieser Bundesregierung nach die Voraussetzung für massive Einschränkungen von Grund- und Freiheitsrechten. Professor Dr. Andreas Stang äußert sich dazu wie folgt – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –: Die am Ende errechnete Zahl von Sars-CoV-2 positiv Getesteten sollte daher nicht als Grundlage für Pandemiebekämpfungsmaßnahmen, wie Quarantäne, Isolation oder Lockdown, benutzt werden. Vor diesem Hintergrund frage ich Sie: Stimmen Sie dieser Aussage zu? Und wenn nein: Warum nicht?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Nein, ich stimme der Aussage so nicht zu. Ich glaube, dass auch gute wissenschaftliche Antworten, die ich hier nicht wiedergeben kann – zum Beispiel von Herrn Professor Drosten in seinem letzten Podcast –, gegeben wurden. Ich will nur ganz allgemein sagen: Wenn Sie sich den PCR-Wert eines Erkrankten anschauen, dann sehen Sie, dass der sich aufbaut und nach einem Höhepunkt wieder abbaut. Das heißt, wenn man im Verlaufe der Krankheit jeden Tag einen PCR-Test machen würde, hätte man immer eine bestimmte Verlaufskurve. Teile davon verlaufen unterhalb von 25, und Teile davon liegen über 25. Mal ist man mehr ansteckend, mal kommt man in den Ansteckungsbereich, und dann ist man wieder gar nicht mehr ansteckend. Wir hatten ja nur eine endliche Zahl an PCR-Tests zur Verfügung. Die einzige Frage ist: Haben wir manchen Menschen vielleicht eine um drei oder vier Tage zu lange Quarantäne zugemutet? – Sie können mit einem PCR-Test, mit dem Sie zu 100 Prozent herausbekommen, ob jemand die Krankheit hat, nicht sagen, ob er sich mit seinem PCR-Wert auf dem absteigenden oder auf dem aufsteigenden Ast befindet, in welchem Stadium der Infektion er ist. Ich glaube, dass wir mit Blick auf die Verfügbarkeit von PCR-Tests im Großen und Ganzen verantwortlich gehandelt haben. Wenn man unendlich viele solcher Tests hätte, dann könnte man die Quarantänezeit hinten und vorne natürlich ein bisschen verkürzen, aber so wäre das nicht verantwortlich gewesen, weil man bezogen auf das Individuum ja gar nicht weiß, wie sich die PCR-Konzentration verändert. Das kann bei dem einen schnell, bei dem anderen langsam gehen. Sie können ja nicht stündlich testen und fragen, ob der Wert jetzt über oder unter 25 liegt und ob Sie den Betroffenen noch auf die Straße lassen dürfen. Deshalb ist das nach bestem Wissen und Gewissen gut gemacht. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Nachfrage.

Sebastian Münzenmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004836, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen herzlichen Dank. – Sie haben jetzt wieder nur auf den PCR-Test bzw. auf die Inzidenz abgestellt.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Nein, ich habe auf den Ct-Wert Bezug genommen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Bundeskanzlerin, Entschuldigung! Erst stellt der Abgeordnete seine Nachfrage, und dann kommt es zur Antwort.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ja, selbstverständlich.

Sebastian Münzenmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004836, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke fürs Wort. – Frau Bundeskanzlerin, es ist ja so: Sie haben bei einigen Ihrer Maßnahmen, wie zum Beispiel auch bei der Bundesnotbremse, komplett auf die Inzidenz abgestellt. Da gibt es keine weiteren Kriterien, wie zum Beispiel die Belegung der Intensivbetten, die Sie vorhin angesprochen haben. Auch da gibt es Manipulationsvorwürfe. Der Bundesrechnungshof hat gesagt, da sei wohl nicht alles ganz korrekt. Jetzt geht es um die PCR-Tests. Eine namhafte Studie – es ist ja nicht so, dass ich sie gemacht habe – sagt: Na ja, da gibt es einiges an Unklarheiten. Das bedeutet, alle Ihre Maßnahmen, die Sie bisher getroffen haben, stehen auf sehr wackeligen Füßen. Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie deswegen noch mal fragen: Wie geht es in Zukunft weiter? Jetzt wurde ja schon von der Delta-Variante geredet. Auch dazu gibt es Aussagen, dass die zwar ansteckender, aber nicht gefährlicher im Sinne von schweren Verläufen sei. Wann, stellen Sie sich vor, kann man Maßnahmen wirklich aufheben, oder müssen wir damit rechnen, dass wir Ende des Jahres wieder in einen Lockdown gehen? Müssen wir damit rechnen, dass eine Epsilon-Variante auftaucht? Und so weiter!

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Damit, dass verschiedene Varianten auftauchen können, müssen wir rechnen, solange nicht die gesamte Weltbevölkerung geimpft ist. ({0}) Jetzt will ich noch mal versuchen, zu ordnen, was Sie jetzt hier gesagt haben. Erstens. Wenn ein PCR-Test positiv ist, dann hat der Betroffene SARS-CoV-2. Zweitens. Mit einem PCR-Test ist ein Ct-Wert verbunden. Es geht um irgendeine Konzentration in Abhängigkeit von der Zeit. Dieser Ct-Wert kann über oder unter 25 liegen. Ist er unter 25, ist der Mensch ansteckend, ist er über 25, ist er nicht ansteckend. Sie wissen aber nicht, in welchem Moment des Krankheitsverlaufes Sie diese Messung machen, ob er morgen also einen niedrigeren oder einen höheren Ct-Wert hat. Davon hängt aber ab, ob er morgen noch ansteckend ist oder nicht. Das heißt, im Grundsatz ist der PCR-Test immer ein hervorragender Indikator für die Antwort auf die Frage, ob jemand krank ist, und wenn ich mir den Ct-Wert im Zeitverlauf angucke, dann kann ich sagen, wann man mit großer Wahrscheinlichkeit ansteckend ist und wann nicht. Jetzt fragen Sie nach der Inzidenz. Das ist ja was ganz anderes. Die Inzidenz ist die Zahl der Menschen pro Hunderttausend Einwohner, die in den letzten sieben Tagen einen positiven PCR-Test hatten. Bezogen auf diese Inzidenz ergab sich bei den bisherigen Varianten die Evidenz – ich hole die Zeit bei der nächsten Frage wieder rein –, dass die Häufigkeit eines Krankenhausaufenthaltes, die Häufigkeit von schweren Krankheitsverläufen und die Häufigkeit von Long Covid soundso hoch waren. Durch das Impfen wird sich das ändern. Das heißt, dass die Zahl der belegten Intensivbetten in dieser und jener Weise von der Inzidenz abhängt, was wir im letzten Winter gesehen haben, wird nicht mehr eins zu eins gelten. Wie das sein wird, wie viel weniger schwere Verläufe es aufgrund der einzelnen Impfstoffe geben wird und wie viele andere Menschen man anstecken wird, selbst wenn man selber nicht schwer erkrankt, hängt von der Impfquote ab, also davon, wie viele Menschen sich impfen lassen. Je mehr sich impfen lassen, umso leichter haben wir es. Es wird sich durch das Impfen aber verändern, und deshalb kann ich für den Herbst dieses Jahres noch keine Aussage treffen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Frage stellt die Kollegin Katja Mast.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Bundeskanzlerin, damit Jung und Alt Sicherheit im Alter haben, braucht es aus unserer Sicht ein stabiles Rentenniveau weit über 2025 hinaus; denn nur damit steigen die Renten wie die Löhne. Die Rente ist ja Ausdruck des Respekts vor der Lebensleistung. Das müssen wir aus unserer Sicht stärken. Mit der Bitte um eine klare Antwort: Sind Sie mit mir und der SPD-Bundestagsfraktion der Meinung, dass das Rentenniveau über das Jahr 2025 hinaus stabilisiert werden muss?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich glaube nicht, dass das Rentenniveau die alleinige Größe ist. Dieser einfachen Aussage schließe ich mich so nicht an. Ich bin der Meinung, dass wir für auskömmliche und gute Renten sorgen müssen. Das hängt sehr von der Lohnentwicklung, von der Beschäftigungsentwicklung und der Frage ab, wie viele Menschen eine betriebliche Altersvorsorge haben und was wir für zusätzliche Altersvorsorge tun. Ich würde es also nicht alleine an das Rentenniveau knüpfen. Im Übrigen haben wir als Ausdruck des Respekts vor der Lebensleistung auch die Grundrente eingeführt, ein sehr umstrittenes Mittel. Seitdem wir sie haben, spricht keiner mehr von ihr; deshalb wollte ich sie gerne noch mal erwähnen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Nachfrage.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke, Frau Bundeskanzlerin, für Ihre Antwort und auch für den Hinweis auf die Grundrente. Das war ja ein langer Prozess, ({0}) in dem wir nicht von Anfang an immer gemeinsam gegangen sind; aber am Schluss haben wir gemeinsam entschieden. Die gesetzliche Rente macht ungefähr fast drei Viertel der Alterssicherungsleistungen aus. Sie ist damit das stabilste Fundament der Altersvorsorge. Deshalb fokussiere ich meine Fragen ja auch auf die gesetzliche Rentenversicherung. Für viele ist sie sogar die einzige Altersvorsorge. Handeln wir nicht politisch, wird das Rentenniveau ab 2025 sinken und damit auch die Sicherheit durch die gesetzliche Rentenversicherung abnehmen. Im CDU-Wirtschaftsministerium wird jetzt auch noch diskutiert, das Renteneintrittsalter noch weiter anzuheben – das bezieht sich ja auch nur auf die gesetzliche Rentenversicherung –, und zwar zuerst auf 68 Jahre und später noch höher. Wir von der SPD lehnen dies ab. ({1}) Lehnen Sie eine weitere Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters ebenfalls ab? Und wenn ja: Wie erklären Sie sich, dass dazu eine klare Aussage im CDU-Wahlprogramm fehlt? – Sie sind ja auch Mitglied der CDU.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit steht für mich überhaupt nicht auf der Tagesordnung. Was Prognosen angeht: Wir erstellen jedes Jahr oder alle paar Jahre einen Rentenbericht, mit dem wir anschauen, wie das weitergeht. Die Prognosen sind erfreulicherweise alle nicht eingetroffen, sondern das gesetzliche Rentensystem hat sich als sehr viel stabiler erwiesen, als manche Prognose lautete. Ich bedaure, dass wir noch kein gutes Vorsorgeprodukt gefunden haben. Der Impuls der Riester-Rente war ja richtig. Und wir müssen Geringverdiener und die Menschen, die weniger verdienen, anders unterstützen als einfach nur durch steuerliche Vorteile. Wir brauchen noch ein zusätzliches Produkt, das auch eine private Vorsorge für Geringverdiener möglich macht. ({0}) Im Übrigen möchte ich dann doch noch klarstellen: Jedes Ministerium hat Beiräte, und diese Sachverständigen, die sagen vieles und geben uns viele Hinweise. Aber das ist bei Weitem nicht in jedem Fall identisch mit dem, was das Ministerium dann macht und denkt. ({1}) Jetzt würden Sie wahrscheinlich sagen: „beim Wirtschaftsministerium mehr als beim Sozialministerium“; aber das ist Ihre persönliche Betrachtung.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Frage stellt der Kollege Alexander Graf Lambsdorff.

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Bundeskanzlerin, kürzlich hat sich ein Experte der Universität der Bundeswehr Hamburg, selber Soldat, vor dem Hintergrund des Konflikts im Kaukasus im Hinblick auf die Bundeswehr wie folgt geäußert: Wenn die Bundeswehr in diesem konkreten Konflikt gegen Aserbaidschan hätte kämpfen müssen, hätte sie kaum eine Chance gehabt … Allein schon die fehlende Heeresflugabwehr wäre uns zum Verhängnis geworden. Der Inspekteur des Heeres hat sich kürzlich wie folgt öffentlich eingelassen: dass es der Bundesregierung trotz politischen Willens und zeitlichen Vorlaufs nicht gelingen wird, der NATO die zugesagte schnelle Eingreiftruppe 2023 mit einer eigenständig ausgerüsteten Brigade zur Verfügung zu stellen. Und der letzte Wehrbeauftragte hat kürzlich noch geäußert, er halte die Bundeswehr in Gänze für nicht einsatzfähig. Sie waren 16 Jahre lang in Verantwortung, auch für unsere Streitkräfte; im Ernstfall wären Sie die Inhaberin der Befehls- und Kommandogewalt. Meine Frage an Sie: Wie konnte es so weit kommen?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Erst einmal: Ich teile die Einschätzung in der Pauschalität nicht. Wir kommen hier gerade aus einer Aktuellen Stunde, in der wir über Afghanistan gesprochen haben, und ich habe im Gespräch mit anderen Staats- und Regierungschefs oft erlebt, dass man durchaus fand, dass die Bundeswehr einsatzfähig war; sie hat dort für 19 oder 20 weitere Nationen auch den Schutz mitorganisiert. Aber wir können nicht all das, was wir vielleicht können sollten. Leider ist es in dieser Legislaturperiode nicht mehr zu einem Beschluss gekommen, mit dem wir dann auch im Bereich der Drohnen, zum Beispiel mit Bewaffnung, handlungsfähig sind. Das müssen wir in den nächsten Jahren unbedingt werden; das wird ein ganz wichtiges Vorhaben auch für die nächste Bundesregierung – wer immer sie stellt – sein. Aber in dieser Pauschalität kann ich das nicht teilen. Im Übrigen haben wir seit der Zeit, als auch die FDP in der Bundesregierung war, seit Wales, die Verteidigungsausgaben noch einmal erheblich gesteigert; das werden Sie auch verfolgt haben. Das bringt uns auch bessere Möglichkeiten, die Bundeswehr auszurüsten. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Nachfrage.

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben es eben erwähnt: 16 Jahre Amtszeit, da ist es Zeit für eine Bilanz. Wir haben eben in der Tat über den Afghanistan-Einsatz debattiert. Großer Respekt für das, was unsere Soldatinnen und Soldaten geleistet haben! Aber politisch gesehen, insgesamt, ist die Bilanz in der Tat durchwachsen. Meine Frage an Sie: Wie ist Ihre persönliche Bewertung dieses Einsatzes? Und welche Lektionen würden Sie aus diesem Einsatz ziehen im Blick auf laufende Einsätze der Bundeswehr im Ausland, insbesondere in Mali, jetzt nach dem angekündigten Ende von Barkhane, dem Einsatz der Franzosen? Was muss künftig anders laufen?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich finde, hier sind sehr bedenkenswerte Reden gehalten worden, in denen schon unterschieden wurde. Die eine Frage ist: Was ist die Motivation, in einen solchen Einsatz zu gehen? Natürlich muss ich dazu eine gut ausgerüstete Armee haben. Ich glaube zum Beispiel, dass wir bei MINUSMA/Mali mit unserer Heron-Aufklärungsdrohne Hervorragendes leisten, dass wir Fähigkeiten haben, über die andere Bündnispartner dort nicht verfügen. Ich weiß, wie sehr das geschätzt wird. Da hätte man eher fragen können: Müssen die Schnittstellen mit Barkhane und mit anderen Einsatzkräften nicht noch besser werden? Müssen wir die Afrikaner mehr ertüchtigen? Wir haben eine Ertüchtigungsmission für die afrikanischen Sahel-Armeen gemacht, und ich arbeite seit vielen Jahren dafür, dass der G‑5-Sahel-Truppe ein Artikel-7-Mandat gegeben wird. Wir sind bis jetzt nicht erfolgreich gewesen. Aber ich werde das weiter tun, weil ich glaube, dass wir noch stärker in diese Ertüchtigungs- und Ausbildungsrolle hinein müssen. Wir können nicht alles selber machen, auch weil die kulturellen Gegebenheiten der Region – das gilt für Mali, das gilt für Niger, das gilt aber auch für Afghanistan – ganz besondere sind. Und man muss sagen: Wenn etwas auch Erfolge gezeigt hat, dann war das der Angang mit dem Training und mit der Ausbildungsmission in Afghanistan. Ich habe das als einen großen Fortschritt empfunden. Es ist natürlich bedauerlich, dass wir jetzt abziehen. Aber das war keine allein deutsche Entscheidung. Andere zu ertüchtigen, das halte ich weiter für wichtig. Ansonsten haben wir auch Assets, um die uns manche vielleicht nicht beneiden, aber die manche sehr gerne mitnutzen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das war die Nachfrage, die möglich war. – Das Wort für die nächste Frage hat Dr. Georg Kippels.

Dr. Georg Kippels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004327, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, mit den Sommerferien steht jetzt auch die Reisezeit an. Ich möchte Sie vor diesem Hintergrund bitten, uns einen Überblick über den Fortschritt der Impfkampagne zu geben. Sie hatten in Aussicht gestellt, dass bis zum Ende des Sommers jedem impfwilligen Erwachsenen ein Impfangebot gemacht werden sollte. Halten Sie dieses Angebot unverändert für realistisch, insbesondere vor dem Hintergrund, dass wir in einem gewissen Wettlauf mit der Deltavariante sind?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ja, das Angebot halte ich für absolut realistisch. Wir haben ja schon gehört: Über die Hälfte der Bevölkerung ist jetzt erstgeimpft. Wir wissen ja, dass wir nicht die ganze Bevölkerung impfen können, weil die Null- bis Zwölfjährigen ja nicht dabei sind. Das heißt, es bleiben dann etwa 72 Millionen Menschen, sagen wir einmal, 73 Millionen Menschen, die geimpft werden könnten. Wir gehen nicht davon aus, dass wir Hundert Prozent Impfbereitschaft haben. Wenn wir 80 Prozent erreichen, wäre das schon gar nicht so schlecht; vielleicht erreichen wir auch 85 Prozent. Wenn Sie sich anschauen, dass jetzt um die 50 Millionen Menschen eine Erstimpfung haben, dann können Sie sich ausrechnen, wie viele Millionen noch fehlen. Wir bekommen allein im Juni zwei Lieferungen über 5,7 Millionen Impfdosen von BioNTech. Im dritten Quartal kommt eine große Zahl Impfdosen von Moderna dazu, im Juli noch nicht so viel, im August aber. Das heißt also: Man kann eine ziemlich hohe Impfbereitschaft ansetzen. Und man kann dann auch noch die Jugendlichen zwischen 12 und 18 dazurechnen. Ich glaube, guten Gewissens sagen zu können – nach allem, was ich weiß –, dass ich dieses Angebot weiter aufrechterhalten kann.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Nachfrage.

Dr. Georg Kippels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004327, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen herzlichen Dank. – Wir erfreuen uns momentan an den Spielen der Europameisterschaft, die auch in Deutschland mit großer Sorgfalt im Hinblick auf die Hygienekonzepte durchgeführt werden. Aber auch diese Sportveranstaltung steht jetzt unter dem Eindruck der Deltavariante. Und im europäischen Ausland stehen alsbald sehr große Spiele, insbesondere das Endspiel, auf der Tagesordnung. Stimmt es Sie nachdenklich, dass teilweise in Verbindung mit den Infektionsrisiken auch Auswirkungen für die Bundesrepublik entstehen könnten, wenn dort nicht in ausreichendem Maße die gleiche Sorgfalt betrieben wird wie hier in Deutschland?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Unbeschadet des Fußballs – er ist ja nur eine Facette davon – stimmt es mich vor allen Dingen nachdenklich, dass wir es bis jetzt nicht geschafft haben, dass alle 27 Mitgliedstaaten dieselben Einreisebestimmungen haben für Personen, die aus Virusvariantengebieten einreisen, in diesem Falle Großbritannien; aber das können auch andere Länder seien. Wir haben hier sehr strenge Bestimmungen, die sicherlich auch dazu beigetragen haben, dass sich die Deltavariante bei uns noch nicht so schnell ausgebreitet hat. Aber leider ist das nicht für alle anderen Mitgliedstaaten der EU so. Wir müssen als eine Lehre aus dieser Pandemie zu gleichen Bestimmungen kommen. Bei uns muss man, wenn man aus Großbritannien kommt, in Quarantäne. Das ist bei Weitem nicht in jedem europäischen Land so. Das würde ich mir aber wünschen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Frage stellt die Kollegin Caren Lay.

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Frau Bundeskanzlerin, ich habe mich mit der wohnungspolitischen Bilanz Ihrer Amtszeit befasst. Während Ihrer Amtszeit sind die Angebotsmieten im Schnitt um 50 Prozent gestiegen; da sind jetzt auch kleinere Gemeinden mit eingerechnet. Es gibt einige Städte – nehmen wir beispielsweise Hof oder Heilbronn –, die in mehreren Jahren hintereinander zweistellige Mietsteigerungen haben. Das heißt, die Mietenentwicklung hat sich komplett von der allgemeinen Kaufkraftentwicklung und auch von der Lohnentwicklung entkoppelt. Die Hälfte aller Mieterhaushalte in deutschen Großstädten gelten inzwischen als von Wohnkosten überlastet. Und die Zahl der Sozialwohnungen ist in Ihrer Amtszeit um 1 Million zurückgegangen; also sie hat sich fast halbiert. Jeden Tag gehen 100 Sozialwohnungen verloren. Sind Sie zufrieden mit dieser Bilanz? Und was waren vielleicht auch ganz persönlich Ihre Fehler in der Wohnungspolitik während Ihrer Amtszeit?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Es ist richtig, dass ein Großteil der Bevölkerung durch die Mieten eine sehr hohe Belastung hat. Deshalb hat der Bund sich auch entschlossen, gerade in dieser Legislaturperiode – obwohl er nicht zuständig ist, sondern die Länder zuständig sind –, ich glaube, noch einmal 5 Milliarden Euro in den sozialen Wohnungsbau zu investieren, weil die Länder es aus eigener Kraft nicht geschafft haben. Damit haben wir ein Stück Föderalismusreform sozusagen wieder rückgängig gemacht. Wir haben zweitens eine Wohngeldnovelle auf den Weg gebracht, die jetzt dazu führt, dass wir automatische Wohngeldanpassungen haben, die es in den vergangenen Jahren nicht gab – das war jedes Mal eine neue Entscheidung –, also auch eine sehr gute Sache, und wir haben das Wohngeld erhöht. Wir haben außerdem in Bezug auf Baulandfragen und Ähnliches – ich kann das jetzt hier aus Zeitgründen nicht alles aufführen – Baugesetznovellen auf den Weg gebracht, um das Bauen zu erleichtern, und wo notwendig, haben wir ja auch Mietpreisbremsen eingesetzt, neue Mietspiegel eingeführt. Aber wir müssen vor allem die Bauaktivitäten voranbringen. Wenn keiner Wohnungen baut, gibt es auch keine Entlastung auf dem Wohnungsmarkt. Wir haben versucht, diesen sehr komplexen Sachverhalt gut zu händeln, und ich glaube, wir haben einiges auf den Weg gebracht, gerade in dieser Legislaturperiode. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Nachfrage.

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Zur Zuständigkeit kann ich vielleicht kurz erläutern, dass die Föderalismusreform in Ihre Amtszeit fiel. Ich denke, es war ein Kardinalfehler, die Verantwortung für das Wohnungswesen an die Länder abzugeben. Wir haben es aber für den sozialen Wohnungsbau hier gemeinsam, also alle demokratischen Fraktionen, korrigiert und haben gesagt: Der Bund ist in der Mitverantwortung. – Das Problem ist, dass diese 5 Milliarden Euro über die ganze Legislaturperiode in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Bedarfen stehen, und offenbar sind die Maßnahmen, auch die Mietpreisbremse mit all ihren Ausnahmen und Schwächen, nicht geeignet, die Mietenexplosion zu stoppen und alle Menschen mit bezahlbarem Wohnraum zu versorgen. Deswegen freue ich mich persönlich sehr, dass es inzwischen eine Initiative gibt, die einen sechsjährigen Mietenstopp fordert, die der Deutsche Mieterbund, die Sozialverbände, die Gewerkschaften und viele Mieterinitiativen unterstützen. Ich möchte Sie ganz persönlich fragen, ob auch Sie zustimmen würden, dass ein solcher Mietenstopp Mieterinnen und Mietern eine Atempause ermöglichen würde, die sie ausdrücklich verdient haben. ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich würde erst mal darauf hinweisen, dass da, wo Die Linke mit in der Regierung ist, zum Beispiel hier in der Hauptstadt Berlin, die Situation sich nicht signifikant von der in anderen Bundesländern unterscheidet, wo sie nicht dabei ist. ({0}) Zweitens kann ich mich dieser Initiative leider nicht anschließen. ({1}) Und gewonnen haben Sie auch nicht vor Gericht. So. ({2}) – Das ist nicht zynisch; das ist ein Sachverhalt. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Frage stellt die Kollegin Ulle Schauws.

Ulle Schauws (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004395, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Bundeskanzlerin, viele der diesjährigen Erstwählerinnen kennen dieses Land nur mit Ihnen als Kanzlerin, und trotzdem hat sich nach 16 Jahren Ihrer Zeit als Regierungschefin der Frauenanteil im Bundestag nicht erhöht, im Gegenteil: Er ist gesunken. Sie und Ihre Fraktion hätten jetzt die Chance gehabt, mit einem Parité-Gesetz oder zumindest mit einer Parité-Kommission zügig etwas gegen diese Entwicklung zu unternehmen. Jetzt ist es auf die lange Bank, auf die Wahlrechtskommission geschoben worden, und es ist unter „ferner liefen“ ein Thema, das irgendwann in der nächsten Legislaturperiode behandelt wird. Deswegen frage ich Sie: Ist aus Ihrer persönlichen Sicht der Anteil von Frauen im Bundestag ausreichend?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Nein, das ist absolut nicht ausreichend. Allerdings hat die Fraktion, der ich angehöre, in ihrer jetzigen Zusammensetzung die freudige Grundlage, dass die allerallermeisten in ihrem Wahlkreis das Direktmandat gewonnen haben. Das heißt, das Problem eines größeren Frauenanteils beginnt früher; es beginnt nicht erst mit der Listenaufstellung. Ich kann eine wunderbare Liste und trotzdem keine Frauen im Parlament haben. Deshalb muss man da anders ansetzen, und diese Ansätze zu finden, ist nicht ganz so einfach, wie man manchmal glauben machen möchte. Ich bin absolut nicht zufrieden, und ich werde auch erst zufrieden sein, wenn das 50 : 50 ist. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Nachfrage.

Ulle Schauws (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004395, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich will es noch mal anders sagen: Seit Sie Kanzlerin sind, können sich Mädchen vorstellen, Politikerin oder auch Kanzlerin zu werden. Ich kann das beurteilen, weil ich Berufsberaterin bei SOS-Kinderdorf war. Es haben viele Mädchen seit Ihrer Kanzlerinnenschaft diesen Berufswunsch geäußert. Es ist eben auch bei dieser jungen Generation von Frauen eine sehr motivierende Aussicht. Sind Sie mit mir der Meinung, dass es deswegen nicht am besten wäre, wenn es in diesem Land weiterhin eine Kanzlerin geben würde? ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Schauen Sie, ich bin der Meinung, dass nach 16 Jahren Angela Merkel die Bürgerinnen und Bürger mündig genug sind, ihre Entscheidung zu treffen, wen sie als Kanzler oder Kanzlerin möchten. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Frage stellt die Abgeordnete Beatrix von Storch.

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Bundeskanzlerin, vor etwa drei Stunden haben wir gehört, dass Ursula von der Leyen in ihrer Funktion als Kommissionspräsidentin ein ungarisches Gesetz als Schande beurteilt hat. ({0}) Sie hat angekündigt, dagegen vorzugehen, und es heißt aus Kreisen der Kommission, dass ein Vertragsverletzungsverfahren möglich sein könnte. Das Gesetz behandelt eine Maßgabe der Ungarn: Sie wollen Homosexualität und Transsexualität Minderjährigen gegenüber in der Darstellung einschränken. In Ungarn ist seit 1996 die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft vom Staat anerkannt. Wir begrüßen das; die Ungarn begrüßen das auch. Gleichwohl: Jetzt soll gegen die Ungarn vorgegangen werden. Das trägt meiner Meinung und unserer Meinung nach zur Spaltung Europas bei. Die Souveränität von Ungarn ist angegriffen. Die Frage lautet: Unterstützen Sie diese Linie der Kommission gegen den souveränen demokratischen Staat Ungarn? ({1}) Und sind Sie der Ansicht, dass das auch Auswirkungen auf die Außenbeziehungen der Europäischen Union und Deutschlands zu den islamischen Golfstaaten haben sollte?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Also erst mal halte ich dieses Gesetz für falsch und auch mit meiner Vorstellung von Politik nicht vereinbar. ({0}) Wenn man homosexuelle, gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften erlaubt, aber die Aufklärung darüber an anderer Stelle einschränkt, dann hat das auch mit Freiheit von Bildung und Ähnlichem zu tun. Also das ist für mich etwas, was ich politisch ablehne. Über Vertragsverletzungsverfahren entscheidet die Kommission. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das ungarische Parlament dieses Gesetz schon verabschiedet hat oder ob es noch in der Beratung ist. Auf jeden Fall findet es meine deutliche Kritik. Und was diese Aussage mit den Beziehungen zu den Golfstaaten zu tun hat, hat sich mir nicht erschlossen.

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das glaube ich, ja.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ja, ich auch. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Nachfrage.

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Meine Nachfrage knüpft daran an. Markus Söder hat sich jetzt auch dafür ausgesprochen, dass das Münchner Olympiastadion gern in Regenbogenfarben eingefärbt werden darf. ({0}) – Genau; großer Applaus. – Viktor Orban hat jetzt seine Teilnahme an dem Spiel heute abgesagt, ({1}) auch mit Blick auf das, was die Kommission gesagt hat. Jetzt blicken wir von der EM raus zur WM, und die findet in Katar statt. Dort ist die Scharia Quelle der Rechtsgebung, Rechtssprechung. Dort ist Homosexualität verboten, und zwar belegt mit fünf Jahren Gefängnisstrafe; auch Peitschenhiebe wurden in Katar schon ausgeteilt. Über Saudi-Arabien spreche ich in dem Zusammenhang gar nicht. Laut einer Umfrage vom WDR haben 65 Prozent zugestimmt, dass wir vor dem Hintergrund der Verfolgung und der Menschenrechtsverletzung von Homosexuellen in Katar unsere Teilnahme an der WM dort absagen sollten. Halten Sie das für richtig? Oder welche sonstigen Maßnahmen möchten Sie ergreifen? Denn Sie haben gerade so klar gemacht, dass Ihre Haltung Ungarn gegenüber unerbittlich ist.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Meine Haltung Ungarn gegenüber ist sehr freundschaftlich verbunden, aber wenn es politische Differenzen gibt, werden sie benannt. ({0}) Da ist übrigens Viktor Orban kein Ministerpräsident, der das für sein Land nicht etwa auch tun würde. Zweitens ist die Frage der Abhaltung von Sportveranstaltungen in Ländern mit anderen gesellschaftlichen Gegebenheiten ein sehr weites Feld. Das können Sie über Olympische Spiele in China, das können Sie über die Weltmeisterschaft in Katar sagen. Ich will ganz eindeutig sagen: Ich als Bundeskanzlerin habe nur meine Meinung zu diesem ungarischen Gesetz gesagt. Die UEFA hat ihre Entscheidung bezüglich des Stadions und seiner Beleuchtung auf der Grundlage ihrer Statuten getroffen; die kann ich nicht bewerten. Ich habe aber festgestellt, dass die UEFA einen Unterschied zwischen dem Tragen der Binde in Regenbogenfarben von Manuel Neuer und dieser Stadionfrage macht. – Ansonsten habe ich meine Meinung zu der Einschätzung dieses Gesetzes deutlich gesagt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Frage stellt der Abgeordnete Klaus Mindrup.

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Bundeskanzlerin, das Kabinett hatte am 12. Mai beschlossen, dass die Mehrkosten durch die Bepreisung von Erdgas und ‑öl, also die CO2-Mehrkosten, zu jeweils 50 Prozent aufgeteilt werden auf die Mieter/-innen und die Vermieter. Ihre Fraktion blockiert nun diese Initiative. Das ist aus unserer Sicht sehr problematisch; denn die Mieterinnen und Mieter können zum Beispiel keine Solaranlagen installieren oder Wärmepumpen einbauen. Sie können also auf diesen Preis nicht angemessen reagieren. Deswegen möchte ich Sie fragen: Halten Sie diese im Bundeskabinett beschlossene Aufteilung weiterhin für richtig?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Zu dieser Aufteilung haben wir uns im Bundeskabinett entschieden, weil wir wussten, dass wir keine ideale Lösung in der Kürze der Zeit hinbekommen. Es ist unbestritten, dass natürlich auch der Mieter Einfluss auf seine Warmmietkosten, wenn ich das mal so sagen darf, nehmen kann. Er kann es aber nicht alleine, sondern der Vermieter trägt auch ein hohes Maß an Verantwortung. Im Grunde gibt es zwei Extremzustände: Auf der einen Seite hat man den Vermieter, der sein Haus nach den neuesten Standards saniert hat und alles gemacht und getan hat, der vielleicht auch Unterstützung beim Sanieren des Hauses bekommen hat. Dort müssten Mechanismen gefunden werden – das fordert die Union auch in ihrem Regierungsprogramm –, wie wir den Anstieg der Mietkosten kompensieren. Dem Vermieter die Hälfte aufzuerlegen, ist in diesem Extremfall nicht ideal; denn er hat alles getan. Auf der anderen Seite gibt es Vermieter, die nichts an ihren Häusern machen. Und dann soll der Mieter alles übernehmen? Auch nicht ideal. Das heißt, im Idealfall müsste man die Häuser nach Kategorien einteilen und die Mehrkosten jeweils unterschiedlich aufteilen. Das haben wir in der Kürze der Zeit nicht geschafft. Deshalb müssen andere Mechanismen bei der Bepreisung gefunden werden, um die Miete nicht steigen zu lassen für klimaschutzverantwortungsbewusste Mieter.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ihre Nachfrage.

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Bundeskanzlerin, unser gemeinsames Ziel ist es ja, glaube ich, das Klima zu schützen. Das heißt, das Ziel ist nicht, Einnahmen aus der CO2-Bepreisung zu haben, sondern durch Investitionen in den Klimaschutz und in erneuerbare Energien dafür zu sorgen, dass die Mieterinnen und Mieter klimaneutral leben können und dass diese entsprechenden Investitionen stattfinden. Denn am Ende wollen wir doch die Klimaneutralität.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ja.

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist doch unser gemeinsames Ziel. Dann kann es doch nur in Richtung erneuerbare Energien gehen. Das Signal, das Sie jetzt senden, ist aus meiner Sicht nicht nachvollziehbar. Warum haben Sie sich denn nicht mit dem durchgesetzt, was Sie im Kabinett beschlossen haben? Das wäre ein erster Schritt gewesen. Wir hätten das im Parlament sicherlich verbessern können. Sie haben übrigens gerade den Vorschlag der dena hier zitiert. Warum ist das denn stehen geblieben, und warum ist Ihre Fraktion nicht Ihrer Haltung gefolgt?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich sage noch mal: Weil das einen etwas längeren Vorbereitungszeitraum braucht, wenn man ganz spezifische Regeln finden will. – Wir haben ja zum Beispiel gemeinsam die EEG-Umlage gedeckelt. Damit sinken die Stromkosten für Mieter heute schon, aber natürlich nicht so stark, wie die Bepreisung zum Beispiel bei einer nichtelektrischen Heizung ist; das ist auch richtig. Deshalb müssen andere kompensatorische Mechanismen gefunden werden. Die wird die Union auch vorschlagen, wenn es zu weiteren Erhöhungen bei der Bepreisung kommt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die letzte Frage stellt der Kollege Manuel Höferlin.

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Bundeskanzlerin, das Thema Digitalisierung ist – wahrscheinlich zu Recht – die Schicksalsfrage für die Zukunft von vielen Ländern. Aktuell liegt Deutschland beim Anteil von Glasfaser bei Breitbandanschlüssen bei 4,7 Prozent. Der OECD-Durchschnitt liegt bei fast 30 Prozent; Länder wie Schweden und Spanien haben 70 Prozent erreicht. Auf die Verfügbarkeit von schnellem Internet bauen wahrscheinlich alle Dinge auf, über die wir hier derzeit sprechen: autonomes Fahren, medizinische Versorgung, Pflege in der Fläche, wirtschaftliche Zukunft von Unternehmen in der Fläche etc. Sie, Frau Merkel, haben das schon früh erkannt: 2005, also vor 16 Jahren, haben Sie in Ihrem Koalitionsvertrag festgelegt, dass Sie 50 Megabit Übertragungsrate – also nicht Gigabit, also 1 000 Megabit, aber immerhin 50 Megabit – flächendeckend bis 2018 haben wollen. Heute – ich habe gerade noch mal im Breitbandatlas des BMVI nachgeguckt – sind in weiten Teilen Deutschlands weniger als 75 Prozent mit 50 Mbit/s versorgt. Sie haben also Ihr Ziel von 2005 verfehlt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Setzen Sie jetzt das Fragezeichen.

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Welche Bedeutung hat Ihrer Meinung nach dieses Fehlen für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Alles nur an Glasfaserkabeln festzumachen, ist – das wissen Sie auch – nicht sachgerecht. Wir haben Kabelstrukturen, die sehr, sehr gut sind. Wir haben auch DSL, das zumindest die 50 Megabit auch möglich macht. Wir müssen uns im ersten Schritt die Haushalte angucken. Da sind wir natürlich sehr viel besser als 75 Prozent. Wir haben uns bis 2025 eine flächendeckende Abdeckung vorgenommen. Wir haben eine Mobilfunkgesellschaft gegründet, die dort, wo kein wirtschaftlicher Anreiz besteht, genau diese Aufgabe vornehmen wird. Wir haben sehr viele Forstflächen und landwirtschaftliche Flächen, wo das für die gute Bearbeitung gebraucht wird. Ich denke, wir haben in dieser Legislaturperiode große Fortschritte auf diesem Gebiet gemacht und brauchen unser Licht da nicht unter den Scheffel zu stellen, wenngleich die Aufgabe noch nicht abgeschlossen ist. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die kurze Nachfrage.

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es sei die Bemerkung erlaubt, dass das so nicht stimmt. Der BMVI-Breitbandatlas betrifft Haushalte. Die 50 Mbit/s beziehen sich auf alle Technologien. Demnach beträgt der Grad der Versorgung mit 50 Mbit/s in weiten Teilen Deutschlands weniger als 75 Prozent. Vielleicht können Sie das als Chance nehmen, auf den letzten Metern da noch mal etwas anzuschieben.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich habe mich an Ihren 4,7 Prozent aufgehängt.

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Frage bezog sich auf die 50 Mbit/s; das haben wir leider nicht erreicht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

So.

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Frage zum Abschluss dann noch: Welche großen Herausforderungen hätten Sie in den letzten 16 Jahren gerne erreicht bei der digitalen Transformation? Was können Sie dem Nachfolger oder der Nachfolgerin mitgeben, was dringend erreicht werden muss? Wo, glauben Sie, kann Deutschland bei der Digitalisierung, bei der digitalen Transformation noch etwas aufholen, was vielleicht in den letzten Jahren versäumt wurde?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Man glaubt es nicht, aber als ich Bundeskanzlerin wurde, gab es das iPhone noch nicht. Insofern haben wir schon eine ganze Menge erreicht. ({0}) Erstens. Mir liegt im Bereich der Digitalisierung vor allen Dingen eine europaweite digitale Identität am Herzen, die wir in Deutschland jetzt über den Chip im Personalausweis aufbauen und als Wallet im Smartphone abrufbar machen. Ich glaube, dass darüber die Souveränität Europas wirklich erreicht werden könnte. Das Zweite ist, dass die Kommunen und die Länder mit der gleichen Begeisterung wie ich und weite Teile der Bundesregierung, meiner Fraktion und vieler anderer Fraktionen die mehr als 500 staatlichen Leistungen – Stichwort „Onlinezugangsgesetz“ – digital über die ganze Republik ausrollen. Da fehlt manchmal ein bisschen die Lust am Umstieg aufs Digitale in allen Bereichen der Republik. Ich glaube, die brauchen wir. Wir haben eine ziemlich gute Verwaltung im Analogen gehabt. Das hemmt uns vielleicht manchmal, aufs Digitale umzusteigen. Ich habe mir gestern gemeinsam mit Ursula von der Leyen beim Gesundheitsamt Köln die Möglichkeiten der Digitalisierung angeschaut und gesehen, wie viel einfacher und wie viel besser das Arbeiten geht, wie viel mehr Informationen ich gewinne. Das brauche ich Ihnen, glaube ich, nicht zu sagen. Alle sollten den Mut haben, diesen Schritt zu gehen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Danke, Frau Bundeskanzlerin. – Ich habe mich gerade noch vergewissert: Bei aller Lust am Austausch darf ich die Befragung nicht verlängern. Das heißt, ich beende die Befragung. Vielen Dank.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich wollte nur sagen: Ich bedanke mich, dass Sie Ihren Regeln entsprechend handeln. Danke schön. ({0})

Antje Lezius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004341, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Endlich ist er fertig: der Enquete-Bericht über die berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt. Unser Land profitiert enorm von der beruflichen Bildung. Sie sichert den Fachkräftenachwuchs, stärkt die Wirtschaft und fördert die Teilhabe und Integration junger Menschen. Wir alle müssen daher ein Interesse an einer zukunftsfesten beruflichen Bildung haben. Ich habe vor meiner Zeit als Bundestagsabgeordnete selbst ausgebildet. Daher blutet mir das Herz, wenn ich höre, dass immer mehr Ausbildungsplätze unbesetzt bleiben. Ob Gastronomie, Handwerk oder der Handel, wir brauchen qualifizierte Fachkräfte. Die digitale Transformation in der Arbeitswelt bietet Chancen und Herausforderungen. Was ist also zu tun, damit die berufliche Bildung zukunftsfest bleibt? Genau damit haben wir uns drei Jahre lang in der Enquete-Kommission auseinandergesetzt. Heute präsentieren wir Ihnen unser Ergebnis. Die Arbeit hat sich gelohnt. Als ich letztes Jahr den Vorsitz der Kommission übernommen habe, war das für mich Ehre und Herausforderung zugleich. Ein erstes Dankeschön geht an meinen Vorgänger Dr. Stefan Kaufmann für seine hervorragende Arbeit und die gute Übergabe. ({0}) Auch bei meinen 19 Kolleginnen und Kollegen hier im Bundestag und bei den 19 Sachverständigen bedanke ich mich für die konstruktive Zusammenarbeit. Sie alle hatten, trotz mancher intensiver Auseinandersetzung, stets das Beste für die berufliche Bildung im Blick. So ist uns ein Bericht gelungen, der keine Aneinanderreihung von Projektgruppenberichten ist, sondern ein in sich geschlossener Text. Auch das macht ihn einzigartig. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön für die Unterstützung seitens des Sekretariats – ich schaue mal auf die Tribüne – unter Leitung von Herrn Dr. Vogt. ({1}) In unserem Bericht zeigen wir, dass die Digitalisierung eine Chance für die berufliche Bildung bietet, wie das eigenverantwortliche lebensbegleitende Lernen zur Normalität werden kann und warum wir dringend einen Pakt für berufsbildende Schulen und einen Pakt für berufliche Bildung benötigen. Nur damit wären eine verlässliche Finanzierung digitaler Lehr- und Lernausstattungen und eine Infrastruktur auf hohem Niveau dauerhaft gesichert. Für all diejenigen, die im Herbst Koalitionsverhandlungen führen, ist der Bericht eine Pflichtlektüre. Es geht um die Fachkräfte von morgen. Unser Bericht kann als Blaupause für Ihre Verhandlungen dienen. Unser Bericht ist damit ein Geschenk an die zukünftige Regierung. Bitte nutzen Sie ihn und setzen Sie sich für eine starke berufliche Bildung ein. ({2}) Sehr geehrte Damen und Herren, zum Schluss erlauben Sie mir noch ein paar persönliche Worte. Nach acht Jahren im Bundestag ist das heute meine letzte Rede. Mit Stolz habe ich stets meinen Wahlkreis vertreten und mich mit Freude in der Enquete-Kommission und im Ausschuss Arbeit und Soziales eingebracht. Ich möchte mich bei all diejenigen, die mich auf meinem Weg begleitet haben, für die Unterstützung bedanken; allen voran bei meiner Familie. ({3}) Den Bürgerinnen und Bürgern in meiner Heimat danke ich, dass sie mir das Vertrauen geschenkt haben, sie hier vertreten zu dürfen. Einen herzlichen Dank an meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Berlin und im Wahlkreis. Vielen Dank und Ihnen alles Gute. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ich wünsche Ihnen auch im Namen der Kolleginnen und Kollegen im Haus alles Gute für den nächsten, hoffentlich richtig aktiven Abschnitt, viel Neues, viel Neugier, und vergessen Sie uns nicht ganz. ({0}) Nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Nicole Höchst. ({1})

Nicole Höchst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004753, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir blicken heute auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit in der Enquete-Kommission zurück. Der weit überwiegende Teil der veröffentlichten Ergebnisse konnte im gemeinschaftlich erstrittenen Konsens gefasst werden. Zu den konsentierten Punkten wurde jetzt schon einiges gesagt. Da gehen wir mit. Spannend ist allerdings auch der Dissens, also die Sondervoten der Fraktionen. Die AfD-Fraktion fühlt sich dem Leitgedanken des europäischen Humanismus verpflichtet und sieht den Menschen auch in der digitalen Zukunft im Mittelpunkt jeglicher Wertschöpfung. In der beruflichen Bildung darf nicht die Technik den Menschen und das Lernen beherrschen, sondern die Digitalisierung bleibt Mittel zum Zweck und elementares Hilfsmittel. ({0}) Der Mensch – Lehrer, Ausbilder und Schüler – muss stets im Fokus des bildungspolitischen Handelns stehen. Lehrer sind pädagogisch prägende Persönlichkeiten, die ihre Schüler im humboldtschen Sinne fördern, fordern und dadurch Bildung ermöglichen, und nicht reine Moderatoren, die irgendwo Lerninhalte hochladen. ({1}) Derzeit sehen wir wie unter dem Brennglas, was eine Umstellung des analogen Unterrichts auf digitalen Fernunterricht auslöst. Eine ganze Generation von Schülern hinkt hinterher, ist nicht selten depressiv, sozial vereinsamt, abgehängt und frustriert. Eine kürzlich veröffentlichte Studie von Forschern der Frankfurter Goethe-Universität bescheinigt dem Distanzunterricht während der Coronakrise für den Lernzuwachs in etwa die Wirksamkeit von Sommerferien – wie überraschend. Die Digitalisierung von Lernprozessen ist also bereits an ihre Grenzen gestoßen. Gerade Kinder und Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen leiden unter einer Überbetonung der Digitalität und somit dem Mangel an emotionalen und geistigen Anregungen. Ausufernde Digitalität befördert soziale Ungerechtigkeiten und schaltet Chancengleichheit aus. Kinder und Jugendliche, die Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und Selbstorganisation von Haus aus nicht gelernt haben, sowie Menschen mit Benachteiligungen scheitern in Serie an und mit digitalen Angeboten. ({2}) Die Übersetzung des Lernstoffs in die Erfahrbarkeit des realen Lebens findet für alle konsequent nicht statt. Was für ein Raubbau an der Generation Zukunft, meine Damen und Herren. ({3}) Etliche Betriebe beklagen schon lange mangelhafte Kenntnisse vieler Bewerber im Bereich der MINT-Fächer. Führende Digitalisierungsstaaten unternehmen dort besonders große Anstrengungen. Deutschland hingegen betont die schulische Vermittlung richtiger, politisch ideologischer Haltungen. Das ist der falsche Weg, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({4}) Freie demokratische Geister schaffen Innovation und Fortschritt in der Welt, nicht ideologisch Gefesselte. ({5}) Und wir brauchen erheblich mehr gut ausgebildete Lehrer. Die AfD-Fraktion fordert, die unterdurchschnittlichen Bildungsausgaben in Deutschland generell deutlich zu erhöhen. Im europäischen Vergleich hinkt Deutschland bei den Bildungsausgaben mit 4 Prozent des BIP am unteren Ende hinterher. Bitte hören Sie doch endlich auf, Mangel zu verwalten, und investieren Sie in die Zukunft. ({6}) Die Unterstützung von mittelständischen Klein- und Kleinstbetrieben ist der AfD besonders wichtig. Sie schultern einen Großteil der Ausbildung und eröffnen Perspektiven. Sie binden junge Menschen in ländlichen Regionen, erhalten Heimat. Es muss uns ein Anliegen sein, die Vielfalt unserer Betriebe in Deutschland zu erhalten. Die Attraktivität und Wertschätzung von Arbeit in Ausbildungsberufen muss wieder deutlich gesteigert werden. Das heißt, eine Ausbildung mit anschließendem Berufsleben muss erstrebenswerter sein als eine Aussicht auf eine Hartz-IV-Karriere. ({7}) Insgesamt wurde auf die klassische Ausbildungsreife in der Enquete-Kommission zu wenig Wert gelegt. Tugenden wie Pünktlichkeit, Fleiß, Disziplin, Lernbereitschaft, soziales Miteinander, Gründlichkeit und andere berufsrelevante Haltungen und Einstellungen sind nicht antiquiert, sondern haben zum Erfolg unseres Landes maßgeblich beigetragen ({8}) und den Begriff „Made in Germany“ mitgeprägt. Meine Damen und Herren, ich habe in meinen vier Jahren hier im Parlament viel an Zumutungen im Namen einer Demokratie erlebt, die der Anti-AfD-Einheitsblock umdefiniert hat. Man möchte die Alternative für Deutschland so unsichtbar wie möglich machen und verwehrt ihr unter fadenscheinigsten Vorwänden einen Bundestagsvizepräsidenten, ({9}) und zwar unabhängig vom Kandidaten, den sie aufstellt, sowie die Besetzung vieler Gremien – wie superdemokratisch! –, ({10}) von hanebüchenen Anschuldigungen und Diskreditierungsversuchen unserer parlamentarischen Arbeit – wie jetzt gerade auch wieder –, ({11}) geleitet von dem Wunsch nach Verteufelung und der Unsichtbarmachung, mal ganz zu schweigen. Man maß zudem bei Anträgen im Zusammenhang mit der Enquete mit zweierlei Maß und lehnte letztlich einen AfD-Antrag ab, der eine Forderung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages aus dem Jahr 2017 ist und der – jetzt kommt’s – als Konsens-Handlungsempfehlung Eingang in den Bericht gefunden hat. ({12}) Erklären Sie das mal schlüssig den Menschen da draußen. ({13}) Das ist hier im Parlament leider eher grundsätzlich die Vorstellung von Politik für Deutschland, und das ist unerträglich. ({14}) Man kann aber demokratisches Kampfgewicht, Expertentum und die Liebe zu Deutschland nicht unsichtbar machen. ({15}) Und da, wo Schatten ist, ist auch viel Licht. So wurde für uns in der Enquete-Arbeit über weite Strecken erfahrbar, wie demokratische Zusammenarbeit wirklich aller Fraktionen und ihrer Experten zum Wohle Deutschlands stets aussehen könnte: eine Sachdebatte, geleitet von gegenseitigem Respekt und dem Willen, auf Augenhöhe das Beste für unser Land zu erwirken. ({16}) Ich bedanke mich bei allen, die mitgewirkt haben und gezeigt haben, dass Demokratie noch lebendig ist. ({17}) Ich hoffe, dass dieser Bericht nicht rückgängig gemacht werden muss. Vielen Dank. ({18})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Yasmin Fahimi. ({0})

Yasmin Fahimi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004713, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren an den Monitoren zu Hause! Diese letzte Sitzungswoche, die wir hier im Plenum des Deutschen Bundestages vor der Sommerpause haben werden, ist geprägt von zahlreichen Entscheidungen nationaler Tragweite. Und der eine oder die andere mag sich fragen: Was hat das mit dem Thema „berufliche Bildung“ zu tun? Nun, ich kann es Ihnen sagen: Die berufliche Bildung in Deutschland ist einer der wesentlichen Bausteine, die wir für einen erfolgreichen Umbau unserer Wirtschaft brauchen. ({0}) Die Transformation hin zu einer neuen, aber hoffentlich auch schönen Arbeitswelt braucht – davon ist meine Bundestagsfraktion, die Fraktion der SPD, überzeugt – einen Ordnungsrahmen, und zwar einen neuen Ordnungsrahmen. Denn Digitalisierung ist nicht einfach nur ein technischer Prozess, Digitalisierung ist nicht nur einfach Vermittlung von Technikwissen und ‑fertigkeiten, sondern es ist quasi eine Kulturrevolution, vor der wir stehen, eine tiefgreifende Veränderung von Lebens- und Arbeitsweisen. Und das macht manchen auch Angst; denn es drohen Arbeitsplätze wegzufallen, es kommen vielleicht ganz neue Berufe dazu. Manche fragen sich: Was wird meine Arbeit morgen noch wert sein? – Wir brauchen also dringend kontinuierliche Anpassungsprozesse, um nicht Gefahr zu laufen, ein Passungsproblem zu bekommen, das darin besteht, dass wir einerseits einen Fachkräftemangel haben und andererseits diejenigen, die in der Anpassung nicht schnell genug sind, von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Aber die gute Nachricht ist, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Wir sind gut aufgestellt mit dem Berufsbildungssystem in Deutschland; denn es ist ein starkes Instrument auch für die Zukunft, das davon geprägt ist, dass es uns in der Vergangenheit bereits zu dem wirtschaftlichen Erfolg verholfen hat, den wir heute kennen: ({1}) die Sicherstellung eines Fachkräftepools, der die Innovationskraft in den Betrieben, aber auch die Qualitätsarbeit in Deutschland – made in Germany – bis heute gewährleistet. Die berufliche Bildung in Deutschland ist aber auch ein riesengroßes soziales Integrationsprojekt. Die Möglichkeit, ohne Hindernis einen freien Zugang in eine gute berufliche Perspektive zu bekommen, und das Recht auf Selbstbestimmung, das es ermöglicht, sich selbst zu finden, seinen Beruf zu wählen, was im Übrigen in unserer Verfassung, in Artikel 12 des Grundgesetzes, tief verankert ist, gilt es heute zu bewahren. Und ja, leider ist es so, dass in der Pandemie die Integrationskraft und die Attraktivität der beruflichen Bildung nachlassen. Deswegen sagen wir als SPD – auch nach den Beratungen der Enquete-Kommission – ganz klar: Die berufliche Bildung muss stabilisiert werden, sie braucht einen Neustart, und zwar über die gesamte Bildungskette hinweg. ({2}) Das heißt, wir müssen in der Berufsorientierung beginnen. 200 000 und mehr Jugendliche, die jedes Jahr ins Übergangsystem gehen – das ist zu viel. Es ist offensichtlich, dass wir eine bessere Berufswahlkompetenz in den Schulen brauchen. Nicht nur das Kennen von Berufen, sondern auch das Entdecken von eigenen Talenten muss im Vordergrund stehen. Wir brauchen mehr assistierte und begleitete Übergänge von der Schule in den Beruf; das haben wir schon zum Teil ausgebaut. Aber es ist jetzt an der Zeit – und das ist Position der SPD-Bundestagsfraktion –, jedem Jugendlichen gerade heute das Signal zu geben: Wir geben dir ein Ausbildungsversprechen. – Es ist Zeit für eine Ausbildungsgarantie in diesem Land, die jedem Jugendlichen eine vollwertige Ausbildung garantiert. ({3}) Darin inbegriffen sind Umlagefinanzierungsmodelle, Ausgleichsmodelle in den Branchen, um endlich auch den Lastenausgleich zwischen ausbildenden und nichtausbildenden Betrieben sicherzustellen. Und wenn ich von vollwertiger Ausbildung spreche, dann will ich hier auch ganz klar sagen: Wir lehnen jeglichen Versuch der Zerstückelung der beruflichen Bilder und der Berufsbilder – Modularisierung, Schmalspurausbildung –, die Zergliederung der Berufsbildung deutlich ab. Nur eine vollwertige Ausbildung von drei oder dreieinhalb Jahren ist eine gute Ausbildung, und sie ist das notwendige feste Fundament, um darauf Qualifizierung und agile Fortbildung, die wir in Zukunft brauchen, überhaupt aufbauen zu können. ({4}) Die Qualität der Ausbildung wollen wir durch einen Berufsbildungspakt deutlich unterstreichen und verstärken. Das betrifft ausdrücklich nicht allein die digitale Infrastruktur in den Berufsschulen, sondern es umfasst vor allem auch eine Lehrkraftoffensive, die wir brauchen, um dem drohenden Berufsschullehrermangel in den nächsten Jahren entgegenzuwirken. Wir müssen hier investieren, und wir müssen auch in die Methodik der Schulen investieren; denn Technik ist furchtbar langweilig, wenn sie nicht zum Wohle des Menschen eingesetzt wird. Deswegen geht es nicht darum, einfach nur vom Präsenzunterricht in den digitalen Unterricht zu wechseln, sondern es geht darum, E-Didaktik so einzusetzen, dass wir neue Lernerfolge schaffen, dass wir die Jugend besser und mit mehr Erfolg durch die Ausbildung bringen. ({5}) Vollwertige und gute Ausbildung muss dann auch für alle gelten, das muss dann auch in den Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialberufen gelten – so wie wir in der Pflege dafür gesorgt haben. Wir müssen eine Ausbildungsvergütung in allen Ausbildungsberufen sicherstellen, endlich das Schulgeld in allen Ausbildungsberufen abschaffen und mit dem Berufsbildungsgesetz die Grundlage für einheitliche Verordnungen schaffen, und zwar in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern. Deswegen wollen wir auch für die Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialberufe neue, eigene Bundesberufsgesetze einführen. ({6}) Mehr Flexibilität wird von den Auszubildenden immer wieder gefordert. Deswegen sagen wir: Wir wollen die Eigenständigkeit der Auszubildenden durch eine digitale Lernmittelfreiheit stärken. Digitale Endgeräte, Azubi-Datenflat: Das alles schafft digitale Mobilität. Aber wir brauchen auch physische Mobilität für die Auszubildenden, das heißt neben den Azubi-Tickets vor allem ein Bundesprogramm für junges Wohnen. So wie beim studentischen Wohnen wollen wir für Auszubildende bezahlbaren Wohnraum schaffen, damit sie überhaupt eine reale Chance haben, viele Hundert Kilometer weit weg von ihrem elterlichen Zuhause eine Ausbildung aufnehmen zu können. Ein gemeinsames Wohnen von Studenten und von Auszubildenden würde im Übrigen vielleicht auch die eine oder andere soziokulturelle Barriere im Kopf endlich überwinden helfen. Sehr geehrte Damen und Herren, man kann nicht über die Enquete-Kommission und über den Bericht sprechen, wenn man nicht auch über Weiterbildung spricht. Wir brauchen endlich eine durchschlagende Veränderung unserer Weiterbildungskultur. Deswegen sagen wir ganz klar: In allen Berufen muss gelten: Kein Abschluss ohne Anschluss! ({7}) Dies muss sich konkretisieren. Wir wissen, dass Weiterbildung nicht in gleichem Maße allen zukommt, dass die Einkommensklassen, die Vorqualifizierung entscheidend dafür sind, wie hoch der Anteil derjenigen ist, die tatsächlich von Weiterbildung profitieren. Da müssen wir ansetzen, und zwar auch durch mehr Mitbestimmung im Betrieb. Dazu haben wir mit dem Betriebsrätestärkungsgesetz ein klares Signal gesetzt; aber wir müssen das weiter im Blick behalten. ({8}) Ich will auch, dass wir nicht nur eine Agentur für Arbeit, sondern eine Agentur für Arbeit und Qualifizierung haben. Wir müssen die BA weiter zu einer echten Arbeitsversicherung mit Qualifizierungsboni, mit Transformationskurzarbeitergeld ausbauen; all das – und das ist mir wichtig – haben wir zum Teil schon angeschoben. Aber was fehlt und was wir unbedingt stärken wollen, ist der individuelle Anspruch, konkret für alle gleichberechtigt, auf Weiterbildung. ({9}) Deswegen sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass es Zeit für ein Erwachsenenweiterbildungsgesetz ist – nicht für Ansparmodelle, nicht für Konten, nicht für nicht existenzsichernde Midlife-BAföG-Lösungen, wie es einige vorschlagen, sondern für ein Erwachsenenweiterbildungsgesetz, mit dem jeder für drei Jahre eine Bildungsgrundabsicherung erfährt, um sich dann tatsächlich selbstbestimmt, unabhängig vom Arbeitgeber, unabhängig von drohender Arbeitslosigkeit entscheiden zu können, ob er sich selber eine zweite Chance im Leben gönnt und seine eigene Lebenslaufbahnplanung in die Hände nimmt. ({10}) Sehr geehrte Damen und Herren, Sie haben hoffentlich gemerkt: Für die Sozialdemokratie sind Bildungsfragen auch Verteilungsfragen. Deswegen: Machen wir uns mit diesem Bericht jetzt auf den Weg, und machen wir diese Republik gerechter! Schaffen wir für die berufliche Aus- und Weiterbildung endlich einen Neustart für eine erfolgreiche und dauerhafte Berufsperspektive für alle! Zum Schluss möchte ich mich an dieser Stelle recht herzlich bei allen bedanken, die konstruktiv in dieser Enquete-Kommission mit beraten haben, in aller Regel sehr sachorientiert, sehr kollegial. Ich bedanke mich insbesondere bei meinen Kolleginnen und Kollegen aus der Obleuterunde: bei meiner Kollegin Katrin Staffler, mit der ich eng zusammengearbeitet habe und die heute leider erkrankt ist, aber auch bei den anderen Obleuten. Ich sehe Jens Brandenburg, mit dem es bei allem inhaltlichen Dissens immer eine sehr kooperative Zusammenarbeit gegeben hat, und ich sehe meine Kollegin Birke Bull-Bischoff, mit der ich immer eine sehr enge Zusammenarbeit, auch in den Fragen, die ich gerade angesprochen habe, gepflegt habe. Herzlichen Dank an die Vorsitzenden der Enquete-Kommission, Herrn Kaufmann und Frau Lezius! Ich finde, dieser Bericht kann sich sehen lassen. Ich hoffe, dass er wirklich einen neuen Impuls für die nächste Bundesregierung setzt. Denn das ist unser Auftrag gewesen: sehr grundsätzlich in die Zukunft zu schauen. Ich finde, es ist uns gelungen. Jetzt werden wir darum streiten, die richtigen Schwerpunkte im Bundestagswahlkampf deutlich zu machen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Jetzt hat als Nächstes das Wort der Kollege Dr. Jens Brandenburg für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Digitalisierung verändert die berufliche Arbeitswelt fundamental. Sie verändert Geschäftsmodelle; sie verändert Berufsbilder. Junge Menschen, die heute in der Schule oder in der Ausbildung sind, werden im Laufe ihres Erwerbslebens mehrfach ihren Beruf wechseln oder neu erlernen müssen. Das stellt die berufliche Bildung natürlich vor ganz neue Herausforderungen, ist aber auch eine große Chance. Genau darüber haben wir in der Enquete-Kommission drei Jahre lang in über 200 Sitzungen gemeinsam intensiv diskutiert, wir haben darum gerungen und sehr oft auch darüber gestritten. Das Ergebnis dieser Diskussion liegt seit dieser Woche in einem über 500 Seiten umfassenden Bericht vor. Dahinter steckt sehr viel Arbeit, nicht nur von uns Abgeordneten – auch in der Obleuterunde –, sondern auch von den vielen Sachverständigen, von den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in den Büros der Fraktionen, von den vielen geladenen externen Experten und Expertinnen und ausdrücklich auch von dem Sekretariat, der Verwaltung des Deutschen Bundestages. Deshalb möchte ich all den Beteiligten persönlich, aber auch im Namen meiner Fraktion für dieses kooperative, kollegiale, konstruktive und konzentrierte Miteinander sehr herzlich danken. ({0}) Der nun vorliegende Bericht ist nun wahrlich kein konsensualer Masterplan für die nächsten 10 oder 20 Jahre. Dafür – wir haben es eben schon gehört – sind die inhaltlichen Unterschiede und auch die Unterschiede in den Vorstellungen, wie sich die berufliche Bildung weiterentwickeln soll, schlicht zu groß. Wir sehen das – wenn Sie in den Bericht reinschauen, werden Sie es sehen – an einigen Prüfaufträgen und auch an immer wieder geteilten Voten, wo es dann heißt: Ein Teil der Kommission sieht es so; ein anderer sieht es so. – Aber was dieser Bericht wirklich leisten kann, ist eine strukturierte Analyse und Darstellung all dieser Debatten und unterschiedlichen Positionen im Bereich der Berufsbildungspolitik. Ich glaube, das ist eine wirklich hervorragende Grundlage für Verhandlungen der nächsten Koalition. Ich glaube außerdem, dass es umso wichtiger und auch erfreulich ist, dass es uns trotzdem gelungen ist, in einigen zentralen Handlungsempfehlungen einen Konsens zu erzielen, beispielweise zu einem deutlichen Ausbau der Berufsorientierung, auch an Gymnasien, um wieder mehr junge Menschen für eine berufliche Aus- und Weiterbildung zu begeistern, oder zu dem Pakt für berufsbildende Schulen, der ausdrücklich nicht nur auf die technische Ausstattung setzt, sondern insbesondere auf die Aus- und Weiterbildung des Lehrpersonals. Wir Freie Demokraten hätten uns sicher an einigen Stellen mehr gewünscht; das sehen Sie an ein paar Stellen im Sondervotum. Drei Beispiele möchte ich hier noch kurz nennen. Erstens. Ich glaube, die wirklichen Folgen der Digitalisierung hat die Enquete-Kommission an vielen Stellen unterschätzt. Wir müssen neue Tätigkeiten schneller in Berufsbilder übersetzen. Wir sollten digitale Grundkompetenzen in der Ausbildung stärken und gerade zu Beginn der Ausbildung berufsfeldübergreifende Kompetenzen in den Fokus rücken, bevor man sich weiter spezialisiert. Zweitens: das Thema der Internationalisierung in einer globalisierten Arbeitswelt. Erasmus+ steht nicht nur Studierenden, sondern auch Auszubildenden offen und wird viel zu selten genutzt. Die Schaffung eines Deutschen Beruflichen Austauschdienstes – leider kein absoluter Konsens in der Runde – ist eine der wichtigsten Empfehlungen in diesem Enquete-Bericht. Denn was an Hochschulen möglich ist, muss auch für die berufliche Bildung geöffnet werden. ({1}) Drittens: eine „Exzellenzinitiative Berufliche Bildung“. Mir macht es große Sorge, dass – schon vor Corona, aber insbesondere im letzten Jahr – die Zahl der Ausbildungsverträge massiv eingebrochen ist. Das ist kein reines Angebotsthema. Es liegt auch daran, dass sich immer weniger Schulabgänger überhaupt auf offene Stellen bewerben. Deshalb sollten wir politisch die Lage auf dem Ausbildungsmarkt nicht schlechter reden, als sie ist. In vielen Branchen suchen Betriebe händeringend nach motivierten Auszubildenden. Es lohnt sich, sich zu bewerben. Die Chancen stehen sehr gut. ({2}) Politisch sollten wir deshalb mehr Freiraum geben: nicht immer alles in engere gesetzliche Grenzen rücken, sondern mehr Freiraum und Unterstützung für Innovation vor Ort, auch für regionale Cluster. Dafür stehen wir Freie Demokraten. Die Bundestagswahl im September wird sicher – wir haben es eben auch gemerkt – ein Stück weit eine Richtungswahl für die berufliche Bildung sein. Wo es hingehen kann, ob in die eine oder in die andere Richtung, auch das macht der Bericht sehr deutlich. Dafür danke ich Ihnen sehr herzlich. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Birke Bull-Bischoff, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Birke Bull-Bischoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004688, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, das System der dualen Berufsausbildung hierzulande ist eine Stärke. Allerdings: Das mit der Integrationskraft sehe ich ein klein bisschen kritischer, liebe Yasmin Fahimi; denn die soziale Herkunft von jungen Menschen entscheidet auch in der beruflichen Bildung sehr oft und maßgeblich über den Bildungserfolg, und das ist – im Wortsinn – ein Armutszeugnis. ({0}) Zu viele junge Menschen werden in Warteschleifen und Sonderstrukturen verwiesen, zum Beispiel junge Menschen mit Hauptschulabschluss oder ohne Schulabschluss – durch die Praxis der Ausbildungsreife in der Bundesagentur für Arbeit. Lernorte mit einem hohen sozialen Image sind relativ gut ausgerüstet, beispielsweise im Bereich der überbetrieblichen Ausbildung. Sie erfahren öffentliche Aufmerksamkeit und sind ausgerüstet mit digitaler Infrastruktur. Aber dort, wo junge Menschen lernen, die eben nicht auf der Sonnenseite des Lebens unterwegs sind, herrscht oft Mangel, zum Beispiel in der außerbetrieblichen Ausbildung, in der Jugendberufshilfe, im Übergangssystem. Genau deshalb war und ist das einer der Schwerpunkte von uns Linken. ({1}) Wir brauchen mehr Ausbildungsgerechtigkeit. Wir brauchen mehr inklusive Angebote und Strukturen statt Warteschleifen und Sondersysteme. ({2}) Deshalb fordern wir eine Ausbildungsgarantie – da sind wir eins; darüber bin ich sehr froh – für alle jungen Leute. ({3}) Wir brauchen eine Reform des Übergangssystems. Alle jungen Leute, die in diesem Rahmen ihre Ausbildung absolvieren, müssen wenigstens die Chance haben, ihren Schulabschluss zu verbessern, und sie müssen die Chance haben, zu mindestens 50 Prozent von betrieblicher Praxis zu profitieren. Es muss nicht nur mehr Geld ins System, liebe Kolleginnen und Kollegen; es muss auch gerechter verteilt werden. Auch und gerade in der Jugendberufshilfe ist digitale Ausrüstung notwendig. Und wir brauchen das Recht für jeden Azubi, für jede Schülerin und jeden Schüler auf einen Laptop, auf einen Drucker und auf Verbrauchsmaterial. ({4}) Das Ziel muss immer eine vollqualifizierende Ausbildung sein. Deswegen gehören Unterstützungssysteme, mehr Zeit, mehr sozialpädagogische Hilfen, mehr Flexibilität in das sogenannte Regelsystem, in die duale und die schulische Ausbildung. ({5}) Ich will noch ein Problem aufrufen, das uns nun über mehrere Jahre beschäftigt hat und sehr wichtig ist: Wer Erzieherin werden möchte, Logopädin oder Ergotherapeutin, der oder meistens die kriegt keine vernünftige Ausbildungsvergütung. Genau das ist der Grund, weshalb viele junge Leute – das habe ich gerade im Wahlkampf in Sachsen-Anhalt wieder erlebt – diese Ausbildung leider abwählen. Dabei brauchen wir Auszubildende in diesen Berufen. Das ist ein unhaltbarer Zustand. ({6}) Wir brauchen auch für die schulische Ausbildung den Ausschluss von Schulgeld und das Recht auf Ausbildungsvergütung. Das geht mit einem Bundesgesetz. Wir wollen es gerecht machen; das kann man und muss man bundesgesetzlich regeln. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer ist die nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Beate Walter-Rosenheimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004221, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Liebes Ausschusssekretariat, schön, dass Sie heute hier auf der Tribüne dabeisitzen! ({0}) Es ist geschafft: Drei Jahre Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ liegen hinter uns. Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, alle, die in der Enquete waren, wissen, dass es eine intensive und arbeitsreiche Zeit war, eine Zeit voll mit Licht und mit Schatten. Im Sinne einer Art Abschlussbesprechung – Lessons learned – tun wir gut daran, in einem kurzen Rückblick die guten, aber auch die nicht so gelungenen Aspekte der gemeinsamen Arbeit einmal näher zu beleuchten. Es wäre total schade, wenn wir das nicht im Sinne eines guten Wissensmanagements für zukünftige Projekte nutzen würden. Zunächst einmal: Es ist gut und es ist wichtig, dass wir die Gelegenheit gehabt haben, in so einer Enquete miteinander zu diskutieren und uns intensiv und fundiert mit dem Thema der beruflichen Bildung in einer digitalisierten Arbeitswelt auseinanderzusetzen. Das Thema – das wissen wir alle – ist brandaktuell; denn diese Arbeitswelt verändert sich gerade drastisch. Auf die neuen Herausforderungen müssen wir vorbereitet sein. Wir brauchen Ideen, kreative Konzepte, wie wir auf den Wegfall von Tausenden von Arbeitsplätzen reagieren und wie wir die Situation auch im Sinne der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen auffangen und neu gestalten. Es gibt auch riesige Chancen. Viele neue Berufe entstehen. Fachkräfte für alle möglichen Bereiche und Branchen werden händeringend gesucht. Auf eine Kleine Anfrage antwortete uns die Bundesregierung, dass bis zum Jahr 2035 ein Bedarf von circa 800 000 Fach- und Arbeitskräften allein im Bereich Klimaneutralität besteht. Wo sollen die herkommen, wenn wir uns nicht jetzt intensiv darum kümmern? ({1}) Ich nenne diesen Bereich nur exemplarisch. Eine Fachkräfteoffensive muss zielgerichtet sein, und sie ist jetzt dringend erforderlich. ({2}) Hier können wir uns Stillstand und Abwarten nicht leisten; denn es geht um viel, weil die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes auf dem Spiel steht. Wir müssen innovativ sein, modern denken, auf der Höhe der Zeit sein und nicht im Alten verharren. Das genau hat die Enquete in unseren Augen aber zu oft nicht getan. Es ist kein Geheimnis, dass wir Grünen finden, dass das Thema Digitalisierung nicht ausreichend, nicht weitblickend genug und nicht innovativ genug bearbeitet wurde. Zu viel wurde über den Status quo diskutiert, zu viel manchmal in alten Töpfen gerührt, und zu oft wurde darauf beharrt, dass unser Exportschlager, die duale Bildung, auch weiterhin so gut funktioniert wie bisher und ein Selbstläufer bleibt. So ist es aber leider nicht. Dem müssen wir ins Auge sehen, und dem müssen wir Rechnung tragen. ({3}) Der aktuelle Berufsbildungsbericht zeigt uns deutlich, dass es nicht mehr einfach so weiterläuft. Wir haben einen neuen Tiefstand bei den Ausbildungsverträgen erreicht. Immer weniger Betriebe bilden aus, immer weniger Auszubildende und Betriebe finden zueinander. Das ist ohnehin schon alarmierend, und da ist die kommende Veränderung durch die Digitalisierung noch gar nicht mitgedacht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen hier noch mutigere Debatten, mutigere Auseinandersetzungen; dann wäre der Abschlussbericht auch noch etwas ambitionierter und fokussierter geworden. Das ist ein Wermutstropfen, eine Chance, die in unseren Augen nicht so ganz genutzt wurde. Da wünschen wir uns mehr Mut; denn die Chance liegt im Wandel. Andererseits gibt es aber auch viele positive Aspekte. Wir freuen uns, dass einige Forderungen von uns Grünen eingebracht werden konnten, sodass der Bericht auch etwas Zukunftsweisendes hat und wir nach vorne sehen können. So haben wir uns sehr gefreut, dass wir dann doch noch 400 Azubis befragt haben. Wir wollten ja mehr Öffentlichkeit, mehr Beteiligung. Da gab es anfangs schon ziemlich viel Skepsis. Ich sage da gerade Ihnen von der GroKo: Haben Sie doch mehr Mut zu Transparenz! Denn wir wollen die Menschen doch mitnehmen. Geben Sie sich künftig einen Ruck, und lassen Sie mehr Beteiligung zu! ({4}) Wichtig war uns Grünen auch, die Fahne für Geschlechtergerechtigkeit und Inklusion hochzuhalten. Auch da ist noch Luft nach oben. Das merkt man, wenn man sich zum Beispiel die Besetzung anschaut. Im Sinne einer modernen Gesellschaft ist da einfach noch Luft nach oben. Es ist Zeit, das endlich selbstverständlich mitzudenken. Ein großes Anliegen war uns außerdem die Weiterbildung im Sinne des lebenslangen Lernens. Auch das haben wir immer wieder fokussiert; denn auch das gehört zu einer modernen Gesellschaft ganz maßgeblich dazu. Berufsbilder werden künftig nicht in gleicher Form ein ganzes Berufsleben lang weiterbestehen. Wir wollen und müssen dem Wandel noch viel mehr Aufmerksamkeit und Engagement widmen. Auch das ist eine Herausforderung, von der ich hoffe, dass der nächste Bundestag sie angehen wird, dass er auf Basis des vorgelegten Berichts weiter daran arbeiten wird. ({5}) Abschließend möchte ich mich bei den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen – ich exkludiere hier jetzt niemanden, wie die SPD-Fraktion – für die gute und kollegiale Zusammenarbeit bedanken. Es hat sich gezeigt, dass die Arbeit in einer solchen Enquete auch ein Herzstück unserer Demokratie ist. Ich freue mich über die viele geleistete konstruktive gemeinsame Arbeit, die Diskussionen, die Auseinandersetzungen, auch wenn hier noch einmal gesagt werden muss, dass wir uns in der zweiten Hälfte der Enquete durchaus weniger Schulterschluss der GroKo und mehr Offenheit für die Vorschläge der Opposition gewünscht hätten. Mein Dank gilt natürlich vor allem unseren Vorsitzenden, Herrn Kaufmann – schön, dass Sie heute hier sind! – und danach Frau Lezius; vielen Dank und auch vonseiten meiner Fraktion alles Gute für Ihren weiteren Weg. Mein Dank gilt meinen Obleutekolleginnen und ‑kollegen, unseren Sachverständigen und ganz besonders dem Sekretariat, das als Maschinenraum der Enquete ganz unglaubliche Arbeit geleistet hat. ({6}) Last, but not least: Was wären wir ohne unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Fraktionen und in unserem Büros? Ganz herzlichen Dank auch für Ihren großen Einsatz und das tolle Engagement! ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner: der Abgeordnete Stephan Albani, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Albani (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004241, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, diese Legislatur war eine gute Legislatur für die berufliche Bildung. Sie begann mit der Einführung eines Exzellenzwettbewerbes namens InnoVET. Es ging dann weiter mit der Modernisierung zweier Gesetze, dem Berufsbildungsmodernisierungsgesetz und dem AFBG, kurz: Meister-BAföG. Nun liegt das Opus magnum vor, das Ergebnis von drei Jahren gemeinsamer Arbeit: der Bericht der Enquete-Kommission. Ich möchte mit dem Dank beginnen an die Kolleginnen und Kollegen und die Sachverständigen: 19 Kolleginnen und Kollegen, 19 Sachverständige und zahllose zusätzlich geladene, direkt oder indirekt teilnehmende Sachverständige haben hier zu diesem Bericht beigetragen und haben das Ergebnis erzeugt, das heute vorliegt und auf das wir aus meiner Sicht wirklich alle gemeinsam stolz sein können. Das Ziel, das uns gemeinsam geeint hat, war die Überzeugung, dass die berufliche Bildung ein Erfolgsmodell ist, dass sie der Eckpfeiler für den Fachkräftebedarf ist und dass sie für junge Menschen letzten Endes die Basis einer sicheren Lebensgestaltung darstellt. Nun kommt die Digitalisierung. Ja, die Digitalisierung ist Veränderung. Wie ein chinesisches Sprichwort so schön sagt: Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen. – Genau darum ging es uns, nämlich herauszufinden: Wie sieht es denn im System aus? Wir müssen bei der Analyse erst mal generell zwei Arten von Digitalisierung unterscheiden: Das eine ist die Digitalisierung in der Arbeitswelt selbst, also in den Berufen, die die Berufe verändert, die Berufe obsolet macht, die andere Berufe neu erzeugt. Das andere ist natürlich die Digitalisierung in der Ausbildung, also im gesamten schulischen Teil, wo Digitalisierung, wenn es gut läuft, nicht nur Papier und Bleistift ersetzt, sondern neue Wege des Lernens und des Verstehens originär ermöglicht. Als wir das betrachtet haben, haben wir festgestellt, dass zum Beispiel das Zusammenspiel der Sozialpartner, der Kammern bei der Modernisierung von Berufen gut funktioniert. Wir können hier an dieser Stelle bestenfalls sagen: ein paar mehr agile Verfahren, ein bisschen mehr Tempo an der einen oder anderen Stelle. Aber auch das ist eigentlich schon des Guten zu viel; eigentlich funktioniert das Zusammenspiel sehr gut. Aber es gibt andere Bereiche, in denen die Menschen verunsichert werden. Studien sagen: Ungefähr 1,5 Millionen Arbeitsplätze werden wegfallen, aber auch 1,5 Millionen Arbeitsplätze werden neu entstehen. Insofern gibt es zwei Bereiche, zwei zentrale Felder, die wir in der Zukunft in den Fokus nehmen müssen – das stellt der Bericht deutlich heraus –: Das eine ist die Berufsorientierung. Wir haben uns angeschaut, was derzeit getan wird: Das ist eine Fülle von Maßnahmen: von Zukunftstagen über Praktika, über alle möglichen Formen von Messen und Informationen, durch die Pandemie mittlerweile teilweise auch digital. Aber sie stehen alle monolithisch nebeneinander. Ich nehme ein einfaches Beispiel: Vor einiger Zeit sprach ich mit einem jungen Menschen, einem Kollegen meiner Tochter, und fragte ihn so nach dem Motto: Was machst du denn jetzt mit deinem Berufspraktikum? – Da sagte er, er mache das in einer Bank. Darauf fragte ich ihn – das war vor der Pandemie –: Wieso? Du wolltest doch in eine Baumschule gehen. Das interessiert dich doch. – Antwort: Ja, aber doch nicht im Februar. Da ist es kalt, und es regnet. Und die Bank ist überdacht und ist warm. – An dieser Stelle nützt ein solches Berufspraktikum nicht zur Berufsorientierung. Genauso ist es auch mit Zukunftstagen und anderen Veranstaltungen, wenn man sie nach Opportunität beurteilt und nicht nach dem, was sein persönliches Interesse ist. Da müssen wir deutlich besser werden. ({0}) Der andere Punkt ist: Diese Veränderung, die wir in den Berufen einführen, macht es natürlich zwingend notwendig, eine große Menge an Weiterbildungen vorzusehen. Hier wollen wir durch die Verbesserung der KfW-Bildungskredite, durch die Neuausrichtung von Bildungsprämien und die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Weiterbildung deutlich mehr in der Zukunft erreichen, sodass die Menschen, die hier weitergebildet werden sollen, das Gefühl haben, Weiterbildung bedeute für sie den Aufbruch in eine sichere und persönlich gute Zukunft. Dann will ich noch mit drei weiteren Forderungen abschließen, die wir in teilweise unterschiedlicher Ausprägung gemeinsam formuliert haben: Das ist der Pakt für die berufliche Bildung insgesamt, in dem es um Förderung für Infrastruktur geht, Qualifizierung für die Lehrerweiterbildung und entsprechend Bereitstellung von Wohnraum und Mobilisierung. Ganz wichtig ist für uns der Pakt für die Berufsschulen, die eine steigende Bedeutung auch und gerade im Bereich der Weiterbildung haben. Last, but not least: die Internationalisierung, das heißt die Etablierung eines Deutschen Beruflichen Austauschdienstes, um auf diese Art und Weise hier wieder mehr Internationalität reinzubringen. Was man sich klarmachen muss: Lange bevor Akademiker sich über Ländergrenzen hinweg ausgetauscht haben, waren es Handwerker, die auf die Walz gingen und so international ihre Fertigkeiten vervollständigten. ({1}) Der Enquete-Bericht ist eine hervorragende Grundlage für die Arbeit in der nächsten Legislatur. Ich freue mich darüber, dass wir ihn gemeinsam geschafft haben. Ich muss ehrlich zugeben: Es gab die eine oder andere Sekunde, wo wir unter der Leitung von Frau Lezius oder Liisa Völlers gedacht haben: Das schaffen wir nicht. – Wir haben es geschafft! Ich freue mich darüber. Ich denke, wir haben einen wichtigen Dienst getan: das Wichtigste zu entwickeln, was wir haben, nämlich die Fähigkeiten in den Köpfen unserer jungen Menschen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Stephan Albani. – Die nächste Rednerin: Marja-Liisa Völlers von der SPD-Fraktion. ({0})

Marja Liisa Völlers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004942, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als stellvertretende Vorsitzende der Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ konnte ich die insgesamt gut drei Jahre Arbeit mitgestalten. Die Kolleginnen und Kollegen haben ja schon viele unserer Ergebnisse dargestellt, haben auch schon unsere Kontroversen deutlich gemacht. Ich möchte daher in der Kürze meiner Redezeit noch zwei Punkte betonen, die ich persönlich sehr, sehr wichtig finde. Das ist als Erstes eine ergebnisoffene Berufsorientierung, beginnend in einer frühen Phase in der Sekundarstufe I an allen Schulformen. Warum ist das wichtig? Weil wir eine Gleichwertigkeit in der Wahrnehmung von beruflicher und akademischer Bildung bei unseren jungen Leuten brauchen. ({0}) Diese Gleichwertigkeit kann insbesondere durch praktische Erfahrungen in Betrieben und durch den begleitenden Unterricht erreicht werden. Zum Beispiel kann eine Gymnasiastin ein Praktikum in einem Malerbetrieb machen; das muss eine Selbstverständlichkeit auch in der gymnasialen Berufsorientierung werden. Aus vielen Gesprächen mit Azubis, Gewerkschaften sowie Akteuren aus dem Handwerk und der Industrie weiß ich, wie groß der Fachkräftebedarf aktuell ist und vor allem auch in der Zukunft sein wird und – das ist das Schöne an der Sache – welche Chancen die Beruflichkeit an dieser Stelle für die jungen Menschen mit sich bringen wird. Der zweite Punkt betrifft die Gewinnung von Berufsschullehrkräften; auch hiervon wurde schon mehrfach gesprochen. Menschen sind aber Gewohnheitstiere. Wir neigen dazu, uns das Bekannte auszuwählen. Ich selbst will mich davon überhaupt nicht ausnehmen. Ich selber habe nach dem Abitur Gymnasiallehramt studiert. Warum? Weil ich Spaß an Schule hatte, am Unterricht und an der Arbeit mit jungen Menschen! Ich muss zu meiner Schande heute, 17 Jahre später, eingestehen, dass ich durchaus auch Berufsschullehrerin hätte werden können, wenn, ja wenn ich überhaupt gewusst hätte, dass dieses Berufsbild auch existiert – neben der Grundschule und dem Gymnasium. Von daher bin ich eben auch persönlich davon überzeugt, dass wir mehr Berufsschulkräfte gewinnen werden, wenn wir eine verbesserte Berufsorientierung anstreben – die Kollegen haben es erwähnt – und wenn wir die Kooperation zwischen allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen in allen Schulformen noch ein bisschen stärker forcieren. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir zum Schluss noch eine persönliche Bemerkung als stellvertretende Vorsitzende unserer Enquete. Es war mir eine Ehre, mich mehrfach in Vertretung aktiv und engagiert einbringen zu dürfen. Sie, die Abgeordnetenkollegen, aber insbesondere auch unsere Sachverständigen, die heute nicht bei uns sein können, auf diesem manchmal doch durchaus harten Weg zu begleiten und zu leiten, hat mir persönlich sehr, sehr viel Freude gemacht. Dass man einen Konsens im Dissens finden kann, so wie beispielsweise der DGB und die BDA in einer unserer Sitzungen, das ist ein sehr, sehr gutes Zeichen für unseren demokratischen Denkprozess. ({2}) Ich danke Ihnen allen für die schöne, gute Zusammenarbeit. Liebe Frau Lezius, liebe Antje, auch von mir noch mal alles Gute für deine persönliche Zukunft! Mein und, ich denke, unser aller Dank gilt den Mitarbeitenden der Fraktionen, den Kolleginnen und Kollegen Abgeordneten, den Sachverständigen, natürlich auch dem Sekretariat da oben auf der Tribüne. Ihnen allen mein, unser großer Dank! ({3}) Zum Abschluss. Unser aller Ausdauer, Geduld und Herzblut haben sich am Ende schließlich gelohnt: Wir haben hier nun diesen Bericht vorliegen. Ganz im Sinne von Wilhelm Busch, der in Wiedensahl in meinem Wahlkreis geboren wurde, resümiere ich: Ausdauer wird früher oder später belohnt. Meist später. In diesem Sinne: herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin für die Fraktion der FDP ist die Kollegin Katja Suding. ({0})

Katja Suding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Welche neuen Kompetenzen müssen unsere Auszubildenden erwerben, damit sie in der digitalisierten Arbeitswelt von morgen selbstbestimmt leben und arbeiten können? Dieser Frage, die für unser gesamtes Bildungssystem zentral ist, ging eine Enquete-Kommission drei Jahre lang nach. Ich habe das Geschehen auch als Nichtkommissionsmitglied eng verfolgt. Nun liegt der Abschlussbericht vor. Auch wenn es auf eine so komplexe Frage sicher keine ganz einfachen Antworten gibt, so bleibt der Bericht doch an manchen Stellen hinter unseren Erwartungen zurück. Wir hätten uns noch mehr zukunftsweisende Aussagen gewünscht, wie Innovation und Digitalisierung in der beruflichen Bildung beschleunigt werden können. ({0}) Als FDP-Fraktion ergänzen wir diesen Abschlussbericht daher mit einer echten Modernisierungsagenda für die berufliche Bildung; mein Kollege Jens Brandenburg hat in seiner Rede in Auszügen darüber gesprochen. Meine Damen und Herren, wenn die Berufsausbildung für junge Menschen wirklich attraktiv werden soll, dann muss diese Modernisierungsagenda das Arbeitsprogramm der künftigen Bundesregierung werden. ({1}) Spätestens die Coronakrise hat die Schwachstellen unseres Bildungssystems schonungslos offengelegt, und sie hat große neue Herausforderungen geschaffen, die uns leider noch lange begleiten werden. Nicht erst die aktuelle Studie der Goethe-Universität Frankfurt bescheinigt, dass Kinder und Jugendliche im Lockdown ihr Recht auf Bildung nur unzureichend wahrnehmen konnten und die entstandenen Lerndefizite mindestens teilweise kaum aufzuholen sind. Das, meine Damen und Herren, darf uns nicht kaltlassen. Das muss uns alle aufrütteln. ({2}) Für mich als Freie Demokratin hat Bildungspolitik einen extrem hohen Stellenwert. Ich bin froh und dankbar, dass ich dieses Thema für meine Fraktion in den letzten vier Jahren hier im Bundestag bearbeiten durfte. Denn weltbeste Bildung ist das Fundament für unser Menschenbild, das einen selbstbestimmten Menschen sieht, den wir starkmachen wollen und damit auch sein Umfeld und die Gesellschaft insgesamt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Hinsicht gibt es noch viel zu tun. Unser Bildungssystem muss digitaler werden. Es muss jede und jeden Einzelnen unterstützen und fördern, einen individuellen Weg gehen zu können. Der Bildungserfolg muss vom Elternhaus unabhängiger werden. ({3}) Im Kern muss unser Bildungssystem aber vor allem eines: Es muss in seiner gesamten Breite von der Kita über Schulen, Ausbildungsstätten und die Hochschulen Menschen dafür begeistern, Neues zu lernen. Dies ist meine letzte Rede im Deutschen Bundestag. Ihnen wünsche ich daher von ganzem Herzen, dass Sie die zentralen Herausforderungen, die für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes entscheidend sind, auch in der nächsten Legislaturperiode mit voller Tatkraft angehen. Es war mir eine große Freude und Ehre, an dieser Stelle in den vergangenen vier Jahren mit Ihnen über unsere liberalen Konzepte zu debattieren, zu beraten und manchmal auch zu streiten. Ich danke Ihnen sehr dafür. Ihnen wünsche ich alles Gute. Mögen Neugier, Gesundheit und Glück Sie auch in Zukunft begleiten. Auf Wiedersehen und vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Katja Suding. Alles Gute! – Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Abgeordnete Jutta Krellmann. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 1972 habe ich meine Ausbildung als Chemielaborantin in einer Tochterfirma der Hoechst AG in Wiesbaden begonnen. Das war eine sehr gute betriebliche Ausbildung: mit breitem Grundlagenwissen und einer vergleichbaren Qualität. Dieses Prinzip muss auch heute gelten, ({0}) egal ob ich meine Ausbildung in Frankfurt am Main oder in Frankfurt an der Oder mache. Doch das System der dualen Ausbildung ist in Gefahr. Schon seit Jahren werden zu wenige Ausbildungsplätze angeboten. Corona hat die Situation noch mal verschärft. Im Abschlussbericht der Enquete-Kommission, wo Politiker/-innen auf Sachverständige trafen, stehen einige gute Vorschläge; okay. Doch entscheidende Grundlagen, die die Zukunft der betrieblichen Berufsausbildung im digitalen Zeitalter sichern, fehlen. So geht es nicht. ({1}) Wir sagen erstens: Es ist höchste Zeit, eine Ausbildungsgarantie einzuführen. Jeder junge Mensch muss das Recht haben, eine vollqualifizierte Ausbildung zu machen. ({2}) Heute gibt es trotz aller gegenteiliger Behauptungen nicht genügend Ausbildungsplätze für alle jungen Leute, und Jugendliche können nicht auswählen. Dabei sagte das Bundesverfassungsgericht 1980, dass das Angebot an Ausbildungsplätzen 12,5 Prozent über der Nachfrage liegen muss. Wir sagen zweitens: Wir brauchen endlich eine Ausbildungsumlage. Wer nicht ausbildet, muss zahlen. Das ist doch klar. ({3}) Über 80 Prozent der Betriebe bilden nicht aus. Aber alle profitieren von gut ausgebildeten Fachkräften und beklagen darüber hinaus auch noch einen Mangel. So läuft das nicht. Wenn man die Betriebe, die nicht ausbilden, zur Kasse bittet, kann man mit dem Geld Ausbildung finanzieren und zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen, betrieblich und überbetrieblich. Das ist die Grundlage für die Ausbildungsgarantie. ({4}) Die Umlagefinanzierung gibt es in der Bauwirtschaft schon seit Jahren und seit Kurzem auch in der Pflege. Sie ist also keine Utopie. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es bleibt aber noch viel zu tun. Als Linke werden wir deshalb weiter Druck machen für gute Ausbildung für alle. Das ist heute auch meine letzte Rede, Sie werden mich aber nicht los. ({5}) Ich werde das alles ganz genau beobachten, und wenn was nicht klappt, dann bin ich wieder da. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Krellmann. Auch Ihnen alles Gute! – Die nächste Rednerin ist für die CDU/CSU-Fraktion die Abgeordnete Sybille Benning.

Sybille Benning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004251, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach vielen Anregungen aus dieser Enquete-Kommission, die die Kollegen schon vorgetragen haben, frage ich: Warum entscheiden sich zu wenig junge Menschen für eine Ausbildung in Deutschland? Warum bleibt der Fachkräftebedarf ungedeckt? Ich meine, wir müssen die Attraktivität der Ausbildung deutlich steigern. Und wie? Zum Beispiel durch internationalen Austausch mittels eines Deutschen Beruflichen Austauschdienstes, des DBAD. Schon vor 800 Jahren wanderten die Steinmetze, quasi Begründer des Handwerks, durch ganz Europa und bauten die Kathedralen überall auf dem Kontinent. Sie verbreiteten dadurch neue Fähigkeiten, Wissen und Perspektiven. Und heute? Heute fordern wir 20 Prozent in 2030. 20 Prozent: Das ist die neue, von der Enquete-Kommission beschlossene Zielmarke für Auszubildende, die während ihrer Ausbildung Auslandserfahrung gesammelt haben sollen. Das ist ambitioniert; denn heute haben wir nur einen Anteil von 7 Prozent Azubis mit Praxiserfahrung im Ausland. Im akademischen Bereich liegt dieser Wert um ein Vielfaches höher. Da müssen wir nachlegen. Als Konditor nach Paris, als Schreiner nach Italien oder als Kommunikationskauffrau nach London: Internationale Mobilität steigert die Attraktivität der Ausbildung. Dabei profitieren die Azubis selber, die Betriebe und die Gesellschaft vom interkulturellen und fachlichen Austausch. Einerseits haben wir einen Mangel an Auszubildenden und andererseits einen hohen Bedarf auch an internationaler Erfahrung in der deutschen Wirtschaft. Aber gerade kleine und mittlere Unternehmen, die einen Großteil der Ausbildung leisten, brauchen Beratung für Auslandsaufenthalte; denn Azubis, Schulen und Ausbilder müssen wissen, was eigentlich möglich ist. Auch die finanziellen Mittel für das EU-Programm „Erasmus+“ müssen erhöht werden. Es reicht alles noch nicht. ({0}) Es reicht immer noch nicht; denn es fehlt an regionaler und digitaler Beratung, an bundesweiter Öffentlichkeitsarbeit und an Nutzerfreundlichkeit der existierenden Portale. Bei den großen öffentlichen Programmen, der Vielzahl kleiner privater Träger von Austauschstipendien, den länderspezifischen Programmen und auch individuellen Mobilitätsprojekten unterschiedlicher Dauer für verschiedenste Branchen fehlt Klarheit. Wie soll denn zudem eine ausländische Stelle im Wirrwarr von Kammern, Schulen, Betrieben, Bund und Ländern den richtigen Ansprechpartner für ihr internationales Mobilitätsprojekt finden? In der Enquete-Kommission habe ich mich besonders dafür eingesetzt, die internationale Mobilität auch institutionell zu stärken. Ein Deutscher Beruflicher Austauschdienst nach einer Skizze des DIHK kann von Grund auf dazu beitragen, die Quote der Auslandsaufenthalte zu steigern. Ein runder Tisch aus Bund, Ländern, Sozialpartnern und Wirtschaftsverbänden soll beraten, in welcher Form eine bundesweite Koordinierung und Stärkung der internationalen Mobilität in der beruflichen Bildung am besten gelingen kann, ohne dass Doppelstrukturen entstehen. Dafür müssen die bestehenden Programme und Strukturen verzahnt, aber auch erweitert werden. So eine Institution hätte Strahlkraft und soll als DBAD auch in der Begrifflichkeit klar an einen DAAD angelehnt sein; denn nicht nur der akademische Bereich hat in der internationalen Mobilität eine klare Institutionalisierung und Stärkung verdient. ({1}) Mir ist besonders wichtig, dass ein DBAD auch die gute regionale Arbeit der kammernahen Mobilitätsberatung wie „Berufsbildung ohne Grenzen“ integriert und forciert; denn es gibt viel zu viele weiße Flecken auf der Karte, wo Betriebe vor Ort keine Beratung zu Auslandsaufenthalten haben. Für die Attraktivität der Ausbildung braucht es auch an anderen Stellen verbesserte Rahmenbedingungen. Wir brauchen bezahlbaren Wohnraum für junge Menschen in Ausbildung, nicht nur studentisches Wohnen. Hier erwarte ich Angebote für junge Menschen. Das Azubi-Ticket ist besonders wichtig, und auch Ermäßigungen, die Studierenden zugutekommen, sollen in angemessener Weise ebenfalls für Azubis gelten, besonders was Kultur und Freizeit angeht. Nur wenn Ausbildung für junge Menschen attraktiv ist und das auch bei ihnen ankommt, werden wir den Fachkräftebedarf decken können. Es gibt also in der nächsten Wahlperiode noch genug zu tun, und ich beobachte das auch. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner macht sich bereit, der Kollege Axel Knoerig, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Axel Knoerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004073, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Abschlussbericht der Enquete mit über 600 Seiten liest sich wirklich wie ein Handbuch zur beruflichen Bildung. Wir haben alle Bereiche der Aus- und Weiterbildung untersucht und auch Vorschläge erarbeitet, welche Anpassungen an die digitale Arbeitswelt vorzunehmen sind. Uns als Union war auch wichtig, für mehr Chancengerechtigkeit bei der beruflichen und akademischen Bildung zu sorgen; denn unsere mittelständische Wirtschaftskraft basiert auf der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Über 75 Prozent der Lehrlinge werden in kleinen und mittleren Betrieben ausgebildet, und deswegen fordern wir einen Pakt für die berufliche Bildung. Wir wollen diese zukunftsfit machen. Wir brauchen mehr technische Ausstattung, aber vor allem geschultes Personal. Die Ausbilder in den Betrieben und die Lehrer in den Berufsschulen müssen digital fit gemacht werden. Und wir wissen sehr wohl auch, dass sich viele Schulen bereits auf den Weg gemacht haben und eigene Digitalpläne erarbeiten. ({0}) Über neue Plattformen für Aus- und Weiterbildung soll ortsunabhängiges Lernen ermöglicht werden. In diesem Zusammenhang wollen wir auch die Mobilität von Auszubildenden stärken; denn oft ist es räumliche Distanz, die verhindert, dass Lehrlinge und Betriebe zusammenkommen. Hier setzen wir auf Azubi-Tickets sowie kostengünstige Wohnheime für die jungen Berufstätigen. In der Arbeit der Enquete ist deutlich geworden, dass die Fraktionen in Fragen der Ordnungspolitik bei der beruflichen Aus- und Weiterbildung sehr unterschiedliche Auffassungen haben. Für die Unionsfraktion kann ich festhalten: Bewährtes und Erfolgreiches wollen wir nicht verändern. Das gilt auch für die eigenverantwortliche Kooperation zwischen Unternehmen und Kammern in der Berufsbildung. Ich habe mich in einem Votum mit den Sachverständigen der Union auch gegen staatliche Eingriffe in den privaten Weiterbildungsmarkt ausgesprochen. Damit haben wir den Regulierungsabsichten der Opposition eine klare Absage erteilt. Außerdem wurde in der Enquete noch die Bedeutung regionaler Arbeits- und Bildungsmärkte deutlich. Diese sind sehr unterschiedlich. Insofern sind passgenaue Angebote für heimische Fachkräftesicherung außerordentlich wichtig. Und hier möchte ich ein Beispiel aus meinem Wahlkreis Diepholz-Nienburg erwähnen. Im Landkreis Diepholz haben wir mehrere lokale Netzwerke aus Hochschulen und Berufsschulen, Unternehmen und Kommunen miteinander vernetzt. Dazu gehört die Ausbildungswerkstatt taff! in Bassum. Hier kooperieren neun Unternehmen mit der Stadt und der Metropolregion Nordwest. Sie haben ein eigenes Ausbildungszentrum für technische Berufe aufgebaut, und es ist somit zu einem Leuchtturmprojekt in der Region geworden. Dort werden gemeinsam die Fachkräfte ausgebildet, die vor Ort gebraucht werden. Meine Damen und Herren, solche privaten Initiativen wie das taff! müssen wir in den gesamten Bildungskontext einbinden. Das Modell der dualen Ausbildung hat sich bewährt und darf nicht durch bildungspolitische Vorgaben eingeschränkt werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Axel Knoerig. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Stefan Kaufmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Am Ende dieser Debatte – es ist ja zu den Inhalten viel gesagt worden – vielleicht ein Wrap-up: Ich möchte noch mal zum Anfang, zur Entstehung dieser Enquete-Kommission zurückkommen. Wir hatten uns in der Koalitionsvereinbarung, in den Verhandlungen damals überlegt, dass wir die Stärkung der beruflichen Bildung in den Blick nehmen wollen. Wir haben die Einsetzung der Enquete-Kommission aufgeschrieben, und in Verhandlungen, im Zuge der Ausgestaltung hat man dann die Verbindung zur digitalen Arbeitswelt, zur Digitalisierung geschafft. Diese Fokussierung auf die digitale Arbeitswelt war in den Debatten mitunter schwierig. Das Verhältnis von akademischer und beruflicher Bildung, die Stärkung der beruflichen Bildung gegenüber der akademischen Bildung schwangen bei den Diskussionen immer mit. Das hat auch, glaube ich, die Diskussion heute noch mal gezeigt. Am Anfang sollte der Bericht auch relativ schlank gestaltet werden. Das ließ sich am Ende nicht ganz realisieren. Aber es zeigt ja nur die große Komplexität des Themas. Wir hatten sieben Projektgruppen eingesetzt und haben eben die Vielfalt der beteiligten Ebenen und Akteure abgebildet: Aus- und Weiterbildung, Handwerk, Industrie- und Sozialberufe, schulische und außerschulische Bildung – all das musste am Ende zusammengebracht und zusammengefasst werden. Es war, denke ich, das große Verdienst auch dieser Kommission, dass wir alle Akteure eingebunden haben, dass alle Sozialpartner mit am Tisch saßen, dass wirklich sehr viel Expertise in dieser Kommission war, auch viel gegenseitige Wertschätzung im Übrigen und – auch das muss man sagen – viel Vorwissen all derer, die mit dabei waren, was natürlich dazu geführt hat, dass auch manch alte Schlacht mit geschlagen wurde, zum Beispiel zum Thema Ausbildungsgarantie. Wir haben es ja auch heute hier in der Debatte erlebt. Ich denke jedenfalls, dass wir mit diesem Bericht, der nun vorliegt, ein neues, ein digitaleres Kapitel für die berufliche Bildung aufschlagen. Der Abschlussbericht sollte nun in der Tat Grundstein für die kommende Legislaturperiode sein, für die vielen Stakeholder, die von diesem Bericht auf allen Ebenen betroffen sind, sozusagen eine Fibel, ein Nachschlagewerk für alle, die mit der beruflichen Bildung in einer digitalen Arbeitswelt zu tun haben. Unser Anspruch war und ist es – und da spreche ich, denke ich, für das ganze Haus –: Wir wollen alle Menschen für eine sich immer schneller verändernde Arbeitswelt fit machen. Und dazu gibt nun dieser Bericht wirklich sehr, sehr viele sehr gute Handlungsempfehlungen. Ich möchte jetzt gar keine besonders herausheben. Ich bin im Übrigen auch froh, dass sich viele der Handlungsempfehlungen zum Teil schon in den Wahlprogrammen der Parteien wiederfinden. Das ist, denke ich, ein gutes Zeichen, auch wenn es um die Umsetzung dieses Berichtes geht. Und natürlich, ganz darüber steht der Pakt für die berufliche Bildung, in den, denke ich, auch ein Pakt für die berufsbildenden Schulen integriert werden sollte. Das ist neben den vielen anderen konkreten Themen wichtigster Bestandteil dieser Empfehlungen. Am Ende möchte ich tatsächlich noch mal allen danken, die in dieser Enquete-Kommission mitgewirkt haben: den vielen Experten, den externen Referentinnen und Referenten, den Mitarbeitern in den Fraktionen, in den Bundestagsbüros, ohne die diese wichtige Arbeit so überhaupt nicht möglich wäre, und auch abschließend nochmals dem Sekretariat, das hier eine wirklich sehr gute Arbeit gemacht hat. Ich will allen noch mal für die wirklich sehr gute Zusammenarbeit danken, für die vertrauensvolle und konstruktive Arbeit, die wir hier gemeinsam geleistet haben. ({0}) Abschließend: Es war mir eine große Freude und Ehre, die Kommission fast zwei Jahre lang leiten zu dürfen. Den schwierigeren Teil aber hatte dann meine Nachfolgerin Antje Lezius. Liebe Antje, du hattest die Aufgabe, für den Abschlussbericht nun alles zusammenzuführen, die wirklich komplexen Diskussionen der vergangenen drei Jahre in einem schon etwas beginnenden Bundestagswahlkampf zusammenzuführen. Das war eine große Herausforderung. Du hast sie gemeinsam mit dem Sekretariat, mit den Obleuten, mit allen sehr, sehr gut gemeistert. Am Ende ist ein wirklich gelungener Bericht herausgekommen. Dafür noch mal herzlichen Glückwunsch, ein herzliches Dankeschön, alles Gute dir für deine persönliche Zukunft. Dem ganzen Hause wünsche ich, dass wir diesen Abschlussbericht als Handlungsempfehlung für die Arbeit der kommenden Jahre nehmen, die ja nicht zu Ende ist. Ein ganz herzliches Dankeschön noch einmal an alle, die mitgewirkt haben! ({1})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt jetzt, am Ende der Legislatur, 160 000 Sozialwohnungen weniger als noch vor vier Jahren. In acht Jahren GroKo sank die Zahl der Sozialwohnungen um über 400 000. ({0}) Vermutlich noch in diesem Jahr wird die Zahl der Sozialwohnungen unter 1 Million abrutschen. Das ist ein historischer Tiefstand und eine miserable Bilanz Ihrer Politik. ({1}) Es fehlen in Deutschland aktuell 5 Millionen Sozialwohnungen, sagt das Eduard-Pestel-Institut. Alle zwölf Minuten fällt eine Sozialwohnung weg. Angesichts der Mietenexplosion ist dieses Versagen beim sozialen Wohnungsbau einfach nur fatal. ({2}) Es ist auch nicht alleine die Verantwortung der Länder. Sie haben zu wenig investiert. Das Baukindergeld ist Ihnen dreimal mehr wert als der soziale Wohnungsbau. Eine kleine Milliarde Euro jährlich für das gesamte Bundesgebiet ist kaum mehr, als die Stadt Wien – also eine Stadt in der Größe von Hamburg – alleine für die soziale Wohnraumförderung ausgibt. Deswegen liegt in Wien die durchschnittliche Belastung mit Wohnkosten bei 21 Prozent des Haushaltseinkommens und in München beispielsweise bei 38 Prozent. Das zeigt doch: An Wien müssen wir uns orientieren. ({3}) Wenn wir mit diesem Schneckentempo weitermachen, dann haben wir in 30 Jahren fast keine Sozialwohnungen mehr. Die Sozialwohnungen in Deutschland sind vom Aussterben bedroht. Wir brauchen endlich ein Rettungsprogramm für den sozialen Wohnungsbau. ({4}) Wir als Linke wollen 10 Milliarden Euro jährlich investieren, damit 250 000 soziale und gemeinnützige Wohnungen im Jahr entstehen können. ({5}) Was läuft in Wien besser? Mehr Investitionen sind das eine. Während hierzulande eine Sozialwohnung nach 15 Jahren ihren Status verliert und die Mieten sich wieder am Markt orientieren können, gilt dort: einmal Sozialwohnung, immer Sozialwohnung. – Das muss auch in Deutschland gelten. ({6}) Genau deswegen brauchen wir einen Systemwechsel hin zu einer neuen Wohnungsgemeinnützigkeit, einem System, das eine soziale Vermietungspraxis steuerlich fördert und nicht, wie es derzeit der Fall ist, die Konzerne, ({7}) einem System mit dauerhaften Sozialbindungen. Wir brauchen einen nicht profitorientierten Teil auf dem Wohnungsmarkt; wir brauchen einen Teil des Wohnungsmarktes, der eben nicht dem Prinzip der Profitgier, sondern dem Prinzip des Gemeinwohls folgt. Dafür müssen wir gemeinsam kämpfen; denn Wohnen ist ein Grundrecht und keine Ware. ({8}) Deswegen fordern wir neben einem Rettungsprogramm für den sozialen Wohnungsbau die Einführung einer Wohnungsgemeinnützigkeit, und wir wollen, dass das Grundrecht auf Wohnen endlich im Grundgesetz verankert wird. ({9}) Meine Damen und Herren, ich habe hier vor elf Jahren zum ersten Mal einen Neustart im sozialen Wohnungsbau gefordert. Ich hatte häufig das Gefühl, dass ich mir bei diesem Thema den Mund fusselig rede, und von der Union sind meistens nur unqualifizierte Zwischenrufe gekommen. ({10}) Eines gibt mir aber Zuversicht: Ich habe vor vier Jahren, am Ende der letzten Legislatur, an dieser Stelle eine Grundgesetzänderung gefordert, damit der Bund den sozialen Wohnraum wieder fördern kann. Damals hat niemand zugestimmt, aber wir demokratischen Fraktionen haben das ein halbes Jahr später gemeinsam beschlossen. ({11}) Heute wird die Union unsere Anträge sicherlich wieder ablehnen. In der nächsten Legislaturperiode muss es anders laufen. Ein Rettungsprogramm für den sozialen Wohnungsbau und eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit müssen her! Vielen Dank. ({12})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Abgeordnete Kai Wegner, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Kai Wegner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003860, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Lay, wir haben in dieser Legislaturperiode, in den letzten vier Jahren, wirklich viel auf den Weg gebracht. Wir haben eine Wohnraumoffensive auf den Weg gebracht, die ihresgleichen sucht. Wir haben das Grundgesetz geändert. Wir waren es, die 5 Milliarden Euro für die soziale Wohnraumförderung zur Verfügung gestellt haben. Ich kann Ihnen nur sagen: Lassen Sie uns doch gemeinsam mal alle Länder in die Pflicht nehmen, da noch ein paar Euro draufzulegen, damit wir die soziale Wohnraumförderung weiter vorantreiben. Dann sind wir, glaube ich, auf dem richtigen Weg. ({0}) Ich würde heute gerne viel mehr zu den Anträgen der Opposition sagen, weil das natürlich wichtige Themen sind – damit haben wir uns in dieser Legislaturperiode auch häufig beschäftigt –, aber den Schwerpunkt meiner heutigen Rede möchte ich bei einem anderen Thema setzen, nämlich beim Thema „Zukunft der Innenstädte“; denn in unseren Innenstädten ist seit geraumer Zeit mächtig Druck, und Corona hat die Situation der Innenstädte selbstverständlich weiter verschärft. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen Innenstädte, Stadtteilzentren und Ortskerne umfassend stärken. Wir wollen lebendige Orte. Wir wollen eine neue Nutzungsvielfalt. Wir wollen Wohnen, Wirtschaft und Wohlfühlen wieder zusammenbringen. Dabei muss der Handel weiterhin ein Eckpfeiler lebendiger Innenstädte bleiben. Was wir brauchen, ist ein authentisches Einkaufserlebnis, das einen echten Mehrwert für die Kunden bietet. Was wir brauchen, ist eine urbane Nutzungsvielfalt, und zu einer urbanen Nutzungsvielfalt gehören auch das Handwerk und das Gewerbe. Das wollen wir besser ermöglichen, und das bringen wir heute als Koalitionsfraktionen auch in diesen Deutschen Bundestag ein. So ermöglichen wir die funktionale Mischung und stärken wir die Stadt der kurzen Wege gemäß der Neuen Leipzig-Charta. Klar ist für uns auch, dass die Innenstadt der Zukunft resilient und ökologisch nachhaltig sein muss. Wenn wir Parks und Grünflächen stärken, schützen wir auf der einen Seite das Klima, auf der anderen Seite erhöhen wir aber auch die Lebensqualität gerade in unseren Innenstädten. Dabei setzen wir weiterhin auf das Erfolgsmodell Städtebauförderung. Gerade auch wegen der Hebelwirkung ist die Städtebauförderung ein Konjunkturmotor, und gerade mit dem Programm „Lebendige Zentren“ können wir die transformative Kraft der Städte entfesseln. ({1}) – Absolut! Das ist auch gut. – Natürlich setzen wir dabei auch auf einen breiten Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern. Ich bin zutiefst davon überzeugt: Nur die Vielfalt unterschiedlichster Ideen schafft die Stadt der Vielfalt. Der Wandel der Innenstädte ist eine Realität, und es liegt auch an uns, daraus eine Erfolgsgeschichte zu machen. Packen wir also die Herausforderungen an – optimistisch und kreativ, innovativ und pragmatisch! So stärken wir die Zentren, so schaffen wir lebendige Orte für Austausch und Begegnung, und so sorgen wir für eine Renaissance der Innenstädte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir zum Ende meiner Ausführungen eine persönliche Bemerkung. Ich hatte die große Ehre, 16 Jahre lang diesem Hohen Haus anzugehören, und dafür bin ich sehr dankbar. Dafür danke ich vor allen Dingen meinen Wählerinnen und Wählern, aber ich danke auch den Kolleginnen und Kollegen, die ich in dieser Zeit kennen- und schätzen gelernt habe – in der eigenen Fraktion genauso wie in den anderen Fraktionen. Ich glaube, dass wir hier – auch fraktionsübergreifend – gemeinsam viel auf den Weg gebracht haben – auch in den letzten 16 Jahren, in denen ich dabei sein durfte –, und das war mir wirklich eine große Ehre und Freude. Ich möchte mich auch ganz herzlich bei den Beschäftigten des Deutschen Bundestages bedanken – von der Pforte über den Fahrdienst bis zum Wissenschaftlichen Dienst und viele, viele mehr –, die unsere Arbeit eigentlich erst ermöglichen. Ich bedanke mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Ministerien. Und ich bedanke mich natürlich auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in meinem Büro; vieles wäre ohne sie auch nicht möglich gewesen, und dafür bin ich, wie gesagt, sehr dankbar. Meine ganz persönliche Bitte an Sie in den nächsten Legislaturperioden: Bei allen Unterschieden, die wir in den Zielen und vielleicht auch im Weg dorthin haben: Bitte verteidigen Sie weiter Freiheit und Demokratie, gerade in einer Zeit, wo diese vielleicht nicht mehr ganz so selbstverständlich sind, liebe Kolleginnen und Kollegen. Meine Heimatstadt Berlin hat Freiheitsgeschichte geschrieben. Berlin ist heute die internationale Metropole in Deutschland. Berlin ist ein kultureller Leuchtturm. Berlin ist das politische Kraftzentrum unseres Landes. Mit ganz viel Leidenschaft bin ich Berliner, und deswegen bewerbe ich mich um eine neue Herausforderung. Im Gegensatz zu vielen Kolleginnen und Kollegen, die in diesen Tagen ihre letzte Rede halten, kann ich sagen: Ich bleibe in Berlin. Und meine Bitte an Sie: Behalten Sie die deutsche Hauptstadt stets im Blick; sie braucht auch starke Bundespolitik, damit sie sich weiter so toll entwickeln kann. Vielen, vielen Dank für die letzten 16 Jahre! Es war mir eine große Ehre und eine große Freude. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Alles Gute, Kai Wegner! – Der nächste Redner, für die AfD-Fraktion, ist der Kollege Udo Hemmelgarn. ({0})

Udo Theodor Hemmelgarn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004743, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Besucher auf den Tribünen und an den Bildschirmen! Die vorliegenden Anträge der Linken zeigen wieder einmal sehr deutlich, wohin die Reise nach ihrer Ansicht gehen soll. Die Linke fordert eine neue Wohngemeinnützigkeit, ({0}) mehr sozialen Wohnungsbau, praktisch ein Verbot der Zwangsräumung von Wohnraum – kein sonderlich stimmiges Konzept zur Lösung der Wohnungsfrage, insbesondere wenn man es mit den Maßstäben der sozialen Marktwirtschaft misst oder mit den Maßstäben einer freiheitlichen Gesellschaft. ({1}) Stimmig werden die Konzepte der Linken allerdings dann, wenn man sie als Angriff auf das private Eigentum, die Freiheit und als Vorzeichen einer totalitären Gesellschaft versteht. ({2}) Das Konzept der neuen Wohngemeinnützigkeit ist kein neues, sondern ein ziemlich altes, und es ist eines, das schon einmal krachend gescheitert ist. Viele von uns erinnern sich noch an den Skandal um die Neue Heimat. Allein die Privatgeschäfte des Vorstands hatten zu einem Verlust von über 100 Millionen DM geführt. Mehrere Vorstandsmitglieder hatten sich zum Teil direkt an den Mietern bereichert. Einige Altkader werden sich bestimmt gern an die gute alte Zeit erinnern. ({3}) Interessanterweise enthält das Konzept der Linken keine Regelungen zur Begrenzung der Gehälter von Geschäftsführern oder Vorständen. Das ist umso bemerkenswerter, als sich die Linken sonst bei jeder Gelegenheit dafür aussprechen. In eigenen Angelegenheiten sieht man das wohl etwas anders. Es ist völlig klar, dass die neue Wohngemeinnützigkeit, wie sie den Linken vorschwebt, wieder zu den alten Problemen führen würde: Eine kleine privilegierte Schicht von Günstlingen würde sich die Taschen vollstopfen, während sich die Unternehmen verschulden, die Häuser vergammeln und den Mietern kein Stück geholfen wäre. ({4}) George Orwells „Farm der Tiere“ lässt grüßen. Mit einem weiteren Antrag möchte Die Linke den sozialen Wohnungsbau retten. Es ist bekannt, dass die AfD nicht zu den größten Fans des sozialen Wohnungsbaus gehört. ({5}) Das Hauptproblem besteht aus unserer Sicht darin, dass die Fehlbelegungsquote mit der Zeit immer weiter zunimmt. Günstige Sozialwohnungen werden dann früher oder später von Gutverdienern blockiert, während Bedürftige leer ausgehen. ({6}) Die AfD setzt deshalb auf die Kräfte der sozialen Marktwirtschaft, die unserem Land eine lange Zeit des Wohlstands beschert haben und das auch in Zukunft tun könnten, wenn die Politik die richtigen Rahmenbedingungen schafft. ({7}) Dass es Die Linke mit der sozialen Marktwirtschaft, mit dem Privateigentum nicht hat, zeigt sie mit einem echten Highlight ihres Antrags, dem Entwurf der Linken zur Änderung des Grundgesetzes. ({8}) Die Linken möchten, dass jeder einen einklagbaren Anspruch auf menschenwürdigen und einkommensgerechten Wohnraum hat. ({9}) Zwangsräumungen sollen unzulässig sein, wenn kein zumutbarer Ersatzwohnraum zur Verfügung gestellt werden kann – offenbar unabhängig davon, welche Gründe zur Kündigung geführt haben. Der Mietnomade kann genauso wenig geräumt werden wie der rechtstreue, zahlende Mieter: Gerechtigkeit nach Art der Linken! ({10}) Wer solche Gesetzentwürfe vorlegt, dem geht es nicht um den berechtigten Schutz der Mieter, dem geht es um das Enteignen, dem geht es um die Abschaffung des Privateigentums, und dem geht es um die Abschaffung der sozialen Marktwirtschaft. Wer diesen Ideen folgt – und das tun anscheinend die Grünen –, der zerstört 90 Prozent der Produktivkräfte in unserem Land und damit den Wohlstand breiter Schichten unseres Volkes. ({11}) Dass solche Anträge in Deutschland mittlerweile salonfähig sind, ist das Erbe der Ära Merkel und eine schwere Hypothek für die Zukunft. ({12}) Die Behauptung, dass Deregulierung und Privatisierung zur Wohnungsnot in den Ballungszentren geführt hätten, zeigt den ganzen Realitätsverlust linker Politik. Richtig ist: Die Euro-Rettung, die Klimapolitik und die fortgesetzte Politik der offenen Grenzen ({13}) haben wesentlich zur Wohnungsnot in diesem Lande und in den Ballungszentren insgesamt beigetragen. ({14}) Zu all dem haben Sie, die Linken, Beifall geklatscht. ({15}) Am Ende kann man den Inhalt Ihrer Anträge kurz zusammenfassen: Erst kommt der Irrsinn, dann kommt der Sozialismus. Wir werden Ihre Anträge ablehnen. Vielen Dank. ({16}) – Das muss ich auch gar nicht. ({17})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

So, die Rede ist jetzt fertig. Aufregung beenden! – Die nächste Rednerin ist die Abgeordnete Ulli Nissen von der SPD-Fraktion. ({0})

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich danke den Linken für ihren Gesetzentwurf zu einer neuen Wohngemeinnützigkeit; das ermöglicht mir, noch einmal zu meinem Herzensthema „bezahlbares Wohnen“ reden zu können. Das ist auch eine ganz wichtige Forderung von Punkt 11 der Nachhaltigkeitsziele. Mit der SPD, mit Olaf Scholz als Bundeskanzler wird es eine neue Wohngemeinnützigkeit geben, liebe Kolleginnen und Kollegen; das ist eine wichtige Forderung aus unserem Wahlprogramm. ({0}) Die Geschichte hat eindeutig gezeigt: Die Abschaffung der Wohngemeinnützigkeit unter Schwarz-Gelb war ein Fehler. Die SPD hatte gegen die Abschaffung gestimmt. Wir warnten vor Mieterhöhungswellen und vor Wellen der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen. Leider wurde dies zur bitteren Realität. Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute halte ich meine letzte Rede zum Bauen im Bundestag. Ich bedanke mich bei meinen Kollegen für die gute Zusammenarbeit. Danke auch an die tollen Mitarbeiter des Bundestages, der Ministerien, der Fraktionen. Ich habe ein großartiges Team in Berlin und in Frankfurt; ihr habt mich super unterstützt. Abbitte muss ich bei meiner Familie leisten: Auch wegen meiner intensiven Wahlkreisarbeit hatte ich oft wenig Zeit für sie. Es war für mich eine große Ehre, dem Deutschen Bundestag anzugehören. Meine letzte Rede will ich nutzen, um einiges darzustellen, was wir während meiner acht Jahre im Bundestag im Bereich Wohnen Gutes für die Menschen gemacht haben. Unvergessen: In meiner ersten Legislatur haben wir die Maklerprovision für Mieter/-innen abgeschafft. Diese Forderung hatte ich schon als Sprecherin der Frankfurter Jungsozialisten. Die Mieter/-innen sparen jetzt jährlich mindestens 700 Millionen Euro an Maklercourtage. In dieser Legislatur haben wir ein umfangreiches Maßnahmenpaket für die Sicherung und Schaffung von bezahlbarem Wohnraum auf den Weg gebracht. Wir haben investive Impulse für den Wohnungsbau gesetzt. Wir haben das Grundgesetz geändert, damit der Bund sich auch weiterhin am sozialen Wohnungsbau beteiligen kann. Dafür haben wir 5 Milliarden Euro gegeben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das finde ich großartig. ({1}) Wir haben mehrere Mietrechtspakete geschnürt. Die Mietpreisbremse wurde eingeführt, verlängert und geschärft. Wir haben die Modernisierungsumlage auf 8 Prozent gesenkt und gedeckelt. Der Betrachtungszeitraum beim Mietspiegel wurde von vier auf sechs Jahre verlängert; der Bindungszeitraum wird diese Woche noch auf drei Jahre ausgeweitet. Das Wohngeld wurde zum 1. Januar 2020 reformiert. Wir haben das Baulandmobilisierungsgesetz beschlossen, für das ich auch hart gekämpft habe. Was mich besonders glücklich macht, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es tritt heute, am Tag meiner letzten Rede zum Bauen, in Kraft. ({2}) Wir haben das Baugebot geschärft. Städte und Gemeinden können Eigentümer/-innen verpflichten, Wohnungen zu bauen, wenn Grundstücke zur Spekulation brachliegen. Kommunen können ihr Vorkaufsrecht für Grundstücke leichter deutlich machen. Um hierbei spekulativen Preisentwicklungen entgegenzuwirken, haben wir den Preis auf den Verkehrswert limitiert. Die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen wird nur noch in seltenen Ausnahmefällen möglich sein. Diese Praxis verdrängt Menschen aus ihren Vierteln und führt oft, nach Modernisierung, zu deutlich höheren Miet- und Kaufpreisen. Ich habe in meinem Frankfurter Wahlkreis viele verzweifelte Menschen kennengelernt, die von Vertreibung betroffen waren. Dies ist jetzt zum Glück gestoppt. Beim bezahlbaren Wohnen gibt es noch viel zu tun. Unter anderem brauchen wir einen bundesweiten Mietendeckel. Mietwucher muss gestoppt werden. Eigenbedarfskündigungen müssen deutlich erschwert werden. Und das Unwesen beim möblierten Wohnen muss gestoppt werden. Ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute und würde mich freuen, wenn Sie in der nächsten Legislatur die Situation der Mieter/-innen weiter verbessern würden. Ich habe es Ihnen nicht immer leicht gemacht, liebe Kolleginnen und Kollegen, hoffe aber, dass Sie mich und Frankfurt in guter Erinnerung behalten. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin Nissen; alles Gute! – Der nächste Redner, für die Fraktion der FDP, ist der Abgeordnete Hagen Reinhold. ({0})

Hagen Reinhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004229, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Ausgangslage unserer Debatte heute ist, glaube ich, klar. Wir haben immer noch angespannte, also nicht ausgeglichene, Wohnungsmärkte. Dass mehr Nachfrage als Angebot da ist, macht die Preise teuer und lässt kaum jemanden den passenden Wohnraum für sich finden. Natürlich ist auch die Lösung klar: bauen, bauen, bauen. Das brauchen wir nicht erwähnen. Aber: Egal mit wie viel Geld, liebe Frau Lay: So schnell geht es eben nicht. Deshalb muss es auch Lösungen geben, die in der Zwischenzeit funktionieren. Bei ein paar Lösungen haben wir in den letzten Jahren beobachten können, ob sie funktionieren oder ob sie nicht funktionieren, und sie funktionieren zum Teil eben nicht, zum Beispiel die Mietpreisbremse. Die hat nämlich noch keinen Wohnraum geschaffen – überhaupt keinen –, ({0}) und sie hat auch nicht dafür gesorgt, dass Mieterinnen und Mieter den angemessenen Wohnraum für sich finden. Aber es gibt ja Lösungen. Deshalb stehe ich heute hier vor Ihnen mit einem ganz neuen Konzept. Hören Sie jetzt mal gut zu! Was wäre denn, wenn endlich die Familie, bei der nur noch Mutter und Vater zu Hause sind, weil die Kinder in Lehre sind, aus ihrer großen Wohnung, die sie für die Kindererziehung hatte, in einen angemessenen Wohnraum, in eine kleinere Wohnung zieht? Die kann sie heute gar nicht finden, weil sie auf dem Markt nicht verfügbar oder viel zu teuer ist. Wir müssen Märkte in Bewegung setzen, damit sich was ändert. Denn ich glaube, es ist zum Teil ja genug Quadratmeter Wohnraum da; er ist nur falsch belegt, nicht nur von älteren Damen. Ich kenne das auch aus meiner Familie von meiner Mutter und Schwiegermutter, die teilweise in viel zu großen Wohnungen alleine leben. Aber in kleineren Wohnungen können sie gar nicht leben, weil die noch teurer sind als die Wohnungen, die sie haben. Jetzt unser Konzept: Erstens. Lassen Sie uns zusammen doch nicht nur feststellen, dass ein angespannter Wohnungsmarkt da ist, sondern herausfinden, welche Wohnungen tatsächlich fehlen. Natürlich gilt im angespannten Wohnungsmarkt: Jede Wohnung ist sofort weg, auch die Fünfraumwohnung. Da ziehen nur leider zwei Leute ein, obwohl sie eine so große Wohnung gar nicht brauchen. Wir müssen wissen, was wir brauchen. Zweitens. Lassen Sie uns den Menschen, die es sich nicht leisten können, doch ihre Miete mit auf den Weg geben. Unser Konzept, das wir heute vorlegen, ist: Wenn innerhalb des gleichen Mietspiegelniveaus die Leute umziehen in einen Wohnraum, der für sie angemessen ist, und sie daraufhin Wohnraum freimachen, dann geben wir ihnen die alte Miete mit, und das mit einem Verfahren, das gut eingeführt ist, nämlich dem Wohngeld. Über das Wohngeld lösen wir das – ein bürokratiearmes und bewährtes System. Die Menschen können ihre Miete mit in die neue Wohnung nehmen. Was passiert dann? Auf einen Schlag haben wir Zehntausende Quadratmeter Wohnraum frei, glauben Sie es mir – frei für die Leute, die zurzeit wirklich auf den Märkten Wohnungen suchen. Das ist schnell und konsequent umzusetzen, das ist ohne große Bautätigkeit sofort lösbar. ({1}) Was können wir noch machen? Drittens. Wir wollen, dass an den Bestand angepasst umgebaut werden kann, und das steuerlich absetzbar, auch in den Momenten, in denen es zurzeit noch nicht der Fall ist. Wir haben Ihnen sogar noch einen ökologischen Aspekt aufgeschrieben, der uns sehr wichtig erschien: Energetische Sanierungsmaßnahmen nach § 35c Einkommensteuergesetz sollen vom anschaffungsnahen Erhaltungsaufwand ausgenommen werden, damit wir bei den Sanierungen, die wir machen, auch noch den Klimaschutz mitberücksichtigen. Das ist ein Konzept, wie es nur die FDP kann: lösungsorientiert, ideologiefrei ({2}) und für alle Beteiligten, die vorankommen wollen, ideal. – Lachen Sie nicht darüber. Das ist ein Vorschlag, wie wir schnell eine Lösung finden, und die brauchen wir alle zusammen, bis gebaut ist. Ich möchte, dass wir das ernsthaft diskutieren. Sieben Jahre Mietpreisbremse haben gezeigt: Dieses Instrument hat nicht funktioniert. ({3}) Wir legen Ihnen ein Konzept vor, wie es funktionieren kann, und ich hoffe, wir finden viele Begeisterte, die bei unserem Konzept mitmachen. Ich danke Ihnen recht herzlich. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Abgeordnete Christian Kühn ist der nächste Redner für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Christian Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004333, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute im Kern über die Wohnungsgemeinnützigkeit. Das ist erst mal ein sperriger Begriff, und viele Menschen wissen eigentlich nichts damit wirklich anzufangen. Die Wohnungsgemeinnützigkeit ist bis 1990 ein Baustein der sozialen Marktwirtschaft beim Wohnen gewesen. Sie galt sozusagen die ganze Bundesrepublik hindurch, und der Aufbau der Wohnungsbestände, die wir in Deutschland haben, geht auf diese steuerliche Privilegierung von Wohnungsunternehmen zurück. 1990 hatte die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung diese Wohnungsgemeinnützigkeit abgeschafft, dadurch die Privatisierung der Wohnungsbestände in Deutschland ausgelöst und damit eines der Grundprobleme, das wir heute auf den Wohnungsmärkten haben, geschaffen. Ich bin der Meinung, dass die Menschen im Sommer dieses Jahres das wissen müssen. Denn es geht um die Frage: Wo wollen wir in den nächsten Jahren hin? Ich glaube, diesen Fehler zu korrigieren, wäre Aufgabe der Union in diesen Tagen gewesen, aber leider haben Sie nicht die Kraft dafür. ({0}) Es hat dazu geführt, dass wir in eine Negativspirale beim sozialen Wohnungsbau gekommen sind. Wir haben heute ungefähr noch 1 Million Sozialwohnungen; wir haben 3 Millionen seit Ende der 80er-Jahre verloren. Das Prinzip der Gemeinnützigkeit wollen nun wir Grüne, Linke und auch Sozialdemokraten – ich habe es jetzt so verstanden, dass ihr das auch machen wollt – wieder in die Wohnungsmärkte einführen. Wir wollen, dass Wohnungsunternehmen, die Wohnraum dauerhaft sozial gebunden bereitstellen, privilegiert werden gegenüber denjenigen, die eine fette Rendite machen. Ich finde, diesem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft, das unter Adenauer und Erhard galt, müssen wir wieder Geltung verschaffen. ({1}) Jetzt schaut man mal, was im CDU-Wahlprogramm drinsteht, ob sich diese Idee der sozialen Marktwirtschaft darin wiederfindet. Leider nicht! Aber man findet zum Thema „Steuern und Wohnen“ was anderes: Die Union will nämlich die Sonderabschreibung von 5 Prozent bei den Anschaffungs- und Herstellungskosten beim Wohnungsbau verlängern. Das ist ein reines Investorengeschenk, das Sie machen. Die Wohnungsgemeinnützigkeit steht nicht drin. Aber wissen Sie, was auch nicht drinsteht? Wie viel Geld Sie in der nächsten Wahlperiode für den sozialen Wohnungsbau ausgeben wollen. Sie haben im Kern keine Antwort auf die Negativspirale beim sozialen Wohnungsbau; darauf geben Sie als Union keine Antwort, und das halte ich angesichts der Zahlen auf den Wohnungsmärkten wirklich für skandalös. Sie versagen an dieser Stelle komplett. ({2}) Die Sonderabschreibung, die Sie fordern, ist innovationsfeindlich. Das ist Geld, das man in den Markt schüttet, das aber nichts bringt. Es ist ökonomischer Bullshit, und es ist sozial ungerecht, weil Sie damit Investoren gegenüber kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen begünstigen; das ist jetzt schon so. Ich kenne kein kommunales Unternehmen in Deutschland, das sagt, dass das eine gute Idee ist. Deswegen sage ich Ihnen eins: Es ist ein Riesenfehler, das zu machen. Ich rate Ihnen davon ab, das wirklich weiterzuverfolgen. Das Programm, das Sie vorgelegt haben, zeigt einfach: Die CDU – –

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der SPD-Fraktion?

Christian Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004333, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne.

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Chris Kühn, Sie haben eben das Wort „Genossenschaften“ in den Mund genommen. Das war der Punkt, auf den ich zurückkommen wollte. Sie haben zu Recht gesagt, dass die Gesellschaften begünstigt werden sollen, die sich dauerhaft dem Gemeinwohl verpflichtet erklären. Als die Gemeinnützigkeit damals, 1988, abgeschafft wurde, haben wir dagegengestimmt; Sie haben dagegengestimmt. Wir haben die Situation, dass es seitdem noch die sogenannten steuerbefreiten Vermietungsgenossenschaften gibt. Ich wollte Sie darauf aufmerksam machen bzw. fragen, ob Sie wissen, dass die heute ein Problem haben. Denn wenn man eine Genossenschaft und nicht steuerbefreit ist und in das steuerbefreite Segment gehen will, muss man quasi seine stillen Reserven nachversteuern. Wir als SPD wollen, dass diejenigen, die sich zukünftig gemeinnützig verhalten, steuerliche Vorteile haben. Im Augenblick ist das genau andersrum. Meine Frage ist: Kennen Sie das Problem, und stehen Sie an unserer Seite, wenn es darum geht, dass diejenigen, die sich gemeinnützig verhalten, zukünftig bessergestellt werden und es an dieser Stelle zu einer Änderung kommt?

Christian Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004333, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, werter Kollege, dass Sie das fragen. – Erst mal ist uns das Problem bekannt. Deswegen haben wir die Gemeinnützigkeit, so wie wir die Vorlage in der letzten Sitzungswoche in den Deutschen Bundestag eingebracht haben – die Große Koalition hat ja leider dagegengestimmt –, auch als freiwillige Option gewählt. Also: Ein Unternehmen kann optional zu einem gemeinnützigen Unternehmen werden und behält dann die steuerliche Privilegierung, zum Beispiel beim Erwerb von Grund und Boden. Wenn darauf in Zukunft sozial gebundener Wohnungsbau entsteht, dann gilt da zum Beispiel keine Grunderwerbsteuer, oder es gibt andere steuerliche Vorteile. Die Genossenschaften können natürlich entscheiden, ob sie das möchten. Ich glaube, die Grundfrage, die Sie gestellt haben, ist eine steuerrechtliche Frage. Dazu haben wir – das muss ich sagen – in dieser Wahlperiode ja immer wieder Vorschläge gemacht und auch nachgefragt. Ich hätte mir da einen Finanzminister in Deutschland gewünscht, der sich dieser Fragen – der Finanzfragen und der steuerlichen Fragen – stärker angenommen hätte, ({0}) und ich hätte mir gewünscht, dass mehr Vorschläge aus dem Finanzministerium gekommen wären. Ich habe da relativ wenig gesehen. Ich habe jetzt erfahren, dass Olaf Scholz ein glühender Verfechter der Wohnungsgemeinnützigkeit ist. Wir werden in diesem Wahlkampf sehen, ob das der Fall ist. Ich finde es gut, dass sich die SPD nach acht Jahren nun auch aufgemacht hat, die Wohnungsgemeinnützigkeit in ihr Programm aufzunehmen. Deswegen bin ich sehr hoffnungsvoll, dass wir dieses Projekt, die Gemeinnützigkeit in Deutschland wieder einzuführen, gemeinsam stemmen können. Ich glaube, es ist dringend notwendig angesichts dessen, dass wir beim sozialen Wohnungsbau in einer Negativspirale sind. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

So, Frage beantwortet. Und jetzt zügig zum Ende kommen.

Christian Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004333, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, lassen Sie mich den letzten Satz sagen. – Die Union will also die steuerliche Privilegierung von Investoren. Ich sage Ihnen eines: Das hat was mit ihrer Nähe zu Investoren zu tun und nichts mit einer guten Wohnungspolitik. Danke schön. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Abgeordnete Karsten Möring, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So viele letzte Reden. Lieber Kai, auch ich verabschiede dich ungerne. Du warst immer ein netter AG-Vorsitzender. Du weißt ja, wie du an dieses Rednerpult zurückkommst – beim nächsten Mal vielleicht noch nicht, aber beim übernächsten Mal dann –: Der Regierende Bürgermeister darf hier auch reden. ({0}) Liebe Ulli Nissen, am liebsten warst du mir, wenn du im Ausschuss gesagt hast: „Ich schließe mich meinem Vorredner an“; denn ich war ja immer vor dir dran. Ich hätte bei deiner Rede vorhin bei vielen Punkten auch gesagt: „Ich schließe mich meiner Vorrednerin an“, wenn auch nicht bei allen. Wir haben so oft über Wohnungspolitik gesprochen; das will ich jetzt nicht vertiefen. Nur noch mal eines zum Thema Gemeinnützigkeit: Ein ganz so tolles Ideal ist das nun auch nicht, wenn wir wissen, dass zahlreiche Wohnungsbaugenossenschaften, zahlreiche Wohnungsunternehmen aus dem öffentlichen Bereich, auch eine Reihe von Gewerkschaften dieses Modell nicht präferieren. Aber das wollen wir jetzt nicht vertiefen. Denn neben dem Thema Wohnen gibt es noch ein anderes, das wir bei diesem Tagesordnungspunkt behandeln, und das ist das Thema der Innenstädte. Wir sprechen also heute auch über die Innenstädte. Ob das Zentrum eines Ortes von dem Dreiklang „Kirche, Markt, Kneipe“ geprägt ist oder von dem Charakter als City oder Central Business District, ist sicher unterschiedlich. Aber eines ist klar: Die Zentren unterliegen einem ständigen Wandel. Ich komme aus Köln. Zum Glück ist Frau Strack-Zimmermann heute nicht hier, die dann sagen würde: „Oh Gott!“; sie kommt aus Düsseldorf. ({1}) Da würde ich dann sagen: Oh Gott! – Das Beispiel Köln will ich nur deswegen nennen, weil wir bei uns in der Innenstadt Straßennamen haben, die zum Beispiel „Seidmacherinnengäßchen“ oder „Unter Goldschmied“ lauten; der Markt heißt „Heumarkt“. Das alles sind Namen, die auf eine Funktion hindeuten, die es heute nicht mehr gibt. Die Innenstädte unterliegen einem schnellen Wandel. Unter den aktuellen Bedingungen von Corona wandelt sich das noch einmal schneller; auch das haben wir hier hin und wieder schon mal im Zusammenhang mit der Städtebauförderung, über die wir diskutiert haben, angedeutet. Wir haben durch die Coronazeit eine Beschleunigung und eine Verschärfung dieses Problems. Zahlreiche Geschäfte, meistens inhabergeführte, gehen aus dem Markt; entweder fehlen die Kunden, oder es fehlt der Nachfolger. Ketten werden ausgedünnt, bleiben aber erhalten und führen zu einem monotonen Handelsbild in den Städten, das nicht attraktiv ist. Wir müssen etwas tun, und wir tun auch etwas. Es gibt zahlreiche Förderprogramme im Rahmen der Städtebauförderung, aber auch darüber hinaus. Das BMI als Bauministerium hat eine ganze Reihe von Aktivitäten aufgelegt. Die Länder tun etwas. Nordrhein-Westfalen hat im letzten Jahr beispielsweise ein Innenstadtförderprogramm mit 40 Millionen Euro aufgelegt. Das alles ist gut und richtig. Aber Förderprogramme allein machen es noch nicht. Es muss auch die Kreativität dahinterstecken, wenn wir zu einer möglichst funktionalen Vielfalt zurückkehren wollen. Die Attraktivität einer Innenstadt besteht eben auch darin, dass man dort aus verschiedenen Gründen gerne hingeht: nicht nur zum Einkaufen – das auch –, aber beispielsweise auch, um Grünflächen zu nutzen, um Kulturangebote wahrzunehmen, und Ähnliches mehr. Zu dieser Vielfalt gehört auch das Thema „Wohnen und Gewerbe“. Aber das Problem ist, dass wir in der Struktur der Innenstädte, wie wir sie heute haben, einen relativ hohen Kostenblock für Miete und Wohnraumnutzung haben. Die Investoren müssen sich von dem Gedanken verabschieden, dass sie immer maximale Preise erhalten; diese müssen abhängig sein von der Funktion. Auch die leben davon, dass die Innenstadt gefragt ist, und haben deswegen ein Interesse an einer Nutzungsvielfalt und einer Differenzierung im Preisniveau. Zur Wiederbelebung gehört Klimaanpassung, und dazu gehört Digitalisierung. Lieber Bernhard Daldrup, wir haben in ein paar Tagen wieder die Gelegenheit, das Smart-City-Projekt als Jury zu bewerten – nicht wir alleine, sondern zusammen mit einer ganzen Reihe anderer –, und wir werden sehen, was für kreative Ideen aus den Städten kommen, um die Digitalisierung in den Städten voranzubringen. Das ist ein wesentlicher Punkt, den wir beschleunigen müssen – neben der klimatischen Anpassung. Wir haben Kreativität nötig. Wir haben Geld nötig. Wir haben es nötig, dass sich die Städte entwickeln. Wenn wir sie politisch begleiten, ist das gut. Aber die Kreativität, die Ideen müssen vor Ort entstehen. Dabei helfen wir ihnen. Aber sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, wenn wir dafür einen Hebel bieten, müssen die betroffenen Kommunen selbst. Und sie werden es mit unserer Hilfe auch tun können; da bin ich ziemlich sicher. Wir werden sie dabei begleiten und unterstützen. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Karsten Möring. – Nächster Redner: der Abgeordnete Bernhard Daldrup, SPD-Fraktion. ({0})

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will vorab zwei Bemerkungen persönlicher Art machen. Liebe Ulli, ich wünsche dir alles Gute. Du bist immer eine aufrechte Kämpferin für die sozialen Belange im Wohnungsbau und für die Umwelt gleichermaßen gewesen. Vielen herzlichen Dank! Du wirst uns als engagierte Frankfurterin – das wird ja in jeder Rede mindestens fünfmal erwähnt – in Erinnerung bleiben. Wir wissen, dass man natürlich außerparlamentarisch weiterkämpfen kann, und das tust du. Viel Glück dabei! ({0}) Ich will mich auch sehr herzlich bei Kai Wegner bedanken. Wir haben wirklich gut zusammengearbeitet. Wir sind auch menschlich gut miteinander klargekommen. Auch wenn ich Karsten Möring hier und da durchaus zustimme, will ich das in einem Punkt dieses Mal nicht machen: Ich wünsche dir menschlich alles Glück und politisch eine geruhsame und inspirierende Zeit als Oppositionsführer im Berliner Abgeordnetenhaus. ({1}) Wir haben wichtige Themen; „sozialer Wohnungsbau“ und „Genossenschaften“ sind angesprochen worden. Ich will mal sagen: Die Bilanz ist nicht ganz so schlecht, wie das hier bisweilen dargestellt worden ist. Wir haben 5 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau aufgebracht. Aber richtig ist eines: 100 000 Sozialwohnungen in einer Legislaturperiode sind angesichts der Lage nicht genug. Deswegen sagen wir als Sozialdemokraten mit Olaf Scholz an der Spitze: 100 000 Sozialwohnungen jedes Jahr! – Wenn wir dafür eine Mehrheit kriegen, dann ist das gut. ({2}) Ich will aber auch darauf hinweisen: Heute ist der Tag der Daseinsvorsorge. Das ist ein eminent wichtiger Tag für uns alle als normale Bürgerinnen und Bürger. Denn wir merken: Das Selbstverständliche ist nicht immer so selbstverständlich. Deswegen will ich auch auf ein anderes Thema hinweisen, das für uns in der Daseinsvorsorge besonders wichtig ist, nämlich den öffentlichen Raum, unsere Innenstädte, wie das eben schon gesagt worden ist, die Stadtteilzentren, die Visitenkarten unserer Kommunen. Sie sind durch Corona ein Stück weit zusätzlich gefährdet worden. Aber Corona ist nicht das einzige Problem. Wir haben viele offene Fragen – Karsten Möring hat sie eben angesprochen –: Leerstände, Immobilienpreise. Deswegen sind wir der fachlichen Auffassung, dass man auch mal über einen Gewerbemietspiegel reden sollte. ({3}) Natürlich spielt der Onlinehandel dabei eine Rolle. Auch hier ist die Frage, wie man den finanziell beteiligen kann. Es geht um Filialisierung und vieles andere mehr, vor allen Dingen um die soziale Entmischung. Ich verweise dazu auf unseren, wie ich jedenfalls glaube, ziemlich umfangreichen Antrag. Der Bund ist seiner Aufgabe in den vergangenen Jahren gerecht geworden. In diesem Juli feiern wir 50 Jahre Städtebauförderung in Deutschland. Das ist von der ersten Regierung Willy Brandt, von der sozialliberalen Koalition, auf den Weg gebracht worden. Seitdem geht es in der Städtebauförderung um Strukturwandel und Zukunftssicherung. Um diese beiden Pole geht es immer. Es geht um Lebensqualität in der Stadt der Zukunft. Deswegen sind die 790 Millionen Euro, die wir heute zur Verfügung stellen wollen – das ist Rekordniveau –, nicht genug; es muss mehr werden. ({4}) Aber 300 Millionen Euro für das Programm „Lebendige Zentren“ sind dabei. Es gibt überdies mehrere andere Instrumente, auf die schon hingewiesen worden ist. Heute hatten wir zum Beispiel die Stiftung Baukultur zu Gast, die einen sehr guten und lesenswerten Bericht über die Baukultur zur Verfügung gestellt hat. Die einzelnen Instrumente kann ich hier jetzt nicht im Einzelnen darstellen. Auch der Handel erwartet noch einiges mehr und hat eigene Initiativen entwickelt. Ich will Sie alle einmal auf die Seite www.unsere-stadtimpulse.de hinweisen, die vom HDE und von den kommunalen Spitzenverbänden aufgelegt und betreut wird und auf der man sehr vorbildliche Projekte finden kann. Es sind also viele beteiligt. Was können wir noch tun? Ich will darauf hinweisen, dass wir im Haushalt 2021 25 Millionen Euro für sogenannte Reallabore zur Verfügung stellen, um neue Wege auszuprobieren, Wege in die Zukunft aufzuweisen. Wir alle sind daran interessiert, dass dafür mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden. Ich weiß, dass sowohl das BMI als auch das BMF ganz konkret darüber reden, dass aus diesen 25 Millionen Euro infolge von Corona vielleicht 250 Millionen Euro werden, und zwar noch in diesem Jahr. Es wäre ausgesprochen gut, wenn dies gelingen würde, wenn das unsere gemeinsame Unterstützung finden würde und wenn die Gespräche bald zum Abschluss gebracht werden könnten, die auf Initiative von Olaf Scholz zustande gekommen sind. Ich hoffe, wir begrüßen das alle. Herzlichen Dank für Ihre Zustimmung. ({5})

Nina Warken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004437, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wird ja oft gesagt, dass Untersuchungsausschüsse das schärfste Schwert des Parlaments sind. In der Tat haben Untersuchungsausschüsse wirklich weitreichende Befugnisse, und die Ausübung dieser Befugnisse verlangt von den Abgeordneten ein gewisses Maß an Verantwortung. Wie allerdings Sie, liebe Kollegen der Oppositionsfraktionen, mit dieser Verantwortung umgegangen sind, war schon höchst bemerkenswert. Mit inhaltlicher Sachverhaltsaufklärung hatte dies meist wenig zu tun. Vielmehr waren das durchsichtige und parteipolitisch motivierte Wahlkampfmanöver. Ihnen schien es vom ersten Tag an nur um die Außenwirkung zu gehen, um mediale Aufmerksamkeit, darum, öffentlichkeitswirksam unbegründete Vorwürfe zu erheben. ({0}) Die sozialen Medien zu bedienen, zu twittern, schien Ihnen wichtiger zu sein als eine mühsame Ausschussarbeit. Das Ergebnis stand für Sie schon vor Beginn der Ausschussarbeit fest: Andreas Scheuer muss zurücktreten. – Und was haben Sie, werte Kollegen der Opposition, dem Minister nicht alles vorgeworfen! Diese Vorwürfe werden übrigens nicht besser, wenn man sie immer wiederholt. Sie werden auch nicht begründeter, ({1}) indem man sie als Sondervotum im Abschlussbericht niederschreibt; im Gegenteil. Sehr geehrte Damen und Herren, uns war es wichtig, dass wir im Rahmen der Sachaufklärung im Untersuchungsausschuss einen Abschlussbericht erstellt haben, und dieser Abschlussbericht entlastet Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer. Der Ausschuss konnte durch seine umfangreiche und detaillierte Befassung mit dem Untersuchungsgegenstand zu Transparenz ({2}) und insgesamt auch zu einer Versachlichung der Debatte beitragen. ({3}) Akribisch und mit enormem Aufwand haben wir in vielen, oft langen Ausschusssitzungen über 70 Zeugenvernehmungen und Befragungen von Sachverständigen vorgenommen. Dem Ausschuss wurden über 3 000 Aktenordner mit über 1 Million Blättern für seine Aufklärungsarbeit zur Verfügung gestellt. Und auch wenn es an der einen oder anderen Stelle bei der Herausgabe von Dokumenten hakte, so können wir doch insgesamt von einer guten Kooperation mit dem Ministerium und den beteiligten Stellen sprechen. ({4}) Der Minister hat zudem bereits vor Einsetzung des Untersuchungsausschusses dem Verkehrsausschuss mehrmals ausführlich Rede und Antwort gestanden und umfangreiches Aktenmaterial vorgelegt. Sehr geehrte Damen und Herren, dass Regierungs- und Oppositionsfraktionen in ihrer Bewertung der Ausschussarbeit zu unterschiedlichen Auffassungen gelangen, ist für Untersuchungsausschüsse nicht außergewöhnlich. Aber bemerkenswert war schon, dass für Sie als Opposition das Ergebnis schon vor Einsetzung des Untersuchungsausschusses feststand und Sie es immer und immer wieder verkündet haben. Es wird übrigens auch nicht besser, wenn man das immer laut herauskreischt, Herr Kollege Krischer; im Gegenteil. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ernsthaftigkeit, mit der dagegen wir die Untersuchungsarbeit geleistet haben, zeigt sich auch im Fazit des Abschlussberichts. Auch wir haben uns mit Kritik nicht zurückgehalten. Wir haben Kritik dort geübt, wo sie angebracht war. Das zeichnet eine seriöse Aufklärungsarbeit aus und zeigt auch unseren Aufklärungswillen, mit dem wir in den vergangenen eineinhalb Jahren die Arbeit im Ausschuss angegangen sind. In der Bewertung kommen wir ganz klar zu dem Ergebnis: Beim exekutiven Handeln ist nicht alles gut gelaufen; es sind Fehler gemacht worden. ({5}) Das haben wir auch klar benannt. Aber es gab eben kein vorwerfbares Fehlverhalten, und das ist für uns das Entscheidende. Wir haben beispielsweise deutlich kritisiert, dass vor Vertragsunterzeichnung die finanziellen Folgen einer Kündigung der Betreiberverträge nicht sorgfältig genug untersucht worden sind. Ein Unterschied in der Ausschussarbeit war auch beim Umgang mit dem laufenden Schiedsverfahren erkennbar. Uns war es wichtig, die Interessen der Beteiligten im Verfahren zu wahren. Andere haben zum Ziel gehabt, den Betreiberparteien eine möglichst gute Ausgangslage zu verschaffen. Und auch wenn es manche vielleicht nicht verstanden haben: Es war nicht unsere Aufgabe – auch wenn das öfter wiederholt wurde –, die Höhe des Schadensersatzes oder überhaupt einen Anspruch der Betreiber festzustellen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir die Ausschussarbeit insgesamt Revue passieren lassen, kommen wir zu dem Ergebnis, dass dem Ministerium und dem Minister weder in vergabe- oder haushalts- noch europarechtlicher Hinsicht nachweislich Rechtsverstöße vorzuwerfen sind. Die Beweisaufnahme zu den haushaltsrechtlichen Belangen hat gezeigt, dass das Handeln des Ministers vertretbar gewesen ist. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die haushaltsrechtlichen Voraussetzungen für die Zuschlagserteilung sowie für den Abschluss der Verträge vorgelegen haben. Und ja, an dieser Stelle gab es gegenteilige Rechtsauffassungen des Ministers, des Ministeriums und des Rechnungshofs. Doch aus unserer Sicht hat das Ministerium plausibel und auch nachvollziehbar argumentiert und dargelegt, dass zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses die Mehrausgaben, die den Haushaltsansatz übersteigen konnten, nicht absehbar waren. Zudem hat auch die Anhörung der Sachverständigen überwiegend ergeben, dass die im Bundeshaushalt 2018 eingestellten Verpflichtungsermächtigungen eine ausreichende Rechtsgrundlage für den Vertragsabschluss darstellten. Wir hatten es hier nun einmal mit Rechtsfragen zu tun, und dass es da unterschiedliche Auffassungen geben kann, muss man akzeptieren, werte Kolleginnen und Kollegen. In der Gesamtbetrachtung sind wir also zu dem Ergebnis gekommen, dass die vom Minister vor Unterzeichnung des Betreibervertrags zu treffende Abwägung der Vor- und Nachteile als vertretbares Exekutivhandeln zu bewerten ist. Es war ein Gesetzesvollzug vorzunehmen, es ging um die Gewinnung staatlicher Einnahmen aus der Infrastrukturabgabe, und das Klagerisiko wurde für gering befunden. Mit dem Wissen zum damaligen Zeitpunkt hat der Minister nach bestem Wissen und Gewissen die Entscheidung zur Einführung der vom Bundestag und Bundesrat beschlossenen Infrastrukturabgabe treffen können. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend noch ein herzlicher Dank an Udo Schiefner als Ausschussvorsitzenden für die gute Leitung und die gute Zusammenarbeit sowie an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschusssekretariats. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Abgeordnete Wolfgang Wiehle. ({0})

Wolfgang Wiehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004933, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Mit dieser Debatte endet die Arbeit des Untersuchungsausschusses „Pkw-Maut“, und diese Arbeit darf nicht so folgenlos verpuffen, wie es vielleicht auf den ersten Blick erscheint. Verkehrsminister Scheuer, dessen Name für immer mit dem Scheitern der Pkw-Maut verbunden sein wird, ist nach wie vor im Amt. Die Große Koalition hat das schamlos so gewollt; insofern ist das konsequent. Herr Minister Scheuer, auch jetzt noch, in der letzten Sitzungswoche, wäre es ein Zeichen, wenn Sie schon aus Ihrer eigenen Selbstachtung heraus den Hut nehmen würden. ({0}) Hinter dem dramatischen Scheitern dieses Projekts steht viel mehr als das Versagen eines Ministers. Eine ganze politische Inszenierung hat auf Kosten des deutschen Steuerzahlers ein unrühmliches Ende gefunden, ({1}) und Minister Scheuer war auch nur ein Zahnrad in einem viel größeren Räderwerk, freilich ein ziemlich unrundes. ({2}) Ausgangspunkt des Dramas ist der Koalitionsvertrag von 2013 zwischen CDU, CSU und SPD. Verursacher sind die drei damaligen Parteivorsitzenden Merkel, Seehofer und Gabriel. Die haben in ihren „Chefgesprächen“ den Koalitionsauftrag für die Pkw-Maut in Worte gegossen. Dieser Auftrag war schlicht und einfach unerfüllbar, ({3}) jedenfalls unter den jetzigen europäischen Rahmenbedingungen. Die CSU hatte das neue Abkassiermodell im Wahlkampf 2013 präsentiert. Mehr zahlen sollten freilich nur Autofahrer aus anderen Ländern. Die CSU, die ihr Lieblingsprojekt wie ein bockiges Kind einforderte, bekam es auf dem Papier gewährt, unter einer Bedingung: Ihr kriegt die Maut, wenn ihr mit dem Kopf durch die Wand kommt! – Seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom Juni 2019 ist klar: Die Wand war stärker. ({4}) Der frühere Verkehrsminister Ramsauer sagte als Zeuge im Untersuchungsausschuss aus. Nach seinen Worten wusste auch Kanzlerin Merkel ganz genau, was die Formulierung im Koalitionsvertrag bedeutete. Mit ihrer Ansage im damaligen Wahlkampf, mit ihr würde es keine Pkw-Maut geben, hat sie letzten Endes recht behalten. Wäre das allein eine CSU-Blamage, könnte man das nun in die Geschichtsbücher schreiben und zum nächsten Thema übergehen. Aber es ist der Steuerzahler, der am Ende büßen muss. Deshalb lässt die AfD-Fraktion an dieser Stelle nicht locker. ({5}) Seehofer haben wir zum Koalitionsvertrag befragt, und wir haben erlebt, wie sehr sich die Aussagen von zwei CSU-Zeugen unterscheiden können. Zweimal haben wir deshalb beantragt, auch Merkel und Gabriel als Zeugen zu hören, um die Wahrheit über den Koalitionsdeal zu erfahren. Zur bitteren Enttäuschung der steuerzahlenden Bürger haben das die anderen Fraktionen abgelehnt. Da fehlt der Aufklärungswille. ({6}) Das gilt auch für diejenigen, die sich selbst gern Opposition nennen. ({7}) Eines hat sich klar gezeigt: Andreas Scheuer ist ein Großmeister bei vollmundigen Ankündigungen und ein peinlicher Versager bei der Umsetzung. ({8}) Wie oft wurde uns in höchsten Tönen Transparenz versprochen, mit den Ordnern auf dem Aktenwagen im Verkehrsausschuss oder bei der Zusammenarbeit mit dem Ermittlungsbeauftragten wegen privater E-Mail-Postfächer. Das Ergebnis war das Gegenteil. Umsetzung – Note sechs! Auch bei der Autobahn GmbH, der Straßenverkehrsordnung oder der Gesetzesänderung zum autonomen Fahren knirscht es gewaltig. Herr Minister Scheuer, die Schuhe eines Verkehrsministers sind für Sie zu groß. ({9}) Mit Ihrem Talent für blumige Ankündigungen ohne ordentliche Umsetzung waren Sie als CSU-Generalsekretär eindeutig am besseren Platz. Die Arbeit im Untersuchungsausschuss hat wichtige Einblicke gebracht, in welcher Weise die etablierte Politik häufig verantwortungslos, mit chaotischer Organisation und unter Mitwirkung sündhaft teurer Berater an den Interessen der deutschen Bürger vorbeiarbeitet. ({10}) Ich danke meinem Kollegen und Stellvertreter Andreas Mrosek für die nahtlose Ablösung bei vielen Zeugenanhörungen. Weiterhin danke ich unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, ohne die es nicht möglich gewesen wäre, mehr als 1 Million Seiten Dokumente zu bewältigen. Diese Erfahrungen sind äußerst wertvoll für die Untersuchungsausschüsse der Zukunft. Ich sage nur ein Wort: Corona! ({11}) Kommen wir zurück zu der Wand, an der sich die CSU den Kopf schmerzhaft gestoßen hat. Das EU-Recht, so wie es heute ist, nimmt den europäischen Nationen ein großes Maß an Souveränität weg. ({12}) Vor Jahrzehnten, als geschätzte Nachbarn wie Frankreich, Italien oder Österreich ihre Mautsysteme einführten, war es viel einfacher, die inländischen Autofahrer durch Anpassungen im Steuersystem vor Überlastung zu schützen. ({13}) Was heute passiert, wenn man das versucht, haben wir vor dem EuGH gesehen. Was in wenigen Jahren kommen wird, ahnt jeder, der die heutigen Debatten verfolgt: eine Brüsseler Vorschrift für eine Klima-Maut, natürlich ohne Ausgleich für die Autofahrer. Und die etablierte deutsche Politik wird diese Vorschrift noch verdoppeln, bevor sie ins Gesetz kommt. ({14}) Um den Koalitionsvertrag von 2013 umzusetzen, hätte eine klare weitere Forderung darinstehen müssen: Kompetenzen aus Brüssel zurückholen! ({15}) Früher stand das tatsächlich in den Programmen von CDU und CSU. Das Europa der Vaterländer fordert heute nur noch die AfD. ({16}) Wenn es eine wirklich tiefgehende Lehre aus diesem Untersuchungsausschuss gibt, dann ist es diese: Wer Freiheit will, muss diesen Weg gehen, hin zu einer friedlichen Zusammenarbeit in einem Europa der Vaterländer. ({17})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner für die Fraktion der SPD ist der Abgeordnete Udo Schiefner. ({0})

Udo Schiefner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004397, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Bundesminister Scheuer! Sie, Herr Minister, hatten den Untersuchungsausschuss als Chance gesehen, die Debatte um die Pkw-Maut zu versachlichen, und Ihren Politikstil im November 2019 mit „maximal mögliche Transparenz“ beschrieben. Eine sachliche Auseinandersetzung und gewissenhafte Aufklärung war auch mein Ziel als Vorsitzender dieses Ausschusses, und darum habe ich mich über Ihren Beitrag damals sehr gefreut. Ich hatte zudem darauf gesetzt, dass Opposition, Koalition und alle Zeugen konstruktiv zusammenwirken. Eine politische Showbühne darf ein Untersuchungsausschuss nicht sein. ({0}) Unsere Aufgabe im Ausschuss war es, eine faire Verhandlung zu ermöglichen. Wir sollten das Handeln des Verkehrsministeriums in Sachen Pkw-Maut überprüfen. Frau Warken hat es schon erwähnt: Es waren 3 000 Ordner, über 1 Million Blatt Papier, 71 Vernehmungen in über 200 Stunden. Das sind bemerkenswerte Zahlen, und wir haben eine bemerkenswerte Arbeit geleistet. Heute stehen wir vor dem Abschluss der Arbeit; wir wollen hier zu dem Bericht reden. Hat sich das Ganze gelohnt? Im Sommer 2019 scheiterte die ursprünglich als CSU-Projekt gestartete Maut vor dem Europäischen Gerichtshof. Die Verträge waren aber unterschrieben, und Schadensersatzforderungen in dreistelliger Millionenhöhe sind auch heute noch zu befürchten. Vor allem der Bundesrechnungshof hielt die Umsetzung der Maut für europarechtswidrig und erkannte Verstöße gegen Haushalts- und Vergaberecht, die wir zu prüfen hatten. Der Ausschuss hat die Akten des Ministeriums minutiös ausgewertet. Es brauchte jedoch drei Anläufe, bis uns endgültig die Vollständigkeit der Akten durch das Ministerium erklärt werden konnte. ({1}) Unklar bleibt zudem, ob weitere sachbezogene Mails des Ministers über seinen Bundestags-Account liefen. Sie, Herr Minister, sagen, wir hätten alle Mails von Ihnen bekommen. Richtig ist, dass Sie uns rechtlich gesehen nicht in Ihren Mail-Account schauen lassen mussten. Aber es wäre schon gut gewesen und hätte auch ein Zeichen der maximalen Transparenz bedeutet, wenn Sie dies dem Ermittlungsbeauftragten erlaubt hätten. ({2}) Ich fordere gerade auch als Konsequenz aus diesem Vorgang, dass die Bundesregierung Sorge trägt, dass ministerielle Kommunikation auch überprüfbar ist. Das muss für Mails und mobile Kommunikation in gleicher Weise gelte, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Die Vorwürfe des Rechnungshofes waren nicht aus der Luft gegriffen. Beim Europarecht, beim Haushaltsrecht und beim Vergaberecht wurde so manches – so hatte man aufgrund der Vernehmungen und auch der Unterlagen den Eindruck – passend gemacht. Sie gaben politische Linien vor, und das Haus bastelte das Konstrukt drumherum, das man brauchte, um diesem politischen Anspruch gerecht zu werden. Ihr Führungsstil dabei war überraschend anders als der Führungsstil Ihres Vorgängers Alexander Dobrindt. Sie brauchten nur wenige Leitungsvorlagen, vieles ging auf dem kleinen Dienstweg, und Wichtiges wurde mündlich geklärt. Das war angesichts der offenkundigen Risiken leichtfertig, wie ich finde. Auch das muss man hier durchaus einmal kritisch feststellen. ({4}) Ihr Haus hatte Ihnen aufgeschrieben, dass der Ausgang des Verfahrens zumindest offen war und nicht ganz unerhebliche Risiken im Raum standen, und trotzdem haben Sie die Verträge unterschrieben. Das Ergebnis haben wir heute in diesem Bericht zu bewerten. Man kommt nicht daran vorbei: Auch wenn das, was Frau Warken eben als administratives Versagen oder als Mängel beschrieben hat, vielleicht rechtlich keine Konsequenzen hat, so trägt ein Minister letztlich dafür die Verantwortung. Auch das möchte ich hier als Ausschussvorsitzender betonen. Abschließend darf ich mich recht herzlich bei Ihnen bedanken. Im Untersuchungsausschuss haben Koalition und Opposition unterschiedliche Rollen und Interessen; das gehört dazu. Bei allen Meinungsverschiedenheiten sind aber alle Ausschussmitglieder, wie ich finde, in der Breite doch sehr respektvoll miteinander umgegangen. Für diese Kollegialität möchte ich mich bei Ihnen allen bedanken. Ein besonderer Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschusssekretariats, die sehr viel Arbeit reingesteckt und uns zugearbeitet haben, aber auch unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Büros und den Referentenkreisen. Ich denke – das ist meine Hoffnung und zugleich meine Forderung zum Schluss –, dass wir bei der Arbeit dieses Untersuchungsausschusses viel für die Zukunft gelernt haben. Deshalb ist wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen: Lesen Sie diesen Abschlussbericht; denn aus Fehlern kann man lernen. Wer weiß, wer von Ihnen viel für seine zukünftige Arbeit daraus lernen kann! In diesem Sinne Ihnen nochmals herzlichen Dank. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für die FDP-Fraktion der Abgeordnete Oliver Luksic. ({0})

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Pkw-Maut ist eine Geschichte des Scheiterns, und zwar des Scheiterns mit Ansage; das haben wir eben schon zu Recht gehört. Herr Ramsauer hat das im Ausschuss in seiner Aussage auch dargestellt. Er war in Brüssel, und die klare Botschaft war, was schon alle Juristen gesagt hatten: Man kann keine Maut machen, die nur Ausländer belastet. There must be winners and losers. There shall be no linkage between tax and toll. Das war die klare Vorgabe, die missachtet wurde. ({0}) Auch Herr Dobrindt war in Brüssel. Und jetzt wissen wir, dass der Juristische Dienst der Kommission auch klar gesagt hat, dass dieser politische Kompromiss so nicht geht. Es war ein Scheitern mit Ansage. Herr Scheuer wollte mit dem Kopf durch die Wand, und das hat nicht funktioniert. ({1}) Der Schaden für den Steuerzahler ist riesig: Knapp 100 Millionen Euro wurden ausgegeben. Ein Schiedsverfahren läuft noch; das wird ebenfalls teuer werden. Zum Zweiten müssen wir feststellen, dass das gesamte Ministerium ein Stück weit lahmgelegt war und auch die Bundesregierung – das hat ja Frau Kollegin Lühmann gesagt – damit ein Stück weit beschädigt wurde. Die einzigen Gewinner sind die Herren und Damen im BMVI, die jetzt noch befördert wurden. Frau Bethge hat eine neue Stelle in der Toll Collect bekommen. Für Staatssekretär Schulz, „Mister Maut“, wurde eigens eine hochdotierte Stelle geschaffen, die laut „Handelsblatt“ jetzt noch um fünf Jahre verlängert werden soll. 2 Millionen Euro als Dank für die Arbeit, die da gemacht worden ist! ({2}) Es ist wirklich empörend, wie die Bundesregierung mit diesem Fall umgeht. ({3}) Wir wissen ganz eindeutig, dass an mehreren Stellen massive Fehler gemacht wurden und Recht gebrochen wurde, so zum Beispiel beim Europarecht – das belegt ja das Urteil –, aber auch beim Vergaberecht. Es ist ganz klar vorgegeben, dass man über die sogenannten Mindestanforderungen nicht verhandeln darf. Die Bieterfrage 38, eine Frage der Telekom: „Darf man das bestehende Toll Collect nutzen?“, wurde klar verneint. Man hat das später aber Paspagon, dem Bieterkonsortium, erlaubt. Man hat die ganzen Gespräche mit denen nicht dokumentiert. Der Gleichbehandlungsgrundsatz wurde verletzt. Wir haben das Schreiben der Telekom, die sich darüber beschwert hat. Ja, klar, geklagt hat sie nicht. Das ist auch logisch bei 25 Prozent in Staatsbesitz; sie muss mit Herrn Scheuer auch über 5 G reden. Aber klar ist: Vergaberecht wurde gebrochen. Das hat auch der Bundesrechnungshof klar festgestellt. ({4}) Auch beim Haushaltsrecht haben wir es schwarz auf weiß; wir haben den Vermerk aus dem Haushaltsreferat. Im November 2018 war klar: Die Maut kostet 3 Milliarden Euro, und es stehen nur 2 Milliarden Euro im Haushalt. Man hat die Kosten in die Zukunft in den Vertrag geschrieben, und zwar am Parlament vorbei. Das Parlament wurde darüber nicht informiert; das ist ein Verstoß gegen § 11 der Bundeshaushaltsordnung. Man hat extra Toll Collect verstaatlicht, um dort die Kosten hinzuschieben. Selbst die Referatsleiterin hat in ihrer Befragung gesagt: Das ist ein Verstoß gegen § 69 der Bundeshaushaltsordnung. – Also, für uns ist völlig klar, was auch der Bundesrechnungshof bestätigt hat: Auch das Haushaltsrecht wurde von Herrn Scheuer gebrochen. ({5}) Besonders irritierend ist, an wie vielen Stellen das Parlament falsch informiert wurde. Zur Causa Telekom zum Beispiel habe ich mehrfach schriftlich und mündlich gefragt: Hat Herr Scheuer mit dem CEO der Telekom über die Maut gesprochen? – Mehrfach wurde gesagt: Nein. – In seiner Aussage hat Herr Höttges sogar gesagt, er habe explizit Herrn Scheuer angerufen, um über die Maut zu reden. Also auch hier wurde das Parlament wahrheitswidrig falsch informiert. Das ist schon ein unerhörter Vorgang. ({6}) Versprochen – gebrochen. Wir haben das auch beim Thema Zusammenarbeit mit dem Ermittlungsbeauftragten Jerzy Montag gehört. Es ging darum, dass er auch in den privaten Bundestags-Account schauen kann, den er extra benutzt hat, um nicht von seinem Dienst-Account zu kommunizieren. Er hat es zugesagt, aber dann dagegen prozessiert, um zu verhindern, dass diese E-Mails eingesehen werden. Wir haben eine E-Mail bekommen bezüglich des sogenannten Kündigungsmoratoriums, also der Idee, anstatt einer Kündigung eine andere Lösung zu finden. Auf meine Frage, ob wir den Absender dieser E-Mail, dieser Idee bekommen, hat er gesagt: Ja. – Bis heute warten wir auf diese E-Mail. Auch hier: versprochen – gebrochen. ({7}) Deswegen können wir Herrn Scheuer auch nicht glauben. Es gab sieben Zeugen, die uns bestätigt haben, dass es ein Angebot gab, die Maut zu verschieben. Wir haben damals Herrn Scheuer ins Parlament zitiert. Er hat hin- und herlaviert. Man hat gemerkt, das ist ihm sehr unbequem. Er hat sich dann festgelegt, dass es ein solches Angebot nicht gegeben hat. Sieben Zeugen haben das Gegenteil gesagt. Für uns ist ganz klar – auch die Kollegin Lühmann hat es gesagt –: Er konnte den Vorwurf der Lüge nicht entkräften. ({8}) Besonders dramatisch finde ich – das kommt noch obendrauf –, dass nicht nur das Parlament falsch informiert wurde und ein katastrophaler Vertrag gemacht wurde, sondern Minister Scheuer den Vertrag offensichtlich gar nicht verstanden hat. Das ist uns in diesem Ausschuss völlig klar geworden. Er hat dazu monatelang keine einzige Vorlage im Haus gehabt, wahrscheinlich weil das Haushalts- und das Vergabereferat ihm aufgeschrieben hätten, dass das so alles nicht geht. Er hat am 31. Dezember 2018, kurz vor Silvester, beim Notar den Vertrag zehn Stunden vorlesen und unterschreiben lassen. Dann war er im Januar bei „Lanz“. Auf die Frage, was er denn macht, wenn ein Urteil kommt, hat er gesagt: Er ist da entspannt. – Er war aber nicht so entspannt. Am Tag danach, der erste Vermerk seit Monaten. Er fragt: Was passiert denn, wenn ein negatives Urteil kommt? – Da wurde es hineingeschrieben. Also: Minister Scheuer hat einen Vertrag unterschreiben lassen, den er offensichtlich nicht verstanden hat. ({9}) Besonders dramatisch ist, dass er am Tag der Kündigung wieder einmal in Wildwestmanier gehandelt hat. Am 18. Juni 2019 kam das Urteil. Hektisch wurde eine Task Force zusammengerufen. Doch anstatt einmal in Ruhe zu diskutieren – die Fachbeamten, die im Thema waren, waren nämlich gar nicht da; das haben wir erfahren –, hat er hektisch den Vertrag kündigen lassen, hat sich ausrechnen lassen, was das kosten könnte. Die erste Kostennote war ein niedrig dreistelliger, dann ein mittlerer dreistelliger Millionenbetrag, und am Tag danach, als er schon gekündigt hat, hieß es bis zu 776 Millionen Euro Schaden. Aber Herr Scheuer hat gekündigt und hat nicht auf die Experten im Haus gehört. ({10}) Das war ein weiterer schwerer Fehler. Deswegen müssen wir resümierend sagen, dass die Fehlerkette so groß ist, dass das eigentlich für mehrere Rücktritte reicht. Er hat ein Stück weit die Koordinaten der Bundesrepublik verschoben. Andere Minister sind schon wegen Lappalien zurückgetreten; Frau Giffey jetzt wegen einer Doktorarbeit. Herr Scheuer ist da etwas cleverer, er führt seinen Doktortitel nicht mehr. Das ist auch eine Lösung. Aber das Entscheidende ist: Früher hat man vom Struck’schen Gesetz gesprochen, dass kein Gesetz so aus dem Parlament rausgeht, wie es reingekommen ist. Wir müssen jetzt vom Scheuer’schen Gesetz reden. Alles, was Herr Scheuer anpackt, geht schief. Schuld sind aber immer nur die anderen. ({11})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort geht an die Fraktion Die Linke mit Jörg Cezanne. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieser Untersuchungsausschuss war bitter nötig. Ohne ihn wäre das Versagen gleich mehrerer Verkehrsminister nicht aufgeklärt worden. Ein Versagen, das nicht nur zu hohen Belastungen für den Bundeshaushalt, sondern vor allem zu einem weiteren schweren Vertrauensverlust großer Teile der Bevölkerung in die Bundesregierung und die Politik insgesamt geführt hat. Es ist unerträglich, dass niemand hier die Verantwortung übernimmt. ({0}) Ohne diesen Untersuchungsausschuss wären auch die politischen Tricksereien im CSU-geführten Verkehrsministerium nicht aufgedeckt worden, Tricksereien, um das CSU-Wahlkampf- und Stammtischprojekt Ausländermaut gegen jede Vernunft durchzusetzen. Ausländer sollen Maut zahlen, Deutsche werden entlastet. Dieser Versuch, getreu dem Strauß’schen Motto: „Rechts von mir ist nur noch die Wand“, im Landtagswahlkampf 2013, Mehrheiten zu sichern, hat vor dem Europäischen Gerichtshof völlig zu Recht Schiffbruch erlitten. Die Rechnung kommt jetzt leider allen Menschen in diesem Land teuer zu stehen. Bis heute hat sich niemand aus der CSU dafür entschuldigt. Leider haben auch die seit Jahren offensiv wegschauenden Koalitionspartner CDU und SPD hier stillgehalten. Ein ehrliches Schuldeingeständnis wäre angebracht. ({1}) Das Scheitern der Pkw-Maut-Gesetze vor dem Europäischen Gerichtshof wird vielmehr wie ein kleiner alltäglicher Betriebsunfall gehandelt. Die Rede von Nina Warken war hier ein eher kurioses Beispiel, um das zu belegen. Aber die Fakten sind eindeutig. Die Mautgesetze waren zu jeder Zeit europarechtswidrig. Das hat man auch vor dem EuGH-Urteil wissen können und nach dem EuGH-Urteil weiß man, dass der Europäische Gerichtshof genau so argumentiert hat wie beim Lkw-Maut-Urteil von 1992. Nur wer beide Augen verschlossen hat, konnte das oder wollte das nicht sehen. Sie haben, Herr Minister Scheuer, die Mautverträge vergaberechtswidrig verhandelt und abgeschlossen. Der Öffentlichkeit und dem Parlament haben Sie das zunächst verschwiegen und später falsche Informationen dazu verbreitet. Das ist eines Ministers unwürdig. ({2}) Sie haben bewusst das Haushaltsrecht gebrochen, indem Kosten für die Pkw-Maut beim staatlichen Lkw-Maut-Betreiber Toll Collect zulasten des Haushalts versteckt wurden. Eine unerträgliche Täuschung des Parlaments! ({3}) Ihr Ministerium war überfordert und personell ungenügend aufgestellt. Alle Vorgänge rund um die Maut lagen in den Händen hochbezahlter juristischer und sonstiger externer Berater. Aber wenn man niemanden im Ministerium hat, der diese Berater politisch führen kann, ist man nicht gut beraten. ({4}) Das Angebot des Bieterkonsortiums, mit der Vertragsunterzeichnung bis nach dem EuGH-Urteil zu warten, haben Sie nicht nur ausgeschlagen, sondern dem Parlament gegenüber geleugnet und sich dabei auf Erinnerungslücken zurückgezogen – ein schwacher Auftritt. Sie haben schriftliche Nachweise Ihres Handelns gar nicht erst entstehen lassen und private Kommunikationswege für dienstliche Belange benutzt. Herr Scheuer, wer als Minister so eklatant gegen Grundsätze ordnungsgemäßen Verwaltungshandelns verstößt, handelt schlicht rechtswidrig. ({5}) Und zum Höhepunkt entschieden Sie sich für eine sofortige Kündigung der Mautverträge; Kollege Luksic hat das gerade angesprochen. Diese dürfte, nach dem, was uns vorgetragen wurde, rechtsmissbräuchlich sein und selbst vor einem Schiedsgericht schlechte Chancen haben, wieder zulasten der Steuerzahlenden und aus dem zwar verständlichen, aber für einen Minister unwürdigen Impuls heraus, sich der eigenen Verantwortung zu entziehen. Herr Scheuer, wir hatten das Thema schon einmal: Sie werden als der Minister aus dem Amt scheiden, dessen Entlassung oder Rücktritt die größte Zahl von Bürgerinnen und Bürgern wünschen oder fordern. ({6}) Das ist nicht schön für Sie. Das ist nicht gut für die Verkehrspolitik. Vor allem aber ist es eine weitere schwere Beschädigung des Vertrauens in politisches Handeln. Sie haben dem Ansehen der Bundesregierung und der Politik im Allgemeinen schweren Schaden zugefügt. ({7}) Dass Sie dafür nicht selbst die politische Verantwortung übernehmen, macht es nur noch schlimmer. Aber, nun könnten Sie jetzt einwenden, personelle Konsequenzen allein reichen ja sowieso nicht aus, um solchen Machenschaften einen Riegel vorzuschieben. Ich will wenigstens drei ansprechen. Europarechtlich fragwürdige Gesetzentwürfe sollten auch aus Koalitionsraison nicht das Kabinett passieren dürfen. Die Vergabestellen müssen in die Lage versetzt werden, zwielichtigen Aufträgen konsequent die rote Karte zu zeigen. Und: Vor dem Hintergrund der drohenden Klimakatastrophe ist eine wirkliche Verkehrswende dringend notwendig. Statt ausgetretener Pfade braucht es einen sozialen und ökologischen Aufbruch. Mit CDU und CSU – das kann man spätestens nach diesem Maut-Untersuchungsausschuss sagen – wird es das nicht geben. Aber das, liebe Kollegen von den Grünen, wisst ihr ja selbst. Danke schön. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Oliver Krischer von Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man muss noch einmal sagen, worum es im Untersuchungsausschuss ging: Es war die Ausländermaut, die zum Gesetz gewordene Stammtischparole der CSU, die am Ende ein bürokratisches Monster werden sollte, die europarechtswidrig war – das haben wir vom höchsten europäischen Gericht, dem Europäischen Gerichtshof, inzwischen gehört –, die kaum Einnahmen produzieren sollte und die selbstverständlich keinen Beitrag zum Klimaschutz oder irgendeine ökologische Komponente geliefert hätte. Dafür, dass der Europäische Gerichtshof dieses Ding, obwohl der Bundestag es zweimal beschlossen hat, am Ende gestoppt hat, kann man den europäischen Richtern an dieser Stelle nur danken. ({0}) Was wir jetzt im Untersuchungsausschuss minutiös herausgearbeitet haben, war, dass dort ein Minister saß, der nichts anderes im Kopf hatte, als diese Maut mit der Brechstange durchzudrücken. Es war völlig egal, ob es Regeln gibt oder nicht; es ging einzig und allein darum, dass diese Maut möglichst vor der Bundestagswahl in Kraft tritt, damit die CSU das – wo auch immer, an welchen Stammtischen auch immer – als ihr großes Erfolgsprojekt feiern kann. Das müssen heute die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler bitter bezahlen, das hat das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland beschädigt, und das sorgt für Politikverdrossenheit überall im Land. Das ist die Bürde, die Sie zu tragen haben. ({1}) Herr Scheuer hat – das sagt nicht nur die Opposition im Untersuchungsausschuss, das sagen Sachverständige, das haben Zeugen x-fach, unzählige Male, immer wieder gesagt, das ist alles im Bericht nachzulesen – Haushaltsrecht gebrochen. Das klingt so verharmlosend. Es geht an dieser Stelle darum, dass er Steuergelder zweckentfremdet hat. Er hat, um das Angebot des Betreibers auf 2 Milliarden Euro runterzubringen und in den Haushaltsrahmen passend zu machen, die Leistungen der Toll Collect eingebaut, und das ist nichts anderes als die Veruntreuung, die Zweckentfremdung von öffentlichem Geld. Dass der zuständige Staatssekretär, der Mister Maut, dann auch noch zufällig der hochbezahlte Geschäftsführer dieser Toll Collect wird, meine Damen und Herren, das schreit doch zum Himmel, und das zeigt, wie im Ministerium gearbeitet worden ist. ({2}) Selbstverständlich ist das ein Verstoß gegen das Vergaberecht, weil die anderen Bieter, die ausgeschieden waren, überhaupt keine Chance mehr hatten, diese zusätzlichen, steuerfinanzierten Bonusleistungen in Anspruch zu nehmen. Ich sage sehr deutlich: Jeder kommunale Dezernent, jeder Baudezernent, der so etwas machen würde, wäre in kürzester Zeit seinen Job los ({3}) – ja, wahrscheinlich – und wäre wohl auch noch mit der Situation konfrontiert, den Staatsanwalt im Haus zu haben. Meine Damen und Herren, das ist das Problem mit Andi Scheuer. ({4}) Es ist schon mehrfach hier angesprochen worden – das ist wirklich der Gipfel der ganzen Geschichte –: Es gab das Angebot der Betreiber, es zu verschieben, das Urteil abzuwarten. Sieben Zeugen haben das im Untersuchungsausschuss ausgesagt. Da verstehe ich, ehrlich gesagt, auch die SPD nicht. Frau Lühmann, Sie haben einmal gesagt: Wenn der Vorwurf der Lüge nicht ausgeräumt werden kann, dann ist der Rücktritt fällig. ({5}) Der Vorwurf der Lüge konnte nicht ausgeräumt werden. Sieben Zeugen sagen: „Der Minister hat hier im Parlament gelogen“, und es gibt keinen einzigen, der sagt: „Er sagt die Wahrheit.“ Damit ist für uns klar: Minister Scheuer hat hier die Unwahrheit gesagt, hat gelogen. – Sie haben auch darauf verzichtet, eine Gegenüberstellung zu machen. Das wäre dann noch eine Möglichkeit gewesen; aber das wollten Sie ganz bewusst nicht, weil dann richtig deutlich geworden wäre, wer hier die Unwahrheit sagt, wer hier das Parlament und die Öffentlichkeit hinters Licht führt. ({6}) Meine Damen und Herren, ich könnte jetzt noch eine halbe Stunde lang Punkte einzeln herausgreifen, was alles schiefgelaufen ist. Man muss hier beispielsweise nur den Namen Professor Hillgruber erwähnen. Das ist derjenige, der das Verfahren am Europäischen Gerichtshof begleitet hat. Wie er zu dieser Aufgabe gekommen ist, weiß keiner. Ein Kirchenrechtler vertritt die Bundesrepublik Deutschland beim Europäischen Gerichtshof und erzählt im Untersuchungsausschuss begeistert, was das für ein tolles Erlebnis war, dass er einmal beim Europäischen Gerichtshof war! Meine Damen und Herren, es passt überhaupt nicht zusammen, auf der einen Seite jemandem, der – ich sage es einmal freundlich – wenig von der Rechtsmaterie versteht, diese Aufgabe zu übertragen und auf der anderen Seite 100 Millionen Euro für Berater auszugeben, die ganz offensichtlich Probleme geschaffen haben, für deren Lösung oder Nichtlösung sie sich nachher auch noch bezahlen ließen. Meine Damen und Herren, wir haben da einen Minister, der überhaupt nicht mehr unter Kontrolle hatte, was in seinem Ministerium lief. Es war ihm auch egal. Er wollte einfach nur die Maut und ist zum Schluss vor die Pumpe gelaufen. Das ist jetzt das Ergebnis. ({7}) Der letzte Punkt, den man an dieser Stelle einfach erwähnen muss, ist die Kündigungslüge. Genau zu dem Zeitpunkt, als das Gerichtsurteil gefallen war, stellten Minister Scheuer und seine Beraterentourage fest: Die Betreiber des Mauteintreibesystems haben Fehler gemacht, die haben gar nicht ihre Arbeit gemacht. – Es ist völlig offensichtlich – das ist wirklich billig –, wie Herr Scheuer da versucht hat, die Öffentlichkeit hinters Licht zu führen. Es ging nur darum, sich in ein Schiedsverfahren zu retten und dann irgendwann im Nichtöffentlichen die tatsächliche Entschädigungssumme auszuhandeln – für einen Vertrag, der dilettantisch ausgehandelt und zum Schaden der Bundesrepublik Deutschland war. Meine Damen und Herren, das ist auch politisches Versagen. Ich sage es ganz deutlich: Ich halte es für einen absoluten Skandal, dass sich ein Minister Scheuer im Untersuchungsausschuss hinstellt und sagt, es ist nichts schiefgelaufen, er würde alles wieder so machen, dass Frau Warken und die Kollegen von der Union – wir werden das gleich wieder hören – behaupten, es wäre alles wunderbar. Meine Damen und Herren, das, was dieser Untersuchungsausschuss zutage gefördert hat, reicht für mindestens drei Ministerrücktritte. Es ist absolut überfällig, dass dieser Mann endlich seinen Stuhl räumt. Und wenn es nicht jetzt passiert, dann wird es bei der Bundestagswahl passieren, damit wir in der Bundesrepublik Deutschland endlich wieder Verkehrspolitik zustande bringen und nicht am Ende zu Gesetz gewordene Stammtischparolen der CSU. Danke schön. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort hat Kollege Michael Frieser von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Alle gespielte Entrüstung hilft nichts. Wer geglaubt hatte, dass man sich, was den Tonfall angeht, vielleicht ein bisschen mehr der Sache zuwenden würde, der fühlt sich auch heute wieder getäuscht. Was wir hier hören – tut mir leid –, ist vielleicht ganz nett, steht aber nicht in diesen 800 Seiten, und es wird durch wiederholte Behauptung einfach nicht wahrer, es wird auch nicht besser. Wir haben festgestellt: Es gab keine Manipulation. ({0}) Wir haben festgestellt: Es gab keine Lüge. ({1}) Am Ende des Tages gibt es natürlich unterschiedliche Auffassungen. Das gilt selbst für Rechtsauffassungen. Aber Auffassungen sind noch keine Fakten. Und wenn tatsächlich unterschiedliche Auffassungen bestehen, ist und bleibt das eben noch kein Beweis. Da können Sie es tausendfach behaupten. ({2}) Es ist schon interessant, dass das Ergebnis dieses Ausschusses vorher feststand und sich übrigens überhaupt nicht verändert hat, ({3}) als ob es die gesamten Zeugenaussagen, als ob es die gesamten Dokumente nicht gegeben hätte. Deshalb muss man am Ende sagen: Gerade das Vergaberecht ist nun einmal keine ganz leichte Materie – ({4}) dort, wo deutsches auf europäisches Vergaberecht trifft. ({5}) Aber klar ist auch, dass es auf das Vergaberecht durch die Leitungsebene des Ministeriums keinen Einfluss gab. Nicht ein Zeuge hat das in irgendeiner Art und Weise ausgesagt. Selbst das Verhandeln mit dem letztverbliebenen Bieter: nach Vergaberecht zulässig, möglich und im Falle der Wirtschaftlichkeit sogar angezeigt. Selbst das in Aufklärungsgesprächen hergestellte Preisreduzieren: möglich, wirtschaftlich geboten. Hier – darauf hätten Sie hinweisen sollen ‑musste sich der Bundesrechnungshof bei seiner ursprünglichen Behauptung sogar berichtigen. Was kam am Ende noch dabei heraus? Die Servicestelle Vergabe des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur wurde wegen seiner Unabhängigkeit und Professionalität gelobt ({6}) und nicht beschimpft, meine sehr verehrten Damen und Herren. Was sollen wir denn noch machen? ({7}) Aber ganz ehrlich: Da es ohnehin nie um die Sache geht, will ich schon ein persönliches Wort sagen. Was mich zutiefst auch menschlich enttäuscht hat, war zum Teil der Umgangston: ({8}) der Umgang mit Zeugen, mit Vorhaltungen, mit Argumenten, die ({9}) verdreht wurden, um die eigenen Klischees zu bestätigen, um am Ende der Befragungen trotzdem das Gegenteil von dem zu behaupten, was der Zeuge gesagt hat. – Herr Cezanne, ich nehme Sie von dieser Kritik ausdrücklich aus, weil ich nie den Eindruck hatte, Sie sind an dieser, sagen wir einmal, Hexenverbrennungsattitüde persönlich interessiert. Das war der Stil; tut mir leid. Wie dort mit Zeugen umgegangen wurde, das hat weder etwas mit Wertschätzung noch etwas mit Respekt zu tun und schon gar nicht mit der Sache. Es gipfelte in der sehr demokratietheoretisch verdrehten Attitüde von Herrn Jung von der FDP als Mitglied in diesem Ausschuss, der tatsächlich sagte: Herr Minister, Sie konnten nicht beweisen, dass Sie nicht gelogen haben. – Also, verbogene Rechtsauffassung ist das eine, verbogene Auffassung von Demokratie ist das andere. Man müsste logischerweise Antworten: Herr Jung konnte auch nie beweisen, dass er in dieses Parlament gehört; aber das hat sich ja nun endlich erledigt. ({10}) Am Ende des Tages bleiben auch die Krokodilstränen, zu sagen, man müsse den Steuerzahler vor Schadensersatzzahlungen bewahren. Aber in einem Schiedsgerichtsverfahren das Geschäft der Anspruchsteller in einer Art und Weise zu betreiben, bei der die sich nur bedanken können, das wird der deutsche Steuerzahler vielleicht noch ganz übel bereuen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Da es nie um die Sache ging, ging es am Ende bei der Frage der Kommunikation um Post-its und um Logfiles. Da hat selbst der BGH gesagt: Herrschaften, das hat nun wirklich gar nichts mehr mit der Sache zu tun. – Sie sind mit einem erneuten Versuch krachend gescheitert, von der eigentlichen Sache, vom Zentrum der Bemühungen des Untersuchungsausschusses abzulenken. Glauben Sie mir, seit der Römerzeit wissen wir, dass Infrastruktur gegen Gebühr benutzt wird. Glauben Sie allen Ernstes, dass dieses Thema von der europäischen Tagesordnung wegzudenken ist? Selbstverständlich werden wir auch zukünftig darüber reden; wie wir übrigens auch vorher darüber geredet haben, als der Minister Scheuer ein Gesetz auf den Weg bringen sollte, bei dem im Bundesrat auch die Grünen zugestimmt haben, nachdem die Europäische Kommission ihr grünes Licht gegeben hat. Ja, wie groß wäre das Geschrei gewesen, wenn er das nicht getan hätte? Dann wäre der Vorwurf tatsächlich massiv gewesen. Alles, was dieser Untersuchungsausschuss an dieser Stelle hervorbrachte, hat am Ende des Tages leider Gottes das Klischee der Opposition nicht bedient. Welche Gründe es auch immer waren, die den EuGH die Maut haben ablehnen lassen: Es hat nichts mit einem Fehlverhalten des Ministers oder des BMVI zu tun. ({11}) Sie wollten ein Tribunal, und Sie haben es nicht bekommen. ({12})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an die SPD-Fraktion mit Kirsten Lühmann. ({0})

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kollegen und Kolleginnen! Als ich 2009 hier in den Bundestag kam, hat mein Vorgänger Peter Struck zu mir gesagt: Kirsten, vergiss nie, dieses Mandat ist ein Auftrag und eine Verpflichtung auf Zeit, nicht auf Dauer. – Meine Zeit endet jetzt nach zwölf Jahren. Es ist das letzte Mal, dass ich hier am Redepult stehe. Ich habe in dieser Zeit viel erlebt. Ich habe viel erreicht, aber natürlich auch Fehler gemacht. Ich habe Kollegen und Kolleginnen aus den verschiedenen Fraktionen – FDP, CDU/CSU, Grüne, Linke, insbesondere natürlich meiner Fraktion – kennengelernt, die genau wie ich für das Thema Verkehrspolitik gebrannt haben, die dafür gebrannt haben, dass Mobilität eine zentrale Frage für die Menschen in unserem Lande ist, eine zentrale Frage für den Klimaschutz und eine zentrale Frage für die Wirtschaft. Im Streit um die Sache haben wir manche gute Lösung gefunden. Ich freue mich, mit dem einen oder der anderen noch einige Dinge im persönlichen Gespräch Revue passieren lassen zu können. Ich danke Ihnen allen für Ihr Vertrauen, für Ihre Geduld mit mir und für die guten Debatten. ({0}) Ich habe in den drei Wahlperioden für meine Fraktion drei Untersuchungsausschüssen beigewohnt: Gorleben, Abgas und Maut. Wir haben oft rechtliche Grauzonen beleuchtet; aber das Besondere bei diesem Untersuchungsausschuss ist, dass im Abschlussbericht klar wie selten die Fehler aufgezeigt sind, die in dem Prozess gemacht wurden. Vor ziemlich genau zwei Jahren hat der Europäische Gerichtshof geurteilt, dass die deutsche Pkw-Maut so nicht möglich ist. Am 26. Juni 2019 waren Sie, Herr Scheuer, dann im Verkehrsausschuss und haben eine klare Aussage gemacht. Sie haben gesagt: Wir haben einen hervorragenden Vertrag verhandelt, wir haben genau für diesen Fall Vorsorge getragen, und auf den deutschen Steuerzahler werden keine Kosten zukommen. – Herr Scheuer, ich habe Ihnen an diesem Tag geglaubt. Als Sie etwa vier Wochen später selber 21 Aktenordner pressewirksam in den Ausschuss brachten und maximale Transparenz verkündet haben, empfand ich das eher als Effekthascherei. Warum, wenn alles so toll ist, war das nötig? Nachdem ich in der Geheimschutzstelle in die Verträge geschaut habe, wuchsen meine Zweifel. Ich konnte mir aber immer noch nicht vorstellen, welches Ausmaß an Fehlern dieser Untersuchungsausschuss aufdecken würde. Alle Ihre damaligen Ausreden und Rechtfertigungen sind klar widerlegt worden. Ihre Aussage zum umfassenden und professionellen Risikomanagement zerfiel in dem Moment, als wir kein einziges Dokument gefunden haben, das das vollständige Scheitern der Maut als Risiko auch nur benannt, geschweige denn bewertet hätte. Ihre Rechtfertigung, Sie wären gesetzlich verpflichtet gewesen, Verträge noch in 2018 zu unterschreiben, löste sich spätestens nach der Lektüre ebendieser Gesetze auf, und das mussten Sie dann auch zugeben. Ihre Ausrede, das Geld hätte nur bis Ende 2018 zur Verfügung gestanden, sollte nur verschleiern, dass Ihr zuständiger Staatssekretär schlicht verschlafen hatte, im November 2018 in der zuständigen Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses entweder mehr Zeit oder mehr Geld zu beantragen; die SPD hat immer gesagt, für mehr Zeit wären wir immer offen gewesen. Was von der maximalen Transparenz zu halten war, haben wir spätestens nach der Aussage Ihres zuständigen Abteilungsleiters gewusst, der gesagt hat, er habe Ihnen gegenüber diese Strategie als gescheitert bezeichnet. Aber ich muss auch deutlich sagen: So einfach und klar, wie uns die Opposition hier glauben machen will, dass dieser Untersuchungsausschuss klare und deutliche Belege ergeben hat, ist es in vielen Teilen nicht. Zu der Frage der Lüge: Es waren vier Menschen an dem Gespräch beteiligt. Zwei haben gesagt, das Angebot hat es gegeben, zwei nicht – ein klassischer Fall von Aussage gegen Aussage. Zum Vergaberecht und Haushaltsrecht haben wir unterschiedlichste Bewertungen von Juristen und Juristinnen gehört. Was davon nun tatsächlich wahr ist, wissen wir nicht. Das heißt, der Minister ist in keinem Fall entlastet worden, Herr Frieser. Aber auf der anderen Seite: Er ist auch in keinem Fall eines eindeutigen Rechtsverstoßes überführt worden. ({1}) Die Behauptungen, die Rechtsverstöße seien bewiesen worden, sind genauso unseriös wie die Aussage des Ministers, er habe keine Fehler begangen. Die gravierendsten Versäumnisse sind nachzulesen in den Bewertungen der Koalition. Dort ist vieles eindeutig festgestellt. Ich will hier nur einiges erwähnen: Die europarechtlichen Risiken – das ist schon gesagt worden – sind nicht ausreichend gewürdigt worden. Kritische Stimmen wie die, das Verfahren sei offen, sind einfach nicht weitergegeben worden. ({2}) Finanzielle Folgen der Kündigung aus ordnungspolitischen Gründen – zu Deutsch: wenn wir vor dem EuGH verlieren – sind vor Vertragsunterzeichnung nicht ausreichend untersucht worden, wohl auch weil niemand danach gefragt hat. Es hat schlicht niemanden interessiert, auch Sie nicht, Herr Minister, welcher Schaden entstehen könnte, wenn die Unterschrift geleistet wird. Ein weiteres Ergebnis ist, dass im Haushalts- und Vergaberecht, freundlich formuliert, getrickst worden ist. Nach dem letzten Angebot fehlten 1 Milliarde Euro. Der Termin im Haushaltsausschuss war verschlafen worden; also mussten alternative Lösungen her, um das Angebot passend zu machen. Aus der festen Vergütung wurde eine variable Vergütung. Das heißt, man muss nur zahlen, wenn der Fall eintritt. Insofern konnten Kosten gespart werden – eigentlich eine gute Sache. Blöd ist nur, dass das Maut-Referat festgestellt hat, dass dieser Bedarf wohl auf alle Fälle da ist, die Kosten also anfallen werden. Es war klar, dass letztendlich mehr Geld gezahlt werden muss, als im Haushalt zur Verfügung stand. Außerdem – das ist schon gesagt worden – wurden die Anforderungen heruntergeschraubt. Das hat andere Bieter irritiert und möglicherweise auch erhöhte Kosten verursacht. Was mich noch irritiert hat, ist die Art und Weise, wie Sie mit der ganzen Sache umgegangen sind. Herr Scheuer, vor Vertragsunterzeichnung haben Sie nicht eine einzige Ministerinformation unterzeichnet. Ihr Staatssekretär hat vier Wochen lang gar nicht gemerkt, dass 1 Milliarde Euro fehlen, und die Abteilungen hatten keine Zeit, um die Verträge vernünftig zu prüfen, weil Sie Zeitdruck gemacht haben, da Sie noch rechtzeitig unterschreiben wollten. Herr Minister, so dürfen milliardenschwere Großprojekte nicht geführt werden. ({3}) Wir haben vier Jahre gemeinsam viel für die Mobilität in Deutschland getan. Aber die Menschen werden Ihre Amtszeit nicht mit den positiven Projekten verbinden, sondern mit den Fehlern, die gemacht wurden, insbesondere bei der Maut. Und dabei geht es weniger um die Fehler selbst als vielmehr darum, wie Sie damit umgegangen sind. Erfolge haben Sie effekthaschend inszeniert, Misserfolge negiert oder andere dafür verantwortlich gemacht. Als Minister haben und benötigen Sie Macht, um Dinge zu verändern. Das Wesen der Demokratie ist es aber, dass diese Macht nur unter der Voraussetzung übertragen wird, dass die Träger dieser Macht bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Es ist nicht meine Aufgabe, über Sie zu urteilen. Aber es ist Ihre Aufgabe, Herr Scheuer, für Ihr Handeln Verantwortung zu übernehmen und aus den Ergebnissen des Maut-Untersuchungsausschusses Konsequenzen zu ziehen. Herzlichen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, liebe Kollegin Lühmann. – Das Präsidium dankt Ihnen, glaube ich, im Namen des gesamten Hauses für die jahrelange sehr, sehr gute und konstruktive Zusammenarbeit. Sie werden sich ja neuen Herausforderungen stellen, die andere sein werden, aber mit Sicherheit nicht kleinere. Alles Gute für Sie! ({0}) Als letzten Redner in der Debatte hören wir Ulrich Lange von der CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss bietet die Chance zur parlamentarischen Kontrolle. Es gehört sich, dass das Ganze nüchtern, unaufgeregt, sachlich, differenziert vonstattengeht. Manchmal wäre auch juristische Kompetenz sinnvoll gewesen, insbesondere bei Themen wie Vergaberecht oder Europarecht. ({0}) – Ja, gerade für die FDP als Rechtstaatspartei wäre es manchmal sinnvoll gewesen, sich an Recht und Gesetz zu orientieren; aber Sie haben ja noch Zeit zum Üben. ({1}) Es war von vornherein klar, was Sie wollten: Sie wollten einen Kopf. – Das war ja auch jetzt wieder gut sichtbar. Aber der Kopf sitzt noch da, und zwar, wie die Kollegin Lühmann gerade ganz richtig festgehalten hat, weil es unterschiedliche juristische Bewertungen gab, weil es unterschiedliche Bewertungen von Zeugenaussagen gab und weil am Ende weder dem Minister noch dem BMVI noch der Bundesregierung als Ganzes ein Fehlverhalten vorgeworfen werden kann. Und nur dann muss man Verantwortung übernehmen. Liebe Kollegin Lühmann, nach Ihrer Schlussbemerkung erlauben Sie mir einfach den Verweis auf Freitag. Dann werden wir ja erfahren, ob der Bundesfinanzminister für sein Verhalten die Verantwortung übernimmt. ({2}) Ich bin mal sehr gespannt, ob dann Töne in die gleiche Richtung kommen werden. ({3}) Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir halten einfach mal an dieser Stelle fest: saubere Bewertung juristischer Ergebnisse. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich selber twittere ja nicht, aber man bekommt ja trotzdem immer mal wieder Twittermeldungen mit. Daher sage ich: Twitter aus den Ausschusssitzungen ({4}) ersetzt weder Sachverhaltsaufklärung noch juristische Kenntnis, liebe Kolleginnen und Kollegen. Und was manchmal kam, war menschlich schäbig; auch diese Bemerkung erlaube ich mir an dieser Stelle. ({5}) Kommen wir noch mal zur Genese der Maut; das will ja heute keiner mehr hören und keiner mehr wahrhaben. Es geht um das Europarecht und um das Gesetzgebungsverfahren hier. Liebe Kolleginnen und Kollegen, außer denen, mit denen wir an dieser Stelle nicht sprechen wollen, tragen für diese Maut alle Parteien die Verantwortung; denn ohne die Stimmen der Grünen und der Linken in Thüringen im Bundesrat hätte es diese Maut nicht gegeben. Also bitte nicht immer sich aus der Verantwortung stehlen! Wer Verantwortung übernehmen will und große Töne spuckt, der muss, lieber Kollege Krischer, auch zu der Verantwortung stehen, die er über den Bundesrat mit übernommen hat. ({6}) Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zum Europarecht. Wir haben in der letzten Periode lang und breit über das Europarecht diskutiert, und das haben wir auch in dieser Periode wieder getan. Wir mussten diese europarechtliche Abwägung vornehmen, und wir haben sie vorgenommen. Lieber Kollege Krischer, es ist unseriös, Professor Hillgruber als Kirchenrechtler zu bezeichnen. Was Sie hier tun wollen, ist, einen Juraprofessor lächerlich machen. Ich finde, das steht Ihnen persönlich nicht zu. ({7}) Mir wäre neu, dass der Generalanwalt, der für die EU-Kommission im Verfahren vor dem EuGH tätig war, Kirchenrechtler oder gar Angehöriger der Kurie gewesen wäre. Genau dieser hat aber das Modell der Infrastrukturabgabe vor dem EuGH als europarechtskonform vertreten. ({8}) Noch eines gehört zur Wahrheit: Das Kanzleramt hat durch den Zeugen Pung-Jakobsen der These, dass die Bundesrepublik Vereinbarungen gegenüber der Kommission nicht eingehalten habe, deutlich widersprochen. Also bleibt festzuhalten: Die Einführung der Infrastrukturabgabe wurde zu dem Zeitpunkt sowohl vom Gesetzgeber des Bundes – Bundestag und Bundesrat – als auch später von der Kommission mitgetragen. Dann kommen wir zu den angeblich widersprüchlichen Aussagen und der Gegenüberstellung, lieber Kollege Krischer. Auch da mal ganz einfach: Ich erinnere Sie an Ihre Parteifreunde in Bayern, die in einer Kleinen Anfrage zu Zusammenhängen zwischen Herrn Schulenberg und WM-Tickets nachgefragt haben, wie seriös das Geschäftsgebaren ist. Wenn Sie genau den jetzt zum Kronzeugen machen, dann habe ich damit schon ein Problem. Sie müssen sich schon überlegen und entscheiden, ob sich eine Person als Kronzeuge eignet oder nicht. ({9}) Es ist definitiv nicht dienlich, etwas als Protokoll zu bezeichnen, was Jahre später aus handschriftlichen Notizen gefertigt wurde. Diejenigen Teile der Presse, die dann – wie einst die Veröffentlichung berühmter Tagebücher – die Veröffentlichung von Protokollen feierte, sollten sich an dieser Stelle über die Seriosität selber Gedanken machen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({10}) Wir wollen nicht über Post-its reden. Wir wollen nicht über völkerrechtliche Bewertungen reden; das tun ja angeblich maßgebliche Völkerrechtlerinnen immer wieder. Ich möchte noch über einen Punkt reden, der für uns als Parlament wichtig ist. Der Sieger dieses Untersuchungsausschusses waren wir, wir Abgeordnete, mit unserem freien Mandat. Auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen und die Presse darüber auch nicht so in diesem Umfang berichtet hat – das bringt ja nichts, weil die falsche Seite gewonnen hat –: Aber wir haben zwei Verfahren vor dem BGH gewonnen. Nur Sie selber waren schuld, dass der geschätzte Kollege Jerzy Montag seine Ermittlungstätigkeit nicht hat aufnehmen können, obwohl der Verkehrsminister seine Kooperation angeboten hat. ({11}) Sie sind vor den BGH gegangen, Sie haben verloren, und damit war das Thema Sonderermittler, das Sie effekthascherisch eingesetzt haben, von Ihnen selber juristisch begraben worden. Sie haben damit der Aufklärung einen Bärendienst erwiesen. Aber Sie haben uns als Parlament zu einem echten Sieg verholfen. Danke schön für die Entscheidungen, die wir hier bekommen haben. ({12}) So viel zu dem Aspekt: Der Untersuchungsausschuss war nicht sinnlos, aber er hat nicht allzu viel Neues gebracht. – Die Frage des Schadensersatzes ist keine Frage des Untersuchungsausschusses. Auch an dieser Stelle ganz interessant: Im „Handelsblatt“ spricht Herr Schulenberg jetzt plötzlich nur noch von 80 Millionen Euro Direktschaden. Da ist bei Herrn Schulenberg schon nichts mehr von einer halben Milliarde Euro zu lesen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP und den Grünen, lesen Sie mal selber das „Handelsblatt“, das Sie ja immer wieder mit Informationen bedienen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Ihnen, liebe Frau Kollegin Lühmann, Danke zu sagen. Ich sage dafür Danke, dass wir beide als Sprecher insbesondere in den letzten zwei Perioden, also in der letzten Periode und auch in dieser Periode, sehr eng zusammengearbeitet haben. Es war so das Team der Polizistin und des Rechtsanwalts sowohl in den beiden Untersuchungsausschüssen wie auch in der Verkehrspolitik. Das war bei der einen oder anderen Frage, ob Section Control oder Alcolocks, manchmal auch ein bisschen von juristischen Debatten geprägt. Aber ich habe eines an Ihnen schätzen gelernt: die Zuverlässigkeit, die Offenheit. Wenn wir gesagt haben: „Wir machen es“, dann haben wir es gemacht, und wenn wir gesagt haben: „Wir machen es nicht“, dann haben wir es nicht gemacht. ({13}) Auch das gehört dazu, wenn man zusammen regiert: zuverlässig, ehrlich, authentisch und ein bisschen protestantisch. Ich denke an unser letztes Telefonat zum Untersuchungsausschuss, als Sie noch die Gebetsvorbereitung machen mussten und wir über eine Bibelstelle gesprochen haben. Die radfahrende Polizistin mit der selber eingekochten Marmelade zum Frühstück: Dafür mein persönlicher Dank und mein Dankeschön! ({14}) – Ja, das ist den Applaus wert, nicht nur den der SPD. ({15}) Ich glaube, das gehört sich hier unter uns Kolleginnen und Kollegen so. Ein Dankeschön auch Udo Schiefner, Nina Warken und allen, die hier mitgearbeitet haben. Frau Präsidentin, Entschuldigung für die Überziehung. Aber ich glaube, das durfte man sich am Schluss so herausnehmen. Danke schön. Alles Gute! ({16})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland steht zu seinen Verpflichtungen, und Deutschland steht zu der Verpflichtung, die afghanischen Ortskräfte, die in den vergangenen Jahren für unser Land gearbeitet haben – für die Bundeswehr, für die Bundespolizei, für die Durchführungsorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit –, die Menschen, die am Wiederaufbau, an der Stabilisierung ihres Landes mitgearbeitet haben und aus deren Arbeit sich eine Gefährdung ergibt, zu schützen. Das haben wir im Übrigen in der Vergangenheit auch immer bewiesen. ({0}) Als 2013 der Übergang der Missionen von ISAF zu Resolute Support und damit verbunden auch eine deutliche Truppenreduzierung in Afghanistan war, haben wir ein besonderes Aufnahmeverfahren für Ortskräfte und deren Familienangehörige implementiert. Wir sehen: Seit dieser Zeit sind 3 400 Menschen aus Afghanistan zu uns gekommen. Inzwischen liegen für weitere 400 Ortskräfte und etwa 1 500 Familienangehörige derartige Aufnahmezusagen der Bundesregierung vor. Wenn Sie sich diese Zahlen anschauen, dann wird deutlich: Das ist eine ganz erhebliche Zahl. Deutschland wird seinen Verpflichtungen gegenüber denen, die auch für unser Land gearbeitet haben, gerecht. Das ist eine gute Botschaft, die damit verbunden ist. ({1}) Wenn wir uns das mal im Einzelnen anschauen, dann kann man sagen: Für uns ist die persönliche, die unmittelbare Gefährdungslage entscheidend, die sich aus der Tätigkeit für das Bundesministerium der Verteidigung, das Bundesinnenministerium oder das Entwicklungsministerium ergibt. Das muss im Einzelnen geprüft werden. Das machen wir in einem beschleunigten Verfahren. Wir werden auch den Herausforderungen gerecht, dass man für die Visaerteilung nicht mehr nach Islamabad oder nach Neu-Delhi fahren muss, sondern dass man das in einem IOM-Büro in Kabul erledigen kann. Damit werden wir den Verpflichtungen gerecht, dies sozusagen angemessen umsetzen zu können. Trotzdem muss klar sein, dass die persönliche Gefährdung nicht nur gegeben sein muss, sondern dass sie sich auch aus der Arbeit für die Bunderepublik Deutschland ergibt. Das haben wir in der Vergangenheit gesehen: Das ist tatsächlich so praktiziert worden, das haben wir so umgesetzt. – Wenn wir jetzt entscheiden, dass man das nicht nur für die aktuellen Arbeitskräfte und für diejenigen, die in den zwei Jahren zuvor ausgeschieden sind, macht, sondern gerade auch für diejenigen, die schon seit 2013 für die Bundeswehr und die Bundespolizei gearbeitet haben, dann hat das eben auch mit einer Neubewertung der Sicherheitslage im Land durch den Abzug der Bundeswehr zu tun. Das ist eine logische Schlussfolgerung. Deswegen passen wir auch diese Regelungen an. ({2}) Ich will aber eines an dieser Stelle sagen, auch im Hinblick auf den Antrag, den die Grünen hier eingebracht haben: Es ist eben nicht so, dass man allein aufgrund der Tätigkeit für die Bundesrepublik Deutschland, in welcher Form auch immer, automatisch Rückschlüsse auf eine lebensgefährdende Situation ziehen kann, weil die Sicherheitslage in Afghanistan höchst unterschiedlich ist. Wenn man beispielsweise auf das Vordringen der Taliban schaut, erkennt man: Das betrifft vielleicht 10 Distrikte von 400 Distrikten in Afghanistan. Deswegen muss man das letztlich im Blick behalten und muss das auch tatsächlich sehen. Das wird dadurch bestätigt, dass es von den vielen Tausend Ortskräften, die beispielsweise für das BMZ und seine Durchführungsorganisationen arbeiten, gerade mal 37 Gefährdungsanzeigen gegeben hat. Insofern brauchen wir ein differenziertes Vorgehen. Das bietet die Bundesregierung an. Das unterstützen wir. Deswegen sind anderweitige Anträge abzulehnen. Herzlichen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an die AfD-Fraktion mit Rüdiger Lucassen. ({0})

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Geschichte wiederholt sich nicht, aber es gibt historische Déjà-vus. 1975 entstanden von der amerikanischen Botschaft in Saigon Bilder, die um die Welt gingen: US-Helikopter landeten nonstop auf dem Dach des Gebäudes und luden Zivilisten ein. Nordvietnamesische Truppen waren am Morgen in die Stadt eingedrungen. Schnell verbreiteten sich Schreckensmeldungen, dass sie die Helfer der US-Armee an die Wand stellen würden. Wer konnte, der rettete sich also und floh mit einem Hubschrauber. In Afghanistan geht jetzt ein genauso langer Krieg zu Ende. Die Taliban sind erst diese Woche in die Stadt Kunduz eingedrungen. Auch hier gibt es Menschen, die für die westlichen Truppen und Behörden gearbeitet haben. Sie befürchten, dass sie genauso der Rache der Sieger zum Opfer fallen werden wie einst die Ortskräfte in Südvietnam. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen. Deutschland trägt für diejenigen, die die Bundeswehr und zivilen Behörden in Afghanistan unterstützten, selbstverständlich eine Verantwortung. ({0}) Es gäbe ein schäbiges Bild ab, die treuen Helfer jetzt im Stich zu lassen. Auch dazu gibt es eine historische Parallele, die vielleicht zum Denken anregt. Die Helfer der deutschen Schutztruppe in Ostafrika, die Askaris, erhielten bis in die 1990er-Jahre von der Bundesrepublik Deutschland Rentenzahlungen. Dazwischen lagen immerhin zwei verlorene Kriege und vier Staatsformen. Dass Deutschland seiner Verantwortung für die ehemaligen Hilfstruppen des Kaisers nachkam, spricht für den Charakter unseres Volkes. ({1}) Für die Versorgung der afghanischen Ortskräfte hat die Bundesregierung bereits eine Regelung getroffen. Sie ist angemessen und reicht aus. Wer für Deutschland gearbeitet hat und an Leib und Leben bedroht ist, kann mit seiner Familie nach Deutschland kommen. Im Antrag der Grünen, der dieser Debatte zugrunde liegt, geht es freilich nicht um die Ortskräfte, die an deutscher Seite standen. Den Grünen geht es wie immer um eine unterschiedslose Verbringung von möglichst vielen Menschen nach Deutschland. Das lehnen wir ab. ({2}) Das Recht auf Gewährung von Schutz muss einer Individualprüfung standhalten. Das gilt auch für die ehemaligen afghanischen Unterstützer. Meine Damen und Herren, die Tatsache, dass wir hier heute darüber sprechen, Afghanen, die sich auf unsere Seite stellten, nach Deutschland zu retten, sagt alles über den verlorenen Einsatz am Hindukusch aus. 20 Jahre haben die Regierungsparteien hier im Parlament über die angeblichen Erfolge der Mission geredet. 20 Jahre stand der Westen immer kurz vorm Sieg, und jetzt heißt es: Rette sich, wer kann. Auch dazu könnte einem eine gewisse historische Parallele einfallen, hier ganz in der Nähe Richtung Potsdamer Platz. Aber die erwähne ich lieber nicht. Sie verstößt gegen das elfte deutsche Gebot: Du sollst nicht vergleichen. Schönen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke. – Das Wort geht an Helge Lindh von der SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD hat gerade bewiesen, dass ihr Patriotismus und Heimatliebe fremd sind; denn wer wirklich seine Heimat liebt, der spricht nicht so über afghanische Ortskräfte, die uns gedient haben. Das sei einmal in aller Deutlichkeit hier formuliert. Wir fragen uns ja manchmal: „Wofür machen wir das alles?“, und verlieren auch die Orientierung in all den Gremien und Verhandlungen, in denen wir sitzen. Aber heute ist, denke ich, ein Beispiel gegeben, bei dem wir genau wissen, was das, was wir tun, bedeutet und welche Verantwortung damit verbunden ist in Bezug auf Soldatinnen und Soldaten und eben auch auf die Ortskräfte. In Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“ gibt es unter anderem die Passage: „Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“ Über diese Köche buchstäblich – wie übertragen reden wir heute! –, über die Ortskräfte, die als Dolmetscherinnen und Dolmetscher, als Kulturvermittler, als Berater, auch als Köchinnen und Köche die Truppen, aber auch die Zivilkräfte unterstützt haben und die dabei treu und verantwortungsvoll und exzellent zum Beispiel mit der Bundeswehr zusammengearbeitet haben. Beiden, den Soldatinnen und Soldaten und eben auch den Ortskräften, gebührt unser Dank an dieser Stelle. ({0}) Es gibt ja den heiß diskutierten Satz von Peter Struck, dass die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland auch am Hindukusch verteidigt wird. Was ist in diesem Zusammenhang besonders interessant? Wir sind ja gerade dabei, dafür zu sorgen, dass für die Ortskräfte zum Beispiel die Sicherheitsprüfung entbürokratisiert wird, auch in der Weise, dass sie in Deutschland stattfinden kann, damit diese Menschen schneller gerettet werden können, schneller in Sicherheit, aus der Gefahr kommen. Das ist berechtigt; denn sie haben sich für Deutschlands Sicherheit und für die Sicherheit ihres Landes und für die Demokratie in diesem Land eingesetzt. Das haben sie buchstäblich gemacht. Es ist auch ein Ausdruck von Respekt vor den Afghaninnen und Afghanen, die eben nicht nur Taliban sind, sondern die insbesondere auch diejenigen sind, die für Menschlichkeit in diesem Land seit Jahrzehnten kämpfen. Auch das gilt es an dieser Stelle zu würdigen. ({1}) Wenn wir uns das alles angucken, dann merken wir: Wir reden hier heute überhaupt nicht über Flucht und auch überhaupt nicht über Migration, sondern wir reden von Pflicht, Verantwortung und auch Schuld. Wir reden davon, dass es auch so was wie einen Kreis und eine Kaskade der Verantwortung gibt. Wir haben politische Entscheidungen getroffen. Die Folge der politischen Entscheidungen war der Dienst von Soldatinnen und Soldaten, die zum Teil ihr Leben geopfert haben. Diesen Soldatinnen und Soldaten und auch den zivilen Kräften standen Ortskräfte zur Seite. Sie haben zum Teil ihr Leben gerettet, und sie haben für sie gedient. Jetzt wiederum, in einer neuen Sicherheitslage, sind sie besonders gefährdet. Nun haben wiederum zum Beispiel auch Soldatinnen und Soldaten für sie Verantwortung übernommen und haben in Deutschland das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte mit dem Vorsitzenden Marcus Grotian gegründet. Sie leben uns vor, wie wir politisch zu handeln haben. Wir müssen diesem Zirkel, dieser Kaskade der Verantwortung gerecht werden. Genau deshalb machen wir das. Deshalb fällt jetzt die Zweijahresfrist, und eine Einreise für eine Tätigkeit kann rückwirkend bis 2013 beantragt werden. Deshalb verändert sich die Sicherheitsüberprüfung. Deshalb können künftig auch Erwachsene, Volljährige, die mit der Familie zusammen sind, Rettung finden. Deshalb ist auch das geänderte Sicherheitsüberprüfungsverfahren möglich und sinnvoll. Ich würde mich freuen, wenn wir es auch schaffen würden, in einem Zusammenspiel von Bund und Ländern die Finanzierung der Reisen zu übernehmen. Darum geht es hier in dieser Stunde und in dieser Diskussion und im verantwortungsbewussten Handeln: dass diejenigen, die Verantwortung getragen haben, die sich für die Sicherheit von Soldatinnen und Soldaten und von uns allen eingesetzt haben, von uns nicht im Stich gelassen werden. Denn das wäre unanständig. So haben wir zu handeln, und so tun wir es gerade. Vielen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Der Kollege Heidt von der FDP-Fraktion spricht als Nächster. ({0})

Peter Heidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004948, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch den plötzlichen und schnellen Rückzug der Bundeswehr befinden sich afghanische Helfer in einer prekären Lage, einer Lage, die es so nicht gegeben hätte, wenn die Bundesregierung das gemacht hätte, was wir Freie Demokraten immer gefordert haben, nämlich eine rechtzeitige Exit-Strategie zu entwickeln. Denn viele fürchten nun zu Recht die Rache der Taliban. Daran ändert auch die kürzlich veröffentlichte Mitteilung der Taliban, die Helfer der Bundeswehr nicht zu verfolgen, nichts. Und daran ändert auch das nichts, was Herr Maas heute von den viel beschriebenen Fortschritten Afghanistans berichtet hat. Zur Wahrheit gehört nämlich auch, dass die Taliban bereits vor den Toren vieler Provinzstädte stehen und dass das Gewaltniveau seit 2020 angestiegen ist, deutlich sogar. Ob die mit diesem Einsatz verbundenen politischen Ziele erhalten werden können, werden erst die nächsten Monate zeigen. Die vielen afghanischen Ortskräfte und ihre Familien verdienen unseren uneingeschränkten Schutz. Es ist gut, dass sich die Bundesregierung jetzt immerhin etwas bewegt und beschlossen hat, das Verfahren wenigstens auch auf ehemalige Ortskräfte, welche nach dem 1. Januar 2013 ihre Gefährdung angezeigt hatten, auszuweiten – immerhin! –, auch wenn das Datum für uns Freie Demokraten irgendwie willkürlich gewählt ist, irgendwie wohl an eine Mission angedockt. Aber eigentlich wäre es doch viel logischer und sinnvoller, zu sagen: Alle, die für Deutschland gedient haben, können auch einen Schutz beantragen. Das wäre logisch, das wäre sinnvoll, und das wäre richtig. ({0}) Begrüßenswert ist auch, dass die Ortskräfte nun für das Visumsverfahren nicht mehr nach Pakistan oder Indien reisen müssen; das ist auch richtig. Die Ortskräfte haben einen sehr wertvollen Beitrag zur Aufgabenerfüllung geleistet. Sie haben große Risiken auf sich genommen, ihre eigene Sicherheit und die Sicherheit ihrer Familie gefährdet. Und nun ist es an uns, ihnen Schutz zu bieten. Lassen wir diese Menschen jetzt im Stich, werden wir nie wieder auf dieser Welt Hilfe und Unterstützung durch Menschen vor Ort erhalten. Deshalb ist es wichtig, dass sich Deutschland jetzt auch als ein verlässlicher Partner erweist. Wir Freie Demokraten stehen auch zu Humanismus. Wir stehen auch zu christlichen Werten. Liebe CDU, es ist jetzt an der Zeit, keine Sonntagsreden mehr zu halten; es ist jetzt die Zeit von tatkräftigem Handeln. ({1}) Und die bürokratischen Hürden – Kollege Lindh hat es angesprochen – sind nach wie vor immens. Ich frage mich wirklich manchmal, was die Bundesregierung mit diesen extrem umständlichen Verfahren eigentlich erreichen will. Die notwendige Sicherheit kann man einfacher, effizienter erreichen als so, wie es jetzt hier geplant ist. Frau Kramp-Karrenbauer sagte in ihrer Rede heute, man arbeite an einer Lösung, um die Aufgabe, diese Menschen hierherzubringen, logistisch bewerkstelligen zu können. – Ihre Worte höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Frau Kramp-Karrenbauer, ich nehme Sie beim Wort. Wir können die Ortskräfte jetzt nicht einfach zurücklassen. Lassen Sie uns einfach diese Menschen mit Bundeswehrmaschinen ausfliegen. Wir fliegen so viele Sachen aus, und das wäre der einfachste Weg. ({2}) Ein Satz zu den Grünen noch am Schluss: Die Intention Ihres Antrages unterstützen wir Freie Demokraten ausdrücklich. Ein Gruppenaufnahmeverfahren halten wir aber nicht für den richtigen Weg. ({3}) Damit würde der Gefahr des Missbrauchs Tür und Tor geöffnet. Deshalb werden wir uns enthalten. Vielen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Ulla Jelpke von der Fraktion Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Afghanische Ortskräfte, die aufgrund ihrer Tätigkeit für deutsche Institutionen gefährdet sind, müssen schnell und unbürokratisch in Deutschland aufgenommen werden. Dafür braucht es jetzt dringend ein einfaches Verfahren, weshalb wir dem Antrag der Grünen zustimmen. ({0}) Das sollte übrigens auch für jene gelten, die nicht direkt bei deutschen Ministerien, sondern bei Subunternehmen beschäftigt waren. Bekanntlich hat die Linke den Kriegseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan von Anbeginn abgelehnt. Doch ganz unabhängig davon ist es völlig klar: Wenn das Leben von Menschen in Gefahr ist, brauchen sie Schutz. Und, meine Damen und Herren, die Verantwortung hört nicht bei den Ortskräften auf. Die Bundesregierung muss ebenso dafür sorgen, dass der Familiennachzug von Angehörigen afghanischer Geflüchteter nach Deutschland vereinfacht und beschleunigt wird. Denn trotz Krieg und Pandemie müssen diese nach Indien oder nach Pakistan reisen, wenn sie einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen wollen; und die Wartezeiten an den dortigen Visastellen betragen zurzeit über ein Jahr. Es darf doch nicht sein, dass im Ergebnis selbst minderjährige Kinder zum Teil über Jahre von ihren Eltern getrennt sind, wie mir Betroffene berichtet haben. Um die Aufnahme afghanischer Ortskräfte zu erleichtern, hat die Bundesregierung – wir haben es von Herrn Abgeordneten Frei gehört – eigens Büroräume in Afghanistan eingerichtet. Das zeigt: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Solche Anlaufstellen braucht es für alle Menschen, die in Gefahr sind, auch für den Zweck von Familienzusammenführungen. Genauso dringend ist es, die Abschiebung nach Afghanistan einzustellen. Die Kämpfe zwischen Taliban und Regierungstruppen sind aktuell so heftig wie lange nicht mehr. Das Land ist in keinerlei Hinsicht sicher. Wir brauchen sofort einen bundesweiten Abschiebestopp; denn niemand darf in extreme Gewalt und existenzgefährdendes Elend abgeschoben werden. Afghanische Geflüchtete in Deutschland brauchen ebenso Schutz und einen sicheren Aufenthaltsstatus wie afghanische Ortskräfte. Deutschland hat nach 20 Jahren Kriegseinsatz am Hindukusch nicht das Recht, die Schutzsuchenden gegeneinander auszuspielen. Ich glaube, wir unterscheiden uns in diesem Punkt; aber ich halte es für wichtig, auch an diesen Punkt immer wieder zu erinnern. Schönen Dank. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke. – Als Nächstes hat das Wort Luise Amtsberg von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Luise Amtsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004243, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Eine Gruppe, die der sehr eilige Abzug in einem besonderen Maße betrifft, sind die afghanischen Ortskräfte, Menschen, die durch ihre Tätigkeit für die Bundeswehr ins Visier der Taliban geraten sind: als Kollaborateure des Westens, als Verräter. Viele von ihnen und ihre Familien wurden erpresst, entführt, einige auch getötet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit vielen Jahren kämpft meine Fraktion, kämpfen wir hier im Bundestag für ein wohlmeinendes Ortskräfteverfahren. Wir sind damit auch nicht alleine. Und weil er heute dieser Debatte beiwohnt, möchte ich gerne meinen ehemaligen Kollegen Winfried Nachtwei begrüßen, der genau an dieser Stelle immer wieder den Finger in die Wunde gelegt und auch dafür gesorgt hat, dass die Situation dieser Menschen nicht vergessen wird. ({0}) Denn immer wieder wandten sich Menschen unter Lebensangst an uns, an die Stellen vor Ort, an die Ministerien. Und viel zu häufig wurde ihre Angst nicht ernst genommen, wurden ihre Gefährdungsanzeigen abgelehnt; denn das Verfahren zur Aufnahme von Ortskräften verlangt von den Betroffenen, ihre Gefährdung zu beweisen. – Ja, Herr Frei, wie soll das gehen? Gewissheit, dass jemand seines Lebens bedroht wird, hat man tragischerweise erst, wenn der betroffenen Person etwas zugestoßen ist. Und unser Antrag möchte das ändern, schafft dem Abhilfe, indem er ein Gruppenverfahren fordert, indem er die Beweislast umkehrt. Das Verfahren muss auf der grundsätzlichen Annahme basieren, dass die Ortskraft durch ihre Arbeit für deutsche Behörden und Organisationen gefährdet ist, wenn man Schaden von den Betroffenen abwenden will. Und hier haben wir offensichtlich einen ganz klaren Dissens. Ich glaube, dass es diese Beweislastumkehr braucht, damit es eben nicht zu falschen Entscheidungen kommt; und genau das fordert unser hier vorliegender Antrag. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor zwei Monaten sagte die Verteidigungsministerin noch – ich zitiere –, sie empfinde es als „tiefe Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, diese Menschen jetzt, wo wir das Land endgültig verlassen, nicht schutzlos zurückzulassen“. Und ich empfinde das genauso. Der Verteidigungsministerin möchte ich sogar zugutehalten, dass sie es mit großzügigeren Aufnahmeverfahren ernst meint; sie hat sich dafür eingesetzt. Nach Jahren, in denen trotz massiver Gefährdung so gut wie keine Ortskräfte in Deutschland aufgenommen wurden, steigen jetzt auch endlich die Zahlen der Zusagen. Das ist gut. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, das allein reicht nicht. Wir müssen auch Erleichterungen schaffen, damit die Menschen dann tatsächlich auch in der Lage sind, das Land zu verlassen. Wo aber sollen sie derzeit ihre Gefährdungsanzeigen und Visaanträge stellen, wenn die Bundeswehr abgezogen ist? Bei den von Ihnen bereits im April versprochenen Büros von IOM in Kabul und Masar-i-Scharif? Die gibt es leider bis heute noch nicht, und die Betroffenen müssen weiterhin für das Visum nach Pakistan. Die Flugbuchungen und Kosten müssen die Ausreisewilligen dann noch alleine tragen, weil – O-Ton Heiko Maas – man die Bilder eines Massenexodus vermeiden möchte. Und ja, die Zweijahresgrenze für die Gefährdungsanzeigen der für die Bundeswehr tätigen Ortskräfte ist gefallen; das ist gut. Das gilt aber nicht für die Ortskräfte der GIZ und des Auswärtigen Amtes. Und für Ortskräfte, die für Subunternehmen der Bundeswehr tätig waren, gilt es gar nicht. Die haben überhaupt keinen Zugriff auf dieses Verfahren. Und das Tragische daran ist doch: Den Terroristen sind die Verträge, die hinter den Camp-Mauern gemacht wurden, egal. Für sie zählt, dass die Menschen für den Westen gearbeitet haben. Aber auch für diese – und das sage ich ganz ausdrücklich – tragen wir hier Verantwortung. ({2}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, auch wir hierzulande haben unsere Hausaufgaben noch zu machen. Denn weil die Ortskräftepolitik dieser Bundesregierung so desaströs ablehnend war, sind viele Menschen aufgrund der Angst – und deshalb hat das doch mit Flüchtlingspolitik zu tun – und des Drucks auf eigene Faust aus Afghanistan geflohen. Sie befinden sich jetzt zum Teil in Griechenland, in Italien oder eben auch in Deutschland. Ich möchte Ihnen ganz kurz von einem Einzelfall berichten.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Ganz kurz, liebe Kollegin!

Luise Amtsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004243, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Einem Mann, der für die Bundeswehr unter anderem als Dolmetscher in den Camps Marmal und Masar-i-Scharif gearbeitet hatte, drohten die Taliban, ihn umzubringen. Eine Antwort auf seine Gefährdungsanzeige hat er nie erhalten. Er floh 2018 aus Afghanistan. Das BAMF führte ein Asylverfahren durch. Und der Asylantrag wurde diese Woche abgelehnt. Wie kann das sein, meine Damen und Herren? ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Josef Oster von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Josef Oster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004845, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir führen zum zweiten Mal heute eine Debatte zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. Das ist angemessen. Dieser Einsatz war und ist für die Bundeswehr und für Deutschland insgesamt sehr bedeutend. Deutschland hat in diesem internationalen Einsatz eine große Verantwortung übernommen, und dieser Verantwortung gilt es auch jetzt, in der schwierigsten Phase eines jeden Auslandseinsatzes, gerecht zu werden: dem geordneten, aber vor allen Dingen auch sicheren Abzug unserer Soldatinnen und Soldaten. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, unsere Verantwortung, die Verantwortung Deutschlands, geht aber sehr viel weiter. Im Rahmen unseres Einsatzes haben wir das Vertrauen sehr vieler Unterstützer in Afghanistan gewonnen. Ohne die mutige Hilfe vieler afghanischer Ortskräfte wäre unser großes Engagement für die afghanische Zivilgesellschaft so nicht möglich gewesen. Auch diese Unterstützung verdient unseren Dank. ({0}) Meine Damen, meine Herren, die Betroffenen vertrauen zu Recht darauf, dass wir sie jetzt nicht schutzlos zurücklassen. Hinter dem Begriff „Ortskräfte“ stehen Menschen, für deren Schicksal wir mitverantwortlich sind; und genau dafür haben wir ein geeignetes und auch großzügiges Verfahren in Gang gesetzt. In den letzten Jahren konnten bereits viele Ortskräfte mit ihren Familien Schutz in Deutschland finden; und diese Zahl wird in den nächsten Wochen noch deutlich steigen. Mein Kollege Thorsten Frei hat ja bereits Details dazu ausführlich genannt. Ich sage ganz deutlich: Es ist vertretbar und auch angemessen, dass wir uns jetzt bei diesen Anträgen afghanischer Ortskräfte eben nicht kleinlich zeigen; und genau das tun wir auch nicht, verehrte Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Die Verantwortung des Deutschen Bundestages geht für mich aber noch weiter. Wir sollten immer auch die gesellschaftliche Akzeptanz unserer Entscheidungen im Blick haben. Deshalb ist es so bedeutend, dass das jetzt vereinbarte Verfahren nach klaren und eben auch nachvollziehbaren Regeln abläuft. Die Grünen gehen in ihrem Antrag allerdings sehr viel weiter. Das Gruppenverfahren, das Sie hier noch mal geschildert haben, würde ja, wenn ich es mal zugespitzt formuliere, bedeuten, dass quasi jeder, der mal einem deutschen Soldaten begegnet ist, Anspruch auf Aufnahme in Deutschland hätte. Ein derartiges Verfahren – auch das muss man hier deutlich sagen – wendet keine andere Nation in Afghanistan an. ({2}) Das entspricht eben offenbar ganz der grünen Linie, jedes internationale Problem dadurch lösen zu wollen, dass man möglichst viele Menschen hier bei uns in Deutschland aufnimmt. ({3}) Ich sehe die Gefahr, dass darunter die aktuell gute Akzeptanz unserer migrationspolitischen Maßnahmen leiden würde. Ein pauschales Aufnahmeverfahren wäre daher nicht gut für Deutschland und im Übrigen nach meiner Überzeugung auch nicht gut für Afghanistan; denn das würde eben bedeuten, dass in großem Stil gut ausgebildete Kräfte das Land verlassen würden. Den Antrag der Grünen kann man daher nur ablehnen. Wir als Unionsfraktion werden das auch tun. Vielen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke. – Bitte haben Sie Verständnis, dass ich jetzt, am Ende der Sitzung, keine Zwischenfragen mehr zulasse. ({0}) Das Wort geht an Susanne Mittag von der SPD-Fraktion. ({1})

Susanne Mittag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004355, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir über den Einsatz in und jetzt den Truppenabzug aus Afghanistan sprechen, dann liegt der Fokus in der Regel auf unseren Bundeswehrstreitkräften. Und mit den Ortskräften, ohne die eine ordentliche und fest verankerte Arbeit vor Ort nicht möglich gewesen wäre, sind oft nur die unterstützenden Kräfte der Bundeswehr gemeint. Dabei haben die Landes- und Bundespolizeien die ganzen Jahre ebenfalls ein hohes Kontingent an Polizeikräften entsandt, vor allem nach Kabul und Masar-i-Scharif. Wenn wir über den Abzug deutscher Kräfte sprechen, dann gehört auch dieser Aspekt unbedingt in diese Debatte hier. Seit 2002 hat das deutsche Polizeiprojekt mit dem Ziel einer rechtsstaatlichen und professionellen Polizeiarbeit in Afghanistan seinen Dienst getan. Beratung, Mentoring, Fortbildung standen dabei immer im Fokus. Den Polizistinnen und Polizisten gilt unser Dank genauso wie den vielen afghanischen Ortskräften, die sie bei dieser Polizeiarbeit unterstützt haben. ({0}) Der Aufbau kriminalpolizeilicher Strukturen, die Partnerschaft mit der Grenzpolizei an den Flughäfen oder die Fortbildung am Sergeant Training Center: Das alles konnte nur erfolgreich sein, weil Ortskräfte unsere deutschen Polizeibeamten unterstützt haben. Das war ein gegenseitiges Profitieren voneinander. Eigentlich sollte ja einmal im Jahr hier im Parlament über die Auslandseinsätze der Polizei gesprochen werden, aber das ist wohl irgendwie ein bisschen durchgerutscht. Mit dem Abzug der deutschen Sicherheitskräfte wird auch hier eine Lücke gerissen, die bleibt. Die Sicherheitslage vor Ort – das ist schon erwähnt worden – ist angespannt; sie verschlechtert sich noch weiter mit dem Abzug und betrifft auch diejenigen, die unsere Polizeikräfte vor Ort unterstützt haben. Auch sie werden mit ihren Familien von den Taliban als Verräter angesehen, stehen unter massivem Druck und sind Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt. Bereits im vergangenen Monat haben die Taliban auch diese Ortskräfte aufgefordert, dafür Reue zu zeigen, dass sie Unterstützung gegenüber den internationalen Einsatzkräften geleistet haben. Aber was ist denn bei den Taliban Reue? Wir haben eine massive Mitverantwortung, und dieser wollen und müssen wir auch aufgrund dieser sehr bedrohlichen Ansage gerecht werden! Ein Thema, auf das wir als SPD-Bundestagsfraktion in den vergangenen Wochen häufiger hingewiesen haben. Gut, dass dieser Druck in Richtung Innenministerium auch Wirkung gezeigt hat. Auch dank unseres SPD-Landesinnenministers Boris Pistorius gab es eine Einigung auf der letzten IMK. ({1}) Die Ausweitung der Arbeitszeiträume, die zur Aufnahme der Ortskräfte zu betrachten sind – das ist schon erwähnt worden –, und die Kapazitätserhöhung sind genau das richtige Signal. Es wurde eine gute Entscheidung zwischen dem Bund und den Ländern getroffen. Über die Flugkosten wird noch verhandelt. Ich denke, da werden wir eine anständige Lösung hinkriegen. Trotzdem werden wir in den kommenden Wochen die Situation rund um die Ortskräfte – egal ob von der Bundeswehr, von den Polizeien oder von anderen deutschen Behörden – genau beobachten und darauf achten, dass die jetzt getroffenen Vereinbarungen eingehalten und auch unverzüglich umgesetzt werden. Herzlichen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Ich wollte schon die Einhaltung der Redezeit anmahnen. Aber das hat sich erledigt. Als letzten Redner der Debatte hören wir Eckhard Gnodtke von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Eckhard Gnodtke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004729, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Nicht nur in den Redebeiträgen der Kollegen Thorsten Frei und Josef Oster ist bereits dargelegt worden, dass die Bundesrepublik Deutschland ihre Verantwortung für die Aufnahme afghanischer Ortskräfte in vollem Umfang wahrnimmt. Aufnahmen aus dem Ausland zur Gewährung humanitären Schutzes sind – das ist die Grundlage – nach § 22 des Aufenthaltsgesetzes möglich. Das BMI kann die Aufnahme „zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland“ zusagen oder aus humanitären Gründen bzw. völkerrechtlichen Gründen. Das geschieht. Zur Durchführung des Aufnahmeverfahrens wurden Anlaufbüros eröffnet. Der Kollege Frei hat bereits das IOM-Büro in Kabul erwähnt. Frau Kollegin Amtsberg, ich weiß nicht, woher Sie Ihre Informationen haben, wenn Sie sagen, es sei noch nicht geschehen. Ich habe heute – ich weiß nicht, ob Sie es auch bekommen haben – um 15.55 Uhr vom Auswärtigen Amt ein Schreiben bekommen. Da heißt es – ich zitiere –: Das Auswärtige Amt (AA) schuf in kürzester Zeit eine Visainfrastruktur mit Bundeswehrsoldaten in Masar-i-Scharif und eine Inlandsvisastelle AA für die Ostkräfte der Bundeswehr, um eine große Anzahl an Visaverfahren in kurzer Zeit sicherzustellen. ({0}) Zu den Zahlen komme ich gleich noch. Ich möchte darauf verweisen, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht erst jetzt – nach Verkündung der Entscheidung zum Abzug aus Afghanistan – damit begonnen hat, gefährdeten afghanischen Ortskräften und ihren Familien die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. So wurden bis April 2021 bereits 781 Ortskräfte in Deutschland aufgenommen. Seit Verkündung der Abzugsentscheidung und der im April 2021 getätigten Zusage der Bundesministerin der Verteidigung, gefährdete afghanische Ortskräfte aufnehmen zu wollen, gibt es aus allen Ressorts betroffener Ministerien insgesamt 520 Gefährdungsanzeigen afghanischer Ortskräfte. Das Auswärtige Amt wiederum teilte in diesem Schreiben mit, dass es sich dann bei insgesamt 520 gefährdeten afghanischen Ortskräften und unter Berücksichtigung der Familien um bis zu 2 500 Personen handeln könne, denen parallel zum Abzug der Bundeswehr Visa erteilt werden. Laut Auswärtigem Amt wurden bisher circa 2 400 Anträge – inklusive Familien – bearbeitet, dabei circa 2 000 Visa erteilt. Was ganz neu ist – wie gesagt, das habe ich auch erst um 15.55 Uhr erfahren –: Das Ortskräfte-Aufnahmeverfahren ist im Juni 2021 auf 350 ehemalige Ortskräfte – mit Familien, also noch einmal 1 500 bis 2 000 Personen – ausgeweitet worden, welche nach dem 1. Januar 2013 ihre Gefährdung angezeigt haben, deren Beschäftigung aber jeweils mehr als zwei Jahre zurücklag. Gruppenverfahren oder Einzelverfahren – Sie merken schon, dass innerhalb kürzester Zeit, nämlich von April bis Mitte Juni 2021, von 2 400 möglichen Visazusagen 2 000 erteilt wurden. Und die übrigen sind bereits in Bearbeitung, sodass weiterhin kein Grund besteht, von einer, wenn auch zügigen, Einzelfallprüfung abzusehen. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages – ich nehme an, das kennen Sie – hat sich zu dieser Frage bereits am 23. Juni 2016 in einem Gutachten geäußert, direkt zum Schutz afghanischer Ortskräfte im Übrigen. Ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin:

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Kurz!

Eckhard Gnodtke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004729, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Bundesregierung ist der Auffassung, mit diesem individualisierten Verfahren den Interessen aller beteiligten Akteure … am besten entsprechen zu können. Die Bundesregierung berücksichtigt dabei insbesondere das Interesse der afghanischen Regierung, des afghanischen Parlaments und der afghanischen Zivilgesellschaft, die sich mit dem Hinweis auf die Gefahr der Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte (Brain Drain) gegen pauschale Aufnahmezusagen ausgesprochen haben.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Lieber Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Eckhard Gnodtke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004729, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– Gut. – Fazit: Es besteht kein Grund, ein Gruppenverfahren durchzuführen. Auch eine Beweislastumkehr ist nicht nötig. Ich bitte um Ablehnung des Antrags bzw. um Annahme der Beschlussempfehlung des Ausschusses. Vielen Dank. ({0})